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Full text of "Archiv für Religionswissenschaft vereint mit den Beiträgen zur Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm"

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BINDIMLISTAUG  151923 


AROHIV 
FÜR  RELIGIONSWISSENSCHAFT 

UNTER  MITREDAKTION  VON 

H.  OLDENBERGl     C.  BEZOLD     K.  TH.  PEEUSZ 

HERAUSGEGEBEN  VON 

ALBRECHT  DIETERICH 

NEUNTER  BAND 

MIT  3  TAFELN 


v-^ 


1906 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  Q.  TEUBNER  IN  LEIPZIG 


6jL 


K 


Inhaltsverzeiclmis 


I  Abhandlungen  g^ite 

Rot  und  Tot    Von  Friedrich  von  Duhn  in  Heidelberg.     ...  1 

Hermes  und  die  Hermetik  Von  Th.Zielinskiin  Petersburg  [Schluß]  25 

Der  Ragnarökmythus    Von  B.  Kahle  in  Heidelberg     [Schluß]      .  61 
Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter    Eine  Studie 
über  den  Ursprung  des  Mariendienstes    Von  F.  C.  Conybeare, 
M.  A.,  F.  B.  A.  in  Oxford     Aus   dem  Englischen  übersetzt  von 

Ottilia  C.  Deubner     [Schluß] 73 

Mi^triQ     Bruchstücke    zur    griechischen   Religionsgeschichte     Von 

Hans  von  Prott 87 

Die  Schutzgötter  von  Mainz    Von  Alfred  von  Domaszewski  in 

Heidelberg 149 

Die  biblischen  Schöpfungsberichte    Von  Friedrich  Schwally  in 

Gießen 159 

Die     solare    Seite     ^es     alttestamentlichen     Gottesbegriffes      Von 

K.  Völlers  in  Jena 176 

Lautes  und  leises  Beten    Von  Siegfried  Sudhaus  in  Kiel      .     .  185 

Feralis  exercitus     Von  Ludwig  Weniger  in  Weimar 201 

Walfischmythen     Von  L.  Radermacher  in  Münster 248 

St.  Lucia,  auf  germanischem  Boden    Von  M.  Höfler  in  Bad  Tölz  253 

Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam    Von  L  Goldziher 

in  Budapest 293 

Die  luppitersäule  in  Mainz    Von  Alfred  von  Domaszewski  in 

Heidelberg 303 

"Atogoi  ßLaioOdvarot    Par  Salomon  Reinach  ä  Paris 312 

Jupiter  summus  exsuperantissimus    Par  Franz  Cumont  äBruxelles  323 

Der  Gottheit  lebendiges  Kleid   Von  Marie  Gothein  in  Heidelberg  337 
Die  Entstehung  der  Bilderwand   in  der  griechischen  Kirche    Von 

Karl  Holl  in  Berlin 365 

Leichenbestattung  in  Unteritalien    Von  H.  Braus  in  Heidelberg  .  385 

Orthia    Von  Anton  Thomsen  in  Kopenhagen 397 

Mythologische  Fragen    Von  Richard  M.  Meyer  in  Berlin  .     .     .  417 


IV  Inhaltsverzeichnis 

II  Berichte  g^.,^ 

1  Religionen     der     Naturvölker:      Allgemeines,      Amerika       Von 

K.  Th.  Preuß  in  Berlin 95 

2  Religionen  der  Naturvölker:  Indonesien    Von  Dr.  H.  H.  Juynboll 

in  Leiden 262.  429 

3  Russische  Volkskunde  Von  Ludwig  Deubn  er  in  Königsberg      276.  445 

4  Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer   Reisebericht 

von  K.  Th.  Preuß  in  Berlin 464 

5  Ägyptische  Religion  (1904 — 1905)    Von  A.  Wiedemann  in  Bonn     481 

6  Alte    semitische    Religion    im     allgemeinen,     israelitische    und 

jüdische  Religion    Von  Friedrich  Schwally  in  Gießen  .     .     500 

III  Mitteilungen  und  Hinweise 

Von  W.  Spiegelberg  (Die  Symbolik  des  Salbens  bei  denÄpyptem)  143; 
(Der  Ausdruck  „auf  die  Erde  legen"  =  „gebären"  im  Ägyptischen) 
144;  R.  Wünsch  (Brauch  der  römischen  Kinderstube)  145;  H.  Hep- 
ding  (iiaaxccXLGuos)  146;  L.  Deubner  (Orakelvers)  146;  (Mithraeum 
von  Emerita)  146;  Albrecht  Dieterich  {Ovlog  ovsLQog)  147. 

Von  M.  P.  Nilsson  (Totenklage  und  Tragödie)  286;  G.  Kazarow  (Thra- 
kisches)  287;  L.  Deubner  (Zeremonie  der  Tupi)  289;  (Niederlegen 
des  neugeborenen  Kindes  auf  die  Erde)  290;  A.  Becker  (Pestsegen) 
290;  L.  Deubner  (Bronzestatuette  im  Opisthodom  des  Heraion)  291. 

VonW.  Spiegelberg  (Zur  Inschrift  von  Speos  Artemidos)  516;  F.  Münzer 
(Zum  Jahvethron)  517;  C.  Brockelmann  (Ein  syrischer  Regen- 
zauber) 518;  C.  Bezold  (Orientalische  Studien  Th.  Nöldeke  ge- 
widmet) 520;  A.  Sonny  (Rote  Farbe  im  Totenkult)  525;  W.  Warde 
Fowler  (A  Note  on  the  controversy  as  to  the  origin  of  the  Lares) 
529;  Hans  Lietzmann  (Blaß  über  die  Textkritik  im  Neuen  Testa- 
ment, Clemens  Paulus,  Bruder  über  die  Anfänge  der  Kirchen- 
verfassung, Michalcescu  Neudruck  der  Monumenta  fidei  ecclesiae 
Orientalis,  Loofs'  Dogmengeschichte  4.  Aufl.)  530;  L.  Sütterlin 
(„Mutter  Erde"  im  Sanskrit)  533;  M.  v.  Waldberg  (Arbeiten  über 
Ahasver)  537;  Theodor  Zachariae  („Sterbende  werden  auf  die 
Erde  gelegt")  538;  Friedrich  P fister  (Pflugspitzen  am  Altar 
einer  Kapelle  auf  Leukas)  541. 

Register    Von  Otto  Weinreich 543 


I  Abhandlungen 


Rot  und  Tot 

Von  Friedrich  von  Duhn  in  Heidelberg 

Zwei  Worte,  die  der  Volksmund  gern  im  Gegensatz  an- 
wendet. „Außen  rot,  innen  tot",  „Heute  rot,  morgen  tot"; 
„Bist  Du  rot,  denk  an  den  Tod";  „van  Dage  rot  morgen  dod"; 
Walter:  „diu  werlt  ist  uzen  schoene  wiz  grüen  unde  rot  und 
innen  swarzer  varwe,  vinster  sam  der  tot".  Der  Gegensatz 
wird  mitunter  bitter  ironisch:  „A  wird  su  rut,  wie  enne  tudte 
Leche"  (scMesiscli).  Oder  aber  es  entwickelt  sich  aus  ihm  ein 
kausales  Verhältnis:  „Morgenrot,  Morgenrot,  leuchtest  mir  zum 
frühen  Tod".  Glühendes  Abendrot  bedeutet  im  Volksglauben 
vielfach,  einst  mehr  als  jetzt,  Krieg,  Unglück,  Pestilenz,  kurzum 
Todbringendes.  In  diesen  Beispielen  führt  der  Gegensatz  schon 
wieder  zu  einer  Verbindung:  das  Schwarz  steht  dem  Rot  so 
gegenüber,  daß  es  wie  eine  notwendige  Folge  des  Rot  erscheint. 
Rouge  et  noir,  Glück,  Leben  einerseits,  Schwarz,  Tod  ander- 
seits erscheinen  eng  verbunden,  bilden  zusammen  gewissermaßen 
ein  unlösbares  Ganzes.  Was  rot  ist,  muß  schwarz  und  tot 
werden,  und  was  schwarz  und  tot  ist,  behält  das  Sehnen, 
wieder  rot  zu  werden.  In  diesen  Zügen  des  primitiven  Denkens 
liegt  in  nuce  der  Schlüssel  zum  ganzen  Totenritual.  Und  das 
bei  den  meisten  Völkern,  namentlich  bei  den  Naturvölkern, 
heute  noch  völlig  klar,  wenn  auch  bei  den  höheren  vielfach 
nur  noch  rudimentär  und  nur  durch  Zurückgehen  auf  Früh- 
stufen verständlich. 

ArcMv  f.  Eeligionswissenscliaft  IX  1 


2  Friedrich  von  Duhn 

Dies  alles  sind  eigentlict  selbstverständliclie  Dinge,  aber 
notwendige  Voraussetzungen  zum  folgenden.  Weit  verbreitet, 
von  mir  selbst  und  anderen  oft  beobachtet,  ist  im  Mittelmeer- 
gebiet die  Sitte,  das  Innere  von  Behältnissen,  in  die  der  Tote 
oder  seine  Reste  gebettet  wurde,  rot  auszumalen,  und  zwar 
stets  mit  einem  Zinnober-  oder  Mennigrot,  der  Farbe  des  Blutes 
vergleichbar.  So  sind  mir  inwendig  rot  gemalte  Bretter  von 
Holzsärgen  bekannt  aus  Athen,  Kyme,  Karthago,  Cadix;  so 
gibt  es  unter  den  klazomenischen  Sarkophagen  aus  Ton  solche, 
die  im  Inneren  rot  ausgemalt  sind;  so  sind  aus  Syrakus, 
Gela  und  Akragas  inwendig  rote  Steinsarkophage  des  5.  Jahr- 
hunderts vorhanden;  so  sind  aufgemauerte  Steingräber  bei 
Tanagra  rot  ausgemalt  gefunden;  so  zeigen  die  Steinwürfel,  in 
denen  man  z.  B.  in  Attika  so  gut  wie  in  Kampanien  (Kyme, 
Capua,  Suessula)  die  bronzenen  Aschenurnen  barg,  regelmäßig 
hochrote  Ausmalung.^  Noch  bei  spätrömischen  Ziegelgräbem, 
die  ich  im  Valle  Taggiasco  (Riviera  di  ponente)  vor  einigen 
Jahren  mit  ausgrub,  waren  die  Innenseiten  der  dachförmig  ge- 
stellten Ziegel  ebenso  bemalt.  Diese  Beispiele,  die  sich  gewiß 
beträchtlich  vermehren  ließen,  mögen  genügen,  um  die  Sitte 
zu  erhärten. 

Also:  wie  man  überall  auf  unserer  Erde,  besonders  greif- 
bar bei  Naturvölkern  und  in  unseren  eigenen  Frühzeiten,  sich 
bemüht,  dem  Toten  den  Übergang  in  die  andere  Welt  möglichst 
wenig  schmerzlich  zu  gestalten,  namentlich  dadurch,  daß  man 
ihm  durch  Form  und  Inhalt  des  Grabes  die  Vorstellung  zu  er- 
wecken bestrebt  ist,  er  sei  eigentlich  noch  in  seiner  gewohnten 
Umgebung,  wie  man  durch  regelmäßige  Opfer  und  Spenden 
am  Grabe  dies  Gefühl  des  weiteren  zu  nähren  sucht,  so  möchte 
man  diese  Illusion  dadurch  noch  weiter  führen,  daß  man  mit 
der  Farbe   ja   gewissermaßen   dem  Stoff  des  Lebens    ihm    die 

1  Vgl.  z.  B.  Böm.  Mitt.  1887,  238  und  die  dort  von  mir  gegebenen 
Hinweise;  Orsi  Not.  1893,  474,  XCIY;  1900,  247;  Delattre  CBÄcad.  1903, 
12,  14,  24;  Pellegrini  Mon.  Line.  XIII  (1903)  280—282. 


Rot  und  Tot  3 

Wände  seiner  engen  Behausung  anstreicht.  Das  alles  tut  man 
ursprünglich  ja  nicht  aus  frommer  Pietät,  Mitleid  oder  sonstiger 
den  Völkern  im  Kindheitsalter  gewiß  fremden  Sentimentalität, 
sondern  weil  man  alles  tun  muß,  um  den  Toten  für  die  Leben- 
den möglichst  unschädlich  zu  machen,  ihn  nach  Kräften  zu- 
frieden zu  stellen,  damit  er  nicht  wiederkommt,  nicht  andere 
Lebende  nach  sich  zieht.  Ist  doch  die  Furcht  vor  möglichem 
Wiederkommen  des  Toten  es  gewesen,  die  zuerst  zu  mechani- 
scher Erschwerung  solcher  Rückkunft  geführt  hat,  indem  man 
den  Toten  in  ausgestreckter  oder  zusammengezogener  Haltung 
kräftig  einschnürte  und  so  fesselte,  oder  ihn  selbst  stark  be- 
lastete mit  Erdmassen,  sogar  mit  schweren  Steinen,  oder  indem 
man  ihn  einschloß  in  feste  Behälter,  in  Bauten,  vor  deren 
Eingang  man  große  Steine  wälzte;  die  alsdann  den  Wunsch 
erwecken  mußte,  den  Leib  des  Toten  möglichst  rasch  un- 
geeignet zu  machen  zur  Wiederaufnahme  dessen,  was  man 
als  „Seele"  verstand:  so  kam  man  zu  mechanischer  Zer- 
stückelung, Handabschlagung,  sogar  Verzehrung  des  Leich- 
nams (wobei  freilich  oft  noch  eine  andere  Vorstellung  — 
Übertragung  von  Kraft  und  Leben  —  mitwirkte),  zu  jeder 
Art  von  Beförderung  seiner  raschen  Zersetzung,  schließlich 
—  natürlich  nicht  absolut  chronologisch  gemeint  —  zur 
Einführung  der  Verbrennung.  Solange  die  Verwesung  keine 
vollzogene  Tatsache  war,  behielt  nach  allgemeiner  Vorstellung 
unserer  —  und  vieler  anderer  —  Völker  der  Tote  eine  Art  von 
Empfindungsvermögen,  sei  es  immanent,  sei  es  geweckt  durch 
gewisse  Mittel.  Der  Tote  verlangt  in  dieser  Zeit  instinktiv 
nach  dem  Leben,  nach  Blut:  daher  die  Totenopfer  mit  allen 
ihren  unendlich  abgestuften  Ablösungsformen. 

Daher  auch  —  wenigstens  im  letzten  Grunde  —  die  rote 
Farbe  bei  der  inneren  Ausstattung  des  Grabes.  Aber  auch  bei 
der  äußeren.  Noch  um  die  Grabstelen  auf  den  weißgrundigen 
Lekythen  des  5.  und  4.  Jahrhunderts  schlingen  sich  blutrote 
Tänien. 

1* 


4  Friedrich  von  Duhn 

Ja,  zur  Ausstattung  des  Toten  selbst  war  vielfacli  die  rote 
Farbe  unerläßlich.  Varro  batte  nocb  eine  ganz  klare  Vor- 
stellung von  diesen  Dingen:  „Yarro  dicit,  mulieres  in  exsequiis 
ideo  solitas  ora  lacerare,  ut  sanguine  ostenso  inferis  satisfaciant. 
quare  etiam  institutum  est,  ut  apud  sepulcra  et  victimae  cae- 
dantur.  apud  veteres  etiam  bomines  interficiebantur . . .  sed  quoniam 
sumptuosum  erat  et  crudele  victimas  vel  bomines  interficere, 
sanguinei  coloris  coepta  est  vestis  mortuis  inici"  (Serv.  lU  67 
vgl.  Diels,  Sibyll.  Bl.  72).  Das  Zwölftafelverbot  „mulieres  genas 
ne  radunto"  sei  nur  nebenbei  erwähnt.  Die  Ablösungsfrage 
geht  uns  im  Augenblick  nichts  an,  wohl  aber  die  Tatsache 
selbst  und  die  Verbindung,  in  die  Varro  sie  rückt.  Ebenso 
wird  uns  für  Sparta  die  rote  Decke  über  dem  Toten  bezeugt 
(Plut.  Lyk.  27).  Und  so  heißt  es  schon  bei  Homer,  daß 
Hektors  zu  Asche  verbrannte  Gebeine  in  ein  rotes  Linnentuch 
gewickelt  seien  (IL  24,  796).  So  bringen  die  Athener  in  einem 
Purpurtuch  die  Gebeine  des  Rhesos  zum  Strymon,  um  durch  sie 
das  neu  zu  gründende  Amphipolis  zu  sichern  (Polyaen.  VI  53). 
So  hüllen  die  Kabiren  das  Haupt  ihres  verstorbenen  Bruders 
in  ein  blutrotes  Gewand  und  bestatten  es  so  (Clem.  AI.  zuletzt 
zitiert  von  Samter,  Familienfeste  56).  So  läßt  Vergil  (Aen. 
VI  221)  die  Troianer  den  Leichnam  des  Misenus  auf  dem 
Scheiterhaufen  mit  Purpurgewändern  bedecken,  so  ruht  die  tote 
Priscilla  (Stat.  silv.  V,  1,  215,  226)  unter  einer  Purpurdecke. 

So  werden,  um  nur  ein  Beispiel  von  Naturvölkern  an- 
zuführen, auf  Neuseeland  die  Gebeine  von  Häuptlingen  in  rote 
Decken  gehüllt,  in  einen  mit  roter  Farbe  eingeriebenen  Kasten 
getan,  in  ein  rot  bemaltes  Grab  gebracht,  in  dessen  Nähe  sich 
ein  rotes  Grabmal  erheben  muß  (Lubbock). 

So  führt  die  Freude  des  Toten  am  Blut  und  daher  an  der 
roten  Farbe  zu  mannigfacher  Verwendung  im  Totenkultus. 
Wenn  Iphigenie  in  rotem  Gewand  zum  Opfer  geführt  wird,  so 
mag  man  ja  mit  Diels  und  Samter  das  vielleicht  aus  einem 
Lustralritus    ableiten;    einen   solchen  jedoch  wiederzuerkennen 


Rot  und  Tot  5 

z.  B.  im  Braucli  der  Platäer,  deren  Archon  beim  alljährliclien 
Totenfest  zu  Ehren  der  in  der  PerserscMaclit  Gefallenen  in 
blutrotem  Gewand  zu  erscheinen  hatte,  während  seine  sonstige 
Amtstracht  weiß  war,  sind  wir  m.  E.  durch  keinen  zwingenden 
Grund  genötigt.  "E%si  yccQ  nva  ro  jtoQcpvQOvv  %QG)iia  öviiTcdd'Siav  1 
TCQog  tbv  d'dvatov  (Artemidor  I,  71  p.  70  ff.,  zitiert  von  Rohde,  i 
Psyche  I^  226).  So  war  es  noch  im  Florenz  des  Quattrocento 
üblich,  rote  Bahrtücher  zu  verwenden,  die  Totenkapellen  rot  aus- 
zuschlagen, den  Toten  in  einen  roten  Mantel  zu  kleiden,  als 
Leidtragender  in  rotem  Mantel  zu  erscheinen;  Reste  solch  roter 
Bemalung  zeigen  noch  vielfach  die  in  Marmor  ausgeführten 
Bahrtücher  Florentiner  Grabdenkmäler;  auch  aus  Frankreich 
ist  die  Sitte  bekannt  (s.  Burckhardt,  Kult.  d.  Renaiss.  P 
Exe.  ni,  zitiert  von  F.  Burger,  Gesch.  d.  Florent.  Grabmals  39, 4, 
und  Burger  selbst  öfter,  z.  B.  139,  166).  Ein  modernes  Bei- 
spiel :  wenn  in  Livigno  (Yaltellina)  ein  kleines  Kind  stirbt,  muß 
es  der  padrino  in  die  Kirche  tragen.  Im  Totenhause  legt  er 
ein  „omamento  di  circostanza"  an,  „che  e  cura  speciale  delle 
donne  di  preparare:  attomo  al  suo  cappello  vien  messo  a  guisa 
di  nastro  e  assicurato  con  spilli  un  fazzoletto  per  solito  di 
color  rosso-scarlatto  e  piü  volte  ripiegato;  alla  parte  posteriore 
della  falda  viene  attaccato  pel  centro  un  altro  fazzoletto  uguale, 
ma  in  modo  che  i  quattro  lembi  sventolino  liberamente  sulle 
spalle  dell'  uomo.  Appena  arrivato  il  prete  il  padrino  si  mette 
in  capo  il  cappello  cosi  adornato"  usw.  Der  Leichenzug:  „si 
compone  anzitutto  di  ragazzi  adorni  auch'  essi  di  nastri  rossi 
in  modo  che  hanno  una  specie  di  galloni  sulle  maniche,  le 
bände  lungo  i  pantaloni  e  una  tracolla  intorno  al  corpo  come 
se  fossero  dei  soldatini  in  servizio.  Le  ragazze  invece  si 
adomano  con  dei  fazzoletti.'^  Stirbt  ein  fanciullo  oder  giova- 
netto,  so  ist  der  Brauch  ebenso:  er  wird  getragen  auf  der 
baretta,  „dai  suoi  coetanei  che  hanno  il  cappello  come  il 
padrino"  (E.  Filippini,  Archivio  per  lo  studio  delle  tradiz.  popol. 
XIX  1900,  466).     Wie  fest  auch  nördlich  der  Alpen  derartige 


Q  Friedricli  von  Duhn 

Dinge  sitzen,  trotz  des  Weiß  und  Schwarz,  welches  das  Christen- 
tum im  Totenwesen  überall  bevorzugt,  zeigt  z.  B.  der  von  Roch- 
holz ^  aus  dem  schweizerischen  Fricktal  noch  1867  berichtete 
Wunsch  alter  Frauen,  in  ihrem  roten  Frauenrock  begraben  zu 
werden;  und  daß  das  nicht  etwa  ein  einfach  gewohnheits- 
gemäßes oder  sentimentales  Festhalten  an  einem  ihnen  lieb 
gewordenen  Kleidungsstück  ist,  ersieht  man  daraus,  daß  solch 
roter  Frauenrock  ganz  besondere  Kräfte  hat,  die  eben  in  der 
roten  Lebensfarbe  begründet  sind:  Fieberkranke  werden  dort 
in  einen  solchen  roten  Rock  gehüllt,  damit  sie  wieder  gesund 
werden,  und  —  für  die  Bedeutung  womöglich  noch  wichtiger 
—  junge  Frauen,  die  sich  einen  Knaben  wünschen,  legen  ihn 
sich  unter.  So  wird  in  Indien  die  Braut  auf  ein  rotes  Stierfell 
gesetzt  u.  a.  m. 

In  Indien  ist  Rot  sogar  unmittelbar  als  Farbe  des  Todes 
betrachtet;  Todesgott  und  Riesenweib  sind  beide  rot;  es  stirbt, 
wer  im  Traum  einen  roten  Kranz  auf  dem  Kopfe  trägt;  ehe 
Barata  die  Nachricht  vom  Tode  des  Dasarata  erhält,  sieht  er 
ihn  eilig  mit  rotem  Kranz  und  roter  Salbe  auf  einem  mit  Eseln 
bespannten  Wagen  nach  Süden  fahren;  rot  sind  die  Kleider 
der  zum  Tode  Verurteilten,  rot  das  Pulver,  mit  dem  er  bestreut 
wurde,  und  aus  roten  Blumen  bestand  der  Totenkranz ;  rot  sind 
die  Kleider,  rot  der  Schleier  der  indischen  Witwe,  rote  Blumen 
muß  die  Brahminenfrau  in  die  Hand  nehmen;  in  der  Hand 
eine  Kokosnuß,  die  rote  Farbe  enthält,  umwandelt  die  Witwe 
den  Scheiterhaufen  usw.^  Rot  bestreichen  ihre  Haut  die 
trauernden  Maoris  auf  Neuseeland,  die  Latuka  und  Kamma  in 
Afrika  u.  a.  (s.  u.):  Brough  Smyth,  The  Aborigines  of  Victoria  I, 

^  Deutscher  Grlaube  und  Brauch  11  251  in  seinen  umfassenden, 
wenn  auch  für  unsere  heutigen  Ansprüche  etwas  ungenügend  geordneten 
Sammlungen  zum  Gebrauch  der  roten  Farbe. 

2  Siehe  hierüber  die  Zusammenstellungen  von  Pischel  ZD3IG.  XL 
116  ff.  und  Samter  Familienfeste  40,  47  ff.,  sowie  Zachariae  Z.  f.  d.  Kunde 
d.  Morgenlandes  (Wien)  XYII  1903,  211—222;  Z.f.  Volkskunde  XIV  1904, 
204,  303,  401). 


Rot  und  Tot  7 

122;  die  Paressi:  v.  d.  Steinen,  Unter  d.  Naturvölkern  Zentral- 
Brasiliens  434  u.  a. 

Also:  Rot  bei  äußerer  Schmückung  des  Grabes,  bei  innerer 
Ausmalung,  bei  Bedeckung  des  Toten.  Da  würde  ja  der  Ge- 
danke docb  sehr  nahe  liegen,  aucb  zu  versuchen,  die  fahle,  kalte 
Farbe  des  Toten  selbst  durch  belebendes  Rot  hinwegzutäuschen. 
Ich  kann  es  deswegen  nicht  als  eine  gleichgültige  Beigabe  an- 
sehen, wenn  wir  in^so  manchen  Gräbern,  gerade  auch  Attikas, 
den  Toten  so  häufig  rote  oder  rötliche  Schminke  in  kleinen 
runden  Tonpyxides  mitgegeben  finden:  wie  im  Leben,  so  werden 
die  attischen  Frauen  wohl  schwerlich  auf  diese  beliebte  Ver- 
schönerung auch  im  Tode  haben  verzichten  wollen.  Aber 
ältere  religiöse  Sitte  wird  an  der  Ausdehnung  dieses  Brauches 
über  den  Tod  hinaus  doch  wohl  Anteil  haben.  Das  so  viel- 
verhandelte rote  Pulver  in  den  Glasfläschchen  der  Katakomben 
wird  in  letzter  Linie  auch  wohl  nichts   anderes  gewesen  sein. 

Der  alte  echte  Untergrund  dieser  Dinge  dürfte  klarer 
werden,  wenn  wir  uns  weiter  rückwärts  wenden.  Aus  Mykene 
gibt  es  einen  lebensgroßen  Stuckkopf,  der  auf  Wangen,  Kinn 
und  Stirn  mit  ^ roter  Farbe  aufgemalte  Rosetten  zeigt:  Malerei 
zweifellos,  aber  wohl  keine  Tätowierung:  diesen  Gedanken  weist 
Wolters  mit  Recht  ab  (Hermes  1903,  271).  Der  sepulkrale 
Charakter  dieses  Kopfes  steht  nun  zwar  nicht  fest,  ist  im 
Gegenteil  unwahrscheinlich,  da  der  Kopf  auf  der  Höhe  der 
Akropolis  zutage  kam.  Um  so  fester  dagegen  ein  solcher  bei 
zwei  Köpfen  aus  Marmor,  der  eine  aus  Amorgos,  der  andere 
von  einer  anderen  Kykladeninsel,  ersterer  jetzt  in  Athen,  der 
zweite  in  Kopenhagen.  Es  sind  Bruchstücke  ganzer  Figuren, 
den  Toten  zu  ihrem  Schutze  mitgegeben;  sie  waren  strichweise 
mit  feuer-  oder  blutroten  Streifen  verziert,  die  nur  aufgemalt 
gedacht  werden  können  (A.  M.  1891,  47;  Hermes  1903,  270). 
Aus  los  sind  auf  einer  ganzen  Figur  dieser  Art  rote  Farbspuren 
außer  auf  dem  Gesicht  auch  auf  der  Brust  bezeugt  (Ath.  Mitt. 
1891,  49).     Nun  sind  auch  tatsächlich  in  Gräbern  dieser  gleichen 


g  Friedrich  von  Duhn 

Zeit  Deckeltöpfchen  mit  Resten  roter  (und  blauer)  Farbe  ge- 
funden (Hermes  a.  a.  0.  270).  Rote  Farbe  findet  sieb  auch 
häufig  in  den  neolitbischen  Höhlengräbern  Liguriens  und 
Siziliens,  teils  in  besonderen  Behältern,  teils  in  Form  von  festen 
Stücken  Eisenocker,  so  gelegt,  daß  der  Tote  sie  mit  seiner 
Hand  leicht  erreichen  konnte.  Und  ebenso  in  Gräbern  Spaniens, 
die  trotz  der  Silberfunde  ihrem  Charakter  nach  noch  neolithisch 
sind  (Siret,  H.  u.  L.  Les  premiers  äges  du  metal  dans  le  Sud- 
Est  de  l'Espagne  202),  in  Portugal  (Zeitschr.  f.  Ethn.  1880  [352]), 
auch  im  Norden  z.  B.  bei  Worms  (Nachr.  über  deutsche  Alter- 
tumsfunde Vn,  62j  69).  Daß  der  Auftrag  der  roten  Farbe  wie 
im  Leben  so  im  Tode  mit  Hilfe  von  Tonstempeln  erfolgte, 
beweisen  die  Funde  solcher  „Pintaderas'^  sowohl  in  Ligurien 
wie  in  Phrygien  und  Troia.^ 

Zunächst  folgt  aus  jenen  dem  Toten  auf  den  Ageischen 
Inseln,  gelegentlich  auch  auf  dem  Festland  mitgegebenen  rot- 
gemalten Schutzdämonen  und  aus  der  Mitgabe  roter  Farbe  und 
der  Färbinstrumente  natürlich  nur,  daß  der  Tote  gewohnt  sein 
mochte,  sich  im  täglichen  Leben  rot  anzumalen,  so  wie  die 
athenischen  Frauen  sich  später  rot  schminkten;  aber  schon  daß 
man  solches  Gewicht  darauf  legte,  gerade  in  so  frühen  Zeiten, 
auch  noch  dem  Toten  diese  Lebensfarbe  zu  verleihen,  dadurch 
gewissermaßen  den  Lebensschein  fortzusetzen,  ist  sehr  be- 
achtenswert: 

„Farben  auch,  den  Leib  zu  malen 

Steckt  ihm  in  die  Hand, 

Daß  er  rötlich  möge  strahlen 

In  der  Seelen  Land.*'  (Schiller.) 

Der  Tote  ist  hilflos  und  machtlos,  wenn  das  im  warmen 
roten  Blut  sich  äußernde  Leben  entwichen  ist,  wenn  er  bleich 
daliegt.     Man  erbleicht  vor  Furcht,  wer  bleich  ist,  hat  Grund, 

*  Vgl.  die  lehrreiche  Zusammenstellung  Coliuis  Mapporti  fra  Vltdlia 
ed  altri  paesi  ßuropei  durante  Vetä  neoUtica  6 — 9  des  Sonderdruckes  aus 
den  Ätti  d.  Soc.  rom.  di  antropol.  X  1904. 


Rot  und  Tot  9 

sich  zu  fürcliten  (pallere,  pallor  usw.).  Diese  natürliche  Schluß- 
reihe führt  zu  der  Vorstellung,  der  Tote  selbst  müsse  es  ver- 
langen, durch  den  ihm  äußerlich  verliehenen  Schein  des  Lebens 
geschützt  zu  werden  gegen  böse  Einflüsse,  die  ihn,  den  Wehr- 
losen, angreifen  möchten.  So  ungefähr  muß  sich  meines  Er- 
achtens  der  scheinbare  Widerspruch  auflösen,  daß  dieselben, 
die  sich  so  scheuen  vor  dem  Gedanken,  der  Tote  könne  wieder 
zum  Leben  erwachen,  könne  seine  Ansprüche  an  die  Hinter- 
bliebenen geltend  machen,  durch  Blutopfer  und  deren  zahlreiche 
Ablösungsformen  sowie  durch  jenes  Rotmalen,  jenes  Vortäuschen 
wirklichen  Lebens  ihn  zu  befriedigen  suchen.  Solchen  Wider- 
sprüchen begegnen  wir  gerade  im  Totenkultus  von  Naturvölkern 
noch  heutzutage  vielfach. 

Je  früher,  um  so  allgemeiner  und  intensiver  wurde  solches 
Rotmalen  der  Leichen  geübt,  und  zwar  nicht  nur  bei  unseren 
europäischen  Völkern,  sondern  auch  ganz  anderswo.  Gerade 
diese  Übereinstimmung  so  vieler  und  zum  Teil  voneinander 
gänzlich  getrennter  Völker  zwingt  uns,  die  Erklärung  dieser 
Sitte  aus  einem  möglichst  primitiven  einfachen  Denkprozeß 
heraus  zu  gewinnen. 

Im  Museo  preistorico  in  Rom  ist  ein  oft  besprochenes 
neolithisches  Grab  von  Sgurgola  im  Hernikerland  ausgestellt. 
Deutliche  Reste  roter  Farbe  sind  am  Skelett  sichtbar,  auch 
mit  völliger  Treue  wiedergegeben  auf  der  farbigen  Tafel  im 
Buü.  di  pal.  XXIV  tav.  XVI  =  Colini,  Remedello  I,  wo  der  ab- 
gebildete Schädel  Ton  und  Verteilung  der  Farbreste  vortreff- 
lich zeigt.  Auch  zwei  der  mitgefundenen  Steinpfeilspitzen 
ließen  vielleicht  nur  zufällig  auf  sie  geratene  Spuren  der 
gleichen  roten  Farbe  erkennen. 

Reste  in  gleicher  Weise  rotgefärbter  Skeletteile  ent- 
stammen der  Caverna  delle  Felci  auf  Capri  (Bull,  di  pal. 
XXVIII,  6). 

In  Sizilien  sind  rotgefärbte  Menschenknochen  einigen 
neolithischen   Grotten    in    der  Nähe    von  Palermo   entnommen 


IQ  Friedrich  von  Duhn 

(BuU.  di  pal.  VIII,  48,  XIX,  48,  XXIY,  228,  Rendic.  dei  Lincei 
Ser.  III,  VIII,  155);  auch  unweit  Catania  fanden  sich  solche 
(Bull,  di  pal.  XVIII,  81),  während  das  übrige  von  Orsi  so 
sorgsam  untersuchte  Ostsizilien  bis  jetzt  keine  weitere  Spur 
der  Sitte  aufweist  (vgl.  Orsi,  Bp.  XVII,  76).^ 

Sehr  reichliche  Beweise  haben  die  Grotten  Liguriens 
geliefert,  namentlich  die  vielbesprochenen  Grotten  der  Gegend 
von  Mentone  (dort  besonders  die  Balzi  rossi),  sowie  die  Grotten 
des  Finalese  (Arene  candide,  PoUera  u.  a.).  Die  Literatur 
hierüber  hat  mit  erschöpfender  Vollständigkeit  Colini  zusammen- 
gestellt: Bull,  di  pal.  XIX,  248 ff.  und  XXVIII,  6—20  (Reme- 
deUo  I,  106 — 107).  Issel  faßt  z.  B.  die  Beobachtung  an  einem 
solchen  Schädel  in  die  Worte:  „larga  zona  colorata  irregolar- 
mente  di  rosso  mattone  da  una  sostanza  granosa  e  polverosa, 
cementata  da  concrezioni  calcari.  Si  tratta  sicuramente  di 
ocra,  di  cui  era  tinta  la  fronte  del  cadavere  all'epoca  del 
seppellimento." 

Die  Ausgrabungen  der  Brüder  Siret  haben  in  Spanien 
Gleichartiges  erwiesen.  Im  südöstlichen  Spanien  sind  nament- 
lich an  den  drei  Grabungsstätten  El  Argar,  l'Oficio,  Fuente 
Alamo  zinnoberrot  gefärbte  Skelette  gefunden :  H.  und  L.  Siret, 
Les  Premiers  äges  du  metal  dans  le  Sud-Est  de  l'Espagne  156 
bis  160.  Nach  den  ungemein  sorgsamen  Feststellungen  der 
Brüder  Siret  waren  die  Leichen  zweifellos  ganz  bestattet,  zu- 
mal sich  noch  Ringe  und  Armbänder  vereinzelt  um  die  Bjiochen 
gelegt  fanden.  In  einzelnen  Fällen  ist  es  augenscheinlich,  daß 
die  rote  Färbung  der  Knochen  hervorgerufen  ist  durch  starke 
Anwendung  roter  Farbe  an  den  Gewändern  und  Kopfbinden 
der  Toten,  so  wenn  der  pl.  XX,  I,  2  abgebildete  Schädel  ein 
scharf  umschnittenes  diademartiges  Band  um   die  Stirn  gelegt 

^  Doch  ist  zu  beachten,  daß  in  einem  der  Stentinelloperiode  an- 
gehörigen  Sikulergrabe  bei  S.  Cono  bei  Licodro  Cubea  der  Boden  mit 
roter  Substanz  bedeckt  war,  solche  auch  an  mitgefundenen  Basaltsteinen 
haftete  nach  Cafici  Bp.  XXV  56,  64,  65. 


Rot  und  Tot  H 

zeigt;  die  Verfasser  erklären  richtig:  ,,cette  peinture  . ,.  .  forme 
une  bände  legerement  en  relief  sur  le  front,  ä  la  place  de  la 
naissance  des  cheveux;  en  cet  endroit  le  cräne,  qui  c'  etait 
tourne  la  face  en  haut,  offrait  une  surface  horizontale  oü  le 
cinabre,  apres  disparition  de  la  peau  et  de  la  toile,  s'affaissait 
sur  place;  une  mince  couche  de  limon  tres  fin  entrainee  par 
les  eaux  jusque  dans  le  tombeau,  a  forme  un  enduit  au-dessus 
de  la  croüte  de  cinabre  et  lui  a  conserve  une  forte  adherence 
au  cräne."  Auch  zinnoberrote  Farbe  der  dem  Toten  angelegten 
Gewänder  ist  durch  rote  Fasern  erwiesen,  sowie  durch  Knöpfe, 
die  durch  berührende  rote  Farbe  gerötet  waren:  es  mag  also 
in  manchen  Fällen  die  rote  Färbung  der  Skeletteile  tatsächlich 
verursacht  sein  durch  den  Farbstoff  der  umkleidenden  Gewän- 
der, der  nach  Zerfall  von  Geweben,  Haut  und  Fleisch,  selbst 
unverändert,  sich  den  Knochen  mitgeteilt  hat.  Doch  schließt 
diese  Erklärung  natürlich  nicht  aus,  daß  in  anderen  Fällen 
unmittelbare  Bemalung  der  Haut  des  Toten  die  Ursache  der 
Rotfärbung  der  Knochen  geworden  ist.  So  schließt  z.  B.  rote 
Färbung  der  Ansichtsfläche  des  Gesichtes  —  wie  sie  das  Skelett 
von  Sgurgola  zeigt  —  eine  Erklärung  aus,  welche  Binden 
oder  Gewänder  als  die  ursprünglichen  Farbträger  annimmt: 
darin  hat  Colini  völlig  recht. ^ 

Auch  Frankreich  ist  reich  an  Funden  dieser  Art,  nament- 
lich die  Dordogne;  Mas  d'Azil  (Ariege)  und  Hoteaux  (Ain) 
sind  ebenfalls  namhafte  Fundstätten,  schon  während  der  Renn- 
tierzeit.    Colini  a.  a.  0.  stellt  dieselben  zusammen. 

Im  Löß  bei  Brunn  (Mähren)  sind  ebenfalls  rotgefärbte 
Skeletteile  gefunden;  daß  auch  hier  die  Färbung  durch  ihre 
unregelmäßige  Verteilung  auf  der  Oberfläche  als  Produkt  natür- 
licher Filtration  nach  eingetretener  Verwesung  angesehen  werden 
muß,  lehrt  ein  Blick  auf  Abbildungen,  wie  z.  B.  Zeitschr.  f. 
Ethn.  1898,  Taf.  HL    Vgl.  Makowskys  Bericht,  Mitt.  d.  Wiener 


^  Bull,  di  pal.  XXIV  245,  not.  103  =  ßemedello  I  106—107. 


\2  Friedricli  von  Duhn 

anthrop.  Ges.  XXII  (1892)  77;  Zeitschr.  f.  Ethn.  1903,  915. 
Auch,  aus  Böhmen  sind  gleiche  Funde  bekannt. 

Aus  der  Uckermark  ist  ein  solcher  Fund  berichtet: 
Zeitschr.  f.  Ethn.  1902,  (275). 

Das  klassische  Land  jedoch  dafür  ist  bis  jetzt  Rußland. 
Die  Krim,  Cherson  und  Umgegend,  Bessarabien,  Westrußland, 
die  Gouvernements  Ekatarinoslaw  und  Orenburg,  überhaupt  das 
ganze  alte  Skythenland  haben  solche  Funde  in  Menge  geliefert, 
und  zwar  beginnend  von  ziemlich  früher  Steinzeit  bis  zu  Kur- 
ganen  der  Bronzezeit.  Erst  durch  die  große  Zahl  der  russischen 
Entdeckungen  und  ihre  gute  Beobachtung  ist  wissenschaftlich 
begründete  und  glaubhafte  Erklärung  an  Stelle  der  haltlosen 
Vermutungen  gekommen.^ 

Nach  den  in  Rußland  auf  Grundlage  von  sehr  umfassen- 
dem Material  und  durch  eine  größere  Zahl  von  Beobachtern 
festgestellten  Tatsachen  ist  in  den  weitaus  meisten,  ja  fast 
allen  innerhalb  Europas  zutage  getretenen  Fällen  die  rote 
Färbung  von  Skeletten  oder  Skeletteilen  zu  erklären  als  Folge 
roten  Anstriches  der  Leiche  vor  der  Beerdigung.  Nach  der 
Zersetzung  des  Fleisches  blieb  die  an  sich  unveränderliche 
Farbenmaterie,  fast  in  allen  untersuchten  Fällen  Eisenoxyd,  am 
Platz  und  teilte  sich  der  Knochenhaut  mit.  Jene  Rotfärbung 
mochte  sogar  schon  vor  gänzlichem  Zerfall  von  Haut  und  Ge- 
weben begonnen  haben,  da  gewisse  intensiv  rote  Farben  die 
Eigenschaft  haben,  selbst  durch  die  Poren  der  noch  lebendigen 
Haut  zu  dringen.  Herr  Kommerzienrat  Dr.  Glaser  dahier,  lange 
Direktor  der  badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  in  Ludwigs- 
hafen, teilte  mir  mit,  daß  starke  Rotfärbung  der  Knochen  oft- 
mals   post    mortem    oder   bei   Operationen   beobachtet    sei   bei 


^  Neuere  uns  Westeuropäern  zugängliche  Literatur:  Stiedas  Referat 
über  russische  Verhandlungen:  Globus  20,  8  (1898);  Knauer  Zeitschr.  f. 
Ethn.  1900  (315),  Graf  Bobrinskoy  Eev.  archeol.  1904,  I,  Iff.,  Kulakowski 
Atti  del  congresso  storico,  Rom  1904,  673—681;  und  desselben  besondere 
Abhandlung,  sur  la  question  des  squelettes  colores,  Kiew  1905. 


Rot  und  Tot  13 

Arbeitern,  die  viel  mit  den  roten  Anilinfarben  zu  hantieren 
gehabt  hätten.  Nicht  uninteressant  wäre  für  diese  Frage  die 
Feststellung  ähnlicher  Beobachtungen  bei  Arbeitern  in  Eisen- 
oder Quecksilberwerken,  z.  B.  auf  Elba  oder  in  Spanien,  um 
die  Durchlässigkeit  der  Haut  gerade  für  Eisenoxyd,  den  vor- 
wiegenden blutfarbenen  Farbstoff  der  Frühzeiten,  zu  ermitteln. 
Jedenfalls  ist  die  mit  großer  Zähigkeit  namentlich  vonVirchow 
vertretene  Theorie  von  künstlicher  Entfleischung  der  Knochen 
und  nachträglicher  Färbung  derselben  auf  die  bisher  be- 
sprochenen Fälle  nicht  anwendbar.  Es  würden  ja  alsdann  die 
Skelette  nicht  mehr  in  völlig  anatomisch  richtigem  Verbände 
in  außerordentlich  vielen  sicher  beobachteten  Fällen  aufgefunden 
sein,  und  zwar  fast  durchweg  als  liegende  Hocker;  namentlich 
Kulakowski  legt  auf  diese  Tatsache  berechtigtes  Gewicht;  auch 
die  noch  am  Platz  befindlichen  Hals-,  Arm-  und  Fingerringe 
in  spanischen  Gräbern  (s.  o.)  wären  dann  doch  mindestens 
auffällig. 

Also  eine  doch  nur  rituell  zu  erklärende  Rotmalung  der 
Leichen  ist  in  der  europäischen  Frühzeit  als  ziemlich  verbreitete 
Sitte  anzunehmen.  Wenn  nun  auch  in  griechischen  Ländern 
bis  jetzt  keine  an  Knochen  noch  erhaltenen  Spuren  der  gleichen 
Sitte  gefunden  worden  sind,  so  legen  doch  die  Auffindung  von 
Farbstoffen,  von  Färbungsinstrumenten  und  von  blutrot  be- 
malten Schutzidolen  in  den  Gräbern  der  phrygischen,  troischen 
und  Inselkultur  die  Vermutung  einstmaliger  gleicher  Übung 
nahe.  Es  wäre  alsdann  nur  begreiflich,  wenn  eine  fort- 
schreitende Zeit  an  die  Stelle  der  roten  Bemalung  des 
Körpers  selbst  seine  Einhüllung  mit  einer  roten  Decke,  wie 
in  Sparta,  gesetzt  hätte.  Und  wie  wenn  man  in  einzelnen 
hervorragenden  Fällen  solche  rote  Decke  dann  wieder  ersetzt 
hätte  durch  etwas  Bleibenderes,  Edleres:  durch  rotes  Gold? 
Ich  denke  natürlich  an  die  tief  herabreichende  Verwendung 
des  Goldes  bei  der  Totenausstattung  beginnend  mit  Mykene 
und  Kreta. 


14  Friedrich  von  Dulm 

Eine  spätere  Zeit  verzichtete  mehr  und  mehr  darauf,  das 
Rot  mit  dem  Toten  in  unmittelbare  Berührung  zu  bringen. 
Die  roten  Totendecken  sind  uns  ja  nur  noch  durcb  vereinzelte 
Beispiele  und  aus  vereinzelten  Gegenden  überliefert;  nur  die 
zu  Anfang  besprochene  rote  Ausmalung  der  Grabkammer  oder 
des  Sarges  oder  des  Behälters  für  das  Aschengefäß  blieb  nocli 
]  in  etwas  allgemeinerer  Anwendung  als  Rudiment  bestehen. 
Möglicherweise  hat  das  düstere  Schwarz  als  Trauerfarbe  sich 
mehr  durchgesetzt,  je  mehr  die  ionischen  Vorstellungen  vom 
)  dunklen  Totenreich  unter  der  Erde  die  mehr  materialistischen 
Hoffnungen  auf  ein  Weiterleben  in  einem  glücklichen  elysischen 
Jenseits  zurückdrängten.  Vielleicht  hielt  sich  das  Rot  in  den 
letztgenannten  Anwendungen  länger,  weil  nunmehr  das  feurige 
Rot  als  Farbe  des  Sonnenlichtes  geeignet  erscheinen  mochte, 
dem  Toten  sein  finsteres,  trauriges  Gelaß  zu  erleuchten:  vgl. 
Dieterich,  Nekyia,  25 — 29;  Deubner,  de  incub.  25.  Ich  ver- 
danke es  meinem  Kollegen  Dieterich,  auf  diese  Erklärungs- 
möglichkeit aufmerksam  geworden  zu  sein.  Man  denke  an  die 
Lampenbeigabe  in  Gräbern  schon  mykenischer  Zeit! 

Als  wertvolle  Analogie  für  das  Rotmalen  der  Leichen 
innerhalb  Europas  dienen  ähnliche  noch  lebende  Bräuche  bei 
Naturvölkern. 

Der  australische  Kontinent  zeigt  uns  den  Urzustand  des 
Menschen  bekanntlich  besonders  rein;  auch  die  Totenbräuche 
sind  dort  noch  außerordentlich  einfach  und  durchsichtig. 
Brough  Smyth,  der  klassische  Berichterstatter  über  die  Reste 
der  dortigen  Naturvölker,  erzählt  (The  Aborigines  of  Victoria 
I,  ni)  über  die  Narrinyeri  folgendermaßen:  „the  deceased,  lying 
on  a  hier,  is  placed  over  a  slow  fire  for  a  day  or  longer,  and 
when  the  skin  blisters,  it  is  removed.  All  the  apertures  of 
the  body  are  sewn  up  (natürlich  um  der  Seele  den  Ausweg 
oder  den  bösen  Geistern  den  Eingang  zu  versperren,  gerade  wie 
noch  heute  z.  B.  in  manchen  griechischen  Gegenden),  and  it  is 
rubbed  with  grease  and  red  ochre.    Finally  it  is  set  up  naked 


Rot  und  Tot  15 

on  a  stage^  formed  of  branclies  and  boughs  of  trees,  and  pro- 
tected  by  a  covering  of  branches.  A  small  fire  is  lighted 
under  it,  wbicb  is  kept  up  by  the  attendants  until  it  is  dry,  and 
finally  it  is  wrapped  up  in  mats  and  placed  in  a  wurley"  usw. 
S.  112  bericbtet  er  ungefähr  dasselbe  von  einem  anderen  Stamm, 
beschreibt  die  Trauerversammlung  um  den  rotgemalten  aufrecht 
sitzenden  Toten  und  erwähnt  „  . . .  the  old  men  moving  their  long 
wands,  on  which  they  have  tied  bunches  of  feathers,  in  order 
to  paint  the  body  with  ochre".  Von  Encounter  Bay  in  Süd- 
Australien  berichtet  er  (S.  113),  daß  der  Leichnam  in  Hocker- 
stellung gefesselt  wird:  „the  tying  was  to  prevent  him  from 
Walking",  wurde  ihm  (S.  119)  völlig  zutreffend  bei  den  ganz 
primitiven  Dieyeries  von  Coopers  Creek  in  Süd -Australien  von 
diesen  selbst  bemerkt;  dasselbe  bedeutet  die  Fesselung  bei  den 
südamerikanischen  Hockern:  Preuß,  Die  Begräbnisarten  der 
Amerikaner  und  Nord -Ost -Asiaten  227.  Alsdann  beginnt  eine 
langsame  Röstung  durch  zwei  Feuer,  bis  die  Haut  sich  löst: 
„after  this  all  the  openings  of  the  body  are  sewn  up,  and  the 
whole  surface  rubbed  with  grease  and  red  ochre."  Alsdann 
die  nochmalige  Röstung  und  Trocknung;  darauf  wird  der  Tote 
mehrere  Monate  lang  zu  allen  Plätzen  seines  früheren  Lebens 
herumgeführt,  als  ob  er  noch  lebend  wäre.  Erst  dann  läßt 
man  ihn  in  freier  Luft  verwesen.  Ist  die  Verwesung  erfolgt, 
so  ist  es  ungefährlich,  seinen  Namen  zu  nennen:  also  bis  da- 
hin ist  das  Leben  oder  der  Schein  des  Lebens  da,  den  zu  er- 
halten die  Verstopfung  der  Leibesöffinungen  dient,  sowie  die 
Rotmalung;  bis  dahin  ist  zu  erwarten,  daß  der  Tote  zurück- 
kehren kann,  muß  alles  geschehen,  um  ihn  bei  guter  Stimmung 
zu  halten.  Daß  die  rote  Farbe,  womit  der  Tote  bestrichen 
wird,  Ersatz  für  wirkliches,  ihm  als  Lebenssaft  nahe  gebrachtes 
Blut  ist,  auch  bei  unseren  europäischen  Völkern  schon  nach 
den  obigen  Darlegungen  wahrscheinlich,  wird  durch  die  von  ■■ 
Brough-Smyth  beschriebenen  Bräuche  für  Australien  ganz  sicher.  ^ 
So  erzählt  er  von  West -Australien  I,  117,  daß,  nachdem  der  zum 


IQ  Friedrich  von  Duhn 

Grabe  getragene  Tote  niedergelegt  ist,  Weiber  und  Männer  sich 
die  Schenkel  aufkratzen  und  aufschlagen:  „at  the  flowing  of 
the  blood  they  all  said:  I  have  brought  blood  —  dies  bevor 
er  ins  Grab  gelegt  wird  — ,  then  stamped  the  foot  forcibly 
on  the  ground  sprinkling  the  blood  around  them;  then  wiping 
the  wounds  with  a  visp  of  leaves,  they  threw  it  bloody  as  it 
was  on  the  dead  man"  usw.  Auch  aus  Victoria  berichtet  er 
(II,  274)  von  starker  gegenseitiger  Verletzung  der  trauernden 
Männer  über  dem  ins  Grab  gelegten  Leichnam  eines  Mannes: 
„they  bleed  copiously  over  the  corpses;  these  men  all  bled 
freely,  and  in  Submission,  tili  the  grave  was  covered  with 
blood".  Über  ein  Ablösungsstadium  solchen  Blutopfers  teilt  er 
I,  101  mit,  daß  —  anderswo  —  die  nächsten  Angehörigen  ver- 
suchen, sich  mit  dem  Tomahawk  des  Verstorbenen  an  der  Seite 
des  Leichnams  zu  verwunden,  aber  durch  die  anderen  Hinter- 
bliebenen daran  gehindert  werden. 

So  haben  die  Bulineger  von  Kamerun  und  aus  dem  Niger- 
Benuegebiet  nicht  nur  im  Leben  die  Gewohnheit,  sich  mit  einer 
Art  Rotholz  anzumalen;  auch  die  Toten  werden  so  bemalt,  und 
es  ist  beobachtet,  daß  diese  Farbe  sich  nachher  den  Knochen 
mitteilt  (Zeitschr.  f  Ethn.  1900,  [347]  und  Tafel  V).  Die 
peruanischen  Mumien,  z.  B.  die  in  den  Museen  von  Hamburg, 
Berlin  und  anderswo  so  gut  zu  studierenden  Ankonmumien  sind, 
nachdem  sie  als  sitzende  Hocker  gefesselt  und  umwickelt  sind, 
rot  bemalt  worden;  auch  bei  ihnen  ist  die  rote  Farbe  vielfach 
durch  die  Haut  hindurch  in  die  Knochenhaut  eingedrungen, 
wie  man  namentlich  da,  wo  Hautstücke  sich  zufällig  oder  durch 
Verletzung  abgelöst  haben,  mit  Leichtigkeit  beobachten  kann. 
Selbst  Virchow  glaubte  hier  die  Mitwirkung  eines  religiösen 
Gedankens  annehmen  zu  müssen  (Zeitschr.  f.  Ethn.  1899 
[414]). 

Es  handelt  sich  hier  also  um  einen  Denkprozeß,  der 
autochthon  auf  einer  gewissen  primitiven  Kulturstufe  sich  über- 
all hat  bilden  können   und  Sitten  hervorrief,   die  vor   höher- 


Eot  und  Tot  17 

steigenden  Anschauungen  zurückweichen  mußten  und  nur  noch 
wie  in  Griechenland  rudimentäre  Spuren  ihres  einstigen  Daseins 
zurückließen. 

Nahe  verwandt  ist  eine  andere  Sitte,  deren  Vermengung 
mit  der  bisher  besprochenen  mancherlei  Verwirrung  hervor- 
gerufen hat.  Ich  meine  die  Rotfärbung  der  Knochen  nach 
vorhergegangener  auf  natürlichem  oder  künstlichem  Wege  her- 
beigeführter Entfleischung  derselben.  Brough  Smyth  bezeugt 
als  noch  heute  bei  einigen  australischen  Stämmen  üblich  Rot- 
bemalung  männlicher  Schädel  nach  vorausgegangener  Mazerie- 
rung durch  Fäulnis,  mitunter  auch  beschleunigt  mit  Hilfe 
schwachen  Feuers  (I,  XXVII— XXIX  und  p.  98.  Vgl.  Zeitschr.  f. 
Ethn.  1898  [75],  [282]-[283]).  Auf  Matupi  (Bismarckarchipel) 
sah  Finsch  1881,  daß  nach  Jahresfrist  die  Schädel  der  Reichen 
aus  den  Gräbern  aufgenommen,  rot  bemalt  und  festlich  aus- 
gestellt wurden.  Solche  Bemalung  zeigt  z.  B.  kunstvolle  Ein- 
fassung der  Kieferränder  und  Augenhöhlen  mit  roten  Streifen, 
auch  wurden  mitunter  rote  Streifen  oberhalb  der  Augenbrauen 
oder  sonst  im  Gesicht  bis  auf  die  Höhe  des  Schädels  gezogen 
(Zeitschr.  f.  Ethn.  1901  [383]).  Auf  den  Andamanen  trägt  die 
Witwe  den  Schädel  ihres  Mannes  zeitlebens  an  einer  Schnur: 
dieser  Schädel  wird  mit  einer  dicken,  festanhaftenden,  wohl- 
riechenden, roten  Masse  überzogen,  mitunter  nach  vorauf- 
gegangener Aufrauhung  des  Schädels  durch  ein  eingraviertes 
Liniennetz  (Zeitschr.  f.  Ethn.  1898  [283]). 

Weit  verbreitet  ist  die  gleiche  Sitte  in  Amerika.  Mit 
dankenswerter  Ausführlichkeit  berichtet  v.  d.  Steinen  darüber. 
Rot  bemalen  sich  die  Menschen,  so  die  Bakairi  (v.  d.  Steinen, 
Durch  Zentralbrasilien  159),  die  Suya  (ebenda  219)  u.  a.  Dem- 
entsprechend denkt  sich  der  Paressi,  er  werde,  wenn  er  in  den 
Himmel  komme,  durch  einen  Ahnenheros  des  Volkes  dort  rot 
bemalt.  Alsdann,  so  meint  er,  lebten  sie  dort  wie  auf  Erden 
(v.  d.  Steinen,  Unter  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens  434). 
Hand  in  Hand  mit  dieser  Vorstellung  geht  der  Glaube,  daß  die 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  IX  2 


IQ  Friedricli  von  Duhn 

Toten  sich  in  rote  Vögel,  die  schönen  Arakas  verwandeln.  Um 
diese  Verwandlung  herbeizuführen  oder  zu  erleichtern,  werden 
nun  bei  allen  Indianern  Südamerikas  von  Guyana  bis  hinab 
ins  südliche  Brasilien  nach  provisorischer  Beerdigung  die  Toten 
exhumiert,  sorgsam  entfleischt  und  alsdann  die  Knochen  mit 
Uruku  rot  gefärbt;  darauf  folgt  eine  Ausschmückung  dieser 
Knochen,  namentlich  des  Schädels  mit  roten  Federn.  Auch 
diese  Rotfärbung  hängt  wohl  mit  ursprünglicher  Blutfärbung 
zusammen,  da  Hinterbliebene  und  Leidtragende  sich  über  den 
Knochen  die  Haut  ritzen  und  das  Blut  auf  die  rot  bemalten 
oder  zu  bemalenden  Skelettreste  tropfen  lassen.  Auch  die  Leid- 
tragenden färben  sich  mit  Uruku  rot.^  Solche  in  Körbe  ge- 
sammelt beigesetzten  rot  bemalten  Knochen  waren  die  einzigen 
Überreste,  die  Humboldt  noch  vorfand  vom  untergegangenen 
Stamm  der  Aturen  (A.  v.  Humboldt  und  A.  Bonpland,  Reisen 
in  den  Äquinoktialgegenden  des  neuen  Kontinents  IV  [1823], 
541). 

Manche  Forscher  haben  dieser  Entfleischung  der  Knochen 
auch  im  Totenritual  europäischer  Völker  einen  breiten  Raum 
zuweisen,  aus  ihr  —  so  z.  B.  Virchow  —  die  oben  besprochene 
Rotfärbung  von  Skeletten  auch  in  Europa  erklären  wollen. 
Soweit  meine  Kenntnis  reicht,  sprechen  die  Tatsachen  gegen 
beides.  Nur  zwei  Fälle  möchte  ich  herausheben:  Skadowsky 
berichtet  Anthropol.  III  (1892)  500,  daß  bei  Bielozerki,  Distr 
Cherson  in  Kurganen  der  Steinzeit  gefunden  seien  des  osse- 
ments  colores  probablement  apres  la  decomposition  du  corps; 
als  Grund  für  letztere  Annahme  gibt  er  an,  daß  die  Knochen 
unregelmäßig  verstreut  gefunden  seien;  daß  das  kein  Beweis- 
grund sein  kann,  weiß,  wer  oftmals  Gräber  geöffnet  hat  und 
darin,  auch  bei  sonst  völlig  intaktem  Bestand  die  Skeletteile 
verwirrt  fand:  das  Eindringen  von  Wasser  oder  von  Nagetieren 

*  Preuß  Die  BegrähnisaHen  der  Amerikaner  und  Nordostasiaten 
123,  127;  V.  d.  Steinen  Unter  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens 
505  —  511. 


Rot  und  Tot  19 

gibt  in  vielen  Fällen  noch  heute  erkennbar  die  Ursache  an. 
Wichtiger  ist  die  Beobachtung  eines  so  gewiegten  und  ge- 
wissenhaften Forschers  wie  Piette  (Anthropol.  VII,  386 ;  Zeitschr. 
f.  Ethn.  1900,  [314]),  der  an  zwei  Skeletten  aus  Mas  d'Azil, 
die  rot  gefärbt  sind,  Schabspuren  von  Feuersteinmessem  ge- 
funden haben  will;  auch  seien  die  Knochen  außer  Zusammen- 
hang. Dieser  Fall  bedarf  jedenfalls  der  Nachprüfung,  genügt 
aber  unter  keinen  Umständen,  um  Virchows  u.  a.  Erklärung  in 
irgend  nennenswerter  Weise  zu  stützen. 

Zu  weiterer  Bekräftigung  meiner  Annahme,  daß  die  rote 
Bemalung  des  Leichnams  den  Schein  des  Lebens,  ja  eines 
höheren  Lebens  darstellen  sollte,  möchte  ich  etwas  weiter 
ausgreifen  auf  die  rituelle  Verwendung  der  roten  Farbe  über- 
haupt. 

Wenn  afrikanische  Fetische  heutzutage  zeitweilig  mit  Blut 
bestrichen  werden,  so  ist  das  ein  Opferritus;  das  Kostbarste  ist 
dem  Menschen  das  Leben;  indem  er  der  Gottheit  den  eigent- 
lichen Lebensstoff  darbringt,  sie  selbst  damit  ausstattet,  glaubt 
er  —  do  ut  des  —  die  Gottheit  zu  zwingen,  auch  ihm  wieder 
sein  Leben  sicherzustellen.  Ob  solches  Opfer  eine  Sühn- 
handlung, ob  eine  Danksagung,  ob  der  bloße  Ausdruck  einer 
Bitte  ist,  beeinflußt  die  obige  einfache  Erklärung  nicht  weiter. 
Die  Gottheit  wird  lebens-  und  tatkräftig  eben  dadurch,  daß  sie 
mit  dem  Lebensstoff  in  unmittelbare  Berührung  gebracht  wird, 
sie  freut  sich,  auf  solche  Weise  veranlaßt  und  in  den  Stand 
gesetzt  zu  werden,  ihre  eigene  Kraft  belebt  und  anwendbar 
gemacht  zu  sehen.  Verwandt,  wenn  auch  nicht  mehr  identisch 
mit  diesem  Denkprozeß  des  primitiven  Menschen  ist  ein  anderer, 
der  die  Kongoneger,  die  Bewohner  der  Nikobaren  u.  a.  ver- 
anlaßt, ihre  Fetische  alljährlich  mit  roter  Sandelholzschminke 
über  und  über  rot  zu  färben.  Solche  sich  regelmäßig  wieder- 
holende Rotfärbung  vermag  ich  nicht  anders  zu  verstehen,  als 
die  alljährliche  Neubehandlung  des  kapitolinischen  luppiter  mit 
minium  (Wissowa,  Rel.  u.  Cult.  d.  Rom.  36  und  111,  Marquardt 

2* 


l 


20  Friedricli  von  Dulin 

Staatsverw.  II,  582  ff.).  Entsprechend  trägt  Inno  einen  pur- 
purnen Mantel,  und  ebenso  die  Frauen,  die  ihr  opfern.  Und 
schwerlich  anders  als  beim  luppiter  ist  die  rote  Färbung  auf- 
zufassen, die  uns  entgegentritt  auf  altitalischen  Terrakotten 
und  Skulpturen  aus  weichem  Stein,  auf  etruskischen  Porträt- 
büsten und  Wandmalereien  (z.  B.  den  TontafeLn  von  Caere,  den 
Masken  des  Phersu  [Mond.  d.  Ist.  XI,  25]  u.  a.),  desgleichen  auf 
altgriechischen  Porosbildwerken  und  (literarisch  überliefert)  auf 
alten  Schnitzbildern,  an  männlichen  Gestalten  auf  polychromen 
archaischen  Vasen  usw.  Es  soll  eben  wirklich  pulsierendes 
kraftvolles  Leben  zum  Ausdruck  gebracht  werden.  Je  ur- 
sprünglicher die  Kunst,  um  so  naiver  und  unmittelbarer  die 
Versuche,  die  Illusion  des  Lebens  zu  erwecken.  So  mußte 
auch  der  Triumphator  sich  mit  dem  Menniganstrich  des  luppiter 
o.  m.  schmücken,  um  als  lebendiger  Repräsentant  des  höchsten 
Gottes,  dessen  Epiphanie  seinen  Mitbürgern  darzustellen  er  be- 
rufen war,  von  der  Jugendkraft  desselben  eine  möglichst  augen- 
fällige Vorstellung  zu  geben.  Das  gleiche  bedeutet  natürlich 
die  rote  Färbung,  mit  welcher  gerade  die  kräftigsten  Natur- 
dämonen, wie  Pan,  Silene,  Satyrn,  Priapos,  Silvanus  u.  a.,  auch 
der  Phallos  selbst,  wo  er  fetischartig  auftritt,  in  typischer  Weise 
charakterisiert  wurden.  Und  wenn  die  Indianer  Nordamerikas, 
so  noch  heute  in  Kanada,  sobald  sie  auf  den  Kriegspfad  gehen, 
sich  durch  roten  Anstrich  ein  mehr  kriegerisches  Ansehen  geben, 
so  ist  das  schließlich  wiederum  dasselbe.  Ebenso,  wenn  die 
Schamanen  ihr  Gesicht  rot  färben.  Die  natürliche  Wahrnehmung 
der  Rötung  des  Antlitzes  bei  jeder  durch  inneren  oder  äußeren 
Anlaß  hervorgerufenen  Erregung,  bei  jeder  stärkeren  An- 
spannung der  Kräfte,  mußte  dazu  führen,  in  derartiger  Rötung 
den  Ausdruck  der  Energie  zu  erkennen,  die  anderen  imponiert. 
Die  Röte  ist  physiologisch  ja  die  Folge  größeren  Blutreichtums 
der  Haut,  der  bei  einigen  Völkern  stärker,  bei  anderen  schwächer  | 
ist;  besonders  stark  z.  B.  bei  den  Ägyptern.  Bei  den  Indianern 
Amerikas  dagegen  ist  die  Rötung  wesentlich  die  Folge  regel- 


Rot  und  Tot  21 

mäßiger  Behandlung  der  Haut  mit  Ol;  starkes  Ölen  der  Haut 
bewirkt  nach  Untersuchungen  Virchows,  K.  Rankes  u.  a.  stärkere 
Rötung  der  Haut^:  daher  ist  es  sehr  leicht  denkbar,  daß  die 
uns  oft  überraschende  stark  rote  Behandlung  der  Männerhaut 
nicht  nur  in  der  ägyptischen,  sondern  auch  in  der  altgriechi- 
schen, etruskischen  und  römischen  Kunst  der  Natur  mehr  ent- 
sprochen haben  mag,  als  wir  es  uns  gewöhnlich  vorstellen, 
weil  die  heute  nicht  mehr  übliche  Ölbehandlung  der  heutigen 
Haut  des  Südländers  fehlt,  so  daß  die  pigmentarme  gelbliche 
Hautfarbe  an  die  Stelle  getreten  ist.  Somit  ist  es  sehr  wohl 
denkbar,  daß  die  Alten  sehr  viel  mehr  als  wir  an  stärkere 
Rötung  der  Männerhaut  gewöhnt,  sie  stärker  als  wir  vermißten, 
wo  sie  fehlte,  also  naturgemäß  namentlich  beim  Toten. 

Kehren  wir  noch  einmal  zum  Rot  als  Ausdruck  von  Kraft, 
von  pulsierender  Lebensenergie  zurück!  Wir  sind  der  Anwendung 
von  roter  Färbung  begegnet  gerade  bei  Göttern  und  dämo- 
nischen Wesen,  welche  besondere  Naturkraftwesen  waren.  Noch 
ein  paar  Beispiele  aus  Indien:  die  5  Pandus,  auf  den  Feldern 
aufgereihte  Steine,  die  auch  Hüter  des  Feldes  genannt  und  als 
solche  verehrt  wurden,  augenscheinlich  eine  uralte  Feldkultform, 
mußten  immer  rot  angestrichen  werden:  Opferblutersatz,  wie 
Liebrecht  meinte,  ursprünglich  vielleicht.  Aber  für  diesen  Fall 
genügt  m.  E.  auch  die  Erklärung  Moores  Hindoo  Pantheon  6, 
wenn  er  sagt:  „The  means,  by  which  the  Linga,  Siva,  Mahadeva 
are  symbolized,  are  obeliscs,  pillars  of  any  shape  especially 
pyramids,  upright  stones.  The  piUar  is  often  of  a  red  colour 
as  this  is  supposed  to  signify  the  creative  power."  So  ist 
der  heilige  Stier  in  der  Pagode  von  Surat  rot  gemalt.  Ein 
anderes  indisches  Beispiel  ritueller  Rotfärbung:  (Journ.  R.  Asiat. 
Soc.  VII  1843,  20,  danach  Frazer  zu  Paus.  V,  354)  „The 
Waralis,  a  tribe  who  inhabit  the  jungles  of  northem  Koukan 
in  the  Bombay  Presidency,  worship  Waghia,  the  lord  of  the 

*  Zeitschr.  f.  Ethn.  1898,  70.  Vgl.  übrigens  auch  Schwalbe  Mitt. 
d.  anthropol.  Ges.  Wien  XXXIV  (1904)  332. 


22  Friedrich  von  Duhn 

tigers,  in  tlie  form  of  a  shapeless  stone  smeared  with  red  lead 
(Mennig)  and  clarified  botter.  They  give  him  chickens  and 
goats,  break  cocoanuts  on  bis  bead  and  pour  oil  on  bim;  and 
be  preserves  tbem  from  tigers,  gives  tbem  good  crops,  and 
keeps  disease  from  tbem."  Oder:  „At  Poona  tbere  is  a  sacred 
stone  wbicb  is  coloured  red  and  oiled"  (Asiatic  Researcbes 
VII  394).i 

Daß  solcbe  rote  Farbe  nicbt  immer  aus  mineraliscbem 
oder  vegetabiliscbem  Farbstoff  bergestellt  war,  sondern  oft,  ur- 
sprünglicb  gewiß  sebr  viel  bäufiger  als  später,  der  originale 
Lebensstoff,  das  Blut  selbst  nocb  die  Stelle  der  künstlicben 
Ersatzfarben  einnabm,  ist  selbstverständlicb:  „In  Madagascar 
many  stones  are  anointed  witb  fat  or  oil  by  tbeir  worsbippers, 
wbo  sometimes  sprinkle  tbem  witb  tbe  blood  of  a  victim  (Frazer 
a.  a.  0.).  Hier  sind  wir  ja  der  letzten  Wurzel  der  ganzen 
Vorstellungsreibe  unmittelbar  nabe,  zugleicb  wieder  dem  Aus- 
gangspunkt der  Blutopfer.  Alle  cbtboniscben  Wesen,  cbtboni- 
scbe  Götter  und  Dämonen,  Heroen  und  Tote,  verlangen  nocb 
in  der  Zeit  ausgebildeter  griecbiscber  Religion  nacb  Blut;  für 
sie  bleibt  beim  Tieropfer,  wie  in  Urzeiten  natürlicb  beim 
Menscbenopfer,  das  Blut  das  eigentlicb  und  einzig  Begebrens- 
werte, am  Fett,  Fleiscb,  Knocben  liegt  ibnen  gar  nicbts.  Denn 
Blut  gibt  Kraft,  gibt  Leben:  bestreicbt  man  docb  deswegen  in 
Brasilien  die  Kinder  mit  dem  Blut  erschlagener  Feinde,  damit 
sie  ebenso  stark  werden,  taucbt  in  Ozeanien  die  Lanzen  in 
feindlicbes  Blut,  um  sie  unbezwingbar  zu  macben  (Mougeolle 
Rev.  de  l'antbrop.  XIV  [1885],  84).  Wer  denkt  nicbt  an 
Siegfrieds  Feiung  durcb  das  Bad  im  Dracbenblut  (Nibelungen 
Str.  899—902)! 

Diese  Sebnsucbt  aller  Unterirdiscben,  mögen  sie  nun  un- 
mittelbar als  Tote  empfunden  sein  oder  zur  Gespensterwelt 
geboren,  Erdkobolde  oder  Teufel  heißen,  gebt  durcb  alle  Vor- 

^  Viel  hierher  Gehöriges  hat  Frazer  gesammelt  in  seinem  Pausanias 
vol.  III  p.  20  —  22. 


Rot  und  Tot  23 

Stellungen  noch  des  heutigen  Volksglaubens  durch;  mit  Blut 
verschreibt  sich  Faust  dem  Mephisto,  in  rotem,  goldverbrämtem 
Kleide  tritt  noch  bei  Goethe  Mephisto  auf,  die  rote  Hahnenfeder 
schmückt  seinen  Hut.  Satan  ist  „der  Rote",  doch  gewiß  eher, 
weil  er  der  „Unterirdische"  ist,  wie  als  Nachfolger  des  Blitz- 
und  Donnergottes  Donar,  der  „rot"  war,  wie  der  indische 
Rudra,  weil  Rot  die  Farbe  von  Licht  und  Feuer  ist.  So  sind 
noch  heute  in  Hinterpommern  die  Unterirdischen  kenntlich  an 
roten  Mützen,  die  sie  regelmäßig  tragen  (Knoop,  Volkssagen, 
Erzählungen  usw.  aus  dem  östlichen  Hinterpommem,  108).  So 
anderswo  die  Erdmännchen,  Zwerge,  Kobolde  usw.  So  werden 
noch  heute  als  Rarität  in  den  Wiener  Sammlungen  (früher  in 
der  Hofburg)  zwei  Alraune  aufbewahrt,  die  in  rote  Scharlach- 
gewänder gekleidet  sind  (Rochholz).  So  haben  die  Hexen  rote 
Augen,  auch  wohl  rote  Haare.  Die  Geister  des  irischen  Volks- 
glaubens sind  rot  gekleidet  und  dabei  boshaft  und  tückisch  (ge- 
wiß nicht,  wie  Rochholz  meint,  weil  die  in  Irland  so  un- 
beliebten englischen  Soldaten  rot  gekleidet  seien).  Rote  Haare 
und  roter  Bart  zeigen  nach  weitverbreitetem  Volksglauben 
boshafte,  tückische  Art  an.^  Nach  aargauischem  Glauben  steckt 
sogar  in  rotem  Schwein  eine  Hexe.  Judas  hatte  nach  der 
Ansicht  des  Volkes  rote  Haare. 

Die  Versuchung  läge  sehr  nahe,  solche  Betrachtungen  über 
die  Bedeutung  der  roten  —  und  zwar  der  blutroten  —  Farbe 
noch  weiter  auszuspinnen,  an  ihre  Bedeutung  als  Farbe  des 
Blutes  zunächst  ihren  abwehrenden,  apotropäischen  Charakter 
anzuknüpfen,  daran  wieder  ihre  Bedeutung  als  Glücksfarbe, 
Hoheitsfarbe  usw.  Ein  langes  und  ungemein  interessantes, 
überall  in  die  Gegenwart  hinabführendes  Kapitel.  Doch  würde 
mich  dessen  Verfolgung  zu  weit  abbringen  von  dem  Rahmen, 
welchen  ich  diesen  meinen  Betrachtungen  habe  geben  wollen, 

^  Wackernagel  Kleine  Schriften  I  172  ff.,  Grimm  DWTSl  1296, 
Schiller  -  Lübben  Mittelniederdeutsches  Wörterb.  in  512,  Wuttke- Meyer 
Völksabergl.  218  u.  sonst  oft. 


24  Friedrich  von  Duhn    Rot  und  Tot 

durch  die  Übersclirift  „R^^  ^^^  Tot".  Ich  wünschte  zu  zeigen, 
an  einem  Beispiel,  wie  sorgsame  Sammlung  und  Untersuchung 
von  Bräuchen,  die  nur  in  der  Peripherie  der  Mittelmeergebiete, 
in  Spanien  und  Rußland  noch  in  die  Metallzeit  hinabreichen, 
in  den  zwischenliegenden  Ländern  schon  in  der  Steinzeit  zu 
Ende  gehen,  aber  bei  Naturvölkern  klärende  Parallelen  haben, 
uns  helfen  können,  um  Erscheinungen  der  klassischen  Zeiten, 
ja  in  einigen  Ausschwingungen  noch  unserer  Tage  als  rudimen- 
täre Überlebsel  primitiven  Denkens  zu  erfassen  und  so  zu 
verstehen. 


Hermes  und  die  Hermetik 

Von  Th.  Zieliuski  in  Petersburg 
[Schluß] 

n 

Der  Ursprung  der  Hermetik 

23.  Im  vorhergehenden  Abschnitt  haben  wir  dargelegt 
daß  in  der  hermetischen  Literatur  drei  dogmatische  Schichten 
durcheinander  gerührt  sind;  es  wird  im  Interesse  der  folgenden 
Untersuchung  angezeigt  sein,  die  hauptsächlichen  Dogmen  in 
knappster  Fassung  nebeneinander  zu  stellen: 


peripatetische  * 
Fassung 


'  platonisierende ' 
Fassung 


'  pantlieistische ' 
Fassung 


1)  Wer  hat  die  Welt  erschaffen? 


Die  'hermetische Drei- 
faltigkeit': Novs,  Novg 
driiiLOVQyog  (  ='Epfti]s) 
und  Aoyog. 


Bei  Novg  archetypisch 
im  Sein,  worauf  sie  die 
BovXriaLg  &60v  Xaßovca 
tbv  Aoyov  in  der  Er- 
scheinung   nachbildete. 


Gott,  indem  er  aus 
sich  die  Welt  als  zweites 
göttliches  Wesen  schuf. 


2)  Wo  kommt  das  Übel  her? 


Aus  der  Welt,  die  ein 
TcXrjQcaiiu  %ccy,iag  ist  und 
das  Gute  nicht  faßt. 


Aus  der  Erde  allein, 
während  die  Welt  gut 
ist. 


Aus  der  Welt,  die  wohl 
bonorum  plenissima  ist, 
aber  als  das  All  auch 
die  Samen  des  Übels 
enthielt. 


3)  Wie  ist  der  Mensch  gefallen? 


Durch  Ansteckung  der 
PI  anetengeister ,  deren 
Sphären  er  im  Gottähn- 
lichkeitswahn durch- 
brechen wollte. 


Durch  Vermählung 
mit  der  Erscheinung 
und  seinem  Trugbild 
darin,  zu  dem  er  in 
Liebe  entbrannte. 


Überhaupt  nicht. 


26 


Th.  Zielinski 


peripatetische' 
Fassung 


platonisierende ' 
Passung 


'pantheistische' 
Fassung 


4)  Wozu  ist  der  Mensch  ins  irdische  Leben  versetzt? 


Zur   Strafe    für    den 
Sündenfall. 


Zur  Strafe 
Sündenfall. 


für    den 


Als     Zuschauer    der 
Herrlichkeit   der  Welt. 


5)  Was  ist  das  riXog^des  Lebens? 
Die  Rückkehr  zu  Gott  Die  Rückkehr  zu  Gott   1       Die  Verjüngung   der 

(ccjtod'icoöLg).  {jtalLyysvseia).  \   Welt  {aravsoGisy 

6)  Wie  wird  die  Rückkehr  zu  Gott  erreicht? 
Durch    tugendhaften   1       Durch  Abtötung  der 
Wandel.  Sinne. 


7)  Wie  wird  das  Böse  bestraft' 


Durch 


den 


tllKOQOg 


Das  Mittel  der  notwen- 
digen Fortpflanzung. 


Durch  Wanderung  der 
Seele  in  Tierleiber. 

8)  Was  ist  der  ^gag? 
Als  Ursache  des  To- 
des das  hauptsächliche 
Übel. 


Durch  sich  selbst. 


Ein  herrliches  Myste- 
rium. 


Das  Besitztum  weni- 
ger, die  er  zu  Gott  führt. 


Die  allgemeine  Gabe. 


9)  Was  ist  der  vovg? 
Das  Besitztum  weni- 
ger, die  er  zu  Gott  führt. 

Wie  sich  der  Leser  ferner  erinnern  wird,  ist  die  ^peripa- 
tetische'  Fassung  die  Grundfassung  der  Hermetik;  die  plato- 
nisierende offenbart  sich  schon  dadurch  als  ein  späterer  Ein- 
schub,  weil  in  ihr  für  Hermes  schlechterdings  kein  Platz  ist. 
In  der  Tat,  wenn  wir,  dem  obigen  Grundsatz  gemäß  (§  21), 
das  Mythologem  als  den  Vater  des  Philosophems  ansehen,  so 
ist  Hermes  —  neben  Zeus  —  der  zweite  Gott  der  Hermetik; 
er  ist  somit  in  der  peripatetischen  Fassung  der  Novg  ^rjiiiovQyog, 
in  der  pantheistischen  der  göttliche  Kosmos  —  für  die  erstere 
Annahme  enthielt  die  Koqt}  xööiiov  die  Bestätigung,  für  die 
zweite  steht  sie  noch  aus.  Anders  die  platonisierende  Fassung: 
sie  bietet  uns  keinen  Hermes,  ist  somit  in  der  Hermetik  nicht 
ursprünglich.     Und  da  sie  sich  zudem  voll  und  ganz  erklären 


Hermes  und  die  Hermetik  27 

läßt  als  die  Verbindung  platonisierender  Ideen  mit  der  Hermetik, 
so  ist  es  klar,  daß  die  Untersucliung  vom  Ursprung  dieser 
letzteren  es  nur  mit  zwei  Fassungen  —  der  peripatetischen 
und  der  pantheistischen  —  zu  tun  hat.  Die  theologische  Formel 
der  peripatetischen  lautet:  Hermes  ist  der  schöpferische 
Novg]  die  der  pantheistischen :  Hermes  ist  der  Kosmos. 

Das  müssen  unsere  Leitsterne  sein  für  die  Forschung  nach 
dem  Ursprung  der  Hermetik.  Aber  wohin  sollen  wir  den  Weg 
nehmen? 

Reitzenstein  antwortet:  nach  Ägypten.  Mit  welchem  Recht, 
das  wird  der  Leser  schon  auf  Grund  unseres  ersten  Abschnittes 
beurteilen  können.  Wir  haben  den  gesamten  Ideengehalt  der 
Hermetik  aufgerührt;  hat  er  je  das  Gefühl  gehabt,  nicht  auf 
griechischem  Boden  zu  stehen?  Der  Hauptfehler  Reitzensteins 
war,  daß  er  den  Unterschied  zwischen  der  höheren  und 
der  niederen  Hermetik  vollkommen  verwischt  hat.  Die 
niedere,  die  Magie  und  Alchemie  vereinigt,  deren  Literatur 
die  Zauberpapyri  und  die  Goldmacherrezepte  bilden,  —  sie  hat 
tatsächlich  aus  ägyptischen  Quellen  geschöpft,  sie  konnte  es 
auch,  da  das  Vorhandene  verwendbar  war.  Die  höhere  Hermetik 
dagegen  —  diejenige,  mit  der  wir  es  hier  zu  tun  haben  — 
konnte  es  beim  besten  WiUen  nicht.  Was  man  so  „ägyptische 
Religionsphilosophie"  nennen  könnte,  mußte  dem  griechischen 
und  griechisch  gebildeten  Geist  einfach  unverständlich  sein; 
es  sind  tatsächlich,  wie  der  hermetische  Spötter  sagt,  g)G}vccC, 
nicht  Xöyog^  die  griechisch  überhaupt  nicht  wiederzugeben  sind. 

Wir  wollen  das  an  dem  Resultat  feststellen,  das  Reitzen- 
stein selber  für  das  sicherste  hält.  S.  62  &.  wird  der  ägyptische 
Hymnus  auf  Ptah  mitgeteilt.  Der  Hymnologe  unterscheidet 
von  ihm  acht  'Erscheinungsformen',  die  vierte  ist  'Ptah  der 
Große'.  Er  ist  zugleich  der  Allgott  Atum;  Horus  ist  als  das 
Herz,  Thot  als  die  Zunge  des  Götterkreises  Abbild  des  Atum; 
Thot  ist  in  Atum  als  Ptah  entstanden  (das  begreife  einer!). 
Das  Bewegen   aller  Glieder  vollzieht  sich  nach  Ptahs  Befehl 


28  Th.  Zielinski 

wegen  des  Wunsches  des  Herzens,  welcher  von  der  Zunge 
kommt  und  die  Gesamtheit  der  Dinge  tut.  Thot  vereinigte 
sich  mit  Ptah,  nachdem  er  alle  Dinge  hervorgebracht  hatte  usw. 
—  Will  man  den  ^ Gedankengehalt'  dieses  Theologems  griechisch 
ausdrücken,  so  erhält  man  (da  Ptah  =  Hephäst,  Horus  =  Apollon 
und  Thot  =  Hermes  ist)  folgendes:  „Auf  den  Befehl  des  Hephäst, 
den  ihm  Apollon  überbrachte,  hat  Hermes  die  Dinge  geschaffen 
und  sich  nachher  mit  Hephäst  vereinigt"  —  wie  wenig  das 
mit  der  Hermetik  zu  tun  hat,  sieht  jeder.  Anders  Reitzenstein 
(S.  66):  Ptah  ...  ist  als  Zunge,  als  Wort,  niedergestiegen,  die 
diccKoöiirjötg  zu  vollbringen;  aber  das  Wort  ist  nur  der  aus 
der  Person  herausgetretene,  gewissermaßen  emanierte  Gedanke 
„Thot  und  Horus  sind  unlöslich  in  Ptah  verbunden"  (so  wird 
also  zunächst  für  ^ Zunge'  —  'Wort'  und  für  'Wunsch'  — 
'Gedanke'  substituiert).  „Für  den  Griechen,  der  solche  Lehre 
etwa  hörte,  mußte  sich  von  selbst  folgende  Abfolge  (!)  von 
göttlichen  Wesen  bilden:  d'sog  —  drj^iovQyog  oder  drj^iovQybg 
Novg  (das  soll  Ptah  sein  —  mit  welchem  Recht,  mag  der  Leser 
entscheiden)  — ,  endlich  Novg  und  Aoyog  (also  eine  Vier- 
faltigkeit).  Das  trifft  in  der  Hauptsache  wunderbar  mit  der 
Grundvorstellung  im  Poimandres  zusammen  .  .  ." 

Mit  Yerlaub :  alle  willkürlichen  Interpolationen  Reitzensteins 
einmal  zugegeben,  wäre  der  drj^iovQybg  Novg  der  Ptah;  nun 
schafft  aber  im  Hymnus  nicht  Ptah  unmittelbar  die  Dinge,  sondern 
Thot,  im  Poimandres  dagegen  eben  der  drjiiLovQybg  Novg  auf  Be- 
fehl des  ersten  Novg:  wo  ist  denn  da  die  Ähnlichkeit?  Doch  weiter: 

„Ja,  diese  Übereinstimmung  wird  noch  stärker,  wenn  wir 
erwägen,  daß,  wenn  Thot  nach  der  dianoöiirjöLg  sich  wieder 
mit  Ptah  vereinigt,  er  diese  Ordnung  von  ihm  getrennt,  also 
von  ihm  entsendet  oder  emaniert,  vollzogen  haben  muß.^  Der 
Verfasser  hat  die  Anschauung,  daß  das  Wort  nur  der  heraus- 

^  Hoffentlicli  treffen  wir  damit  den  Sinn  des  Ägypters;  im  allge- 
meinen ist  es  unverzeihlicher  Optimismus ,  zu  glauben,  daß  unsere  Logik 
auf  die  ägyptische  Theologie  anwendbar  ist. 


Hermes  nnd  die  Hermetik  29 

tretende  Gedanke  ist  und  beide  unlöslich  zusammengeliören, 
scharf  zum  Ausdruck  gebracht.^  Hierdurch  erklärt  sich  jene 
in  der  griechischen  Schrift  uns  früher  unerklärbare  Angabe, 
daß  der  Aoyog  nach  Vollziehung  der  diccxoö^r^öig  zu  dem 
dr][iiovQybg  Novg  zurückkehrt  und  mit  ihm  zusammen  ein  ein- 
ziges Wesen  ausmacht."  Diese  Angabe  haben  wir  oben  (§  6; 
u.  S.  37)  auf  dem  Boden  der  Hermetik  selber  erklärt;  Reitzen- 
steins  Erklärungsversuch  ist  keiner,  eben  weil  seine  Gleichung 
Ptah  =  iVb'Og  drjiiiovQyog  reine  Willkür  ist;  will  man  durchaus 
die  ägyptische  Göttertetras  mit  der  hermetischen  Dreifaltigkeit 
parallelisieren,  so  ist  Ptah  —  der  Urschöpfer  —  natürlich  der 
erste  Novg,  Horus  als  der  Wunsch,  aus  dem  Reitzenstein  den 
*  Gedanken'  macht,  der  zweite  Novg  und  Thot  der  Logos  — 
und  da  sieht  man,  daß  nichts  stimmt. 

Und  das  ist  die  Methode,  die  Reitzenstein  S.  68  ausrufen 
läßt:  „Mit  ungeahnter  Sicherheit  hat  sich  der  eine  Teil  der 
Poimandreslehre  als  ägyptisch  nachweisen  lassen!"  Ich  habe 
es  für  meine  Pflicht  gehalten,  sie  einmal  kritisch  zu  beleuchten, 
nachdem  Wessely  (Woch.  f.  kl.  Phil.  1904,  S.  562)  gerade  diesen 
Teil  der  Reitzenstein  sehen  Resultate  gebilligt  hat;  ich  fürchte, 
die  ungesunden  Dünste  der  ägyptischen  Theologie  können  es 
auch  anderen  antun,  wenn  nicht  rechtzeitig  für  scharfe  kritische 
Zugluft  gesorgt  wird.  Und  da  Reitzenstein  selber  dieses  Stück 
für  das  sicherste  ausgibt,  so  glaube  ich  mit  der  Erklärung, 
daß  in  der  höheren  Hermetik,  von  Äußerlichkeiten 
abgesehen^,    gar   nichts  Ägyptisches    enthalten   ist   — 

^  So  scharf,  daß  beide  Begriffe  in  ihn  erst  hineininterpoliert  werden 
mußten,  damit  die  „Anschauung"  herauskomme. 

^  Dazu  gehören  die  Namen  Ammon,  Tat,  Isis,  Horus,  die  dazu 
dienen,  den  Offenbarungen  den  Schein  eines  fabelhaften  Alters  zu  geben 
—  so  hat  ja  auch  die  griechisch -babylonische  Astrologie  die  ägyptischen 
Schwindelzahlen  sich  nutzbar  zu  machen  verstanden.  Ferner  einige 
Kleinigkeiten,  die  über  die  niedere  Hermetik  in  die  höhere  gedrungen 
sind ,  wie  die  vyQä  ä^iiog  im  loyog  hgog  HI  u.  dgl.  m.  Mit  der  niederen 
Hermetik  ist  die  höhere  allerdings  durch  mancherlei  Fäden  verbunden; 
da  behalten  die  Untersuchungen  Reitzensteins  ihren  Wert. 


30  Th.  Zielinski 

dem     gesamten    Nebelmeer     der    ägyptisclieii    Theologie    den 
Rücken  keliren  zu  dürfen. 

24.  Den  nächsten  Schritt  wird  uns  ein  Denkmal  ermög- 
lichen, dessen  Einreihung  in  unser  Forschungsmaterial  gleich- 
falls Reitzensteins  Verdienst  ist  —  die  Straßburger  Kosmo- 
gonie  (herausg.  in  „Zwei  religionsgeschichtliche  Fragen", 
Straßb.  1901).  Es  ist  ein  episches  Fragment  aus  zweimal  45 
Zeilen  bestehend,  beidemal  zu  Anfang  besser,  gegen  das  Ende 
schlechter  erhalten.  Aus  der  gleichen  Zeit  und  von  der  gleichen 
Handschrift  ist  ein  poetisches  Enkomion  auf  Diokletian  und 
die  Seinen;  daraus  folgert  Reitzenstein,  daß  auch  die  Kosmo- 
gonie  um  diese  Zeit  gedichtet  ist.  Daß  der  Schluß  gewagt 
ist,  braucht  nicht  bewiesen  zu  werden;  doch  ist  die  Zeit  des 
Gedichtes  gleichgültig  (nur  als  Terminus  ad  quem  ist  300  n.Chr. 
von  Wert),  wichtig  die  Zeit  der  Lehre;  und  da  werden  wir 
sehen,  daß  es  sich  um  ein  dem  Poimandres  vorausliegendes 
Glied  in  der  Entwicklung  der  Hermetik  handelt. 

Ich  führe  die  entscheidenden  Stellen  mit  Reitzensteins 
Ergänzungen  an.  Wo  das  Fragment  beginnt,  handelt  es  sich 
um  die  Erschaffung  des  Hermes. 

[gJ^e^'üCTag  XLva  (iolqccv  srig  TtoXveiöiog  «^5«[^g].^ 

zstvog  07}  vsog  iörlv  ifibg  ncctQmog  'EQfiT^g^^ 

reo  (idla  TtoXX'  iTcetsXXe  Tia^stv  iteqiY.ccllia  %\o6\iov]. 


^  Dazu  Reitzenstein:  „Wiewohl  die  Erwähnung  der  Kräfte  an  Philo, 
die  Betonung  der  Emanation  an  die  Gnosis  erinnern  könnte,  wird  es 
besser  sein  (sie) ,  an  ägyptische  priesterliche  Formeln  und  Vorstellungen 
zu  denken.  Von  dem  Gotte  Tun  heißt  es  „dein  Auswurf  ward  zum 
Gotte  Schu  und  dein  Ausguß  zur  Göttin  Tafnut".  —  Mit  anderen  Worten : 
„wiewohl  uns  die  besten  Analogien  auf  griechischem  Boden  zu  Gebote 
stehen,  wird  es  besser  sein,  total  unähnliche  aus  der  ägyptischen  Reli- 
gion heranzuziehen."  Hat  Zeus  den  Hermes  etwa  „ausgeworfen"?  — 
Ist  etwa  Schu  =  Hermes?  Es  ist  übrigens  auch  gar  nicht  gesagt,  daß 
das  ^l^Qvüa?  auf  die  Erschaffung  des  Hermes  durch  Zeus  gehe. 

^  Hier  ist  viog  unverständlich  (anders  Eratosth.  Hermes  fr.  15 
Hiller);  ich  schwanke,  ob  (im  Hinblick  auf  den  Poimandres)  JVoog  oder. 


Hermes  und  die  Hermetik  31 

Er  gibt  ilim  daher  den  schöpferischen  goldenen  Stab  als 

Tfdörjg  evEQyoLO  vorj(iovcc  (irjteQa  riivrig^ 

und  setzt  sich  selbst  iv  jtsQicoTtfj^  um  die  Werke  des  Sohnes 
zu  schauen.     Dieser  geht  an  die  Arbeit. 

Nun  ist  so  viel  klar:  wenn  dem  Hermes  aufgetragen  wird^ 
die  Welt  zu  schaffen,  kann  er  nicht  selbst  diese  Welt  sein: 
wir  stehen  auf  dualistischem,  nicht  auf  pantheistischem  Boden. 
Wenn  also  fortgefahren  wird: 

avtaQ  6  'd'S(i7te0Lriv  g)OQmv  TetQa^vya  ^lo^cp^v 
10  6(pd-al^ov[g  %uii\^v6£  ^6}  %\jB8a^o^hrig  vnsq  ai'ylrjg, 

so  ist  entweder  die  tstQci^v^  iiOQg)7]  nicht  die  Welt  in  ihren 
vier  Elementen,  oder  g)0Q8(ov  kann  nicht  richtig  sein.  Nun 
ist  ersteres  unzweifelhaft^;  also  ist  (poQscov  zu  ändern.     In  der 


mit  Verkürzung  der  Pänultima,  dr\vai6s  zu  schreiben  ist.  'Eybog  nutQmXog^ 
'EQiifig  ist  am  natürlichsten  aus  hermetischen  Quellen  zu  erklären:  Äscl.  37 
Hermes  cuius  avitum  mihi  nömen  est.  Er  ist  für  den  Redner  'jtccTQmog^ 
wie  Zeus  für  Herakles,  Soph.  Track.  288. 

^  Dazu  vergleicht  Reitzenstein  selbst  hymn.  Merc.  529  Tcdvrccg 
iniTiQalvovecc  d'sovg  hciav  ts  v.cd  ^gycov  und  fährt  fort:  „Die  Erfindung 
kann  also  alt  sein;  doch  wirken  auf  den  Dichter  sicher  (!)  jüngere 
Zaubervorstellungen  mit  ein."  Und  nun  wird  der  Stab  des  Moses  = 
Hermes  =  Thot  herangezogen ,  der  Stab  der  Isis  —  und  so  der  ägyptische 
Einfluß  'bewiesen'. 

^  Reitzenstein :  „tEtQd^vya  bezieht  B.  Keil  auf  die  vier  Elemente^ 
und  hierfür  würden  Nonnos  12, 119  oXa  xstQa^vyi  xoeiim  und  Philo  tcsqI 
(fvyddcov  562,  23  sprechen.  Doch  wirkt  zugleich  wohl  auch  eine  ägyp- 
tische Vorstellung  mit.  Über  die  Bilder  des  Thot  als  Sonnengott  (viel- 
mehr :  einfach  des  Sonnengottes)  vgl.  Macr.  Sat.  1 19, 10."  Da  jedoch  letztere 
Stelle  für  rsrgd^v^  nichts  abwirft,  schwebt  die  „ägyptische  Vorstellung" 
in  der  Luft.  Entschiedener  ist  Reitzenstein  im  Poimandres  115;  dort 
sagt  er,  charakteristisch  genug,  „In  dem  Gedicht  . . .  habe  ich  die  ägyp- 
tischen Elemente  . . .  noch  zu  wenig  hervorgehoben.  Zu  den  beiden 
Versen  avtccQ  xtL  ist  die  oben  ...  erwiesene  Vorstellung,  daß  Hermes 
in  jedem  der  vier  Himmelsteile  eine  andere  Gestalt  hat,  und  die  für 
den  Sonnengott  übliche  Formel  'der  sich  selbst  verhüllt  in  seiner 
Pupille  und  dessen  Geist  aus  seinen  Augen  hellstrahlend  leuchtet'  zu 
vergleichen."  Was  der  letztangeführte  Aberwitz  mit  unserer  Stelle  zu 
tun  hat,   sehe  ich  nicht  ein.    Die  vier  Gestalten  des  Hermes  sind:  im 


32  Th.  Zielinski 

Tat,  warum  schließt  Hermes  die  Augen ?^  Die  Antwort  gibt 
öüsSa^o[ievr}g  vtisq  atyXrjg.  Die  Elemente  sind  noch  vermischt, 
das  Feuer  durchdringt  den  ganzen  Ball.  Kein  Auge  kann  den 
unendlichen  Glanz  aushalten;  das  verlangt  aber  nicht  cpogscDv, 
sondern  iq)OQ&v.  Vom  Schicksal  der  ^aQuccQvyt]  war  im 
zerstörten  Y.  22  die  Rede;  sie  verzieht  sich  zunächst  in  die 
oberen  Regionen  und  bildet  den  aiyX7]svta  aid-BQa  (V.  25), 
bis  aus  ihr  die  Gestirne  werden. 

Mit  seinem  Wort  und  dem  goldenen  Stab  macht  Hermes 
dem  Widerstreit  der  Elemente  ein  Ende;  sie  gehen  auseinander, 
einer  besseren  Vereinigung  in  der  Zukunft  gewärtig.  Nun 
bringt  Hermes  zunächst  den  Äther  in  kreisende  Bewegung^,  bildet 
sodann  den  Himmel  als  eine  Hohlkugel,  schmückt  ihn  mit 
den  sieben  Zonen,  jede  von  einem  Sterngeist  beherrscht,  deren 
Wandel  das  Schicksal  bestimmt.^  In  der  Mitte  der  Hohlkugel 
befestigt  er  aber  die  Erde,  deren  Achse,  von  den  beiden 
Polen  begrenzt,  sich  vom  glühenden  Süden  zum  kalten 
Norden  hinzieht.  Auf  der  Erde  sind  zwei  Weltteile,  vom 
Ozean  umgeben  und  durch  einen  langen  Golf  voneinander  ge- 
trennt. 


Osten  der  Ibis,  im  Westen  der  Pavian,  im  Norden  die  Schlange,  im 
Süden  der  Wolf;  die  sollen  hier  gemeint  sein,  statt  der  vier  Elemente? 
Trotzdem  für  tstQa^v^  nur  diese,  nicht  jene  Bedeutung  erwiesen  ist?  — 
Und  nun  der  Schluß:  „Man  kann  das  Lied  in  Wahrheit  ebensowohl 
ganz  ägyptisch  nennen."  Homer  und  Hesiod  bekanntHch  auch  —  nach 
derselben  Methode. 

^  Auch  hier  Reitzensteins  ägjrptische  Phantasien:  „ich  bin  der,  der, 
wenn  er  die  Augen  öffnet,  so  wird  es  hell,  und  wenn  er  die  Augen 
schließt,  so  wird  es  dunkel."  Nun,  Hermes  schließt  die  Augen,  und  es 
wird  nicht  dunkel  (Y.  22,25);  wozu  sollte  es  auch?  Wo  bleibt  dann 
aber  die  Ähnlichkeit? 

*  V  26  eher  TcaXivSivritov  [^r£v|e];  Reitzensteins  [avayxrjr]  läßt 
keine  Konstruktion  zu. 

'  Reitzensteins  Ergänzung  aXri  ^''  {yBiQ^a.  divBt\  ist  astronomisch 
falsch:  die  tbIqbcc  sind  am  Firmament  befestigt,  dessen  Drehung  von  der 
der  Planeten  unabhängig  ist.  Anknüpfend  an  Foim.  9  xal  ij  dioUrieig 
ccvtmv  sliiag^^vri  ttaXsttcci    ist  [fiotgav  vcpalvsL]  oder  ähnlich  zu  schreiben. 


Hermes  und  die  Hermetik  33 

Hier  bricht  die  eine  Hälfte  des  Fragmentes  ab;  die  zweite 
hat  es  mit  der  ErschaJBPung  des  Menschen  zu  tun. 

Noch  gab  es  weder  Sonne  noch  Mond;  es  herrschte  die 
taglose  Nacht,  vom  Sternenschimmer  erhellt.  Da  geht  Hermes 
ans  Werk:  durch  die  neblige  Luft  steigt  er  zur  Erde  nieder, 
von  seinem  Sohne  Logos  begleitet.  Er  geht  auf  die  Suche 
nach  einem  x&Qog  [ivxQrf\rog,  um  dort  eine  Stadt  zu  gründen, 

aörv  \%aX6jv  ccvdiijearov^  o  x,ev  nsTtoliß^hov  eiri 
aS,Lo\y  ävxl'QcoTtoDv  yevejriv  svcpsyyia  SeyQ'aL^ 

wie  ich  ergänzen  möchte.  Den  Norden  verwirft  er  (Y.  15 — 20) 
als  unfähig,  das  Menschengeschlecht  aufzuziehen;  ebenso  den 
Süden  (Y.  21 — 2^):  zusammenfassend  betont  Y.  27  —  30  die 
Ungeeignetheit  beider  großer  Weltteile  (Y.  21  .  ,  .  dvco  aatä 
Tcoö^ov  saöi)  zur  Aufnahme  des  Menschensamens;  was  bleibt 
dann  aber  übrig?  Ich  denke,  wenn  die  i'JTtsiQOC  ausgeschlossen 
werden,  so  bleibt  eine  Insel,  eine  vfjöog  nach  .  .  .  vielleicht  die 
des  Pelops?  Sehen  wir  erst  die  Bruchstücke  der  arg  beschädigten 
Stelle  an:  Y.  33  . . .  dyxsavolOf  34  , . .  vo^Cr}div  söoötcsv  (ßdozsv?). 
In  diesem  Zusammenhang  läßt  sich  kaum  etwas  anderes  ergänzen 
als  [vv^Kpccigl  voiiii^öiv.  Das  würde  stimmen:  Nomia  ist  als 
Schwester  der  Kallisto  eine  arkadische  Nymphe.  No^ia  heißt 
eine  arkadische  Bergkette  mit  einem  Heiligtum  des  Pan  Nomios 
(Paus.  X  31,  10;  YIII  38, 11).  Also  war  von  Bergen  die  Rede, 
die  Hermes  den  Nymphen  der  Weide  schenkte;  wenn  es  weiter 
heißt .  .  .  ta)v  ds  ys  iiiööog^  so  verstehen  wir  das  am  ehesten 
von  einem  Fluß,  der  mitten  aus  den  Bergen  entspringt,  viel- 
leicht vom  Zauberstab  des  Hermes  hervorgerufen.  Ist  von 
Arkadien  die  Rede,  so  kann  nur  Arkadiens  Hauptfluß  gemeint 
sein,  der  Ladon.  Weiter  mit  Reitzensteins  gefälligen  Ergänzungen 
[lexlaoiäg  GyyvyCi]  x[ov]v  — ,  also  wird  die  arkadische  Erde  vom 
Flusse  befruchtet.    Kann  die  nun  coyvyCi]  heißen?    Allerdings': 

^  Reitzenstein  legt  viel  Wert  darauf,  daß  Ägypten  bei  Steph. 
Byz.  ayvyicc  Meß.  Nun  ja;  es  war  aber  auch  'ÄQ^udla  Alyv-rctov  noXig, 
nach  demselben  Steph.  Byz. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  IX  3 


34  Th.  Zielinski 

Call.  I  13  von  Parrhasia  aXXd  i  'PsCrjs  ciyvyiov  KaXeovöi 
Xs%6iov  'A%idavfiB$  (='AQ7tdÖ£g).  Das  .Weitere  ist  unverständ- 
lich, aber  von  einer  Tochter  des  Ladon  und  der  Erde  weiß 
die  Sage  allerdings  zu  erzählen:  es  war  Daphne  (Sjhel  in 
Roschers  Lex.  Myth.  s.  v.;  s.  u.  §  28). 

25.  Das  ist  freilich  erst  eine  Möglichkeit:  die  Gewißheit 
muß  anderswoher  kommen.  Aber  so  viel  ist  sicher:  von  der 
ganzen  Straßburger  Kosmogonie  ist  auch  nicht  ein  Atom  auf 
ägyptische  und  überhaupt  außergriechische  Einflüsse  zurück- 
zuführen. —  Und  nun  nehmen  wir  die  einzelnen  Punkte  durch. 

Auch  die  Straßburger  Kosmogonie  erkennt  eine  Dreifaltig- 
keit an:  Gott  der  Yater  (des  Hermes,  also  Zeus),  Hermes 
und  Logos.  Und  zwar  ist  Hermes  der  Demiurg,  Sohn  des 
obersten  Gottes,  Logos  dagegen  Sohn  des  Hermes.  Das  stimmt 
bis  auf  einen  Punkt  genau  mit  der  Poimandrestheologie  über- 
ein: den  Novg  ^rjiiLovQyög  hatte  ja  schon  die  Köqt]  xöö^ov  durch 
Hermes  ersetzt,  oder  vielmehr  —  da  das  Mythologem  der 
Vater  des  Philosophems  ist  —  statt  des  jüngeren  metaphysischen 
den  älteren  religiösen  Begriff  bewahrt.  Der  unterscheidende 
Punkt  ist  aber  folgender:  in  der  Straßburger  Kosmogonie  ist 
Logos  Sohn  des  Hermes  und  somit  Enkel  des  Zeus,  im 
Poimandres  ist  er  Sohn  des  obersten  Novg  und  somit  Bruder  des 
Novg  ^Tj^iovQyog.  Nun  fragt  es  sich:  1)  welche  Anschauung 
ist  die  ältere?  und  2)  was  ist  der  Sinn  der  Änderung? 

Den  ersten  Punkt  betreffend  wird  man  schon  deshalb 
geneigt  sein,  der  Straßburger  Kosmogonie  den  Vorzug  zu 
geben,  weil  sie  die  mythologischere  ist;  es  kommt  aber  die 
entscheidende  Stelle  Plato  Krat.  408  C  hinzu,  die  Reitzenstein 
wohl  herangezogen,  aber  nicht  verwertet  hat;  wir  kommen 
darauf  noch  zurück,  einstweilen  nur  so  viel:  Plato  rechnet  mit 
der  gegebenen  Vorstellung,  daß  Hermes  Vater  des  Logos  ist. 
Somit  ist  die  Straßburger  Kosmogonie  ein  Mittelglied  zwischen 
Plato  und   dem   Poimandres;   und  wie  sie  an  Plato,  so  findet 


Hermes  und  die  Hermetik  35 

der  Poimandres  seinen  AnscMuß  an  die  Logosspekulationen, 
die  im  johanneischen  Evangelium  gipfeln.  Logos  ist  es,  der 
die  Elemente  scheidet  und  somit  den  Kosmos  zum  Kosmos 
macht,  er  ist  nicht  nur  unmittelbar  Sohn  des  obersten  Gottes, 
sondern  auch  dessen  ältester  Sohn;  so  erst  wurde  die  Welt- 
schöpfung durch  den  Logos  möglich.  Damit  ist  auch  der 
zweite  Punkt  beantwortet. 

Halten  wir  am  Resultat  fest:  die  Straßburger  Kosmogonie 
ist  als  Lehre  älter  als  der  Poimandres  nebst  der  KÖQrj  xöö^ov. 
So  haben  wir  die  hermetische  Theologie  rückmythologisiert, 
im  ersten  Novs  den  Zeus,  im  Novs  ^druiiovQyög  seinen  Sohn 
Hermes  erkannt;  damit  ist  auch  die  Sicherheit  gewonnen,  daß 
auch  das  dritte  Glied  der  Dreifaltigkeit,  Hermes'  Sohn  Logos, 
das  metaphysische  Substitut  einer  ursprünglich  mythologischen 
Potenz  ist.  Welches  ist  nun  diese  mythologische  Potenz?  — 
Die  Interpretation  der  Kosmogonie  hatte  uns  nach  Arkadien 
geführt  und  somit  nach  der  alten  Heimat  des  kyllenischen 
Hermes;  dort  ist  nun  der  Sohn  des  Hermes  wohlbekannt  — 
er  heißt  Pan.  Dürfen  wir  nun  den  Pan  als  das  mythologische 
Äquivalent  des  Logos  betrachten?  Die  ganze  Beweisführung 
zwingt  uns  dazu;  aber  wir  haben  auch  ein  direktes  Zeugnis, 
es  ist  das  soeben  zitierte  platonische.     Man  vergleiche: 

27.  52.  Kai  tö  ys  xov  Uäva  rov  ^Eq^ov  elvai  vlbv  dLcpvf} 
£%si  To  £k(5g,  G3  BtalQS...  Olöd'a^  ort  6  Xöyog  rb  „:;rai/" 
6riiiaCv8i  Tcal  TiVTcXsl  Tcal  ,^7CoXsl  dsC'\  %aC  86t i  dLJtXovg,  äXri~ 
^'Yig  xs  Tial  ijjsvdTJg  . . .  Ovxovv  tb  [isv  äXrjd'hg  avtov  Xstov 
aal  d'slov  Tioi  avco  ohovv  hv  toig  d'sotg^  rö  de  ipsvdog  xdto) 
ev  tolg  :toXXolg  tcov  dvd'QayTtcov  Ttal  tQa%v  xal  tQayLüöv;  . . . 
dgd'&g  ÜQU  6  „^tav"  ^rjvvcov  ^al  „afl  TtoXcov^'  —  ^,näv" 
„aiTtöXog"  EiTjj  dicpvrig  'Eq^ov  vlög^  tä  ^hv  avcod'sv  Xslog,  tä  ds 
Ttdtcod'sv  tQa%vg  xal  tQayosidTJg.  xal  sätiv  ijtoi  Xöyog  rj  Xöyov 
ddsXcpbg  6  ITav,  sotcsq  'Eq^ov  vlög  k6tiv. 

Gerade  die  letzten  Worte  beweisen,  daß  das  Mythologem, 
„Logos  Sohn  des  Hermes"   für   Plato    ein   gegebenes  war.  — 

3* 


36  Th.  Zielinski 

Ob  es  ihm  selbst  mit  dieser  Tbeorie  Ernst  war,  können  wir 
nicbt  entscheiden:  sicher  ist,  1)  daß  sie  auf  die  sehr  ernst 
gemeinte  Lehre  von  den  hypostasierten  ä^(p(o  tk)  Xöyco  in 
der  Sophistik,  die  uns  aus  Aristophanes  geläufig  ist,  zurück- 
geht, und  2)  daß  sie  in  der  Folgezeit  sehr  ernst  genommen 
wurde.  Man  sehe  sich  die  den  Logos  betreffenden  Verse  in 
der  Kosmogonie  an: 

.  .  .  6VV  Tc3  ye  Aoyog  kIsv  aylabg  vtog^ 
XccLtljrjQaLg  ntSQvysööi  %eyM6(isvog^  alsv  aAt^-ö'-^g, 
ayvriv  ccrQSKES66Lv  eioav  iitl  %slXeGL  itsi.&co, 
TtatQcoov  Kd&ccQoto  vori(iccrog  ayyslog  ojKvg. 

Ist  es  nicht  eine  offenbare  Polemik  mit  der  platonischen 
Theorie  vom  Xöyog  diJtXovg,  ccXrjd-TJg  re  Tcal  ifjsvdtjg?  Und  daß 
die  Theorie  lange  Zeit  in  den  religionsphilosophischen  Kreisen 
lebendig  blieb,  das  sehen  wir  daraus,  daß  der  Verfasser  der 
von  Hippolyt  V  134  ff.  exzerpierten  Schrift  (Reitzenstein  83  ff.) 
sie  wiedergibt  (160):  rbv  avrbv  dh  rovrov  (^'Avd'QOTtov  näml. 
Attis)  ol  ^Qvyeg  ^cc^ZcDc^n/  „c^f:rdAoi^",  ov^  on  sßoöxsv  atyag 
oittl  tQccyovg,  d)g  ol  tl^vx^^ol  övo^d^ovöiv^  äXX  oxi  eötiv  ,,dei- 
7t6Xog'\  xovx  s6tiv  6  „a£t  TtoX&v^'  Tcal  ötQB(pG)v  xccl  utSQieXavvcjv 
rbv  7i60[iov  olov  ötQOcpfj. 

Also  noch  einmal:  das  Mythologem,  das  mit  stufenweiser 
metaphysischer  Umdeutung  in  die  Lehre  der  Straßburger 
Kosmogonie,  von  dort  in  die  Poimandreslehre,  von  dort  in 
die  spätere  Hermetik  —  und  daneben  in  die  Lehre  der  Stoa 
und  die  sonstige  Logosspekulation  —  übergegangen  ist, 
lautete  ursprünglich  folgendermaßen:  Zeus  zeugte  den  Hermes, 
Hermes  den  Pan.  Gewiß  ist  in  dieser  Fassung  mitnichten  die 
Tiefe  der  späteren  Spekulation  auch  nur  als  Keimanlage  ent- 
halten; aber  ebenso  sicher  scheint  mir  zu  sein,  daß  niemand 
auf  den  Einfall  gekommen  wäre,  den  Xöyog  als  Gottheit  zu 
hypostasieren,  wenn  sich  diese  Göttlichkeit  nicht  von  selbst 
als  philosophische  Umdeutung  des  ursprünglichen  Pan-Mytho- 
logems    ergeben    hätte.      Und    hier    ist    der    Punkt,    wo    die 


Hermes  und  die  Hermetik  37 

gesamte  Logosforschung  einzusetzen  hat.  Theoretisch  geben 
alle  zu,  daß  das  mythologische  Denken  dem  metaphysischen 
vorangegangen  ist;  praktisch  scheut  man  sich,  die  Konsequenzen 
zu  ziehen  und  die  griechische  Philosophie  aus  der  griechischen 
Religion  zu  entwickeln. 

Hier  liegt  die  Sache  deutlich,  die  Tradition  kommt  der 
Deduktion  bestätigend  entgegen.  Nur  eins  bleibt  unserem 
Scharfsinn  zu  erraten  übrig:  wie  kam  es,  daß  Pan  gerade  zu 
Logos  umgedeutet  wurde?  Die  Umdeutung  setzt  die  Gleichung 
Hermes  ==  iVb-Og  voraus:  weil  der  Gedanke  Vater  des  Wortes 
ist,  muß  der  Logos  der  Sohn  des  Hermes  sein.  So  kommen 
wir  denn  mit  der  Gleichung  Hermes =iVbvs  in  eine  recht  frühe, 
jedenfalls  vorplatonische  Zeit.  —  Und  noch  eins:  das  Mythologem 
„Hermes  Yater  des  Pan"  ist  nur  in  einer  Gegend  Griechenlands 
heimisch:  Pan  ist  spezifisch  arkadischer  Gott.  So  werden  wir 
denn  aber  und  aber  nach  Arkadien  geführt:  es  ist  nicht  anders, 
wir  müssen  eine  altarkadische  hermetische  Kosmogonie 
annehmen.     Das  wird  sich  uns  auch  sonst  bestätigen. 

Daß  überhaupt  gedeutet  wurde,  dazu  mag  die  Mißgestalt 
des  arkadischen  Öerdengottes  mit  die  Veranlassung  gegeben 
haben.  Er  war  ein  dicpvTJg]  um  ihn  aufgeklärten  Verehrern 
genießbar  zu  machen,  mußte  man  ihn  symbolisch  erklären. 
Wie  sich  die  Pantheisten  des  Themas  bemächtigten,  wird  noch 
zu  entwickeln  sein  (§  32);  hier  stehen  wir  auf  dem  Boden  des 
Dualismus.  Pan  konnte  nur  der  Logos,  der  wahr -falsche  sein. 
Einer  späteren  Zeit  genügt  auch  das  nicht  mehr:  Logos  war 
der  nur -wahre.  In  Verbindung  damit  wurde  auch  die  Doppel- 
gestalt fallen  gelassen,  Logos  war  geflügelt  und  göttlich.  Nur 
eine  Reminiszenz  blieb  noch:  er  mußte  dennoch,  seiner  früheren 
Doppelgestalt  entsprechend,  avcs  oixätv  iv  tolg  d'eolg  und  xdtco 
iv  tolg  jcoXXolg  sein.  Diese  Spur  hat  sich  bis  in  den  Poimandres 
erhalten:  §  10  iTCTjdrjösv  svd'vg  ix  x&v  xatcocpSQ&v  ötoixsCaiv 
6  Tov  d'sov  Aöyog  sig  rö  xa-^-a^öv  tfjg  (pv6Bcog  drj^iovQyriiia 
xal  '^v(b%'ri  t^  druiiovQyGi  N&'  öiioovöiog  yaQ  ^v. 


38  Th.  Zielinski 

26.  „Jeder  Leser  liat  zunächst  wohl  daran  Anstoß  genommen, 
daß  in  unserem  Gedicht  Sonne  und  Mond  erst  nach  der 
Erschaffung  des  Menschengeschlechtes  zu  leuchten 
beginnen"  —  so  Reitzenstein ^  (S.  61).  Es  ist  indessen  nicht 
das  erstemal,  daß  uns  dieser  Zug  begegnet  —  wir  hatten  ihn 
bereits  in  der  Köqt]  xoö^ov  (oben  §  18).  Die  Schilderung  der 
sonnenlosen  Zeit  ist  in  beiden  Kosmogonien  nicht  unähnlich; 
man  vergleiche  die  Straßburger 

[o^TToo]  Kv%Xog  sriv  ^TTtsqiovog  ovöe  %al  avrij 
[^EllL]7t(^o)ö(ov  (srtvDcßöe)  ßoG)v  EvXrjQcc  Usliqvrjy 
\vv\^  ÖS  öt7jve%E(üg  äreQ  i]^arog  SQQse  (lovvrj 
ädtQcov  XeTcrccXerjöLv  vtco  axlXßovöcc  ßoXrjöi 
mit  der  Köqi]  zoöiiov  S.  386,  4  TtXovölccv  ts  vvxtbg  ös^vöri^rcc, 
eXdxtovL  iisv  fjXCov  ö^el  de  TtQoöcpOQOv^svrjv  (pG)tL    Dort  werden 
S.  389  f.  die  Seelen  geschaffen,  S.  391  die  Leiber  der  Menschen; 
bevor    die    Vereinigung    vor    sich    geht,    werden    S.  393    die 
Planeten  um  ihre  Gaben  angegangen,  worauf  Sonne  und  Mond 
erst  zu  leuchten  versprechen;  S.  401  f.  werden  die  Seelen  ein- 
gekörpert  und  dadurch  erst  die  Menschen  geschaffen,  und  S.  402 
erstrahlen  Sonne  und  Mond   in   ihrem   vollen  Glanz.     Daß   sie 
hier  und   in   der  Straßburger  Kosmogonie   als  Planeten  schon 
früher  vorhanden  sind,  ist  offenbar  Vermittelungstheologie:  als 
die  Schöpfung  der  sieben  Sphären  aus  Plato   in  die  Hermetik 
herübergenommen  wurde  ^,  geriet  sie  in  Widerspruch  mit  dem 

^  Wenn  er  freilicli  fortfährt,  „weil  die  Götter,  die  in  ihnen  später 
wohnen,  bei  dieser  Schöpfung  noch  selbst  eingreifen",  so  imputiert  er 
dem  Verfasser  des  Gedichtes  seine  eigene  Idee  —  daß  Hermes  sich 
später  in  die  Sonne  und  der  Logos,  glaube  ich,  in  den  Mond  verwandelt. 
Zum  Glück  wird  diese  Idee,  wie  sofort  ersichtlich,  durcla  die  JCo^?] 
Koß^ov  widerlegt.  —  Mit  Dank  soll  dagegen  das  Zugeständnis  notiert 
werden  „in  den  altägyptischen  Mythen  kann  wenigstens  ich  diesen  Zug 
nicht  nachweisen". 

^  Alt  kann  dies  mehr  astronomische  als  astrologische  Element  der 
Straßburger  Kosmogonie  nicht  sein  (astrologisch  ist  nur  das  [(loigav 
v(pcclvEL],  und  das  habe  ich  erst  ergänzt);  in  der  vorplatonischen  Her- 
metik war  es  somit  die  sternenhelle  Nacht,  während  deren  der  erste 
Mensch  bzw.  die  ersten  Menschen  geschaffen  wurden. 


Hermes  und  die  Hermetik  39 

Dogma  von  der  späten  Erschaffung  von  Sonne  und  Mond;  dies 
wurde  eine  Zeitlang  mit  Hilfe  der  beregten  Fiktion  festgehalten 
und  dann  —  schon  im  Poimandres  —  fallen  gelassen.  Daraus 
sehen  wir,  daß  wir  es  mit  einer  uralt  hermetischen  Vorstellung 
zu  tun  haben. 

Ich  schäme  mich  fast  fortzufahren:  von  dem,  was  ich  zu 
entwickeln  habe,  gehört  der  ganze  Ruhm  der  Entdeckung 
Reitzenstein,  und  nur  seine  unselige  Ägyptomanie  hat  ihn  auch 
hier  gehindert,  seinen  Fund  zu  verwerten.  Wenn  wir  nämlich 
fragen:  „in  welcher  Kosmogonie  gilt  der  Satz,  daß  die  Menschen 
vor  Sonne  und  Mond  erschaffen  worden  sind?"  —  so  gibt  es 
darauf  nur  eine  Antwort:  in  der  arkadischen.  Die  Arkader 
sind  es,  die  von  den  übrigen  Hellenen  als  TtQOösXrjvoi  verspottet 
wurden^;  und  der  Spottname  kann  vernünftigerweise  nur  einen 
Sinn  haben  —  nämlich  den,  den  ihm  ApoUonios  beilegt  (IV  264) : 

AQKccSsg,  o*fc  Kai  TCQoa&s  aelrivairig  vösovtai, 
t^Biv^  (prjybv  k'öovteg  ev  ovqeölv 

Der  Spott  selber  beweist,  daß  das  Dogma  als  singulär  empfunden 
wurde;  tatsächlich  ist  von  keiner  anderen  Kosmogonie  etwas 
Ähnliches  nachzuweisen.^     Ist  nun  der  arkadische  Ursprung  der 

^  Die  Stellen  bei  Bursian  Geogr.  GriecJi.  II  190  ^  Wie  alt  der 
Spott  ist,  wird  sich  schwer  feststellen  lassen.  Aristoteles  setzt  ihn  als 
bekannt  voraus  in  der  Tsysatöäv  xoXltsIcc  (schol.  Ap.  Rh.  IV  264  =  fr.  591 
Rose).  Das  Zeugnis  des  Steph.  Byz.  s.  v.  'Agyiccg:  "Itctiv?  Sh  b  ""Priytvog 
XiystaL  jtQ&tog  yiciX^aca  TtQoösX'^vovg  rovg  'ÄQxddag  hat  an  Wert  verloren, 
seitdem  die  Zeit  dieses  Hippys  zweifelhaft  geworden  ist.  Noch  wert- 
voller würde  das  Zeugnis  des  „Pindar"  sein  (fr.  74  b  Sehr.)  sl't'  'Agtcadia 
TCQOGBlavalov  IlsXacyov,  wenn  die  Autorschaft  Pindars  für  diese  von 
Hippolytos  gerettete,  doch  wohl  poetische  Auseinandersetzung  (V 134) 
mehr  für  sich  hätte  als  die  Autorität  Schneidewins ;  Wilamowitz  (Hermes 
37,  332)  geht  nach  der  anderen  Seite  zu  weit. 

^  Da  ist  nun  wieder  charakteristisch,  wie  Reitzenstein  auch  hier 
sein  Ägypten  hineinzubringen  weiß.  Bei  ApoUonios  Rh.  IV  261  ist  von 
einer  sehr  alten  Zeit  die  Rede,  als  die  Sternbilder  noch  nicht  vollzählig 
waren  (ov7t(o  tsigsa  TtdvTcc,  td  t'  oiiQavtp  eIXlööovtccl  .  .  .  rjsv  ccxovßai  — 
also  mit  Abzug  der  jüngeren  Katasterismen;  daß  von  Sonne  und  Mond 
hier  nicht  die  Rede  ist,  beweist  schon  die  Anknüpfung  'Agyiddsg,  ol  ytccl 


40  Th.  Zielinski 

Hermetik  gesicliert?  Ich  sehe  von  allen  anderen  Spuren  (§  25 
und  26)  ab,  halte  mich  nur  an  folgendes:  1)  auf  den  Namen 
Hermes  ist  die  Hermetik  getauft;  2)  Hermes  ist  entweder  ein 
griechischer  oder  ein  ägyptischer  Gott;  3)  im  ersten  Fall  ist 
Arkadien,  im  zweiten  Ägypten  die  Heimat  der  Hermetik; 
4)  das  auffälligste  Dogma  der  hermetischen  Kosmogonie,  die 
'Proselenie'  des  Menschengeschlechtes,  ist  in  Arkadien  singulär, 
in  Ägypten  überhaupt  nicht  nachzuweisen,  —  ich  denke,  das 
allein  entscheidet  die  Frage. 

27.  Die  dritte  Eigentümlichkeit,  die  uns  die  Straßburger 
Kosmogonie  bietet,  ist  die,  daß  schon  vor  Erschaffung  des 
Menschengeschlechtes  für  die  ütöXig  gesorgt  wird,  die 
es  aufnehmen  soll.  Reitzenstein  hat  sie  S.  57  gebührend  be- 
tont und  auch  in  dankenswerter  Weise  zugegeben,  daß  der 
Gedanke  „auch  im  Ägyptischen  kaum  nachweisbar"  ist  —  so 
brauchen  wir  uns  denn  bei  seinem  Versuch,  ihn  doch  aus  dem 
Ägyptischen  herzuleiten,  nicht  unnütz  aufzuhalten. 

Trotzdem  ist  uns  der  Gedanke  nicht  ganz  neu.  Der 
„Asclepius"  redet  c.  27  von  den  künftigen  Weltbeherrschern, 
d.  h.  den  Menschen;  er  kennt  sie  in  einer  Stadt,  deren  sämtliche 
Indizien  auf  Kyrene  hindeuten  (oben  §  21).  Daß  wir  sonach 
uns  dort  in  Kyrene,  hier  in  Arkadien  befinden,  ist  nicht  eine 
Widerlegung,  sondern  eine  Bestätigung  unserer  Ansicht  von 
dem  Ursprung  der  Hermetik.  Kyrene  ist  eine  Kolonie,  die 
ihren  Sagenschatz  dem  Mutterlande  verdankt;  auch  ohne  die 
Straßburger  Kosmogonie  würden  wir  vermuten  müssen,  daß  die 
Sage  von  der  Urstadt  aus  dem  echten  Hellas  stammt.  Ander- 
seits ist  eine   direkte  Einwirkung  von  Arkadien  auf  Ägypten 

nQoaO'E  Zslrivcclr}g  väsovtcci  ^msLv)',  da  lebten  in  Griechenland  nur  die 
Arkader,  „die  ja  selbst  vor  dem  Mond  gelebt  haben  sollen",  wohl  aber 
war  Ägypten  schon  berühmt,  und  von  dort  durchzog  ein  Eroberer 
(Sesonchosis)  die  Erde.  Dazu  Reitzenstein :  „Der  Vergleich  mit  den 
'Agyiadsg  IlQ06ilr\voi  zeigt,  daß  auch  Apollonios  meint,  die  Ägypter  seien 
vor  Sonne  und  Mond  entstanden."     Es  ist  wirklich  mehr  als   schlimm. 


Hei-mes  und  die  Hermetik  41 

undenkbar;  auch  ohne  den  „Asclepius"  würden  wir  uns  nach 
einem  verbindenden  Gliede  umsehen  und  dabei  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit  auf  Kyrene  raten.  Wir  schließen  also:  die 
Hermetik  hat  sich  von  Arkadien  über  Kyrene  nach 
Ägypten  verbreitet.^ 

Der  erste  Teil  des  Schlusses  —  die  Hermetik  von  Arkadien 
nach  Kyrene  — hat  an  sich  nichts  Befremdliches;  die  arkadischen 
Einflüsse  auf  Kyrene  hat  Studniczka,  Kyrene  120  f.  zusammen- 
gestellt. Am  lautesten  spricht  das  historische  Faktum,  daß 
sich  die  Kyrenäer  um  550  ihren  Gesetzgeber  und  Schiedsrichter 
Damonax  aus  dem  arkadischen  Mantinea  holten;  ob  der  Kult 
des  Zeus  Lykaios,  den  außer  Arkadien  nur  noch  Kyrene  kannte, 
gerade  damals  herübergeführt  wurde  oder  älter  war,  läßt  sich 
nicht  entscheiden.  Auf  ältere  Beziehungen  führt  die  Tatsache, 
daß  der  Abschließer  des  epischen  Zyklus,  der  Kyrenäer 
Eugammon,  die  letzten  Odysseusmythen  in  Arkadien  lokalisiert 
hatte;  doch  darüber  später  (§  29). 

Ich  füge  noch  folgendes  hinzu.^  In  der  Sage  von  den 
^AQxddsg  TCQoösXrjvob  fällt  der  Zusammenhang  auf,  in  den  der 
vor  mondliche  erste  Mensch  mit  den  Eichen  des  öden  Arkadiens 
gebracht  wird.  Die  Stelle  des  Apollonios  haben  wir  oben 
gebracht;  damit  ist  zu  vergleichen  Schol.  Ar.  Wölk.  397  ßsxxe- 
öeXrjvs'  ävxl  xov  äQ%ais  xal  ^(dqb'  rovg  yaQ  ^(OQOvg  äQ%aCovg 
eTtdXovv  (?)  aTtb  tfig  lötoQCag^^  rovg  ^AQ'ndöag  ocatä  rovg  ngb 
08l7JV7]g  xQ^vovg  ev  xalg  SQTJ^oig  dtdyetv  rj  vtco  xalg  vXaig  ix 
xcbv  dTtoTCiTtxövxcDv  KaQTtöv  dia^Tiv    Wenn  nun  der  von  Hippolyt 


^  Erst  unter  dieser  Voraussetzung  erhält  auch  die  oben  (§  13) 
besprochene  Entdeckung  Reitzensteins ,  daß  die  Vision  des  Urpoimandres 
in  Arkadien  stattfand,  ihren  vollen  Wert,  so  daß  auch  sie  hier  unter 
den  Beweisen  anzuführen  ist. 

^  Dahin  gehört  auch  der  Drache  Ladon  bei  den  Hesperiden  in 
Kyrene,  der  natürlich  mit  dem  arkadischen  Hauptfluß  identisch  ist; 
s.  Wilamowitz  Herakles  11^  96. 

^  Über  diesen  grammatischen  Terminus  s.  Hiller  Eratosthenis 
carm.  rell.  S.30,  wo  unser  Beispiel  nachzutragen  ist. 


42  Th.  Zielinski 

exzerpierte  Heide  auf  Pindar  (?)  fußend  von  den  Libyern, 
d.  h.  Kyrenäern  sagt:  Aißvsg  dh  ragcciiavta^  (pa6i  jCQGyxoyovov 
ccöxiirjQav  dvadvvta  tceöCov  yXvxsCag  aTtaQ^aöd'ai  ^ibg  ßaXdvov, 
so  erkennen  wir  liier  unschwer  einen  Ableger  der  arkadischen 
Sage.  Das  erlaubt  uns,  das  zlibg  ßaXdvov  nach  Arkadien 
zurückzuversetzen:  es  ist  die  Eiche  des  Zeus,  die  Welteiche, 
die  den  ersten  Menschen  speiste.^  Spielt  die  kosmische  Vor- 
stellung vom  Weltbaum  hinein?  Ist  der  gestirnte  Himmel 
seine  Krone,  dessen  Sichtbarkeit  Sonne  und  Mond  ausschließt? 
Ich  mag  mich  nicht  hinein  vertiefen;  folgendes  liegt  näher.  Ist 
die  Eiche  des  Zeus  in  Arkadien  heimisch,  so  sind  es  auch  die 
Tauben,    die  in  ihren  Zweigen   der  Kunde   der  Erde   lauschen 

—  die  TiaXeiai  oder  ütsXeiddsg.  Eine  von  ihnen  ist  Maia,  die  Zeus 
zur  Mutter  des  kyllenischen  Hermes  machte  ... 

Aber  wie  stimmt  das  zur  Urstadt?  Einerseits  der  Urmensch, 
der  in  wilden  Wäldern  haust  und  von  Eicheln  lebt  —  ander- 
seits die  TtoXig  als  erste  Aufnehmerin  des  Menschengeschlechtes? 

—  Eben  durch  ihre  Gegensätzlichkeit  werden  die  beiden  Vor- 
stellungen zusammengehalten;   es    spiegelt   sich   darin   der  alte 

^  So  Bergk  für  das  überlieferte  taQßccvTcc  {'Idgßavta  Schneidewin), 
wohl  mit  Recht.  In  seiner  Genealogie  haben  wir  die  mythologische 
Projektion  des  Zusammenhanges  der  peloponnesischen  (=  arkadischen) 
und  kretischen  Bevölkerung  von  Kyrene,  die  uns  als  historische  Tat- 
sache gegeben  ist  durch  die  damonaktische  Phyleneinteilung  (Hdt.  IV  161 
©riQccloav  ^ikv  xal  TCSQLOLKOiv  iLiav  ^otgccv  inoiTiaE,  äXXriv  Sh  TlBXonovvriGioiv 
Ttal  Kgrit&v^  tQLtr]v  dh  vfiaicoticov  'Ttavtcav).  Seine  Mutter  ist  Akakallis, 
deren  Name  (vgl.  Akakesion)  und  Gemahl  (Hermes  axaxrjra)  nach  Arka- 
dien weist;  doch  ist  sie  Tochter  des  Minos  und  von  Hermes  Mutter  des 
Kydon,  von  Apollon  des  Amphithemis  =  Garamas  (Amphithemis  „ringsum 
herrschend",  vgl.  IIb.  Jb.  1899  I  90 \  Symbol  von  Kyrene),  dessen  Ge- 
burt in  Libyen  erfolgt.  Kreta  muß  Zwischenstation  gewesen  sein  von 
Arkadien  nach  Kyrene  —  wie  denn  auch  Agroitas  die  Kyrene  vjtb  'AnoX- 
X(üvo<i  stg  Kqrixriv  'ao^i6%"fivai,  iKstd^sv  dh  stg  Äißvriv  läßt  (Studniczka 
Kyrene  127). 

^  Und  erzeugte.  Das  ist  der  Sinn  des  homerischen  ov  yuQ  cctco 
Sgvog  §661,  TcaXaLcpdrov  t  163  (zu  dem  parallelen  ovd'  cctco  itirgrig  s.  u. 
§  32).  Vgl.  die  ersten  Phrygier  dsvSQOcpvsts  avaßXaerdvovtsg  in  der  Vorlage 
des  Hippolyt  V  134. 


Hermes  und  die  Hermetik  43 

Gegensatz  der  arkadischen  Kultur,  die  Wildheit  der  Hirten- 
bevölkerung und  die  städtische  Organisation  von  Mantineia. 
Gerade  diese  letztere  Stadt  war  es  ja,  die  durch  ihren  Sendling 
Damonax  die  kyrenische  Religion  beeinflußte. 

Und  sollte  dieser  Umstand  uns  nicht  veranlassen,  einem 
anderen,  mehr  als  ein  Jahrhundert  späteren  Sendling  Manti- 
neias  mit  mehr  Vertrauen  zu  begegnen?  Wir  meinen  natürlich 
Diotima.  Bei  Pauly-Wissowa  ist  sie  jetzt  glücklich  von 
Natorp  als  ^fabelhaft'  festgenagelt,  obgleich  ihre  Mission 
—  ^Ad"rivccCoig  TCorh  d'vöa^svoig  JtQo  xov  Xoi^ov  dexa  sttj  äva- 
ßoXriv  hitoCriee  trjg  voöov  —  für  jeden  Kenner  der  griechischen 
Kathartik  durchaus  glaubhaft  erscheinen  muß  und  die  nicht 
aus  Piaton  geschöpfte  Nachricht  des  schol.  Aristid.  TU  468  Dind., 
die  sie  zur  Priesterin  des  Zeus  Lykaios  macht,  an  der  oben 
erwähnten  Kombination  Studniczkas  bezüglich  Kyrenes  (S.  41) 
eine  Stütze  findet.  Die  Hauptsache  ist  indes  folgendes:  Be- 
kanntlich macht  Diotima  den  Eros  zum  Sohn  des  Porös  und 
der  Penia;  das  gilt  nun  als  eine  platonische  Allegorie,  die  man 
von  der  Mythologie  und  Religionsgeschichte  fernhält.  Und  doch 
ist  sie  bereits  für  eine  selbst  dem  Damonax  vorausliegende 
Zeit  zu  belegen,  wenn  man  aufmerksamer  zusieht.  Im  berühmten 
Jungfrauenlied  des  Alkman  lesen  wir  nach  der  Schilderung 
des  Hippokoontidenkampfes  die  Verse  (V.  13  ff.) 

ccQ  Alöcc  Ttavr&v 

yeqaixdxoi 

idtXog  ak%d. 

Dazu  (zu  V.  14)  das  Scholion:  ort  xov  JJoqov  SLQrjxs  tbv  avtbv 
reo  v:tb  rov  ^HöLodov  ^siivd'sv^evo)  xdsi.  So  schrieb  denn 
Blaß  und  mit  ihm  die  übrigen: 

<^KQcct7iae  y)>   aQ  Al6a  Ttccvr&v 
<3tat  TIoQog^y  yeQccLxdrot 
<l<jLcbv'  ccTtyiddog  ccXkoc. 

Dabei  ist  es  ganz  unklar,  1)  welche  Rolle  Porös  in  der  Bezwingung 
der  Hippokoontiden  gespielt  haben  kann,  und  2)  wie  der  Scho- 


k 


44  Th.  Zielinski 

Hast  dazu  kommen  konnte,  ihn  daraufhin  mit  dem  hesiodischen 
Chaos  zu  vergleichen.  —  Nein,  nicht  Porös  war  am  Unter- 
gänge der  Götterfeinde  schuld,  sondern  sein  Sohn;  es  ist 
xd)  UoQco  zu  schreiben.  Das  stimmt  in  der  Tat,  und  der 
Dichter  nimmt  im  folgenden  mit  V.  17  ^rjdh  7t£iQ7Jt(o  yaiifiv 
täv  ^AcpQodCxav  darauf  Bezug.  Und  auch  die  Notiz  des  Scholions 
wird  nun  verständlich:  ist  Porös  Vater  des  Eros,  so  ist  er 
allerdings  dem  hesiodischen  Chaos  parallel;  denn  wenn  auch 
Hesiod  nicht  direkt  den  Eros  Sohn  des  Chaos  nennt,  so  ist 
das  doch  eine  sehr  leichte  Weiterentwickelung  seines  Mytho- 
logems  (Theog.  116  ff.)^ 

"jÖTOt  [ikv  TtQcoTLOrcc  Xccog  yevBx\  avxccQ  srceLtcc 
Faf   EVQVövsQvog^  itdvroiv  eöog  äöcpaksg  aiel, 
r]ö^  "EQog  .  .  ., 

wie  denn  auch  tatsächlich  die  Späteren  den  ^Kosmogonischen 
Eros'  zum  Sohn  des  Chaos  gemacht  haben  (Furtwängler  bei 
Röscher  Lex.  Myth.  I  1345). 

Also:  bei  Alkman  haben  Aisa  und  Eros  über  dem  Lose 
der  Hippokoontiden  gewaltet.  Das  ist  der  Hermetik  gar  nicht 
so  fern:  in  der  Köqtj  tcoö^ov  sagt  Gott  zu  den  Seelen  bei 
ihrer  Einkörperung:  "EQog  v[i&v,  il^v^aC^  ösöjcoöei  ical  'Avdyxri 
(S.  397f.),  —  was  genau  dasselbe  ist. 

Ich  denke  demnach,  wir  haben  allen  Grund,  die  Lehre  der 
Diotima  an  Mantineia  zurückzugeben  und  damit  die  arkadische 
Hermetik  um  einen  neuen  Zug  zu  bereichern;  seitdem  wir  die 
Orphik  so  weit  zurückdatiert  haben,  dürfen  wir  solche  Speku- 
lationen auch  in  dieser  Frühzeit  nicht  befremdlich  finden. 

28.  „Mercurium",  sagt  Thrige  in  seinen  fleißigen  und 
nützlichen  Bes  Cyrenensium  288  „apud  Cyrenenses,  qui  mer- 
caturae  in  primis  opes  debuerunt,  magno  honore  esse  habitum 

^  Wie  der  Alkmanscholiast,  so  hat  auch  der  des  Apollonios  Rh. 
III  26  den  Hesiod  verstanden:  6  Sh  'Hölodog  in  Xdovg  Uysi  (ysviöd-at) 
tov  "Egoata. 


Hermes  und  die  Hennetik  45 

dubium  non  est.  Yerum  tarnen  ,  .  .  nulluni  invenimus  culti  apud 
lianc  gentem  huius  dei  vestigium/^  Diese  Kulttatsache  würde 
unser  Resultat,  den  Übergang  der  Hermetik  von  Arkadien 
nach  Kyrene,  stark  erschüttern,  wenn  nicht  längst  nachgewiesen 
wäre,  daß  Hermes  in  Arkadien  mit  einem  anderen  Gott  iden- 
tifiziert worden  ist,  der  denn  auch  in  Kyrene  an  seiner  Stelle 
erscheint:  mit  Apollon  (z.  B.  Wilamowitz,  Herakles  II  96). 
Es  ist  in  der  Tat  seltsam,  wie  überall  Apollon  als  glücklicher 
Konkurrent  von  Hermes  erscheint.  Akakallis  (oben  S.  42^)  ist 
von  Hermes  Mutter  des  kretischen  Kydon,  aber  von  Apollon 
des  libyschen  Amphithemis  =  Garamas.  Ladons,  des  arkadischen 
Urstromes,  Tochter  ist  Daphne,  aber  ihr  Gemahl  ist  nicht 
Hermes,  sondern  Apollon;  ja,  wahrscheinlich  hat  die  Nymphe 
des  Lorbeers  als  Ladontochter  eine  ältere,  hermetische  Nymphe 
ersetzt.  Diese  wird  nun  von  Apollon  vergeblich  verfolgt:  die 
Konkurrenz  ist  noch  nicht  siegreich. 

Der  Leser  wird  sich  des  seltsamen  Mythologems  in  der 
KoQYj  Tcoö^ov  erinnern,  mit  dem  die  Schöpfung  einsetzt:  Gott 
lächelt,  und  es  entsteht  die  Physis;  sodann  haben  wir  die 
Genealogie 

Ponos  -^  Physis 
I 
Heuresis  -^  Hermes 


Sie  ist  der  Erosgenealogie  der  Diotima  sehr  ähnlich;  ja,  man 
fühlt  sich  geradezu  versucht,  für  Ponos  —  Porös  zu  konjizieren. 
Daß  die  allegorischen  Namen  mythologische  ersetzt  haben,  ist 
schon  oben  (§  21)  ausgesprochen  worden:  das  ist  ja  der  Lauf 
der  ganzen  hermetischen  Lehre.  Aber  welchen  Zweck  hat  das 
ganze  Mythologem?  Doch  nur  den  einen:  den  Ursprung  des 
Menschengeschlechtes  zu  erklären;  als  später  die  chemische 
Entstehung  aufkam,  wurde  die  natürliche  in  den  Hintergrund 
gedrängt.     Wenn  demnach  dort,  wo  unser  Fragezeichen  steht, 


46  Th.  Zielinski 

ursprünglich  der  Name  des  ersten  Menschen,  des  Stammvaters 
des  Menschengeschleclites^  stand,  so  begreifen  wir  mit  einem 
Mal  einen  äschyleischen  Vers,  der  bisher  jeder  Erklärung 
spottete:  den  leider  isoliert  überlieferten  Vers  aus  den  'Psycha- 
gogen',  der  den  Anwohnern  des  stymphalischen  Sees  in  den 
Mund  gelegt  wird:  'Eq^tjv  tbv  Ttqoyovov  xCoiisv  yivog  ol 
%bqI  Xliivav.  Die  arkadische  Hermetik  betrachtet  Hermes  als 
den  Stammvater  des  Menschengeschlechtes;  die  Stammutter  ist 
demnach  die  Landesnymphe,  die  Tochter  des  Landesstromes 
und  des  Landes  selbst. 

Und  nun  können  wir  die  Genealogie  leicht  rekonstruieren, 
die  der  Allegorie  der  Koqyi  xoö^ov  zugrunde  liegt:  es  ist  keine 
andere  als  die,  von  der  wir  ausgingen: 

Ladon  ^^  Gaia 
I 
Nymphe  ^^^  Hermes 


Daß  die  Gaia  zur  Physis  wurde,  begreift  sich  leicht; 
schwerer  ist  der  Übergang  Ladon:  Ponos  zu  erklären,  leicht 
jedoch,  wenn  wir  für  letzteren  den  Porös  einsetzen:  als  Fluß 
ist  der  Ladon  selbstverständlich  ein  TtÖQog,  Und  nun  wird 
auch  die  urweltliche  Bedeutung  des  letzteren  klar:  die  Urflüsse 
Ladon,  Acheloos  und  wie  sie  sonst  heißen  mögen,  sind  als 
solche  dem  Okeanos  =  Ogenos  gleich,  dem  Ursprung  des  Seins; 
die  Genealogie  Porös  —  Eros  wird  mythologisch  greifbar,  und 
die  Gleichung  Porös  =  Chaos  gewinnt  an  Berechtigung.  Auf 
Heuresis  kommen  wir  noch  (§  31):  jetzt  liegt  uns  eine  andere 
Frage  näher. 

Nämlich  die  nach  dem  oder  den  Namen,  die  an  die  Stelle 
unserer  Fragezeichen  zu  treten  haben.  Die  Lehre  vom 
Anthropos,  dem  Ahnen  des  Menschengeschlechtes,  bildet 
einen  Kernpunkt  der  Hermetik;  es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  auch  hier  dem  Philosophem  das  Mythologem  vorausging . . . 


Hermes  und  die  Hermetik  47 

Icli  werde  leiclit  Nachsicht  finden,  wenn  ich,  statt  die  ein- 
schlägigen Mythenkomplexe  eingehend  zu  behandeln,  wozu  ein 
ganzes  Buch  nötig  wäre,  nur  die  Hauptpunkte  kurz  hervor- 
hebe; die  Belege  bietet  ja  das  Lex.  Myth.  Der  arkadische 
Urmensch,  der  vormondliche  Pelasgos  ist  Sohn  des  Zeus  und 
der  Niobe,  der  Tochter  des  Phoroneus,  welch  letzterer  jetzt 
füglich  gleich  Phoros  =  Porös  gesetzt  werden  kann  ^ ;  hier  fehlt 
Hermes,  der  lykäische  Zeus  ist  an  seine  Stelle  getreten  — 
oder  vielmehr,  Pelasgos  ist  eben  Hermes,  und  sein  Sohn  von 
Meliboia  oder  Kyllene  ist  der  arkadische  Stammvater  Lykaon.  — 
Pelasgos  ist  einerseits  mit  Pel-ops,  anderseits  mit  Askl-epios 
verwandt  (Wilamowitz,  Isyllos),  dieser  ist  allerdings  Sohn  des 
Apollon  und  der  Koronis,  aber  den  arkadisch -hermetischen 
Untergrund  spürt  man  noch  in  der  Sage  vom  Elatossohn  Ischys 
als  Vater  des  Asklepios;  daß  Apollon  diesen  Ischys  tötet,  ist 
eine  ähnliche  Äußerung  der  Konkurrenz  des  Apollonkultes,  wie 
wir  sie  oben  bei  der  Ladontochter  konstatiert  haben.  Koronis 
ist  aber  etymologisch  mit  Kyrene  identisch  (Bechtel),  somit 
auch  Asklepios  mit  Aristaios.  Und  noch  bei  ihm  begegnen 
wir  Hermes  in  rudimentärer  Fassung:  Kyrene  gebiert  Aristaios 
von  Apollon,  aber  Hermes  ist  es,  der  ihm  die  Unsterblichkeit 
verschafft  (Pind.  P.  IX  104). 

Es  sind  wirre,  vielfach  ineinander  geschlungene  Grenea- 
logien  und  Mythologeme,  die  gewiß  an  sich  nichts  beweisen 
können,  sondern  erst  von  auswärts  ihr  Licht  empfangen  müssen. 
Studniczka  war  nahe  daran,  den  Namen  Kyrene  richtig  zu 
deuten  —  von  KvQrj^=K6Qr}'^  er  tat  es  nicht.  Ich  denke,  wir 
dürfen  es  an  seiner  Statt  um  so  zuversichtlicher  tun.  Daß 
uns  diese  KÖQt}  nachher  in  der  Hermetik  noch  einmal 
begegnet  —  als  Köqi]  tcööhov  — ,  ist  gewiß  eine  erwünschte 
Bestätigung. 

^  Zur  Bildung  vgl.  Ophioneus,  zur  Phonetik  Porkos=Phorkos,  der 
möglichei-weise  auch  etymologisch  mit  Porös  zusammenhängt  —  ein  tcoqos 
ist  er  ja  sicher.   Auch  Adäav.Add'iov.Aato}  (Wilamowitz,  Herakles  11^  96). 


48  Th.  Zielinski 

Docli  niclit  darauf  kommt  es  an:  uns  lag  ob,  für  den 
Satz  „die  Hermetik  ist  von  Arkadien  nach  Kyrene  gewandert" 
den  Beweis  zu  führen,  oder  vielmehr,  zum  oben  gegebenen 
Hauptbeweis  die  bestätigenden  Nebenbeweise  zu  liefern;  dieses 
Teiles  unserer  Aufgabe  hätten  wir  uns  hiermit  entledigt. 

29.  Das  alles  betraf  die  arkadisch -hermetische  Kosmo- 
gonie;  sie  findet  aber  ihre  Ergänzung  in  der  arkadisch -herme- 
tischen Eschatologie,  auf  die  wir  nun  auch  einen  Blick 
werfen  wollen.  Kosmogonie  und  Eschatologie  bedingen  ein- 
ander; es  sind  die  beiden  Bestandteile  einer  Religion,  die 
bereits  Lehre  sein  will  und  demgemäß  die  beiden  Fragen,  die 
das  erwachende  Bewußtsein  stellt,  zu  beantworten  unternimmt: 
wo  kommen  wir  her?  wo  gehen  wir  hin? 

Daß  Arkadien  eine  ausgesprochene  Eschatologie  gehabt 
haben  muß,  dafür  bürgen  schon  die  Namen  Stymphalos  und 
Styx:  die  zahlreichen  Katabothren  seines  *  verschlossenen' 
Teiles  mußten  ihrer  Entstehung  besonders  günstig  gewesen 
sein.  Auch  die  Stellung  des  Hermes  in  der  Götterwelt,  sein 
Charakter  als  Psychopompos  spricht  dafür:  soweit  wir  die 
griechischen  Mythen  verstehen,  bildet  die  Wiederkehr  aus  dem 
Reiche  des  Todes  die  Gewähr  für  die  Glaubhaftigkeit  eschato- 
logischer  Offenbarungen.  Solche  hat  demnach  auch  die  Religion 
des  Hermes  gekannt,  und  wir  können  auch  sagen,  welche:  die 
Nekyia  der  Odyssee. 

Daß  Odysseus  ein  hermetischer  Heros  ist,  bin  ich  nicht 
der  erste  zu  behaupten;  auch  sollen  hier  nur  kurz  die  Punkte 
überflogen  werden,  die  das  erhärten.  Es  sind  folgende:  1)  sein 
Schutzverhältnis  zu  Hermes  in  der  Odyssee  (Kirkeabenteuer) ; 
2)  die  arkadischen  Sagen  von  Odysseus  als  Städtegründer 
(Pheneos)^;   3)  die   Telegonie   des   Kyrenäers  Eugammon,   der 

^  Damit  hängt  ßiclier  auch  der  Name  von  Odysseus'  Großvater 
zusammen,  Arke(i)sios,  den  schon  die  von  Aristoteles  in  der ' Id-ccxriöiojv 
^oXitEia  zitierte  Sage  (fr.  504)  mit  "AqTiog  zusammenbrachte ;  mütterlicher- 


Hermes  und  die  Hermetik  49 

die  letzten  Odysseusabenteuer  nacli  Arkadien  versetzt  (oben 
S.  41);  daß  es  die  Auffassung  eines  Kyrenäers  ist,  dürfen  wir 
als  besonders  wichtig  ansehen;  4)  die  seltsame  Sage,  nach 
welcher  Pan  Sohn  des  Hermes  und  der  Penelope  ist  —  hier 
ist  die  Identität  von  Hermes  und  Odysseus  besonders  deutlich; 
5)  das  Entscheidende:  Aschylus  verlegt  die  Hadesfahrt 
des  Odysseus  an  den  stymphalischen  See.  Der  Vers  aus 
den  ^Psychagogen'  ist  schon  angeführt  worden;  dazu  der  Scho- 
liast  (Ar.  Frösche  1266)  tö  dh  'EQ^iäv  ^ihv  tCo^sv  Xsyovöiv  ol 
'AQxddeg  diä  tavxa*  ev  rfj  KvXXtjvt^,  t]  iötvv  ^Qog  'AQxaöCag, 
itLnäto  6  ^EQfirjg'  diä  yovv  X'^v  ^|  ä[ivrj^ovsvt(DV  xqövcov  niiiiv 
cDg  TCQÖyovog  tovxoig  idöxst  (Verlegenheitsauskunft).  g:8ov6i 
8h  Kai  XLvcc  l6xoqCav  ^vd-^örj  (die  Arkader  oder  der  Chor  der 
Tragödie?)  Ufivav  dh  Xeysi  X'^v  ZixviKpaXCda} 

Des  Zusammenhanges  ist  man  sich  auch  späterhin  bewußt 
geblieben.  Dem  Wasser  des  Styx  wurde  die  Kraft  zugeschrieben, 
alle  Metalle  aufzulösen,  die  uns  denn  Pausanias  VHI  18,5  in  ihrer 
hermetisch-astrologischen  Siebenzahl  vorführt  (vgl.  Philol.  64, 14). 
Soll  man  daraus  folgern,  daß  auch  die  niedere  Hermetik  in 
der  Heimat  des  Hermes  ansässig  war? 

So  dürfte  denn  die  Tatsache  feststehen:  die  arkadische 
Hermetik  hatte  ihre  ausgebildete  Eschatologie,  die  an  die 
Gestalt  des  hermetischen  Heros  Odysseus  anknüpft  und  mit 
der  ganzen  Hermetik  nach  Kyrene  wanderte.     Heißt  das,  daß 

seits  hängt  Odysseus  mit  einem  anderen  hermetischen  Heros  zusammen, 
mit  Autolykos.  Der  Name  Arkeisios  wurde  wiederum  für  den  kyrenäischen 
Dichter  der  Telegonie  zur  Veranlassung,  einen  Sohn  des  Odysseus  und 
der  Penelope  Arkesilaos  zu  fingieren,  nach  dem  in  Kyrene  erblichen 
Königsnamen  (Wilamowitz  Homerische  Untersuchungen  184;  über  die 
Verwendung  des  anderen  Königsnamens,  Battos,  s.u.  §30). 

^  In  jüngster  Zeit  ist  Drerup  {Homer  121  ff.)  mit  beachtenswerten 
Gründen  für  den  kretischen  Ursprung  der  Odyssee  eingetreten.  Die 
Hypothese  bedarf  noch  der  Nachprüfung;  sollte  sie  sich  bewähren,  so 
würde  das  nicht  gegen,  sondern  für  die  im  Texte  entwickelte  Ansicht 
sprechen.  Kreta  ist  Zwischenstation  zwischen  Arkadien  und  Kyrene 
(oben  8.42^). 

Archiv  f.  ReligionswisseiiBcliaft  IX  4 


50  Th.  Zielinski 

auch  die  im  hermetisclien  Corpus  begegnende  Eschatologie 
arkadisclien  Ursprunges  ist?  Das  braucht  an  sich  nicht  der 
Fall  zu  sein:  diese  späte  Hermetik  ist  in  stärkster  Weise  von 
der  Philosophie  beeinflußt  worden.  Auf  die  Frage  nach  der 
Strafe  der  Bösen  gibt  sie,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  doppelte 
Antwort:  1)  die  Apotheriose  und  2)  die  Strafe  durch  das 
Böse  selbst.  Beide  sind  philosophisch,  die  erste  pythagoreisch- 
platonisch, die  zweite  epikureisch,  und  doch  können  wir  sagen, 
daß  wenigstens  die  erste  Lösung  in  der  arkadischen  Hermetik 
zum  Teil  vorweggenommen  war.  Es  ist  das  Kirkelied,  das 
uns  den  Odysseus  ganz  besonders  als  Schützling  des  Hermes 
zeigt:  hier  ist  es,  wo  er  von  seinem  Schutzgott  das  Moly 
empfängt  —  das,  beiläufig  bemerkt,  gleichfalls  in  Arkadien 
lokalisiert  worden  ist.  An  dasselbe  Kirkelied  knüpft  auch  die 
Telegonie  des  Eugammon  an:  Telegonos  ist  Sohn  des  Odysseus 
von  Kirke,  Kirke  aber  ist  deutlich  als  Todesgöttin  charak- 
terisiert, und  zwar  ist  ihr  Todeswerk  die  Apotheriose.  Nur 
eine  ganz  leise  Umbiegung  war  nötig,  um  diese  Apotheriose 
in  philosophischem  Sinne  umzudeuten;  auch  hier  war  das 
Mythologem  der  Ursprung  des  Philosophems. 

30.  Alles  bis  jetzt  Gesagte  sollte  den  Satz  begründen, 
daß  die  Hermetik  von  Arkadien  nach  Kyrene  gelangt  ist.  Es 
ist  nun  der  zweite  Satz  ins  Auge  zu  fassen:  die  Hermetik 
von  Kyrene  nach  Alexandria. 

Wir  nehmen  zunächst  das  hermetische  Personal  durch, 
wie  es  uns  im  Corpus  sowie  in  der  Koqtj  xoö^ov  und  im 
/Asclepius'  entgegentritt:  Hermes  Trismegistus,  der  Prophet; 
Ammon,  der  König;  Asklepios,  der  Schüler  des  Propheten; 
endlich  Tat,  sein  Sohn.  Da  ist  es  nun  der  letztere,  der  ganz 
entschieden  erst  in  Ägypten,  also  in  Alexandria,  hinzugekommen 
sein  kann;  und  gerade  er  wird  als  lästige  Doublette  zu  Askle- 
pios empfunden.  Welcher  war  nun  früher  da?  Der  ^Asclepius' 
zeigt   es   uns:   ursprünglich   auf  drei    Personen    berechnet   — 


Hermes  und  die  Herrn etik  51 

Hermes,  Ammon,  Asclepius  —  ist  er  erst  später  durch  Hinzu- 
ziehung des  Tat  (ius)  bereichert  worden  (oben  §  22).  Für  uns 
ist  der  'Asclepius'  gerade  dadurch  besonders  wertvoll,  weil  er 
die  unverkennbare  Bezugnahme  auf  Kyrene  bietet  (ibid.).  — 
Hat  nun  aber  Tat  den  Asclepius  verdrängt,  so  ist  anzunehmen, 
daß  ursprünglich  Asklepios  als  Sohn  und  Schüler  des  Hermes 
aufgetreten  ist;  wir  haben  die  Dreizahl  Hermes- Asklepios- Am mon. 
Nun  ist  eins  sicher:  nur  in  Kyrene  konnte  sich  diese  Dreizahl 
bilden.  Ammon  ist  als  Herr  der  berühmten  Oase  Nachbar 
von  Kyrene  und  hat  seinen  Kult  hervorragend  beeinflußt 
(Thrige  294) ;  Asklepios  hatte  einen  bedeutenden  Kult  in  Kyrene 
selbst  (oben  §  22). 

Aber  noch  mehr:  ist  Hermes,  wie  nach  Eliminierung  des 
Tat  wahrscheinlich,  Vater  des  Asklepios,  so  haben  wir  die 
oben  §  28  vermutete  Genealogie  des  arkadischen  Anthropos 
in  ihrer  Reinheit  da.  Hermes  hat  sich  nur  im  kyrenischen 
Kult  von  ApoUon  verdrängen  lassen;  in  den  geheimen  Lehren 
der  hermetischen  Gemeinden  hat  er  seine  Stelle  behauptet.  So 
erklärt  es  sich,  daß  Apollon,  Kyrenes  oberster  Gott,  in  die 
Hermetik  keinen  Eingang  gefunden  hat:  hier  ersetzt  ihn  eben 
Hermes.  Ähnlich  ist  das  Verhältnis  zwischen  Artemis  und 
Hekate-Selene. 

Immerhin:  Hermes,  Ammon,  Asklepios  sind  nur  Menschen, 
keine  Götter  mehr;  man  sieht,  der  Euhemerismus  ist  über  die 
kyrenäische  Hermetik  gegangen.  Das  stimmt  trefflich  zu  der 
früher  allgemein  geglaubten  Hypothese,  Euhemeros  wäre  ein 
Anhänger  der  kyrenäischen  Philosophenschule  gewesen.  Rohde 
hat  ihr  scharf  widersprochen  (gr.  Roman  ^  241^),  indem  er  sie 
ungenügend  fundiert  fand;  jetzt  dürften  die  Stützen  hinzu- 
gekommen sein. 

Noch  ein  Zeugnis  füge  ich  bei  für  die  kyrenäische  Hermetik, — 
wie  ich  meine,  ein  gewichtiges.  Es  wurde  dem  Hermes  eine 
Reihe  naturwissenschaftlicher  Bücher  beigelegt  unter  dem  Titel 
KvQavCdsg'j  der  Name  hat  sich  auch  an  die   uns   erhaltenen 

4* 


52  Th.  Zielinski 

byzantiniscli-lateinisclieii  Bearbeitungen  geheftet.  Was  er  bedeute, 
war  früher,  als  man  sieb  für  die  Sache  interessierte,  ein  viel 
umstrittenes  Problem.^  Jetzt  dürfte  auch  dieses  Rätsels  Lösung 
gefunden  sein. 

Fragt  man  weiter,  auf  welchem  Wege  und  durch  wen 
die  Hermetik  von  Kyrene  nach  Ägypten  gelangt  ist,  so  ist  bei 
den  mannigfachen  Beziehungen  zwischen  den  zwei  Nachbar- 
staaten und  dem  ständigen  Zufluß,  den  der  ägyptische  Helle- 
nismus aus  Kyrene  erhielt,  die  Antwort  nicht  leicht.  Die 
zwei  bedeutendsten  Kyrenäer,  die  in  Alexandria  tätig  waren  — 
Kallimachos  und  Eratosthenes  —  sind  hauptsächlich 
darum  wichtig,  weil  sie  eine  Unzahl  anderer  paradigmatisch 
vertreten.  Aber  das  ist  es  nicht  allein.  Inwiefern  Kallimachos 
die  Hermetik  direkt  beeinflußt  haben  kann,  davon  war  oben 
§  4  die  Rede;  von  Eratosthenes  aber  besaßen  die  Alten  ein  Epos 
*  Hermes ',  das  in  eigentümlicher  Weise  die  allgemein  mythische 
und  die  hermetisch -kosmogonische  Bedeutung  des  gefeierten 
Gottes  in  eins  zu  verweben  wußte.  Man  wird  Reitzenstein 
beipflichten  müssen,  wenn  er  (Poimandres  7)  den  Zusammen- 

^  Vgl.  Fabricius  Bibl  Gr.  I*  69  ff.  Nach  Scaliger  und  Reinesius 
vom  Arabischen  (Koran) ;  auf  die  Einwendung,  das  Wort  wäre  vormoham- 
medanisch, wird  geantwortet:  warum  sollen  nicht  auch  vor  Mohammed 
treffliche  arabische  Schriftsteller  gelebt  haben?  Nach  den  meisten  vom 
angeblichen  Perserkönig  Koiranos  (Kyranos,  Kiranos).  Nach  Allatius 
von  KVQLos^  KVQci.  Nach  Goar  (zu  Georgios  Synk.  11  S.  314  Dind.)  von  der 
bei  Herodot  IV  19  genannten  libyschen  Insel  Kyraunis.  Auf  Kyrene  ver- 
fiel man  nicht,  weil  man  die  dorische  Form  nicht  kannte;  die  hippokra- 
tischen  Kcaand  zitiert  Groar  selbst.  Interessant  ist  die  Notiz  in  Harpo- 
krations  Einleitung,  wonach  das  angeblich  syrische  Original  (der  ältesten 
Kyranis?  Cf.  E.  Meyer  Gesch.  d.  Botan.  U  351)  von  Harpokrations  Sklaven 
ins  Äolische  übersetzt  worden  ist;  daraus  dürfen  wir  schließen,  daß 
die  älteste  Kyranis  in  einem  Dialekt  abgefaßt  war,  der  auf  den  gemein- 
griechischen Leser  den  Eindruck  des  äolischen  machte,  also  jedenfalls 
in  einem  Dialekt  der  A- Gruppe;  daraus  erklärt  sich  die  Form  Kyranis. 
Der  Verfasser  des  neuesten  Aufsatzes  über  die  Kyranides  (Tannery  Bev. 
d.  et.  grecques  17,  335  ff.)  geht  auf  die  Erklärung  des  Namens  nicht  ein; 
die  evidente  Darlegung  E.  Meyers  vom  rein  griechischen  Ursprung  der 
Kyranides  wird  auch  von  ihm  gebilligt. 


Hermes  und  die  Hermetik  53 

hang  dieser  Diclitung  mit  der  Hermetik  annimmt;  wie  der  von 
ihm  in  den  'Zwei  religionsgeschichtlichen  Fragen'  68  f.  durch- 
geführte Vergleich  lehrt,  ist  die  Verwandtschaft  speziell  mit 
der  Straßburger  Kosmogonie  nicht  abzuweisen.  Wenn  er 
freilich  (1.  c.  64  ^)  den  kyrenäischen  Dichter  „  an  die  alte  (ägyp- 
tische) Vorstellung  von  dem  Lobgesang  der  Urgötter  beim 
Aufsteigen  des  Sonnengottes"  anknüpfen  läßt,  so  muß  man 
auch  diese  Phantasie  seiner  Ägyptomanie  zugute  halten;  die 
Fragmente  bieten  dazu  nicht  den  geringsten  Anhalt.^ 

Sicher  ist,  daß  dieser  'Hermes'  den  Rinderdiebstahl  des 
Gottes  behandelte;  unter  diesen  Umständen  gewinnt  ein  vielfach 
übersehener  Umstand  nähere  Bedeutung.  Der  Mann,  der  den 
Diebstahl  an  ApoUon  verrät,  heißt  in  der  späteren  Literatur 
(Ovid,  Antonin)  Battos;  nach  ihm  soll  der  Fels  Bdttov 
öKOütid  in  Arkadien  benannt  sein.  Nun  ist  der  Name  Battos 
auf  Kyrene  so  gut  wie  beschränkt,  und  speziell  Bdttov  öxoTtid 
ein  xcdqCov  tfjg  Aißvrjg-  Die  Vermutung  drängt  sich  unwillkür- 
lich auf,  daß  wir  eine  in  Kyrene  ausgebildete  und  nach  Arkadien 
zurückprojizierte  Variante  der  Sage  haben  (vgl.  Arkesilaos  als 
Sohn  des  Odysseus  bei  Eugammon,  oben  §  29).  Dazu  kommt 
folgendes.  In  der  ältesten  Fassung  der  Sage  im  Hymnus  bleibt 
der  anonyme  Angeber  unbehelligt;  in  der  späteren  wird  er  in 
den  Stein  verwandelt,  den  man  den  Prüfstein  nennt.  Das 
spielt  in  die  niedere  Hermetik  hinein:  der  Stein,  der  die 
Schwindeleien  der  Goldmacher  entlarvt,  wird  passend  mit  dem 
Manne  gleichgesetzt,  der  den  ersten  Betrug  des  Goldmacher- 
gottes vereitelte.  Unter  diesen  Umständen  ist  die  Verwandlung 
eine  ehrenvolle,  —  und  das  stimmt  zur  Verleihung  des  kyrenä- 
ischen Königsnamens. 


^  Hier  ist  auch  auf  den  'Hermes'  des  Philetas  hinzuweisen,  der, 
an  das  Aiolosabenteuer  anknüpfend,  eine  Nekyia  gegeben  zu  haben 
scheint.  Der  Titel  dürfte  nach  dem  oben  §  29  Gesagten  zu  erklären  sein; 
vermutlich  trat  der  Psychopompos  als  Hadesführer  auf. 


54  Th.  Zielinski 

31.  Nocli  ein  Punkt  ist  zur  Sprache  zu  bringen,  bevor 
wir  diesen  Teil  unserer  Untersuchung  abschließen.  Ich  erinnere 
nochmals  an  die  Verse  aus  der  Straßburger  Kosmogonie  II  5  ff. : 
Hermes  geht  mit  dem  Gedanken  um,  die  Urstadt  zu  gründen: 

xa  g)QOVSCov  itolioio  öi    'tjEQog  eCxl^ev  ^Eq^fig 
OVK  otogj  chv  TW  ye  JLoyog  aUv  ayXccbg  vlog 
laLijJTjQatg  TtreQvyeööL  %e%cc(3fiEvog,  aiev  aAt/O"?]?, 
äyvriv  arQE%ee66Lv  Eyoav  im  leCleai,  utei-d'coy 
TtaxQcoov  Kad'aQOLO  vor^naxog  äyysXog  wx-ug. 

Daß  im  letzten  Verse,  ganz  im  Sinne  der  späteren  Abstrak- 
tion, Hermes  gleich  Novg  gesetzt  ist,  sieht  jeder;  aber  wozu 
braucht  Hermes  bei  seinem  Werke  der  Mitwirkung  des  Logos? 
Warum  wird  vom  Logos  hervorgehoben,  daß  er  die  heilige 
Peitho  auf  den  wahrhaften  Lippen  trägt?  Die  Antwort  kann 
nur  eine  sein:  weil  er  durch  die  Kraft  der  Überredung  die 
eichelfressenden  jtQoöekrjvoi  veranlassen  soll,  sich  zu  einer 
Stadt  zusammenzutun.  Man  sieht,  die  Rolle  des  Logos  ist  hier 
eine  andere  als  im  Poimandres:  sie  ist  ethisch-politisch,  nicht 
metaphysisch.  Und  sie  erinnert  zugleich  an  jene  stoische 
Konstruktion  des  Ursprunges  der  Kultur,  die  ihren 
greifbarsten  und  nachhaltigsten  Ausdruck  gefunden  hat  in  der 
einstmals  so  berühmten  Einleitung  zu  Ciceros  de  inventione. 
Ich  will  die  wichtigsten  Stellen  ausschreiben  (I  2):  Äc  si 
volumus  huius  rei,  quae  vocatur  eloquentia  .  .  .  considerare  prin- 
cipium,  reperiemus  id  .  .  .  ah  optimis  rationihus  profectum.  Nam 
fiiit  quoddam  tempus  cum  in  agris  homines  passim  hestiarum 
modo  vagahantur  et  sibi  victii  fero  vitam  propagahant  etc.,  der 
bekannte  ro:rog,  den  man  immerhin  mit  Ovid  fast.  II  289  ff. 
vergleichen  mag,  weil  dieser  direkt  an  das  Wormondliche' 
Arkadien  anknüpft.  Quo  tempore  quidam  magmis  videlicet  vir 
et  sapiens  cognovit,  quae  materia  et  quanta  ad  maximas  res 
opportunitas  in  animis  inesset  hominum,  si  quis  eam  posset  elicere 
et  praecipiendo  meliorem  reddere;  qui  dispersos  Jiomines  in  agros  et 
in  tectis  silvestrihus  äbditos  ratione  qua  dam  compulit  unum  in 


Hermes  und  die  Hermetik  55 

loeum  .  . .  et  eos  .  .  .  primo  propter  insolentiam  reclamanteSj  deinde 
propter  rationem  atque  orationem  studiosius  audientes  ex 
feris  et  immanihus  mites  reddidit  et  mansuetos.  Äc  mihi  quidem 
videtur  Jioc  nee  taeita  nee  inops  dicendi  sapientia  per- 
ficere  potuisse,  ut  Jiomines  a  consuetudine  subito  Converter  et  et 
ad  diversas  rationes  vitae  traduceret.  Also  daher  ä^a  x(p  ye 
(Novg;  sapientia)  A6y og  xCsv  äyXabg  vlog;  das  Nähere  kann 
man  sich  nach  der  Parodie  in  den  'Vögeln'  des  Aristophanes 
ausmalen,  die  nicht  umsonst  in  der  Parabase  auch  eine  parodische 
Kosmogonie  enthalten. 

Ich  denke,  der  Gedankenkreis,  in  den  dieser  Teil  der 
Straßburger  Kosmogonie  gehört,  ist  damit  richtig  gefunden. 
Der  Logos  hat  den  Urerschaffenen  aus  einem  Tier  zu  einem 
Menschen  gemacht,  eben  darum  trägt  er  als  Pan  den  Prozeß 
der  Yermenschlichung  anschaulich  an  sich.  Der  Übergang 
des  ethisch -politischen  Logos  in  den  metaphysischen  erfolgt 
von  der  Straßburger  Kosmogonie  zur  Poimandreslehre;  daß 
ihn  eben  die  Stoiker  gemacht  haben,  weiß  jeder.  Damit  ist 
aber  auch  —  das  lehrt  die  Stellung  unseres  Mythos  in  der 
Schrift  de  inventione  —  eine  Art  Yermetaphysierung  der 
Rhetorik  gegeben;  die  größte  Apologie  dieser  vielfach  angefein- 
deten, von  den  Stoikern  eifrig  geschützten  und  gepflegten 
Wissenschaft  besteht  darin,  daß  sie  schon  bei  der  Weltschöpfung 
tätig  gewesen  ist.  Und  wer  die  Stoiker  kennt,  der  weiß  auch, 
daß  sie  dabei  nicht  stehen  geblieben  sein  konnten.  Ist  die 
Rhetorik  im  ganzen  kosmogonisch,  so  ist  sie  es  auch  in  ihren 
Teilen  —  und  deren  sind  es  bekanntlich  drei:  svQSöig^  td^ig, 
Xs^ig  (dies  die  peripatetisch- stoische  Doktrin,  vgl.  Volkmann  29, 
die  uns  am  nächsten  steht)  ...  Es  ist  nun  ein  Hirngespinst, 
was  ich  weiter  sagen  will,  aber  ein  stoisches:  der  Dreiheit 
entspricht  die  kosmogonische  Dreiheit  Zeus — Hermes — Logos. 
Also:  Zeus  schafft  die  evQSdig,  Hermes  die  td^ig,  Logos  die 
Xs^Lg.  Nun,  wie  Zeus  (=d's6g)  die  svQSdig  schafft,  lehrt  die 
KoQtj  Tcoö^ov  (oben  §  19;  28);  wie  Hermes  (=  Novg  drjiiiovQyog) 


56  Th.  Zielinski 

die  rd^tg  ausführt,  der  Poimandres ;  wie   der  Aoyog  die  Xi^ig 
erweckt,  die  Straßburger  Kosmogonie. 

Docli  das  ist  eine  wilde  Ranke,  die  auch  abgeschnitten 
werden  kann;  jedenfalls  stellt  sich  die  Entwickelung  des  dua- 
listischen Zweiges  der  Hermetik  also  dar: 

Göttertrias  Urmensch 

Pelasgos 
Asklepiosu.i 


I.  Arkadische  Hermetik  }  1.  Zeus     2.  Hermes       3.  Pan 
n.  Hermetik  der  Straß 


.        ,  1.  Zeus     2.  Hermes       3.  Logos 
burger  Kosmogonie      J 

UI.  Hermetik  der  Koqti     )  ^    ^  /      ^  tt  «  .        ' 

,  ^       }  1.  @sog     2.  Hermes       3.     —        '\\)v%ai 

V,06[L0V  J 

IV.  Hermetik  des  1  .    ,r  ~     2.  Nov?  „     ^,         „^  _ 

T^  .         ,  }  1.  Novg        _  ,3.  Aoyog    Avd'QiOTCOg 

roimandres  J  ornitovQyos 

Eine  stufenweise  Verflüchtigung  der  mythologischen  Ge- 
stalten zu  metaphysischen  Begriffen,  die  in  sich  selbst  die  Gewähr 
des  Wahrscheinlichen  trägt  und  unser  Hauptprinzip:  „das  Philo- 
sophem  aus  demMythologem  entstanden"  aufs  trefflichste  illustriert. 

32.  Bei  alledem  ist  das  erst  der  eine  Zweig  der  Hermetik, 
der  dualistische,  dessen  Wahrzeichen  ^ Hermes =iVb'Dg  dr^iiLovQyog^ 
ist.  Der  andere  war  der  pantheistische  und  hatte  zum 
Wahrzeichen  die  Gleichung  ' Hermes  =  Kosmos'.  Dieser  Kosmos 
ist  der  zweite  Gott  und  das  zweite  Wesen;  das  erste  Wesen 
ist  Gott  der  Schöpfer,  das  dritte  der  Mensch. 

Daß  dieser  andere  Zweig  der  Hermetik  gleichfaUs  über 
Kyrene  nach  Ägypten  gekommen  ist,  lehrt  der  'Asclepius', 
der  die  pantheistische  Auffassung  am  voUständigsten  wieder- 
gibt und  dabei  die  Erinnerungen  an  Kyrene  treu  bewahrt  hat. 
Auf  Arkadien  aber  ist  er  nicht  zurückzuführen  —  schon  weil 
ihm    der   dritte,    aus   Pan    entwickelte    Gott    mangelt.^      Wir 

*  Den  Pan  hat  man  nachträgUcli  doch  hineingebracht,  —  sein  Name 
war  für  die  'Pan'theisten  zu  verführerisch.  So  erkenne  ich  ihn  denn 
im  Ascl.  2  wieder:  Nee  immerito  ipse  (mundus)  dictus  est  omnia  {=ndv), 
cuius  membra  sunt  omnia.  Aber  man  sieht,  daß  er  hier  nur  Doppel- 
gänger des  Hermes  =  Kosmos  ist. 


Hermes  und  die  Hermetik  57 

werden  uns  also  an  die  zweite  große  Yölkerwelle  halten,  die 
in  Kyrene  gestrandet  ist,  an  die  minyerisclie  —  nnd  diese  führt 
uns  nach  Böotien.  Und  hier  erhält  unsere  Konstruktion 
eine  abermalige,  geradezu  verblüffende  Bestätigung:  Böotien 
ist  in  der  Tat  die  zweite  Heimat  des  Hermes,  und  zwar  wurde 
er  hier  und  in  den  von  ihm  beeinflußten  Mysterien  als 
Kadmos  =  Kadmilos  verehrt.  Kadmos  aber  (auch  Kasmos)  ist 
etymologisch  mit  zwingender  Evidenz  gleich  Kosmos  zu  setzen, 
wie  denn  derselbe  Wortstamm  dem  Verbum  icha^iiai  und  dem 
Substantiv  Tcoö^og  zugrunde  liegt,  und  das  Appellativ  xcidiiog 
bei  den  Kretern  in  der  Bedeutung  'Bewaffaung'  vorkommt 
(Hes.;  vgl.  Curtius  GE^  138).  Hier  ist  demnach  eine  klipp 
und  klare,  allseitig  gestützte  Etymologie^;  kann  man  von  den 
Konkurrenzetymologien  (von  y~da^  u.  ä.)  auch  nur  annähernd 
dasselbe  sagen?  Und  wenn  nun  gar  dieser  Kadmos  =  Kosmos 
Gatte  der  Harmonia  heißt,  so  sehe  ich  nicht  ein,  wie  man  dem 
Zwang  dieser  doppelten  Übereinstimmung  entgehen  will;  offen- 
bar hat  die  apriorische  Voreingenommenheit  gegen  alle  kosmo- 
gonische  Spekulation  in  den  alten  Mythen  den  Widerspruch 
hervorgerufen.  Von  dieser  Voreingenommenheit  darf  jetzt  nicht 
mehr  die  Rede  sein;  schon  in  alter,  sehr  alter  Zeit  trug  das 
Mythologem  das  Philosophem   in  sich.     Wer  zuerst  den  Welt- 


*  Auf  zwei  neue  Stützen  will  ich  hier  aufmerksam  machen.  Im 
'Phädon'  antwortet  Sokrates  auf  die  Einwendungen  seiner  beiden 
thebanischen  Schüler,  Simmias  und  Kebes,,  die  beide  die  Sterblich- 
keit der  Seele  verfechten;  der  eine  hatte  sich  dabei  des  Gleichnisses  von 
der  Leier  und  ihrer  Harmonie,  der  andere  vom  Weber  und  seinem 
Gewand  bedient.  Wie  nun  Sokrates  mit  der  Harmonie  fertig  ist  und 
zum  Gewand  übergeht,  drückt  er  den  Übergang  also  aus  (c.  44):  ta 
lihv  'AqiiovIccs  ri^lv  xfig  @r\§a'Cy.fig  iXsd  nag  . .  .  tL  dh  dr}  tä  Kccd^iov^  TCöbg 
Ua(y<Jft£'9'a ,  und  weiterhin  nennt  Kebes  die  Rede  vom  Gewand  geradezu 
rov  tov  Kdd^ov  Xoyov.  Also  war  für  Plato  jedenfalls  Xad/xo?  =  xo()/Lto?; 
er  wird  gewußt  haben,  warum.  —  Dasselbe  will  die  berühmte  Verball- 
hornung des  Euhemeros  sagen:  der  sidonische  Koch  Kadmos  entführt 
die  Flötenspielerin  Harmonia.  Er  wird  an  die  bekannten  Wendungen 
dstTtvov,  doQTCov  xT^  ytoöiistv  gedacht  haben. 


k 


58  Th.  Zielinski 

bildner  Hermes  als  Kosmos  auffaßte  und  ihm  die  Harmonia 
zur  Frau  gab,  der  war  sich  der  kosmogonischen  Bedeutung 
des  Mythos  voll  und  ganz  bewußt. 

Kadmos  kämpft  mit  dem  Urweltdrachen:  wohl,  auch  der 
Hermetiker  sieht  in  der  Urwelt  ein  äTcorog  cpoßsQov  xs  xal 
dtvyvov^  dxoXtcbg  söTtsiQa^svov ,  cog  siocddcci,  ^e  <^ÖQcc7covtiy,  wie 
Reitzenstein  hübsch  ergänzt  (I  4).  Er  erringt  im  Kampf  die 
Harmonia;  das  mag  anfangs  als  die  Harmonie,  die  Ordnung 
des  Weltalls  gefaßt  worden  sein,  aber  der  Hermetiker  hat 
daraus  passend  die  ccq^ovIcc  der  Sphären  gemacht,  die  das 
Verhängnis  bestimmt  —  wir  werden  sehen,  was  sich  daraus 
noch  ergeben  hat.  Er  sät  die  Zähne  des  Drachen,  woraus  die 
Menschen  erwachsen  —  das  ist  der  Ursprung  des  Menschen- 
geschlechtes aus  den  Steinen  der  Erde,  d:tb  jcetQag,  dem 
arkadisch -hermetischen  Ursprung  von  der  Eiche,  ccTtb  ÖQvog, 
parallel  (oben  §  27).  Die  Menschen  geraten  sofort  in  Krieg 
miteinander  —  so  tun's  auch  die  eingekörperten  Seelen  nach 
der  KoQr]  jcoöfiov  — ,  bis  sich  die  Übrigbleibenden  dank 
Kadmos  vertragen,  der  somit  auch  in  der  Menschengesellschaft 
den  Kosmos  stiftet. 

Dieser  polyphyletische  Ursprung  des  Menschengeschlechtes 
hat  sich,  wie  gesagt,  noch  in  der  KÖQt}  xoö^ov  erhalten;  da- 
neben aber  auch  der  monophyletische,  der  arkadischen  Hermetik 
entsprechend.  Nach  der  oft  zitierten  poetischen  Quelle  des 
Hippolyt  wird  u.  a.  zur  Wahl  gestellt,  suts  Boicotolg  'AXaXxo- 
lisvBvg  VTtBQ  XC^vrig  KrjcpiöCdog  dve6%E  7tQG)Xog  äv%'QG)nG)v\  und 
auch  die  arkadische  Stammutter  Niobe,  die  Tochter  des  Phoro- 
neus  und  Mutter  des  Pelasgos  (oben  §  28),  finden  wir  in  Theben 
wieder  als  Gattin  des  ^Wanderers'  Amphion,  des  Erfinders 
der  Leier  und  Gründers  der  Urstadt,  also  wohl  =  Hermes.  — 
Doch  nein:  zur  Stammutter  ist  sie  nicht  geworden,  denn  ihre 
Kinder  hat  Apollo  getötet  .  .  .  auch  hier  dieselbe  siegreiche 
Konkurrenz  der  Apolloreligion,  wie  in  Arkadien.  Immerhin: 
zu  diesen  Kindern  gehört  auch  Alalkomeneus,  und  so  mag  denn 


Hermes  und  die  Hennetik  59 

in  der  vorapoUinisclien  Zeit  die  Nachkommenscliaft  der  Niobe 
die  Urstadt  bevölkert  haben.  Es  waren  Söhne  und  Töchter: 
die  Zahl  schwankt,  doch  hat  sich  allmählich  die  Siebenzahl 
festgesetzt,  den  Toren  der  Urstadt  entsprechend.  Sieben  Söhne 
und  sieben  Töchter  hat  die  Stammutter  geboren  .  .  .  dazu  der 
Hermetiker:  ovk  ävsfisvsv  ii  0v6tg  aXX  Bvd"vg  äjcsTcvrjösv  iittä 
ävd'Q^TCovs  ccQQSvod'TJXeag  (I  16),  die  trjg  TtSQiodov  TtSTcXriQG)- 
^evrjg  in  sieben  Männer  und  sieben  Frauen  auseinanderfallen 
ix  ßovXrjg  d'sov  (I  18). 

Nach  dem  Hermetiker  ist  freilich  die  ccQ^ovCa  daran 
schuld,  deren  sieben  Unheilsgaben  am  Urmenschen  haften 
(oben  §  5);  die  astrologische  Erklärung  lag  in  seiner  Zeit 
nahe  genug.  Der  Mythus  wußte  von  anderen  Unheilsgaben 
der  Harmonia  zu  berichten.  Auch  ihm  war  sie  eine  TCoXvdcoQogf  — 
was  er  in  beliebter  Weise  durch  den  Namen  ihres  Sohnes  aus- 
drückt; aber  ihre  Gabe  war  das  Gold,  das  Fluchgold,  aus  dem 
das  *  Geschmeide  der  Harmonia'  besteht  .  .  .  Die  tiefsinnige 
Idee  des  Fluchgoldes  ist  jetzt  durch  R.  Wagner  wieder  Eigen- 
tum aller  Gebildeten  geworden;  in  der  antiken  Mythologie  ist 
sie  noch  zu  wenig  verfolgt.  Und  doch  haben  wir  sie  mythisch 
in  den  Sagen  vom  Halsband  der  Harmonia,  vom  goldenen 
Vlies,  vom  goldenen  Lamm  des  Atreus  —  sämtlich  Gaben 
des  Hermes  — ,  kosmogonisch  in  der  Lehre  von  den  Weltaltem, 
der  auri  sacra  fames.  Uns  geht  hier  nur  das  erste  an.  Wir 
sehen,  wie  das  Fluchgold,  von  Harmonia  fortgeerbt,  jeden 
Träger  zum  —  wir  gebrauchen  den  hermetischen  Ausdruck  — 
ivdQ^oviog  dovXog  macht:  Laios,  Oidipus,  Polyneikes,  Amphi- 
araos,  Eriphyle,  Alkmeon.  Ein  bedeutungsvoller  Eingang  zum 
Liede  vom  Gold,  dem  Geschenk  des  Hermes,  —  und  hier  ist 
es,  wo  die  Lehre  vom  Gold,  die  niedere  Hermetik,  an  die 
höhere  anknüpft. 

33.  Diese  hat  nun  in  Ägypten  ihre  Ausbildung  erhalten; 
das    soll   nicht   geleugnet   werden.     Aber  der  Goldarbeiter  des 


60  Th.  Zielinsti    Hermes  und  die  Hermetik 

Philippos  wußte  wohl,  warum  er  seine  Werkzeuge  dem 
Kyllenier  Hermes  weihte  (Anth.  Pal.  VI,  92);  auch  hier 
waren  die  Ausgangspunkte  griechisch,  wie  denn  die  hellenistische 
Alchemie  üher  eine  fast  rein  griechische  Terminologie  verfügt. 
Doch  freilich:  viele  Rezepte  mögen  Nationalgut  der  ägyptischen 
Goldfälscher  gewesen  sein,  und  vor  allem  —  der  ganze  magische 
Spuk,  der  das  Werden  der  Alchemie  umspinnt. 

Das  alles  ist  niedere  Hermetik.  Die  höhere  dagegen  ist 
ganz  griechisch,  —  das  hoffe  ich  im  vorhergehenden  bewiesen 
zu  haben.  Und  indem  ich  die  Feder  niederlege,  drängt  es 
mich  hier  nochmals  dem  Gelehrten  zu  danken,  gegen  den  ich 
am  öftesten  habe  polemisieren  müssen,  und  ohne  den  ich 
meine  Erkenntnis  doch  nicht  gewonnen  haben  würde.  Meine 
Arbeit  ist  gering  gewesen  im  Vergleich  mit  der  seinigen;  aber 
das  ist  es  nicht  allein.  Er  ist  folgerecht  und  unerschrocken 
den  Weg  des  Irrtums  gegangen;  und  indem  er  es  tat,  hat  er 
deutlich  bewiesen,  daß  es  einer  war.  Nun  wissen  wir,  was 
wir  von  der  Ägyptologie  zu  erwarten  haben:  für  die  niedere 
Hermetik  —  sehr  viele  wertvolle  Aufschlüsse,  für  die  höhere  — 
so  gut  wie  nichts. 


{ 


Der  Kagnarökmythus 

Yon  B.  Kahle  in  Heidelberg -Neuenlieiin 
[Schluß] 

Wir  kommen  zum  Nachspiel  des  Dramas,  zur  Geschleclits- 
erneuerung.  1)  Ein  Mensclienpaar  überlebt  den  Fimbulwinter, 
von  ihm  stammen  neue  Geschlechter  (Yafthrudnismal).  2)  Die 
Sonne  gebiert  eine  Tochter,  bevor  der  Wolf  sie  verschluckt, 
sie  soU,  wenn  die  Götter  sterben,  ihrer  Mutter  Wege  reiten 
(Vafthrudnismal).  3)  Vidarr  und  Yali  bewohnen  die  Heilig- 
tümer der  Götter,  wenn  Surts  Lohe  erlischt  (Yafthrudnismal); 
die  Söhne  zweier  Brüder  werden  den  weiten  Himmel  bewohnen 
(Yöluspa).  Olrik  macht  es  wahrscheinlich,  daß  unter  diesen 
beiden  Brüdern  Odin  und  der  rätselhafte  Lodurr  zu  verstehen 
ist,  da  kurz  vorher  der  dritte  der  Trias,  Hönir,  genannt  wird.^ 
Den  Sohn  des  Odinn  kennen  wir,  es  ist  Yidarr,  der  als  Rächer 
seines  Yaters  sicher  eine  hervorragende  Stelle  im  neuen  Götter- 
staat einnehmen  wird,  wahrscheinlich,  als  Erbe  des  Yaters, 
die  des  Götterkönigs.  Den  Sohn  des  Lodurr  kennen  wir  nicht, 
aber  da  der  Dichter  ihn  nicht  nennt,. wird  er  ihn  bei  seinen 
Hörern  als  bekannt  vorausgesetzt  haben.  Femer  sollen  Modi 
und   Magni   (Mut   und   Kraft,   die   Söhne   Thors)   nach   Thors 


^  Dazn  vgl.  die  abweichende  Ansicht  Ranischs  a,  a.  0.  S.  461 
Anm.  1,  der  Hönir  und  Lodurr  für  die  beiden  Brüder  hält,  und  die 
ziemlich  unwahrscheinliche  Boers ,  Zeitschr.  f.  d.  phil.  36,  343,  der  Hödr 
und  Baldr  in  ihnen  sieht. 


62  B-  Kahle 

Tode  den  Hammer  Miöllnir  haben.  Es  sind  lauter  junge 
Götter,  die  den  Untergang  der  alten  überleben,  ein  zweites 
Gescbleclit.  Wie  die  Erneuerung  des  Menschengescbleclites, 
wie  die  der  Sonne  eine  vollständige  ist,  so  auch  die  der  Götter. 
In  dieser  ganzen  Gescblecbtserneuerung  baben  wir  einen  Nieder- 
schlag der  nordischen  Lehre  von  der  Seelenwanderung  zu 
sehen,  wie  es  G.  Storm  schön  nachgewiesen  hat.^  Nicht 
die  alten  Götter  leben  auf,  aber  in  ihren  Nachkommen 
lebt  ihre  Seele  weiter.  Bei  den  Kelten  ist  diese  Seelen- 
wanderungslehre noch  stärker  entwickelt,  auch  die  Perser 
kennen  sie.  Wir  haben  es  hier  mit  einem  Wandermotiv  zu 
tun,  zu  dem  die  Nordleute  nichts  Wesentliches  hinzugefügt 
haben. 

Es  werden  nun  doch  noch  ein  paar  von  den  alten  Göttern 
genannt,  die  den  Kampf  überleben.  Nach  Vafthrudnismal  soll 
Njördr,  der  Vater  des  Freyr,  den  in  Vanaheim  weise  Mächte 
schufen,  und  der  zu  den  Äsen  als  Geisel  kam,  am  Weltenende 
wieder  zu  den  weisen  Yanen  zurückkehren.  Hier  ist  vieles 
dunkel.  Kehrt  Njördr  vor  dem  Götterkampf  zurück?  Hat  er 
also  in  der  Stunde  der  Gefahr  die  Äsen  verlassen?  Oder 
aber  macht  er  den  Kampf  mit,  und  warum  ist '  er  dann, 
wenigstens  nach  diesem  Gedicht,  der  einzige  Überlebende  der 
alten  Götter?  Und  eine  andere  Frage  könnte  man  diesen  von 
Olrik  erhobenen  noch  hinzufügen:  sind  denn  die  Vanen,  soWeit 
sie  nicht  bei  den  Äsen  aufgenommen  waren,  mitsamt  ihrem 
Wohnsitz  vom  Untergang  verschont  geblieben?  Warum  kehren 
denn  nicht  auch  Freyr  und  Frejya  zurück  zu  ihnen?  Auch 
die  Wiederkunft  des  Hönir,  der  nach  der  Völuspa  den  Loszweig 
kiesen  soll,  ist  rätselhaft  wie  der  ganze  Gott.  Mit  Odinn  hat  er 
einst  an  der  Schöpfung  der  Menschen  teilgenommen,  und  erst 
hier  tritt  er  wieder  auf.    Snorri  läßt  ihn  von  den  Äsen  an  die 


^  ArUv  for  nordisk  Filölogi  9,  221  f.  Ranisch  leugnet  a.  a.  0.  S.  461, 
wie  ich  glaube  zu  Unrecht,  den  Zusammenhang  mit  dem  Seelen- 
wanderungsglauben. 


Der  Ragnarökmythus  63 

Vanen  vergeiselt  werden.  Man  könnte  fragen,  wird  er  deshalb 
verscliont? 

Ferner  läßt  die  Völuspa  Baldr  und  seinen  Mörder  Hödr 
wiederkommen.  ^Ungesät  werden  die  Äcker  wachsen,  alles 
Üble  schwindet,  Baldr  kommt;  Hödr  und  Baldr  werden  Odins 
Kampfgefilde  bewohnen.'  Leider  streift  Olrik  die  Frage  des 
Wiedererscheinens  der  beiden  Götter  nur  flüchtig.  Er  hält 
den  Gedanken  für  mehr  volkstümlich  als  den  vom  Wieder- 
kommen der  anderen  alten  Götter,  es  sei  gewissermaßen  die 
Ergänzung  zu  dem  Zug,  daß  die  ganze  Natur  weint,  um 
Baldr  aus  dem  Reich  der  Hei  zu  erlösen,  es  sei  die  natürliche 
Erfüllung  dieses  Wunsches.  Baldr  hat  nicht  teilgenommen 
am  Kampfe,  zum  Feinde  der  Götter  konnte  er  nicht  werden 
und  auf  ihre  Seite  konnte  er  als  Toter  nicht  treten.  So  ist 
er  wie  die  jungen  Götter  übriggeblieben  und  wird  wieder- 
geboren. Die  Frage  nach  dem  christlichen  Einfluß  auf  seine 
Gestalt  und  seinen  Mythus,  die  ja  besonders  von  Bugge  bejaht 
und  eingehend  zu  begründen  versucht  worden  ist,  berührt  er 
gar  nicht  weiter,  sondern  setzt  nur  am  Schluß  seiner  Abhandlung, 
wo  er  die  einzelnen  Motive  nach  ihrer  Herkunft  zusammen- 
stellt, das  von  Baldrs  Erscheinen  zwar  unter  die  christlichen, 
versieht  es  aber  mit  zwei  Fragezeichen.  Aber  so  leicht  läßt 
sich  die  Sache  nicht  abtun,  der  Baldrmythus  verlangt  dringend 
trotz  oder  vielleicht  gerade  wegen  der  neuen  umfangreichen 
Behandlung,  die  ihm  Kauffmann  gewidmet^,  eine  erneute  Unter- 
suchung.^ 

In  einem  Schlußabschnitt  untersucht  nun  noch  Olrik  die 
Behandlung  des  Mythus  durch  die  Völuspa.  Er  stellt  die 
Übereinstimmungen  mit  den  anderen  Quellen  zusammen,  hebt 
die  Besonderheiten  hervor,  die  die  anderen  Quellen  nicht 
kennen,  und  zeigt  schließlich,  was  im  Widerspruch  mit  diesen 

^  Balder,  Mythus  und  Sage,  Straßburg  1902. 

*  Vgl.  Heuslers  Anzeige  Deutsche  Literatwz.  1903,  Sp.  488  ff. 


04  B-  Kahle 

stellt.  Ferner  sucht  er  festzustellen,  was  nur  dichterische  Aus- 
malung, also  Eigentum  des  Dichters  ist. 

Ich  beschränke  mich  darauf,  aus  diesem  Abschnitt  nur 
noch  folgendes  herauszuheben. 

Die  Darstellung  der  letzten  Zeit  der  Menschheit,  die  Ver- 
knüpfang  von  schlimmen  Jahren  mit  verderblichen  Kriegen 
und  sittlichem  Zusammenbruch  ist  Sonderheit  der  Yöluspa. 
Man  hat  hier  Einfluß  der  Beschreibung  der  Evangelien  vom 
Weltende  angenommen.  Es  verdient  aber  hervorgehoben  zu 
werden,  daß  man  auch  in  der  neueren  europäischen  Volks- 
überlieferung ähnliche  Schilderungen  findet,  und  zwar  zum 
Teil  in  einer  Form,  die  kaum  auf  christliche  Vorbilder  zu- 
rückgeht. 

Der  Zug,  daß  Heimdallr  beim  Herannahen  der  feindlichen 
Scharen  ins  Giallarhorn  (das  gellende  Hörn)  bläst,  scheint  auf 
die  Völuspa  beschränkt.  Wahrscheinlich  jedoch  ist  die  Szene 
auf  einem  Grabstein  der  Insel  Man,  den  man  in  die  zweite 
Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  setzt,  dargestellt,  eine  Darstellung, 
die  auf  der  Völuspa  beruhen  kann,  deren  Entstehung  man  ja 
allgemein  dem  10.  Jahrhundert  zuschreibt.  Wir  treffen  diesen 
Zug  weder  bei  Kelten  noch  bei  Persern  an.  Dagegen  spielt 
das  Blasen  einer  Posaune  in  dem  jüdisch -christlich -mohamme- 
danischen Vorstellungskreis  vom  letzten  Gericht  eine  große  Rolle. 
Auch  im  ahd.  Gedicht  Muspilli  ergellt  das  himmlische  Hörn, 
und  auch  Cynewulfs  Crist  kennt  das  Blasen.  Nach  Olrik  kann 
nun  Heimdalls  Auftreten  im  Eagnarök  aus  seiner  allgemeinen 
Stellung  als  Wächter  der  Götter  nicht  erklärt  werden.  Nach 
der  Völuspa  hat  er  nicht  nur  die  Rolle,  die  Götter  zum 
Kampf  herauszurufen,  wenn  die  Feinde  sich  nähern,  sondern 
sein  Blasen  wird  ausdrücklich  als  der  feierliche  Beginn  des 
Weltunterganges  bezeichnet.  Ich  kann  aber  hierin  absolut 
keinen  Widerspruch  sehen:  der  aufmerksame  Wächter  sieht 
die  Feinde  sich  nähern^  er  stößt  ins  Hom.  Das  tut  er  nur 
ein  einziges  Mal  in  seinem  Leben,  nur  ein  einziges  Mal  in  der 


Der  Ragnarökmythus  65 

Weltgeschichte  ziehen  von  allen  Seiten  die  Feinde  heran.  Jeder 
der  Götter  weiß  es,  wenn  das  Hörn  ergellt,  dann  ist  der  letzte 
Kampf  da.  Wenn  der  Wächter  das  Zeichen  gibt,  bricht  der 
Untergang  herein.  Wo  ist  da  ein  Widerspruch  zwischen  der 
Rolle,  die  er  sonst  spielt,  und  der,  die  ihm  hier  zugeteilt 
wird?  Doch  will  ich  damit  nicht  leugnen,  daß  die  christliche 
Vorstellung  vom  Blasen  der  Posaune  eingewirkt  haben  kann.* 
An  sich  wäre  es  ja  auch  möglich,  daß  der  Wächter  auch  auf 
andere  Weise  das  Zeichen  gegeben  hätte,  daß  er  z.  B.  mächtig 
seine  Stimme  erhoben,  den  Ruf  zu  den  Waffen  hätte  ertönen 
lassen.  Das  Gerüfte  spielt  ja  in  unseren  deutschen  Rechts- 
altertümern eine  große  Rolle. 

Als  des  Dichters  eigenes  Werk  wird  man  vielleicht  die 
schöne  Schilderung  vom  Zustand  der  neuen  Welt  ansehen 
dürfen,  die  jedoch  zum  Teil  auf  Volksüberlieferung  beruhen 
mag,  eine  Wiederholung  der  ersten  glücklichen  Zeit  in  der 
Welt,  das  weitverbreitete  Goldaltermotiv.  Rein  menschliche 
und  dichterische  Auffassung  ist  es  aber,  wenn  die  Sonne  ins 
Meer  sinkt,  denn  die  nordischen  Mythen  lassen  sie  vom  Wolf 
verschluckt  werden,  und  der  Dichter  der  Völuspa  selbst  kennt 
diesen  Mythus. 

Sicher  aber  fremden  Ursprungs  —  und  hier  bin  ich  ganz 
einig  mit  Olrik  —  ist  der  Schluß:  ^Nun  kommt  der  Mächtige 
zum  Königreich,  der  Gewaltige  von  oben,  der  über  alles 
herrscht'.  Das  Wort  aber,  das  Olrik  hier  mit  Königreich 
zu  übersetzen  geneigt  ist,  regindömr,  indem  er  dömr  als  zum 
Suffix  herabgesunken  wie  in  'konung-dömr  *  König -tum'  auffaßt, 
bedeutet  doch  wohl  zunächst,  worauf  er  selbst  hinweist, 
^gewaltiges  Gericht'.^  Ist  dem  so,  dann  kann,  sagt  er,  und 
auch   darin   stimme   ich    mit   ihm    überein,    gar   kein   Zweifel 

^  Auch  Kauffmann  hat  seine  Zweifel  an  dieser  Herleitung  vom 
Erzengel  Michael,  S.  406,  ebenso  wie  Ranisch  a.  a.  0.  S.  462  überein- 
stimmend mit  dem  obigen  urteilt. 

*  So  versteht  auch  Boer  Zeitschr.  f.  d.  phü.  36,  315  das  Wort. 

Archiv  f.  Eeligions-wissenschaft  IX  5 


QQ  B.  Kahle 

melir  sein,  daß  es  die  christliche  Vorstellung  vom  letzten 
Gericht  ist,  die  hier  mit  dem  Weltende  verquickt  ist.  Auf 
diesen  Worten  beruhen  denn  wohl  auch,  was  Olrik  nicht  weiter 
erwähnt,  die  Verse  der  kurzen  Völuspa,  die  ja  von  der  eigent- 
lichen in  hohem  Maße  abhängig  ist:  'da  (nämlich  nach  Odins 
Tode)  kommt  der  andere,  der  Mächtigere,  doch  wage  ich 
nicht,  ihn  zu  nennen.'  Wegen  dieses  Abhängigkeitsverhält- 
nisses haben  wir  uns  aber  nur  an  die  Verse  der  Völuspa  zu 
halten.  Als  ein  fremdes  Element  empfindet  der  Dichter  dieser 
Verse,  worauf  Olrik  mit  Recht  hinweist,  diesen  Gewaltigen 
selbst,  wenn  er  ihn  von  oben  her  kommen  läßt,  also  aus  einer 
anderen  Welt,  aus  unbekannten  Femen,  die  noch  über  Asgard 
liegen.  Sein  Erscheinen  ist  von  großer  dramatischer  Wirkung, 
aber  episch  gänzlich  überflüssig.  Das  junge  Göttergeschlecht 
hat  die  neue  Welt  bereits  selbst  geordnet,  für  den  Unbekannten 
ist  keine  Stelle  mehr. 

Ein  paar  Bemerkungen  seien  hier  noch  hinzugefügt. 
MüUenhoff  hatte  gemeint,  und  Kauffmann  hat  ihm  zugestimmt, 
der  unbekannte  Gott  habe  möglicherweise  schon  zuvor  im 
Hintergrunde  neben  und  über  den  alten  Göttern  existiert.  Er 
kommt,  um  als  Hüter  des  Rechtes  seine  Herrschaft  auszuüben. 
Recht  wie  keiner  zu  pflegen.  Heilige  Ordnungen  setzt  er 
fest,  die  bleiben  sollen.  Er  wird  den  Frieden  ewig  aufrecht- 
erhalten. Das  Gemälde,  das  MüUenhoff  hier  entwirft,  ist 
dichterisch  schön,  kann  aber,  wie  ich  glaube,  der  Kritik  nicht 
standhalten.  Professor  A.  Heusler,  mit  dem  ich  über  diese 
Dinge  in  Briefwechsel  gestanden,  verweist  darauf,  daß  die 
neuen  Götter  ausdrücklich  als  *  Schlachtgötter'  (valUvar)  be- 
zeichnet werden,  ein  Ausdruck,  an  dem  man  mit  Unrecht  An- 
stand genommen  hat.  „Ein  unkriegerischer  Gott  wäre  für  den 
Nordmann  etwas  Verächtliches  gewesen,  ein  ragr  (d.  h.  ein 
weibischer),  in  dessen  dröU  (Gefolgschaft)  er  sich  nun  und 
nimmer  hineingewünscht  hätte.  Baldr  muß  man  sich  etwa  wie 
Gunnar  von  Hlidarendi   (einen   isländischen   edlen   Helden   des 


Der  Ragnarökmythus  67 

10.  Jahrhunderts)  denken,  göär  (^der  Gute',  ein  Beiwort  Baldrs) 
ist  Hacker,  edel',  niclit  *  gut  =  lammfromm. '  Trägt  ja  doch 
auch  der  christliche  König  Hakon,  der  sein  väterliches  Reich 
sich  erkämpfte,  und  der  später  im  Kampfe  fiel,  den  der 
Dichter  nach  ValhöU  als  willkommenen  Beistand  für  die  Götter 
im  letzten  Kampf  versetzt,  den  Beinamen  ^der  Gute'.  Die  oft 
berufene  Friedenssehnsucht  der  Nordländer  im  10.  Jahrhundert 
halte  ich  für  ein  Phantom.  Die  ganze  Sagaliteratur  zeigt, 
mit  welcher  Einseitigkeit  der  Krieg,  die  Waffentüchtigkeit  als 
Gehalt  und  Würze  des  Lehens  empfunden  wurde."  Ich  kann 
diesen  Ausführungen  nur  zustimmen. 

Ich  pflichte  also  Olrik  hei,  daß  wir  hier  die  christliche 
Vorstellung  vom  Richter  haben.  Wie  läßt  sich  diese  aber  mit 
dem  durchaus  heidnischen  Grundcharakter  des  Gedichtes,  auf 
den  Olrik  ja  im  Eingang  seiner  Arbeit  so  nachdrücklich  ver- 
wiesen hat,  vereinigen?  Darüber  schweigt  er.  Und  doch  ist 
diese  Frage  von  außerordentlicher  Wichtigkeit!  Ist  es  doch 
hauptsächlich  diese  Halbstrophe,  die  so  manchen  Gelehrten, 
darunter  zuletzt  Bj.  M.  Olsen,  veranlaßt  hat,  das  ganze  Gedicht 
für  die  Dichtung  eines  Christen  zu  halten.  Aber  keiner  von 
allen,  die  dieser  Ansicht  huldigten,  hat  es  erklärt,  wie  ein 
Christ  dazu  kommen  konnte,  in  der  neuen  Welt  unter  Christus 
oder  Gottvater  eine  Anzahl  heidnischer  Götter  wirken  zu 
lassen.  Das  ist  doch  ein  Unding,  wie  man  es  sich  stärker 
nicht  denken  kann. 

Also  statt  des  Monotheismus,  resp.  der  Trinität,  eine  Viel- 
götterei! Bj.  M.  Olsen  hat  das  wohl  gefühlt  und  deshalb 
läßt  er  seinen  christlichen  Dichter,  von  tiefer  Ehrfurcht  zwar 
gegen  die  alten  Götter  erfüllt,  doch  an  den  Sieg  des  Christen- 
tums glauben  und  verweist  auf  den  oft  wunderlich  gemischten 
Glauben  der  ersten  nordischen  Christen  in  jener  Übergangs- 
zeit. Aber  auch  hier  ein  nicht  zu  lösender  Widerspruch:  wenn 
der  Dichter  an  den  endgültigen  Sieg  des  Christentums  über 
das  Heidentum  glaubt,  wie  konnte  er  dann  eine  Anzahl  heid- 

5* 


ß3  B-  Kahle 

nischer  Götter  in  das  neue  Reicli  herübernehmen?  Nein,  der 
Sieg  mußte  ein  vollständiger  sein,  die  alten  heidnischen  Götter 
sind  bezwungen:  soweit  sie  nicht  tot  sind,  sind  sie  bÖse 
Dämonen.  Das  wäre  konsequente  Durchführung  des  Gedankens 
vom  Sieg  gewesen.  Die  Kirche  leugnete  ja  keineswegs  die 
Existenz  der  Heidengötter,  aber  es  waren  böse  Teufel.  War 
der  Dichter  aber  ein  im  Glauben  Gemischter,  wie  jener  Helge 
der  Magere,  der,  wiewohl  getauft,  gelegentlich  auch  Thorr  an- 
rief, so  war  ihm  eben  Christus  nichts  mehr  denn  ein  neuer 
Gott,  der  neben  die  alten  trat.  Vielleicht  auch,  wie  Heusler 
will^,  fürchtete  er  doch  immer  noch  die  Macht  des  alten  Gottes 
und  hielt  es  für  gut,  sich  auch  an  diesen  zu  wenden,  um 
seinen  Zorn  nicht  herauszufordern.  Trifft  das  erste  das  Richtige, 
dann  würde  man  eine  ähnliche  Auffassung  von  Christus  voraus- 
setzen dürfen,  wie  bei  jenen  schwedischen  Priestern,  die  dem 
Volke  sagten,  wenn  sie  durchaus  noch  einen  neuen  Gott  haben 
wollten,  so  hätten  die  Götter  beschlossen,  den  verstorbenen  König 
Erich  in  ihre  Mitte  aufzunehmen.  Sie  glaubten  also,  es  handle 
sich  bei  Christus  nur  um  einen  Gott  mehr,  da  dieser  aber  ein 
fremder  war,  wollten  sie  ihn  durch  einen  heimischen  ersetzen. 
Nimmer  aber  würde  dieser  Halbchrist  Helge  Christus  eine 
solche  Rolle  angewiesen  haben,  wie  sie  hier  der  Geheimnisvolle 
spielt,  der  Mächtige,  der  von  oben  zum  gewaltigen  Gericht 
kommt.  Welche  Rolle  hätten  die  Heidengötter  neben  dem 
allgewaltigen  Richter  spielen  sollen?  Nein,  dieser  verträgt 
keine  anderen  Götter  neben  sich,  er  allein  ist  der  Herr.^ 

Wie  nun  den  Widerspruch  lösen?  Ich  habe  schon  lange  den 
Gedanken  gehegt  und  mündlich  wie  schriftlich  erörtert,  daß  wir 
es  hier  mit  einem  nicht  ursprünglichen  Stück  unseres  Gedichtes 
zu  tun  haben.  Aus  der  Sprache  der  Halbstrophe  können  wir 
keinen  Aufschluß  gewinnen  über  ihre  Entstehungszeit.  Nichts 
hindert  uns,  diese  später  anzusetzen  als  das  eigentliche  Gedicht. 

*  Zeitschr.  des  Ver.  f.  Volksk.  12,  238. 

*  Ähnlich  Heusler  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksh.  12,  288. 


Der  Ragnarökmyfclaus  69 

Daß  die  Völuspa  ein  in  weiten  Kreisen  bekanntes  Gedicht  war, 
wird  durch  mannigfache  Zeugnisse  erhärtet.  Ich  halte  es  nun 
nicht  für  unwahrscheinlich  —  beweisen  läßt  sich  so  etwas  ja 
schwer  — ,  daß  in  später  Zeit,  als  das  Christentum  feste  Wurzeln 
gefaßt  hatte,  ein  Christ  Anstoß  daran  nahm,  daß  in  der  neuen 
Welt  Heidengötter  ihres  Amtes  walten  sollten.  Vielleicht 
merzte  er  die  ganzen  Strophen,  in  denen  von  dem  Wieder- 
erscheinen der  überlebenden  Äsen  die  Rede  ist,  aus  (in 
Bugges  Ausgabe  60 — 63).  Diese  Strophen  folgten  auf  jene, 
in  der  das  Wiederauftauchen  der  Erde  geschildert  wird.  Die 
64.  Strophe  ließ  er  stehen.  Sie  lautete:  '^ Einen  Saal  sehe  ich 
stehen,  schöner  denn  die  Sonne,  mit  Gold  bedeckt  in  Gimle; 
da  sollen  *die  wackeren  Heerscharen'  (dyggvar  dröttir)  wohnen 
und  ewiglich  der  Wonne  genießen'.  So  übersetzt  Heusler 
treffend  (brieflich)  die  dyggvar  dröttir  und  sieht  in  der  ganzen 
Strophe  die  Erneuerung  der  alten  Yalhöllherrlichkeit  in  noch 
prächtiger  ausgestattetem  Saale.^  Die  Bedenken,  die  Olrik  da- 
gegen äußert,  daß  man  in  dem  goldgedeckten  Saal  ein  ver- 
klärtes Gegenstück  zu  VälhöU  sieht,  indem  er  fragt,  wer  denn 
darin  habe  wohnen'  sollen,  da  in  der  neuen  Welt  —  weil 
^ alles  Schlechte  schwindet',  wie  es  in  Strophe  62  heißt  —  die 
Menschen  dem  Tod  nicht  unterworfen  gewesen  wären,  es  also 
auch  hier  keine  neuen  Einherier  gegeben  hätte,  halte  ich  für 
unbegründet.  Nirgends  ist  ausgedrückt,  daß  die  neuen  Menschen 
unsterblich  sein  werden,  und  oben  ist  schon  hervorgehoben, 
daß  diese  kriegsfrohen  Geschlechter  sich  ohne  Kampf  auch 
die  neue  Welt  nicht  gedacht  haben  können.  Wo  aber  Kampf, 
da  ist  auch  Tod,  es  wird  also  auch  neue  Einherier  geben. 
Diese  trotzigen  Kämpfer  empfanden  den  Tod  gar  nicht  als 
etwas  Übles,  als  einen  Schaden,  so  wenig  wie  der  für  den 
Glauben  fallende  Muselmann  mit  der  Gewißheit  unend- 
licher  Glückseligkeit   vor   Augen.     Die  Worte,    auf  die    sich 

*  Vgl.  jetzt  Heuslers  Ausführungen  über  die  dyggvar  dröttir:  Gott, 
gel.  Anz.  1903,  S.  702. 


70  B.  Kahle 

Olrik  bezieht,  heißen  gar  niclit,  daß  alles  Böse  schwindet, 
sondern  alles  Unglück  wird  besser  werden  (hols  mun  alls  hatna)^ 
hol  bedeutet  *  Schaden,  Unglück',  und  man  wird  dabei  an  die 
schrecklichen  Winter  zu  denken  haben,  an  die  sittliche  Ver- 
wilderung, die  dem  Untergang  vorausgingen.  All  der  Schaden, 
der  dadurch  angerichtet  ist,  wird  in  der  neuen  Weltordnung 
besser  werden.  Das  hindert' nun  aber  nicht,  daß  der  Verfasser 
der  Strophe  vom  mächtigen  Richter,  ebenso  wie  der  Christ 
Snorri  Sturluson  die  dyggvar  dröttir  als  gute  und  rechtschaffene 
Menschen  ansah,  und  in  dieser  Strophe  alsdann  eine  Belohnung 
nach  christlicher  Art  zu  finden  meinte,  wie  Detter  bemerkt^, 
während  er  in  der  merkwürdigen  Schlußstrophe  von  dem 
Drachen,  der  übers  Gefilde  fliegt  und  die  Toten  trägt,  mißver- 
ständlich eine  Bestrafung  der  Bösen  sah.  So  ergab  sich  ihm 
ungezwungen  der  Gedanke,  daß  auch  der  Richter  erwähnt  werden 
müsse,  der  die  Strafen  verhängt  und  die  Belohnungen  austeilt, 
und  er  dichtete  jene  Halbstrophe  und  schob  sie  zwischen  die 
beiden  anderen  ein.  Er.  muß  ein  Mann  von  nicht  ungewöhn- 
licher poetischer  Begabung  gewesen  sein,  denn  die  Verse  sind 
kraftvoll  und  schön.  Wer  aber  darauf  besteht,  in  dem  gold- 
gedeckten Saal  Gimle,  wie  man  es  getan  hat,  einen  Wider- 
schein des  himmlischen  Jerusalem  und  in  den  dyggvar  dröttir 
fromme,  rechtschaffene  Menschen  zu  sehen,  der  mag  auch  diese 
Strophe  jenem  christlichen  Dichter  zuschreiben.  Es  ist  aber 
hervorzuheben,  daß  die  Richterstrophe  der  Haupthandschrift, 
dem  Codex  Regius,  fehlt  und  nur  in  der  Hauksbok  sich  findet, 
während  die  andere  beiden  Handschriften  eignet.  Auch  dieser 
Umstand  spricht  für  die  Unechtheit  der  einen,  für  die  Echtheit 
der  anderen  Strophe.^     Man  kann  sich  nun  vielleicht  die  Sache 

^  Die  Völuspa,  Wien  1899.  (Sitzungsber  d.  Wiener  Akadem. 
phil.-hist.  GL,  Bd.  CXI.) 

*  Vgl.  jetzt  auch  Detter  und  Heinzel  Saemundar  Edda  II,  S.  81, 
die  die  Sachlage  ähnlich  auffassen.  Auch  Boer,  a.  a.  0.  S.  316  hält  diese 
Strophe  für  das  Werk  eines  jüngeren  Dichters  mit  christlichen  Ten- 
denzen, dem  er  noch  einige  andere  Strophen  zuspricht. 


Der  Ragnarökmythus  71 

so  denken,  daß  das  Gedicht  in  späterer  Zeit  mit  zwiefachem 
Schluß  im  Umlauf  war,  dem  heidnischen  ursprünglichen  und 
dem  späteren  christlichen,  und  daß  dann  vielleicht  ein  Schreiber, 
dem  das  rechte  Verständnis  für  die  sich  daraus  ergebenden 
Widersprüche  fehlte,  es  versuchte,  beide  Schlüsse  zusammen- 
zustöppeln.^ 

Zum  Schluß  seiner  Abhandlung  stellt  Olrik  eine  Anzahl 
Züge  des  Mythus  der  Völuspa  zusammen,  die  das  Gedicht 
allein  unter  den  nordischen  Quellen  hat,  und  in  denen  es  mit 
dem  christlichen  Mythus  vom  jüngsten  Gericht  übereinstimmt. 
Einzeln,  führt  er  aus,  wären  sie  nicht  beweisend  für  den 
christlichen  Einfluß  auf  das  Gedicht,  wohl  aber  in  ihrer 
Gesamtheit.  Als  solche  Züge  sieht  er  an:  die  sittliche  Auf- 
lösung, das  Blasen  des  Hornes,  den  Weltbrand,  das  neue  Jeru- 
salem (=  der  Saal  Gimle)  und  die  Wiederkehr  des  Mächtigen 
zum  Gericht. 

Den  letzten  Zug  habe  ich  als  ursprünglich  dem  Gedicht 
fremd  zu  erweisen  gesucht.  Auch  die  Beziehung  des  Saales 
Gimle  zu  dem  edelsteingedeckten  Saale  des  neuen  himmlischen 
Jerusalems  scheint  mir  keineswegs  sicher  zu  sein.^  Wir  haben 
ferner  gesehen,  daß  wir  es  auch  in  der  Völuspa  nicht  mit 
einem  Weltbrand,  sondern  nur  mit  einem  Brande  des  Himmels, 
also  der  Götterwohnungen,  zu  tun  haben.  Auch  die  Be- 
ziehung von  dem  hornblasenden  Heimdall  zum  posaunen- 
blasenden Erzengel  Michael  erschien  zum  mindesten  bedenklich. 


1  Heusler  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  VolJcsJc.  12,  238  äußert  sich:  ist  der 
Vers  ursprünglicli ,  muß  der  Dichter  an  einen  heidnischen  Gott  gedacht 
haben,  ist  sie  christliche  Zutat,  so  kann  nur  ein  Schreiber  des  13.  Jahr- 
hunderts der  Verfasser  sein,  'dem  der  religiöse  Gegensatz  nicht  mehr 
lebendig  war,  und  der  das  Unvereinbare  wenigstens  auf  dem  Pergament 
glaubte  vereinigen  zu  können'.  Diese  zweite  Alternative  steht  also 
meiner  oben  vorgetragenen  Ansicht  nahe. 

*  Auch  Detter  und  Heinzel  haben  Saemundar  Edda  II  79  f.  ihre 
Bedenken  gegen  die  Auffassung  von  Gimle  als  dem  edelsteingedeckten 
Hause  des  neuen  Jerusalems  ebenso  wie  Ranisch  a.  a.  0.  S.  463. 


72 


B.  Kahle    Der  Ragnarökmythns 


Bleibt  noch,  die  sittliche  Auflösung.  Aber  war  nicht  der 
Gedanke,  daß  bei  einer  so  großen  Umwälzung  aller  Dinge 
auch  die  sittlichen  Bande  sich  lösen  mußten,  ein  so  natür- 
licher, daß  er  ungezwungen,  ohne  fremde  Beeinflussung,  auch 
auf  nordischem  Boden  erwachsen  konnte? 

Wenn  ich  somit  das  Ergebnis  der  schönen  Untersuchung 
Olriks  annehme,  das  dieser  in  den  Worten  zusammenfaßt,  daß 
das  Gedicht  in  seiner  Gesamtheit  heidnisch  sei,  so  weiche  ich 
doch  darin  von  ihm  ab,  daß  mir  die  christliche  Beeinflussung 
desselben  keineswegs  in  dem  Maße  ausgemacht  erscheint, 
wie  ihm. 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche 

Mutter 

Eine  Studie  über  den  Ursprung  des  Mariendienstes 

Von  F.  C.  Conybeare,  M.  A.,  F.  B.  A.  in  Oxford 
Aus  dem  Englischen  übersetzt  von  Ottilia  C.  Deubner 

[Schluß] 

In  dem  Hermae  Pastor  ist  die  Kirche  nicht  nur  als  eine 
Jungfrau  allegorisiert,  sondern  als  himmlischer,  mit  Christus 
gleichaltriger  Aon  gefaßt.  *Der  Herr  der  Heerscharen',  so 
lesen  wir  in  Vis.  I  3,  4,  ^erschuf  durch  eigne  Weisheit  und 
Vorsehung  seine  heilige  Kirche,  die  er  auch  segnete.' 

*Die  Älteste',  die  der  Hirt  mit  der  Sibylle  verwechselt 
hatte,  war  gleichfalls  in  Wahrheit  die  Kirche;  und  sie  war  die 
Älteste,  weil  sie  zuerst  erschaffen  war',  vor  anderen  Geschöpfen, 
und  ^für  sie  wurde  der  Kosmos  geschaffen  und  in  Stand  ge- 
setzt' (Vis.  n  4,  1).  In  der  Form  (morphe)  der  Kirche  offen- 
barte der  heilige  Geist,  der  Sohn  Gottes,  dem  Hirten  den 
ersten  Teil  seiner  Vision  (Sim.  IX  1,  1). 

Dieselbe  Hypostase  der  Kirche  tritt  uns  in  einem  anderen 
frühen  Buch  entgegen,  dem  sogenannten  zweiten  Brief  des 
Clemens,  welcher  behauptet  (Kap.  XIV),  daß  ^diejenigen,  die 
den  Willen  Gottes  unseres  Vaters  tun,  Teilhaber  an  der  ersten, 
der  geistlichen  (pneumatikes)  Kirche  sein  sollen,  die  vor 
Sonne  und  Mond  erschaffen  war.  Und  derselbe  Autor  fügt  in 
der  Nachschrift  hinzu,  daß  wenn  wir  von  Gott  lesen,  er  habe 
den  Menschen  erschaffen,  Mann  und  Weib,  wir  Christus  als 
den  Mann   und   die  Kirche    als    das  Weib    aufzufassen   haben. 


74  F.  C.  Conybeare 

Denn  die  lebende  Kirclie  sei  der  Leib  Christi;  und  wie  sowohl 
Bibel  als  Apostel  bezeugen,  ist  die  Kirche  nichts  Neues, 
sondern  von  oben  herabgekommen.  ^Denn  sie  war  geistlich, 
gleichwie  unser  Jesus,  aber  sie  wurde  in  diesen  letzten  Tagen 
geoffenbart,  damit  sie  uns  erlöse'. 

Ähnlich  nennt  Clemens  von  Alexandria  (Protrept.  9,  S.  69) 
die  Kirche  prötotokos  oder  Erstgeborene  Gottes  und  verkündet, 
daß  die  irdische  Kirche  ihr  Abbild  sei. 

In  dem  Briefe  der  Kirche  von  Vienne  und  Lugdunum  in 
Gallien,  betreffs  der  etwa  177  n.  Chr.  erduldeten  Verfolgung 
bei  Eusebius  H.  E.  V,  1,  sect.  207,  finden  wir  ein  Zeugnis  für 
das  der  hypostasierten  Kirche  zugeschriebene  persönliche  Leben 
und  ihr  Literesse  an  den  Gläubigen.  Einige,  die  abtrünnig 
gewesen  waren,  bestätigten  aufs  Neue  ihren  Glauben.  ^Dann', 
so  sagt  der  Brief,  *  empfand  die  jungfräuliche  Mutter  tiefe 
Freude,  weil  sie  lebendig  diejenigen  zurückerhielt,  die  sie  vor- 
zeitig geboren  hatte,  als  seien  sie  tot.' 

TertuUian  bezeugt  für  das  zweite  Jahrhundert  die  Ge- 
wohnheit, Gebete  an  die  Kirche  zu  richten;  denn  in  den  letzten 
Worten  seiner  Enzyklika  über  die  Taufe  Kap.  20  ermahnt  er 
die  Gläubigen,  daß  sie,  wenn  sie  aus  dem  hochheiligen  Tauf- 
becken aufsteigen,  ihren  Platz  bei  ihren  Brüdern  einnehmen 
sollen,  und  ihr  erstes  Gebet  in  der  Gegenwart  ihrer  Mutter,  ^der 
Kirche',  aussprechen.  'Cum  de  illo  sanctissimo  lavacro  novi 
natalis  ascenditis  et  primas  manus  apud  matrem  cum  fratribus 
aperitis,  petite  de  patre,  petite  de  domino  peculia  gratiae.' 

Li  seiner  Schrift  'ad  Martyras'  spricht  TertuUian  ebenfalls 
von  der  domina  mater  ecdesia,  die  die  Gläubigen  an  ihrer 
Brust  nährt. 

Hegesippus,  bei  Eusebius,  H.  E.  111  32,  127,  sagte,  daß 
die  Kirche  bis  zu  den  Zeiten  Trajans  rein  und  unberührt 
blieb,  in  dem  Sinne,  daß  bis  dahin  unter  ihren  Lehrern  keine 
Abkehr  von  dem  gesunden  Standpunkt  der  Lehre  des  Erlösers 
vorgekommen  sei.     IV  22  ^   182   sagt  derselbe  Autor,   er  habe 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  75 

verkündet,  daß  bis  dahin  die  Kirche  Jungfrau  genannt  worden 
sei,  weil  sie  noch  nicht  durch  leere  Gerüchte  heflecld  war. 
So  wurde  auch  Marcion  beschuldigt,  eine  Jungfrau  verführt  zu 
haben,  indem  mit  der  Jungfrau,  wie  Schmiedel  bemerkt  (im 
Art.  Evangelien  [Gospels]  der  Encycl.  Biblica,  col.  1778),  die 
Kirche  gemeint  ist. 

Der  Gleichsetzung  der  Kirche  mit  Eva,  die  ich  aus  dem 
zweiten  Clemens  herangezogen  habe,  begegnen  wir  auch  in 
dem  Brief  ad  Diognetum  XII  8,  der  Justin  dem  Märtyrer  zu- 
geschrieben wird  und  sicher  aus  seiner  Zeit  stammt.  Darin 
lesen  wir,  daß  die  Kirche  eine  Eva  ist,  die,  weit  entfernt, 
verdorben  zu  sein,  für  eine  Jungfrau  gehalten  und  ausge- 
geben wird.^ 

Diese  Parallele  zwischen  der  Kirche  und  Eva  ist  eine  der 
beliebtesten.  Wie  Christus  zweiter  Adam,  so  ist  die  Kirche 
eine  zweite  Eva,  'aus  der  Rippe  Christi  erschaffen,  wie  Eva 
aus  der  des  Adam,  jedoch  ohne  Fleck  noch  Makel'.  So  lesen 
wir  in  den  Acta  Petri  et  Pauli  (ed.  Lipsius  1891),  Kap.  29, 
S.  192;  und  derselbe  Gedanke  kehrt  in  armenischen  und 
anderen  Quellen  oft  wieder  und  wurde  gern  auf  die  Jungfrau 
Maria  übertragen.  Irenaeus  bezeugt,  daß  die  Valentinianer 
ihn  adoptierten.  *De  Logo  autem  et  zoe  emissum  secundum 
eonjugationem  Hominem  et  Ecclesiam,  et  esse  hanc  primo- 
genitam  Octonationem'.  'Aus  dem  Wort  und  dem  Leben 
wurden  durch  Syzygie  der  Mann  und  die  Kirche  projiziert 
(oder  emaniert)  und  auf  diese  Weise  die  Ogdoade  der  Urzeugung 
vollendet'  (Iren.  I  1,  1).  Dieses  war  nach  der  vielleicht 
richtigen  Aussage  der  Valentinianer  die  Vereinigung  innerhalb 
des  pleroma,  deren  großes  Mysterium  Paulus  (Eph.  V  32)  ver- 
kündete (Iren.  I  1,  17). 

Es  ist  also  augenscheinlich,  daß  alle  Schulen  christlicher 
Spekulation,    ob   gnostisch   oder    orthodox,    im    zweiten  Jahr- 


^  OvSh  E^cc  (pQ'SiQBXui,  akXa  jtccgd'ivog  Jtiötsvstai. 


76  F.  C.  Conybeare 

hundert  übereinstimmten  in  der  Auffassung  der  Kirche  als  der 
Hypostase  eines  himmlischen  Wesens,  gleichaltrig  mit  Christus 
und  auf  einer  Stufe  mit  der  Weisheit  und  dem  Wort  Gottes. 
In  den  Akten  des  Thomas  jedoch,  einem  Apokryphenwerk  des 
zweiten  Jahrhunderts,  das,  vielleicht  ursprünglich  syrisch  ge- 
schriehen,  aber  in  den  lateinischen,  griechischen,  armenischen, 
georgischen  und  aethiopischen  Versionen  nicht  minder  yer- 
breitet  war,  finden  wir  die  jungfräuliche  Kirche  öffentlich  in 
Hymnen  angerufen,  als  ^die  jungfräuliche  Tochter  des  Lichts', 
in  der  der  Glanz  der  Könige  gegründet  ruht.  ^Frohlocken 
eignet  ihr,  und  ihr  Anblick  erregt  Freude.  Sie  blendet  mit 
strahlender  Schönheit.  Ihre  Gewänder  sind  wie  Frühlings- 
blumen und  ein  Duft  geht  von  ihnen  aus  und  verbreitet  sich. 
Und  auf  ihrem  Haupt  ist  der  König  gepflanzt  und  nährt  die 
da  auf  ihm  ruhen  mit  eigenem  Ambrosia.  Auf  ihrem  Haupt 
liegt  Wahrheit  gebettet  und  Freude  offenbart  sie  mit  ihren 
Füßen.  Deren  Mund  tut  sich  auf  wie  es  ihr  geziemet.  Dreißig 
und  zwei  ist  die  Zahl  derer,  die  sie  in  Hymnen  preisen.  .  .  . 
Aber  es  sind  die  Diener  ihres  Bräutigams,  die  ihre  Leib- 
wache bilden,  sieben  an  der  Zahl,  die  sie  selbst  erwählt.  Ihre 
Brautjungfern  aber  sind  sieben  Jungfrauen,  die  vor  ihr  tanzen. 
Und  zwölf  an  der  Zahl  sind  diejenigen,  die  vor  ihr  dienen 
und  ihr  Untertan  sind,  Blick  und  Auge  auf  den  Bräutigam  ge- 
richtet, um  durch  seinen  Anblick  erleuchtet  zu  sein  und  in 
alle  Ewigkeit  bei  ihm  zu  sein  in  ewiger  Freude  und  Sitze  zu 
haben  für  jene  Hochzeit,  bei  der  die  Mächtigen  sitzen,  und 
königliche  Gewänder  anzuziehen  und  in  strahlende  Stolen  ge- 
kleidet zu  sein.  Und  beide  Teile  werden  sein  voll  Freude 
und  Belustigung  und  werden  lobpreisen  den  Vater  aller  Dinge, 
dessen  frohes  Licht  sie  empfangen  haben,  und  sind  erleuchtet 
worden  durch  den  Anblick  ihres  Herrn,  dessen  Ambrosia  sie 
empfangen  haben,  das  da  nimmer  versagt,  und  von  dessen 
Weine  sie  getrunken  haben,  der  keinen  Durst  in  ihnen  erregt, 
noch  Begierde   nach  dem  Fleisch.     Und   sie  haben  zusammen 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  77 

iobgesungen  und  gepriesen  mit  dem  lebendigen  Geiste,  dem 
Vater  der  Wahrheit  und  der  Mutter  der  Weisheit'  (Kap.  6,7). 
Und  noch  deutlicher  wird  die  Ecclesia  vom  Apostel  an- 
gerufen, wenn  er  das  heilige  Siegel  der  Ölung  auf  den  König 
Gundaphor  und  Gad  setzt,  im  26.  Kap. 

Komm,  heiliger  Name  Christi,  der  du  über  allen  Namen  bist. 
Komm,  Macht  des  Höchsten  und  größte  Gnade. 
Komm,  Spender  des  Segens,  des  höchsten. 
Komm,  Mutter,  gnadenvolle. 
Komm,  Ökonomie  des  Männlichen. 

Komm,  Frau,  die  du  die  verborgenen  Mysterien  aufdeckst. 
Komm,  Mutter  der  sieben  Wohnstätten,    daß  Ruhe  für  dich  sei 
in  der  achten  Stätte.  .  .  . 

Die  letzten  vier  Anrufungen  sind  an  die  Kirche  gerichtet, 
die  in  dem  Sinne  die  Ökonomie  des  Männlichen  darstellte,  daß 
sie  sein  Körper  war,  in  dem  es  auf  Erden  Fleisch  geworden 
war,  ein  Gedanke,  der  auch  bei  Methodius  allgemein  ist. 

Und  in  denselben  Akten  wird  nachher,  Kap.  46,  die 
Kirche  wieder  vom  Apostel  angerufen,  wenn  er  seinen  neuen 
Bekehrten  mit  Handauflegung  das  Siegel  gegeben  hat  und 
ihnen  das  Brot  des  Segens  oder  der  eulogia  mitzuteilen  beginnt. 

Und  er  hub  an  und  sprach: 

Komm,  größte  Gnade. 

Komm,  Gattin  (buchstäblich:  Gemeinschaft)  des  Männlichen. 
Komm,  Frau,  die  du  weißt  das  Mysterium  des  Erwählten. 
Komm,  Frau,  die  du  teilnimmst  an  allen  Kämpfen  des  edlen  Athleten. 
Komm,  Schweigen,  das  die  großen  Geheimnisse  des  Allerhöchsten 

kund  tut. 
Komm,    Frau,    die    du    die    verborgnen    Dinge   zeigest   und   die 

unsagbaren  Dinge  offenbarst,    heilige  Taube,    die    du    die 

Zwillingsnestvögel  hervorbringst. 
Komm,  geheime  Mutter. 
Komm,  Frau,  die  du  offenbar  bist  in  deinen  Taten   und  Freude 

und  Ruhe  bringest  allen,  die  an  dich  gebunden  sind. 
Komm   und   nimm   teil  mit   uns  an  dieser  Eucharistie,   die  wir 

in  deinem  Namen  vollziehen   und   in   der   Liebe   (agape), 

mit  der  wir  auf  deinen  Ruf  zusammengebracht  sind. 


78  F.  C.  Conybeare 

Die  Beschreibung  der  Kirche  als  ^heilige  Taube,  die  die 
Zwillingsnestvögel  zur  Welt  bringt',  erklärt  sich  durch  den 
Glauben,  der  sich  in  diesem  populärsten  aller  frühen  Apo- 
kryphen offenbart,  daß  Jesus  und  Thomas  Zwillinge  seien. 
Wie  sie  durch  leibliche  Geburt  Zwillinge  waren,  so  werden 
sie  an  dieser  Stelle  als  Zwillinge  durch  geistige  Geburt  ange- 
sehen, in  welcher  die  Mutter  Kirche  Söhne  Gottes  gebiert. 

In  der  klassischen  Inschrift  des  Abercius,  des  Bischofs  von 
Hierapolis,  c.  160  n.  Chr.,  ist  die  Kirche  als  ^heilige  Jungfrau' 
dargestellt,  die  den  großen  Fisch,  Christus,  aus  dem  Brunnen  zieht. 

Hiermit  sind  die  Beziehungen  auf  die  Jungfrau  Kirche 
im  zweiten  Jahrhundert  nicht  erschöpft;  und  es  ist  lehrreich  zu 
beobachten,  daß  sie  hauptsächlich  in  Syrien,  von  wo  der  erste 
Same  des  Christentums  nach  Armenien  getragen  wurde,  als 
eine  Göttin  oder  ein  göttlicher  Aon  angesehen  wurde,  den  man 
im  Gebet  anrufen  und  in  Hymnen  lobpreisen  sollte. 

An  nächster  Stelle  wollen  wir  das  Attribut  der  Kirche 
als  Mutter  Christi,  ja  als  TheotoJcos  betrachten. 

In  der  Offenbarung  Kap.  XII  1 — 6  ist  die  Kirche  die 
Mutter,  die  in  ihren  Armen  das  Kindlein  Jesus  hält  und  den 
Drachen  flieht,  und  es  ist  möglich,  daß  dieser  Gedanke  das 
schöne  frühe  Gemälde  in  der  römischen  Katakombe  der  heiligen 
Priscilla  beseelt.  Jedoch  gibt  es  dort  keinen  Drachen  und 
keine  Flucht.  Statt  dessen  sehen  wir  das  ruhevolle  Glück  der 
Mutter  in  der  Gegenwart  des  Propheten,  der  neben  ihr  steht, 
und  über  ihrem  Haupt  ist  ein  Stern  erkennbar.  Christliche 
Archäologen  haben  angenommen,  es  sei  Maria. 

Was  den  Verfasser  der  Offenbarung  dazu  brachte,  die 
Kirche  in  dieser  Rolle  darzustellen,  können  wir  nicht  sagen. 
Es  mag  der  ebionitische  Lehrsatz  über  Christi  geistige 
Wiedergeburt  in  der  Taufe,  mit-  der  Kirche  als  seiner  Mutter, 
gewesen  sein,  der  ihn  dazu  bewegte;  doch  haben  wir  keine 
Belege  für  diesen  Punkt,  die  uns  erlauben  würden,  es  bestimmt 
zu  behaupten. 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  79 

Auch  wissen  wir  nicht  genau,  wieviel  TertuUian  damit 
meinte,  wenn  er  in  seinem  Buch  De  Oratione,  Kap.  2  die 
Kirche  als  Mutter  darstellt.  An  dieser  Stelle  legt  Tertullian 
Nachdruck  auf  die  Vaterschaft  Gottes;  und  wenn  wir  an  ihn 
glauben,  gestattet  uns  Christus,  uns  Söhne  Gottes  zu  nennen 
(Joh.  I  12).  Darauf  bemerkt  er:  ^Auch  im  Vater  wird  der  Sohn 
angerufen;  denn  letzterer  sagte:  Ich  und  der  Vater  sind  eins. 
Auch  ist  die  Mutter  Kirche  nicht  ausgelassen;  da  du  wahrlich, 
wenn  du  einen  Vater  und  einen  Sohn  anerkennst,  damit  auch 
eine  Mutter  anerkennst,  die  im  Namen  Vater  wie  im  Namen 
Sohn  einbegriffen  ist.' 

Vor  allem  bringt  Tertullian  vor,  daß,  indem  wir  unseren 
Vater  im  Himmel  anrufen,  wir  auch  Sohn  und  Mutter  still- 
schweigend mit  einbeziehen,  und  die  Mutter  ist  die  Kirche. 
Analogie  und  strenge  Logik  könnten  zweifellos  von  uns  ver- 
langen, die  Kirche  als  Mutter  Christi,  wie  auch  anderer  Söhne 
Gottes,  anzusehen.  Doch  das  spricht  Tertullian  kaum  aus. 
Auch  hat  er  vielleicht  beabsichtigt  mehr  zu  sagen  als  Cyprian 
in  seiner  Abhandlung  De  Unitate  Ecclesiae,  S.  467,  ed.  Baluz: 
^Derjenige  kann  Gott  nicht  zum  Vater  haben,  der  nicht  die 
Kirche  zur  Mutter  hat.' 

Der  heilige  Zeno  geht  nicht  so  weit,  zu  behaupten,  daß 
die  Kirche  die  Mutter  Christi  sei,  wenn  er  ihr  auch  jene 
Eigenschaften  der  schmerzlosen  Geburt  und  der  Jungfräulich- 
keit, die  ewig  trotz  Mutterschaft  erhalten  bleibt,  zuschreibt, 
die  in  leiblichem  Sinne  klassische  Attribute  der  Mutter  Christi 
geworden  sind.  Ich  füge  Beispiele  aus  den  Werken  dieses 
Bischofs  von  Verona  (362 — 380)  hinzu. 

S.  Zeno,  Lib.  II  Tr.  XXX,  p.  240  (Migne  P.  Lat.  11, 
476),  schreibt  in  der  Invitatio  ad  Fontem:  lam  vos  sempiterni 
fontis  calor  salutaris  invitat.  lam  mater  nostra  adoptat,  ut 
pariat:  sed  non  ea  lege,  qua  vos  matres  vestrae  pepererunt, 
quae  et  ipsae  partus  dolore  gementes  et  vos  plorantes  sordidos, 
pannis  sordidis  alligatos,  huic  mundo  dediticios  intulerunt. 


gQ  F.  C.  Conybeare 

Auch  Tr.  XXXII:  Eia  quid  statis,  fratres?  Vestram 
,quos  per  fidem  genitalis  unda  concepit,  per  sacramenta 
iam  parturit,  ad  desiderata  (seil.  Eucharistiam)  quantocius 
festinate. 

Auch  Tr.  XXXIII:  Quid  statis  genere,  aetate,  sexu,  con- 
ditione  diversi,  mox  unum  futuri?  Fontanum  semper  virginis 
matris  dulcem  ad.  uterum  convolate  ...  0  admirabilis  et 
vere  divina  sacrosancta  dignatio!  in  qua  quae  parturit,  non 
gemit;  qui  renascitur,  plorare  non  novit.  Haec  renovatio, 
haec  resurrectio,  haec  vita  aeterna,  haec  est  mater  omnium, 
quae  nos  adunatos,  ex  omni  gente  et  natione  collectos,  unum 
postmodum  efficit  corpus. 

Wenn  Tertullian  die  Ecclesia  wirklich  als  die  geistige 
Mutter  Christi  ansah,  im  Gegensatz  zu  Maria,  seiner  leiblichen 
Mutter,  von  der  er  sagt,  sie  sei  ein  Typus  der  ungläubigen 
Synagoge  gewesen,  so  nimmt  er  eine  ganz  ähnliche  Stellung 
ein  wie  Clemens  von  Alexandrien  an  einer  Stelle  des  Päda- 
gogus  (Sylb.  ed.  p.  102).  Darin  behauptet  er,  daß  Christus, 
die  Leibesfrucht  der  Maria,  die  Brust  menschlicher  Mütter  ver- 
schmähte. Und  er  erklärt  eiligst,  wen  er  als  die  jungfräuliche 
Mutter  Christi  ansieht.  Es  ist  die  allumfassende  Kirche,  eine, 
wie  der  Yater  aller  einer  ist,  wie  das  Wort  aller  eines  ist, 
wie  der  heilige  Geist  überall  ein  und  derselbe  ist.  ^Sie  die 
Kirche  zu  nennen  ist  meine  Freude.  Sie  ist  die  einzige 
Mutter,  die  niemals  Milch  hatte,  denn  sie  allein  war  kein  Weib. 
Dennoch  ist  sie  zugleich  Jungfrau  und  Mutter.  Makellos  wie 
eine  Jungfrau  und  dennoch  liebend  wie  eine  Mutter.'  Im 
allgemeinen  fanden  es  die  Väter  des  dritten  Jahrhunderts  und 
später  schwierig,  das  von  der  Mutter  Kirche  in  der  Offen- 
barung gegebene  Bild  in  orthodoxer  Weise  zu  erklären;  und 
Hippolytus  gibt  eine  Erklärung  der  Vision  in  der  Offenbarung 
Xn  1 — 17,  welche,  wie  wir  sehen  werden,  auch  Methodius  an- 
nimmt. Sie  steht  im  61.  Kapitel  seines  Werkes  ^Über  den 
Antichrist'  (S.  41  der  Ausgabe  von  H.  Achelis). 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  gl 

^Mit  "der  sonnenbekleideten  Frau"  bezeiclinet  er  klärlich 
die  mit  dem  Logos  des  Vaters,  der  da  heller  scheint  als  die 
Sonne,  bekleidete  Ecclesia.  Wenn  er  aber  von  dem  "Mond 
unter  ihren  Füßen"  spricht,  meint  er,  daß  sie  mit  himmlischem 
Glänze  geschmückt  war,  gleichwie  der  Mond.  Und  die  Aus- 
sage, daß  "über  ihrem  Haupte  eine  Krone  von  zwölf  Sternen 
war",  ist  ein  klarer  Hinweis  auf  die  zwölf  Apostel,  durch  die 
die  Kirche  auf  einem  Untergrund  gegründet  worden  ist.  Und 
die  Worte  "und  sie  war  schwanger  und  schrie  und  war  in 
Kindesnöten  und  hatte  große  Qual  zur  Geburt"  bedeuten, 
daß  die  Kirche  niemals  aufhört  aus  ihrem  Herzen  das  Wort 
zu  gebären,  obgleich  sie  in  der  Welt  von  den  Ungläubigen 
verfolgt  wird. 

'"Und  sie  gebar",  sagt  er,  "einen  Sohn,  ein  Knäblein, 
der  die  Völker  sollte  weiden",  nämlich  den  männlichen  und 
vollkommenen  Christus,  Kind  Gottes,  Gottes  und  des  Menschen, 
den  die  Propheten  verkündeten,  den  die  Ecclesia  immerdar 
trägt  und  allen  Völkern  lehrt.' 

'Aber  die  Worte  "Ihr  Kind  ward  entrückt  zu  Gott  und 
zu  seinem  Stuhl"  stehen  da,  weil  der  Sohn,  der  ewiglich  von 
ihr  hervorgebracht  wird,  ein  himmlischer  König  ist,  kein 
Bürger  der  Erde.' 

Der  Fehler  in  der  Exegese  des  Hippolytus  liegt  darin, 
daß  er  die  Worte  der  Offenbarung  'ein  Knäblein,  der  die 
Völker  sollte  weiden'  in  einem  unnatürlichen  Sinn  auffaßt. 
Sie  können  sich  allein  auf  den  Messias  beziehen.  Hippolytus 
jedoch  gibt  vor,  daß  sie  die  Gefolgschaft  Christi  im  einzelnen 
Gläubigen  bedeuten.  Dieselbe  schwankende  Erklärung  wird 
in  größerer  Ausführlichkeit  in  dem  Convivium,  Oratio  VHI 
Kap.  8  des  Methodius  gegeben:  'Ich  halte  dafür,  daß  es  hier 
die  Ecclesia  ist,  von  der  gesagt  wird,  sie  gebäre  das  Knäblein  .  .  ., 
so  daß  in  jedem  von  uns  Christus  in  einem  mystischen  Sinne 
{vorix&g)  hervorgebracht  wird.'  Und  das  ist  der  Grund, 
warum  die  Kirche  schwanger  ist  und  in  Kindesnöten,  bis   der 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  g 


82  F-  C.  Conybeare 

Christus,  der  in  uns  ist,  Form  gewinnt  und  hervorgebracht 
wird,  damit  jeder  Heilige  durch  Teilhabung  an  Christus  als 
Christus  hervorgebracht  werden  möge,  welches  der  Sinn  einer 
Stelle  der  Schrift  ist:  ^Tastet  meine  Gesalbten  (christos)  nicht 
an  und  tut  meinen  Propheten  kein  Leid'  (Ps.  CV,  15). 

Dieser  Verfasser  legt  auch  in  den  Mund  der  Thekla,  einer 
seiner  personae  dramatis,  einen  beredten  Hymnus,  in  dem 
die  heilige  Hochzeit  Christi  mit  seiner  Jungfrau  gefeiert  wird, 
und  der  wahrscheinlich  im  dritten  Jahrhundert  liturgisch  ver- 
wandt wurde.  Es  wird  angenommen,  daß  ihn  die  zehn  Jung- 
frauen singen,  die  in  dem  Gleichnis  ausgehen,  die  Braut  und 
den  Bräutigam  zu  empfangen,  und  dies  ist  der  Refrain:  'Ich 
bewahre  mich  keusch  und  komme,  Lampen  haltend,  die  weit- 
hin leuchten,  um  dir  entgegenzugehen,  o  Bräutigam.' 

Eine  an  die  Kirche  gerichtete  Stanze  lautet  wie  folgt: 
'Mit  Hymnen,  gesegnete  Braut  Gottes,  preisen  nun  wir,  deine 
Dienerinnen,  dich,  du  unberührte  Jungfrau  Ecclesia,  schneeigen 
Leibes,  mit  dunkelblauen  Zöpfen,  keusch,  untadelig,  liebenswert.' 

In  den  Stellen  aus  Methodius  haben  wir  also  nicht  nur 
die  in  Hymnen  angeredete  Kirche,  sondern  wir  erkennen  auch 
den  größten  Teil  der  in  den  armenischen  Hymnen  auf  sie  an- 
gewandten Bildersprache  aus  dem  Hohen  Lied,  aus  dem 
Testament  und  aus  anderen  Quellen  wieder.  'Sie  ist',  so  spricht 
er  in  Or.  VIII,  Kap.  5,  'wenn  man  sie  genau  betrachtet,  unsere 
Mutter,  da  sie  eine  Macht  (dynamis)  ist,  anders  geartet  als 
ihre  Kinder.'  Mit  anderen  Worten:  sie  ist  eine  transzendentale 
Macht  oder  ein  Äon.  'Die  Propheten',  so  fährt  er  fort,  'haben 
sie  manchmal  Jerusalem  genannt,  manchmal  die  Braut,  manch- 
mal Berg  Zion,  manchmal  auch  Tempel  und  Heiligtum  Gottes.' 

An  anderer  Stelle  schreibt  er,  daß  'die  Juden  unsere 
Wahrheiten  vorhergesagt  haben,  gerade  wie  wir  die  Wahrheiten 
des  Himmels  im  voraus  verkünden.  Denn  das  Tabernakel  war 
ein  Symbol  der  Kirche,  gerade  wie  die  Kirche  ein  Symbol  des 
Himmels  ist'.     Und  in  dem  Anhang  erklärt  er,  wie  die  ver- 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  83 

schiedenen  materiellen  Bestandteile  des  jüdischen  Tabernakels 
I  die  Orden  der  Witwen  und  Jungfrauen  in  der  Kirche  symboli- 
I  sieren  (Or.  V  Kap.  8).  An  einer  weiteren  Stelle  Or.  VII  Kap.  I 
erschöpft  er  die  Bildersprache  des  Hohen  Liedes  im  Dienst  der 
Kirche.  Sie  ist  'unberührbar  und  rein  von  Berührung,  gleich- 
wie ein  versiegeltes  Paradies,  in  dem  alle  Wohlgerüche  des 
Himmels  wachsen,  auf  daß  Christus  allein  kommen  möge  und 
sie  genießen,  denn  sie  sind  aus  körperlosem  Samen  erstanden'. 

An  einer  anderen  Stelle  (Or.  VIH  Kap.  8),  die  anmutet,  als 
ob  sie  ein  Vorbild  dessen  sein  könnte,  was  Gregor  von  Arsharuni 
geschrieben  hat  (siehe  oben  Bd.  VHI  S.  380f.),  interpretiert 
Methodius  die  Braut  des  Hohen  Liedes  als  ^den  unbefleckten 
Leib'  des  Herrn,  ^um  dessentwillen  er  den  Vater  verließ  und 
hier  herabkam  und  landete,  darin  Mensch  geworden.  Dieser 
Leib,  in  dem  Liede  metaphorisch  die  Taube  genannt,  wurde 
unter  allem  Fleisch  als  allein  von  Flecken  und  Verwesung  frei 
erfunden  und  über  alle  Menschen  erhaben  an  peinlicher  Ge- 
rechtigkeit und  an  Schönheit,  so  daß  keiner  unter  denen,  die 
Gott  ganz  befriedigt  hatten,  was  moralische  Vorzüglichkeit  an- 
belangt, in  seine  Nähe  oder  auf  eine  Stufe  mit  ihm  gesetzt 
werden  konnte.  Aus  diesem  Grund  wurde  er  für  wert  gehalten, 
Teilhaber  des  Reiches  des  monogenes  zu  werden,  durch  An- 
passung und  Vereinigung  mit  ihm'. 

Folglich  erklärt  Methodius  die  Königin,  welche  allein  unter 
vielen,  nach  Ps.  XLIV  10,  15,  16,  zur  Rechten  Gottes  steht, 
in  einen  goldenen  Zierat  der  Vortrefflichkeit  gekleidet,  als 
*jenes  unbefleckte  und  gebenedeite  Fleisch,  welches  das  Wort 
selbst  hinauftrug  in  den  Himmel,  mit  goldenen  Gewändern  ge- 
schmückt'.    Abercius  bezieht  sich  auf  dieselbe  Königin. 

In  Arsharimi  ist  es  die  Kirche,  zu  der  Christus  von  oben 
herabsteigt,  die  er  zu  seiner  Braut  erwählt  und  mit  sich  hin- 
aufnimmt  in  den  Himmel.  An  der  obigen  Stelle  des  Methodius 
ist  es  das  Fleisch.  Doch  bringt  die  übliche  Gleichung  der 
Kirche  mit  dem  Leib  Christi  die  beiden  Auffassungen  in  Ein- 


84  F-  C.  Conybeare 


! 


klang,  und  es  ist  bemerkenswert,  daß  in  dem  Papyrusfragment 
des  Pastor  Hermae,  das  von  Grenfell  und  Hunt  kürzlich  ent- 
deckt und  in  den  Oxyrhynclius  Papyri  I  S.  8  publiziert  worden 
ist,  'der  Körper  des  Fleisches  Jesu  Christi,  der  durch  Maria 
mit  Menschlichkeit  vermischt  wurde',  identifiziert  wird  mit  dem 
'Prophetischen  Orden',  oder  vielleicht  —  der  Text  ist  zwei- 
deutig —  mit  'der  Essenz  oder  dem  inneren  Körper'  {pandtsiov) 
jenes  Ordens.  Hier  wird  also  der  transzendentale  oder  himm- 
lische, leibliche  Körper  Christi  mit  dem  Prophetenorden  identifi- 
ziert, der,  als  der  Pastor  geschrieben  wurde,  den  vitalen  Kern- 
punkt der  Kirche  bildete.  Methodius  ahmt  an  der  zitierten 
Stelle  in  Ton  und  Phraseologie  den  Pastor  nach,  von  dem  er 
einen  unverdorbenen  Text  besessen  haben  mag. 

Der  Gedanke,  daß  die  Kirche,  als  erwählte  Braut  Christi, 
mit  ihm  wieder  zum  Himmel  emporstieg,  begegnet  in  anderen 
Autoren,  z.  B.  in  der  Expositio  in  Cantica  Canticorum,  Migne 
P.  L.  Tom.  70,  col.  1100,  dem  Cassiodor  zugeschrieben.  Denn 
als  Kommentar  zu  Kap.  8,  2:  apprehendam  te  et  ducam  te  in 
domum  matris  meae,  ibi  me  docebis,  erklärt  der  Autor,  daß 
die  'mater  ecclesiae'  hier  jenes  himmlische  Jerusalem  sei,  von 
dem  Paulus  Gal.  IV  2Q  spricht,  und  er  erläutert  den  Text  des 
Liedes  also:  id  est  prosequar  te  revertentem  in  coelum,  post 
actum  incamationis  tuae,  et  passionis  mysterium  .  .  .  cum 
(inquit)  coelo  receptus  fueris  et  me  quoque  in  coelum  tecum 
assumpseris,  ibi  me  docebis  et  in  omnem  veritatem  induces. 

Es  muß  beachtet  werden,  daß  derselbe  Autor,  obgleich 
sein  Kommentar  durch  den  Geist  des  Mariendienstes  stark  ge- 
färbt ist,  den  'geschlossenen  Garten'  und  den  'versiegelten 
Brunnen'  des  zwölften  Kapitels  auf  die  Kirche,  nicht  auf  die 
Mutter  Christi,  bezieht.  In  armenischen  und  anderen  an  die 
Mutter  Christi  gerichteten  Hymnen  kommen  die  Ausdrücke 
immer  wieder  vor,  doch  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen, 
daß  die  früheste  Exegese  des  Gesanges  sie  auf  die  Kirche 
bezog. 


Die  jungfräuliche  Kirche  und  die  jungfräuliche  Mutter  85 

Wir  haben  oben  die  Frage  aufgeworfen,  zu  welcher  Zeit 
wohl  die  Bildersprache  der  jüdischen  Lade  und  des  Taber- 
nakels, die  in  den  armenischen  Hymnen  auf  die  Kirche  an- 
gewandt wird,  auf  die  Jungfrau  Maria  übertragen  wurde.  Unter 
den  Methodius  zugeschriebenen  Werken  (Migne  P.  gr.  t.  18,  col. 
347)  befindet  sich  eine  Rede  für  das  Fest  der  Hypapante,  die 
sich  in  ihren  ersten  Zeilen  als  ein  Werk  von  dem  Autor  des 
Convivium  ausgibt.  Seine  Authentizität  wird  von  einigen 
modernen  Kritikern  geleugnet,  die  jedoch  nicht  genügend  er- 
klärt haben,  warum  denn  der  Verfasser  einer  im  Ton  so  naiven 
und  in  dogmatischer  Tendenz  so  neutralen  Homilie  in  den 
Text,  wenn  auch  nicht  den  Namen,  so  doch  eine  indirekte 
Anspielung  auf  Methodius^  sollte  hineingearbeitet  haben. 

Wir  finden  darin  bereits  viele  Attribute  der  Kirche,  in- 
sonderheit das  des  Thrones  schon  auf  die  Jungfrau  Maria 
übertragen. 

So  in  col.  352,  c.  2:  'Siehe  da,  einem  Throne  gleich,  hoch 
und  zu  Ehren  dessen,  der  ihn  erschaffen  hat,  aufgerichtet,  ist 
die  Jungfrau  Mutter  sichtbarlich  bereitet  für  den  König,  den 
Herrn  Zebaoth  .  .  .  auf  diesem  jungfräulichen  Thron,  sage  ich, 
mußt  du  ihn  anrufen,  der  diese  neue  Reise  für  dich  bestimmt 
hat,  wovon  in  vielen  Hymnen  gesungen  wird.' 

Und  weiter  unten  c.  3:  'Tanze  du  vor  dem  Antlitz  des 
jungfräulichen  Thrones,  wie  David  dazumal  vor  der  Bundeslade.' 

In  c.  4,  col.  356  dieses  Traktats  wird  die  Jungfrau  Maria 
genannt  die  'Lade  Gottes,  die  auf  den  Hügeln  Zions  ruhte  und 
in  ihren  makellosen  Schoß,  wie  auf  einen  Thron,  hoch  und 
über  menschliche  Natur  erhaben,    den  König   aller   aufnahm'. 

Li  c.  5,  col.  357  redet  der  Verfasser  Maria  auf  folgende 
Weise  an :  '  0  Mutter  Jungfrau  und  geistiger  Thron,  geehrt  und 
Gottes  würdig.'^     In  c.  7,  col.  364  wird  sie  verkündet  als  'der 

^  ^dXccL  iycav&g,  mg  olovre,  Slcc  ßgaxsojv  tä  Ttsgl  TtagO'svias  iv  tolg 
mQi  ayvsiccg  ßvfiTtoöioig  'aarsetQajuotoav  rjii&Vy  gti^bqov  ktX. 

"^  MfjrsQ  ^agd'Bvs  xccl  vorith  d'Qovs,   SsSo^uö^levs    ical   &sov   ind^LS. 


86       F.  C.  Conybeare  Die  jnngfrätiliche  Kirclie  u.  die  jungfräuliche  Mutter 

unbefleckte  und  ganz  makellose  Altar,  durch  den  die  leben- 
spendende und  unaussprechlich  glühende  Kohle  Fleisch  wurde' 
aus  Jesaias  VI  6. 

In  c.  9,  col.  369  ist  sie  ^der  unberührte  Busch,  der  un- 
verbrannt Gott  trug,  als  es  ihm  gefiel,  von  dem  Propheten 
gesehen  zu  werden'.  Und  weiter  unten  ist  sie  Mie  Lade,  die  Be- 
hälter war  für  das  Gesetz,  und  beschattet  von  den  Cherubim 
im  Verein'.  Und  als  letztes  c.  14,  col.  381,  ist  sie  ^der  lebende 
Altar  des  Brotes  des  Lebens,  Schatzhaus  der  Liebe  Gottes, 
Urquell  der  Freundlichkeit  des  Sohnes  und  beschatteter  Berg 
des  heiligen  Geistes'  (Heb.  III  3). 

Diese  Rede  also,  die,  selbst  wenn  sie  nicht  das  Werk  des 
Methodius  ist,  kaum  später  gesetzt  werden  kann  als  in  das 
vierte  Jahrhundert,  vertritt  ein  späteres  Stadium  in  der  Ent- 
wicklung des  Kultus  der  leiblichen  Mutter  Jesu  als  die 
armenischen  Hymnen  an  die  Kirche.  Es  ermutigt  uns  auch 
in  der  Annahme,  daß  es  zu  einer  bestimmten  Zeit  im  Griechi- 
schen und  Lateinischen  nicht  wenige  Hymnen  gegeben  haben 
wird,  die  die  Kirche  anriefen  und  priesen,  und  die  nachher  in 
Hymnen  an  die  Jungfrau  Maria  verwandelt  wurden.  Von 
dieser  verlorenen  Hymnologie  haben  wir  Anklänge,  vielleicht 
sogar  Fassungen,  in  den  armenischen  Gesängen,  die  ich 
mitgeteilt  habe.  Außerdem  glaube  ich,  daß  viele  der  Hymnen 
des  Ephrem  Syrus,  besonders  die,  welche  die  Jungfrau  Maria 
nicht  nur  als  Mutter,  sondern  auch  als  Braut  Christi  anrufen, 
gleichen  Ursprungs  sind.  Wenn  wir  diese  Hymnen  unter- 
suchen, finden  wir  einen  Ausdruck  nach  dem  anderen,  der 
wie  das  Wort  Braut  sich  eher  auf  die  jungfräuliche  Kirche 
beziehen  läßt  als  auf  die  Jungfrau  Maria;  und  dieselbe  Be- 
merkung hat  Gültigkeit  für  die  äthiopischen  Hymnen  auf  Maria. 


MHTHP 

Bruchstücke  zur  griechisclieii  Religionsgescliiclite 
Yon  Hans  von  Prott 

Die  nachfolgenden  Bruchstücke  zur  griechischen  Religions- 
geschichte hat  Hans  von  Prott  kurz  vor  seinem  allzufrühen  Tode 
niedergeschrieben,  mehr  um  die  Fülle  der  auf  ihn  einstürmenden, 
ihn  vernichtenden  Ideen  zu  bändigen,  als  um  sie  der  Nachwelt  zu 
überliefern.  Die  tragische  Verknüpfung  dieser  Einsichten  und 
Ahnungen  mit  dem  erschütternden  Ende  des  Forschers  sucht  ein 
den  Athenischen  Mitteilungen  1903  vorangestellter  Nachruf  ver- 
ständlich zu  machen.  Es  schien  uns  das  Richtige,  Protts  Gedanken 
über  den  Kult  der  MrjtrjQ  selbst  in  dieser  keimhaften  Form,  die 
er  niemals  der  Öffentlichkeit  dargeboten  hätte,  bekannt  zu  geben, 
in  der  sicheren  Hoffnung,  daß  sich  für  den  einsichtigen  Leser  von 
selbst  das  Unreife  und  Einseitige  von  dem  Tiefen  und  Förder- 
lichen scheiden  werde. 

Athen,  Mai  1905.  H.  Schrader. 

Das  organische  Wachstum  der  griechischen  Religion. 
Meter- Phallos- Kult  entsprechend  dem  Mutterrecht  und  der 
Gruppenehe.  Dann  die  große  Reinigung  dieses  Zynismus 
durch  zwei  Dinge:  durchgängige  Verbindung  der  Vorstellung 
von  der  Muttergöttin  mit  Agrarischem  und  svcpri^Ca.  Die 
Akropolis-Athena  ist  Meter,  ihr  Opfertier  eine  trächtige  Sau. 
Pandrosos,  Aglauros,  Herse  sind  =  Athena.  Alle  drei  sind 
zuerst  nicht  agrarisch,  sondern  sexuell.  Das  Fest  sind 
aQQTjtotpÖQLcc,  die  auch  d'sd^oq)6QLa  genannt  werden.  Das  ver- 
steht man  nun.  Die  ccQQrjtcc  Isqcc,  die  immer  im  Demeterkult 
vorkommen,    sind    durch    die   ccv6vv^og   ^SQicog   des   Herondas 


88  Hans  von  Prott 

begreiflicli.  Es  ist  das  Tragen  des  Phallos.  Die  drei  Mäd- 
chen geraten  in  (sexuellen)  Wahnsinn  über  die  Ciste  mit  den 
äQQfjta  IsQcc:  Erechtheus-Phallos.  Dann  kommt  das  Agrarische 
hinein  und  nun  werden  Pandrosos  usw.  die  schönen,  reinen 
Tauschwestern. 

Die  Labdakiden.  Laios  (wie  Protolaos)  Phallos:  Volks- 
mann und  Steinmann,  der  aus  Stein  entstandene  Phallos,  wie 
Deukalion  und  Pyrrha  die  Steine  hinter  sich  warfen  und  so 
die  Menschen  entstehen  lassen,  gleich  den  Daktylen.  Odipus 
„  Schwellfuß  ^'  ist  ein  Daktylos.  Das  bedeutet  ^tovg,  denn  im 
Kultliede  der  elischen  Frauen  a^LS  tavQS^  reo  ßoso)  Jtodl  d-vov 
ist  ßösLog  Ttovg  der  Stierphallos.  d-ueiv  also  ist  ursprünglich 
immer  sexuelles  Rasen:  Eileithyia,  Kallithyia,  Dann  versteht 
ein  Dichter  den  Ausdruck  absichtlich  falsch  und  aus  dem 
„Schwellfuß"  wird  der  Mann,  dem  die  Füße  durchstochen  sind. 
Die  alte  Bedeutung  zeigt  sich  deutlich  in  dem  Incest  dieser 
und  anderer  Sagen,  der  sonst  gar  nicht  erklärbar  wäre.  So 
wird  aus  Hephaistos  KvlloTtodCav  durch  absichtliches  Miß- 
verständnis der  „Klumpfüßige".  Das  ist  die  Bedeutung  der 
si)(prjiiCa  in  griechischer  Religion.  So  ist  die  Heldensage  zu 
dem  großen  Purgatorium  geworden,  durch  das  sich  die  Griechen 
von  den  qualvollen  Vorstellungen  der  Meter- Religion  und  der 
Gruppenehe  erlöst  haben.  i 

Dann  der  Thronkult  des  Licht-  und  Himmelsgottes  Zevg  ■ 
"HXLog.  Es  war  der  ausgebildete  Geschlechterstaat  mit  Vater- 
recht, der  diese  Vorstellung  schuf.  Und  die  griechische  Re- 
ligion ist  nun  wie  die  deutsche  (Lamprecht)  die  Überwindung 
der  Religion  der  Meter  durch  die  des  Pater.  Niemand  hat 
das  mehr  begriffen  als  Aischylos.  Die  Danaiden  =  den 
Thespiaden,  50  Frauen.  Sie  sträuben  sich  gegen  die  Verwandten- 
ehe, die  in  der  Zeit  des  Mutterrechtes  nichts  Anstößiges  hat. 
50  Männer  und  50  Frauen  eine  Hundertschaft  in  Gruppenehe. 
Die  titanisch -daktylisch  wilde  Brautnacht.  Endlich  das  neue 
Gesetz:    iga  ^hv   äyvbg  ovqavhg  tQ&öai  ^d'öva^  SQCog  de  yalav 


MHTHP 


laußdvsi  ydiiov  tv%Blv  usw.  Das  ist  Zeus  TaXsxCtag  auf  dem 
„Sonnenberge"  und  Auxesia-Damia- Demeter  am  Fuße  des 
Berges  in  Bryseai,  und  so  in  allen  griechisclien  Landschaften. 


Die  Götter  haben  die  große  ethische  Bewegung  selbst  mit 
durchgemacht.  Demeter  ©eö^ocpÖQog  kann  nicht  die  Göttin 
sein,  die  die  Satzungen  der  Ehe  bringt,  sondern  die  den 
Phallus  trägt.  Das  beweisen  d^söiiofpdQia  =  äQQrjtocpÖQia 
(ApoUon  ©sQ^iog  =  ©iöiiiog).  Später  hat  man  umgedeutet 
und  so  wurde  D.  Ehegöttin.  (a^Qt^tov  iQovQyCai  „wovon  man 
nicht  spricht".     Herondas  V  45  xiiv  av^vv^iov  tcsqkov.) 


©'ÖG)  zuerst  sexuelles  Rasen,  wie  bei  den  Naturvölkern 
richtige  Thesmophorien  gefeiert  werden  zur  Einweihung  eines 
Mädchens.  KalUd^via  ursprünglich  „die  am  besten  den  Bauch- 
tanz tanzt",  so  wie  er  bei  den  Negervölkern  geübt  wird. 
Thyiaden.    Bakchischer  Schwärm. 


Die  burleske  Auffassung  der  Heldensage  auf  den  boiotischen 
Gefäßen  hat  vielleicht  tiefere  Gründe. 

ccQQYixofpÖQia,  'H^sQai  QYixaC  Hesych.  Lat.  dies  nefastus, 
fastus.  — — 

Euphemie.  Absichtliche  Änderung  der  Namen.  Schön 
von  Kaibel  für  die  Orphiker  nachgewiesen.  Aber  dies  dehnt 
sich  viel  weiter  aus,  ist  ein  Grundelement  griechischer  Mytho- 
logie. Als  einem  der  Kerkopen  die  Ehre  widerfuhr  erster 
König  von  Athen  zu  werden,  nannte  man  ihn  nicht  mehr 
KsqzcotJ;,  sondern  Ksxqoijj.     Aber  der  Schlangenschwanz  blieb. 


Die  Daktylen  sind  autochthon  geboren.  Also  sind  alle 
Autochthonen  ursprünglich  Daktylen.  Das  besagt  der  Begriff 
avxöj(^d'G)v.     Kekrops,  Erechtheus. 


90  Hans  von  Prott 

Zur  Veredelung  der  alten  Begriffe  trug  außer  der  Ver- 
bindung mit  Agrariscliem  viel  bei  die  Beziehung  auf  den 
Mond,  das  schöne  Gestirn.  Dadurch  wurde  aus  der  Meter- 
Eileithyia  eine  KaXXövTj,  KaXXiötd)  usw.  und  der  Begriff  des 
Schönen  war  plötzlich  eingeführt  in  die  Mythologie.  Man  er- 
hielt so  zugleich  den  Gegensatz  von  Mond  und  Sonne. 

Wie  die  Meter  als  Mond  zur  KaXXCdtr]  wurde,  so  um- 
gekehrt der  Daktyl  zum  Urbild  des  Häßlichen,  Mißgestalten 
durch  ümdeutungen  wie  die  vom  durchstochenen  Fuß.  KvX- 
XoTCodlcov,  Wieland  der  Schmied,  Ödipus,  Gänsefüße  der 
Zwerge  usw. 

Im  Griechischen  tritt  mehr  das  Sinnliche  hervor,  im 
Deutschen  mehr  das  Gutmütige,  Harmlose:  Zwerge. 


Der  größte  Fortschritt  der  Menschheit  ist  der  von  Gruppen- 
ehe zu  Einehe.  Polygamie  und  Polyandrie  sind  Ausnahme- 
zustände. Der  Geschlechterstaat  verlangt,  daß  die  Frau  aus 
einer  anderen  gens  ist.  Denn  man  hatte  die  schlimme  Wir- 
kung der  Inzucht  der  Gruppenehe  bemerkt.  Dieser  größte 
Fortschritt  muß  auch  die  tiefsten  Spuren  im  Glauben  der 
Völker  hinterlassen  haben. 

Aischylos'  Orestie.  Die  Sage  hat  den  Zwiespalt  nicht 
lösen  können  dieses  Triumphes  des  Vaterrechtes,  weil  in- 
zwischen auf  Grund  des  Vaterrechtes  eine  höhere  Moral  ent- 
standen war.  Die  Sage  hat  den  Fortschritt  festgehalten,  daß 
der  Vater  mehr  gilt.  Da  Aischylos  der  Sage  folgte,  mußte 
der  Ausgang  des  Stückes  unerträglich  werden.  Die  Lösung 
konnte  nur  gefunden  werden  im  tragischen  Ausgang  —  Hamlet. 
Ahnlich  Kriemhild,  die  den  Mann  rächt  an  ihren  nächsten 
Blutsverwandten.  Ähnlich  Labdakiden,  Lykurgos  usw.  Der 
Widerstreit  zweier  Religions-  und  Sozialepochen. 


MHTHP  91 

Die  Alten  sagen,  jedem  Gott  würde  immer  das  seinem 
Geschlecht  entsprechende  Tier  geopfert.  Das  ist  richtig,  man 
muß  nur  nicht  schematisieren.  Bei  Homer  erhält  Athene  eine 
unfruchtbare  Kuh;  auf  dem  Akropolisrelief  eine  trächtige 
Sau  —  dort  ist  sie  TCaQd-evog,  hier  fit^triQ.  Nun  hatte  ein 
Komiker  gesagt:  svd'v  TCÖXscog  sl^r  d"vöaL  yccQ  ^s  del  XQtbv 
XXÖTU  ^TJ^rjtQi  (bei  Geburt  eines  Sohnes?).  Das  war  so  auf- 
fallend, daß  Philochoros  anmerkte,  der  Demeter  Chloe  würde 
XQtbg  ^cil  &7]X6La  geopfert.  Für  Demeter  Achaia  bezeugt  das- 
selbe der  Kalender  der  Tetrapolis.  In  Kos  Zfd^atQV  8tg  tsXsiog 
xal  teXea  Ttvdoda.  Also  war  Demeter  zugleich  Mann  und 
Weib.  Daraus  darf  man  dann  weiter  schließen,  daß  immer, 
wo  ein  Opfertier  ivÖQXVS  verlangt  wird,  der  Gott  daktylisch 
ist.  Poseidon  0vMog  (=  (pvtdX^Log?)  in  Mykonos.  Dionysos. 
Aber  wie  erklärt  es  sich,  daß  Köre,  Despoina  usw.  immer 
männliche  Tiere  bekommen?  Auch  das  stammt  aus  der  Zeit 
des  Mutterrechtes,  in  der  das  Weib  nur  als  Mutter  etwas  gilt. 
Damals  muß  man  das  Mädchen  als  etwas  Männliches  angesehen 
haben  —  TCaQd-svog  ößQi^OTcdtQrj.  Daher  auch  Athena  vom 
Manne  geboren:  das'  ist  symbolisch. 


Die  erste  Dienerin  oder  Priesterin  der  Göttin  ist  immer 
die  Göttin  selbst.  Woher?  Weil  die  Meter  immer  wieder 
sich  selbst  erzeugt:   Leto- Artemis -Eileithyia. 


Charakteristisch  für  die  Meter  ist,  daß  ihre  Namen  so 
wechseln.  Apollon— Apellon,  Artemis— Artamis  sind  gar  keine 
Schwankungen.  Aber  'EXsvd'6  —  'EXsvd'Cco  —  EXsvöCa  —EiXeC%'via 
—  'IXCd'ia  usw. !  Es  war  eben  überall  dieselbe  Göttin  —  das 
fühlte  man,  aber  die  Namen  zum  Teil  verschieden,  so  daß 
man  sie  gewaltsam  anähneln  mußte.  Besonders  deutlich: 
Aij^a  —  Av^r^öCcc  -  ^AlB6Ca  —  lä^r^öCa  —  Av^i]6Ca.  Zwei  ganz  ver- 
schiedene   Stämme,    zu    denen   dann    IJbergangsbildungen   ge- 


92  Hans  von  Prott 

schaffen  wurden,  wie  das  gar  nicht  griechische  Av^r^öCa. 
Sind  die  d'sol  ^At,66ioi  die  beiden  Daktylen  wie  in  der  sparta- 
nischen Gruppe?  

Die  Meter  zuerst  allein  ävÖQÖyvvov,  Dann  wird  das  be- 
zeichnet durch  zwei  tcccqsöqol,  die  untrennbar  mit  ihr  verbunden 
wie  in  der  spartanischen  Gruppe.  Dann  luxtaposition:  Helena 
und  die  Dioskuren.  

Die  Meter  hat  nie  einen  Gatten  neben  sich,  sondern  nur 
einen  Sohn  oder  sonstigen  TCaQSÖQog.  Denn  der  Begriff  des 
Gatten,  wie  ihn  das  Vaterrecht  kennt,  existiert  nicht  in  der 
Zeit  der  Gruppenehe.  Dieser  Gatte  kommt  immer  erst  später 
dazu,  daher  auch  nie  im  Kult,  sondern  nur  in  der  Sage,  und 
es  ist  überall  der  Himmelsgott,  also  Zeus.  Die  Göttin  (De- 
meter, Hera,  Leto,  Leda,  Danae,  Kallisto  usw.)  ist  immer 
mehr  oder  weniger  die  Erde,  also  zugleich  Personifikation  des 
Landes.  Dadurch  wird  dann  das  Historische  in  die  Mythologie 
eingeführt.  

Es  war  unrichtig,  wenn  Wissowa  die  di  nixi  immer  ge- 
leugnet hat.  Diese  Erscheinung  gehört  in  den  großen  Zu- 
sammenhang der  Vertauschung  der  Rollen  der  Geschlechter  bei 
manchen  Zeremonien,  was  immer  auf  Meter- Phalloskult  hin- 
deutet: so  in  Kos  (Herakles  des  Diomedes?).  Herakles  und 
Omphale.  Verkleidung  in  die  Tracht  des  anderen  Geschlechts. 
Denn  die  Meter  war  dvÖQÖyvvov.  Karl  v.  d.  Steinen:  Geburt 
als  Ausbrütung  eines  Eies.  Wochenbett  des  Mannes.  Bärtige 
Aphrodite  auf  Kypros.    Hermaphrodit. 


Die  alten  Dreivereine  von  Göttern  enthalten  entweder 
Meter  mit  zwei  Daktylen  oder  Meter  mit  einem  Daktylen  und 
zweiter  Meter  resp.  Köre.  So  Apoll  Leto  Artemis  —  Artemis 
ist  erst  später  Jungfrau,  in  alter  Sage  Eileithyia  ihrer  Mutter 
bei   der  Geburt   des  Apoll,    also    zweite   Meter.     Apoll   sicher 


MHTHP  93 

daktylisch,  denn  gerade  der  ^AXs^Cxaxog^  der  ^Ayvievg  ist  ein 
einfacher  Kegel,  Pluton  Demeter  Köre.  Die  Sagen  entstehen 
nun  oft  so,  daß  eine  neue  Verbindung  zwischen  dem  männ- 
lichen und  der  weiblichen  TCccQSÖQog  angenommen  wird  (Raub 
der  Köre);  daher  die  vielen  blutschänderischen  Verbindungen 
in  griechischer  Sage.  Zur  Zeit  des  Mutterrechtes  gibt  es  diesen 
Begriff  noch  nicht.  

Hephaistos  —  Athena  —  Prometheus:  Meter  und  zwei  Dak- 
tylen. Die  Feuergötter,  wie  die  Daktylen  als  chthonische  Mächte 
eben  Schmiede  sind.  

Der  Kult  hat  den  Philosophen  ungeheuer  vorgearbeitet: 
sQcog  als  Weltprinzip.     Orphiker. 


Es  hat  einmal  eine  Zeit  gegeben,  wo  ApoUon  der  'AXs^Cxaxog, 
ein  Daktyl  war  neben  der  Meter  Leto  und  der  Meter  Artemis. 
Aber  so  sehr  wirkt  das  Organische  sogar  in  der  Mythologie, 
daß  er  seinem  Vater,  als  dieser  Gatte  der  Leto  wurde,  nach- 
geartet und  selbst 'Lichtgott  geworden  ist. 


Die  Daktylen  sind  Bergbauer  wie  die  Zwerge  und  Heil- 
götter. Woher  das?  Kaibel  ist  der  Zusammenhang  nicht  auf- 
gegangen zwischen  phallisch- chthonisch  —  äXs^CTcaxog.  Die 
Naturkraft  wirkt  aus  der  Tiefe  der  Erde  und  jede  Kraft  ist 
ein  ccXs^Ctcutiov.  Der  Zusammenhang  von  Phallischem  und 
Agrarischem  war  daher  direkt  vorgebildet.     Pluton  —  Plutos. 


Da  die  daktylischen  Wesen  meist  auch  chthonisch  sind, 
erklärt  sich  die  Verbindung  von  Herakles  mit  Demeter.  Die 
Einweihung  des  Herakles  in  die  Mysterien  ist  von  dem  idäischen 
Daktylen  Herakles  sofort  zu  verstehen.  Da  alle  daktylischen 
Wesen  auch  ccXe^Cxcacoi  sind,  erklärt  sich,  warum  Asklepios 
(chthonios  —  sicher    einmal   Daktyl)    mit    Demeter    und    den 


94  Hans  von  Prott    MHTHP 

Mysterien  so  nah  verbunden  war.  Quintessenz  im  Eleusinion 
am  Taygetos:  dort  heilt  Asklepios  den  Herakles  im  Demeter- 
heiligtum.   

Ein  Daktylos    auch  Triptolemos?     Denn  weshalb  wird  erj 
immer  als  Knabe  dargestellt? 


In  Rom  hat  jeder  Mann  seinen  Genius,  jede  Frau  ihre 
Juno.  Das  ist  Daktylos  und  Meter.  Beide  sind  ^Als^xaKOL  • — 
für  die  Frau  besonders  in  ihrer  schweren  Stunde.  Sind  also 
nicht  die  Inselidole  Mr]t8Qsg,  die  man  ins  Grab  mitgab?  Und 
die  Phallen  der  phrygischen  Gräber  Genii? 


näv:  nd(ov  {0d(ov)  =  'EQ^iäv:  ^Eq^ccov. 


Poseidon  ist  phallisch -chthonisch  als  cpvtdXfiiog.  Auf 
einer  Klippe  standen  3  oYaKsg,  vom  Wasser  nie  berührt  (Her- 
mann, Gottesdienstl.  Altertümer^  §  18  Anm.  15),  ganz  wie  die 
drei  kleinen  dydX^ata  bei  Brasiai.  Ist  dies  der  Sinn  vom 
Aufstellen  des  Ruders  durch  Odysseus- Poseidon? 


Leda  ==  Leto?  Bei  beiden  Zwillingsgeburt.  Daß  Leto 
als  Meter  kultlich  dargestellt  wurde,  genau  so,  wie  auf  der 
spartanischen  Gruppe,  folgt  daraus,  daß  der  IsQog  Xöyog  immer 
die  Kniegeburt  erwähnt  am  Palmbaum. 


II  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  8  Heften 
von  2  Jahrgängen  schließen.  Mit  diesem  Band  IX  (1906)  beginnt 
die  neue  Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen 
der  Zeit  seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß 
des  betr.  neuen  Berichts  referiert  werden. 


1  Keligionen  der  Naturyölker 

Yen  K.  Th.  Preuß 

Allgemeines  1904/05 

Es  ist  unabweisliche  Pflicht  des  Religionsforscliers  zu  der 
Frage  Stellung  zu  nebmen,  in  welchem  Verhältnis  die  Zauberei 
zur  Religion  steht,  weil  je  nachdem  selbst  die  speziellsten  Unter- 
suchungen ein  anderes  Ergebnis  zeitigen  können.  Dem  jetzt 
mehrfach  ausgesprochenen  Gedanken,  daß  jeder  Kult  im  letzten 
Grunde  Zauberei  sei,  stehen  entgegengesetzte  Anschauungen 
gegenüber,  daß  Zauberei  und  Religion  nichts  miteinander  zu 
tun  haben.  Die  nächste  Frage  ist  natürlich,  wie  ist  beides 
entstanden,  und  auch  das  ist  für  Einzeluntersuchungen  von 
hoher  Bedeutung. 


96  K.  Th.  Prenß 

In  der  esquisse  d'une  theorie  generale  de  la  magie 
kommen  Henri  Hubert  und  Marcel  Mauss^  ganz  folge- 
richtig zu  ihrer  „explication  de  la  magie".  Vor  aller  Er- 
fahrung bestehe  der  Glaube  an  eine  Zauberkraft,  die  überall 
existiert  und  eine  materielle  und  zugleich  geistige  Substanz  ist. 
Sie  ist  a  priori  gegeben  und  wird  durch  Erregungszustände, 
den  sehnsüchtigen  Wunsch,  die  Erwartung  ausgelöst.  Die 
Hauptsache  bei  der  Wirksamkeit  der  Zauberei  seien  nicht  die 
manuellen  und  sprachlichen  Akte,  die  gewissermaßen  eine 
Wissenschaft  für  sich  bilden,  sondern  die  magische  Kraft  des 
Ausübenden,  die  in  dem  orenda  der  Irokesen,  dem  manitu  der 
Odschibway,  dem  naualli  der  Mexikaner,  dem  mana  der  Mela- 
nesier,  dem  Zauber  des  Geheimnisvollen  bei  allen  magischen 
Handlungen  liegt.  —  Mit  glücklichem  Griff  ist  hier  das  Wesen 
der  Zauberei  erfaßt,  und  es  ist  ein  nicht  zu  unterschätzendes 
Verdienst  der  Verfasser,  auf  die  Idee  einer  Zauberkraft  bei 
den  verschiedensten  Völkern  nachdrücklich  hingewiesen  zu 
haben.  Ein  historischer  Standpunkt  freilich  wird  ein  allmähliches 
Entstehen  auch  der  Idee  einer  Zauberkraft  ins  Auge  fassen 
müssen.  Ist  z.  B.  der  deutsche  Volksglaube,  daß  man  durch 
Bestreichen  mit  Schlangenfett  den  Körper  beliebig  zusammen- 
rollen könne  (Wuttke)  nicht  ebensosehr  durch  die  Betrachtung 
der  Schlangenbewegungen  und  der  Wirkung  von  Fetten  über- 
haupt, d.  h.  durch  die  praktische  Erfahrung  wie  durch  den 
Glauben  an  die  eigene  Fähigkeit  entstanden?  Ursprünglich  ist 
daher  wohl  die  Idee  der  Zauberkraft  und  die  der  Fähigkeit 
überhaupt  identisch  gewesen  und  beide  haben  sich  erst  all- 
mählich voneinander  getrennt,  so  daß  die  Zauberkraft  auch 
von  diesem  Standpunkt  aus  gewissermaßen  als  etwas  a  priori 
Gegebenes  angesehen  werden  kann,  nämlich  insofern  sie  von 
dem  Augenblick  an  bestand,  wo  der  Mensch  sich  selbst  und 
seiner    Umgebung    Kräfte    zuerkannte.      Diese    Entwickelung 


Ännee  sociologique  VII  1902/03.    Paris  1904.    S.  1—146. 


Religionen  der  Naturvölker  97 

spiegelt  sich  z.  B.  aucli  in  dem  erwälmteii  mexikanischen  Wort 
für  Zauberer  naualli  wider.  Denn  es  heißt  eigentlich  die  Ver- 
kleidung und  bezieht  sich  ursprünglich  auf  die  Idee,  daß  man 
durch  Überziehen  des  Felles  eines  Tieres  oder  durch  Annahme 
der  Äußerlichkeiten  eines  Gegenstandes  die  Eigenschaften  des 
Objektes  von  sich  aus  ausüben  kann.  —  Das  wichtigste  Kapitel 
des  vorliegenden  Werkes  führt  den  Titel  les  elements  de  la 
magie  und  bietet  einen  guten  und  umfassenden  Überblick  über 
die  Zauberhandlungen  an  der  Hand  der  Einteilung  „Der  Zauberer, 
die  Handlungen,  die  Ideen ^^  Die  gelehrten  Verfasser  haben 
hier  ebenso  aus  Kulturvölkern,  wie  von  den  Primitiven  ihre 
Schilderung  genommen,  leider  freiUch  ohne  genauere  Quellen- 
angabe für  die  angezogenen  Beispiele.  —  Bezüglich  des  Ver- 
hältnisses von  Religion  und  Zauberei  glauben  die  Verfasser 
mit  der  Unterscheidung  auszukommen,  daß  die  eine  öffentlich 
und  erlaubt,  die  andere  geheim  und  verboten  sei.  Doch  läßt 
sich  der  Unterschied  wohl  nur  für  höhere  Kulturstufen  geltend 
machen. 

Auch  R.  R.  Marett  leitet  einen  Aufsatz  „from  spell  to 
prayer"^  mit  Betrachtungen  über  die  Entstehung  der  Zauberei 
ein.  Sie  ist  ihm  zwar  auch  wie  den  oben  genannten  Gelehrten 
etwas  'Mysteriöses,  Unnatürliches,  aber  die  Zauberkraft  ist  seiner 
Meinung  nach  nicht,  wie  diese  annehmen,  a  priori  gegeben, 
sondern  er  glaubt,  ähnlich  wie  einige  deutschen  Ethnographen, 
z.  B.  H.  Schurtz^,  ihre  Entstehung  aus  Gefühlserregungen  her- 
leiten zu  können.  Aus  der  Wut  gegen  einen  Feind  können 
sinnlose  Zerstörungshandlungen  gegenüber  seinem  Bilde  oder 
den  ihm  zugehörigen  Gegenständen  entstehen.  Das  wirkt  auf 
den  Täter  wohltuend.  Er  weiß  zwar,  daß  es  nicht  das  Wirk- 
liche ist,  was  er  möchte,  aber  er  findet,  daß  es  ihm  gut  tut  es 
zu  glauben,  und  so  will  er  es  glauben.  Das  sei  der  Anfang 
des   sogenannten   Sympathie-  und   Analogiezaubers   jeder   Art. 


*  Folklore  XV  1904  S.  132—165.         ^  Kulturgesch.  S.  601. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  7 


98  K-  Th.  Preuß 

Es  ist  der  Wille,    die  Zauberkraft,   das    Wirkende   und   nicht 
eine  mechanisclie  Handlung,  die  auf  falscher  Kausalverknüpfung 
beruht.  —  In  dieser  Erklärung  ist  meines  Erachtens  die  Betonung 
des  Willens  in  den  Zauberakten  der  richtige  Kern.    In  der  Tat 
muß    der   Mensch   den  Willen   haben,   sich    selbst   und    seiner 
Umgebung  besondere  Fähigkeiten  zuzuschreiben,  und  den  Willen 
hat  er,  sobald  sein  Verstand  ihn  befähigt,  eine  über  den  In- 
stinkt hinausgehende  Fürsorge  für  sich  zu  zeigen.     Solange  ihn 
der  Instinkt  allein  leitet,  können  Zauberhandlungen  nicht  ent- 
stehen. Dagegen  ist  es  meines  Erachtens  nicht  richtig,  den  Zauber 
erst  auf  einer  gewissen  Kulturhöhe,  wo  man  z.  B.  schon  Bilder 
hatte,    beginnen  zu  lassen,   und   wo   man  bereits   unterschied, 
daß   der  Zauber  im  bewußten  Gegensatz  zu  realen  Wirkungen 
steht.  —  Marett  ist  es  besonders  deshalb  um  etwas  von  vorn- 
herein Geheimnisvolles  in  der  Zauberei  zu  tun,  weil  er  diese 
in  dieselbe  Sphäre  wie  die  Religion  stellen  möchte  und  das  als 
Grundbedingung  für  seine  Entwickelung  des   Gebets   aus   dem 
Zauberspruch  ansieht.     Er  polemisiert  dabei  gegen  Frazer,  der 
bekanntlich  Zauberei  und   Religion  scharf  trennt   und   erstere 
aus  falscher  Kausalverknüpfung,  letztere  aber  aus  der  Erkenntnis 
des  mit  der  Zauberei  verbundenen  Irrtums,  also  rein  negativ, 
ableitet.      Marett   sagt:   Die   Zauberhandlung   wird   gewöhnlich 
von  dem  Zauberspruch  begleitet,  der  magischen  Willensäußerung, 
die  wesentlich  für  das  Gelingen  ist.    Oft  werden  die  beim  Zauber 
notwendigen  Materialien  als  Träger  des  mana,  der  Zauberkraft, 
direkt  angeredet:  „Tue  das,  gib  uns  das  usw."    Damit  beginnt 
der  Übergang  zum   Gebet.     Das  mana  der  zaubernden  Person 
vereint  sich  mit  dem  mana  der  Dinge.    Gießt  man  einem  Toten 
Wasser  über  den  Körper  und  sagt  dazu  „gib  uns  Regen"  (Ruß- 
land), so  tritt  die  Zauberkraft  des  Menschen  zu  der  des  toten 
Körpers.    Anderseits  kämpft  mana  gegen  mana,  wenn  in  Timor- 
laut  das   Krankheitsboot   ins   Wasser  gestoßen  wird  mit  dem 
Schrei  „0  Krankheit,  gehe  fort."  —  Wir  werden  diese  Methode 
der    Beweisführung    anerkennen   müssen,    obwohl    nur    wenig 


Religionen  der  Naturvölker  99 

Belege  angeführt  sind.  Das  besondere  Relief  aber  würde  die 
Ableitung  des  Gebets  von  dem  Zauberspruch  erhalten,  wenn 
die  Ausdrucksmittel  des  Kultus:  Opfer,  Blutlassen,  Fasten,  ge- 
schlechtliche Akte,  Haarschneiden,  dramatische  Szenen  u.  a. 
als  bestehend  nachgewiesen  werden  könnten,  bevor  es  Geister 
oder  Götter  gab.  Einen  kleinen  Anfang  dazu  hat  Marett 
früher  selbst  gemacht.^ 

Ein  paar  Worte  seien  noch   dem  Kapitel   „Kultus '^  und 
anderen  Stellen  in  dem  Buche  von  F.  Beck  „Die  Nachahmung"^ 
gewidmet.      Denn    obwohl   hier    das    Wesen    der   Religion    in 
größter  Einseitigkeit  und  ohne  genügende  Kenntnisse  erörtert 
wird,  so  ist  eine  ähnliche  Auffassung,  im  allgemeinen  gesprochen, 
in  ethnographischen  Kreisen   noch   immer   sehr  verbreitet.  — 
Das    Grundgesetz    der    Biologie    ist    die    Verwirklichung    des 
Zweckvollen.     Wir   finden   es   auch   in   der  Entwickelung   der 
menschlichen   Gesellschaft.     Da   aber  noch  heute   die  meisten 
Handlungen    bloße    Nachahmungshandlungen    sind    und    diese 
desto  mehr  zunehmen,  je  weiter  wir  zurückgehen,  so  ist  das 
Zweckvolle  in  sozialen  Einrichtungen  u.  dgl.  m.  nicht   durch 
Nachdenken,  sondern  nach  biologischen  Gesetzen  zustande  ge- 
kommen.    Das  Zwecklose  dagegen  kann  immer  nur  als  Neben- 
produkt oder  Überrest  des  zweckmäßigen  Geschehens  aufgefaßt 
werden.    Alle  abergläubischen  oder  religiösen  Handlungen  sind 
daher  im  unmittelbaren  Anschluß  an  bestimmte  Phasen  zweck- 
voller menschlicher  Tätigkeiten  und  Einrichtungen  zu  erklären 
und  nicht  aus  falscher  Denktätigkeit,  d.  h.  aus  der  menschlichen 
„Dummheit".      Wenn   z.  B.    den    Toten    alles    Eigentum    mit- 
i  gegeben   wird,   so   kommt   das   zunächst  aus    dem   physischen 
j  Empfinden,  daß  Schmuck,  Kleidung  und  Waffen  integrierende 
:  Teile,   gewissermaßen    eine    verlängerte    Existenz   des    Körpers 
I  sind.     Die   Primitiven   denken   also   nicht  falsch,   sondern    sie 
i  denken  zu  wenig.     Wenn  bei  vielen  Völkern  der  Schwieger- 

^  Preanimistic  Religion,  Folklore  XI  1900  S.  16. 
2  Leipzig  1904  S.  103—144. 


100  K.  Th.  Preuß 

söhn  die  Schwiegermutter  nicht  sehen  darf,  so  stammt  das  aus 
der  Zeit,  wo  die  Frau  aus  feindlichem  Stamm  gerauht  wurde. 
Die  semitischen  Opfer  (die  Rohertson  Smith  so  schön,  wenn 
auch  nicht  einwandfrei  nach  Analogie  des  Blutbundes  zwischen 
zwei  Menschen  als  Bund  mit  der  Gottheit  entwickelt)  leitet 
Beck  an  der  Hand  dieses  Forschers  von  dem  ursprünglich  so 
seltenen  Schlachten  und  gemeinsamen  Essen  eines  Tieres  der 
Herde  zu  Nahrungszwecken  ab,  das  gleich  dem  menschlichen 
Mitgliede  des  Clans  als  gleichwertiger  Genosse  gegolten  habe. 
Diese  Theorie,  die  man  im  wesentlichen  kurz  mit  dem 
Worte  „das  Alte  wird  heilig"  bezeichnen  kann,  hat  von  jeher 
viele  vom  Studium  der  primitiven  religiösen  Anschauungen 
abgehalten.  Denn  diese  erscheinen  so  als  nebensächlich,  und 
wenn  man  ihnen  nachgehen  wollte,  so  wären  zuvörderst  und 
hauptsächlich  nur  die  realen  Lebensverhältnisse  zu  ergründen. 
Dazu  kommt  bei  Beck  die  einfache  Übertragung  unseres  so- 
genannten physischen  Empfindens  auf  die  Urzeit,  womit 
absoluter  Willkür  Tür  und  Tor  geöffiiet  werden,  so  daß  man 
es  niemand  übelnehmen  kann,  wenn  er  die  Hand  von  den 
religiösen  Dingen  läßt,  deren  Einzelheiten  ihn  ja  doch  zu  nichts 
führen,  sondern  nur  eine  Summe  von  abstrusen  Einfällen  dar- 
stellen. Bei  oberflächlicher  Betrachtung  erscheint  die  Theorie 
„das  Alte  wird  heiligt'  richtig,  denn  nicht  nur  bedeutet  der 
Kult,  also  die  tatsächlichen  Handlungen,  den  Urgrund  der 
Religion,  sondern  die  Beharrung  in  allen  kultischen  Gebräuchen 
und  überhaupt  in  allen  Gewohnheiten  ist  das  Zeichen  der 
primitiven  Menschheit.  Abweichungen  würden  Unheil  bringen. 
Bei  näherer  Untersuchung  ergibt  sich  aber  stets,  daß  ein  solch 
allgemeiner  Satz  zu  fruchtbaren  zauberisch -religiösen  Ideen 
nicht  führt.  Im  Gegenteil:  sind  erst  gewöhnliche  Verrichtungen 
aus  dem  Zauberbann  des  Aberglaubens  heraus,  so  kommen  sie 
auch  nicht  wieder  hinein.  Das  heißt:  aller  Zauberglaube  ist 
ganz  früh  anzusetzen.  Ich  will  dafür  ein  Beispiel  von  den 
Hupa  anführen.     Bei  ihnen  müssen  die  erlegten  Hirsche    ganz 


Religionen  der  Naturvölker  101 

1  vorschriftsmäßig  zubereitet,  serviert  und  gegessen  werden,  sonst 
I  laufen  sie  dem  Jäger  niclit  mekr  in  den  Weg.^  Das  ist  durchaus 
I  nicht  eine  aus  Küchen-  und  Eßgewohnheiten  gewordene   Idee. 
Sie  würde  nie  existieren,  wenn  nicht  von  vornherein  allenthalben 
I  der   Glauben   bestände,    daß  die  Reste  bzw.  Teile  der  erlegten 
!   Tiere  das  Wild  anziehen.     Becks  Anschauung  besagt  also  nur, 
daß  z.  B.  das  Erlegen  bzw.  Schlachten  von  Tieren  vorausgehen 
muß,  um  irgendwelche  positiven  Zauberideen  daran  zu  knüpfen. 
I   Daß    der    Gang   umgekehrt   ist,   hat    aber   noch    niemand    be- 
hauptet.   Primär  wirkt  z.  B.  auch  die  Zauberidee  der  Couvade, 
I    des  Mänuerkindbettes.     Es  wird  niemand  einfallen,  dieses  etwa 
aus    der    sozialen   Zweckmäßigkeit   zu    erklären,    daß  sich  der 
Mann    zur   Zeit   der    Geburt   nicht  herumtreiben  dürfe,   woran 
sich    dann    die   Idee    angeschlossen    habe,    das    Verhalten   des 
Vaters  beeinflusse  den  Zustand  des  Kindes. 

Diesem  Begriff  des  primären  Zaubers  und  seinen  Wirkungen 
hat  der  Berichterstatter  selbst  eine  Arbeit  gewidmet,  „der 
Ursprung  der  Religion  und  Kunst"^,  die  als  „vorläufige 
MitteiÄing"  gedacht  und  bezeichnet  ist,  weil  die  darin  for- 
mulierte Auffassung'  nicht  Selbstzweck  ist,  sondern  in  erster 
Linie  die  Wege  bezeichnen  soll,  auf  denen  zahlreiche  bisher 
wenig  beachtete  Tatsachen  für  die  religiöse  Forschung  ver- 
wertet werden  können.  Den  Beweis,  daß  der  Ursprung  so 
gewesen  ist,  will  ich  erst  später  an  der  Hand  des  übrigen 
Materials  erbringen.  Der  Grundzug  der  religiösen  Auffassung 
ist,  daß  mit  der  Menschwerdung  jede  noch  so  alltägliche 
Tätigkeit  und  jedes  dem  Bewußtsein  sich  aufdrängende  Objekt, 
und  zwar  die  nächstliegendsten  und  am  meisten  gebrauchten 
zuerst,  einen  Zaubergehalt  aufwies,  der  von  realer  Tätigkeit 
und  den  wirklichen  Eigenschaften  des  Objektes  nicht  getrennt 

^  Goddard  The  Hupa,  University  of  California  Puhlications,  Ämer. 
Archaeol.  and  JEthnol  I  S.  22  f.  78. 

2  Globus  LXXXYI  S.  321—327,  355  —  363,  375  —  379,  388  —  392, 
LXXXVn  S.  333  — 337,  347—350,  380  —  384,  394  —  400,  413—419. 


102  K.  Th.  Preuß 

werden  konnte.  Der  warme  Haucli  des  Mundes  und  der  Nase, 
der  ausgestoßene  Laut,  die  Speisen,  die  man  aß,  alle  Exkremente, 
die  zufälligen,  bei  jeder  Tätigkeit  entstehenden  Geräusche  und 
Bewegungen  —  allem  wurde  eine  Wirkung  zugeschrieben,  eine 
Zauberkraft,  die  aber  als  etwas  Natürliches,  nicht  als  etwas 
Mystisches  aufgefaßt  wurde.  Die  Vermischung  des  Hauches 
und  Speichels  hatte  z.  B.  wie  der  Blutbund  die  Fähigkeit, 
einander  geneigt  zu  machen.  Daher  stammt  die  Sitte  des 
Mundkusses  und  Nasengrußes.  Der  Hauch  von  Mund  zu  Mund 
scheint  ferner  zum  Erzeugen  eines  lebendigen  Kindes  not- 
wendig gewesen  zu  sein.  Hauch  und  Speichel  heilen,  ver- 
treiben tödliche  Einflüsse  und  fördern  Unternehmungen.  Der 
Hauch  kann  töten.  Mit  all  dem  steht  das  Ausschlagen  von 
Schneidezähnen  vor  der  Heirat  oder  bei  der  Pubertät  in  Zu- 
sammenhang. Auch  der  Schmuck  an  den  Öffnungen  des 
Körpers,  z.  B.  Nasen-,  Lippen-  und  Ohrschmuck,  ist  zunächst 
zur  Unterstützung  dieser  Zauberwirkungen,  dann  aber  auch 
zum  Schutze  gegen  das  Eindringen  zauberischer  Substanzen 
angebracht  worden.  Ein  anderer  Gesichtspunkt  ist  ^ie  Be- 
deutung bildlicher  Darstellung.  Ein  Bild  gibt  das  Original  in 
die  Gewalt  des  Besitzers  der  Darstellung,  es  befähigt  ihn  auch, 
die  Zauberkräfte  des  Originals  auszuüben.  Aus  demselben 
Grunde  werden  Tiere  nachgeahmt,  einmal  als  Jagdzauber  und 
dann,  um  ihre  Zaubergaben  auszuüben.  Die  Entstehung  der 
bildenden  Kunst  und  der  Tiertänze  ist  allein  auf  diese  Ideen 
zurückzuführen.  Nachahmungen  von  irgendwelchen  erwünschten 
Vorgängen  machen  diese  wirklich.  Ebenso  ist  die  Sprache 
nicht  aus  dem  Streben  nach  Mitteilung  entstanden,  sondern 
um  durch  Nachahmung  des  einer  Substanz  zukommenden  Ge- 
räusches dieses  in  seine  Gewalt  zu  bekommen.  Nicht  anders 
ist  es  ursprünglich  mit  dem  Aussprechen  ganzer  Sätze:  das 
Gesagte  wird  dadurch  Wirklichkeit.  Da  jede  Substanz  in  jedem 
ihm  in  Form,  Farbe,  Geruch,  Gefühl  usw.  ähnlichen  Gegen- 
stande wirken  kann,  so  ist  das  die  folgenschwerste  Eigenschaft 


Eeligionen  der  Naturvölker  1()3 

der    Götter,    denn    diese    sind    zunächst   wirkende    Substanzen, 
Naturobjekte  in  weiterem  Sinne.     Kleine  wirkende  Substanzen 
i  können    sich   in    größeren   befinden.     Es   entstellt   so  z.  B.  der 
i  Glaube  an  Seelen  im  Menschen,  die  zunächst  nichts  Abstraktes 
sind.    Götter  zaubern  vielfach  auf  dieselbe  Weise,  wie  es  früher 
alle    Menschen,    später    nur   besonders    befähigte    vermochten. 
Aus   zaubernden    Tieren   und   Menschen  werden  Götter   ebenso 
wie  aus  allen  wirkenden  Substanzen,   sofern  die  Entwickelung 
ihnen    günstig   ist.      Nachahmungen   von    Göttern,    d.  h.    von 
wirkenden    Substanzen,    erlauben    den    betreffenden   Menschen, 
ähnlich   wie    bei   den    Tiertänzen    die   Zauberkraft    der    Götter 
[  selbst  auszuüben.    Die  menschliche  Zauberkraft  wird  in  vollem 
'  Umfang  oft  erst  bei  der  Pubertät,   und   zwar   nicht  durch  die 
natürliche  Entwickelung,  sondern  durch  Zeremonien  mitgeteilt, 
wie  es  überhaupt  eine  Menge  Mittel  gibt,   um  die  Zauberkraft 
I  des  Menschen  zu  erhöhen.     Zum  Teil  bestehen  diese  Mittel  in 
i  gewaltsamen  Eingriffen  in  den  Körper.     Der  Gang  der  Unter- 
suchung wird   am   besten   durch   die  Kapitelüberschriften    dar- 
getan:   1.   der    Zaubergesang    der    Tiere,    2.  der    Zauber    der 
Defäkation,   3.  der  Kohabitation,  4.  des  Hauches,  5.  der  Tier- 
tänze,  6.  des  Tanzes,    7.  der  Analogiezauber   und  der  Geister- 
I  glaube,   8.  der  Zauber  der  Sprache   und   des   Gesanges,   9.  die 
Erhöhung  der  menschlichen  Zauberkraft. 

Wenn  wir  uns  bisher  im  wesentlichen  mit  Arbeiten  be- 
schäftigt haben,  die  den  Einfluß  der  nächsten  Umgebung  auf 
die  Religion  beleuchten,  wollen  wir  uns  nun  der  himmlischen 
Sphäre  zuwenden,  wo  ein  Mensch,  ein  Tier,  ein  Objekt  nicht 
nur  das  ist,  was  unsere  Sinne  direkt  damit  verbinden,  sondern 
die  Sonne  oder  irgendeinen  anderen  himmlischen  Gegenstand 
vorstellen.  Leo  Frobenius  in  seinem  Buche  „Das  Zeitalter 
des  Sonnengottes"^  hat  ganz  recht,  wenn  er  die  Gestirne 
nicht  zu  den  ersten  religiös  wirksamen   Dingen  rechnet.     Nur 

^  Band  I,  Berlin  1904.     XII  und  420  Seiten. 


104  K.  Th.  Preuß 

hätte  er  nicht  den  „Animalismus"  d.  h.  die  Verehrung  von 
Tieren,  und  den  „Manismus",  den  Kult  der  Verstorbenen,  dem 
„Solarismus"  vorausgehen  lassen  sollen.  Denn  wir  wissen,  daß 
nicht  nur  Tiere,  sondern  überhaupt  nahe  Objekte  von  früh  an 
der  Sitz  von  Zauberkräften  waren.  Mit  der  Bedeutung  der 
Sonne  hatten  sie  ihre  Rolle  durchaus  nicht  ausgespielt,  sondern 
wurden  als  ihre  Abbilder  mit  ihr  eventuell,  identifiziert  oder 
zu  ihr  in  Beziehung  gesetzt.  Und  vollends  ist  die  Seelenlehre 
so  enge  mit  dem  Schicksal  der  Sonne  und  ihrem  Verschwinden 
in  dem  Dunkel  der  Unterwelt  verbunden,  daß  die  Ausbildung 
der  Seelenidee  wohl  bereits  in  den  „Solarismus"  hineinfällt. 
Doch  wollen  wir  uns  durch  diese  teils  ganz  schemenhaften, 
teils  zeitlich  nicht  richtig  abgegrenzten  Bestimmungen^  die 
Freude  an  den,  wenn  auch  nur  vorläufigen,  mythologischen 
Resultaten  nicht  schmälern  lassen.  Die  Bedeutung  des  Buches 
beruht  nämlich  auf  der  Vergleichung  vieler  Gestirnmythen 
über  die  ganze  Erde,  wodurch  die  einzelnen  Züge  vieler  Er- 
zählungen oft  sehr  deutlich  ihrem  Ursprünge  nach  hervortreten. 
Auch  seine  absurde  Anschauung,  daß  diese  Mythen  nicht  an 
vielen  oder  gar  nur  an  zwei  Orten  entstanden,  sondern  über 
die  ganze  Erde  gewandert  sind,  will  ich  nur  deswegen  streifen, 
weil  sich  in  der  Tat  merkwürdige  Übereinstimmungen  der 
Ideenfolge  und  scheinbar  unwichtiger  Einzelheiten  zwischen 
weit  entfernten  Ländern  finden,  die  zur  Untersuchung  der 
Frage  der  Übertragung  anregen  müssen.  Aber  selbst  da  würde 
zunächst  immer  die  Vorfrage  zu  studieren  sein:  sind  diese 
mythischen  Einzelheiten  und  die  ganze  Erzählungsfolge  wirklich 
zufällig  oder  den  zum  Mythus  anregenden  Naturverhältnissen 
nach  zwingend.  Denn  wie  jedes  mythische  Detail  geworden 
ist,  ist  trotz  dieses  Buches  natürlich  noch  lange  nicht  gelöst. 
Fast  die  Hälfte  der  aufgezeichneten  Mythenkomplexe 
bezieht   sich    auf  das    Verschlungenwerden    des    Sonnenhelden 


1  Vgl.  meine  Besprechung  im  Globus  Bd.  87  S.  353. 


Religionen  der  Naturvölker  105 

bzw.  der  ganzen  Menschheit  durch  einen  Fisch,  Drachen  oder 
sonstiges  Ungeheuer,  die  Irrfahrt  in  seinem  Leibe  von  Westen 
nach  Osten  und  endlich  die  Befreiung  durch  Aufschneiden  des 
Körpers.  Dieser  Sonnenuntergangs-  und  -Aufgangsmythus  ist 
nun  auch  in  den  Anfang  der  Dinge  projiziert  und  zur  Ent- 
stehung der  Welt  verwendet.  Aus  dem  Fischleib,  aus  dem  die 
Sonne  hervorgeht,  werden  Himmel  und  Erde  gebildet.  Erwähnt 
seien  aus  den  vielen  Zügen  dieses  Abschnittes  noch  die 
Sonnenwendmythen,  nach  denen  die  Sonne  gefangen  oder  der 
Sonnenvogel  erbeutet  oder  der  Sonnenheld  von  einer  Schlange 
gebissen  wird  usw.,  so  daß  er  ermattet  und  nur  langsam  fort- 
kommt. Es  folgen  in  dem  Abschnitte  „Göttinnen"  zunächst 
die  Mythen  von  der  conceptio  Immaculata,  wo  eine  Jungfrau 
durch  Verschlucken  der  Äquivalente  des  Sonnenballs  und  ähn- 
liches den  Sonnenhelden  zur  Welt  bringt.  Er  wird  ausgesetzt, 
treibt  auf  dem  dunkeln  Wasser,  bis  er  aus  seinem  Gefängnis 
heraus  kann.  Mit  Recht  werden  hier  nun  wieder  die  Ursprungs- 
versionen der  Welt  der  Geburt  des  Sonnenhelden  an  die  Seite 
gestellt.  Wie  aus  dem  aufgeschnittenen  Fisch  die  Sonne 
hervorkommt,  wie  der  Held  in  seinem  Gefängnis  auf  dem 
Wasser  schwimmt,  so  schwimmt  die  Erde  auf  dem  Wasser 
oder  das  Urei,  aus  dem  der  Sonnenvogel  emporfliegt,  während 
aus  den  Schalen  Himmel  und  Erde  werden  —  oder  das  Rohr, 
dem  die  ersten  Menschen  entsteigen.  Wiederum  spielt  das 
Wasser  eine  große  Rolle,  wenn  der  Held  durch  einen  Angel- 
haken, eine  Harpune  oder  einen  Pfeil  (die  Sonnenstrahlen) 
sich  eine  Geliebte  herausholt,  die  in  einigen  Fällen  Beziehungen 
zum  Monde  zu  haben  scheint.  Auf  die  Sterne  des  Himmels 
scheinen  auch  die  bekannten  Schwanenjungfrauen  zu  deuten, 
die  sich  nach  Ablegen  ihrer  Gewänder  im  Wasser  baden,  und 
von  denen  dann  eine  geraubt  wird.  Statt  der  Schwäne  sind 
es  an  anderen  Stellen  der  Erde  Gänse,  Papageien,  Tauben, 
Fische  und  Seehunde.  Ganz  kurz  werden  dann  die  Mond- 
mythen  und    die  Plejadenmythen   behandelt:    z.  B.   die  Mond- 


106  K.  Th.  Prenß 

gottheit  als  Frau  des  Sonnengottes,  als  Todes-  und  ScL.icksals- 
göttin,  als  Wasser-  und  Webegöttin.  Zum  Schluß  kommt  das 
interessante  Kapitel  von  den  menschenfressenden  Riesen,  die 
sterben  müssen,  wenn  die  Sonne  sie  bescbeint,  oder  sonstwie 
durch  Feuer  zugrunde  gehen.  Sie  leben  in  Höhlen,  stehen 
meist  in  naher  Beziehung  zum  Wasser  und  haben  viele  Köpfe 
oder  ein  Auge.  Diese  Riesen  sind  die  Sternbilder  und  ein- 
zelnen Sterne.  Dem  Sonnenhelden,  der  sie  besiegt,  steht  hilf- 
reich zur  Seite  eine  Alte,  der  Mond. 

Ein  jeder  wird  hier  auf  Bekanntes  stoßen.  Auch  die 
Deutungen  sind  zum  größten  Teile  bereits  von  den  einzelnen 
Philologien  ausgesprochen.  Frobenius'  Verdienst  ist  aber  die 
Ausbreitung  über  die  Erde,  so  daß  man  viel  sicherer  schließen 
und  nordische,  griechische,  semitische  und  andere  Mythen  der 
Kulturvölker  durch  afrikanische,  ozeanische  oder  amerikanische 
erläutert  und  ergänzt  sehen  kann.  Nur  Tylor  in  „Primitive 
Culture"  hat  einen  ähnlichen,  wenn  auch  nur  kurzen  Anlauf 
in  die  allgemeine  Mythologie  unternommen. 

Mythus  und  Kultus  sind  ursprünglich  insofern  eng  mit- 
einander verbunden,  als  beides  zum  Teil  Naturvorgänge  wieder- 
gibt, der  eine  erzählend,  der  andere  zum  Zweck  zauberischer 
Beeinflussung  der  Ereignisse.  Sie  stammen  aus  der  gleichen 
Wurzel,  und  so  wird  das  Verständnis  des  einen  wesentlich 
durch  das  andere  gefördert.  Ja,  es  ist  schwer,  nur  mit  der 
Betrachtung  des  einen  von  beiden  zu  entscheidenden  Ergeb- 
nissen zu  kommen.  Diesen  Mangel  bemerkt  man  auch  vielfach 
an  dem  Buche  von  Frobenius.  Dagegen  konnte  ich,  mich  auf 
beide  Krücken  stützend,  die  amerikanischen  Flutsagen  und 
damit  zusammenhängende  Probleme  bis  zu  einem  Grade  von 
Sicherheit  erklären,  daß  meines  Erachtens  auch  den  Flutsagen 
überhaupt,  da  in  ihnen  die  gleichen  Züge  wiederkehren,  im 
ganzen  dieselbe  Entstehung  zuzuschreiben  ist.  Ich  füge  den 
Bericht  über  die  Arbeit  „Einfluß  der  Natur  auf  die 
Religion  in  Mexiko  und  den  Vereinigten  Staaten"  des- 


Religionen  der  Naturvölker  107 

halb  in  diesen  allgemeinen  Teil  ein^  und  bemerke  zugleich, 
daß  sich  hier  wesentliche  Übereinstimmungen  mit  Useners 
Forschungen  über  die  griechisch- westasiatischen  Flutsagen  er- 
geben.^ Die  alten  Mexikaner  und  nördlichen  Indianer  fassen 
Morgen-  und  Abendröte  als  Wasser  oder  als  Wasser  und  Feuer 
bzw.  heißes  Wasser  auf.  Yon  dort  stammt  der  Regen,  und 
alle  Gewässer  der  Erde  sind  Abbilder  davon.  Da  die  Sonne 
beim  Aufgang  hindurch  muß,  so  gebietet  sie  über  den  Regen, 
über  Donner  und  Blitz.  Mit  dem  Wasser  der  Morgenröte  be- 
siegt sie  die  Sterne.  Deshalb  besitzt  das  Wasser  überhaupt 
Zauberkraft.  Anderseits  verfolgen  die  Sterne  die  untergehende 
Sonne  mit  der  Abendröte,  mit  Wasser  und  Feuer,  kochen  sie 
im  heißen  Wasser  usw.  Altmexikanische  Bilder  zeigen  den 
Sonnenball  inmitten  der  Morgenröte,  und  daneben  die  getöteten 
Sterne.  Andere  Darstellungen  geben  an,  daß  sich  das  Wasser 
von  der  Morgen-  zur  Abendröte  durch  die  ganze  Unterwelt 
fortsetzt,  und  diesen  Wasserweg  muß  die  Sonne  täglich  wandern. 
Darauf  beruhen  die  Flutmythen.  In  ihnen  wird  von  der 
Rettung  eines  oder  mehrerer  Menschen  mit  Hilfe  eines  ünter- 
weltstieres  erzählt,  das  das  Sonnenfeuer  bzw.  den  Sonnengeleiter 
in  der  Unterwelt  ^  repräsentiert.  Auch  wird  manchmal  das 
Feuer  mitgenommen.  Die  Rettung  geschieht  oft  in  einem 
engen,  allseitig  verschlossenen  Behälter,  z.  B.  einem  hohlen 
Rohr,  wie  es  der  Wasserfahrt  entspricht,  oder  einem  aus- 
gehöhlten Baumstamm,  dem  Urtypus  der  Arche.  Die  Landung 
geschieht  auf  einem  Berge,  dem  Gegensatz  der  Erde  zur  Unter- 
welt, der  sowohl  im  Osten  wie  im  Westen  durch  einen  jäh 
abfallenden  Berg  gekennzeichnet  ist.  Besondere  Züge  erhält 
die  Flut  dadurch,  daß  sie  im  Frühling  besonders  groß  ist. 
Dann  kommt  die  neue  Sonne  herauf  und  tötet  in  gewaltigem 
Kampf   die    Sterne    des  Winters,    die  Widersacher  der   Sonne, 

^   Zeitschr.  d.   Ges.   für   Erdkunde   zu   Berlin   1905,    S.  361—380, 
431—460. 

2  H.  Usener  Die  Sintßutmythen ,  Bonn  1899.     Besonders  S.  234  ff. 


108  K.  Th.  Preuß 

die  Übeltäter  und  Sünder,  der  mitgebraclite  Same  wird  aus- 
gestreut, die  geretteten  Tiere  entsteigen  der  Arche,  und  die 
Natur  erneut  sich  so.  Die  mitgenommenen  Vögel,  die  öfters 
zur  Untersuchung  der  Wasserfläche  fliegen  gelassen  werden, 
sind  eigentlich  Abbilder  der  Sonne.  Sie  bringen  nach  dem 
Glauben  der  Indianer  durch  ihren  Gesang  oder  ihre  Farbe 
oder  andere  Eigenschaften  das  Sonnenfeuer  hervor  und  sorgen 
ursprünglich  mit  ihren  Schnäbeln  und  Flügeln  dafür,  daß  das 
gewaltige  Wasser  der  Morgenröte  abläuft,  gleichwie  das  im 
Mythus  vom  Sonnengott  geschildert  wird.  Dieselbe  Tätigkeit 
üben  sie  auch  schon  in  der  gleichartigen  Urschöpfung  der 
Erde  aus  dem  Wasser  aus.  Überhaupt  ist  diese  Urschöpfung 
nur  die  Darstellung  der  Neuschöpfung  der  Erde  nach  der  Flut 
und  also  jene  von  dieser  abzuleiten.  Desgleichen  ist  die 
Wasserumgebung  der  Erde,  die  sich  bezeichnenderweise  auch 
bei  vielen  Binnenlandstämmen  findet,  nur  von  der  ursprüng- 
lichen Auffassung  der  Morgen-  und  Abendröte  entstanden.  Wie 
ferner  die  Sonne  inmitten  einer  Flut  aus  der  Erde  kommt, 
oder  ihr  analog  der  in  der  Flut  gerettete  Mensch,  so  lassen 
die  Ursprungserzählungen  der  Indianer  ihren  Stamm  häufig  in 
einem  Wasser  aus  der  Erde  heraufgelangen.  Es  wird  so  z.  B. 
die  Tradition  vom  Ursprung  der  Tolteken,  des  berühmten 
zentralamerikanischen  Kulturstammes,  als  ein  solcher  Sonnen- 
mythus erwiesen. 

Eine  allgemeineres  Interesse  bietende  Arbeit  trotz  ihres 
speziellen  Titels  ist  auch  Paul  Ehrenreichs  Schrift:  Die 
Mythen  und  Legenden  der  Südamerikanischen  Ur- 
völker  und  ihre  Beziehungen  zu  denen  Nordamerikas 
und  der  alten  Welt.^  Wenn  auch  die  Quellen  über  die 
südamerikanischen  Mythen  und  Sagen  nicht  reichlich  fließen, 
so  hat  der  Verfasser  doch  den  Versuch  gemacht,  außer  ihrer 
Aufzählung  nach  Gruppen  (Weltschöpfung;  Kataklysmen,  Flut 


^  Supplement  zur  Zeitschrift  fw  Ethnologie  1905   107  S. 


Religionen  der  Naturvölker  109 

und  Sinbrand;  Himmel  und  Erde,  Entstehung  der  Lebewesen; 
Sonne  und  Mond;  Sterne  und  Sternbilder;  Ahnherren  und 
Heroen)  auch  Erklärungen  über  die  Entstehung  bzw.  Bedeu- 
tung zu  geben,  Sagenkreise  in  Südamerika  aufzustellen  und 
den  Zusammenhang  mit  nordamerikanischen  und  asiatischen 
Sagenelementen  zu  verfolgen.  Dadurch  wird  ihm  Gelegenheit 
gegeben,  seine  Ideen  über  Entstehung  von  Mythen  und  über 
Mythenwanderungen  zu  äußern.  Sein  Standpunkt  darin  ist 
der  eines  verständigen  Eklektizismus  ohne  Aufstellung  durch- 
greifender Grundzüge.  Den  Naturmythen  räumt  er  einen  ziem- 
lich großen  Spielraum  ein,  in  dem  Sinne,  daß  sie  lediglich  eine 
Wiedergabe  des  Geschauten  und  Erfahrenen  in  der  Natur  sind, 
aber  nichts  Allegorisches.  Die  Objekte  spielen  ihre  Rolle  in 
der  Gestalt  von  Menschen  und  Tieren.  Ehrenreich  hat  aber 
keine  auch  nur  einigermaßen  bestimmte  Grenze  der  Natur- 
mythen, sondern  unter  dem  Titel  der  explanatorischen  Mythen 
läßt  er  wunderbare,  die  menschlichen  Verhältnisse  übersteigende 
Vorgänge  einfach  als  Erklärung  von  Sitten,  von  politischen 
Zuständen  eventuell  auch  von  geschichtlichen  Ereignissen  oder 
als  Übertreibung  von  wirklichen  elementaren  Vorfällen  gelten, 
so  daß  diese  Erzählungen  sich  nicht  von  den  Naturmythen 
unterscheiden.  So  seien  die  Amazonensagen  trotz  ihrer  wunder- 
baren Einzelheiten  einfach  als  eine  Art  Rechtfertigung  der 
Männerbünde  entstanden.  Taldurchbrüche  oder  das  Auffinden 
von  marinen  Muscheln  im  Binnenlande  usw.  hätten  die  Sint- 
flutmythen hervorgerufen,  Kampbrände  die  Erzählungen  von 
Weltbränden,  fossile  Tierknochen  zum  Teil  die  Sagen  von 
Riesen,  usf.  Man  darf  sich  aber  nicht  verhehlen,  daß  Erklärungen, 
die  nicht  alle  Einzelheiten  eines  Mythus  aufdecken,  nicht  als 
solche,  sondern  nur  als  Einfälle  gelten  können,  die  zwar 
unserem  Empfinden  entsprechen,  aber  nicht  den  ursprünglichen 
Gedanken  der  Eingeborenen  angemessen  zu  sein  brauchen. 
Eingehende  Untersuchungen  lassen  sich  da  keinesfalls  ent- 
behren:   hie    Rhodus,    hie    salta.     Das    macht    indessen    seine 


110  K.  Th.  Preuß 

Ausführungen  in  keiner  Weise  geringwertiger,  denn  ihm  kommt 
es  in  erster  Linie  auf  eine  kurze  Einführung  in  die  Natur 
und  die  literarischen  Quellen  der  südamerikanischen  Mythen 
an,  die  nur  ganz  kurz  angedeutet  und  mit  einem  Wort  der 
Erklärung  hegleitet  werden.  Soweit  an  anderen  Stellen  der 
Erde  genauere  Untersuchungen  vorliegen,  enthalten  sie  auch 
vieles  Richtige,  namentlich  in  der  Deutung  als  Mondmythen. 
Doch  werden  diese  anderseits  auch  zuweilen  einseitig  heran- 
gezogen. Der  Zerstückelte  ist  z.  B.  in  Griechenland  und  Nord- 
amerika zuweilen  auch  die  Sonne.  ^ 

Während  alle  wunderbaren  Geschichten  an  der  Hand  des 
Zauberglauhens,  d.  h.  des  Kultus  erklärt  werden  müssen,  ist 
es  möglich,  ohne  Rücksicht  auf  die  Entstehung  dieselben  Züge 
auf  bestimmten  geographischen  Gebieten  zu  verfolgen  und  räum- 
liche Zusammenhänge  zu  konstruieren,  sobald  die  Aufeinander- 
folge derselben  Einzelheiten  oder  die  Häufung  von  überein- 
stimmenden Zügen  bei  verschiedenen  Völkern  auftritt.  Für 
Südamerika  stellt  Ehrenreich  besonders  den  Sagenkreis  der  Tupi- 
Guarani,  den  arowakischen  und  den  karaibischen  auf,  sowie  Ak- 
kulturationsgebiete,  in  denen  Einflüsse  von  verschiedenen  Seiten 
vorkommen.  Eine  Tabelle  der  Mythenelemente  bei  den  einzebien 
Stämmen  würde  hier  sehr  nützlich  gewesen  sein.  Sehr  vor- 
sichtig wägt  Ehrenreich  schließlich  ab,  inwieweit  Sagenelemente, 
die  in  Nord-  und  Südamerika  und  zugleich  in  Asien  vorkommen, 
auf  selbständiger  Entstehung  oder  auf  Übertragung  beruhen, 
und  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  eine  ganze  Reihe  von  Mythen 
längs  der  pazifischen  Küste  von  Nord-  nach  Südamerika  ge- 
wandert sind,  z.  B.  die  Geschichte  des  Austausches  von  Exkre- 
menten, oder  das  Motiv  der  Trugheilung.  Die  Verbindung 
zwischen  Ostasien,  Nord-  und  Südamerika  wird  besonders  an 
dem  interessanten  Motiv  der  magischen  Flucht  erörtert,  das 
auch   in    Polynesien   und   Europa   vorkommt.     Alles  in  allem 

^  Vgl.  meine  in  Hbergs  Jahrbüchern  erscheinende  Arbeit  „Der 
dämonische  Ursprung  des  griechischen  Dramas".     (Im  Druck.) 


Religionen  der  Naturvölker  Hl 

erscheint  aucli  in  den  meisten  der  angeführten  Fälle  ein  end- 
gültiges Urteil  ohne  die  Erledigung  der  Entstehungsfrage  nicht 
möglich,  obwohl  eine  Wanderung  immerhin  wahrscheinlich  ist. 
Den  Ausspruch,  daß  die  Göttermythen  des  aztekischen  Pantheons 
Produkte  priesterlicher  Spekulation  sind,  wie  der  Verfasser  be- 
merkt, möchte  ich  hier  noch  zurückweisen:  sie  beruhen,  wie  die 
Grundzüge  der  mythologischen  Bilderschriften,  durchaus  auf 
volkstümlichen  Anschauungen  und  müssen  von  hier  aus  erklärt 
werden.  Alles  in  allem  genommen  ist  die  Schrift  als  erster 
Anfang  freudig  zu  begrüßen. 

Hieran    sei    es    mir    gestattet,    einige    Bemerkungen    zu 
Albrecht    Dieterichs    bedeutsamem    Buche    Mutter   Erde, 
ein   Versuch   über   Volksreligion^    anzuschließen,   obwohl 
es  die  Naturvölker  nicht  anders   als   zu   Parallelen  verwendet 
und    neben    deutschen    und    europäischen    Volksbräuchen    im 
wesentlichen  bei  den  Griechen  und  Römern  verweilt.    Wo  aber 
sollte  die  Idee  des  Ganzen  anders  gewürdigt  werden  können  als 
auf  der  Basis  der  Völkerkunde?    Bezeichnet  doch  der  Verfasser 
selbst  den  Tatbestand  des  religiösen  Denkens  der  Naturvölker 
als  „die  sicherste,   oft  die  einzige  zuverlässige  Grundlage,  auf 
der  einstweilen  gebaut  und  der  erstorbene  Glaube  in  zäh  fest- 
gehaltenen   Volksbräuchen   leibhaftig    geschaut  werden   kann". 
Das  Thema  des  Buches  wendet  sich  offensichtlich  wie  in  den 
!  beiden  vorher  besprochenen  Arbeiten   von  Frobenius  und  mir 
I  dem  „Zeitalter  des  Sonnengottes"  zu,  wo  die  Erde   schon  als 
Ganzes   erfaßt  wurde,  wo  der  auf-  und  untergehende  Sonnen- 
'  ball  sie  zu  einer  Einheit  stempelte,  wo  nicht  mehr  Erde  als 
i  Erde  einen  Zauber  ausübte,  sondern  als  Teil  der  großen  Mutter, 
!  die  die  Gestirne,   die  Pflanzen  und  alles  Lebendige  aus  ihrem 
!  Schöße    gebiert.     Heute    existiert   wohl    sicherlich   kein   Volk, 
i  das  nicht  bis  zu  dieser  Stufe  emporgestiegen  ist.    Der  Wechsel 
I  von  Tag   und   Nacht,    das    Leben   im    Lichte   und   das   unter- 


^  Leipzig  und  Berlin  1905,  VI  und  123  S. 


112  ^-  Th.  Preuß 

irdisclie  Totenreicli  im  AnscKluß  an  den  Sonnenlauf:  das  sind 
verhältnismäßig  frühe  Kombinationen  des  menschlichen  Denkens, 
so  daß  viele  selbständigen,  an  besondere  Objekte  geknüpften 
Zauberideen  von  dieser  großen  Anschauung  absorbiert  werden 
konnten.  Der  Verfasser  durfte  daher  aus  dem  vollen  schöpfen. 
Es  sind  natürlich  vornehmlich  die  Gebräuche,  die  sich  an 
Geburt,  Hochzeit  und  Tod,  also  an  Werden  und  Vergehen 
knüpfen.  Das  neu  geborene  Kind  wie  der  Sterbende  werden 
auf  die  Erde  gelegt.  Das  eine  kommt  aus  der  Erde  heraus, 
der  andere  geht  zur  Wiedergeburt  hinab.  Kleine  Kinder  werden 
nicht  verbrannt,  sondern  begraben,  wahrscheinlich  zur  Er- 
leichterung der  Wiedergeburt.  Erde  verleiht  dem  Kind  Kraft 
und  Fähigkeiten,  macht  den  Kranken  gesund,  erleichtert  dem 
Sterbenden  sein  Leiden.  Die  angeführten  zahlreichen  Belege  für 
die  Anschauung,  daß  die  Kinder  aus  Bächen,  Teichen,  Brunnen 
und  Sümpfen  kommen,  von  wo  sie  zum  Teil  der  Storch  bringt, 
scheint  mir  zweifellos  eine  Analogie  des  Sonnenaufgangs  in 
dem  See  oder  Sumpf  der  Morgenröte,  wie  die  Indianer  sie 
auffassen,  gleichwie  amerikanische  Völker  vielfach  inmitten 
eines  Wassers  aus  der  Erde  auf  diese  Welt  kommen  (vgl.  die 
vorletzte  Besprechung).  Ebenso  gelangt  die  Sonne  auf  ihrer 
ünterweltwasserfahrt  von  der  Abend-  zur  Morgenröte  in  einem 
hohlen  Rohr  oder  hohlen  Baumstamme:  das  Kind  wird  im 
hohlen  Baum  zur  Welt*  gebracht,  gleichwie  die  Sonnensöhne 
bei  den  Hupa  in  Kalifornien  vielfach  im  hohlen  Baume  geboren 
werden.^  Endlich  bedeutet  der  Fels  oder  Stein,  aus  dem  die 
Kinder  kommen,  wohl  den  jäh  zur  Unterwelt  abfallenden  Berg 
im  Osten,  auf  dem  die  Sonne  geboren  und  der  Sonnenheld 
bei  der  Sintflut  gerettet  wird.  Es  mag  die  Eigenschaft  des 
Steines,  den  Funken  zu  erzeugen,  hier  mitgewirkt  haben.  Der 
Funken  ist  das  Abbild  der  Sonne.  Als  Feuergarbe  steigt  der 
peruanische  Viracocha,  die  Sonne,  aus  dem  Felsen  am  Titicaca- 

^  Goddard  The  Hupa  university  of  California  Publications ,  Amer. 
Archeol.  and  Eihnol.  I,  S.  160,  284. 


Religionen  der  Naturvölker  113 

See,  dem  Wasser  der  Morgenröte,  aus  dem  auch  die  Sonnen- 
söhne der  Jnca  stammen.^  Diese  Herkunft  der  Kinder  gleich 
der  Sonne  aus  der  Unterwelt  entspricht  ganz  dem  Umstände, 
daß  auch  die  Toten  der  untergehenden  Sonne  folgen,  und  daß 
selbst  die  Vegetationsgeister  die  Schicksale  der  Sonne  teilen, 
ihr  Eingehen  in  die  Unterwelt  im  Winter  und  ihr  Hervor- 
kommen im  Frühling.^  Auch  die  Hockstellung  der  Toten  gleich 
der  Lage  des  Embryo  auf  die  Wiedergeburt  zu  beziehen, 
erscheint  mir  in  dieser  Verbindung  sehr  der  Beachtung  wert. 
Dieterich  führt  sie  übrigens  nur  in  einer  Anmerkung  an,  um 
alles  Zweifelhafte  möglichst  auszuschalten.  Man  braucht  dabei 
aber  nicht  bloß  an  eine  Auferstehung  als  Mensch  zu  denken, 
sondern  an  den  Zustand  der  Toten,  die  vielfach  als  Sterne 
von  der  Erde  geboren  werden  oder  im  Frühling  mit  der  neu- 
geborenen Sonne  auf  die  Oberwelt  kommen,  wie  in  Griechen- 
land am  Fest  der  Anthesterien  u.  dgl.  m. 

Sehr  fruchtbar  ist  auch  des  Verfassers  Beziehung  phallischer 
Zeremonien  und  Symbole  auf  die  Mutter  Erde.  Durch  phalli- 
schen Analogiezauber  wird  sie  zur  Fruchtbarkeit  gezwungen,  ihr 
Leib  mit  einem  als  Phallus  gestalteten  Pfluge  aufgerissen.  Ein 
anderer  treffender  Gedanke  Dieterichs  geht  dahin,  daß  der  Phallus 
selbst  der  Gott  ist,  der  Wachstum  verursacht,  ein  Augenblicks- 
gott, wie  Usener  sagt,  oder,  wenn  man  will,  eine  zaubernde 
Substanz.  Ich  möchte  sogar  weitergehen  und  annehmen,  daß 
zur  Wirkung  des  Phallus  zunächst  gar  nicht  der  Gedanke  an 
die  Mutter  Erde  lebendig  zu  sein  braucht.  Das  bezeugen 
meines  Erachtens  die  zahlreichen  phallischen  Dämonen,  die 
Nachkommen  von  zauberkräftigen  Menschen,  Tieren  und  anderen 


^  S.  Bandelier  im  American  Anthropologist  1904  und  meine  Be- 
sprecliung  im  folgenden  amerikanischen  Bericht.  Daß  die  europäischen 
und  antiken  Ideen  ebenfalls  Unterweltwasserfahrten  der  Sonnendämonen 
gleich  den  amerikanischen  aufweisen,  habe  ich  in  llbergs  Jahrbüchern 
in  einem  Aufsatz  „Der  dämonische  Ursprung  des  griechischen  Dramas" 
(im  Druck)  kurz  berührt.  ^  A.  a.  0. 

ArchiT  f.  Religionswissenschaft  IX  8 


114  K.  Th.  Preuß  « 

Objekten.  Der  Zauberakt  wirkt  unmittelbar,  weil  erfahrungs- 
gemäß durch  die  Tätigkeit  des  Phallus  Frucht  erzeugt  wird. 
(Vgl.  Globus  85,  S.  358  ff.) 


Amerika 

Nordamerika 

Indianer  der  Nordwestküste.  Obwohl  der  Seiisch- 
stamm der  Siciatl  an  der  Küste  von  Britisch- Columbia  seit  zwei 
Generationen  seine  heidnischen  Gebräuche  aufgegeben  hat,  hat 
Charles  Hill  Tout  während  eines  Aufenthaltes  von  fast  einem 
Monat  im  Jahre  1902  außer  einigen  Mythen  noch  manches 
von  ihren  alten  Bräuchen  in  Erfahrung  bringen  können:  Report 
on  the  Ethnologie  of  the  Siciatl.^)  Wie  bei  den  Seiisch- 
stämmen weiter  im  Inneren  glaubte  man  alle,  die  sich  als 
Jäger,  Fischer,  Krieger,  Läufer  oder  sonst  auszeichneten 
und  besonders  die  Schamanen  im  Besitz  übernatürlicher  Helfer 
(sulia),  die  man  durch  körperliche  Übungen  und  langes 
Fasten  erwarb.  Einige  von  den  Kindern,  aus  denen  man 
große  Jäger  machen  wollte,  wurden  in  kastenähnlichen  Ver- 
schlagen abgesondert,  und  nie  durfte  ihnen  das  Haar  ge- 
schnitten werden.  Eine  Umdeutung  hat  meines  Erachtens  bereits 
das  frühere  teilweise  Fasten  der  Knaben  und  Mädchen  während 
zehn  Tagen  bei  der  Pubertät  erfahren,  das  in  einem  Räume  über 
dem  Familienbette  stattfand:  der  Knabe  sollte  sich  auf  die  Ent- 
behrungen des  Jägerlebens  vorbereiten  und  Anlagen  zu  wol- 
lüstigem Leben  vertreiben.  Das  Mädchen  aber  sollte  auf  diese  Weise 
dazu  erzogen  werden,  daß  es  seinem  zukünftigen  Manne  nicht 
die  besten  Bissen  wegnehme.  Merkwürdigerweise  war  hier  von 
den  vielen  geheimen  Gesellschaften  der  benachbarten  Kwakiutl 
nichts  zu  merken,  obwohl  zwei  von  den  vier  Unter- 
abteilungen der  Siciatl  von  den  Kwakiutl  stammen  sollten. 
Dadurch  wird  Boas  Ansicht  bestätigt,  daß  die  Kwakiutl  diese 

1  Journal  of  the  Änthrop.  Inst,  of  Ch'eat  Brit  XXXIV  (1904)  S.  20—91. 


Religionen  der  Naturvölker  j^j^5 

• 

Einrichtungen  erst  in  späterer  Zeit  bekommen  haben.  Von 
I  den  Mythen  ist  eine,  „die  Sonnenmythe"  von  den  Thompson- 
!  indianern  des  Inneren  herübergewandert. 

Kalifornische  Indianer.  Sehr  tatkräftig  wird  nun  auch 
j  die  Erforschung  der  kalifornischen  Stämme  in  Angriff  genommen, 
I  besonders  nachdem  sich  die  Universität  von  Kalifornien  in 
Berkeley  dieser  Studien  angenommen  hat.  Aus  dieser  Tätigkeit 
ist  das  aus  zwei  Teilen  bestehende  Buch  über  den  Athabasken- 
stamm  der  HupavonPliny  Earle  Goddard,  Life  and  Culture 
of  the  Hupa  und  Hupa  Texts^  hervorgegangen.  Der  Ver- 
fasser hat  sich  über  drei  Jahre  1897—1900  in  der  Hupatal- 
Reservation  aufgehalten  und  auch  später  einige  Reisen  dorthin 
unternommen.  Das  zur  Religion  zu  rechnende  Material  wird 
hauptsächlich  unter  den  Abschnitten  Diseases  and  their  Cures, 
Burial  Customs  und  Religion  vorgetragen.  In  gedrängter 
Kürze  reiht  der  Verfasser  eine  Menge  eigentümlicher  Sitten 
und  Anschauungen  auf,  die  durchsichtig  genug  sind,  um  keinen 
Zweifel  über  die  Entstehung  aufkommen  zu  lassen.  Der  Schmerz 
ist  eine  Substanz,  und  das  bemerkbare  Ergebnis  einer  Krank- 
heit ist  zugleich  das  -  Objekt,  mit  dem  das  betreffende  Glied 
kämpft.  Ist  z.  B.  ein  Fuß  geschwollen,  so  heißt  es,  etwas 
kämpft  mit  dem  Fuße.  An  allerhand  Orten  wohnen  Substanzen, 
die  sich  zum  Teil  bewegen  können  oder  kleinen  Menschen 
ähneln,  und  diese  verursachen  bestimmte  Krankheiten.  Der 
tanzende  Schamane  stellt  die  Krankheit  und  ihre  Ursache  fest, 
der  „saugende'^  beseitigt  sie.  Vielfach  werden  Medizinen  ge- 
braucht, wobei  aber  das  Aussprechen  von  Zauberformeln,  die 
auf  die  erste  Heilung  Bezug  haben,  das  Wichtigste  ist.  Haupt- 
mittel zur  Vertreibung  von  Krankheiten  sind  bestimmte  Tänze, 
zu  deren  Ausführung  wiederum  eine  Zauberformel  gehört.  Wer 
sie  kennt,  führt  den  Tanz  der  übrigen  an.  Bei  den  Begräbnissen 
ist^esonders  die  Reinigung  des  nächsten  Verwandten  interessant, 

^  University  of  California  PuNications.    American  Archaeology  and 
Ethnology  I  Berkeley  1903—1904.  378  S. 


IIQ  K.  Th.  Preuß 

der  den  Leiclinain  besorgt  und  das  Grab  gräbt.  Ein  Priester 
sagt  den  Reinigungszauber  über  einem  Korbe  Medizin  her.  Die 
Formel  erzählt  von  dem  ersten  Tod  und  Begräbnis,  von  der 
Furcht  des  Volkes  vor  dem  Vater,  der  sein  Kind  begraben  hat 
und  von  des  Vaters  Suchen  nach  einer  Medizin,  um  den  Körper 
wieder  herzustellen.  Wenn  nachher  der  Priester  die  Medizin 
auf  den  Verunreinigten  anwendet,  sagt  er:  „dieses  wird  deinen 
Körper  neu  machen,  du  wirst  wieder  Glück  auf  der  Jagd,  beim 
Fischfang  und  beim  Spiel  haben."  Kurz,  aus  diesem  und  allen 
anderen  Reinigungsgebräuchen  der  Hupa  geht  die  Uranschauung 
von  dem  Einfluß  des  Leichnams  auf  die  Angehörigen  und  der 
Ursprung  der  Trauergebräuche  als  Abwehrmaßregel  gegen 
diesen  Einfluß  klar  hervor. 

Über  die  Gottheiten  erzählt  Goddard  nur  einiges  aus- 
zugsweise, was  nachher  im  zweiten  Teil  unter  den  Mythen 
folgt.  Man  sieht  so  recht,  wie  wenig  die  praktische  Religion, 
der  Kult,  mit  diesen  Gottheiten  zu  tun  hat.  Es  sei  nur  er- 
wähnt, daß  die  weniger  heilbringenden  Gestalten  viele  Sonnen-i 
Schicksale  aufweisen,  z.  B.  die  Geburt  im  hohlen  Baum,  dag 
schnelle  Heranwachsen  usw.  Auch  eine  Flut  zur  Vertilgung  der 
schlechten  Menschen  —  d.  h.  also  der  Sterne  beim  Aufgehen  dei 
Frühlingssonne  —  fehlt  nicht.  Sehr  bemerkenswert  ist  die 
Anschauung,  daß  Rauch  auf  den  Bergen  erschien,  zur  Zeit  aL 
der  Held  oder  die  Indianer  auf  die  Welt  kamen.  Ich  glaube,  mar 
muß  auch  dieses  der  Sonnengeburt  im  Wasser  oder  im  Wassei 
und  Feuer  der  Morgenröte  an  die  Seite  stellen,  welch  ersteref 
beim  Heraufkommen  der  Völker  auf  die  Erde  gleichfalls  auf 
tritt.  Bevor  das  Feuer  (der  Sonne)  erscheint,  muß  zuerst  de] 
Rauch  sichtbar  sein.  Und  daß  alte  Menschen  früher  durcl 
ein  Schwitzbad  wieder  die  Jugend  erhielten,  entspricht  de] 
Erzählung  von  dem  im  heißen  Wasser  —  d.  h.  dem  heißer 
Wasser  der  Morgenröte  —  gekochten  Sonnenhelden  in  Amerika 
wodurch  sie  sich  erst  als  Soimensöhne  erweisen  und  zugleicl 
von  allen  Gebrechen  frei  werden. 


j  Religionen  der  Naturvölker  117 

Die  Kapitel  über  Feste  und  Tänze  rechnet  Goddard  mit 
liecht  ohne  weiteres  der  Religion  zu.  Die  ersteren  haben  den 
Zweck,  für  Lebensmittel  an  Tieren  und  Früchten,  für  warmen 
Regen  und  Wind,  für  das  Aufhören  des  Frostes  oder  un- 
günstigen Regens  u.  dgl.  m.  zu  sorgen,  die  Tänze  sollen  unter 
inderem  Krankheit  und  Unheil  abwenden.  Obwohl  die  Feiern 
aicht  mehr  in  voller  Kraft  bestehen,  hat  der  Verfasser  doch 
manche  Einzelheiten  über  den  Verlauf  beibringen  können,  die 
zum  Teil  in  den  Texten  des  zweiten  Teiles  durch  die  ausführliche 
Niederschrift  der  Zauberformeln  weitere  Beleuchtung  erfahren, 
[m  Frühling  z.  B.  wird,  bevor  überhaupt  Lachse  gefangen  sind, 
mit  dem  ersten  Lachs  eine  „Medizin"  vorgenommen,  um  Über- 
fluß an  gutem  Lachs  und  so  Nahrung  jeder  Art  zu  erlangen 
und  diesen  zu  weihen,  damit  Menschen  und  Tiere  mit  geringer 
Menge  gesättigt  würden.  Eine  lange  Zauberformel  wird  über 
dem  Lachs  ausgesprochen,  die  von  der  Schaffung  des  ersten 
Lachses,  seiner  Reise  vom  Fluß  in  den  Ozean  und  zurück, 
dem  Töten,  Kochen  und  Essen  desselben  erzählt  und  alle  Ge- 
setze erwähnt,  die  mit  Fischen  und  Lachsen  in  Zusammenhang 
stehen.  Man  sieht,  wie  hier  die  mythische  Zeit  und  die  Götter 
wie  bei  fast  allen  Formeln  der  Art  hineingezogen  werden,  ob- 
wohl die  Zauberwirkung  eigentlich  in  der  bloßen  Aufzählung 
ider  Tatsache  des  früheren  Entstehens,  Fangens,  Zerlegens, 
Kochens,  Essens  usw.  des  Lachses  liegt.^ 

Von  den  Texten,  die  im  Original  mit  Literlinear-  und 
freier  Übersetzung  gegeben  sind,  behandelt  der  kleinere  Teil 
fvon  etwa  100  Seiten  Mythen,  in  denen  die  Gestalten  der 
i Götter  vorkommen,  und  Erzählungen,  der  größere  aber  von 
160  Seiten  bezieht  sich  auf  die  Tänze  und  Feste  und  bildet 
so  ein  ungemein  wichtiges  Material  zum  Verständnis  des  Kultus. 
iDie   zahlreichen   Zaubersprüche    darunter   beziehen    sich   nicht 

^  Ygl.  auch  zur  Erklärung  das  über  die  Behandlung  der  Hirsche 
bei  den  Hupa  Gesagte  (vorher  bei  der  Besprechung  von  Beck,  die  Nach- 
:  ahmung). 


118  K.  Th.  Preuß 

nur  auf  die  Heilung  von  Krankheiten,  auf  Feste  und  Tänze, 
sondern  es  gibt  solche  für  die  Mutter  bei  der  Geburt,  für  das 
Kind,  für  das  Überscbreiten  eines  Flusses  bei  Hochwasser,  für 
Jagd  und  Fischfang,  für  das  Korbflechten,  für  alle  Arten  von 
Spielen,  für  Liebeszauber  usf.  zur  Abwehr  jedes  Übels  und  zur 
Erlangung  jedes  Erfolges. 

Dem  Goddardschen  Buche  an  Bedeutung  völlig  an  die 
Seite  zu  stellen  ist  die  umfangreiche  Arbeit  von  Roland  B. 
Dixon  „The  Northern  Maidu"^,  wo  das  Wesentliche  über 
die  Religion  in  dem  ebenso  betitelten  Abschnitt  (S.  259 — 333) 
und  unter  „Mythology^'  (S.  333 — 346)  erwähnt  ist.  Außerdem 
sind  die  eigentümlichen  Beschränkungen  für  Mann  und  Frau 
bei  der  Schwangerschaft  und  Geburt  des  Kindes  bemerkenswert 
(vgl.  Couvade);  ferner  die  umständlichen  Pubertätszeremonien 
der  Mädchen  (Fasten,  Tänze,  Singen,  Ohrdurchbohren,  Bemalen 
der  Wangen,  Bad  usw.),  während  die  Bjiaben  nichts  derart 
durchmachen,  und  die  Totengebräuche,  insbesondere  die  Un- 
reinheit der  Angehörigen,  die  die  Leiche  zubereitet  haben,  und 
die  jährliche  Yerbrennungszeremonie  im  Herbst,  wobei  ei 
Unmenge  wertvollen  Eigentums  als  Gabe  für  den  Toten  v " 
brannt  wird,  und  zwar  während  mehrerer  aufeinanderfolgender 
Jahre.  Die  nordwestlichen  Maidu  dagegen  veranstalten  die 
Feier  nur  für  die  einzelne  Person  ein  oder  zwei  Jahre  nach 
ihrem  Tode.  Manchmal  wird  der  Tote  dabei  durch  eine  Puppe 
dargestellt,  wenn  er  Mitglied  der  Geheimgesellschaft  oder  — 
bei  einer  Frau  —  wenn  sie  reich  war.  Beerdigung  ist  übrigens 
vorherrschend,  nur  bei  den  nordwestlichen  Maidu  kommt  da- 
neben auch  Verbrennung  vor.  Die  Hütte  des  Verstorbenen 
wird  verbrannt.  —  Die  Seele  besucht  vor  ihrer  Abreise 
nach  dem  Totenland  alle  Plätze,  auf  die  der  Lebende  gespuckt 
hat,  und  wiederholt  mit  großer  Geschwindigkeit  alle  Taten 
ihres  Lebens  (Sacramentotal).     Bei   den  nordwestlichen  Maidu 

^  Bulletin  of  the  American  Mus.  of  Nat.  History  XVII,  S.  119—346. 
New  York  1905. 


Religionen  der  Naturvölker  119 

geht  sie  nacli  Osten  zum  himmlisclien  Tal,  die  Milchstraße  ist 
der  Totenweg.    Der  am  Nachmittag  Sterbende  folgt  der  Sonne 
durch   die    Unterwelt   nach    Osten.      Die  Welt   schwimmt   auf 
dem  Wasser,  ist  aber  an  fünf  Seilen  verankert,  augenscheinlich 
damit    die    Sonne    auf  ihrer    unterirdischen    Wasserfahrt    von 
Westen  nach   Osten  ungehindert  hindurch  kann.  —  Eine  Ur- 
Sintflutsage   berichtet   von  dem  Kampf  des  Schöpfers  (meines 
Erachtens    die   Sonne)    mit    dem    Coyote,    seinem    Mitschöpfer 
(meines  Erachtens  das  unterirdische  Feuer,   die   Sterne^).     Der 
Schöpfer   sucht   ihn   vergeblich   durch  eine  Flut  (die  Morgen- 
röte) zu  vernichten,  wobei  sich  ersterer  selbst  und  die  Seinen 
auf  einem  steinernen  Kanu  rettet.  —  Es   folgt  der  Abschnitt 
über  den  Schamanismus.    Es  gibt  an  den  westlichen  Abhängen 
der    Sierra    Nevada    (foot    hill    tribe)    heilende    (durch    Aus- 
saugen usw.)  und  träumende  Schamanen,   die   im  Traume   mit 
Greistern   verkehren.     Die    „Träumer"   halten   Winterversamm- 
lungen  im   Tanzhaus,   früher   auch  einen  jährlichen  Tanz,  ab, 
bei  dem    einer   den   anderen  durch  Zaubertanz   zu  überwinden 
suchte.     Sie   schleuderten  (unsichtbare)  Gifte  mit  den  Händen 
und  vermittelst  starken  Atmens.     Bei  den  nordöstlichen  Maidu 
muß  der  Sohn  nach  dem  Tode  seines  Vaters,  falls  er  Schamane 
gewesen  ist,  ebenfalls  Schamane  werden,  denn  ihn  besuchen  in 
den  Träumen  fortwährend  die  Geister,   von  denen  schon  seine 
Vorfahren   träumten,   und    würden   ihn    töten,    wenn    er    sich 
ihnen   nicht   freundlich   erwiese    und    sich    mit  ihnen  einließe. 
Die  Vorbereitungen,    um    Schamane    zu    werden,    bestehen   in 
rastlosem  Tanzen,  um  die  Geister  zu  gewinnen,  in  dem  Durch- 
bohren der  Ohren,   worauf  der  Novize  auf  die  Berge  träumen 
geht,  u.  dgl.  m.  —  Sehr  wichtig   sind   die    Tänze.     Tiertänze, 
bei   denen    die    Tiere    in    Bewegung   und   Lauten   nachgeahmt 
werden,  kommen  besonders  bei  den  nordwestlichen  Maidu  vor. 
Die  Tänzer  tragen  die  Haut  des  Tieres  oder  Schmuck,  die   es 

^  Vgl.  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Erdkunde,  Berlin  1905,   S.  384  ff.,    und 
meine  Besprechung  vorher. 


120  K.  Th.  Preuß 

charakterisieren.  Einige  Tänze,  wie  der  Hirsch-,  Enten-  und 
Schildkrötentanz,  sollen  zur  Yermelirung  der  betreffenden  Tiere 
beitragen.  Auch  Anrufungen  der  Tiere,  sieb  zu  vermehren, 
scheinen  dabei  vorzukommen.  Der  Bärtanz  soll  das  Tier  an- 
geblich besänftigen  und  von  Angriffen  auf  die  Jäger  abhalten. 
Der  ä'ki-Tanz  im  Sacramentotal,  obwohl  kein  Tiertanz,  dürfte, 
wie  der  Verf.  meint,  denselben  Zweck,  Nahrungsfülle  zu  er- 
langen, haben.  Bei  diesem  wird  nämlich  in  derselben  Weise 
an  den  Hauptpfosten  der  Hütte  geklopft,  wie  die  Zweige  der 
Eichen  beim  Einsammeln  der  Eicheln  im  Herbst.  Weiter 
treten  allerhand  mythologische  Wesen  bei  den  Tänzen  auf  und 
werden  in  der  Tat  als  gegenwärtig  dabei  gedacht.  Die  Tänze 
finden  nur  im  Winter  statt.  In  der  Sacramentotal- Region 
besteht  z.  B.  eine  regelmäßige  Tanzsaison,  die  von  Oktober  bis 
April  oder  Mai  dauert.  Eine  sehr  merkwürdige  Persönlichkeit 
bei  den  Tänzen  ist  der  Clown,  der  die  Worte  und  Bewegungen 
des  Leiters  wiederholt  und  trotz  seiner  steten  Bemühungen, 
die  Zuschauer  zum  Lachen  zu  bringen,  sehr  wichtig  für  die 
religiöse  Bedeutung  der  Tänze  ist.  Sogar  in  dem  Schöpfungs- 
mythus spielt  er  eine,  wenn  auch  geringere  Rolle.  Seine 
charakteristische  Beschäftigung  ist  fortwährendes  Essen.  Leider 
hat  Dixon  die  Tänze  selbst  nicht  mehr  studieren  können,  da 
sie  nicht  mehr  ausgeführt  werden,  sondern  mußte  sich  mit 
den  Beschreibungen  begnügen,  die  er  möglichst  ausführlich 
wiedergibt. 

Im  Sacramentotal  und  bei  den  foot-hill-Maidu  besteht  eine 
sehr  wichtige  geheime  Gesellschaft,  in  die  Knaben  etwa  im 
Alter  von  15  Jahren  unter  Fasten  und  Zeremonien  aufgenommen 
wurden.  Dabei  erhielten  sie  zugleich  einen  neuen  Namen. 
Jetzt  ist  die  Institution  freilich  zum  größten  Teil  zerfallen. 
Die  Führer  der  Gesellschaften  waren  auch  die  Führer  jedes 
Ortes  und  wurden  vom  Leiter  der  Wahl,  dem  bedeutendsten 
Schamanen,  durch  Träumen  festgestellt.  Er  hatte  den  Platz 
zu  wählen,  wo  Eicheln  gesammelt  werden   soUten,   nahm   den 


Religionen  der  Naturvölker  121 

hervorragendsten  Anteil  in  den  Kriegen,  hatte  Regen  zu  machen, 
für  gute  Ernte  an  Eicheln  und  reichen  Lachsfang  zu  sorgen, 
böse  Geister  und  Krankheit  abzuwehren  und  durch  Zauber 
Krankheit  und  Tod  in  die  Dörfer  der  Feinde  zu  schaffen  usw. 

Die  Religion  der  Kalifornier,  besonders  im  Mythus,  be- 
rührt auch  A.  L.  Kroeber  in  der  Arbeit  „Types  of  Indian 
Culture  in  California^'.^  Da  der  Verf.  in  seinen  früheren 
Schriften  Originalmaterial  von  einer  Reihe  verschiedener  nord- 
amerikanischer  Stämme  gesammelt  und  herausgegeben  und  sich 
zuletzt  besonders  mit  den  Kaliforniern  beschäftigt  hat,  so  ist 
er  besonders  dazu  befähigt,  die  charakteristischen  Unterschiede 
der  Stämme  zu  erfassen  und  so  die  Eigentümlichkeiten  der 
Kalifornier  herauszuheben,  z.  B.  die  allgemeine  Anwendung  der 
Zauberformeln,  die  einfach  den  gewünschten  Vorgang  aus 
mythischer  Zeit  herzählen,  das  Fehlen  von  Geheimgesellschaften 
und  Jünglingsweihen,  bestimmte  mythische  Züge  u.  dgl.  m. 
Freilich  sind  die  Unterschiede  nur  äußerlich  gehalten,  wie  es 
ohne  allseitiges  Verständnis  der  Entwickelung,  das  noch  nicht 
vorliegt,  nicht  anders  sein  kann. 

Algonkinstämme.  Mary  Alicia  Owens  Buch  „Folk- 
lore of  the  Musquakie  Indians  (d.  h.  der  See  and  Fox) 
of  North  Amerika"^  enthält  besonders  in  dem  Kapitel  VI 
„Die  Tänze"  manches  Neue.  Aber  auch  die  Schöpfungs-  und 
Sintflutsagen  (in  I  und  V),  die  Kapitel  über  Geburt  und  Kind- 
heit (VII),  Pubertät  (VIII),  Tod,  Begräbnis  und  Geistforttragen  (X) 
geben  der  Religionswissenschaft  gutes  Material.  Auch  hier  ist 
aber  alles  der  letzte  Rest  dessen,  was  sich  aus  früherer  Zeit 
erhalten  hat.  Der  „Religionstanz",  der  wichtigste,  aber  angeb- 
lich der  jüngste  Tanz,  soll  u.  a.  die  Erinnerung  an  die  Rück- 
kehr   der   Vorfahren   von   der   katholischen   Religion   zu   dem 


^  Universüy  of  California  Puhlications,  Ämer.  Arch.  and  Ethnol.  II 
S.  81—103. 

^  Publications  of  the  Folklore  Society  LI,  London  1904.  IX  und 
147  Seiten. 


122  K-  Th.  Preuß 

alten  Grlauben  der  Väter  darstellen  und  zugleich  den  Übergang 
von  der  Verehrung  der  Tiere  als  Hauptprinzip  zu  der  An- 
betung Geecbee  Manitoabs,  des  Sonnengottes.  Es  mögen  in 
der  Tat  vielleicbt  christliche  Einflüsse  zu  dem  schärferen 
Hervortreten  monotheistischer  Ideen  geführt  haben.  Doch 
kann  dieses  4,  7  oder  21  Tage  währende  Fest,  an  dem  ein 
weißer  Hund,  in  Nordamerika  vielfach  das  Abbild  des  Feuers, 
unter  Zeremonien  getötet  und  verzehrt  wird,  sehr  wohl  in 
hohes  Altertum  zurückreichen.  Es  scheint  immer  im  Hoch- 
sommer stattgefunden  zu  haben  —  die  Angabe  ist  nicht  genau. 
Die  übrigen  Tänze  zeigen  jedenfalls  unverfälschten  Urglauben. 
Vor  dem  Pflanzen  des  Maiskorns  z.  B.  tanzt  man  durch  die 
Felder,  und  ein  junges  Mädchen  pflanzt  ein  paar  Körner  eines 
vollkommenen  Maiskolbens.  Diesem  Mädchen  wurde  früher 
ein  Gatte  mit  ins  Feld  gegeben,  und  Kinder,  die  neun  Monate 
nach  diesem  zeremoniellen  Kornpflanzen  geboren  wurden,  galten 
als  große  Propheten.  Heute  ist  der  Tag  eine  beliebte  Zeit  für 
Hochzeitsfeiern.  Wie  der  „Tanz  des  Kornpflanzens"  zur  Be- 
förderung des  Wachstums  der  Felder  ausgeführt  wird,  so  war 
der  Bärtanz  der  jungen  Leute  verbunden  mit  der  Bärenjagd, 
die  die  Jagd  auf  alles  größere  Wild  einleitete,  ein  Mittel,  um 
auch  die  anderen  Jagdtiere  tödlich  zu  treffen.  Denn  der  Bär 
war  eine  mächtige  Medizin.  Er  wurde  bis  auf  den  Skalp  voll- 
ständig verbrannt.  Der  Büffeltanz  im  Herbst  zog  desgleichen 
die  Büffel  an.  Diese  wurden  durch  Zaubergesänge  eingeladen 
zu  erscheinen  und  sich  töten  zu  lassen.  Die  Verf.  zählt  noch 
eine  ganze  Reihe  anderer  Tänze  auf,  doch  sind  sie  zum  größten 
Teil  unverständlich  geworden,  dürften  aber  durch  Vergleichung 
mit  den  Tänzen  anderer  Stämme  wichtig  werden.  Die  um- 
ständlichen Pubertätsgebräuche  erzählen  von  neuntägigem 
Fasten  und  Träumen  des  Kandidaten  in  den  Wäldern,  um  eine 
gute  Medizin  zu  erlangen,  von  früher  geübtem  Auspeitschen 
durch  die  Häuptlinge,  von  der  Zauberbärenjagd  und  dem 
Bärentanz,  aber  auch  von  bloßen  Geschicklichkeitsproben  u.  dgl. 


Religionen  der  Naturvölker  123 

Das  Fest  scMießt  mit  dem  „R^ligi^nstanz",  nach  dessen  Schluß 
um  Mitternacht  sie  schlafen,  um  als  Männer  zu  erwachen.  Das 
Geistaustragen  nach  einem  Todesfall  besteht  darin,  daß  einer 
die  Rolle  des  Verstorbenen  spielt  und  schließlich,  begleitet 
von  einer  Schar  junger  Leute,  einige  Meilen  westwärts  reitet. 
Er  behält  den  Eltern  des  Verstorbenen  gegenüber  den  Namen 
ihres  Sohnes  und  ist  ihnen  zur  Hilfeleistung  verpflichtet.  — 
Auch  unter  den  am  Schlüsse  des  Werkes  beschriebenen  Ge- 
räten sind  manche  für  Zauberei  und  Religion  von  Wichtigkeit. 
Schon  zu  den  Präriestämmen  führt  uns  Alfred  L.Kroebers 
Abhandlung  „The  Arapaho:  III  Social  Organisation"^, 
die  sehr  interessantes  Material  über  die  religiösen  Gesellschaften 
bringt,  wie  es  in  solcher  Ausführlichkeit  von  keinem  der 
Präriestämme  existiert  und  wohl  auch  kaum  noch  zu  erlangen 
sein  wird.  Der  Verf.  selbst  hat  die  Zeremonien  nicht  mehr 
gesehen,  da  sie  seit  dem  Jahre  1898  nicht  weiter  vorgenommen 
wurden,  sondern  gibt  seinen  Bericht  nach  den  Erkundungen 
bei  den  Indianern  und  den  noch  vorhandenen  Abzeichen  bei 
den  Tänzen.  Die  Hauptzeremonien  zerfallen  in  den  Sonnen- 
tanz, der  hier  ganz  kurz  erwähnt  ist,  und  den  wir  noch  aus 
dem  ausführlichen  Buche  von  Dorsey  weiter  unten  näher 
kennen  lernen  werden,  und  in  die  Reihe  der  von  den  Alters- 
genossenschaften aufgeführten  Tänze,  an  denen  nur  die  Mit- 
glieder teilnehmen  dürfen.  Diese  sind  nicht  durch  bestimmte 
Weihen,  durch  gemeinsame  Träume  oder  den  Besitz  eines  be- 
stimmten Geistes,  kurz  durch  mystische  oder  religiöse  Ein- 
sichten ausgezeichnet,  sondern  es  ist  eine  Stammesorganisation 
dem  Alter  nach,  der  wir  nichtsdestoweniger  einen  Ursprung 
aus  zauberischen  Motiven  werden  zuschreiben  müssen.  Denn 
es  geht  meines  Erachtens  klar  aus  den  Einzelheiten  hervor, 
daß    die   Mitglieder   durch   die   Zeremonien  besondere  Zauber- 

^  Bulletin  of  the  Ämer.  Mus.  of  Nat  History,  New  York  XVIII, 
S.  151—230.  1904.  Die  ersten  beiden  Teile  (a.  a.  0.  S.  1—150.  1902) 
führen  die  Titel  General  Description  und  Decorative  Art  and  Symholism. 


124  K.  Th.  Preuß 

kräfte  erlangen  wollen,  wenn  auch  die  Organisation  mehrfach 
praktische  Zwecke  angenommen  hat  und  innerhalb  jeder  Ge- 
nossenschaft besondere  Rangstufen  für  wenige  ausgezeichnete 
Mitglieder  existieren,  nicht  nur  als  Auszeichnung  für  Helden- 
taten, sondern  als  Verpflichtung  zu  neuen.  So  dürfen  die  drei 
höchsten  Rangstufen  der  Hundegesellschaft  selbst  bei  der 
drohendsten  Gefahr  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  fliehen. 

Die  beiden  jüngsten  Klassen  der  Knaben  und  Jünglinge 
(der  kit  fox  men  und  stars)  haben  wenig  Bedeutung.  Außer 
ihnen  gibt  es  sechs  Genossenschaften  bzw.  Tänze  oder  lodges 
(nach  dem  Ort  der  Zeremonien)  der  Männer  und  eine  der 
Frauen.  Davon  sind  die  Männer  der  dritten  Gruppe,  der  fool 
lodge,  etwa  40  Jahre  alt,  die  der  vierten  oder  dog  lodge  50, 
die  der  sechsten  umfassen  die  ältesten  Jahrgänge,  in  denen 
sich  das  Heiligste  des  ganzen  Stammes  verkörpert,  die  den 
anderen  lodges  Anweisungen  geben  und  während  ihrer  eigenen 
viertägigen  Zeremonien  nicht  tanzen,  sondern  in  ihrer  großen 
Schwitzhütte  unter  Fasten  singen  und  schwitzen. 

Die  Zeremonien  können  nur  auf  folgende  Weise  in  Gang 
gebracht  werden.  Wenn  ein  Mitglied  einer  Gesellschaft  krank 
oder  in  Gefahr  ist,  so  kann  er  geloben,  einen  Tanz  der  nächst 
älteren  Genossenschaft  abzuhalten,  falls  er  das  entsprechende 
Alter  hat.  Ist  er  wieder  gesund,  so  verkündet  er  sein  Gelübde, 
und  es  wird  eine  Sache  seiner  Gesellschaft.  Die  Tänzer  wählen 
ältere  Leute  als  „Großväter",  die  ihnen  unter  Aufzählung  einer 
Heldentat  ihre  vorschriftsmäßige  Tanzausrüstung  geben,  sie 
bemalen  und  ihnen  bei  den  Zeremonien  assistieren.  Der  Tanz 
der  ersten  lodge  (tomahawk- lodge)  hat  Beziehung  zu  den 
Büffeln.  Die  Tomahawks  in  ihrer  Hand  stellen  zugleich 
Waffen  und  Büffel  dar,  und  ebenso  bezieht  sich  ihre  Körper- 
bemalung  darauf.  Der  zweite  Tanz  symbolisiert  den  Donner. 
So  soll  z.  B.  die  schläfrige  und  dann  wieder  wilde  Art  des 
Tänzers  vom  höchsten  Range  darauf  hinzielen.  Die  Schnitzerei 
auf    seiner    Keule    stellt    den    Donnervogel    dar.     Die    langen 


Religionen  der  Naturvölker  125 

Adlerschwungfedern,  die  am  Ende  angeknüpft  sind,  bedeuten 
den  Blitz.  Der  Regen,  der  dem  Aufwärtsrichten  der  Keule 
folgt,  wird  als  Ergebnis  des  erzürnten  Donners  angesehen  usw.- 
Die  dritte  Gresellschaft  der  crazy  lodge  führen  einen  Tanz  mit 
bloßen  Füßen  durch  das  Feuer  auf,  gelten  darauf  als  Verrückte 
und  benehmen  sich  so  närrisch  wie  möglich.  Eine  Wurzel, 
die  sie  an  einen  ihrer  Pfeile  und  an  Stellen  ihrer  Kleidung 
gebunden  haben,  macht  sie  angeblich  sehr  behende  und  gibt 
ihnen  die  Macht,  Menschen  und  Tiere  zu  lähmen.  Ihre  Narr- 
heit ist  von  dem  Tragen  eines  Kopfbandes  aus  Eulenfedern 
abhängig,  mit  denen  auch  ein  angeblich  Gelähmter  durch 
Reiben  wieder  geheilt  werden  kann.  Der  Inhaber  des  höchsten 
Ranges  in  dieser  lodge,  der  „weiße  Narr",  betete  zu  seinen 
Abzeichen,  als  er  sie  verkaufte,  und  sagte,  sie  möchten  daran 
denken,  daß  er  sie  nicht  nur  des  Geldes  wegen  verkaufe, 
sondern  weil  sie  an  einem  besseren  Orte  aufbewahrt  würden. 
Ihr  Schatten  werde  in  seinem  Zelte  bleiben,  und  ihre  Lehren 
in  seinem  Herzen.  Dafür  bat  er  sie,  daß  er  und  seine  Ver- 
wandten gesund  bleiben  und  Glück  haben  möchten.  Die  vierte 
lodge,  die  Hundegesellschaft,  hat  als  obersten  den  „zottigen 
Hund".  Dieser  muß  immer  jemand  haben,  der  ihn  zu  allem 
durch  Schläge  wie  einen  Hund  antreibt.  Die  zweite  Rangstufe 
trägt  unter  anderem  eine  Schärpe,  an  deren  Seite  in  regel- 
mäßigen Abständen  Adlerfedern  befestigt  sind.  Sie  bedeuten 
Hundehaar  und  machen  den  Träger  im  Kampfe  leicht  und 
schnell.  Die  fünfte  Gesellschaft,  zu  denen  also  alte  Männer 
gehören,  hopsen  im  Kreise  und  ahmen  Präriehühner  nach  und 
schreien  wie  diese.  Ihr  Gesang  bezieht  sich  auf  diese  Tiere. 
Wenn  die  Sonne  aufgeht,  verlassen  sie  die  Wohnung  nach 
allen  Richtungen  und  schütteln  ihre  Decken,  ganz  wie  die 
Vögel  am  Morgen  mit  den  Flügehi  schlagen. 

Es  ist  klar,  daß  in  allen  diesen  Fällen  die  Kräfte  gewisser 
zauberkräftiger  Substanzen  —  von  Tieren  und  anderem  —  auf 
die  Menschen  übertragen  werden,  und  es   ist  Sache  der  Ver- 


126  K.  Th.  Preuß 

gleicliung,  die  Vernunft  in  jedem  einzelnen  dieser  wunderliclien 
Angaben  herauszufinden  oder  wenigstens  zu  ahnen.  Nun  fügt 
es  sich  sehr  günstig,  daß  gleichzeitig  sehr  umfangreiches 
authentisches  Material  über  die  Anschauungen  der  Arapaho  in 
dem  Buche  von  George  A.  Dorsey  „The  Arapaho  Sun 
Dance:  the  Ceremony  of  the  Offerings  Lodge"^  ver- 
öffentlicht ist.  Der  berühmte  Sonnentanz  der  Präriestämme 
mit  seinen  zu  Ehren  der  Sonne,  aber  zu  eigenem  Vorteil  unter- 
nommenen schrecklichen  Martern  ist  seit  den  anschaulichen 
Berichten  des  Prinzen  von  Wied  und  Catlins  öfters  kurz  be- 
schrieben worden,  ohne  daß  man  jedoch  ein  erschöpfendes 
Bild  der  Zeremonie  erhielt,  das  ein  tieferes  Eindringen  in  die 
einzelnen  Bestandteile  und  in  das  Werden  des  Festes  gestattete. 
Das  vorliegende  Buch  ist  das  erste,  das  jede  Phase  der  Feier,  ^ 
jeden  dabei  verwendeten  Gegenstand,  jede  Dekoration,  jedes 
Gebet,  ja,  ich  möchte  sagen,  jedes  Wort  und  jede  Bewegung 
der  Beteiligten  mit  photographischer  Treue  wiederzugeben 
versucht,  soweit  das  möglich  ist.  Es  ist  Dorsey  sogar  ge- 
lungen, die  verschiedenen  Anschauungen  über  die  Bedeutung 
der  zahllosen  „Symbole"  in  Handlung  und  Darstellung  neben- 
einander zu  stellen.  Kurz,  das  Werk  ist  eine  wahre  Fund- 
grube für  das  Studium  der  primitiven  Zauberreligionen,  in  der 
man  nicht  nur  ursprüngliche  Zeremonien,  sondern  meines 
Erachtens  auch  noch  manche  ganz  ursprüngliche  Deutungen 
in  leichter  Verschleierung  entdeckt.  Das  ist  nur  möglich,  weil 
wunderbarerweise  noch  in  den  Beobachtungsjahren  1901  und 
1902  ein  tiefes  religiöses  Gefühl,  unbeeinflußt  von  der  an- 
drängenden Umgebung,  bei  den  Arapaho  der  Reservation 
Oklahoma  lebendig  war.  Dazu  scheint  Dorsey  unumschränkt 
über  den  Stamm  verfügt  zu  haben,  da  man  ihn  direkt  auf- 
forderte, einer  heiligen  Bestattungszeremonie,  die  ohne  jeden 
Zuschauer  stattfand,  beizuwohnen  (S.  174).    Auch  nahm  er  den 

^  Field  Columhian  Museum.    Änthropologicdl  Series  IV  228  S.  und 
187  Tafeln.     Chicago  1903. 


Religionen  der  Naturvölker  127 

Leiter  der  Zeremonien  unmittelbar  danach  mit  nach  Chicago 
und  ging  mit  ihm  besonders  den  Symbolismus  durch.  Schade 
nur,  daß  der  Verfasser  dem  Anschein  nach  nur  durch  einen 
Dolmetscher  mit  den  Arapaho  verkehren  konnte. 

Im  ganzen  gleicht  der  Sonnentanz  des  hier  behandelten 
Algonkinstammes  der  Arapaho  dem  der  Siouxstämme  sehr. 
Nur  der  komplizierte  Altar  der  Opferhütte  (Offerings-Lodge) 
scheint  sonst,  soweit  es  die  kurzen  Schilderungen  erkennen 
lassen,  erheblich  einfacher  zu  sein.  Die  Zeremonie  findet  meist 
im  Sommer  statt,  auf  Grund  eines  Gelübdes,  das  jemand  wegen 
Krankheit  oder  in  einer  gefährlichen  Lage  auf  sich  genommen 
hat.  Es  ist  jedoch  ein  Fest  der  ganzen  Nation.  Die  Feier 
dauert  acht  Tage:  zunächst  die  Vorbereitung  in  dem  „Kaninchen- 
zelt" (rabbit  tent),  dann  der  Aufbau  der  Offerings-Lodge  unter 
beständiger  Beobachtung  von  Riten  und  der  viertägige  Tanz 
unter  Enthaltung  von  Nahrung  und  Wasser  und  mit  ver- 
schiedenartiger Bemalung  des  nackten  Körpers.  Die  Teilnehmer 
sind  meist  junge  Leute,  doch  können  auch  Männer  jeden  Alters 
dabei  sein.  Manche  beteiligen  sich  auch  an  mehreren  Sonnen- 
tänzen. Die  Leiter  der  Zeremonie  sind  dagegen  ganz  alte  Leute, 
die  die  siebente  und  höchste  Altersklasse,  die  „Schwitzhütten- 
gesellschaft" (sweat  lodge  society)  erreicht  haben.  Einer  von 
ihnen  spielt  beim  Sonnentanz  die  Rolle  der  Sonne.  Martern 
finden  jetzt  nicht  mehr  statt.  Sie  sind  seit  etwa  20  Jahren 
von  der  Regierung  verboten.  Sie  sollen  früher  nur  darin  be- 
standen haben,  daß  dem  Kandidaten  zwei  Holzpflöcke  durch 
das  Brustfleisch  gesteckt  und  mit  dem  Mittelpfahl  der  Hütte 
j  verbunden  wurden.  Beim  Tanze  mußte  dann  das  Fleisch  aus- 
j  reißen.  Diese  Befestigung  geht  wiederum  auf  die  Sonne,  zu 
I  der  der  Mittelpfahl  besondere  symbolische  Beziehungen  hat. 
;  Doch  sind  die  Martern  und  die  anderen  Zeremonien  meines 
;  Erachtens  sicher  nicht  von  vornherein  durch  Sonnenverehrung 
entstanden,  sondern  nur  dadurch  vereinigt.  Peinigungen  sind 
ursprünglich   Mittel,   besondere   (Zauber-)  Kräfte  zu  erlangen, 


128  K.  Th.  Preuß 

um  Erfolge  zu  haben  und  Gefahren  zu  entgehen.  Im  übrigen 
stellt  sich  das  Fest  als  eine  zauberische  Erneuerung  der  Natur, 
der  Vegetation,  der  Menschen  und  der  Jagdtiere  dar,  wodurch 
überall  Segen  und  Überfluß  verbreitet  und  Krankheit  gebannt 
wird.  Unzweifelhaft  deutet  unter  anderem  darauf  auch  die 
frühere  geschlechtliche  Vermischung  des  ganzen  Lagers  in  der 
einen  Nacht  hin  und  der  jetzt  abgeschwächte  Ritus  des  Bei- 
schlafes zwischen  dem  „Großvater"  des  Lodgemakers  (der  das 
Gelübde,  die  Offerings-Lodge  zu  errichten,  getan  hat)  und 
dessen  Weib,  ein  Akt,  der  jetzt  verschiedene  mythische  Aus- 
legungen gefunden  hat.  Bezeichnend  für  das  frühere  Stadium 
des  Sonnentanzes  ist  auch  die  sogenannte  Goldammerbemalung 
eines  Teiles  der  Tänzer,  da  diesem  Vogel  die  Macht  über  das 
Feuer  zugeschrieben  wird.  Auch  die  Nachahmung  des  Fluges 
und  der  Laute  der  wilden  Gänse  bei  verschiedenen  Zeremonien 
deutet  auf  die  zauberische  Beeinflussung  dieser  Tiere  hin,  die 
nach  dem  Prinzen  von  Wied  durch  ihren  Frühlings  -  und  Herbst- 
flug Vertreter  der  Maisgöttin,  der  „Alten,  die  nie  stirbt",  bei 
den  Mandan  ist. 

Kadostämme.  Vor  allem  haben  von  diesen  die  Pani 
mit  ihrem  eigentümlichen  Sternkult  die  Aufmerksamkeit  der 
Forscher  auf  sich  gezogen.  Alice  C.  Fletcher,  die  uns  die 
ersten  Angaben  darüber  gemacht  hat,  verdanken  wir  nun  auch 
die  erste  ausführliche  Beschreibung  einer  großen  Zeremonie 
dieses  Volkes:  „The  Hako:  a  Pawnee  Ceremony"^,  in  der  frei- 
lich die  früher  berichteten  Anschauungen  über  die  religiöse 
Bedeutung  der  Sterne  keine  Rolle  spielen.  Das  Buch  stellt 
insofern  ein*  Novum  dar,  als  der  70  Jahre  alte  indianische 
Leiter  der  Zeremonien,  ein  durchaus  vom  Glauben  der  Väter 
erfülltes  Mitglied  der  Chani- Bande,  selbst  die  Vorgänge  ge- 
schildert und  erklärt  hat,  derart,  daß  die  Verfasserin  ihn  stets 
als  Redenden  einführen  kann  und  nur  im  zweiten  Teile  ihrerseits 

^  22  d  Annudl  Beport  of  the  Bureau  of  American  Ethnology  Part  II 
872  S.,  Washington  1904. 


Religionen  der  Naturvölker  129 

die  einzelnen  Phasen  kurz  rekapituliert.  Natürlich  darf  man 
deshalb  aber  nicht  erwarten,  daß  wir  die  Vorgänge  in  ihrem 
Ursprung  verstehen:  die  Angaben  sind  vielmehr  lediglich  als 
wichtiges  Material  zu  betrachten. 

Hako  bezeichnet  die  Geräte,  die  zur  Zeremonie  gehören, 
zunächst  die  Trommel.  Die  Gegenstände  galten  als  die  gegen- 
wärtigen Mächte,  die  dem  Stamme  helfen  sollten.  So  war 
ein  Maiskolben  die  Kornmutter,  eine  an  einen  Stock  gebundene 
weiße  Adlerdaunenfeder  waren  die  hohen  weißen  Wolken, 
zwei  bemalte,  mit  Yogelteilen  und  mancherlei  anderem  Behang 
ausgestattete  Stäbe,  deren  Mark  wie  bei  einem  Pfeifenrohr 
ausgebrannt  war,  galten  als  direkte  Glückbringer,  und  den 
Federn  z.  B.  wurden  die  besonderen  Kräfte  der  betreffenden 
Vögel  zuerkannt.  Ein  Wildkatzenfell  diente  zur  Umhüllung 
der  heiligen  Geräte  und  war  dazu  gewählt,  weil  man  diesem 
Tiere  die  ruhige  Beharrlichkeit  in  der  Erlangung  der  Beute 
zuschrieb,  die  bei  der  Erreichung  des  Zieles  der  ganzen  Zere- 
monie —  nämlich  Kinder,  langes  Leben  und  Überfluß  —  not- 
wendig war.  Die  Zeit  der  Feier  ist  nicht  bestimmt.  Sie  kann, 
abgesehen  vom  Winter,  zu  allen  Jahreszeiten  stattfinden.  In 
der  Tat  zwingt  keine  der  vorkommenden  Einzelheiten,  etwa 
für  frühere  Zeiten  einen  bestimmteren  Termin  anzunehmen, 
wie  es  z.  B.  beim  Sonnentanz  die  Zeit  der  heraufkommenden 
Sonne  ist.  Alle  die  zahlreichen  zauberischen  Symbole  beziehen 
sich  nur  auf  das  pulsierende  Leben  im  allgemeinen,  wie  es 
auch  uns  gerade  im  Frühling,  Sommer  und  Herbst  erscheint. 
Und  wie  diese  farblose  Allgemeinheit,  aus  der  ein  merkwürdig 
j  lebhaftes,  ich  möchte  sagen,  modernes  Naturgefühl  dicht  neben 
den  zauberischen  Praktiken  herausschaut,  von  der  ursprüng- 
lichen Prägnanz  der  indianischen  Feste  abweicht,  so  ist  auch 
die  Idee  des  Ganzen  neu.  Männer  einer  Dorfgemeinschaft 
bereiten  und  weihen  die  heiligen  Geräte  auf  die  Initiative  eines 
Häuptlings  oder  hervorragenden  Mannes,  der  der  Vater  genannt 
wird,    während    alle    seine    Gefolgsleute    die   Partei    der  Väter 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft   IX  9 


130  K.  Th.  Preuß 

heißen.  Sie  wählen  aus  einem  anderen  Clan  oder  sogar  Stamm 
entsprechend  einen  Sohn,  und  begeben  sich,  nachdem  dieser 
die  zugedachte  Ehrung  angenommen  hat,  20  bis  100  Mann 
stark  unter  Führung  der  Kommutter,  d.  h.  des  Maiskolbens, 
auf  die  Suche  nach  dem  Sohn.  Es  folgt  nach  einer  Reise  von 
einigen  bis  200  und  mehr  Kilometern  der  Einzug  in  die  Hütte 
des  Sohnes,  die  Weihe  derselben  und  die  Vertreibung  alles 
Unheils  daraus,  die  Bekleidung  des  Sohnes  und  endlich  eine 
fünftägige  zeremonielle  Festfeier  sowohl  bei  Tage  wie  bei  Nacht. 
Die  neugeborene  Morgenröte  und  der  Morgenstern,  die  Sonne 
und  das  Tageslicht  werden  angerufen  und  mit  Gesängen  begrüßt. 
Nach  dem  männlichen  wird  das  weibliche  Prinzip,  die  Erde, 
ebenso  gefeiert.  Dazwischen  werden  die  Träume  herbeigerufen. 
Der  „Gesang  der  Vögel"  schildert  schließlich  das  Zusammen- 
strömen der  alten  Vögel  mit  den  schon  erwachsenen  Jungen. 
Das  ist  sozusagen  der  allgemeine  Teil,  der  das  erwachende 
und  erstarkende  Leben  auf  das  Gedeihen  der  „Kinder"  an- 
wendet. Im  speziellen  nimmt  man  dann  unzählige  Zauber- 
handlungen mit  einem  jungen  Kinde  des  „Sohnes"  vor,  die 
wiederum  wie  bei  der  ganzen  vorhergehenden  Zeremonie  so 
recht  zeigen,  daß  jeder  Gegenstand  ein  wirkungsvolles  Abbild 
einer  höheren  in  der  Natur  vorkommenden  Substanz  ist,  oder 
daß  ein  Analogiezauber  den  gewünschten  Erfolg  der  Vermehrung 
und  Erstarkung  bringen  soU.  Obszönes  kommt  übrigens  gar 
nicht  dabei  vor,  was  möglicherweise  mit  der  Zeit  der  fort- 
schreitenden Zivilisation  verloren  gegangen  ist.  Über  dem 
Ganzen  schwebt  der  Name  von  Tirawa,  des  Vaters  aller  Dinge, 
von  dem  jeder  Segen  ausgeht.  Bemerkenswert  ist  noch  die 
Kraft,  die  bei  den  Zeremonien  dem  Wasser  zugeschrieben  wird. 
Für  die  Einkleidung  der  ganzen  Zeremonie  in  die  Idee 
der  Sohnesschaft  eines  Clans  gegenüber  dem  anderen,  die  in  der 
Überreichung  von  Geschenken  und  in  den  Gefühlen  eines  be- 
sonderen Verbundenseins  zum  Ausdruck  kommt,  möchte  ich 
trotzdem  nicht  einen  sozialen  Gedanken,  sondern  einen  mythi- 


Religionen  der  Naturvölker  131 

sehen,  d.  h.  einen  Naturmythus  als  Ursprung  setzen.  Dafür 
bürgt  die  Führerschaft  der  Kornmutter  bei  der  Suche  nach 
dem  Sohn.  Vater  und  Sohn  sind  die  Träger  eines  Mythus, 
aber  welches  ist  er? 

Pueblostämme.      Die  *  Reihe    der   Hopi- Zeremonien    ist 
durch   ein   bisher   noch  nie  beschriebenes  neuntägiges  Fest  im 
Dorfe  Oräibi  bereichert  worden,  das  wir   wiederum  dem  Hopi- 
kenner   H.  R.  Voth   verdanken:    „The    Oräibi    Oäqöl    Cere- 
mony.'^^     Voth  beschränkt  sich  auf  die  Darstellung   der  Auf- 
einanderfolge  der   einzelnen   Handlungen,   ohne   ein  Wort    der 
Bedeutung  des  Zusammenhangs  hinzuzufügen.     Ich   will  daher 
nur  einzelne  Züge  hervorheben,   die  besonders  charakteristisch 
zu    sein    scheinen.     Das    Fest    findet    alle    zwei    Jahre    Ende 
Oktober,  Anfang  November  statt  und  wird   von  einer  der  drei 
in   Oräibi   bestehenden   Schwesterschaften,   nämlich  der  Oäqöl- 
Gesellschaft,  veranstaltet.    Natürlich  wird  auch  in  diesem  Falle 
wie   bei   fast   allen   Hopifesten  mehrfach  kundgetan,   daß  man 
Regen   und    Wachstum    dadurch    herbeiführen    wolle.     In    der 
Mitte   des   Altars,   der   am  ersten  Festtag  erbaut  wird,  ist  die 
Gestalt  des  unterirdischen  Wachstum-  und  Feuergottes  Müyingwa 
mit   einer   grünenden   Maisstaude    in    der   Hand    gemalt.     Am 
fünften  Tage  um  2  Uhr  nachts   führte  Müyingwa  und  Nayän- 
I  gaptümsi,  die  Göttin  aller  Arten  von  Samen,  hinter  dem  Altar 
'hervorkommend,    einen   Tanz    auf.     Ersterer   hielt   einen  netz- 
1  artig  überzogenen  Ring  in  der  Hand,   mit  einem  Loch   in  der 
j  Mitte.     Dieser   wird   „Wassersieb"   genannt,   weil  die  Wolken- 
jgottheiten    durch    solche    Siebe    den    Regen  herabfallen  lassen. 
iDazu  ist  zu  bemerken,  daß  auch  bei  dieser  Feier  morgens  bei 
(Sonnenaufgang    der   Morgenröte    Mehl    entgegengeworfen    und 
die  Sonne  um  Regen  angefleht  wird,  was  mit  der  Auffassung 
der  Morgenröte  als  Wasser  zusammenhängt.    Noch  früher,  und 
zwar   am    zweiten   bis    fünften   und    am    achten  Tage    wurden 

^  Field  Columhian  Museum.    Fublication  84.    Anthropol  Series  VI, 
Chicago  1903.     46  Seiten  u.  28  Tafeln. 


132  K.  Th.  Preuß 

Gesänge  an  die  Morgenröte  angestimmt.  Auch  auf  den  Tanz 
von  Müyingwa  und  Nayängaptümsi  folgte  ein  Gesang  an  die 
Morgenröte  unter  Schwingen  der  Geräte  und  Figuren  des 
Altars,  und  dann  die  Anrufung  der  jungen  und  ausgewachsenen 
Komstauden,  ihre  Gaben  zu  bringen.  In  einem  weiteren 
Gesänge  wurden  die  Kornähren  des  Altars  als  Mütter  an- 
geredet und  aufgefordert,  nach  dem  Sipapu  zu  gehen,  der  Erd- 
öffnung, aus  der  die  Katschina -Wachstumsdämonen  und  die 
Menschen  auf  die  Erde  gekommen  sind.  Am  neunten  Tage 
ging  man  nach  Gesängen  und  Gebeten  an  die  Morgenröte  die 
Mesa  herab  nach  Südosten  und  Osten,  ein  Y2  ^  tiefes  Loch 
mit  daranschließendem  Graben  von  einigen  Zentimeter  Tiefe 
wurde  gegraben,  und  dann  nach  Osten  gewendet  gesungen: 

„Die  weiße  Morgenröte  hat  sich  erhoben, 
Die  gelbe  Morgenröte  hat  sich  erhoben, 
Daß  ich  Licht  ergreifen  soll." 

Dabei  wurde  mit  der  rechten  Hand  die  Gebärde  des  Greifens 
gemacht  und  schließlich  nach  Westen  gewendet  gesungen: 

„Der  Sipapu  hat  sich  erhoben  (ist  sichtbar  geworden), 
Der  Sipapu  hat  sich  erhoben  (ist  sichtbar  geworden), 
Daß  ich  Licht  ergreifen  soll." 

Man  kann  daher  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  darauf  schließen, 
daß  dieses  Fest  zu  denen  der  Wintersonnenwende  gehört,  die 
das  Heraufkommen  des  Feuers  und  der  Wachstumsdämonen 
aus  der  Unterwelt  fördern  sollen.  Der  Sipapu  wird  in  der 
Erdmitte  gedacht  unter  den  Füßen  der  Lebenden.  Er  ist  aber 
im  Grunde  mit  dem  Orte  des  Sonnenaufgangs  identisch.  Von 
Osten  kommen  ja  auch  die  Katschina  mit  der  Wintersonnenwende 
in  die  Dörfer.  Der  Graben  aus  dem  Loch  nach  Osten  bedeutet  wohl 
den  Weg  der  Wanderung  aus  der  Unterwelt.  —  Es  folgte  schließ- 
lich das  Wettrennen,  das  Werfen  der  Oäqölmänas  mit  den 
Pfeilen  nach  den  rollenden  genetzten  Ringen,  das  Schleudern  der 
flachen,  runden  Körbe  (tray)  unter  die  Menge,  die  sich  um  sie 


Religionen  der  Naturvölker  133 

balgte,  und  so  fort,  alles  wichtige  Momente,  über  die  sich 
aber  ohne  genaueres  Material  nichts  Bestimmtes  sagen  läßt. 

Jesse  Walter  Fewkes,  der  verdienstvolle  Hopiforscher, 
ist  auf  die  gute  Idee  gekommen,  sich  von  den  Hopi  alle  Ge- 
stalten ihrer  religiösen  Feste  farbig  zeichnen  zu  lassen,  und 
hat  sie  nun,  mit  Text  versehen,  in  zahlreichen  Tafeln  unter 
dem  Titel  „Hopi  Kateinas" ^  veröffentlicht.  Das  gibt  eine 
treffliche  Ergänzung  zu  seiner  Beschreibung  der  Katschina  im 
Internationalen  Archiv.  Auch  kommen  in  der  neuen  Publi- 
kation manche  Figuren  vor,  die  in  den  Kulten  nicht  mehr 
auftreten.  Der  Text  gibt  zunächst  eine  sehr  übersichtliche 
Darstellung  sämtlicher  Feste  der  Hopi,  so  daß  man  sich  leicht 
über  alle  Figuren  orientieren  kann. 

Die  Besprechung  von  Ole  Solbergs  schöner  Abhandlung 
über  die  Bahos  der  Hopi  im  Archiv  für  Anthropologie  1905 
muß  ich  mir  für  den  nächsten  Bericht  aufsparen. 

Mexiko  und  Zentralamerika. 

E.  Seier  hat  uns  wiederum  mit  einem  auf  Kosten  des 
Herzogs  von  Loubat^  gedruckten  Kommentar  zu  einer  mexi- 
kanischen Bilderschrift  erfreut,  und  zwar  zu  den  ersten 
28  Blättern  des  Codex  Borgia^,  der  in  derselben  Weise  be- 
handelt ist  wie  seine  früheren  Kommentare.  Da  weitaus  die 
i  meisten  Blätter  bereits  als  Parallelstellen  in  den  anderen 
i Codices  vorkommen,  so  haben  wir  es  im  wesentlichen  mit 
I  Wiederholungen  früherer  Beschreibungen  der  Figuren  zu  tun. 
Eine  etwas  andere  Auffassung  hat  hier  Seier  z.  B.  bezüglich  der 
j  Figuren  über  den  fünfgliedrigen  Säulen  des  Tonalamatls.  Er 
I meint,  daß  sie  in  ihrer  Bedeutung  mehr  die  Anfangszeichen 
ider  Säule  zum  Ausdruck  bringen.  Doch  lassen  sich  fast  stets, 
iwenn  man  danach  sucht,  irgendwelche  Beziehungen  mexi- 
kanischer Figuren  zu  Tageszeichen  aufweisen.    Die  Unterwelts- 

i  *   21 8t  Annual  Beport  of  the    Bureau    of   American    Ethnology, 

;  Washington  1903,  S.  1—126.  *  Berlin  1904.    IV  u,  363  Seiten. 


134  K.  Th.  Preuß 

göttin  Itzpapalotl  will  er  mit  den  Ciuateteo  und  mit  der  Erd- 
göttin Ilamatecutli  identifizieren,  für  deren  Jahresfest  Tititl  er 
einiges  neues  Material  aus  Sahaguns  noch  unveröffentlicliten 
aztekischen  Originalmanuskripten  beibringt.  Die  Verwandt- 
scbaft  zwischen  diesen  Gottheiten  ist  sehr  wohl  möglich,  nur 
liegt  sie  nicht  in  ihrer  Eigenschaft  als  Prototyp  der  Ge- 
opferten, sondern  in  ihrer  Natur  als  Sterne,  die  des  Morgens 
von  der  Sonne  verschlungen  werden.  Der  Verf.  macht  auch 
einen  richtigen  Anlauf  in  der  Erklärung  Xolotls,  der  als 
Hund  gestaltet  die  Sonne  in  die  Unterwelt  trägt,  wie  der 
Hund  überhaupt  die  Toten  über  den  neunfachen  Strom  der 
Unterwelt  führt.  Die  Identifizierung  des  mißgestalteten  Xolotl 
mit  dem  Sonnengott  Nanauatzin,  dem  „armen  Syphilis- 
kranken^',  ist  zwar  nicht  angängig,  da  die  Krankheit  der 
beiden  ganz  verschiedenartig  ist,  aber  dadurch,  daß  sie  sich 
ins  Feuer  (der  Morgenröte)  stürzen  und  zur  Sonne  empor- 
steigen, ist  ihre  Ideenverwandtschaft  gegeben.  Xolotl  ist 
meines  Erachtens  einfach  die  in  der  Unterwelt  als  mißgestaltet 
angesehene  Sonne,  wie  z.  B.  der  Sonnensohn  der  Tschiroki  die 
Skrofeln  hat.  Erst  wenn  er  wie  Xolotl  im  Kochtopf  gekocht 
ist,  d.  h.  durch  das  Meer  der  Morgenröte  hindurchgegangen  ist, 
verliert  er  sie  und  wird  zur  strahlenden  Sonne.  Noch  nicht 
beschrieben  ist  bisher  Blatt  17:  Tageszeichen  und  Körperteile, 
Blatt  18 — 21:  die  sechs  Weltgegenden,  Blatt  22 — 24:  eine  andere 
Reihe  von  20  Gottheiten,  und  die  Blätter  26  und  28.  Die 
Reihe  der  20  Gottheiten  vergleicht  der  Verf.  den  zweimal  auf 
den  Blättern  46  —  50  der  Dresdner  Mayahandschrift  links  zur 
Anschauung  gebrachten  20  Hieroglyphen  von  Gottheiten  und 
glaubt  Analogien  zwischen  einzelnen  in  der  Reihe  entsprechen- 
den zu  finden. 

Eine  Abhandlung  „Über  Steinkisten,  Tepetlacalli, 
mit  Opferdarstellungen  und  andere  ähnliche  Monu- 
mente"^  widmet    Seier    der  Stütze    seiner  Theorie,    daß    die 

1  Zeitschr.  f.  Ethnologie  XXXVI,  1904,  S.  244—290. 


Religionen  der  Naturvölker  135 

Mexikaner  die  Anschauung  gehabt  hätten,  die  Geopferten  gehen 
zur  Sonne  und  haben  ein  ganz  anderes  Schicksal  als  die  Toten. 
Auf  diesen  Steinkisten  sind  besonders  häufig  die  vier  Seiten 
mit  Reliefs  versehen,  die  man  ihrem  Inhalte  nach  den  vier 
Himmelsrichtungen  zuweisen  kann.  Und  dann  ergibt  sich, 
daß  eine  Darstellung  mit  dem  charakteristischen  Totenschmuck 
häufig  auf  der  Ostseite  angebracht  ist.  Seier  meint  nun,  der 
Totenschmuck  gebühre  nur  den  geopferten  Kriegern  oder  den 
Königen,  stellt  sich  aber  damit  in  Widerspruch  mit  der  direkten 
Angabe  des  Codex  Magliabecchiano  XIII,  3  S.  71,  2  zu  dem  Bilde 
eines  Mumienbündels  und  mit  der  Darstellung  des  Schmuckes  im 
Codex  Borbonicus  S.  10,  während  nur  eine  einzige  Abbildung 
des  Schmuckes  sich  auf  den  toten  Krieger  bezieht.  Die  „Stern- 
gesichtsbemalung"  kommt  aber  ebensogut  den  Toten  schlechtweg 
zu,  weil  diese  nach  ihrem  Tode  zu  Sternen  werden,  indem  sie 
durch  die  Unterwelt  nach  Osten  gehen  und  dort  des  Abends 
als  Sterne  emporsteigen.  Als  Sterne  werden  sie  dann  täglich 
von  der  Sonne  geopfert,  wenn  sie  sie  mit  ihrem  strahlenden 
Lichte  verschlingt.  So  ist  es  verständlich,  daß  derselbe  Toten- 
schmuck und  die  „Sterngesichtsbemalung"  sowohl  bei  den  ge- 
opferten Kriegern  wie  bei  den  Toten  zu  finden  ist,  und  daß 
die  Reliefdarstellung  des  Schmuckes  auf  den  Kisten  und  auf 
einigen  anderen  Monumenten  dem  Osten,  dem  Geburtsort  der 
Sterne,  und  der  Stätte  ihres  Todes  zugewiesen  wird.  Auf  die 
Gleichheit  des  Schicksals  der  Toten  und  der  geopferten  Krieger 
hätte  den  Verf.  auch  schon  der  dem  betreffenden  Schmuck 
beigegebene  Hund  führen  müssen,  von  dem  bekannt  ist,  daß 
er  die  Toten  —  und  also  auch  die  geopferten  Krieger  —  über 
den  neunfachen  Strom  der  Unterwelt  (chiconauhapan)  führt. 
In  einer  weiteren  Abhandlung  „Die  holzgeschnitzte 
Pauke  von  Malinalco  und  das  Zeichen  atl-tlächinolli^'^ 
geht   Sei  er   wiederum   auf  den  Opfertod  der  Krieger  und  das 

^  Mitteilungen  der  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien  XXXIV, 
1904,  S.  222—274. 


136  K.  Th.  Preuß 

Zeichen  des  Krieges  atl  tlachinolli  ein,  indem  er  zugleich  eine 
Pauke  (ueuetl)  im  Museum  von  Toluca  beschreibt,  die  neben 
der  Hieroglyphe  der  Sonne  naui  olin,  den  Darstellungen  der 
geopferten  Krieger  als  Adler  und  Jaguar  und  dem  Gotte  der 
Musik  Macuilxochitl  auch  die  Hieroglyphe  des  Krieges  mehr- 
fach in  schöner  Reliefschnitzerei  aufweist.  Hier  ist  es  zunächst 
mit  Freude  zu  begrüßen,  daß  Seier  von  seiner  rein  sprach- 
lichen Erklärung  der  Hieroglyphe  atl  tlachinolli,  nämlich  des 
atl  „Wasser",  als  Ableitung  („das  Schießende")  von  einem  nicht 
nachzuweisenden  Verbum  „a,  schießen"  und  des  tlachinolli 
(des  Verbrannten)  als  Verbrennens  der  Felder  zurückgekommen 
ist.  Hoffentlich  wird  nach  diesem  gescheiterten  Versuche  der 
phonetischen  Deutung  einer  Hieroglyphe  in  den  mythologischen 
Bilderschriften  überhaupt  anerkannt  werden,  daß  wir  es  hier 
nur  mit  ideellen  Zeichen  zu  tun  haben,  in  denen  der  Sinn 
genau  mit  dem  dargestellten  Objekt  übereinstimmt.  Der  Verf. 
sieht  denn  jetzt  unter  anderem  in  den  Darstellungen  von  atl 
tlachinolli  das  Zeichen  cuitlatl  „Exkremente"  und  sagt  ganz 
richtig,  daß  es  Exkremente  des  Feuergottes  sind,  die  seine 
feurige  Waffe  bilden.  Das  ist  auch  meine  Meinung  (vgl. 
meinen  Hinweis  darauf  Globus  LXXXVI,  1904,  S.  115,  118). 
Nur  ist  es  ihm  nicht  gelungen,  zu  erklären,  weshalb  der  Kot 
zugleich  Sünde  bedeutet  (vgl.  darüber  meine  Abhandlung 
Globus  LXXXVII,  S.  356)  und  weshalb  das  atl  (Wasser)  in 
der  Phrase  und  Hieroglyphe  vorkommt.  Er  denkt  an  atl 
tepetl  (=  Wasser  Berg)  für  „Dorf"  und  meint,  daß  atl  allein 
als  „Dorf"  gelten  könne,  so  daß  atl  tlachinolli  das  verbrannte 
Dorf  bedeuten  müßte. 

Angesichts  von  Seiers  nochmaliger  langer  Erörterung  aller 
mit  dem  Zeichen  atl  tlachinolli  in  Verbindung  stehenden 
Dinge,  die  uns  einen  entscheidenden  Portschritt  nicht  bringen, 
ist  es  wirklich  zu  bedauern,  daß  ihm  das  Hineinragen  himm- 
lischer Anschauungen  in  den  Kult,  in  alle  religiösen  Auf- 
fassungen und  in  die  Bilderschriften  so  fern  gelegen  hat.    Die 


Religionen  der  Naturvölker  137 

Kenntnis  der  mexikanischen  Idee,  die  Morgenröte  als  Wasser 
und  Feuer  aufzufassen,  hätte  ihm  viel  Mühe  erspart.  Mit 
Wasser  und  Feuer  vernichtet  die  Sonne  des  Morgens  die 
Sterne,  sie  opfert  und  verschlingt  sie.  Daher  werden  auch  die 
menschlichen  Opfer  als  Speise  der  Sonne  aufgefaßt,  und  da 
besonders  die  gefangenen  Krieger  den  Opfertod  erleiden,  so 
werden  sie  in  besondere  Beziehungen  zur  Sonne  gesetzt.  Seier 
dreht  nun  den  Sachverhalt  vollkommen  um  und  sucht  von  der 
Tatsache  aus,  daß  manchmal  die  Gefangenen  ins  Feuer  geopfert 
wurden,  den  Feuergott  Xocotl  selbst  und  sein  Fest  Xocotluetzi, 
an  dem  das  auch  geschieht,  als  Seele  der  geopferten  Krieger 
bzw.  als  Kriegerseelenfest  zu  erklären,  indem  er  so  die  Natur- 
bedeutung des  kurz  nach  der  Sommersonnenwende  gefeierten 
Festes  ganz  ignoriert.  Daß  dieses  „ins  Feuer  opfern"  be- 
kanntlich eben  nur  den  Feuergöttem  gegenüber  statthat,  daß 
Sahagun  das  Fest  Xocotluetzi  dem  alten  Feuergott  Xiuhtecutli 
gewidmet  sein  läßt  und  Xocotl  von  der  zuverlässigen  Historia 
de  los  Mexicanos  por  sus  pinturas  (Codex  10)  als  „das  Feuer" 
bezeichnet  wird,  stört  ihn  nicht  im  geringsten.  In  Wahrheit 
bedeutet  das  betreffende  Fest  der  Sommersonnenwende  die 
Verwandlung  der  Feuergötter  und  der  Seelen  der  Verstorbenen, 
die  während  des  Sommers  als  allerhand  „Sonnentiere"  auf  der 
Erde  weilten,  in  das  Licht  der  Sterne.  Als  solche  werden  sie 
I  täglich  von  der  Sonne  geopfert,  und  darauf  bezieht  sich  das 
jLied  Otontecutli-Xocotls,  das  dementsprechend  in  den  ent- 
i  scheidenden  Versen  vom  Verfasser  nicht  richtig  übersetzt 
jwird. 

j  Die  notwendige  Grundlage  für  diese  Anschauungen,  die 
jin  allen  Kulten,  Mythen  und  Bilderschriften  der  Mexikaner 
ieine  wichtige  Rolle  spielen,  habe  ich  in  meiner  kleinen  Schrift 
niedergelegt:  „Der  Kampf  der  Sonne  mit  den  Sternen  in 
I Mexiko."^      Hier    wird    namentlich    der    Nachweis    aus    den 


*  ^lohus  LXXXVII,  1995,  S.  136—140. 


138  K.  Th.  Preuß 

Mythen  und  Bilderscliriften  erbracht,  daß  die  Morgenröte  als 
Wasser  oder  als  Wasser  und  Feuer,  als  Federschlange 
(Quetzalcouatl)  oder  als  Federfeuerschlange  (Quetzalziuhcoatl) 
aufgefaßt  wird,  daß  die  Sonne  die  Sterne  beim  Aufgehen  tötet 
und  opfert,  und  daß  die  Toten  und  Götter  zugleich  die  Sterne 
sind.  Diese  Ideen  werden  dann  kurz  auf  das  Frühlingsfest 
Tlacaxipeualiztli,  auf  das  Fest  der  Sommersonnenwende 
Xocotluetzi  und  das  Fest  der  Wintersonnenwende  Tititl  an- 
gewandt. Die  Bedeutung  des  Frühlingsfestes  und  der  Morgen- 
röte im  Frühling  habe  ich  in  der  schon  im  allgemeinen  Teil 
besprochenen  Arbeit  „Der  Einfluß  der  Natur  auf  die 
Religion  in  Mexiko  und  den  Vereinigten  Staaten" 
weiter  ausgeführt  und  auf  die  Flutsagen  und  verwandte  Er- 
scheinungen ausgedehnt. 

Die  Idee,  daß  die  Sonne  die  Sterne  opfert,  könnte  be- 
sonders für  das  Frühjahrsfest,  wo  die  Sterne  des  Winters 
überwunden  werden,  Menschenopfer  als  Analogiezauber  für  den 
himmlischen  Vorgang  ins  Leben  gerufen  haben.  Die  Menschen 
sterben  dann  als  Sterne.  Ahnliches  könnte  mehr  oder  weniger 
auch  sonst  der  FaU  sein,  wenn  bei  Abschnitten  des  Jahres 
oder  Perioden  der  Vegetation  Menschen  in  Vertretung  von 
Naturobjekten,  d.  h.  von  Göttern,  geopfert  werden.  In  Mexiko 
ist  nun  tatsächlich  das  Menschenopfer  stets  ein  Opfer  der 
Gottheit,  und  selbst  in  den  wenigen  Fällen,  wo  es  nicht  strikt 
nachgewiesen  werden  kann,  ist  derartiges  anzunehmen.  Immer- 
hin findet  das  Menschenopfer  durchaus  nicht  auf  diese  Weise 
allein  seine  Erklärung.  Durch  die  Tötung  werden  Zauber- 
wirkungen hervorgerufen,  ebenso  wie  durch  bloßes  Blutlassen, 
die  je  nach  dem  zu  tötenden  Objekt,  Mensch  oder  Tier,  und 
nach  dem  zu  erzielenden  Ergebnis  sehr  verschieden  sein  können. 
Der  einen  Wurzel  habe  ich  in  der  Arbeit  „Der  Ursprung 
der    Menschenopfer    in    Mexiko"^    nachzugehen    versucht. 


1  Globus  LXXXVI,  1904,  S.  108—119. 


Religionen  der  Naturvölker  139 

Zunächst  stelle  ich  fest,  daß  bei  gewissen  Jahresabschnitten, 
z.  B.  im  Mai  beim  Zenitstand  der  Sonne  (Fest  toxcatl  usw.), 
am  Xocotluetzi-Fest  bei  der  Sommersonnenwende,  bei  der 
Herbstgleiche  (Fest  quecholli),  im  Januar  am  Fest  izcalli  usf., 
die  Sonnen-  und  Feuergötter  selbst  geopfert  werden,  was  bisher 
noch  nie  von  den  Mexikanisten  beachtet  worden  ist,  so  nahe 
es  auch  lag.  Der  Schluß  bietet  sich  von  selbst,  daß  durch 
den  Tod  eine  Art  Erneuung  oder  Wiedergeburt  gemäß  der 
Auffassung  des  Naturvorganges  beabsichtigt  sei.  Dasselbe  ist 
der  Fall  mit  der  Tötung  von  Menschen  als  Regen-  und  Vege- 
tationsgottheiten, nur  sind  besonders  die  Regenfeste,  obwohl 
zu  bestimmten  Zeiten  des  Jahres  gefeiert,  nicht  gut  direkt  als 
Erneuungen  von  Natur  Objekten  aufzufassen.  Die  übergeordnete 
Idee  sowohl  für  die  Regendämonen  wie  für  die  Sonnen-  und 
Feuergötter  muß  daher  sein,  daß  ursprünglich  der  Gott  nicht 
als  Abbild  des  Naturdinges  geopfert  ist,  sondern  daß  die  Vor- 
fahren der  mexikanischen  Gottheiten,  allerhand  Tiere  des 
Feldes,  die  Fähigkeit  besaßen.  Wind,  Regen,  Sonnenschein  usw. 
hervorzubringen,  und  daß  ihre  Tötung  diese  Eigenschaften 
durch  Öffnung  des  ^Körpers  in  erhöhtem  Maße  frei  werden 
ließ.  Ein  erheblicher  Teil  der  Arbeit  ist  daher  dem  Nachweis 
gewidmet,  welche  Tiere  als  Vorläufer  der  mexikanischen  Gott- 
heiten anzusehen  sind,  inwiefern  sie  mit  ihnen  identifiziert 
werden  und  wie  die  Tötung  der  betreffenden  Tiere  noch  später 
dem  Menschenopfer  parallel  geht.  Allgemeiner  ist  dann  die 
Idee  in  Kapitel  1  meiner  oben  besprochenen  Arbeit  „Ursprung 
der  Religion  und  Kunst"  ausgeführt.  —  Freilich  wie  überall 
so  ist  auch  hier  gerade  die  Grenze  schwer  zu  ziehen,  wie  weit 
der  ursprünglich  an  die  naheliegenden  Objekte  geknüpfte 
Zauberglaube  und  wie  weit  die  himmlische  Bezugnahme  sich 
erstreckt.  Das  ist  sowohl  im  Kult  wie  im  Mythus  oft  schwer 
zu  unterscheiden. 

Ich  habe  nun  noch  Eduard  Seiers  „Gesammelte  Ab- 
handlungen   zur    amerikanischen    Sprach-   und   Alter- 


140  K.  Th.  Preuß 

tum s künde,  Bd.  III" ^,  zu  erwälmeii,  der  ein  reiches  Material 
für  unsere  Zwecke  enthält.  Der  Band  ist  in  die  Gruppen: 
1.  Zur  Geschichte  und  Volkskunde  Mexikos,  2.  Reisewege  und 
Ruinen,  3.  Archäologisches  aus  Mexiko,  4.  die  religiösen  Ge- 
sänge der  alten  Mexikaner  gegliedert.  Aber  nur  Nr.  4  davon 
ist  neu.  Diese  äußerst  wichtigen,  aus  den  aztekischen  Sahagun- 
manuskripten  stammenden  Lieder  sind  hier  zum  erstenmal  im 
Zusammenhang  übersetzt,  und  die  Übersetzung  ist  durch  Noten 
gerechtfertigt.  Wir  sind  dadurch  ein  erhebliches  Stück  vor- 
wärts gekommen,  da  nun  jedem  das  Eindringen  erleichtert  ist. 
Freilich  ist  nicht  zu  verlangen,  daß  selbst  eine  mit  allem 
Rüstzeug  unternommene  wortgetreue  Übersetzung  in  aUen 
Fällen  Irrtümer  und  zusammenhanglose  Sätze  vermeidet,  und 
sellbstverständlich  kommen  auch  größere  oder  geringere  Ge- 
waltsamkeiten vor,  um  einen  Sinn  hineinzubringen.  Nur  Schritt 
für  Schritt  kann  mit  dem  wachsenden  Verständnis  festes  Land 
gewonnen  werden.  Ich  führe  nur  die  Gesänge  Xiuhtecutlis, 
Teteoinnans,  Otontecutlis,  des  Atamalqualiztli- Festes,  Xipes, 
Chicomecoatls  und  der  Totochtin  an,  in  denen  ich  anderer 
Übersetzung  und  Auffassung  nachgegangen  bin.  Seiers  Ver- 
dienste werden  dadurch  natürlich  in  keiner  Weise  geschmälert. 

Südamerika. 

Die  Ausbeute  ist  natürlich  wie  immer  gering.  Ehren- 
reichs „Mythen  und  Legenden  der  südamerikanischen 
Urvölker",  ein  weißer  Rabe  unter  den  völkerkundlichen  Ab- 
handlungen Südamerikas,  habe  ich  schon  im  allgemeinen  Teil 
erwähnt.  Hier  möchte  ich  nun  noch  eine  Arbeit  von  Adolph 
F.  Bandelier,  „Aboriginal  Myths  and  Traditions  Con- 
cerning  the  Island  of  Titicaca,  Bolivien"^  berühren. 
Der  Verf  bringt  zuerst  ein  paar  Mitteilungen  von  seiten  der 
heutigen  Bewohner  der  Insel,  die  er  bei  seinem  dortigen  Auf- 

1  Berlin  1904.     XXXVI  und  1107  Seiten. 

*  The  American  Anthropologist  N.  S.  1904,  S.  197—239. 


Religionen  der  Naturvölker  141 

enthalt  gesammelt  hat,  und  schließt  daran  Auszüge  aus  den 
peruanischen  Quellen,  über  die  er  besonnene  Urteile  abgibt. 
Den  Inhalt  beutet  er  freilich  nur  in  historischer  Hinsicht  aus, 
während  meines  Erachtens  nicht  der  geringste  historische  Kern 
darin  steckt,  sondern  alles  als  reine  Naturanschauung  zu  er- 
klären ist.  Ich  skizziere  nur  weniges.  —  Noch  heute  wird 
auf  der  Titicaca- Insel  erzählt:  die  Sonne  stieg  zuerst  vom 
heiligen  Fels  oder  Titi-kala  in  Gestalt  einer  starken  Flamme 
auf.  Sie  wurde  von  einer  Frau  Mana-OzUia  geboren,  die  auch 
die  Mutter  Manco  Capacs,  des  ersten  Inkaherrschers,  war.  In 
alten  Zeiten  wurde  die  Insel  von  Herren  bewohnt,  ähnlich  den 
Viracochas,  ein  Name,  den  die  heutigen  Bewohner  den  Weißen 
geben  (die  Weißen  sind  die  Sterne).  Sie  hatten  Verkehr  mit 
Weibern.  Die  Kinder,  die  daraus  hervorgingen,  wurden  in 
Höhlen  untergebracht.  Sie  wurden  die  Inka,  vertrieben  die 
Herren  und  behielten  die  Insel  in  ihrem  Besitz  (die  Inka  sind 
die  Vertreter  der  Sonne  und  zugleich  die  Söhne  der  Weißen, 
der  Sterne,  aus  denen  sie  sich  im  Frühjahr,  aus  dem  Erd- 
innern  hervorkommend,  in  die  Sonne  umwandeln  und  die 
Sterne  besiegen,  vgl.  meinen  Aufsatz  in  Ilbergs  Jahrbüchern). 
—  Juan  de  Betanzos  berichtet:  Als  alles  Nacht  im  Lande 
war,  kam  aus  einer  Lagune  in  Peru,  wo  heute  in  der  Nähe 
ein  Dorf  Tiaguanaco  (am  Titicacasee)  steht,  ein  Häuptling  mit 
einigen  Leuten,  den  sie  Con  Tici  Viracocha  (die  Sonne)  nannten. 
Er  machte  die  Sonne  und  den  Tag,  die  Sterne  und  den  Mond. 
Vorher  schon  hatte  er  Himmel  und  Erde  und  ein  Volk  er- 
schaffen, das  er  in  Dunkelheit  zurückließ  (die  Sterne).  Diese 
erzürnten  ihn  (wie  stets  die  Sterne  die  Sonne  erzürnen,  um 
ihre  Vernichtung  durch  diese  zu  erklären).  Er  kam  wieder 
heraus  und  verwandelte  sie  in  Steine.  Viracocha  machte  nun 
Menschen  aus  Steinen,  die  er  mit  dem  und  dem  Volksnamen 
benannte  und  in  die  betreffenden  Provinzen  verstreuen  ließ. 
Einige  sollten  aus  Quellen,  andere  aus  Flüssen,  Höhlen  imd 
Anhöhen  kommen  (analog  dem  Heraufkommen  der  Sonne  aus 


142  K-  Th.  Preuß    Religionen  der  Naturvölker 

der  Erde  —  die  Quellen  und  Flüsse  entsprechen  dem  Wasser 
der  Morgenröte).  Bei  Paucaritambo  kamen  aus  einer  Höhle 
vier  Männer  mit  ihren  Frauen.  Einer  von  ihnen  hieß  Ayar 
Mango,  nachher  Manco  Capac.  Er  ließ  sich  bei  Cuzco  nieder 
und  wurde  der  Stammvater  der  Inka.  —  Nach  Cieza  de  Leon 
kam  einer  der  bedeutendsten  Häuptlinge  der  Kolla  (die  Sonne) 
nach  der  Lagune  von  Titicaca  (dem  Wasser  der  Morgenröte) 
und  traf  auf  der  Hauptinsel  weiße  Menschen  (Sterne)  mit 
Barten  (Strahlen)  an.  Er  kämpfte  mit  ihnen  und  tötete  sie 
alle.  Dieser  Autor  sagt  auch:  die  Sonne  kam  von  der  Insel 
Titicaca  (aus  dem  Meer  der  Morgenröte)  in  großer  Pracht.  — 
Zaräte  berichtet,  die  Indianer  von  Peru  hatten  Häuptlinge, 
aber  keine  Häuptlinge  für  das  ganze  Land,  bis  aus  der  Rich- 
tung der  Kolla  von  der  Lagune  Titicaca  (dem  Meer  der 
Morgenröte)  ein  kriegerisches  Volk,  die  Inka  (die  Sonne) 
kamen.  Der  oberste  von  ihnen  hieß  Zapalla  Inka,  „der  einzige 
Häuptling".  Einige  sagen,  daß  er  Viracocha  (wie  der  Sonnen- 
gott) hieß.  Das  bedeutet  „Schaum  oder  Fett  der  See".  Denn 
da  man  nicht  wußte,  von  welchem  Lande  er  kam,  so  bildete 
man  sich  ein,  daß  er  seinen  Ursprung  in  der  Lagune  (dem 
Meer  der  Morgenröte)  habe.  Diese  Inka  gründeten  die  Stadt 
Cuzco. 

Man  sieht,  daß  die  Inka  nicht  historisch  mit  dem  Titicaca- 
see  zu  tun  haben,  sondern  lediglich  als  Abkömmlinge  der 
Sonne,  die  aus  diesem  im  Osten  gelegenen  See  als  dem  Wasser 
der  Morgenröte  herauskam. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Diese  verschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesern  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  besonders 
neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke  und  Nach- 
weise oder  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den  ver- 
schiedenen religionsgeschichtlichen  Forschern  hier  u.  E.  entwickeln  können, 
wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung  widmen  würden.  ^ 


Die  Symbolik  des  Salbens  bei  den  Ägyptern.  Wellhausen 
hat  im  7.  Bande  dieser  Zeitschrift  (S.  33  ff.)  die  Frage  nach  dem 
Sinn  der  hebräischen  Königssalbung  angeregt  und  insbesondere 
danach  geforscht,  welche  Bedeutung  das  Öl  bei  dieser  Handlung 
gehabt  habe.  Wellhausens  Schlußfolgerung,  daß  die  Symbolik 
des  Öls  bei  der  Königssalbung  aus  semitischen  Anschauungen  nicht 
'ZU  erklären  sei,  scheint  mir  auch  durch  die  letzten  Ausführungen 
von  Völlers  (Archiv  VIII,  S.  97  ff.)  nicht  erschüttert  zu  sein,  und 
daher  darf  man  nach  wie  vor  mit  Wellhausen  an  die  Weisheit 
Ägyptens  appellieren. 

Eine  endgültige  Lösung  der  Frage  enthalten  auch  die  folgenden 
Ausführungen  nicht.  Dazu  sind  sie  zu  unvollständig.  Aber  ich  glaube, 
Idaß  dieser  erste  Versuch,  der  Frage  nachzugehen,  nicht  ohne 
I Nutzen  ist,  und  hoffe  vor  allen  Dingen,  daß  ich  damit  andere 
lAgyptologen  zu  weiterem  Eingehen  auf  diesen  Streitpunkt  anregen 
werde. 

Soviel  ich  weiß,  gibt  es  keine  Stelle^,  welche  für  das  alte 
Ägypten    die    Königssalbung     beweist.     Aber    daraus    möchte    ich 

^  Sog.  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig  enthalten  als 
sie  „Berichte"  ersetzen  soll.  Über  die  Zeitschriftenschau,  die  dem  Archiv 
besonders  beigegeben  werden  kann,  siehe  die  Mitteilung  Band  VIT,  S.  280. 

*  Die  Darstellung  in  den  bislang  bekannt  gewordenen  Fragmenten 
4es  Sd- Festes  im  Abusir  (Äg.  Zeitschrift  37  Tafel  I  Nr.  1)  ist  leider  in- 
sofern unklar,  als  nicht  zu  entscheiden  ist,  ob  eine  Waschung  oder  eine 
i  Ölung  des  Fußes  dargestellt  ist. 


144  Mitteilungen  und  Hinweise 

nicht  den  Schluß  ziehen,  daß  diese  Zeremonie  der  Königsweihe  in 
Ägypten  unbekannt  war.  Entweder  fehlen  uns  zufällig  die  be- 
treffenden Texte  oder  —  was  mir  sehr  viel  wahrscheinlicher  ist  —  wir 
verstehen  die  term.  technici  nicht,  aus  denen  der  Brauch  erschlossen 
werden  könnte. 

Dieser  wird  nun  aber  in  den  Amamabriefen  erwähnt  (Nr.  37 
ed.  Winckler),  wo  der  Pharao  einen  palästinensischen  Kleinfürsten 
einsetzt,  indem  er  „Öl  auf  sein  Haupt  gießt" \  und  weiter  ist 
mehrfach^  in  ägyptischen  Texten  „für  jemanden  ein  Amt  salben" 
der  Ausdruck  für  die  Einsetzung  in  ein  Amt.  So  sagt  ein  hoher 
Beamter  des  mittleren  Reiches  (um  1800  v.  Chr.),  der  Ämter  zu 
vergeben  hatte,  „ich  war  es,  der  die  Ämter  salbte  (tvrh)  im 
Hause  des  Fürsten"  (Stele  Florenz  1774). 

Nun  haben  im  Ägyptischen  die  Wörter  für  „ölen,  salben" 
(hok,  shoh,  nd,  ^nd)  die  übertragene  Bedeutung  „schützen".  Daraus 
darf  man  mit  großer  Wahrscheinlichkeit,  was  die  Symbolik  des 
Öls  anlangt,  den  Schluß  ziehen,  daß  nach  ägyptischer  Anschauung 
das  Öl  ein  Schutzmittel  sein  sollte.  Es  sollte  den  so  Gesalbten 
gegen  Gefahren  schützen,  mochten  sie  ihm  von  Menschen  oder 
Dämonen  drohen.^  Die  Königssalbung  war  also  von  ägyptischem 
Standpunkt  aus  eine  Zeremonie,  die  den  König  sakrosankt  machte. 
Ob  durch  das  Bestreichen  mit  Öl  auch  der  Zustand  des  Tabu 
geschaffen  wurde,  darüber  läßt  sich  zurzeit  nichts  sagen. 

Noch  möchte  ich  kurz  den  Kultbrauch  des  Salbens  von 
Statuen  erwähnen.*  Man  könnte  daran  denken,  daß  auch  hier 
das  öl  die  Statuen  schützen  soll,  aber  es  ist  ebensowohl  möglich, 
daß   in   diesem  Fall   die  Salbung   zur  Toilette    des   Gottes   gehört.^ 

W.  Spiegelberg 

Der  Ausdruck  „auf  die  Erde  legen"  =  „gebären"  im 
Ägyptischen.      Der    Ausdruck    „auf    die    Erde    legen "^    ist    auch 

^  Es  wäre  freilich  denkbar,  daß  der  Pharao  dabei  einen  syrischen 
Brauch  übernommen  hätte,  aber  die  folgenden  Ausführungen  sprechen 
stark  zugunsten  der  obigen  Ansicht. 

^  Vgl.  dazu  und  zum  folgenden  einem  demnächst  im  Becueil  de 
travaux  relatifs  ä  la  phil.  egypt.  .1906  (Varia)  erscheinenden  Aufsatz  über 
„Die  Symbolik  des  Salbens  im  Ägyptischen". 

*  Auch  in  der  Magie  spielte  das  Öl  eine  Rolle.  Vgl.  Erman  Be- 
ligion  der  Ägypter  S.  156. 

*  Sphinx  VI,  28;  Ägypt.  Urkunden  11,  47.  —  Noch  in  römischer  Zeit 
Erman  Beligion  S.  222. 

^  Vgl.  Moret  Bituel  du  culte  divin  S.  190  flF. 

^  dj.i  e  t5  wörtlich  „auf  die  Erde  geben".  Daß  so  zu  übersetzen 
ist,  nicht  etwa  „auf  die  Welt  bringen"  (Brugsch),  ergibt  sich  mit  Sicher- 
heit aus  der  entsprechenden  Wendung  Urk.  IV  9,  6. 


Mitteilungen  und  Hinweise  145 

ägyptisch  aus  dem  hieratisch -demotischen  Papyrus  Rhind  II,  1,  9\ 
im  Sinne  von  „gebären"  zu  belegen.  Der  demotische  Text,  welcher 
den  in  klassischer  Sprache  gehaltenen  hieratischen  meist  vulgär 
übersetzt,  überträgt  den  obigen  Ausdruck  durch  ms  „gebären", 
stellt  also  den  Sinn  der  Wendung  „auf  die  Erde  legen"  außer 
Zweifel.2 

Ich  möchte  im  Anschluß  daran  noch  darauf  hinweisen,  daß 
in  Ägypten  die  Niederkunft  sich  so  vollzog,  daß  die  Gebärende 
auf  zwei  Ziegelsteinen,  also  fast  auf  der  Erde  saß.^ 

W,  Spiegelberg 

In  seiner  zweiten  Satire  Von  der  rechten  Art  zu  beten'  schildert 
Persius  v.  31  ff.  einen  Brauch    der  römischen  Kinderstube: 

Ecce  avia  aut  metuens  divum  matertera  cunis 

exemit  puerum,  frontemque  atque  uda  lahella 

infami  digito  et  lustralihus  ante  salivis 

expiat,  urentis  oculos  inhibere  perita. 

tunc  manihus  quatit  et  spem  macram  suppUce  voto       35        • 

nunc  Licini  in  campos,  nunc  Crassi  mittit  in  aedis: 

'hunc  optet  generum  rex  et  regina,  puellae 

hunc  rapiant;  quidquid  cdlcaverit  hie,  rosa  fiat\ 

Die  römische  Kinderstube  und  ihr  volkstümliches  Wesen  ist 
uns  in  neuester  Zeit  nahegebracht  worden  durch  einen  Aufsatz  von 
W.  Heraeus  (Arch.  f. lat.Lexikogr.  und  Gram.  XIII,  1903/4  S.149ff.); 
wenn  F.  Buecheler  im  Kolleg  die  Stelle  behandelt,  gibt  er  zahl- 
reiche Belege  für  die  Sprache  des  Volkes,  die  aus  dem  Wunsche 
der  Großmutter  oder  Tante  zu  uns  redet.  Hier  sei  es  gestattet, 
zu  dem  Brauche,  den  die  Frauen  ausüben,  eine  merkwürdige 
Parallele  beizubringen.  In  seinen  wichtigen  Abhandlungen  zum 
'Ursprung  der  Religion  und  Kunst'  berichtet  K.  Th.  Preuß  nach 
Theophil  Hahn  (Globus  XII  S.  278)  von  folgender  Gewohnheit  der 
Hottentottenmütter  (Globus  1904  S.  377):  'Diese  singen,  während 
sie  ihr  Baby  auf  dem  Schöße  halten,  ein  improvisiertes  Lied,  das 
die  künftigen  Heldentaten  ihres  Sprößlings  behandelt,  und  dabei 
streicheln  und  küssen  sie  die  Gliedmaßen,  die  für  die  Ausführung 
der  Leistungen  in  Frage  kommen.  Nur  die  Geschlechtsteile  werden 
nicht  geküßt,  sondern  nur  die  Finger,  mit  denen  sie  berührt 
werden.  Der  Kuß  ist  also  an  die  Stelle  des  Anpustens  oder  An- 
spuckens  getreten,  wodurch  der  betreffenden  Person  oder  dem 
Gliede  Gedeihen  mitgeteilt  werden  soll.    Auch  das  dabei  gesungene 

^  Aus  der  Zeit  des  Kaiser  Augustus. 
^  Weitere  Beispiele  bei  Brngsch  Wörterbuch  IV,  1610. 
^  Siehe   dazu   Spiegelberg  Ägyptölog.  Bandglossen  zum  alten  Testa- 
ment S.  19  ff. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft    IX  10 


146  Mitteilungen  und  Hinweise 

Lied  (abgedruckt  Globus  1905  S.  397)  müssen  wir  als  ein  Zauber- 
lied auffassen.' 

Über  den  Zusammenhang  mit  dem  Glauben  an  die  Zauberkraft 
der  Exkremente  —  der  uns  manches  verständlich  macht,  was  Epi- 
phanius  von  gnostischen  Riten  berichtet  —  muß  man  sich  bei  Preuß 
selbst  unterrichten.  Der  römische  Brauch  ist  bereits  abgeblaßt, 
und  rationalistisch  umgedeutet  (urentis  oculos  inhibere  perita).  Daß 
die  Berührung  den  einzelnen  Gliedern  Segen  bringen  solle,  hat 
aber  noch  der  Scholiast  gewußt,  der  anführt,  u.  a.  solle  dadurch 
eloquium  erzielt  werden:  das  ist  auf  das  Bestreichen  der  lahella 
V.  32  zu  beziehen.  Das  Berühren  der  Stirn  soll  offenbar  Verstand 
verleihen.  R.  "Wünsch 

In  seinem  Moq  'EIXtjvo^vi^^cdv  11  (1905),  S.  180 — 186  ver- 
öffentlicht Sp.  L ambro s  zwei  Partien  aus  Berichten  über  den  Be- 
such des  Kaisers  Manuel  Palaiologos  im  Peloponnes  1415/16.  Es 
werden  darin  die  barbarischen  Sitten  der  Mainoten  geschildert, 
deren  Grausamkeiten  durch  diese  Reise  des  Kaisers  ein  Ende  ge- 
macht worden  sei.  Ein  Fortleben  des  antiken  ^aaiaXiö^iog  sieht 
der  Herausgeber  in  einem  scheußlichen  Brauch,  der  in  beiden  Berichten 
erwähnt  wird:  In  dem  Brief  des  Mönchs  Isidor  tü5  ßaöiXet  kvq 
MccvovrjX  (Cod.  Vatic.  Graec.  914)  heißt  es:  ovö^  exi  ^sta  zriv 
öcpayr^v  öccKtvXov  t)  ^slog  sreQOv  cc7fo%6tpag  rov  %eLfievov,  xovxo  tcocq^c 
tbv  Ttorov  ty  kvXlkl  ßccTtrcov  TtQOTtlvEL  Totg  (piloig^  xovxo  6r}  xh 
SKSLvoig  TtdXccL  cptXov  %al  avvrjd'eg.  Joannes  Argyropulos  schreibt  in 
der  UvyKQLöLg  itaXaL&v  aQiovxcov  %al  veov,  xov  vvv  ccvxoKQccxoQog 
(Cod.  Paris.  817):  xb  6e  ^ei^ov  %al  o  ^ride  naQccßdXXsöd-ccL  xoig 
TtQOXEQOLg  av  övvaixo^  6}g  ßqayvxaxa  ^SQrj  xexeXsvxrjKoxav  ccvaxs(i6vxeg 
Cco(iccxcov,  %ca  xccQL%ev6avxeg^  ecpSQOv  kccI  itoxotg  rj  otpOLg  ßccTtxovxsg 
TtQOXEQOv,  TteQL  xcc  6v^it6(5La  %al  xccg  Evcopccg  rjöscog  TtQayficcxevofisvot 
ÖLaxsXovöLv.     Doch  vgl.  Wuttke,  Volksaberglaube ^  §  190. 

H.  Hepding,  Pergamon 

Perdrizet  veröffentlicht  in  den  Comptes  rendus  de  Tacad.  des 
inscr.  1903  p.  62  —  66  das  Inschriftfragment  einer  kleinen  Marmor- 
basis aus  Antiochien,  enthaltend  den  Schluß  eines  Orakelverses 
des  Alexander  von  Abonoteichos  und  die  7  Vokale:  [0otßog 
aTiEQGexo^rjg  Xol^^ov  vsjcpEXrjv  ccTtSQVKSL.  AGHIOYQ.  Vgl.  Lukian 
Alex.  36  und  denselben  Vers  bei  Mart.  Cap.  I  18. 

L.  Deubner 

In  den  Comptes  rendus  de  Tacad.  des  inscr.  1905,  14&ff. 
veröffentlicht  Cumont  eine  aus  dem  Mithraeum  von  Emerita 
(Spanien)    stammende    Statue    des    schlangenumwundenen    Kronos. 


Mitteilungen  und  Hinweise  147 

Kopf  und  Arme  fehlen,  das  Löwenhaupt  ist  durch  eine  Löwenmaske 
auf  der  Brust  ersetzt,  wie  auf  einem  Eelief  in  Modena.  Aus  dem- 
selben Heiligtum  stammt  eine  Inschrift,  in  der  unter  anderem  eine 
ara  genesis  erwähnt  wird:  dies  eine  bemerkenswerte  Neuheit. 
[Man  lese  den  Anfang  der  Mithrasliturgie  rivsacg  7tq6tri  trjg  ififig 
ysviöeoagy  s.  meine  Mithraslit,   S.  2.  A.  D.]  L,  Deubner 


OvXog  ovsLQog.  Über  die  Schwierigkeit,  die  in  den  Hias- 
stellen  5  6,  8,  22  die  Übersetzung  „ünglückstraum",  „verderb- 
licher" oder  auch  „täuschender  Traum"  macht,  namentlich  in  der 
Anrede  des  Zeus  an  den  "OvsLQog  v.  8: 

ßdöx    tO'ij  Ovis  övsLQS,  d-o6cs  inl  vriccg  'A%ai&v, 

kommt  man  trotz  aller  Erläuterungs versuche  nicht  hinweg.  Zwar 
ist  dieser  ''OvBLqog  nicht  der  Traumgott,  der  selbst  über  gute  und 
böse  Träume  verfügt,  er  ist  aber  göttlicher  Bote  des  Zeus  (v.  26 
Jiog  de  toi,  ayyslog  eI^l^  v.  56  &eiog  oveiQog),  Zeus  sendet  ihn 
und  trägt  ihm  auf,  was  er  will  (A  63  %ccl  yaQ  t  ovaq  i%  Aiog 
iavLv).  Daß  er  den  Boten,  der  nach  der  Vorstellung  im  B  stets 
in  seiner  Umgebung  zur  Verfügung  ist,  anrede  „verderblicher 
Traum",  weil  er  ihm  dann  aufträgt,  dem  Agamemnon  etwas  zu 
sagen,  was  diesem' Verderben  bringt,  ist  ebenso  unmöglich  als  die 
Vorstellung,  daß  die  verschiedenen  Träume,  die  glückbringenden 
und  die  verderbenbringenden,  als  ayyeloi  zur  Verfügung  des  Zeus 
stünden,  aus  denen  er  hier  einen  oder  den  „verderbenbringenden" 
herbeirufe.^     Mit  dem  orphischen  Hymnus  86,  der  beginnt 

xtxX^öxo)  (Je,  fiaxap,  tavvöi'jttSQE,  ovXs  "Ovslqs, 
äyysXs  ^eIXovtov,  d'vrirotg  %Qri6^a>  8h  /x^ytörs, 

I  konnte  man  nur  fertig  werden,  wenn  man  von  „verständnisloser" 
Anlehnung  an  Homer  sprach.  Verbanden  die  Dichter  und  die 
Hörer  gar  keinen  Sinn  mit  o'uAg?  „Verderblich"  wäre  hier  jedenfalls 
ganz  unsinnig. 

So  sicher  ovlog  an  anderen  Stellen  diese  Bedeutung  hat 
((P  536,  E  717),  so  ausgeschlossen  ist  sie  hier.  Mir  scheint  von 
den    Bedeutungen,    die    ovlog    haben    kann    (s.  Brugmann    Indo- 


j  ^  Brugmann   will  den  in  der  Tat  anstößigen  Hiat  olXs  ovslqs  da- 

durch beseitigen,  daß  er  o^Xl  övslqb  in  diesen  Vers  einsetzt.  Das  ist 
I  schon  darum  unwahrscheinlich,  weil  davor  und  danach  das  formelhafte 
I  o^Xov  övsiQoVf  ovXog  övsiQog  steht.  Auf  diese  Weise  ist  der  Hiat  nicht  zu 
I  beseitigen;  man  müßte  zu  der  Auskunft  Wackernagels  {Bezzenh.  Beitr. 
i   IV  281)  greifen  ovXog  Övsiqs  (wie  qjiXog  w  MsviXas). 


]^48  Mitteilungen  und  Hinweise 

germanische  Forschungen  XI  1900,  266  ff. )^,  bleibt  nur  eine  mög- 
lich „kraus,  lockig".  Man  weiß,  wie  die  Bewohner  des  Lichtlandes, 
des  Sonnenlandes,  des  Götterlandes,  die  Seligen,  typisch  den 
Strahlenkranz  und  auch  lockiges  Haar  haben  (Nekyia  3 8  ff.).  Noch 
die  Seligen  der  Petrusapokalypse  haben  es  (v.  10)  tj  te  yccQ  Tio^ri 
ccvTc5v  ovIt]  7]v.  Kennzeichen  idealer  Schönheit  ist  es  auch  bei 
Homer  ^  229  ff.  %aö  8e  %dq'\]xog  ovlag  rjoie  %6^ag  (Athene  dem 
Odysseus,  als  sie  ihm  besondere  Schönheit  verleiht).  Die  Boten 
der  Götter  bei  Traumerscheinungen  haben  ihre  charakteristische 
Typik,  sie  sind  als  „idealschön"  und  Boten  des  Lichtlandes  auf- 
gefaßt (s.  die  Zusammenstellungen  bei  Deubner  De  incubaüone  12f.).^ 
Die  Vorstellung,  die  nach  Odyssee  w  11  f.: 

TtocQ  8'   l'ßccv  'Sl-Ksavov  TS  Qocc?  xul  AsvTidda  tcstqtiv 
rjdh  Ttag    r]eXloLo  TtvXccg  kccI  Sri^ov   övelqojv 
i]L6av 

vorhanden  war,  macht,  scheint  mir,  ovlog  „lockig"  vom  Traum„engel" 
besser  verständlich.  Es  ist  neben  den  sonst  vorhandenen,  so  gan« 
anderen  Vorstellungen  von  den  Träumen  (s.  r  360  ff.  Mutter  Erde  60f.) 
geradeso  möglich,  wie  der  oveiQog  bei  Zeus  im  B  überhaupt  da- 
neben möglich  ist.  Nicht  nur  als  Bewohner  des  Lichtlandes  itaq 
rjeUoLO  nvlccg,  auch  als  himmlischer  Bote  und  himmlische  Er- 
scheinung von  Zeus  ist  der  „lockige  Traumgott"  gedacht:  eine 
offenbar  festgewordene  Wendung,  die  sich  nur  im  Anfang  des 
zweiten  Buches  der  Ilias  für  uns  erhalten  hat,  dort  gleich  drei- 
mal hintereinander.  Albreoht  Dieterich 


^  Lukian  lupp.  trag.  40  (Zevg)  i^anata  xov  'AycciiEfivova  övslqov 
Ttva  ipsvdri  iTtiTtEfixpccg  beweist  nicht  einmal,  daß  Lukian  olXov  =  ipsvdri 
verstanden  habe.  Er  erzählt  ganz  einfach,  was  Ilias  B  im  Anfang 
geschieht,  wie  es  jeder  erzählt,  ob  er  nun  ovXog  so  oder  so  erklärt. 
Fick  (Die  hom.  Ilias  79)  hat  durch  eine  neue  Etymologie  (mit  lit.  pri- 
vilti  „betrügen")  die  Bedeutung  „täuschend"  erlangt,  die  ja  nach  der 
üblichen  Etymologie  gar  nicht  ohne  weiteres  möglich  wäre. 

^  Der  Hesperos  ist  bei  Kallimachos  Hymn.  auf  Delos  302  ovXog 
id'slQccig.  Da  wirken  natürlich  auch  die  Strahlen  der  Sterne  auf  die 
Vorstellung  ein 


[Abgeschlossen  am  27.  Januar  1906.J 


I  Abhandlungen 


Die  Schutzgötter  Yon  Mainz 

Von  Alfred  von  Domaszewski  in  Heidelberg 

Von  der  Religion  des  römischen  Germanien  sprechen  nur 
die  Denkmäler.  Schwer  gelingt  es,  in  diesen  rohgestalteten 
und  in  eintöniger  Wiederholung  fast  inhaltslosen  Reihen  die 
scheinbare  Einheit,  welche  die  Kultur  der  Gallier,  Germanen 
und  Römer  gewonnen  hatte,  nach  der  Eigenart  jener  Völker 
zu  scheiden.  Die  Vorstellung  des  gleichen  religiösen  Denkens 
wird  hervorgerufen  durch  den  gleichmäßigen  Ausdruck,  den 
die  Göttergestalten  in  Wort  und  Bild  gefunden  haben.  Denn 
diese  Gestalten  hattei  allen  drei  Völkern  der  ewig  in  anschau- 
lichen Formen  schaffende  Geist  der  Griechen  gebildet.  Nur 
wenn  es  gelingt,  den  Schleier,  den  griechische  Phantasie  um 
den  fremden  Inhalt  gewoben  hat,  zu  durchdringen,  wird  der 
Blick  in  die  Tiefe  historischen  Geschehens  eindringen.  Bei 
richtiger  Betrachtung  gewährt  auch  das  unscheinbare  Denkmal, 
dessen  Sinn  im  folgenden  enträtselt  werden  soll,  diesen  Blick 
in  den  Wandel  religiösen  Denkens. 

Der  würfelförmige  Stein  wurde  im  Dezember  des  Jahres 
1889  in  Mainz  bei  Kanalarbeiten  gefunden.  Seine  erhaltene 
Höhe  beträgt  49  cm,  wovon  9  cm  auf  das  Gesimse  entfallen. 
Unten  ist  der  Stein  verstümmelt.  Breite  und  Tiefe  mißt 
35  cm.^ 

^  Zuerst  publiziert  und  beschrieben  von  Haug,  Westd.  Korr.-Bl. 
1890,  134 ff.    Dann  von  Gardoz  Bev.  archeolog.  1890,  1  S.  66  und  Taf.  6.  7. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  11 


150  Alfred  von  Domaszewski 

Auf  jeder  der  vier  Seiten  ist  ein  göttliclies  Paar  gebildet, 
ein  Gott  und  eine  Göttin,  die  durch  die  Art,  wie  die  Frau 
dem  Manne  sich  zuneigt,  innig  verbunden  erscheinen.  Keine 
der  vier  Seiten  ist  bei  der  schweren  Beschädigung  des  Denk- 
males  äußerlich  vor  den  übrigen  hervorgehoben.  Aber  die 
Analyse  des  Gedankens  wird  lehren,  daß  die  Hauptseite  jene 
ist,  auf  welcher  Diana  neben  dem  Gotte  mit  dem  Hammer- 
szepter steht.  Das  Verständnis  dieser  schwierigen  Gruppe 
dankt  man  Michaelis.^  Er  hat  gezeigt,  daß  dieser  gallische 
Gott  im  römischen  Germanien  den  Namen  Silvanus  führte. 
Nach  seinem  Wesen  war  er  nicht  ein  Gott  der  dunkeln,  wild- 
reichen Jagdgründe,  sondern  ein  Gott  des  Himmels,  dessen 
Hammer,  wie  der  des  Thor,  Blitz  und  Donner  erregte.  Die  selt- 
same römische  Gleichung  ist  nur  eine  Übersetzung  aus  dem 
Griechischen.^  Silvanus  ist  an  Stelle  des  Pan  getreten,  mit 
dessen  Namen  die  Massalioten  den  im  Walde  an  der  Ehone 
herrschenden  Gott  der  Gallier  bezeichneten.  Den  wahren  Namen 
des  Gottes  mit  dem  Hammer  hat  uns  erst  ein  Altar  aus  Saar- 
burg kennen  gelehrt.^  Er  hieß  Sucellus  und  die  Göttin,  die 
ihn  begleitet,  Nantosvelta.  Die  Göttin  des  Saarburger  Reliefs 
zeigt  die  Bildung  der  Himmelskönigin  Juno,  nur  daß  das 
Szepter  eigenartig  ein  Tempelchen  krönt.  Deshalb  muß  es 
im  hohen  Grade  befremden,  die  Göttin  auf  dem  Mainzer  Denk- 
male und  auch  sonst  neben  Sucellus  als  Diana  gebildet  zu 
sehen.  Und  doch  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß 
Nantosvelta  den  Römern  Diana  hieß.  Auf  dem  Bruchstück 
eines  Reliefs,  das  Nantosvelta  darstellt,  ist  von  römischer 
Hand  auf  das  Tempelchen  des  Szepters  geschrieben:  dea  Diana.* 
So  ist  die  Deutung  des  Mainzer  Reliefs  völlig  gesichert.     Die 

^  Jahrb.  der  Gesellsch.  für  lothr.  Gesch.  und  AlteHumskunde  7,  1895 
128  —  163. 

2  Vgl.  meine  Untersuchung  Phüologus  61  (1902),  p.  21flf. 

3  C.  XIII  4542. 

^  C.  XIII  4469  aus  Kirchnaumen,  nahe  der  Grenze  der  Mediomatrici 
und  Treveri,  in  der  Richtung  von  Metz  nach  Saarbrücken  gefunden. 


Die  Schutzgötter  von  Mainz  151 

Grottheiten  sind,  mit  ihrem  gallisclieii  Namen  benannt,  Sucellus 
und  Nantosvelta. 

Einfach  aus  dem  römischen  Gedankenkreise  ist  das  Götter- 
paar der  rechten  Nebenseite  erwachsen.  Wir  sehen  rechts  den 
Genius  in  seiner  typischen,  römischen  Gestalt  das  FüUhorn 
im  linken  Arm  haltend,  mit  der  Rechten  eine  Weinspende  in 
die  Flammen  eines  Altars  gießend.  Sein  Haupt  ziert  eine 
Mauerkrone.  Durch  dieses  Attribut  ist  er  als  numen  castrorum 
bezeichnet.^  Viele  der  Leben  schaffenden  Geister  des  Heeres 
tragen  diese  Symbole  und  nur  die  Analyse  des  Gedankens  wird 
wieder  lehren,  daß  der  Lebensgeist  des  ganzen  Lagers,  der  Genius 
castrorum,  dargestellt  ist.  Die  Göttin  an  seiner  Seite  ist  durch  / 
Füllhorn  und  Steuerruder  als  Fortuna  bezeichnet.  ' 

Durch  weitgehende  Zerstörung  ist  die  Gruppe  an  der 
Eückseite  verstümmelt.  Der  Gott  ist  an  seiner  Haltung  als 
Apollo  kenntlich.  Ausruhend  hat  er  das  rechte  Bein  über- 
geschlagen. Den  Kopf  stützt  er  in  die  Hand  des  zurück- 
gelegten rechten  Armes.  Das  wallende  Haupthaar  ist  von 
einer  flatternden  Tänie  zusammengehalten.  Die  linke  Hand 
ruhte  auf  einer,  jetzt  weggebrochenen,  auf  dem  Boden  stehenden 
Leier.  Die  Göttin  trägt  mit  der  ausgestreckten  linken  Hand 
ein  bauchiges  Gefäß,  aus  ihrer  geschlossenen  Rechten  schlüpft 
eine  Schlange  hervor,  deren  Kopf  über  dem  Deckel  des  Ge- 
fäßes sichtbar  wird.  Die  Göttin  ist  Salus.  Die  Verbindung 
des  Apollo  mit  Salus  hebt  gerade  jene  Bedeutung  des  Gottes 
hervor,  die  dem,  Apollo  benannten,  gallischen  Gotte  zukam.^ 
Sein  gallischer  Name  ist  Grannus;  die  ihn  begleitende  Göttin 
heißt  gallisch  Sirona.^    Die  Schwierigkeit,  gallische  Gottheiten 

^  Domaszewski  Die  Beligion  des  röm.  Heeres.  S.  95, 
*  Caesar  B.  G.  6,  17,  2  Apollinem  morbos  depellere. 
"  Zangemeister  bemerkt  zu  C.  XIII  5315  Apollini  Granno  Mogouno 
aram  —  Apollinem  Grannum ,  multis  titulis  notum  (praeter  hoc  vol.  vide  in 
vol.  III.  VI.  VII),  'salutarem  sive  medicinalem'  aquarum  deum  faisse  inde 
patet,  quod  sociatur  Hygiae  (III  5873),  Nymphis  (III  5861),  Sironae 
(III  5588.  VI  36). 

11* 


152  Alfred  von  Domaszewski 

durch  die  interpretatio  Latina  in  Wort  und  Bild  wiederzugeben, 
zeigt  sicli  bei  Sirona  besonders  deutlich.  Denn  auch  sie  wurde 
von  den  Römern  mit  Diana  geglichen.  So  wurde  an  den 
Heilquellen  von  Wiesbaden  (Aquae  Mattiacae)  Sirona  verehrt  ^, 
welche  die  Römer  Diana  Mattiaca  nannten.^  Ebenso  heißt  die 
Göttin  des  Bades  von  Badenweiler  im  Schwarzwald  Diana 
Abnoba^,  während  sonst  Abnoba  die  Göttin  des  Schwarzwaldes 
selbst  ist.  Als  Salus  erscheint  die  Sirona  auch  an  der  Heil- 
quelle in  Faimingen  C.  III  5873  Apollini  Granno  et  Sanctae 
Hygiae.*  Wie  im  Worte,  so  wird  auch  im  Bilde  die  Inter- 
pretatio nicht  festgehalten.  Auf  einem  Steine  aus  Bittburg  ^ 
trägt  sie  einen  Zweig  in  der  Linken,  auf  einem  anderen  aus 
Baumburg ^  in  der  Rechten  Ähren,  in  der  Linken  eine  Traube. 
Bei  all  diesem  Schwanken  ist  es  doch  nicht  zu  bezweifeln,  daß 
das  Mainzer  Relief  Grannus  und  Sirona,  als  Apollo  und  Salus 
gebildet,  darstellt. 

Auf  der  rechten  Nebenseite  erscheint  ein  Gott  von  jugend- 
lich kräftigen  Formen,  der  in  der  Rechten  einen  Lorbeerzweig 
hält.  Auch  die  Linke  hielt,  nach  der  Verstümmelung  zu 
schließen,  ein  längliches  schmales  Attribut.  Trotz  der  argen 
Zerstörung  des  Kopfes  erkennt  man  an  der  rechten  Schläfe 
einen  dreieckigen,  oben  leicht  gewölbten  Fortsatz.  Es  ist  der 
Flügel  des  Petasos,  und  der  Gott  ist  Mercurius,  der  in  der 
Linken  das  Kerykeion  hielt.  Der  Lorbeerzweig  in  seiner  Rechten 
ist  der  Zweig  des  Siegers  im  Kampfspiel.  Deshalb  krönt  ihn 
Victoria,    die   in   der  Linken   die   Palme,   in  der  Rechten  den 


^  C.  XIII  7570  Sironae  C.  lulius  Restitutus  c(urator)  templi  d(e) 
s(uo)  p(osnit). 

2  C.  XIII  7565  Antonia  M  .  .  ia  T.  Porci  Ruf[ia]ni  [leg(ati?)] 
[l]eg(ionis)  XXII  pr(iinigeniae)  p(iae)  fidelis  [pro  sa]l(ute)  Porciae 
Rufianae  filiae  su[ae  D]ianae  M[a]t[ti]acae  voto  Signum  po8ii[it]. 

8  C.  XIII  5334. 

*  Zeile  2  ist  zu  ergänzen  [7]at(icimo)  deorum  ipsorum.  Vgl.  C.  III 
S.  1854.         ^  C.  XIII  4129  (=  Hettner  cat.  n.  48). 

ö  C.  III  5588  (=  Hefner  Bas  röm.  Bayern  Taf.  3,  15). 


Die  Schutzgötter  von  Mainz  153 

iKranz   mit   flatternden  Tänien  hält.     Mercurius  ist  dargestellt 
als  'EQ^TJg  dyavLog^,  als  Schutzgott  der  Palästra. 

Die  höhere  Einheit,  welche  die  vier  Gruppen  im  Gedanken 
verbindet,  kann  nur  aus  den  historischen  Bedingungen  be- 
griffen werden,  die  zur  Bildung  dieser  Kulte  auf  dem  Boden 
!des  römischen  Mainz  geführt  haben.  Solche  Voraussetzungen 
können  wir  noch  gewinnen  aus  den  Inschriften  des  römischen 
'Mainz.  Für  die  eigenartige  Organisation  des  Lagerterritoriums 
ist  folgender  Altar  am  lehrreichsten.  C.  XIII  6730  I(ovi) 
o(ptimo)  m(aximo)  Sucaelo  et  Gen(io)  loci  pro  salute 
C(ai)  Calpurni  Seppiani  p(rimi)  p(ili)  leg(ionis)  XXII 
pr(imigeniae)  p(iae)  (fidelis)  Trophimus  actor  [et]  Canabari(i) 
ex  voto.  Als  Mommsen  seine  berühmte  Abhandlung  über  die 
römischen  Lagerstädte  schrieb^,  war  diese  Inschrift,  sowie 
andere  Zeugnisse,  die  über  einen  Wandel  in  der  Organisation 
der  Legionsterritorien  zur  Zeit  des  Septimius  Severus  belehrten, 
noch  unbekannt.^  Nach  der  ältesten  Ordnung  durften  im 
Umkreis  des  Lagers  keine  festen  Gebäude  stehen.*  Nur 
hölzerne  Buden  (=  canabae)  erbauten  die  Kaufleute,  Händler, 
Wirte,  und  unter  ihneÄ  wohnten  auch  die  Veteranen  der  Truppe, 
die  am  Orte  ihrer  langen  Dienstzeit  den  Abend  ihres  Lebens 
verbrachten.  Diese  Cives  Romani  ad  Canabas  consistentes 
oder  auch  Canabenses,  Canabarii  genannt,  besaßen  eine  halb- 
städtische Organisation  mit  einem  Dekurionenrat.^  Die  an 
der  Rückseite  des    Lagers,    an    der  porta  decumana  liegenden 


^  Preller -Robert  Griech.  Myth.  1,  415. 

2  Mommsen  Hermes  7,  1873,  299—326. 

^  In  Brambach  956=C.XIII  7222  las  Mommsen  selbst  später  L.Senilius 
Decmanus  q(uae8tor),  c(urator)  c(iviiim)  R(omanorum)  m(anticnlariorum) 
neg(otiatoram)  Mog(ontiacensium)  nach  Analogie  von  C.  XIII  6797,  wo 
Cives  Romani  manticulari  negotiatores  ausgeschrieben  ßteht. 

*  Domaszewski  Die  Beligion  des  rö'm.  Heeres.    S.  100. 

^  In  Mainz  C.  XIII  n.  6769  ordo  civium  Romanorum  (a.  222—235) 
6733  d(ecurio)  c(ivium)  R(omanorum)  (a.  276). 


]^54  Alfred  von  Domaszewski 


I 


canabae  wurden  so  geradezu  als  vicus  bezeichnet.^  Der  Altar 
des  Sucaelus,  gesetzt  von  dem  actor  und  den  Canabarii^ 
erhält  sein  volles  Licht  erst  durch  neue  Funde  aus 
Camuntum.  In  einem  Räume  des  Legionslagers  wurden 
dort  zwei  Altäre  aufgedeckt  C.  III  14356^*.  Libero  patri 
et  Liberae  Dionysius  actor  Brittici  Crescentis  p(rimi)  p(ili) 
v(otum)  s(olvit).  14356^^  Libero  Liberae  Fortunae  Mercurio 
lustro  Ansi  Proculi  p(rimi)  p(ili)  Ansius  Archelaus  ex  voto 
pos(uit).  Da  der  Primus  pilus  das  Lustrum,  den  Schlußakt 
der  Schätzung  abhält,  so  hat  er  die  censorischen  Geschäfte  im 
Territorium  legionis  geleitet,  wie  der  Duumvir  quinquennalis 
der  Municipien.  Sein  Geschäftsführer  ist  der  actor.  Er  weiht 
Liber  und  Libera  den  großen  Göttern  des  Landes,  wie  Fortuna 
und  Mercurius,  den  römischen  Schutzgöttern  materiellen  Ge- 
deihens, einen  Altar  in  dem  Geschäftszimmer^  dieses  Zweiges 
der  militärischen  Verwaltung  des  Lagers.  Ebenso  hat  in  Mainz 
der  actor  Trophimus  des  primus  pilus  Calpurnius  Seppianus 
—  so  ist  zu  erklären  —  dem  keltischen  Himmelsgott  Sucaelus 
den  Altar  zum  Heile  des  Territorium  Legionis  geweiht.  Sucaelus 
erscheint  als  dem  römischen  Himmelsgott  luppiter  optimus 
maximus  wesensgleich.^  Der  militärische  Charakter  der  Ver- 
waltung tritt  noch  stärker  hervor  in  der  Verpachtung  nutzbarer 
Flächen  des  Territoriums  an  Soldaten  CHI  14356 3*.  I(ovi) 
o(ptimo)  m(aximo)  sacr(um)  pro  sal(ute)  Aug(ustorum)  C(aius) 
lulius  CatuUinus  mil(es)  leg(ionis)  XIV  g(eminae)  M(artiae) 
V(ictricis)  cond(uctor)  prat(i)  Fur(iani)  lustr(o)  Nert(i)  Celerini 
p(rimi)  p(ili)  a.  205.  Dieser  Conductor  ist  ein  Großpächter, 
der  zugleich  die  Aufsicht  übt  über  die  Leistungen  der  coloni, 


^  So  in  Straßburg  C.  XIII  6967  [GJenii  vici  Ca[n]abar(um)  et 
vi[ca]nor(um)  Canabensium. 

-  Nicbt  in  der  Kantine,  wie  man  wunderlich  genug  ange- 
nommen hat,  indem  mau  den  Liber  als  römischen  Weingott  (sie)  inter- 
pretierte. 

2  FMlologus  61  (1902),  p.  22. 


Die  Schutzgötter  von  Mainz  155 

wie  dies  analog  in  den  kaiserlichen  Domänen  sich  findet.^ 
Diese  Umgestaltung  der  Verwaltung  der  Territoria  Legionis 
hat  Septimius  Severus  durchgeführt.^  Neben  die  Cives  Romani, 
die  sich  nach  freier  Wahl  zur  Führung  ihrer  Privatgeschäfte 
in  dem  Gebiete  des  Legionslagers  aufhalten,  sind  coloni  ge- 
treten, die  unter  dem  Zwange  einer  kaiserlichen  Domänen- 
verwaltung an  den  Boden  gefesselt  sind.  Die  Coloni  erhielten 
nicht  das  Bürgerrecht  durch  die  constitutio  Antoniniana.^  Des- 
halb dauert  die  Sonderstellung  der  cives  Romani  im  Territorium 
legionis  fort:  C.  XIII  6733  in  h(onorem)  d(omus)  d(ivinae) 
D(e)ae  Lun(a)e  MarceUinius  Placidinus  d(ecurio)  c(ivium) 
R(omanorum)  Mog(ontiaci)  —  a.  276  n.  Chr.  —  6769  T.  Florius 
Saturninus  vet(eranus)  ex  sig(nifero)  leg(ionis)  XXII  pr(imi- 
geniae)  p(iae)  f(idelis)  Alexandrianae  m(issus)  h(onesta)  m(issione) 
aUectus  in  ordi[n]em  c(ivium)  R(omanorum)  et.^  Mog[ont(ia- 
censium)].  Auch  der  Glaube  der  canabarii  hat  sich  völlig 
gewandelt.  An  Stelle  des  luppiter  optimus  maximus,  des 
Schirmherrn  der  Römer,  ist  mit  der  Renationalisierung^  des 
Reiches  sein  keltischer  Vetter  Sucaelus  getreten. 

Nach  Sucaelus 'ist  auf  dem  Altar  des  exactors  der  Genius 
loci  genannt.  Er  erscheint  auf  unserem  Denkmal  auf  der 
rechten  Seite  als  Genius  castrorum  in  seiner  Individualität 
durch  das  Bild  näher  bestimmt.  Ihm  ist  Fortuna  zugesellt. 
Auch  sie  ist  eine  Gottheit  des  Ortes.  Vor  der  Front  des 
Lagers  auf  dem  Abhang  nach  dem  Rheine  hatten  sich  in 
Jahrhunderten  ungestörten  Friedens  römische  Kaufleute  nieder- 
gelassen. Diese  Ansiedlung  war  ursprünglich  ein  Teil  der 
Canabae,  aber  allmählich  durch  ihre  abgesonderte  Lage  zu  einer 

^  Mommsen  Hermes  18,  404.  Ramsay  Cities  and  Bishoprics  of 
Fhrygia  I  1,  2  passim;  Rostowzew  Österr.  Jahresh.  4.  Beibl.  S.  37  ff. 
Premerstein  Wiener  Studien  24,  141  ff. 

2  C.  III  14509  (Viminacium)  Neubau  der  Canabae.  In  Mainz  sind 
die  Canabae  noch  im  Jahre  255  nachweisbar  C.  XIII  6780. 

^  Vgl.  Dittenberger.     Olympia  V  n.  110. 

^  So  zeigt  der  Abklatsch.  ^  Philologus  61,  1902,  27. 


156  Alfred  von  Domaszewski 

eigenen  Gemeinde  herangewachsen,  hieß  sie  vicus  novus.^  Im 
Gebiete  dieses  ^ Neudorfs'  fand  sich  noch  an  seinem  ursprüng- 
lichen Platze,  an  dem  Wege,  der  von  der  porta  praetoria  nach 
der  Rheinbrücke  führte,  der  Altar  C.  XIII  6676  Fortunae 
Aug(ustae)  sacr(um)  Nemonius  Senecio  c(urator)  v(ici)  et 
T.  Tertius  Felix  q(uaestor)  et  C.  Atius  Yerecundus  act(or)  d(e) 
s(uo)  p(osuerunt).  Es  sind  die  Beamten  des  vicus  novus,  die 
der  Fortuna  den  Altar  setzen.  Schon  in  der  Zeit  des  Severus, 
der  den  Soldaten  gestattete,  mit  ihren  Frauen  zusammen  zu 
leben  ^,  werden  die  Legionare  in  dem  wohlgebauten^  vicus  novus 
gewohnt  haben.  Als  gegen  das  Ende  des  dritten  Jahrhunderts 
mit  dem  gänzlichen  Schwinden  der  militärischen  Kraft  das 
weitgedehnte  Lager  nicht  mehr  gehalten  werden  konnte,  be- 
hauptete man  wenigstens  den  Steilrand  und  umschloß  die 
Praetentura,  sowie  den  vicus  novus  mit  einer  neuen  gemein- 
samen Mauer.* 

Auch  für  das  Relief  der  Rückseite  ist  eine  Beziehung  auf 
eine  bestimmte  Ortlichkeit  des  römischen  Mainz  leicht  zu  er- 
kennen. Denn  wir  wissen,  daß  zwei  Gemeinwesen,  die  in  der 
Nähe  des  Lagers  sich  befanden,  nach  den  Göttern  Apollo  und 
Salus  benannt  waren.  Es  lehren  dies  zwei  Inschriften  C.  XIII 
6688  Genio  collegii  iuventutis  vici  Apollinesis  —  6723  I(ovi) 
o(ptimo)  m(aximo)  et  lunoni  Reginae  vicani  salutares.  Der 
Vicus  der  Salus  hat  sicher  schon  im  ersten  Jahrhundert^  be- 
standen. Aber  eben  in  dieser  Zeit  kleidet  sich  der  gallische 
Glaube  in  das  römische  Gewand.  Grannus  und  Sirona,  die 
Schutzgötter  der  gallischen  Niederlassung,  die  an  der  Mündung 
des  Main  in  den  Rhein  lange  bestanden  hatte,   ehe  die  Römer 

1  C.  XIII  S.  303. 

2  Mommsen  C.  III  p.  2011 ;  P.  Meyer  Archiv  f.  Papyrusforschung  III 68. 
^  C.  XIII  6786  [ob  immunitatem  a  vijcanis  [vi(ci)  n(ovi)  sibi  c]on- 

cess[ain  memor  ben]efici  [viam  p(assuum)]  DCCC  [sua  pecunia  stravjit. 
Die  Distanz  bezeichnet  die  Länge  der  Straße  von  der  porta  praetoria 
des  Lagers  bis  an  die  römische  Rheinbrücke. 

*  C.  XIII  S.  302,  2.         ^  Vgl.  Zangemeister  zur  Inschrift. 


Die  Schutzgötter  von  Mainz  157 

ihr  Lager  erbauten,  sie  nennen  sicli  unter  römischer  Herrschaft 
Apollo  und  Salus. 

Das  Gegenstück  zu  dem  Genius  castrorum  des  Reliefs  der 
rechten  Seite  bildet  der  ^EQ^7}g  ocymviog  des  Reliefs  der  linken 
Seite.  Diese  Gottheiten  hat  der  bildende  Künstler  in  tieferer 
Absicht  einander  gegenübergestellt.  Durch  seine  durchgreifenden 
Änderungen  hatte  Septimius  Severus  auch  dem  Heere  des 
Abendlandes  den  orientalischen  Charakter  aufgedrückt.  In 
seinem  Heere  sind  es  nach  Aegyptens  Vorbild  die  Lagerkinder, 
aus  denen  die  Legionen  sich  ergänzen.  So  wird  in  dieser  Zeit 
auch  in  der  bürgerlichen  Niederlassung  die  Jungmannschaft 
zu  festen  Verbänden,  collegia  iuventutis,  zusammengeschlossen, 
sowohl  am  Limes ^  als  im  Inneren  des  Reiches,  wo  sie  in  der 
Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  den  Wachdienst  auf  den  Reichs- 
straßen leisten.^  Es  entspricht  dieser  Entwickelung,  daß  auch 
in  Mainz  zwei  solche  Verbände  sich  finden,  das  coUegium 
iuventutis  vici  ApoUinensis  ^  und  die  iuventus  Vobergensis.* 
Das  zur  bloßen  Miliz  herabgesunkene  Heer  des  Severus^  ver- 
legte die  Ausbildung,  die  der  Dienst  selbst  dem  Soldaten  nicht 
mehr  gab,  in  die  Vorstufe  des  Kriegsdienstes,  die  Übungen 
der  Iuventus.    Die  Siegeskraft  der  Iuventus  stellt  das  Bild  der 

1  C.  Xin  6468,  6549  (a.  222).  7424  (a.  242).  In  diesen  Dörfern  am 
Limes  kann  nun  gar  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  das  coUe- 
gium iuventutis  kein  Turnverein  nach  Art  der  griechischen  vioi,  ge- 
wesen sein. 

^  C.  4131  Num(inibus)  Aug(ustorum)  fara[to]rem  exaedificaverunt 
suo  in[p]endio  iuniores  vici  hie  co(n)sistentes  loco  sibi  concesso  et  donato 
|a  vikanis  Bedensibus  a.  245  p.  Chr.  farator  ist  nach  Buechelers  Er- 
iklärung  turris  speculatoria.    Vgl.  n.  3632. 

»  C.  XIII  6688  vgl.  oben. 

*  C.  XIII  6689.  Es  sind  germanische  Colonen.  Die  Auflösung 
der  Reichswehr  durch  die  Ansiedlung  germanischer  Dediticii  im  Limes- 
gebiet tritt  schon  unter  Severus  Alexander  ein.  Westd.  Zeitschr.  1902,  206. 

^  Selbst  die  Chargen  der  Principales  werden  erblich,  so  daß  der 
Sohn  eines  bucinators  schon  mit  6  Jahren  bucinator  ist.  Vgl.  meine  Be- 
merkungen bei  Hofmann  Supplement  der  österr.  Jahresh.  Y  80. 


158         Alfred  von  Domaszewski    Die  Schutzgötter  von  Mainz 

linken  Seite   dar,   auf  dem   Mercurius  von  Victoria   als   Sieger 
bekränzt  wird. 

Mit  Recht  hat  Hang  das  Mainzer  Denkmal  in  eine  Reihe 
gestellt  mit  den  sog.  Viergöttersteinen,  die  als  Basen  luppiter- 
säulen  trugen.  Dies  war  zweifellos  die  Bestimmung  des 
Mainzer  Denkmals,  aber  es  unterscheidet  sich  von  den  anderen 
Basen  durch  den  Reichtum  des  figürlichen  Schmuckes  und  die 
Feinheit  der  Erfindung.  Das  Vorbild  der  uns  erhaltenen 
dürftigen  Wiederholung  muß  ein  Denkmal  von  ganz  anderer 
Bedeutung  gewesen  sein,  ein  Gegenstück  zu  jenem  großartigen 
Denkmale  aus  neronischer  Zeit,  das  eben  durch  die  Kunst 
und  die  Umsicht  der  Mainzer  Museums  Verwaltung  seiner  Auf- 
erstehung entgegengeht.^  Die  Gegenüberstellung  der  beiden 
Denkmäler  soll  später  versucht  werden. 


^  Vgl.  den  vorläufigen  Bericht  Koerbers  Westd.Korr.-Bl.  1905,  98  ff. 


A.  v.Doinaszewski,  Die  Schutzgötter  von  Mainz. 


li-^ 


Altar  aus  Mainz. 


Archiv  für  Keligionswissenschaft  IX.    2. 


Die  biblischen  Schöpf ungsberichte' 

Von  Friedrich  Schwally  in  Gießen 

Der  Hergang  bei  der  Schöpfung  der  Welt  wird  von  der 
Bibel  in  doppelter  Gestalt  überliefert.  Die  eine,  I.  Mos.  Kap.  1, 
1 — 2,3;  beginnt  mit  den  bekannten  Worten:  „Im  Anfang 
schuf  Gott  Himmel  und  Erde"  und  schließt  mit  der  Einsetzung 
des  Sabbats  als  Ruhetag.^  Hierauf  folgt  unmittelbar  die  zweite 
Gestalt  des  Mythus  Y.  5:  „Ehe  noch  Gesträuch  des  Feldes 
vorhanden  noch  Kraut  des  Feldes  gesproßt  war  .  .  .,^  (Y.  7)  da 

^  Diese  Ausführungen  sind  die  wesentlichen  Teile  eines  Vortrages, 
den  ich  am  19.  Dezember  1904  in  einer  Sitzung  der  Orts- 
gruppe Gießen  des  hessischen  Vereins  für  Volkskunde 
I  gehalten  habe.  Da  ich  nicht  vor  Fachgenossen  sprach  und  jetzt  auch 
j  nicht  in  erster  Linie  für  sie  schreibe,  war  hier  und  da  eine  größere 
*  Breite  der  Darstellung  unerläßlich. 

*  Die  Einzelheiten  sind  sehr  verworren,  da  die  Verse  2,  1—3  nicht 

j  nur  sehr  verschieden  an  Alter  und  Herkunft ,  sondern  auch  durch  Glossen 

j  entstellt  sind.     Die  Wendung  „sein  Werk,  welches  er   gemacht  hatte" 

i  (n^s?  im  inax^Ts)  kommt  in  den  paar  Zeilen  nicht  weniger  als  dreimal  vor, 

zuletzt  in  der  Form  der  stilistischen  Monstrosität  nibs'b  i<nn  nrx,  welche 

kein   Geringerer  als   H.  Ewald   den  Nachfahren  mundgerecht  gemacht 

hat  (Hehr.  Gramm.  7.  A.  §  285a).  Der  Terminus  bärä  „schaffen"  findet  sich 

übrigens  innerhalb  des  ersten  Schöpfungsberichtes  nur   an  zwei  Stellen, 

V.  21.  27   (sonst    überall    'äsäh),    außerdem    nur    in   den    Überschriften 

1,  1;  2,  4.  —  Über  V.  4a  „Dies  ist  die  Geburtsgeschichte   des  Himmels 

|und  der  Erde"  ist  mit  Bestimmtheit  nur  so  viel  zu  sagen,  daß  er  der  Form 

jnach  eine  Überschrift  ist;  gehört  dieselbe  zum  Vorhergehenden,  so  ist 

Isie  an  falsche  Stelle  geraten,  gehört  sie  zum  Folgenden,  so  bleibt  un- 

I erklärlich,  wie  der  Bericht  von  der  Schöpfung  des  Paradieses  zu  einem 

jso  hochtrabenden  Titel  gekommen  ist. 

^  Der  durch  Punkte  angedeutete  Text  scheint  stark  durch  Glossen 
erweitert  zu  sein.  Und  von  dem  einzigen  Satz,  welcher  mit  Sicherheit 
der  ältesten  Quelle  angehört,  V.  6a  „und  Flut  stieg  herauf  von  der  Erde" 
j7"i5<n  i^a  nbsJi  "ixi,  ist  nicht  klar,  wie  er  syntaktisch  mit  dem  Umstehenden 
{zu  verbinden  ist.     Ich  vermute,  daß  hinter  "ix  ein  cnü  ausgefallen  ist. 


i\ 


IßO  Friedrich  Schwally 

bildete  Jahve  den  Mensclien  aus  Erde^  und  blies  Lebensodem 
in  seine  Nase,  so  ward  der  Mensch  zu  einem  lebendigen  Wesen/' 
Hierauf  wird  das  Paradies  eingerichtet  mit  seinen  Flüssen, 
Bäumen  und  Tieren  und  der  Adam  hineingesetzt.  Zu  aller- 
letzt entsteht  das  Weib.  Der  Unterschied  der  beiden  Rezen- 
sionen ist  ungeheuer.  Hier  dramatische  Handlung,  dort  pedan- 
tische Aufzählung;  hier  dreht  sich  alles  um  den  Menschen,  der 
Anfang  und  Ende  des  Aktes  ist,  dort  ist  der  Mensch  nur 
Schlußstein  des  Baues  und  eine  Nummer  im  Kataloge;  hier 
ist  die  sagenhafte  Gestalt  des  Paradieses  der  Schauplatz,  dort 
die  wirkliche  Welt.  Im  Grunde  ist  es  deshalb  verkehrt,  von 
zwei  Rezensionen  zu  reden,  denn  allein  Gen.  1  handelt  von 
der  Erschaffung  der  gegenwärtigen  Welt,  während  Gen.  2  sich 
ausschließlich  auf  das  Paradies  bezieht.  Über  diese  und 
andere  Seiten  des  Verhältnisses  zwischen  Gen.  1  und  2  ist 
schon  unglaublich  viel  verhandelt  worden.  Im  folgenden  will 
ich  versuchen,  einige  Probleme,  welche  bisher  noch  gar  nicht 
oder  nicht  genügend  erkannt  worden  sind,  zu  stellen  und  zu 
lösen. 

Wenn  man  sich  die  Schöpfungsprodukte  der  sechs  Tage 
vergegenwärtigt,  wie  sie  Gen.  1  beschreibt,  so  findet  man,  daß 
an  drei  Tagen,  nämlich  an  dem  ersten,  zweiten  und  vierten 
Tage^,  immer  nur  je  ein  Werk  oder  eine  Gruppe  gleichartiger 
Werke  entsteht,  während  der  dritte  und  sechste  Tag  mit  zwei 
verschiedenartigen  Werken  bedacht  sind.  Denn  am  dritten 
Tag  erschafft  Gott  einerseits  Festland  und  Meer,  anderseits  die 
Pflanzenwelt,  am  fünften  Tage  nicht  nur  die  Wassertiere,  sondern 
auch  die  Vögel,  am  sechsten  Tage  aber  außer  den  großen 
Tieren  noch  das  erste  Menschenpaar. 


^  min  hä'adämä  ist  wohl  Glosse,  die  vielleicht  dem  Verfasser  von 
Cohel.  3,  20.  12,  7  noch  nicht  vorlag.  Sonst  vgl.  zum  Verständnis  der 
Stelle  Th.  Noeldeke's  Bemerkungen  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  VIII  S.161. 

*  Am  ersten  Tage  schuf  Gott  das  Licht,  am  zweiten  das  Himmels- 
gewölbe, am  vierten  die  Himmelskörper. 


Die  biblischen  Schöpfungsberichte  161 

Diese  Disposition  ist  nicht  in  der  Natur  der  Sache  be- 
gründet, sondern  künstlich  zurecht  gemacht.  Die  Einpressung 
der  Schöpfungswerke  in  das  Gefache  von  sechs  Tagen  kann 
schwerlich  etwas  anderes  bezwecken,  als  die  Einsetzung  der 
strengen  Sabbatruhe  in  die  Urzeit  zurückzuführen.  Diese 
Tendenz  liegt  offen  zutage,  auch  wenn  sie  nicht  durch  Kap.  2,  4 
so  uuverhüUt  ausgesprochen  wäre:  „Und  Elohim  segnete  den 
siebenten  Tag  und  heiligte  ihn,  denn  an  ihm  ruhte  er  von 
seinem  ganzen  Werke  aus."  Die  Sabbatfeier  im  Sinne  des 
puritanischen  Sonntag  ist  aber  erst  im  Exile  aufgekommen. 

Aus  Kap.  II V.  2  ist  aber  vielleicht  die  Spur  einer  älteren 
literarischen  Stufe  zu  erkennen,  nach  der  das  Schöpfungswerk 
auf  sieben  Tage  verteilt  war.  Denn  wenn  es  heißt  „Und  Gott 
vollendete  am  siebenten  Tage  sein  Werk",  so  scheint  daraus 
hervorzugehen,  daß  er  an  diesem  Tage  noch  tätig  gewesen  ist. 
Indessen  wäre  auch  bei  dieser  Anordnung  ohne  künstliche 
Zusammenlegung  verschiedenartiger  Werke  nicht  auszukommen 
gewesen.  Wir  dürfen  deshalb  noch  ältere  Rezensionen  er- 
schließen, welche  das  Schöpfungswerk  auf  acht  oder  neun  Tage, 
m.  a.  W.  auf  ebensoviel  Tage  verteilten,  als  Werke  vorhanden 
waren,  oder  welche  überhaupt  von  jeder  Tageseinteilung  ab- 
sahen. In  der  Tat  erscheinen  die  die  Tagzählung  markierenden 
Worte:  „Da  ward  es  Abend,  da  ward  es  Morgen,  erster  usw. 
Tag"  nicht  organisch  mit  dem  übrigen  verbunden,  sondern 
lose  angehängt. 

Auch  sonst  ist  der  Text  von  Gen.  I  keineswegs  aus  einem 
Gusse.  Das  ist  meines  Wissens  früher  noch  nicht  ^  beobachtet 
worden.  Kein  Wunder,  denn  der  Wortlaut  macht  zunächst  den 
Eindruck  einer  großen  Einförmigkeit  und  Gleichmäßigkeit.  In 
der    Tat    ist,    trotz    mancher    Verschiedenheiten,    überall    ein 

^  Nur  Bernhard  Stade  ist  in  seiner  Biblischen  Theologie  I  349 
(Tübingen,  Mohr  1905)  zu  ganz  ähnlichen  Resultaten  hinsichtlich  der 
Komposition  von  Gen.  I  gekommen.  Wir  sind  aber  vollkommen  un- 
abhängig voneinander. 


162  Friedricli  Schwally 

gemeinsaines  Schema  durchgefülirt,  das  sich  aus  den  folgenden 
Wendungen  zusammensetzt: 

und  Gott  sprach:  es  werde 

und  es  geschah  so 

und  Gott  machte 

und  Gott  sah,  daß  es  gut  war 

da  ward  es  Abend,  da  ward  es  Morgen,  .  .  .ter  Tag. 
Dieses  Formular  ist  einheitlich  genug  durchgeführt,  um  die 
Annahme  nahe  zu  legen,  daß  z.  B.  die  Phrase  „und  es  geschah 
so",  welche  nur  einmal,  beim  fünften  Tage  fehlt,  sowie  die 
Phrase  „und  Gott  sah,  daß  es  gut  war",  die  nur  beim  zweiten 
Tag  vermißt  wird,  lediglich  durch  das  Versehen  eines  Ab- 
schreibers in  Wegfall  gekommen  sind.  Die  alte  griechische 
Übersetzung  der  Septuaginta  hat  sie  noch  bewahrt.  Daß  Gott 
dem  Erschaffenen  Namen  gegeben  habe,  ist  nur  bei  den  drei 
ersten  Tagewerken  gesagt.  Die  Ursache  dieser  Ungleichmäßig- 
keit  ist  aber  nicht  klar. 

Dagegen  trete  ich  den  Beweis  dafür  an,  daß  innerhalb  jenes 
gleichmäßig  durchgeführten  Schemas  diametral  verschiedene,  mit- 
einander nicht  zu  vereinbarende,  Anschauungen  vorhanden  sind. 
Beim  sechsten  Tage  heißt  es:  „Und  Elohim  sprach:  Die 
Erde  lasse  hervorgehen  lebendige  Wesen  nach  ihrer  Art,  Vieh, 
Gewürm  und  Wild  des  Feldes  nach  seiner  Art,  und  es  geschah 
so."  Wenn  Gott  der  Erde  befiehlt,  lebendige  Wesen  hervor- 
zubringen, so  beabsichtigt  er  nicht,  selbst  als  Bildner  der 
Tiere  aufzutreten,  er  beschränkt  sich  vielmehr  darauf,  der 
Materie  durch  sein  Machtwort  den  Anstoß  zu  geben,  die  Materie 
bringt  hierauf  die  Werke  aus  sich  allein  hervor.  Die  Worte 
„und  es  geschah  so"  können  dann  nichts  anderes  ausdrücken  als 
den  Gedanken,  daß  der  Befehl  der  Gottheit  sich  alsogleich 
verwirklichte,  sie  konstatieren  mit  anderen  Worten,  daß  das 
Resultat  der  gewollten  Absicht  entsprach.  Wenn  aber  der  Text 
fortfährt:  „Und  Elohim  machte  das  Wild  des  Feldes  nach  seiner 
Art  und  das  Vieh  nach  seiner  Art,  und  alles  Gewürm  auf  dem 


Die  biblischen  Schöpfungsberichte  163 

Boden  nach  seiner  Art"  so  steht  dieses  eigenhändige  Schaffen 
Gottes  nicht  nur  mit  der  abschließenden  Wendung  „und  es 
geschah  so",  sondern  auch  mit  dem  Inhalt  des  göttlichen  Be- 
fehlswortes in  einem  schneidenden  Widerspruche. 

Diese,  widerspruchsvolle  Komposition  ist  nun  durch  den 
ganzen  Schöpfungsbericht  hindurch  nachzuweisen.  Die  Texte, 
welche  den  zweiten,  vierten  und  fünften  Tag  behandeln,  sind 
der  eben  besprochenen  Stelle  analog,  mit  dem  einzigen  Unter- 
schiede, daß  die  Phrase  „und  es  geschah  so"  zweimal  auf  die 
andere  „und  Gott  machte"  folgt  (V.  7.  22  LXX).  Die  übrigen 
Texte  bedürfen  einer  besonderen  Analyse. 

Am  ersten  Tage  sprach  Elohim:  „Es  werde  Licht!"     Die 
Wendung   „und   es   geschah  so"  fehlt  hier,  aber  sie  ist  sinn- 
gemäß  umschrieben   durch   die  Worte   „und   es   ward   Licht". 
Davon,  daß  Gott  das  Licht  gemacht  habe,  ist  keine  Silbe  zu 
lesen.     Nur  wird  nachher  gesagt,  daß  Gott  zwischen  Licht  und 
Finsternis     geschieden    habe.      Aber    auch    diese    Behauptung 
stimmt  schlecht  zu  der  vorher  vertretenen  Anschauung  von  dem 
göttlichen  Wirken   allein   durchs  Wort.     Richtiger   wird   beim 
zweiten  Tag  die  beabsichtigte  Scheidung  zwischen  den  Wassern 
unter  und  über  der  Feste  bereits  in  den  göttlichen  Befehl  hinein- 
genommen, indem  Elohim  spricht:  „Es  werde  eine  Feste  zwischen 
den  Wassern  und   sie  scheide  zwischen  Wasser   und  Wasser." 
Der  Abschnitt  von  der  Erschaffung  des  Menschen  ist  der 
einzige    innerhalb    des    ganzen   Kapitels,    in    dem    von    einem 
I  Befehlsworte   Gottes   nichts   zu  lesen   ist.      Vielmehr  heißt   es 
j  V.  26:  „Und  Elohim  sprach:   Lasset  uns  Menschen  machen",^ 
j  worauf  V.  27  folgerichtig  fortfährt:   „Und  Elohim  schuft  den 

^  Hinter  fiiUSJa  „wir  wollen  machen"  erwartet  man  „und  er  machte" 

j  bzw.  „und  sie  machten"  vajja'as(ü)\  das  jetzt  dastehende  «■"a»']  scheint 

auf  Korrektur  zu  beruhen,  da  der  Ausdruck  feärä  in  Gen.  I   außer   der 

redaktionellen  Überschrift  nur  noch  beim  fünften  Tage  gebraucht  wird. 

An  der  Stelle  V.  21  ist  sein  Auftreten  noch  viel  rätselhafter,  während  der 

I  Bericht  von  der  Erschaffung  des  Menschen  auch  in  anderer  Beziehung 

i  ans  dem  Rahmen  der  übrigen  Werke  herausfällt. 


Iß4  Friedrich  Schwally 

4 

Menschen."  Trotzdem  steht  am  Schlüsse  V.  30  ganz  sinnlos 
„und  es  geschah  so". 

Ein  völlig  harmonisches  Schema  hat  sich  allein  beim 
dritten  Tage  erhalten:  „Und  Elohim  sprach:  es  sammle  sich 
das  Wasser  unter  dem  Himmel  an  einem  Ort,  daß  das  Trockne 
sichtbar  werde;  und  es  geschah  so  ...  .  Und  Elohim  sprach: 
die  Erde  lasse  junges  Grün  hervorsprossen  .  .  .  und  es  ge- 
schah so."  Hierauf  folgen  jetzt  allerdings  die  Worte  „und 
die  Erde  sproßte  hervor"  usw.,  aber  diese  redaktionelle  Er- 
weiterung verstößt  wenigstens  nicht  gegen  den  Sinn  des  Zu- 
sammenhangs, so  überflüssig  sie  auch  ist. 

Da  das  Schema:  „und  Elohim  sprach,  es  werde"  samt 
dem  dazu  gehörigen  Komplemente  „und  es  geschah  so"  mit 
dem  anderen  Schema  „und  Gott  machte"  schlechterdings  nicht 
zu  vereinbaren  ist,  so  müssen  wir  daraus  den  Schluß  ziehen, 
daß  diese  Schemata  verschiedener  Herkunft  sind.  Und  zwar 
dürfte  die  große  Vollständigkeit,  in  der  sich  jedes  Schema 
noch  jetzt  aus  Gen.  I  herausschälen  läßt,  sowie  sein  fester 
und  gleichmäßiger  Stil  meines  Erachtens  darauf  hindeuten, 
daß  sich  nicht  etwa  das  eine  Schema  als  eine  Schicht  von 
Glossen  auf  das  andere  gelegt  hat,  sondern  daß  beide  Rezen- 
sionen ursprünglich  einmal  selbständig  für  sich  vorhanden  waren 
und  später  harmon istisch  ineinander  gearbeitet  wurden. 

Unter  den  vielen  schwierigen  Fragen,  welche  sich  hieran 
knüpfen  lassen,  will  ich  nur  diejenige  nach  dem  Alter  dieser 
Rezensionen  und  der  Tendenz  ihrer  redaktionellen  Vereinigung 
untersuchen.  Hierbei  muß  die  jetzige  Einleitung  des  Schöpfungs- 
berichtes V.  2  einstweilen  unberücksichtigt  bleiben,  da  nicht 
festzustellen  ist,  welcher  von  beiden  Rezensionen  sie  ursprüng- 
lich angehörte. 

Das  hohe  Alter  des  Schemas  „Und  Gott  machte"  leuchtet 
am  deutlichsten  hervor  aus  den  Worten,  mit  denen  V.  2Q  die 
Menschenschöpfung  eingeleitet  wird:  „Und  Elohim  sprach, 
lasset  uns  Menschen  machen!"     Hier  kann  nämlich  nicht  der 


I 


Die  biblischen  Schöpfungsberichte  165 

aus  anderen  Sprachen  bekannte  Majestätsplural  vorliegen,  da 
derselbe  dem  Hebräischen  fremd  ist.  Von  Gott  gebraucht 
üadet  sich  dieser  Plural  nur  noch  an  einer  einzigen  Stelle  der 
jüdischen  Bibel,  Gen.  XI,  7:  „Wohlan,  wir  wollen  herabsteigen 
und  ihre  Sprache  verwirren",  in  der  Sage  vom  Turmbau,  deren 
babylonische  Herkunft  auf  der  Hand  liegt.  In  der  Parallele 
zu  Gen.  I,  2ßj  nämlich  Gen.  II,  18,  spricht  Elohim  zwar  nach 
dem  hebräischen  Text:  „ich  will  ihm  eine  Gehilfin  machen",  aber 
die  Septuaginta  haben  noch  den  Pluralis  „wir  woUen  .... 
machen"  in  ihrer  Vorlage  gehabt.  In  allen  diesen  Stellen 
wendet  sich  eine  Gottheit  an  andere,  um  gemeinsam  mit  ihnen 
etwas  zu  unternehmen,  wir  befinden  uns  also  in  einem  poly- 
theistischen Kulturkreis. 

Was  das  andere  Schema  anbelangt,  so  sieht  die  ältere 
Exegese  in  dem  Schaffen  Gottes  allein  durchs  Wort  ein  klas- 
sisches Zeugnis  des  Supranaturalismus,  der  die  Gottheit  aus 
jeder  organischen  Verflechtung  mit  der  Natur  loslösen  will. 
Wenn  dieses  Schema  wirklich  aus  solchen  Gedanken  hervor- 
gegangen wäre,  so  müßte  es  sehr  jung  sein.  Es  gibt  aber 
auch  einen  primitiven  Supranaturalismus,  der  auf  den  niedersten 
tufen  der  Kultur  zu  Hause  ist  und  sich  nicht  einmal  auf  die 
jötter  oder  Geister  beschränkt.  Die  Wirkungskraft  der  Formelu 
les  Zauberers  ist  von  den  Zauberworten  eines  Schöpfer -Gottes 
jQur  graduell  verschieden.  Es  ist  deshalb  zu  erwägen,  ob  das 
ifragliche  Schema  nicht  heidnischen  Ursprunges  ist.^  Das  ist 
in  der  Tat  wahrscheinlich,  da,  wie  wir  später  noch  sehen 
iverden,  die.  biblische  Kosmogonie  überhaupt  auf  uralter  Tra- 
iition  beruht. 

Die  Zusammenschweißung  der  zwei  Rezensionen  zu  einer 
nnheitlichen  Erzählung  läßt  sich  so  erklären,  daß  das  Schema 
,Und  Gott  sprach,  es  werde  .  .  .  und  es  geschah  so"  von  dem 
liedaktor  im  Sinne  des  höheren  Supranaturalismus   des  Juden- 


*  "Vgl.  auch  Richard  Reitzenstein  Poimandres  S.  5,  n.  3.  63f. 

Archiv  f.  Keligionswissenscliaft  IX  12 


166  Friedrich  Schwally 

tums  verstanden  wurde.  Auf  der  anderen  Seite  aber  konnte 
ein  Erzähler,  der  die  Selbstherrlichkeit  Gottes  gegenüber  der 
Welt  wahren  wollte,  der  Meinung  sein,  daß  diese  Tendenz 
gerade  durch  das  andere  Schema  „Und  Gott  machte"  am  zu- 
treffendsten zum  Ausdruck  käme.  Denn  wenn  auch  bei  der 
ersten  Betrachtungsweise  alles  allein  durch  das  göttliche 
Wort  hervorgebracht  wird,  so  ist  doch  dabei  der  Materie  ein 
nicht  unbedenklicher,  selbständiger  Anteil  an  der  Entstehung 
eingeräumt,  welcher  leicht  auf  unabhängig  von  der  Gottheit  in 
der  Materie  liegende  keimhafte  Anlagen  zurückgeführt,  mit 
anderen  Worten  in  evolutionistischem  Sinne  gedeutet  werden  kann. 
Angesichts  dieser  Unsicherheit  gewinnt  vielleicht  eine  dritte 
Vermutung  an  Wahrscheinlichkeit,  daß  bei  der  Ineinander- 
arbeitung  der  beiden  Schemata  überhaupt  keine  Tendenz  maß- 
gebend war,  daß  wir  es  vielmehr  mit  einem  literarisch -tech- 
nischen Kunststück  zu  tun  haben,  indem  ein  belletristischer 
oder  erbaulicher  Schriftsteller,  der  seinen  Lesern  etwas  Neues 
bieten  wollte,  zwei  der  beliebtesten  Rezensionen  des  Schöpfungs- 
mythus unter  strenger  Wahrung  ihres  Kolorits,  zu  einer  Ein- 
heit verband. 

Wie  ich  schon  vorhin  hervorgehoben  habe,  kann  das  Ver- 
hältnis der  beiden  Quellen  von  Gen.  I  zu  der  Einleitung  V.  1 .  2 
nicht  mehr  festgestellt  werden.  Das  ist  um  so  bedauerlicher, 
als  gerade  von  diesen  Versen  aus,  infolge  der  Fülle  von  mytho- 
logischen Vorstellungen,  die  in  ihnen  zusammengedrängt  sind, 
auf  Wesen  und  Entstehung  des  ganzen  Mythus  mehr  als  ein 
bedeutsames  Licht  fällt. 

Vor  allen  Dingen  erfahren  wir  aus  ihnen,  daß  die  Materie, 
welche  Elohim  zu  der  jetzigen  sichtbaren  Welt  umgestaltete, 
nicht  von  ihm  erschaffen,  sondern  von  Anfang  an  und  unab- 
hängig von  der  Gottheit  vorhanden  war.  Die  Erzählung  von 
der  Schöpfung  beginnt  erst  V.  3  mit  dem  Lichte.  Allerdings 
wird  V.  1:  „Im  Anfang  schuf  Elohim  den  Himmel  und  die 
Erde"  von  vielen  Auslegern  auf  die  Urmaterie  bezogen.     Aber 


Die  biblischeii  Schöpfungsberichte  167 

diese  Auffassung  verstößt  gegen  den  hebräischen  Sprachgebrauch. 
Und  wenn  ein  Redaktor  durch  Einschiebung  der  Worte  „schuf 
Elohim  den  Himmel  und  die  Erde",  oder  anders  syntaktisch 
konstruiert  „als  Elohim  .  .  .  schuf",  etwa  beabsichtigt  haben 
sollte,  die  Vorstellung  von  der  Urmaterie  zu  beseitigen  oder 
zu  verhüllen,  so  hat  er  seinen  Zweck  nicht  erreicht. 

„Und  die  Erde  war  wüste  und  leer,  und  es  war  finster 
auf  der  Tiefe  und  der  Geist  Grottes  schwebte  auf  dem  Wasser." 
Um  eine  Anschauung  von  dem  Chaos  zu  gewinnen,  dürfen  wir  uns 
freilich  nicht  bei  der  Lutherschen  Übersetzung  beruhigen.  An 
Stelle  von  „wüste  und  leer"  stehen  im  hebräischen  Text  zwei 
Substantive,  die  auch  in  den  Jargon  übergegangenen  Toliü  und 
Bohü.  Die  Etymologie  der  gewiß  uralten  Worte  ist  völlig 
dunkel,  sicher  ist  nur,  daß  Bohu  nirgends  „Leere"  bedeutet, 
sondern  ebenso  wie  Tohu  von  wüsten  und  zerstörten  Plätzen 
gebraucht  wird.  Der  jetzige  Text,  nach  dem  diese  Aussage 
nur  von  der  Erde  und  nicht  auch  von  dem  Himmel  gemacht 
ist,  geht  vielleicht  auf  einen  älteren  zurück,  in  dem  es  einfach 
hieß:  „Im  Anfang  war  ein  Tohu  und  Bohu.'^ 

„Und  Finsternis'  lagerte  auf  der  Oberfläche  Tehoms." 
TeJiöni  heißt  ^  niemals  Tiefe,  wie  Luther  übersetzt,  sondern  be- 
zeichnet, was  andere  Stellen  des  Alten  Testaments  (Gen.  8,  2. 
Jes.  51,  10.  Arnos  7,  4)  deutlich  erkennen  lassen,  den  großen 
Weltenozean,  der  die  gegenwärtige  Erde  trägt.  Tehom  ist 
laber  kein  Gattungswort,  sondern  ein  Eigenname,  da  es  nicht 
Inur  hier,  sondern  auch  überall  sonst  im  Alten  Testament  (19  mal) 
ausnahmslos  ohne  Artikel  erscheint,  und  zwar  ist  es  ein  weib- 
j lieber  Name,  da  es  regelmäßig  als  Femininum  konstruiert  wird. 
jDie  naheliegende  Vermutung,  daß  hier  eine  mythologische 
Personifikation    vorliegt,   wird    durch   das   babylonische   Welt- 

^  Die  Etymologie  ist  in  völliges  Dunkel  gehüllt.  Alle  bisherigen 
Versuche,  dasselbe  zu  lüften,  sind  wertlos.  Die  Vorstellung,  daß  die 
lErde  auf  Säulen  ruhe,  die  anscheinend  in  *^^;^^,  I.  Sam.  2,  8,  vorliegt, 
[steht  ganz  für  sich  allein. 

12» 


168  Friedrich  Schwally 

schöpfungsepos  bestätigt.  In  diesem  wird  der  Urzustand  durch , 
zwei  Personen  dargestellt,  eine  männliclie,  Apsu,  und  eine 
weibliche,  Tiämat  mit  Namen,  die  ihre  Wasser  zusammen 
mischten.  Die  letztere  ist  aber,  wie  schon  andere  gesehen 
haben,  mit  hebr.  Tehöm  identisch.  Als  erstes  Schöpfungswerk 
entstehen  nach  dem  babylonischen  Epos  die  Götter,  und  zwar 
in  drei  aufeinander  folgenden  Generationen.  Wie  und  wodurch 
diese  Theogonie  zustande  kommt,  wird  verschwiegen,  doch 
muß  Tiämat  einen  hervorragenden  Anteil  daran  haben,  da  sie 
gelegentlich  „Göttermutter"  genannt  wird.  Tiämat  zieht  nun 
eines  Tages  einen  Teil  der  neuerstandenen  Götter  auf  ihre 
Seite,  um  die  anderen  zu  bekämpfen.  Sie  unterliegt  aber,  der 
Gott  Marduk  zerstückt  ihren  Leichnam  in  zwei  Teile  und 
bildet  aus  dem  einen  den  Himmel,  aus  dem  anderen  —  der 
Text  ist  hier  schlecht  erhalten  —  vielleicht  die  Erde.  Von 
diesem  ganzen  Drama  hat  sich  in  Gen.  I  nichts  erhalten  als 
der  Name  der  wichtigsten  Person,  der  Tiämat. 

In  dem  Schlüsse  des  zweiten  Verses  von  Gen.  I  wird  noch 
eine  andere  mythologische  Person  auf  die  Bühne  gebracht, 
nämlich  der  Geist  Elohims,  der  auf  den  Wassern  brütet.  Der 
Ausdruck  „brüten"  scheint  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Gott- 
heit als  ein  Vogelweibchen  vorgestellt  war,  das  die  Welt  durch 
Bebrüten  der  chaotischen  Wasser  hervorbrachte.  Ist  das  richtig, 
so  müssen  die  Worte  „Geist  Elohims"  eine  tendenziöse  Kor- 
rektur sein,  um  diese  den  Späteren  anstößig  gewordene  Vor- 
stellung zu  beseitigen.  Aus  babylonischer  Mythologie  kann 
dieser  merkwürdige  Zug  der  hebräischen  Sage  bis  jetzt  nicht 
erklärt  werden.  Man  hat  deshalb  die  bei  Phöniziern,  Ägyptern, 
Indern  und  Polynesiern^  verbreitete  Vorstellung  von  einem 
Welt  ei  zum  Vergleich  herangezogen.  Unter  diesen  könnten  die 
Phönizier  und  Ägypter  zu   der   israelitischen  Sage   historische 

^  Vgl.  Waitz-Gerland  Anthropologie  der  Naturvölker  Bd.  VI 
S.  234,  237,  665.  —  Adolf  Bastian  Die  heilige  Sage  der  Polynesier 
S.  12,  229,  240,  übrigens  ein  nur  mit  großer  Vorsicht  zu  benutzendes  Buch. 


I 


Die  biblischen  Schöpfungsbericbte  169 

j  Beziehungen  haben.     Aber  bei  dem   gegenwärtigen  Stande  der 
'  Forschung  läßt  sich  nichts  darüber  sagen. 

Ist  Mitte  und  Schluß  von  Vers  2  mythologisch,  so  dürfen 

wir  dasselbe  auch  vom  Anfange  vermuten.     Da  Tehom   sicher 

mit  Tiämat  identisch   ist,   könnte  in  Tohu  va-Bohu  eine  dem 

I  babylonischen   Apsu    entsprechende    männliche    Personifikation 

I  enthalten  sein.    Weitere  Aufklärung  ist  indessen  nur  von  neuen 

inschriftlichen  Funden  zu  erwarten. 

Der  zweite  Yers  von  Gen.  I  ist,   wie  wir  gesehen  haben, 

1  eine   wahre  mythologische  Schatzkammer,  schade,  daß  dieselbe 

I  nur  elende  Trümmer  enthält.  Die  jetzige  Fortsetzung  dazu  atmet 

einen   ganz    anderen    Geist:    1.  sie    erzählt    keine    dramatische 

Handlung,   sondern   ist    ein   schematischer   Katalog;    2.   keines 

ihrer  beiden  Schemata  ist  mit  der  Tatsache,  daß  eine  Gottheit 

I  das  chaotische  Wasser  bebrütet,  in  Einklang  zu  bringen;  3.  sie 

1  entbehrt  jeden  mythologischen  Zuges.     Einzig   und  allein  der 

xlbschnitt    von    der    Erschaffung    des     ersten    Menschen    hat 

polytheistische    Färbung. 

Dieser  (Gen.  I,    26 — 30)    birgt    auch    sonst    interessante 

Probleme,    die    um    so    mehr   ins    Auge    springen,    wenn    wir 

I  sie     mit     dem     parallelen    Bericht     in    Gen,    II     vergleichen. 

Die  Darstellung  von   Gen.  II   ist   nicht  nur  die  ausführlichste, 

sondern   auch   die   klarste,  obwohl   der   innere   Zusammenhang 

i  des   Dramas   noch   von   niemand   begriffen   worden   ist:    Jahve 

bildete  (Jäzar)  den  ersten  Mann,  den  Adam,  aus  Erde  und  blies 

Lebensodem  in  seine  Nase.     Dann  richtete   er   den  Paradieses- 

I  garten   ein  und  gab   ihn  dem  Adam  zur  Wohnung.     Als  nun 

''-  Jahve  den  Mann   so   mutterseelenallein  sieht,  jammert  es   ihn 

seiner  Einsamkeit,  und  er  beschließt,  ihm  eine  Gehilfin^  zu  machen, 

^  Hebr.  ^ezer  ("itr)  beißt  überall  „Hilfe".  Die  hier  voranszusetzende 
i  Übertragung  ist  denkbar,  aber  nicht  besonders  einleuchtend.  Es  ist 
'  deshalb  zu  erwägen,  ob  nicht  eine  andere  noch  unbekannte  Spezial- 
bedeutung  vorliegt,  oder  ein  mißverstandenes  babylonisches  Lehnwort, 
,  wenn  nicht  gar  eine  tendenziöse  Korrektur,  um  ein  anstößiges  Wort 
j  sexueller  Bedeutung  zu  beseitigen. 


j^70  Friedrich  Schwally 

die  um  ihn  sei.  Jalive  maclit  sich  auch  sogleich  ans  Werk, 
aber  er  bringt  nur  Tiere  und  Yögel  zustande.  Und  er  führt 
jedes  einzelne  Stück,  sobald  es  fertiggestellt  ist,  dem  Adam 
vor,  damit  er  es  auf  seine  Zugehörigkeit  zu  sich  prüfe. 
Doch  dieser  weist  alles  ohne  Ausnahme  zurück.  Und  selbst 
nachdem  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Tierwelt  entstanden 
war,  fand  sich  kein  Wesen  darunter,  das  Adam  durch  den 
Namen  Männin  als  zu  sich  passend  anerkennen  konnte.  Wie 
diese  lange  Kette  von  mißlungenen  Versuchen  zeigt,  fiel  Jahve 
die  Erschaffung  des  Weibes  außerordentlich  schwer.  Und  die 
Tierwelt  des  Paradieses  tritt  nicht  durch  einen  selbstständigen 
Schöpfungsakt  ins  Dasein,  sondern  erscheint  nur  als  gelegent- 
liches, rein  zufälliges  Nebenprodukt  bei  der  Erschaffung  der 
Eva.  Die  Tiere  sind  mit  anderen  Worten  als  mißlungene 
Fräuleins  vorgestellt.  Hat  Jahve  bei  diesen  Versuchen  bisher 
als  Material  Lehm  benutzt,  so  sieht  er  sich  jetzt  durch  seine 
Mißerfolge  genötigt,  ein  neues  Verfahren  einzuschlagen,  näm- 
lich das  Weib  nicht,  wie  den  Adam  und  die  Tiere,  aus  Erde, 
sondern  aus  einem  Teile  des  Adamleibes  zu  bilden.  So  läßt 
denn  Jahve  den  Adam  in  einen  tiefen  Schlaf  fallen,  nimmt 
eine  seiner  Rippen  heraus  und  baut  diese  zu  einem  Wesen 
um,  das  von  Adam  als  „Männin"  begrüßt  wird.  Das  schließ- 
liche Gelingen  des  Werkes  quittiert  der  Ungeduldige  seinem 
Gott  mit  den  Worten:  Endlich  (wörtlich:  „dieses  Mal")  Bein 
von  meinem  Bein  und  Fleisch  von  meinem  Fleisch! 

Erst  lange,  nachdem  ich  diesen  Sinn  des  Zusammenhanges 
von  Gen.  II,  18  ff.  erschlossen  hatte,  ist  mir  aus  einem  weit 
entfernten  Kulturkreis,  dem  polynesischen ,  eine  Parallele  be- 
kannt geworden.  Nach  einer  Sage  der  Fidschi -Insulaner 
gingen  der  Entstehung  des  ersten  Menschenpaares  mehrere 
mißglückte  Versuche  voraus;  und  das  Weib  gelang  sogar  erst, 
nachdem  Ndengei  noch  einen  anderen  Gott  zur  Mitarbeit  heran- 
gezogen hatte.^ 

^  Waitz-Gerland  a.  a.  0.  S.  664f. 


Die  biblischen  Schöpfungsberichte  171 

Der  biblische  Text  verzeiclmet  nur  die  massiven  Tatsachen 
des  Dramas,  während  die  verknüpfenden  Motive  vollständig 
fehlen.  Ob  diese  merkwürdige  Kürze  und  Rätselhaftigkeit  des  Stiles 
ein  Zeichen  von  Altertümlichkeit  ist,  oder  auf  Überarbeitung 
beruht,  darüber  läßt  sich  streiten.  Sind  aber  jene  Verbindungs- 
linien, wie  ich  für  wahrscheinlich  halte,  wirklich  wegen  ihrer 
allzu  naturalistischen  Auffassung  von  der  Gottheit  ausgemerzt 
worden,  so  muß  man  anerkennen,  daß  dem  Überarbeiter  seine 
Absicht  nicht  schlecht  gelungen  ist,  indem  bis  auf  den  heutigen 
Tag  noch  kein  Kommentar  den  Sinn  des  Zusammenhanges  be- 
griffen hat.  Nichtsdestoweniger  hat  man  die  Schwierigkeit  der 
logischen  "Verbindung  von  Vers  18  und  19  schon  in  altjüdischer 
Zeit  empfunden  und  deshalb  in  Vers  19  hinter  'elöhlm  das 
Wörtchen  ^öd  =  „ferner,  weiter"  eingeschoben  (Septuaginta, 
Samaritaner).  Obwohl  im  Grunde  hierdurch  gar  nichts  ge- 
bessert wird,  haben  sich  doch  moderne  Ausleger  in  ihrer  Rat- 
losigkeit dazu  verleiten  lassen,  diese  Lesart  in  den  hebräischen 
Text  aufzunehmen. 

Fast  noch  schlimmer  steht  es  mit  dem  herkömmlichen  Ver- 
ständnis des  anderen  .Berichtes  von  der  Menschenschöpfung. 

I,  26:  „Und  Elohim  sprach:  Lasset  uns  Menschen  (ädäm) 
machen,  nach  unserem  Bilde,  in  unserer  x4hnlichkeit ^,  und  sie 
soUen  herrschen  über  die  Fische  des  Meeres  und  die  Vögel 
des  Himmels  und  über  alle  Tiere."  Das  Verbum  „und  sie 
sollen  herrschen"  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  unter  ädäm 
ganz  allgemein  das  Menschengeschlecht  gemeint  ist.  Falls 
aber  diese  Worte  (=  V.  26b),  wie  wahrscheinlich  ist,  ein  nach 
V.  28b  gearbeiteter  Zusatz  sein  sollten,  hätten  wir  freie  Hand, 
adäm  speziell  auf  den  ersten  Mann,  den  Adam  zu  beziehen, 
I  da  für  denselben  im  Hebräischen  nicht  nur  der  Ausdruck  M- 
ädäm  (vgl.  n,  7),  sondern  auch  ädäm  allein  und  ohne  Artikel 
vorkommt  (Gen.  4,  25.  5,  1.  3). 

^  zelem  und  demüth  sind  hier  nicht  synonym,  sonst  wäre  die  Ver- 
schiedenheit der  Präpositionen  vor  beiden  Wörtern  nicht  zu  erklären. 


112  Friedricli  Schwally 

Wie  man  aber  auch  hierüber  urteilen  möge,  in  der  Fort- 
setzung V.  27  ff.  ist  lediglich  von  der  Erschaffung  des  ersten 
Menschenpaares  die  Rede:  Und  Elohim  schuf  den  Adam  {M- 
ädäm)  nach  seinem  Bilde,  nach  dem  Bilde  Elohims  schuf  er 
ihn."  Wenn  unter  M-ädäm  das  Menschengeschlecht  gemeint 
wäre,  müßte  es  hernach  heißen:  nach  dem  Bilde  Elohims 
schuf  er  sie  (hebr.  orx,  nicht  ir^s,  wie  wirklich  im  Texte  steht). 

Die  zweite  Hälfte  des  Verses  —  nach  Luthers  Übersetzung 
„und  er  schuf  sie,  ein  Männlein  und  Fräulein"  —  hat  nach 
der  Auffassung  fast  aller  Ausleger  Adam  und  Eva  im  Auge. 
Aber  die  Ausdrucksweise  ist  mehr  als  merkwürdig:  1.  Daß 
der  erste  Mann,  der  Adam,  geschaffen  worden,  ist  ja  bereits 
zweimal  mit  Emphase  betont  (Y.  27  a,  b)  worden,  und  man  ver- 
steht schlechterdings  nicht,  zu  welchem  Zwecke  das  noch  ein 
drittes  Mal  gesagt  wird,  während  das  Weib  nur  ganz  beiläufig  er- 
wähnt ist.  2.  Desgleichen  macht  in  syntaktischer  Beziehung  das 
pronominale  Objekt  öthäm  =  „eos,  sie"  unüberwindliche  Schwierig- 
keiten. Auf  hä'ädäm  im  Anfang  des  Verses  kann  es  nicht  gehen, 
da  hä-ädäm  eben  den  Adam  bezeichnet.  Wiese  es  auf  die  vorher 
genannten  Objekte  Männlein  und  Fräulein  zurück,  so  wären  diese 
dadurch  mit  besonderem  Nachdruck  hervorgehoben,  und  man  müßte 
übersetzen:  „ein  Männlein  und  Fräulein,  sie  schuf  er."  Solcher 
Redeweise  ist  aber  im  Zusammenhange  kein  Sinn  abzugewinnen. 

Alle  diese  Schwierigkeiten  verschwinden  sofort,  wenn  wir 
mit  einer  sehr  leisen  Korrektür  an  Stelle  des  unerklärlichen 
öthäm  „eos"  den  Singular  dthö^  „eum"  lesen.  So  ergibt  sich 
folgende  Übersetzung:  „Und  Elohim  schuf  den  Menschen 
nach  seinem  Bilde  ....  männlich  und  weiblich^  schuf  er 


^  Der  Konsonantentext  der  hebräischen  Formen  dnj<  und  ir5<  unter- 
scheidet sich,  wie  man  sieht,  kaum. 

^  Die  "Worte  des  Originales,  die  Luther  durch  „ein  Männlein  und 
Fräulein"  wiedergegeben  hat,  zakär,  neqebä  sind  reine  Geschlechts- 
bezeichnungen, die  auch  von  Tieren  gebraucht  werden  und  substan- 
tivisch (Männchen,  Weibchen)  oder  adjektivisch,  wie  oben  geschehen, 
übersetzt  werden  können. 


Die  biblischen  Schöpfungsberichte  173 

ihn."  Wir  erfahren  aus  diesem  Texte  die  überraschende  Tat- 
sache, daß  Adam  ein  doppeltgescUechtiges  Wesen  war. 

So  grotesk  diese  Vorstellung  auch  manchem  erscheinen 
mag,  liegt  sie  doch   ganz   auf  dem  Boden  antiker  Mythologie. 

Nach    dem    Bundehische^    wuchsen    die    Ureltem    des 

I  Menschenojeschlechts   zuerst   zusammen    auf  unter    der   Gestalt 

der   Schößlinge    einer    sich   verschlingenden    Rivaspflanze    und 

nahmen  erst  später  die  unabhängigen  Gestalten  von  Mann  und 

Frau  an. 

Plato,  in  einer  dem  Aristophanes  in  den  Mund  gelegten 
Rede  des  Symposion^,  erklärt  die  Entstehung  der  Liebessehnsucht 
(sQCJs)  in  folgender  Weise.  Im  Anfange  gab  es  drei  Arten  von 
Menschen,  Doppelmänner,  Doppelweiber  und  Mannweiber.  Um 
den  Übermut  dieser  Ungeheuer  zu  bändigen,  teilte  Zeus  jedes 
in  zwei  Teile,  drehte  die  Gesichter  nach  der  Schnittseite  und 
ließ  durch  Apollo  Haut  über  die  Wunde  ziehen.  Die  ge- 
trennten Hälften  suchten  sich  nun,  gingen  aber  größtenteils 
zugrunde,  da  sie  ihre  Sehnsucht  nicht  stillen  konnten.  Da 
erbarmte  sich  Zeus  der  Überlebenden  und  versetzte  auch  ihre 
aldola  nach  vorne.  Diese  Darstellung  ist  selbstverständlich 
Resultat  philosophischer  Spekulation,  derselben  liegt  aber  ohne 
Frage  altes  mythologisches  Material  zugrunde. 

Angesichts  der  deutlichen  Abhängigkeit  anderer  Züge  der 
biblischen  Kosmogonie  von  Babylon  —  siehe  oben  S.  168  — 
ist  es  von  besonderer  Wichtigkeit,  daß  auch  die  babylonische 
Sage  fabelhafte,  zweigeschlechtige  Urmenschen  kennt,  wie 
aus  den  bei  Eusebius^  erhaltenen  Mitteilungen  des  Berosos 
1  (ca.  275  v.Chr.)  erhellt:  avd-Q^Ttov^  yäg  diJttsQOvg  yevvri%'fivaij 
livCovg  de  aal  tsxQatsQOvg  ocal  8i7CQ06(D7Covg'  zal  ö&^a  ^hv 
\6ji^ovtag  £v,  x£(paXäg  dh  ovo,  ävdQsCav  rs  Tcal  yvvaiTcelav,  xal 
laWola  dh  öiööd,  ccqqsv  zal  d'TjXv. 

^  Jackson  im  Grundriß  der  iranischen  Philologie  II  673  f. 

2  189  D,  190  A. 

^  Chronic,  lib.  prior  ed.  Schoene   S.  14  f. 


174  Friedrich  Schwally 

Innerhalb  des  Judentums  ist  das  richtige  Verständnis  von 
Gen.  I,  27  niemals  ganz  erloschen.  Denn  Talmud  und  Midrasch, 
sowie  die  davon  abhängige  exegetische  Tradition  —  ich  nenne 
nur  Raschi^  —  wissen  von  dem  doppelgesichtigen  Adam,  durch 
dessen  Auseinanderspaltung  Eva  entstanden  ist.  Neuere  Aus- 
leger machen  diese  Überlieferung  als  jüdische  Geschmacklosig- 
keit lächerlich,  von  anderen  wird  sie  vornehm  ignoriert;  sie 
alle  verraten  aber  damit  nur  einen  bedauerlichen  Mangel  an 
religionsgeschichtlichem  Verständnis. 

Hinter  V.  21  muß  einst  gesagt  gewesen  sein,  wie  aus  dem 
androgynen  Urmenschen  zwei  besondere  Personen  verschiedenen 
Geschlechtes  hervorgingen.  An  Stelle  davon  lesen  wir  jetzt, 
daß  Elohim  sie  (eos)  segnete,  zur  Fortpflanzung  ermunterte 
und  zur  Herrschaft  über  die  Erde^  bestimmte.  Diese  Fort- 
setzung war  aber  erst  möglich,  nachdem  im  V.  27  ötM 
„eum"  in  ötliäm  „eos"  geändert  und  auf  diese  Weise  der 
ursprüngliche  Sinn  verwischt  war.  Im  übrigen  weisen  Inhalt 
und  Form  dieses  Verses  darauf  hin,  daß  ein  ausführlicherer 
Text  gewaltsam  gekürzt  worden  ist,  indem  das  erste  und 
zweite  Glied  nicht  allein  ganz  parallel  sind,  sondern  noch 
dazu  so  gut  wie  völlig  gleichen  Wortlaut  haben,  während  das 
dritte  Glied   einen    neuen  Gedanken   hinzufügt. 

Da  das  dritte  Glied  von  V.  27  dadurch  aus  dem  Rahmen 
des  Parallelismus  herausfällt,  liegt  die  Vermutung  nicht  ferne, 
daß  dasselbe  interpoliert  sei.  Hiergegen  sprechen  aber  zwei 
gewichtige  Gründe:  1.  Man  würde  nicht  begreifen,  wie  ein 
Späterer,   der  die  in  seiner  Vorlage   vermißte  Erwähnung  der 


^  ipbn  ",-inNi  riDi^rxi  nx'i^a  o'^Eiij'ns  ^'."c  ix'nn^  n^iis  di'nia 

^  V.  29  sieht  nicht  wie  eine  Fortsetzung  aus,  sondern  wie  ein 
Nachtrag  zu  V.  28.  In  demselben  Verhältnis  steht  V.  30  zu  V.  29, 
—  Die  Worte  Ci'Tibx  cnb  V.  28  sind  zu  beanstanden,  da  unmittelbar 
hinter  ninbx  crs<  "^-in^l  die  Wiederholung  von  Subjekt  und  Objekt  un- 
erträglich ist,  da  "i^5<  gewöhnlich  mit  bx  konstruiert  wird,  uud  da  Dn: 
verdächtig  ist,  eine  Dublette  zu  CTi'-x  zu  sein. 


Die  biblischen  Schöpfangsbericlite  175 

Eva  naclitragen  wollte,  sich  dazu  der  seltsamen  Ausdrucksweise 
des  jetzigen  Textes  bediente.  2.  Wenn  aber  die  von  mir  vor- 
geschlagene Korrektur  richtig  ist  und  V.  27  auf  den  andro- 
gynen  Urmenschen  geht,  so  kann  das  dritte  Glied  erst  recht 
nicht  sekundär  sein,  sondern  muß  aus  alter  Quelle  stammen.^ 
Gen.  II,  21  läßt  das  erste  Weib  aus  einer  Rippe  Adams 
gebildet  werden.  Dieser  Zug  der  Sage  ist  in  völliges  Dunkel 
gehüllt,  obgleich  die  Kommentare  behaupten,  daß,  wenn  einmal 
ein  Teil  des  Mannes  herausgenommen  werden  sollte,  eine 
Rippe  am  nächsten  läge.  Die  Entstehung  Evas  aus  einem 
Teil  des  Adamleibes  bekommt  vielmehr  erst  dann  einen  hand- 
greiflichen Sinn,  wenn  dieser  Adam  als  eine  Art  androgynes 
Wesen  vorgestellt  wird.  Diese  Auffassung  würde  noch  mehr 
in  die  Augen  springen,  wenn  hebr.  zeW  hier  nicht  Rippe, 
1  sondern  Seite^  bedeuten  würde.  Wir  haben  aber  gar  keine 
1  Gewähr   dafür,   daß   der  Passus   in   ursprünglicher  Gestalt   auf 

ans  gekommen  ist. 
I  Immerhin  ist  der  gegenwärtige  Text  lehrreich  genug.    Wie 

I  er  erst  verständlich  wird  durch  die  Beleuchtung,  die  von 
Gen.  I,  28  auf  ihn  fällt,  so  gibt  er  anderseits  für  die  Richtig- 
keit der  Interpretation  dieser  Stelle  eine  willkommene  Be- 
stätigung. 

^  Das  dritte  Glied  würde  sich  trefflich  zum  ersten  fügen 

inx  j<^n  nnp:i  "na: 
Das  zweite  Glied  könnte  dazwischen  geraten  sein,  nachdem  inx  in  ni^k 
korrigiert  war.     In  jedem  Falle  sehen  aber  die  Worte  &<'nn   D"'nbx  D^:j3 
Tit  nicht  redaktionell  ans,  sondern  wie  alt  überliefertes  Gut. 

^  "jh"!  wird  im  Hebräischen  z.  B.  gebraucht  von  der  Seite  eines 
j  Berges,  Zeltes,  Altares,  von  Seitengemach  und  Seitenbau.  Vgl.  lat.  costa 
\  und  seine  Entsprechungen  in  den  romanischen  Sprachen. 


Die  solare  Seite  des  alttestamentlichen  Gottesbegriff^ 

Von  K,  Völlers  in  Jena 

Daß  man  trotz  der  relativ  jungen  und  oft  überarbeiteten 
Berichte  des  Alten  Testamentes  ein  solares  Element  in  dem 
Gottesbegriff  dieser  Literatur  erblicken  müsse,  war  mir  wegen 
der  nicht  seltenen  Verwendung  der  Ausdrücke  gälä,  gillä, 
niglä  in  Erzählungen  von  Theophanien  und  Offenbarungen  und 
später  in  paränetischen  Stellen  längst  sehr  wahrscheinlich. 
Indessen  drängte  ich  den  Gedanken  mehr  als  einmal  zurück, 
weil  die  häufige  Bezeichnung  des  Wesens  Gottes  als  kebhodh 
Jahwae,  ri  do^a  rov  %vqCov,  Gloria  Dei,  in  Verbindung  teils 
mit  den  Derivaten  von  gälä,  teils  mit  synonymen  Ausdrücken 
außerhalb  jener  Gedankenreihe  zu  liegen  schien.  Erst  den 
merkwürdigen  Ausführungen  des  schwedischen  Gelehrten 
C.  V.  L.  Charlier  (Lund)  über  die  astronomische  Grundlage  des 
biblischen  Versöhnungstages ^  verdanke  ich  die  Anregung,  den 
Ausdruck  *  kebhodh  Jahwae'  auf  die  Möglichkeit  einer  solaren 
Fassung  hin  eingehend  zu  untersuchen.  Da  das  Ergebnis 
dieser  Prüfung  mir  nicht  ganz  unbefriedigend  zu  sein  scheint, 
lege  ich   es   hier   zur   wohlwollenden  Beurteilung  anderer  vor. 

Wenn  man  sich  auf  das  Alte  Testament  beschränkt,  so 
kann  allerdings  weder  das  Verbum  galä,  noch  das  Nomen 
käbhodh  die  solare  Auffassung  des  Gottesbegriffes  nahelegen. 
Auch  die  Exegese  des  Qoräns  würde  uns  hier  nicht  weiter 
führen,  da  der  streng  monotheistische  und  abstrakte  Gottes- 
begriff des  Islams  jede  Kombination  dieser  Art  ausschloß.  Aber 
die  auch  aus  anderen  Quellen  genährte  reiche  arabische  Philo- 


Zeitschr.  der  Deutschen  Morgenl.  Ges.  58  (1904),  386  ff. 


I 


K.  Völlers    Die  solare  Seite  des  alttestamentlichen  Gottesbegriffes     177 

logie  hat  wolil  erkannt,  daß  eine  der  ursprünglichsten,  wenn 
nicht  die  erste  Fassung  der  Wurzel  galä  darin  liegt,  daß  die 
Sonne,  sei  es  von  Gewölk,  sei  es  von  Verfinsterung  durch  den 
Mond  befreit  wird  und  in  ihrem  vollen  Glänze  wieder  hervor- 
tritt. Man  beachte,  daß  der  verbale  Ausdruck  nicht  vom 
Sonnenaufgang  gebraucht  wird;  auf  den  Mondschein  deutet  der 
Ausdruck  'laila  galwä',  eine  klare  Nacht.^  Als  direkte  Über- 
tragung sehe  ich  es  an,  wenn  nun  galä  von  der  ersten  Ent- 
hüllung der  Braut  oder  jungen  Frau  vor  ihrem  Gatten  am 
Tage  der  Hochzeit  unmittelbar  vor  dem  Vollzug  der  ehelichen 
Verbindung  gebraucht  wird.^  Nur  eine  geringe  logisch -syntak- 
tische Verschiebung  liegt  zugrunde,  wenn  nicht  die  Sonne, 
sondern  der  durch  ihr  Licht  entstehende  Tag  Subjekt  wird; 
so  Qorän  92,2  oder  aktivisch  91,3.  Von  der  Sonne  und  dem 
Tage  wird  tagallä  7, 139  auf  die  an  Exod.  33, 20  ff.  angelehnte 
Theophanie  übertragen,  wo  aber  die  Erklärer  dieses  Zusammen- 
hanges mit  keinem  Worte  gedenken,  sondern  den  entscheidenden 
Ausdruck  mit  den  matten  Synonymen  *  sichtbar  werden  und  sich 
hinwenden'  paraphrasieren.  Eine  gewisse  Inkorrektheit  liegt 
schon  darin,  wenn  man  sagt:  tangalizzulmatu,  die  Finsternis 
wird  durch  das  Licht  zum  Schwinden  gebracht. 

An  den  ursprünglichsten  Gebrauch  des  Wortes  erinnert  es, 
wenn  im  Alten  Testament  niglä  mit  der  Gottheit  als  Subjekt 
verbunden  wird,  z.  Bsp.  Gen.  35,7  (Gott),  1.  Sam.  2,27;  3,21 
(Jahwae)  und  in  einem  jungen  Texte  mit  ^kebhodh  Jahwae* 
(Jes.  40,5).^  Aber  in  denselben  Texten  und  anderen  wird  der 
Ausdruck  vom  optischen  auf  das  akustische  Gebiet  übertragen; 

^  Die  mehrmals  auftretende  Deutung  des  Mannesnamens  Ibn  Galä 
(Aglä)  als  'Mond*  oder  'Tagesanbruch*  scheint  mir  ein  wenig  gezwungen 
zu  sein. 

^  Ob  und  wie  die  anderen  Bedeutungen  der  Wurzel  galw  hiermit 
zusammenhängen,  ist  nicht  sicher,  kommt  auch  für  unsere  Untersuchung 
nicht  in  Betracht. 

'  Ob  der  Name  des  Riesen  Goliat  eine  solare  Deutung  zuläßt, 
soll  hier  nicht  untersucht  werden. 


178  K.  Völlers 

nicht  mehr  erscheint  die  Gottheit,  sondern  ihr  Wort  dringt 
in  das  Ohr  des  Empfängers,  so  1.  Sam.  3, 7,  Dan.  10, 1  vgl. 
Jes.  22, 14,  Hiob  36, 10,  Prov.  18, 2.  Aber  häufig  finden  wir  in 
theophanischen  Berichten  das  schwächere  ^Sichtbar  werden', 
Yon  Gott  oder  seinem  Sendboten  (Engel);  daß  das  Wesen  gerade 
des  Jahwae  in  solchen  Fällen  gern  mit  ^käbhodh'  umschrieben 
wird,  habe  ich  schon  oben  erwähnt.  Man  pflegt  den  Ausdruck 
als  ^Herrlichkeit'  zu  fassen  und  etymologisch  als  'Gewicht' 
zu  erklären.  Das  ist  an  sich  zulässig  und  erinnert  an  lat. 
gravitas  und  arab.  waqär.  Aber  es  muß  doch  auffallen,  daß 
dies  mit  käbhodh  ausgedrückte  göttliche  Wesen  nicht  empfunden, 
sondern  —  soweit  es  nicht  schon  ganz  phraseologisch  ver- 
flüchtigt ist  —  geschaut  wird  (Ex.  24,17;  33,18,  Lev.  9,23, 
Num.  16,35,  Deut.  5,21  und  in  den  Visionen  des  Ezechiel). 
Halten  wir  hiermit  das  schon  oben  bei  gälä  gefundene  Ergebnis 
zusammen,  so  liegt  es  wohl  nahe  zu  fragen,  ob  nicht  käbhodh 
ursprünglich  auch  ein  den  Augen  wahrnehmbares  Objekt  be- 
zeichnet. 

Da  die  -dem  hebräischen  käbhodh  entsprechende  Urform 
kabäd  den  semitischen  Schwestersprachen  fehlt  ^,  müssen  wir 
die  in  allen  Sprachen  verbreitete  Form  dieser  Wurzel  prüfen, 
nämlich  kabid  (kabd,  kibd),  die  die  Leber  zugleich  physisch 
und  als  Sitz  seelischer  Regungen  bezeichnet.^  Wir  haben  um 
so  mehr  das  Recht  dazu,  als  käbhodh,  abgesehen  von  seinen 
übrigen  Bedeutungen,  auch  die  Seele,  Mas  Gemüt'  bezeichnet^, 
also  einen  Begriff,  der  sich  nur  aus  dem  der  Leber  entwickelt 
hat.      Von  den  Affekten,  als  deren  Sitz  die  Leber  betrachtet 


*  Es  sei  denn,  daß  man  den  nicht  zum  vollen  Nomen  erhobenen 
arabischen  Infinitiv  kibäd,  Widerstandsvermögen,  damit  vergleichen 
will,  was  immerhin  zulässig  ist. 

^  Auch  bei  den  Indogermanen  wird  die  'Leber'  als  ccqxt]  r^s  rpvxfig 
bezeichnet  und  Galen  sagt:  ro  d'  iniSri^Tinyiov  iv  ^ticctl  vgl.  E.  Windisch: 
Über  den  Sitz  der  denkenden  Seele  besonders  bei  den  Indem  und 
Oriechen:  Ber.  d.  K.  Sachs.  Ges.  d.  Wissensch.    1891.     S.  177  und  181. 

*  Gen.  496.  und  häufig  in  den  Psalmen. 


Die  solare  Seite  des  alttestanientlichen  Gottesbegriffes         179 

wurde,  tritt  bei  Arabern  und  Aramäern  der  Zorn  hervor;  die 
Araber  erklären  dies  aus  der  Blutfülle  der  Leber  und  der 
dadurch  erzeugten  Hitze  (Lisän  4,380,3).  Ahnlich  sagt  der 
Talmud:  Mie  Leber  ist  der  Sitz  des  Verdrusses  und  Zornes'.^ 
Der  arabische  Dichter  al  A'sä  nennt  daher  die  Feinde  *süd  al 
akbäd',  Leute  mit  schwarzer  Leber.  Der  Sinaibeduine,  der 
J.  Euting  und  mich  im  Jahre  1889  begleitete,  sagte  bei  Auf- 
wallungen: kebdi  (kebdak  usw.)  za^läne.^  Bei  den  Assyrern  ist 
merkwürdigerweise  der  Grundbegriff  der  'Leber'  untergegangen, 
hingegen  die  abgeleitete  Bedeutung  'Inneres,  Gemüt,  Seele' 
herrschend  geworden.^ 

Man  könnte  versucht  sein,  vom  Begriff  der  Leber  aus- 
zugehen und  danach  käbhodh,  das,  wie  wir  sahen,  auch  einmal 
^ Leber'  bezeichnet  haben  muß,  direkt  als  'Sonnenscheibe'  zu 
deuten.  Denn  wie  man  die  aufgehende  Sonne  mit  dem  'Wirtel 
einer  Spindel'  oder  einer  'Spindel'  selbst  (ghazäla)"^  und  die 
untergehende  Sonne  bald  als  ' Brotfladen '^,  bald  als  'schwarzen 
Topf^  bezeichnete,  so  konnte  man  den  Sonnendiskus  auch  als 
^ Leberlappen'  benennen.  Umgekehrt  wird  der  älteste  Name 
der  'Sonne'  auf  runde  Schmucksachen  übertragen."^  Lidessen 
veranlaßt  mich  der  weitverzweigte  Gebrauch  des  Ausdruckes 
für  'Leber'  bei  den  Arabern,  erst  durch  gewisse  Mittel- 
begriffe hindurch  zu  der  Auffassung  der  'Sonnenscheibe'  zu 
gelangen. 

^  Berakboth  61b  (Levy  Wörterbuch,  2,286b). 

^  Ich  gebe  noch  einige  dahin  zielende  Stellen :  Scholion  zur  Mu'allaqa 
des  'Amr  v.  13  (Arnold);  Wellhausen  Vakidi  374;  'Umar  Ibn  Abi  Rebi'a 
3,11;  C.  Reinhardt  'Oman  §  144  (unten);  Nöldeke,  Delectus  9,6;  Jacut 
Wörterluch  3,  49,  14;  Beidhawi  2,202,  8.     Hariri's  Durra  111,11. 

^  Aus  der  sekundären  Form  der  Wurzel  im  Assyrischen  (kabtu  usw.) 
erklärt  sich  äthiop.  kabata,  verhehlen,  wie  arab.  admara  von  damir, 
asarra  von  sirr. 

*  Diese  Deutung  ist  mir  die  wahrscheinlichste. 

^  Qurs.    Auch  die  Mondscheibe  wird  so  genannt.    ®  Gauna  (guna). 

'  Samsa,  wie  auch  qurs.  Ebenso  der  Neumond  bei  Arabern  (hiläl) 
und  Hebräern  (saharon). 


i 


180  K.  Völlers 

Wenn  nicht  alles  trügt,  sind  sämtliclie  in  der  Wurzel 
Kbd  liegenden  Bedeutungen  auf  die  ^Leber'  zurückzuführen. 
Von  der  psychischen  Bedeutung  des  Ausdruckes  wurde  schon 
gesprochen.^  Damit  hängt  auch  die  ^ Leberschau'  zusammen, 
die  Ezech.  21,26  als  babylonische  Sitte^,  und  in  Midrasch 
(Levy  2,287  a)  als  arabischer  Brauch  erwähnt  wird.^  Als  dicke, 
schwere  Masse  führte  die  Leber  bei  Hebräern,  Assyrern  und 
Athiopen  zu  dem  Begriffe  ^schwer,  gewichtig'  im  eigentlichen 
und  übertragenen  Sinne  (^ ehren').  Daher  auch  arab.  kabda,  ein 
Klumpen  Erde,  der  Verbalstamm  takabbada,  gerinnen,  und 
auch  wohl  der  Stamm  käbada,  ertragen,  aushalten,  und  das 
nicht  ganz  klare  kabad  (Qorän  90,4).  Ferner  wurde  der  Aus- 
druck kabid  auf  den  ganzen  Unterleib  übertragen,  so  bei 
Arabern  (Lisän  4,377,21;  378,4Tarafa  11,6)  und  bei  Athiopen 
und  Aramäem.  Daher  erklären  sich  die  Übertragungen  auf 
^Fettwanst,  schwerfällig,  langsam';  so  war  'kabid'  Spottname 
eines  Traditionariers.*  Der  Begriff  des  'Leibes'  wurde  ver- 
allgemeinert zu  'Hauptteil,  Mitte,  Oberfläche;  Inneres'.  Die 
mineralischen  Schätze  sind  im  'Leib'  der  Erde  verborgen 
(Lisän  4, 378, 13  ff.);  am  Bogen  bezeichnete  'kabid'  die  Mitte 
der  Wölbung  des  Holzes,  wo  die  Pfeilspitze  ruht.  Eine  Über- 
tragung vom  'Bogen'  auf  das  'Himmelsgewölbe'  scheint  mir 
vorzuliegen,  wenn  kabid  (auch  kabad,  kubaidä,  kubaidät)  den 
'Scheitelpunkt'  des  Himmels  bedeutet.^ 

^  Ich  verzichte  hier  auf  Heranziehung  der  zahlreichen  Parallelen 
aus  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen. 

^  Eine  im  British  Museum  aufbewahrte  'Wahrsagungs- Leber'  mit 
Einteilung  und  Orakeln  ist  abgebildet  bei  H.  Win  ekler,  die  Euphrat- 
länder  und  das  Mittelmeer  (Alter  Orient  VII,  2, 1905).    S.  17. 

3  Vgl.  Eb.  Schrader,  K  AT»  S.  605  Anm.  6.  Auch  die  durch 
schlechtes  Wasser  verursachte  Erkrankung  der  Leber,  wohl  der  Leber-, 
abszeß,  war  den  Arabern  als  kubäd  bekannt. 

*  Tag  al  'Arus  2,481,23  vgl.  Z.  26,  wo  ein  Dichter  'Kabid  al 
hasät'  heißt. 

^  In  der  südarabischen  Epigraphik  erscheint  die  Wurzel  nna  (nach 
den  gütigen  Nachweisen  Ed.  Glasers)  mehrmals,  nämlich  Glaser  1150,2 


I 


Die  solare  Seite  des  alttestamentlichen  GottesbegriflFes         181 

Außer  diesem  kabid  mit  seiner  reichen  Begriffsentfaltung 
kommt  noch  kabad  in  Betracht,  das  die  Atmosphäre,  den 
zwischen  Erde  und,  dem  vermeintlichen  Himmelsgewölbe  befind- 
lichen Luftkreis  bezeichnet.  Aber  es  muß  erwähnt  werden, 
daß  die  Begriffssphären  von  kabid  und  kabad  ineinander  über- 
gehen, indem  kabad  auch  den  ^Leib'  und  den  ^ Hauptteil' 
eines  Gegenstandes  und  den  *  Scheitelpunkt '  des  Himmels- 
gewölbes bezeichnet.^ 

Blicken  wir  nun  auf  hebr.  käbhodh  zurück  und  erinnern 
noch  einmal  daran,  daß  es  einst  die  ^ Leber'  bezeichnet  haben 
muß,  so  dürfen  wir  die  Möglichkeit  der  oben  dargelegten 
Begriffserweiterung  des  arabischen  Ausdruckes  auch  für  das 
hebräische  Wort  zulassen  und  diesen  Gedanken  für  die  Erklärung 
der  Verbindung  ^niglä  kebhödh  Jahwae'  und  ihrer  Variationen 
j verwerten.  Mir  scheint  es  nicht  übermäßig  kühn  zu  sein,  wenn 
man  die  genannte  Verbindung,  wie  sie  noch  Jes.  40, 5  vorkommt, 
deutet:  'es  wird  sichtbar  (durch  Verschwinden  der  Wolken  oder 
Aufhören  der  Verfinsterung)  die  volle  Sonnenscheibe'  oder  'die 
Sonne  am  Höhepunkt  des  Firmamentes'.  Wenn  diese  Deutung 
zulässig  ist,  so  werden  wir  folgerichtig  dazu  gedrängt,  auch 
in  nin"^  'Jahwae'  die  Personifikation  sei  es  der  Sonne,  sei  es 
des  bald  segenspendenden  und  erfreuenden,  bald  vernichtenden 
und  schreckenerregenden  Himmels  zu  erblicken.  Ich  denke 
Inicht  daran,  dies  lediglich  auf  sprachvergleichendem  Wege 
jgewonnene  Ergebnis  mit  den  Worten  des  Alten  Testamentes 
zu  erhärten.  Von  der  Zeit  und  der  Kulturstufe,  auf  der  jene 
von   mir   gewonnenen  Vorstellungen   lebendig    waren,   bis    zu 

dem  primitivsten  Gottesbegriff  der  Hebräer  ist  ein  weiter  Weg; 

! 

j(Halevy  192,  9  [2J);  Gl.  1155,1  (H.  535,1  [6]);  Gl.  1155,2  (H.  535,  2  [9]); 
Gl.  1083,  3  (H.  187,  3  [7]),  und  zwar  wahrscheinlich  im  Sinne  gewisser 
Tempelabgaben,  so  daß  die  Bedeutung  an  das  'ehren'  des  Hebräischen 
und  Assyrischen  erinnert. 

^  Lisän  4,379,6  Tag  2,281,36  —  39.  Auch  sukäk,  das  Synonymen 
von  kabid  (kabad),  bezeichnet  zugleich  'Atmosphäre'  und  den  höchsten 
Punkt  des  Bogens. 

Archiv  f.  Eeligions-wissenschaft  IX  13 


1 


lg2  K.  Völlers 

um  wie  viel  weiter  bis  zu  dem  siegesfreudigen  und  affektvollen 
Gott  der  Eroberer  Palästinas,  zu  dem  männlichen,  ernsten 
Richter  der  Propheten  und  dem  alternden,  ängstlich  auf  sein 
Zeremoniell  bedachten  Gott  des  Priestertums.  Aber  es  darf 
daran  erinnert  werden,  daß  Jahwae  nicht  zum  kleinsten  Ti 
auch  Wettergott  ist,  der  das  fruchtbare  Naß  spendet  und 
Gewitter  erkennbar  ist.  Herr  von  Gall,  der  den  Begriff  'käbhö 
als  Theologe  untersucht  hat^,  weist  mit  Recht  auf  die  engen 
Beziehungen  des  'kebhodh  Jahwae'  zum  Gewitter  hin,  so  am 
Sinai  und  in  den  Visionen  Ezechiels.  Bekanntlich  ist  die  Deutung 
des  Namens  ^Jahwae'  mit  seiner  Auffassung  als  ^Himmel' 
recht  wohl  vereinbar;  die  vollkommen  gesicherte  Namensform 
bezeichnet  gerade  nach  der  zwanglosesten  Erklärung  den,  der 
*  niedersendet',  was  sich  sowohl  auf  Blitze,  als  auf  meteorische 
Niederschläge  beziehen  kann.^  Eine  gewisse  Parallele  der  Ent- 
wickelung  liegt  darin,  daß  derselbe  arabische  Ausdruck  ^nazala, 
niederkommen',  der  seit  der  ältesten  Zeit  bis  auf  die  Gegenwart 
vom  Regentropfen  usw.  gebraucht  wird,  von  Mohammad  auf  die 
Vermittelung  seiner  Offenbarungen  angewendet  wurde.  Was  aber 
die  spezielle  solare  Seite  des  Ausdruckes  ^käbhodh'  anbelangt, 
die  oben  nur  sprachgeschichtlich  erschlossen  wurde,  so  gewinnen 
aucL  gewisse  Stellen  der  Urkunden  bei  dieser  Beleuchtung 
eine  größere  Faßlichkeit  als  bei  der  üblichen  unklaren  Deutung 
der  ^Herrlichkeit  des  Herrn'.  Ich  rechne  dahin  vor  allem  den 
schon  bei  der  sinaitischen  Theophanie  ausgesprochenen  und 
auf  allen  Stufen  der  Weiterentwiclelung  festgehaltenen  Gedanken, 
daß  Gott  nicht  gesehen  werden  kann,  oder  genauer,  daß  dem 
Menschen  sein  Antlitz  unschaubar  ist,  und  daß  nur  noch  beim 
Entweichen  der  Erscheinung  ein  Blick  von  ihm  erhascht  werden 
kann    (Exod.  33,20  ff.).^     In    diesem    Sinne    heißt    es    noch 

1  Die  Herrlichkeit  Gottes,  1900. 

^  Über  Jahwae  als  Feuerdämon,  Gewittergott  usw.  spricht  Ed.  Meyer: 
Sitz.  Ber.  d.  Berl.  Ak.  1905,  22.  Juni,  S.  642. 

'  In  Ex.  33,  23  kann  achoräi  in  diesem  Zusammenhang  auf  den 
Westen  als  die  Stätte  des  Sonnenunterganges  bezogen  werden. 


Die  solare  Seite  des  alttestamentlichen  Gottesbegriffes         183 

1.  Tim.  6, 16  g)a)g  oIxg)v  cc^QÖöLtov,  bv  .  .  .  ovdslg  ccv^Q^Ttcov 
idslv  dvvatuL  An  vielen  Stellen  kann  man  nocli  erkennen, 
daß  und  wie  die  natürliche  Grundlage  des  Begriffes  verlassen 
und  durch  eine  metaphysische  Auffassung  ersetzt  ist,  so 
Exod.  24, 9  f.,  wo  begünstigte  Propheten  der  vollen  Erscheinung 
Gottes  teilhaftig  werden,  wo  aber  das  eigentliche  Wesen  der 
Erscheinung  nicht  beschrieben,  sondern  nur  gesagt  wird,  daß 
der  Schemel  seiner  Füße  dem  im  vollsten  Glänze  erstrahlenden 
Himmel  glich.  Damit  ist  Jes.  24, 23  zu  vergleichen,  wo  nur 
den  *  Ältesten'  der  ^käbhodh'  sichtbar  wird,  dessen  Glanz  aber 
Sonne  und  Mond  überstrahlt.  An  die  alte  physische  Grund- 
lage erinnert  noch  das  Micha  1,3^  gebrauchte  Bild:  'Jahwae 
tritt  aus  seiner  Stätte  hervor,  steigt  nieder  und  setzt  seinen 
Fuß  auf  die  Bergspitzen  des  Landes',  vgl.  Amos  4,13.  Ein 
solches  Bild  ist  zunächst  nicht  von  den  bescheidenen  Höhen 
Palästinas  zu  verstehen,  sondern  von  den  alpinen  Regionen 
des  Sinai  oder  gewisser  Teile  Arabiens.  Aus  den  Visionen 
Ezechiels  am  Kebhär  bei  Niffar  hebe  ich  nur  die  Stelle  hervor 
(43, 2  vgl.  43, 1;  10,19;  11,23),  wo  gesagt  wird,  daß  der  gött- 
liche 'käbhodh'  von'  Osten  her  kommt;  hiermit  vergleiche 
man  Jes.  59,19;  60,1,  wo  derselbe  Gedanke  schon  rhetorisch 
verflüchtigt  ist.  Num.  14,21  sagt  Jahwae  von  sich  selbst,  daß 
sein  ^käbhodh'  die  ganze  Erde  füUt.^  Aber  im  Widerspruch 
damit  wird  der  ^käbhodh'  in  den  engen  Tempel  gebannt,  und 
sein  Licht  überstrahlt  und  ersetzt  das  der  Sonne  und  des 
Mondes  (Jes.  60,19;  24,23).  Welchen  Zwecken  der  im  Tempel 
wohnende   'käbhodh'   gedient   haben  mag,   wird  von   Charlier 

^  Zur  Michastelle  sei  darauf  hingewiesen,  daß  das  entsprechende 
assyr.  asü  vom  Sonnenaufgang  gebraucht  wird.  Wenn  wir,  wie  mir 
immer  wahrscheinlicher  wird,  Ibn  Gala  von  der  Sonne  verstehen  dürfen, 
so  bietet  der  in  dem  bekannten  Verse  (Tabari  2,  864,  2)  danebenstehende 
;  Ausdruck  'tallä  at-tanäjä',  Erkletterer  der  Bergpfade,  auch  eine  Parallele 
zu  den  Worten  des  Micha.  Ferner  verweise  ich  noch  auf  n"iT  Deut.  33,2 
und  auf  die  häufige  Wendung,  daß  Gott  sein  Antlitz  nicht  verbergen  möge. 
-  Zu  den  Eigennamen,  die  hier  in  Betracht  kommen,  gehört  laai"« 
fJökhebhedh,  der  Name  der  Mutter  Mosis. 

13* 


184     K.  Völlers    Die  solare  Seite  des  alttestamentliclieii  Gottesbegriffes 

a.  a.  0. 393  untersuclit.  Wie  icli  sclioii  liervorgeliobeii  habe,  gedenke 
ich  nicht  aus  den  oben  angeführten  Stellen  den  solaren  Charakter 
des  althebräischen  Gottesbegriffes  zu  beweisen,  noch  auch  zu 
behaupten,  daß  sie  bei  ihrer  Niederschrift  vom  Schreiber  und 
seinen  ersten  Lesern  in  dem  Sinne  aufgefaßt  seien,  sondern  nur 
darauf  hinzuweisen,  daß,  nachdem  die  Beziehungen  von  nhs 
niglä  und  "'"iSd  'käbhodh'  auf  die  Sonne  wahrscheinlich  gemacht 
sind,  in  jenen  Stellen  ein  letzter  schwacher  Nachhall  dieser 
Auffassung  vernommen  werden  darf.  "Von  den  Übersetzern 
des  Alten  Testamentes  scheinen  der  Alexandriner  mit  'dö|ß' 
und  Luther  mit  ^Herrlichkeit'^  das  Rechte  getroffen  zu  haben, 
insofern  diese  Bezeichnungen  den  Eindruck  des  überwältigenden 
Glanzes  wiedergeben. 

Endlich  mag  noch  darauf  hingewiesen  werden,  daß  auch 
der  Name  Jisrä'el  eine  meteorische  Bedeutung  haben  kann. 
Weit  besser  als  die  herrschende  Auffassung  des  Ausdruckes  als 
'Gott  streitet'  ist  die  Ableitung  von  hebr.  särä  =  arab.  sariya 
(sarä)  begründet;  da  der  arabische  Ausdruck  vom  Zucken  und 
Flackern  der  Blitze  beim  Wetterleuchten  gebraucht  wird 
(Lisän  19,157.17  — 19),  so  würde  Jisrä'el  zu  deuten  sein  als 
'Gott  (El)  leuchtet'.  Wahrscheinlich  hatte  diese  Deutung  ein 
Analogon  in  dem  bekannten  Namen  des  Gottes,  der  in  Süd- 
westarabien als  Dhussärä,  bei  den  Nabatäern  Dhü-särä,  in  der 
Auranitis  als  JOYHAPHH  u.  ähnl.  bekannt  ist.^  Femer  würden 
hierher  gehören  die  Männemamen  Seräjä  und  Seräjähü,  der 
Name  Sirjon,  mit  dem  die  Sidonier  den  Hermon  wegen  des 
flimmernden  Schnees  benannten  (Deut.  3,9  Ps.  29,6),  endlich 
auch  der  ältere  Name  der  Frau  Abrahams,  Sarai  'Glanz',  wenn 
man  ihn  etymologisch  von  Särä,  'Herrin',  trennen  will. 

^  Von  'hehr',  vornehm,  prächtig,  mit  bloßer  Nebenbeziehung 
auf  'Herr'. 

2  Vgl.  über  ihn  außer  J.  H.  Mordtmann,  Ed.  Meyer,  J.  Wellhausen 
zuletzt  R.  Dussaud:  Eevue  Numismatique ^  Paris  1904.     S.  160 — 173. 


Lautes  und  leises  Beten^ 

Von  Siegfried  Sudhaus  in  Kiel 

Properz  entwirft  in  der  ersten  Elegie  des  letzten  Buches 
(71 — 150)  ein  lebendiges  Bild  von  dem  Treiben  und  Gebaren 
der  Magier  und  Chaldäer.  Ganz  plötzlich  taucht  die  Gestalt 
j  eines  solchen  Genethliacus  vor  dem  erregten  Dichter  auf. 
Er  preist  in  selbstgefälliger  Geschwätzigkeit  seine  Kunst  und 
sein  Wissen  und  gibt  so  eine  unfreiwillige  Selbstcharakteristik. 
Sieht  man  einmal  von  der  Intention  des  Dichters  einen  Augen- 
blick ab,  so  tritt  deutlich  hervor,  wie  sehr  diese  Selbst- 
schilderung nach  dem  Leben,  die  der  Dichter  mit  Humor^  würzt, 

^  Die  folgenden  Zeilen,  die  ursprünglich  für  eine  philologische 
Zeitschrift  niedergeschrieben  waren,  sind  der  Hauptsache  nach  nur 
etwas  ausgeführtere  Randbemerkungen  zu  einer  Properzstelle ,  deren 
Emendation  sie  stützen  sollen.  Wenn  sie  infolge  der  Aufforderung  des 
Herausgebers  dieser  Zeitschrift  hier  erscheinen,  so  muß  die  Bemerkung 
vorausgeschickt  werden,  daß  es  keineswegs  beabsichtigt  war,  das  Problem 
erschöpfend  zu  behandeln.  Das  ist  in  Form  eines  Aufsatzes  kaum  mög- 
lich und  erfordert  eingehende  Studien  auf  dem  Gebiete  der  orientalischen 
Religionen  und  der  christlichen  Literatur,  die  nur  ganz  gelegentlich 
herangezogen  ist.  Immerhin  kann  eine  Behandlung  im  engeren  Rahmen, 
gleichsam  ein  kleiner  Ausschnitt,  vielleicht  von  einigem  Nutzen  sein, 
zumal  gewisse  Züge  immer  wiederkehren  und  eine  allgemeine  Orien- 
tierung gestatten. 

^  Ein  hübsches  Beispiel  ist  der  Schlußsatz  der  Rede,  der  meines 
Wissens  noch  nicht  überzeugend  erklärt  ist.  Der  magus  endet  mit  der 
Mahnung  octipedis  cancri  terga  sinistra  cave.  Damit  zielt  Properz  auf  die 
aselli  genannten  Sterne,  die  vor  der  Krippe  stehen.  Manilius  erwähnt  sie 
Y  174  unter  dem  Namen  lugulae:  nunc  cancro  vicina  canam,  cui  parte 
sinistra  consurgunt  Jugulae.  Die  Mahnung  des  Sterndeuters  besagt  also 
'Hüte  dich  vor  den  Eseln*,  und  wir  sind  überzeugt,  daß  Properz  von 
der  Warnung  den  denkbar  unverzüglichsten  Gebrauch  machen  wird. 
Komplizierter  ist  die  scharfsinnige  Erklärung  von  BoU  in  dem  für  die 
Erläuterung  und  das  Verständnis  dieses  Gedichtes  grundlegenden  Auf- 
satze von  A.  Dieterich  Bh.  Mus.  1900,  vgl.  bes.  S.  208  ff. 


i 


136  Siegfried  Sudhaus 

den  biologisclien  Szenen  etwa  des  Herondas  verwandt  ist,  denn 
wie  getreu  die  Schilderung  ist,  bemerkt  man  bald,  wenn 
man  andere  astrologische  Literatur  heranzieht.  Es  wäre  eine 
lohnende  Aufgabe,  das  Punkt  für  Punkt  zu  illustrieren. 

Nach  dem  Leben  ist  es  denn  auch  geschildert,  wenn  sich 
der  Sterndeuter,  um  seine  Glaubhaftigkeit  zu  beweisen,  auf 
frühere  Yoraussagungen  beruft,  die  der  Verlauf  der  Dinge  be- 
stätigt hat.i  Der  eine  Fall  (89—98)  betrifft  Zwillinge,  mit 
denen  sich  die  Astrologie  so  angelegentlich  beschäftigte,  ein 
viel  behandeltes  Thema,  das  auch  ernstere  Leute  wie  Posidonius 
interessierte.  Dann  folgt  ein  zweites  Zeugnis  für  die  fides  des 
Chaldäers,  das  so  überliefert  ist: 


99  idem  ego  cum  Cinarae  traheret  Lucina  dolores 
et  facerent  uteri  pondera  lenta  moram, 
lunonis  facite  votum  impetrabile  dixi: 

illa  parit,  libris  est  data  palma  meis. 


Die     gewöhnliche   Heilung     des     metrischen    Fehlers    in 

Vers  101 

„lunonis  votum  facite  impetrabile"  dixi 

hält  näherem  Nachdenken  nicht  stand.  Denn  was  soll  der  Rat 
„ein  wirksames  Gebet  an  Juno  zu  richten"?  Das  wußte  ja 
jede  Wöchnerin,  daß  man  Juno  Lucina  anzurufen  habe, 
und  der  Rat,  ein  votum  impetrabile  zu  tun,  ist  doch  gar  zu 
billig  und  einfältig.  Er  muß  doch  selber  das  Gebet  angeben. 
Es  bedarf  irgendeiner  speziellen  Anweisung,  um  die  Kunst  des 

^  Ein  Magier,  der  sich  auf  eingetroffene  Prophezeiungen  beruft, 
in  Jamblichs  Roman,  c.  10  fin.  Erotici  Script,  p.  518,  29.  Im  übrigen 
ist  das  alter  Gemeinplatz.  Schon  der  prophezeiende  Prometheus  (824) 
hebt  so  an: 

OTKog  ^'  ocv  sidrj  [ir]  (idti^v  ocXvovaä  [lov, 
a  tiqIv  }ioXstv  dsvg'  ^x/xsfio^^rjxev  tpQd6(0f 
tsu^'^QLOv  tovt'  ccvvb  Sovg  ybvQ'av  i^&v. 

vgl.  dazu  842  f.  Die  Worte  der  Kassandra  Agam.  1193  ^iiuqtov  tj  rrjew 
TL  to^orrig  xig  coff;  erinnern  anv.  122  mentior?  an  patriae  tangitur  ora  tuae? 
und  wieder  an  Prom.  835  t&vds  jtQOöaalvsi  öe  rt;  köstlich  ist  Petron.  76. 


Lautes  und  leises  Beten  137 

Magiers  zu  bewähren.  Es  bedarf  einer  Begründung,  wenn  es 
in  folgendem  Verse  heißt: 

illa  parit:  11  bris  est  data  palma  meis. 

Wir  fordern,  da  ja  seinen  Rollen  die  Palme  zuteil  wird,  daß 
diese  Rollen,  denen  offenbar  das  Verdienst  gebührt,  die  Geburt 
zu  beschleunigen,  und  die  seiner  Weisheit  Quelle  sind,  vor 
unseren  Augen  in  Aktion  treten,  wenn  anders  sie  die  Palme 
verdienen  sollen. 

Das  geschieht,  wenn  wir  folgende,  wie  es  scheint,  not- 
wendige und  fast  unmerkliche  Änderung  vornehmen,  die  auch 
gestattet,  die  überlieferte  Wortstellung  zu  erhalten: 

lunonis  tacite  votum  impetrabile  dixi. 

Der  Magier   hat   aus   den  Rollen,    die   ein   ständiges  Attribut 
aller   Propheten   und    Astrologen    sind,    ein    Gebet    aufgesagt, 
und     zwar    leise,    was     ebenfalls    für     die     magische    Praxis 
charakteristisch  ist,  wie  wir  sehen  werden.     Die  Wirkung  des 
still  gesprochenen  Gebets  ist  eine  starke  und  unmittelbare,^  und 
den  kostbaren  Rollen   wird   die   gebührende  Palme   zuerkannt. 
Ein  leises  Beten^  wie  es  hier  geschildert  wird,  finden  wir 
bei    den  Alten    nicht    gerade    selten    erwähnt,    aber  es    bildet 
doch  immer  die  Ausnahme.  Es  gilt  das  in  erster  Linie  von  dem 
öffentlichen   Gebet,    bei  dem   der  laute  Vortrag  selbstverständ- 
lich   erscheint,    aber    auch    das    private   Gebet,    von    dem    im 
folgenden   fast  ausschließlich    die  Rede    ist,    wird   nicht    ohne 
besondere  Gründe  leise  gesprochen.     Auch  bei  den  Juden  war 
das  nicht  anders.     Ganz  besonders  charakteristisch   ist  die  Er- 
I  Zählung   von  Hanna   im  Anfang    des    1.  Buches   Samuelis.  — 
I  Hanna  betet  zu  Jahwe  und  wir  erfahren  auch  den  Inhalt  ihres 
!  Gebetes.     Dann  heißt  es:  „Während  sie  nun  so  lange  vor  Jahwe 

I  betete,   wobei  Eli   ihren   Mund    beobachtete  —  Hanna    redete 

!    ..     .         . 

1  nämlich  leise,  nur  ihre  Lippen  bewegten  sich,  aber  ihre  Stimme 

i  ^  Vgl.  die  Gebete  der  Magier  bei  Diog.  Laert.  I  6  mit  dem  Zusatz 

;  w?  ccvrovg  iiovovg  äxovoiiBvovs. 


I 


138  Siegfried  Sudhaus 

hörte  man  niclit  — ,  kam  Eli  auf  den  Gedanken,  sie  sei  tränke; 
Offenbar  soll  eine  ganz  besondere  Inbrunst  des  Gebetes^  da" 
gestellt  werden,  da  die  Flehende  nach  ihrem  eigenen  Aus- 
drucke ihr  Herz  vor  Jahwe  ausschüttet,  aber  die  Form,  in  der 
sie  es  tut,  erscheint  dem  Beobachter  äußerst  merkwürdig  und 
befremdend.  In  der  Tat  würde  man  aus  psychologischen 
Erwägungen  viel  eher  erwarten,  daß  die  dringende  Bitte  laut 
von  den  Lippen  erklingt.  Sehr  anschaulich  schildert  das 
Juvenal  10,  289,  wenn  er  eine  Mutter,  die  einen  Yenustempel 
sieht,  Schönheit  für  ihre  Kinder  erbitten  läßt.  Für  die  Knaben 
bittet  sie  modico  murmure,  aber  für  die  Mädchen,  für  die  die 
Gabe  der  Schönheit  so  viel  wertvoller  ist,  klingt  ihr  Flehen 
lauter  und  eindringlicher: 

formam  optat  modico  pueris,  maiore  puellis 
murmure,  cum  Veneris  fanum  videt  anxia  mater 
usque  ad  delicias  votorum. 

Es  ist  ja  verständlich  genug,  daß  man  Kraft  und  Wirksamkeit 
des  Gebetes  mit  der  Energie  des  Vortrages  in  Wechselwirkung 
dachte,  und  im  Grunde  ist  es  dieselbe  naive  Vorstellung,  wenn 
die  Helden  der  llias  von  dem  iisydXa  sv^s^^ccl^  einen  be- 
sonderen Erfolg  erwarten,  und  wenn  Augustin^  bei  Gelegenheit 
eines  besonders  leidenschaftlichen  und  unter  Jammern  und 
Tränen  hervorgestoßenen  Gebetes  ausruft:  Bomine,  quas  tuorum 
preces  exaudis,  si  has  non  exaudis?^ 

Es  versteht  sich  nun  von  selbst,  und  die  bei  den  Lateinern 
sehr  gebräuchliche  Bezeichnung  murmur  würde  darauf  führen, 
daß  wir  zwischen  lautlosem  und  lautem  Beten  allerhand 
Zwischenstufen  ansetzen  müssen.  Die  Vortragsweise  wird  nach 
den  Umständen  sehr  verschieden  sein,  die  Person  des  Betenden 

^  Anders  erklärt  Cyprian  de  domin.  orat.  5  die  Stelle  (tacite  et 
modeste). 

2  ^  450  r  275  —  Z  301;  vgl.  Könige  I  18,  26—29,  Apul  Met.  XL  24: 
■und  XI  1.  Herod.  VII  191  —  Meister  Griech.  Bial.  II  222,  zu  ccQa  Ruf, 
Bitte.  2  de  civ.  dei  22,  8.  *  vgl.  Z  301,  Q  364  der  llias. 


Lautes  und  leises  Beten  139 

selbst  und  sein  Verhältnis  zu  seinem  Gotte  spielen  naturgemäß 
eine  Rolle  dabei.  Der  naive  Mensch  wird  anders  beten  als  der 
reflektierende.  Anders  wird  ein  gewohnheitsmäßig  gesprochenes, 
formelhaftes  Gebet  klingen,  anders  ein  ^Schreien  aus  tiefer  Not' 
und  anders  wieder  ein  Dankgebet,  das  den  Lippen  unauf- 
haltsam^ entströmt.  Das  Ritualgebet  und  ein  privates  An- 
liegen werden  sich  in  der  Vortragsart  stark  unterscheiden. 
Zeit  und  Stunde,  Ort  und  Umgebung,  Sitte  und  Brauch, 
Stimmung  und  Temperament  werden  mitwirken,  und  eine  bunte, 
wechselreiche  Stufenfolge  führt  vom  stummen  Gebet  zum 
leidenschaftlichen  Erguß  unter  Tränen  und  Zuckungen,  führt 
vom  flüchtigen,  halblauten  Gruß  beim  Passieren  des  Tempels 
oder  dem  kurzen  Stoßseufzer  zu  langen,  in  einförmigem  Tonfall 
wiederholten  Litaneien,  mit  denen  man  nach  römischem  Aus- 
drucke die  Götter  meinte  mürbe  beten  zu  können. 

Der  Kult  hat  sehr  verschiedene  und  zum  Teil  sehr  sonder- 
bare Formen  des  Gebetsvortrages  ausgebildet.  Der  Aphrodite 
ipCd'VQOs^  raunte  man  leise  Gebete  ins  Ohr  wie  dem  Heros 
^jjCd'VQog  von  Lindos,  dem  Flüsterer,  dessen  Wesen  Usener  kürz- 
lich gedeutet  hat.^  An  Ödipus'  Grabe  darf  nicht  gesprochen 
werden.^  Zum  Pan  durfte  man  nicht  schweigend  ziehen.* 
Die  römischen  Arvalbrüder,  die  sich  im  Tempel  der  dea  dia 
einschließen  lassen,  tragen  hoch  geschürzt,  mit  den  Gebetsrollen 


*  Stengel  meint,  herzliche  Dankesworte  kenne  das  antike  Gebet 
nicht  (Die  griech.  Kultusaltertümer ^  72).  Im  ganzen  ist  das  gewiß  zu- 
treffend, aber  in  der  menschlichsten  Zeit  hellenischer  Kultur  findet 
sich  doch  ein  bemerkenswertes  Zeugnis,  ich  meine  Terenz  Heauton 
timor.  879  ff.,  also  ein  MsvdvdgsLov,  das  man  kaum  anders  als  im  an- 
gegebenen Sinne  deuten  kann.  Eine  Mutter  kann  sich  im  Dank  an  die 
Götter  nicht  genug  tun,  da  sie  ihre  Tochter  wiedergefunden  hat.  Da  sagt  der 

;  Mann:   Ohe,  desiste  inquam  deos,  uxor  gratulando  oMundere,  tuam  esse 
'  inventam    gnatam:    nisi    illos    ex    tuo    ingenio    iudicas,    ut    nil   credas 
\  intellegere,   nisi  idem   dictumst   centies.     Das    ist    für   Mann   und  Frau 
I  gleich  charakteristisch.     Vgl.  Ov.  Trist.  I  3,  39  {pluribus  uxor). 
2  Bh.  Mus.  1904,  623  f.  »  Oed.  Col.  1762. 

*  Menander  fr.  134  K  (Schol.  zu  Arist.  Lys.  2). 


]^90  Siegfried  Sudhaus 

in  der  Hand,  ilir  altes  Enos  Lases  iuvate  im  Dreitakte 
Aber  in  all  dieser  Mannigfaltigkeit  unterscheidet  man  docl 
den  lauten  Vortrag  als  das  Normale,  den  lautlosen  als  Aus- 
nahme, dazwischen  eine  Mittelstufe,  die  die  Römer  als  murmiir 
oder  gelegentlich  als  susurrus  kennzeichnen. 

Daß  die  laute  Vortragsweise  des  Gebetes  überall  die 
ursprünglichste  und  auch  für  die  Antike  noch  die  selbst- 
verständlichste ist,  bedarf  kaum  des  Beweises.  Es  entspricht 
der  primitiven  sinnlichen  Göttervorstellung,  daß  der  Betende 
seine  Bitte  laut  und  deutlich  vortrage,  damit  sie  dem  Ohre  des 
Gottes  vernehmlich  werde.  Am  zweckmäßigsten  wird  man  sie 
im  Heiligtum  des  Gottes  selbst  sprechen,  aber  von  Anfang  an 
finden  wir  die  Vorstellung  verbreitet,  daß  der  Gott  auch  aus 
weitester  Ferne  das  Gebet  vernehmen  könne.  Thetis  hört  Achill 
aus  der  Tiefe  des  Meeres,  und  der  Betende  beruft  sich  gerne 
auf  die  Fähigkeit  des  Gottes,   alles  zu  sehen  und  zu  hören.^ 

Diese  Sitte,  mit  lauter  Stimme  zu  beten,  geht  durch  das 
ganze  Altertum  hindurch.  Sie  wird  überall  vorausgesetzt,  und 
weil  sie  selbstverständlich  erscheint,  geschieht  ihrer  nur  selten 
und  in    besonderen    Fällen    Erwähnung.^     Besonders     deutlich 


^  0  515  dvvcceccL  Ss  6V  navToa  a^ovsiv  (ähnlich  noch  der  Ausdruck 
Joh.  11,42  iyoj  dh  tjöbiv,  ort  Ttdvrook  ^lov  Scnoveis),  Hesiod.  Erg.  9  yiXvd'i 
Idav  älcav  ts,  Aesch.  HiJc.  79  xX-usr  sv  tb  dUccLov  idovteg  —  Odysseus 
(«  444)  kann  im  Meeressturm  nur  ov  xcctcc  d'v^ov  beten,  aber  der  Fluß- 
gott versteht  ihn.  So  sagt  Apollo  Tial  acocpov  evvlri^i  y.al  ov  cpoivevvTOs 
&7cov(o  Herod.  I  47.     Vgl.  Nägelsbach  Homer.  Theol.^  197. 

2  Es  ist  damit  wie  mit  der  Sitte  des  lauten  Lesens.  Norden 
macht  darauf  in  der  Einleitung  zu  seiner  antiken  Kunstprosa  S.  6  auf- 
merksam unter  Verweisung  auf  Augustins  Konfessionen  6,  3 :  cum  legebat 
(Ambrosius)  oculi  ducebantur  per  paginas  .  .  .  vox  autem  et  lingua 
quiescebant.  Saepe  cum  adessemus,  ...  sie  eum  legentem  vidimus  et 
aliter  nunquam.  —  Aber  auch  der  Anschlag  des  Akontios  in  Kallimachos' 
Kydippe  setzt  die  Sitte,  laut  zu  lesen,  voraus.  Er  läßt  einen  Apfel  vor 
die  Füße  der  Geliebten  rollen,  auf  dem  zu  lesen  stand  'Bei  der  Artemis, 
ich  schwöre  Akontios  zu  heiraten'.  Diese  Worte  las  sie,  wie  er  be- 
rechnet hatte,  laut,  und  so  ward  der  Eid  verbindlich,  elTtsv  7}  Tials, 
äif^KOEv  "Aqtsuls  sagt  Aristainetos ,  der  den  Vorgang  nach  Kallimachos' 


I 


Lautes  und  leises  Beten  X91 

reden  solclie  Stellen,  wo  von  Ohrenzeugen  eines  Gebetes  die 
Rede  ist  wie  in  Xenophons  Gastmahl  4,  55:  xal  jCQoirjv  iym  öov 
i^xovov  6'dxoiisvov  Ttgbg  rovg  d'sovg  ojtov  äv  '^g  öidovcci  tcuqtcov 
}isv  cc(pd'ovCav,  cpQSv&v  dh  ätpogCav. 

berühmter  Elegie  erzählt.  So  beginnt  denn  der  20.  Brief  des  Ovid,  der 
den  Namen  der  Kydippe  trägt: 

pertimui  scriptumque  tuum  sine  murmure  legi, 
iuraret  ne  quos  inscia  lingna  deos. 
Unzweideutig   sind    auch   die  Worte   Lucians   in   der   Schrift   IIqos  tov 
&xaldsvtov  2:    av  dh  ccvsay^isvo ig  ^hv  rotg   öcpQ'ccXiJLotg   ogäg  zä  ßißXlu  vrj 
Jla  xurayiSgag  y.al  ccvccyiyvooöytEig  ^vlu  itdvv  iitiXQixoiv  cpd'avovrog  toü 
6(pd'aX^ov  tb   6t 6 iL a.     Andere  Stellen  dieser   Schrift  ergeben  wegen 
der  Doppelbedeutung  von  avayiyvm6yiBLv  weniger  Sicheres.    Nach  solchen 
Stellen  haben  wir  etwa  Aristoph.  Frösche  52,  Plato  frgm.  173  Kock  zu 
beurteilen.   —  Aus  Augustins    Bekenntnissen  kann  man  auch  noch  8,  6 
hierhinziehen,   die   Erzählung  von   der  Bekehrung   zweier   Soldaten   zu 
Trier,   von   denen   einer   auf  eine   Lebensbeschreibung   des  h.  Antonius 
gestoßen  war7(quam  legere  coepit  unus  eorum).    Das  Lesen  war  ein  lautes 
Lesen,  ein  Vorlesen,  wie  stillschweigend  vorausgesetzt  wird.     Denn  noch 
während  der  Lektüre  bekehren  sich  beide.    Auch  die  Schilderung  seiner 
Psalmenlektüre  (9,  4),  bei   der   er   die   Manichäer   anwesend  gewünscht 
hätte,    setzt   lautes    Lesen   voraus.     Wenn    er   dagegen   in   einer    ent- 
scheidenden Stunde   seines   Lebens,   in   der  äußersten   Spannung  seines 
Wesens  von  einem  lautlösen  Lesen  spricht:  arripui  (sc.  codicem  apostoli), 
aperai  et  legi  in  silentio  capitulum,  quo  coniecti  sunt  oculi  mei,    so  ist 
j  der  ausdrückliche  Zusatz  in  silentio  um  so  sprechender,  als  wir  es  hier 
I  mit  einem  Ausnahmezustand   zu  tun  haben.    Auch  das  lautlose  Lesen 
eines  Briefes,   das  Antiphanes'  Rätsel  (^^Ä.  451a,  fr.  169  K.)  voraussetzt, 
i  erklärt    das  Wesen    des   ygtcpog    und    die    diskrete   Natur   des   Briefes. 
;  Vgl.  Heliodor  X  13,    Chariton  IV  5.     Und    so    brauchen   wir    auch    die 
Worte  des  Horaz 

ad  quartam  iaceo:  post  hanc  vagor  aut  ego  lecto 
aut  scripto  quod  me  tacitum  iuvet  {sat.  1,  6,  122) 
j  nicht  anders  zu  interpretieren ,  als  etwa  der  bezeichnende  Ausdruck  des 
j  Dracontius  {Bomul.  7,  139,  vgl.  Manu.  5,  336)  murmurat  os  tacitum  an 
j  die  Hand  gibt,  den  dieser  von  seiner  dichterischen  Produktion  ge- 
I  braucht.  Daß  man  Verse  oder  rhythmische  Prosa  laut  las,  verstand 
j  sich  eigentlich  von  selbst,  sie  wenden  sich  ja  ans  Ohr.  Aber  von 
I  Augustins  leidenschaftlicher  Rezitation  bis  zu  jenem  tacitum  murmur, 
\  mit  dem  gelassenere  Menschen  ihre  Lektüre  begleiten,  ist  auch  hier 
j  eine  lange  Skala.  —  Bemerkenswert  sind  auch  die  Äußerungen  bei 
;  Sueton  Oct.  39,  Horaz  s.  I  3,  64:  II  5,  68. 


;[92  Siegfried  Sudhaus 

Im  Rudens    des   Plautus   (258)   hört   die   Priesterin,    wie 
Leute  mit  vernelimliclier  Stimme  ein  Gebet  an  Yenus  richten: 

qui  sunt  qui  a  patrona  preces  mea  expetessunt? 
nam  vox  me  precantum  huc  foras  excitavit.^ 

Im  Romane  des  Chariton  III  8  ist  von  einem  lauten  Qj 
bete  an  Aphrodite  die  Rede,  das  ein  gewisser  Dionysios  spricl 
und  von  dem  kTtsvcpruiBiv  des  Volkes.  Da  aber  die  schöi 
Kallirhoe  zu  derselben  Göttin  zu  beten  verlangt,  müssen 
die  Kapelle  verlassen.  Die  Vorstellung,  daß  sie  ja  etwa  leii( 
beten  könne,  kommt  dem  Autor  gar  nicht.^ 

Bei  Xenophon  von  Ephesus  wird  eine  Ev%ri  geschildert, 
ein  Vater  bei   der  Abfahrt  seiner  Kinder   spricht.     Er   ruft 
laut,    daß   die   Scheidenden,    die    schon   vom  Ufer    abgestoß^ 
sind,   noch  deutlich  jedes  Wort   vernehmen,   das   der  Zurüc| 
bleibende  spricht.^ 

Valerius  Flaccus  II  256  ff.  schildert,  wie   das  Echo  ei] 
Gebetes  von  den  Wänden  des  Tempels  zurückklingt. 

Nicht    undeutlich    redet    auch    eine    Stelle    des    zweite 
Alkibiades  (148c):  AaTcsdai^ovioi .  .  .  idCa  xal  drj^oöCa  stckötote 
TtaQajtXrjöCav   S'b%'riv   Bv%ovxai^  tä   zaXä  i^l  tolg  dyad'otg  tovg 


*  Vgl.  auch  1343.  Ovid  {F.  .1,  631)  ist  nicht  minder  deutlich,  aber 
vom  öffentlichen  rituellen  Gebet  gesagt,  für  das  sich  der  laute  Vortrag 
von  selbst  versteht: 

si  quis  amas  veteres  ritus,  adsiste  precanti: 
nomina  percipies  non  tibi  nota  prius. 
Dagegen  betrifft  die  Anekdote  bei  Porphyr,  zu  Horaz  s.  I  3,  21  ein 
Privatgebet:  Hie  (scurra  Maenius)  cum  post Patrimonium  adrosum  Kalen- 
dis  Januariis  in  Capitolio  clara  voce  optaret,  ut  quadringenta  nummorum 
aeris  alieni  haheret,  quaerente  quodam,  quid  sibi  vellet^  quod  tarn  sollemni 
die  aes  alienum  habere  optaret,  ^noli  mirari',  inquit,  'octingenta  debeo'. 

^  Vgl.  auch  weiterhin  hi  ßovXo^ivriv  Xeysiv  insöx^  ^^  SdxQva,  genau 
wie  bei  Ovid  Trist.  I  3,  39  Hac  prece  adoravi  superos  ego,  pluribus  uxor, 
singultu  medios  impediente  sonos. 

^  1,  10  6  dh  Msycc^'^Sris  cpidlriv  Xaßoav  xat  iTCiCTc'tvdoiv  ri^^sro  mg 
i^axovötov  SLVccL  totg  iv  rjj  vriL'  co  itccldsg  .  ,  .  svtvxotrs  xvX. 


I 


Lautes  und  leises  Beten  193 

dsovg  ÖLÖövca  xsXBvovtag  av  6(pCöiv  avtolg,  tcXbIov  d'  oi)d£lg 
oiv  ixsCvcov  sv^a^svcov  azovöSLS,^ 

Aber  auch  in  christliclier  Zeit,  wo  häufiger  von  stillem 
Beten  die  Rede  ist,  wird  zunächst  doch  das  laute  Gebet  als 
Regel  betrachtet.  Augustin  bezeichnet  in  dem  oben  angeführten 
Kapitel  (De  civ.  dei  22j  8)  das  stumme  Gebet  als  einen  Not- 
behelf: ego  tarnen  prorsus  orare  non  poteram:  hoc  tantum  modo 
hreviter  in  corde  meo  dixi}  Origines  bemerkt  in  der  Schrift 
ccsqI  Bvxfjg  (13)  ausdrücklich,  daß  Jesus*  intimes  Gebet 
Ev.  Joh.  17,  für  die  Jünger  hörbar  vorgetragen,  von  Johannes 
aufgezeichnet  sei,  6  öh  ^Icsawi^g  sv%'^v  a'bxov  ccvayQdfpsi.  Selbst 
das  Gebot,  im  stillen  Kämmerlein  zu  beten,  und  das  Verbot 
des  ßattoXoyslv  setzen  noch  lange  kein  stummes  Beten  voraus. 
Der  Trieb,  zum  Behufe  ungestörten  Betens  abseits  zu  gehen 
von  den  Gefährten,  spricht  im  Gegenteil  für  das  Bedürfnis, 
laut  zu  beten  (Marcus  1,  35;  vgl.  Od.  XII  233^  B.  I  35). 

Wie  in  den  angeführten  klassischen  Stellen  dringt  auch 
in  der  Apostelgeschichte  (26,  25)  der  Ton  lauten  Gebetes  an  die 
Ohren  der  umgebenden  Menschen.*  Und  so  ließe  sich  noch 
mancherlei  anführen. 

Nun  können  es  aber  rein  äußerliche  Umstände  so  fügen, 
daß    ein   lautes  Beten    für    den    Beter    unmöglich   wird.^     In 

^  Auch  sonst  verrät  gelegentlich  die  Wortwahl   die  Vortragsweise 
I  eines  Gebetes,  so  Verg.  Äen.  III  438  lunoni  cane  vota  libens. 
\  ^  Ganz  ähnlich  Valer.  Flacc.  IV  372  conantemque  preces  inclusaque 

Ipectore  verha. 

3  Od.  12,  333 

di]  ZOT*  iyatv  avä  vfi6ov  äni6ti%ov,  öcpga  d'sotaiv 

sv^ai^riv,  s'i!  rlg  yboi  bdov  cpxjVEis  vhseO'ui. 

äXX  ots  St]  dicc  vjJGov  loav  ijXv^cc  italQOvg, 

X^tQug  vL'^d^svog,  o-S*'  iTtl  cni-Tcag  riv  ävhybOiOf 

TlQm^TlV  TcdvTSööL  d'sotg  — , 
^  acta    apost.  26,  25     Ttarä    dh   xo   ^iseovvTiTLOv    IlavXog   kccI    ZLXccg 
;  ngoGsv^oiisvoL  v^vovv  tov  d'sov  ijtri'XQO&VTO  dh  wbt&v  ol  dkaybioi. 
I  ^  In  dem  Roman  des  Achilles  Tatius  3,  10  ist  es  Rücksichtnahme 

;  auf  die  anwesende  Geliebte,  die  den  Liebhaber  veranlaßt,  die  Stimme 
'  zu  verhalten:  xoxb  .  .  .  xXdsiv  riQ%ov  xriv  AevTilTtTtriv  .  .  .  xaTcvßccg   iv  xfj 


J_94  Siegfried  Sudhaus 

Euripides'   Electra  (808)    ist  Orest  durcli   die  Gegenwart    d^ 

Ägistli  gezwungen,  sein  Gebet  leise  für  sich,  zu  sprechen,  wie  d^ 

Bote  berichtet:  ,  ,    ,  , 

ösöTtotrjg  S    i^og 

xavavri    ^^jj^x    ov  ysymvCiS'KCDv  Xoyovg 

Xccßstv  TtatQaa  öcaiiara. 

Selbst  staatliche  offizielle  Gebete  werden  nicht  immer  laj 
vorgetragen.  Zu  den  zahlreichen  Gebeten  in  umbrischem  Diale] 
die  auf  den  Iguvinischen  Tafeln  erhalten  sind,  lesen  wir  öfters 
den  Zusatz  tases  persnimu  sevom,  Hacitus  precamino  totum'.  Denn 
es  besteht  die  Gefahr,  daß  Feinde  und  Widersacher  das  Gebet 
erfahren,  das  der  Stadt  Segen  und  Wohlfahrt  gewährleistet. 
Sie  könnten  seine  Wirkung  durch  einen  stärkeren  Zauber 
brechen.^  Diese  Vorstellung  spiegelt  sich  denn  auch  besonde 
kenntlich  in  den  oft  zitierten  Worten  des  Aias  H  194: 

rocpo"   v^stg  sv'/^eöd'e  /iu  Kqovmvi  avaKXv 
GLyrj  icp    {)(jL£tcov,  Lva  (ir}   TQ&ig  ys  %v9-covxai^ 

oder  —  so  heißt  es  in  einem  Zusatz,  vielleicht  späterer  Zeit^ 
oder  auch  laut,  da  wir  niemand  fürchten. 

o/jv;^^  ßv&iov,  tG>  öh  v&  TtXhipag  tov  jcoaxvroi)  tov  ipocpov.  'Sl  d'sol 
äaiiiovEg  ktX.  —  rovto  ^ihv  o^v  id'Q'^vovv  riGvxy-  —  Judith  verbietet  il 
Lage,  laut  zu  beten;  so  trat  sie  denn  „vor  das  Bette  und  betete  heim- 
lich mit  Tränen"  (13,  5).  —  Anders  wieder  Liban.  30,  52.  Man  darf 
nicht  mehr  zu  den  alten  Göttern  beten  nXrjv  ?)  ety^  v.cd  Xavd-dvoav. 

*  Vgl.  Porphyrius  bei  Augustin  De  civ.  dei  X  9:  Conqueritur, 
inquit,  vir  in  Chaldaea  bonus  purgandae  animae  magno  in  molimine 
frustratos  sibi  esse  successus,  cum  vir  ad  eadem  potens  tactus  invidia 
adiuratas  sacris  precibus  potentias  alligasset,  ne  postulata  concederent.  — 
Horaz,  epod.  5,  71  solutus  ambulat  veneficae  scientioris  carmine. 

^  Dazu  mag  man  Statins'  Thehais  YI  632,  ein  Gebet  vor  dem 
Wettkampf,  vergleichen:  mox  numina  supplex  adfatu  tacito  iuvenis 
Tegeaeus  adorat,  auch  Stat.  Ach.  I  815  und  Valer.  Flacc.  IV  257.  Aus- 
feld, De  Graecorum  precationibus  quaest.  (Jb.  Supplem.  28,  514)  verweist 
auf  ein  Scholion  zu  A  35  ccTtdvavd's  yiLoov:  lvcc  ^tj  ccxovgcoölv  ol  itoX^iLioi. 
Bemerkenswert  ist  auch  die  Erklärung  zu  diesem  ersten  Gebet  des  Chryses 
in  dem  Scholion  zu  v.  450:  ors  dh  TtccxriQäto,  '^ßvxy  rj'i;;^«TO"  in  oXtd'QO) 
yciQ  ccvd'QmTtcav  r]  ccltriGis  (s.  Ausfeld  a.  a.  0.). 

^  V.  Wilamowitz  Hom.  Unters.  244. 


Lautes  und  leises  Beten  195 

In  einen  anderen  Vorstellungskreis  führt  uns  eine  Stelle 
des  TibuU,  die  sich  in  der  Forni  an  die  Worte  der  Ilias  an- 
lehnt. II  1  83  fordert  der  Dichter  zu  einem  lauten  und  weiter 
zu  einem  verstohlenen  Gebet  an  Eros  auf: 

Vos  celebrem  cantate  deum  pecorique  vocate 

voce:  palam  pecori,  clam  sibi  quisque  vocet:^ 

aut  etiam  sibi  quisque  palam;  nam  turba  iocosa 
obstrepit  et  Phrygio  tibia  curva  sono. 

Nicht  ernste  Besorgnis  oder  Furcht  bewirkt  es,  daß  die 
Gebete  an  Amor  oder  Yenus  oft  tacita  vota  bleiben,  sondern 
die  aiö6g.  Eine  Aphrodite  psithyros  ist  darum  besonders  ver- 
ständlich. Das  Gebet  der  Ariadne  bei  CatuU  64,  104  dringt 
nicht  über  die  Lippen  der  Jungfrau,  tacito  suscepit  vota  lahello. 
Dasselbe  schildert  Aristainetos  von  einem  zierlichen  und  zärt- 
lichen Knaben,  der  affektiert  schildert,  wie  sich  ein  Stoßseufzer 
der  Liebe  nicht  über  die  Lippen  wagte.^ 

Neben  diese  harmlosen  stummen  Gebete  der  Liebenden 
treten  nun  andere  tacitae  preces,  die  ebenfalls  von  der  ald6g 
in  das  Innere  zurückgedrängt  werden,  aber  minder  harmlos 
sind.  Epikur^  äußerf  einmal,  wenn  Gott  alle  Wünsche  und 
Gebete  erfüllen  wollte,  so  würden  die  Menschen  bald  vom  Erd- 
bodenverschwunden sein:  so  viel  Schlimmes  und  Böses  wünschen 
sie  einander  ohne  Unterlaß  an.  Solche  blasphemischen  und 
gottlosen  Gebete  muten  uns  besonders  seltsam  an.  Es  wäre 
vielleicht  Überhebung,  wenn  wir  uns  vorspiegeln  wollten,  die 
moderne  Menschheit  stünde  in  moralischer  Beziehung  auf  einer 
höheren  Stufe  als  der  Durchschnitt  der  Menschen  im  Altertum. 
Aber  daran  kann  man  gar  nicht  zweifeln,  daß  das  Gebet  durch 
Läuterung  und  Vertiefung  der  Gottesidee  reiner  geworden 
i«t.     Manch   antikes    Gebet  würde   dem   modernen  Empfinden 


'  Vgl.  IV  5  20. 

^  Aristaen.  16  tcXtiv  ov  TE9'dQQTf]y,a  xov  Ttod'ov  ^xqprj^'a^,  ivTog  dh 
Iti'OUg  r&v  x^lI&v  vTtoötivco-  „öv  toIvvv,  co  "EqcoS)  Svvccaav  y&Q,  ccvtriv 
TcccQuöxsvccöov  ^QoatTiv  c(Lt7]acci^'  *  Useuer  EpicK/rea  388,  S.  259. 


196  Siegfried  Sudhaus 

und  Verstehen  als  heller  Walinsinn  erscheinen.  Die  ziemlich 
einstimmigen  Äußerungen  antiker  Moralisten  und  kirchlicher 
Schriftsteller  wie  Lactantius  (Inst.  Y  19,  31)  zeigen,  wie  naiver 
Egoismus,  Gewinn-  und  Rachsucht  dazu  führten,  den  göttlichen 
Ohren  sehr  starke  Dinge  und  nach  unseren  Begriffen  unerhörte 
Bitten  vorzutragen.  Die  bleiernen  Verfluchungstafeln  bestätigen 
und  illustrieren  ihre  Angaben.  Derartige  schamlose  Anliegen 
schildern  Horaz  und  Persius,  sie  vergessen  aber  auch  nicht 
hinzuzufügen,  daß  solche  Bitten  tacitej  verstohlen  vorgetragen 
werden. 

Eine     der     bekanntesten     Stellen     ist    Horaz'    Außeru] 
epist.  I  16,  59: 

^lane  pater'  clare,  clare  cum  dixit  *  Apollo', 
labra  movet  metuens  audiri:  ^pulchra  Lavema, 
da  mihi  fallere,  da  iusto  sanetoque  videri, 
noctem  peccatis  et  fraudibus  obice  nubem.' 

Noch  stärkere  Farben  trägt  Persius  in  der  Imitation  dies( 
Stelle  zu  Anfang  der  zweiten  Satire  auf.^  Auch  Seneca  äußei 
sich  ganz  ähnlich  im  10.  Briefe.  Er  habe  bei  Athenodor 
Stelle  gelesen:  „Dann  darfst  du  überzeugt  sein,  daß  du  voj 
allen  Begierden  befreit  bist,  wenn  du  es  so  weit  gebracl 
hast,  daß  du  nichts  von  Gott  erbittest,  als  was  du  offen  v( 
jedermann  erbitten  kannst."  Aber  welche  Verblendung  beherrscl 
jetzt  die  Menschen.  Sie  flüstern  den  Göttern  die  schmählichste 
Gebete  ins  Ohr.^  Wenn  jemand  hinhört,  verstummen  sie,  unj 
was  kein  Mensch  wissen  darf,  tragen  sie  Gott  vor.  Sprich  mj 
Gott  so,  als  ob  die  Menschen  es  hörten. 

^  non  tu  prece  poscis  emaci, 

quae  nisi  seductis  nequeas  committere  divis. 
5  At  bona  pars  procerum  tacita  libabit  acerra. 
Haudcuivispromptumestmurmurque  humilesque  susurr< 
tollere  de  templis  et  aperto  vivere  voto. 
'Mens  bona,  fama,  fides'  —  haec  clare  et  ut  audiat  hospes, 
illa  sibi  introrsum   et  sub  lingua  murmurat:  'o  si 
10  ebullit  patrui  praeclarum  funus"*  etc. 
-  *  turpissima  vota  dis  insusurrant. 


Lautes  und  leises  Beten  197 

Derartige  Ausfülirungen  sind  dann  zum  fÖrmliclien  Gemein- 
platz geworden.  Man  schrieb  schon  dem  alten  Pythagoras  die 
Vorschrift  zu  [istä  (pcovrig  zu  beten  ^,  und  auch  in  der  christlichen 
Literatur  finden  wir  die  nämliche  Forderung.^ 

Nun  gibt  es  aber  ein  großes  Gebiet,  in  dem  die  Sitte, 
leise  zu  beten,  am  weitesten  verbreitet  und  geradezu  typisch 
ist,  das  ist  die  Sphäre  des  Zaubers  und  speziell  der  Magie, 
und  damit  kehren  wir  zu  unserem  Ausgangspunkte  zurück. 
Der  Magier  wird  an  dem  leisen  Beten  geradezu  erkannt.  Dafür 
ist  besonders  bezeichnend  eine  Stelle  aus  Apuleius'  Apologie  (54), 
wo  ein  vorschneller,  aber  vielsagender  Schluß  aus  einem  leise 
gesprochenen  Gebete  gezogen  wird:  tacitas  preces  in  templo  dis 
allegasti:  igitur  magus  es.  Bemerkenswert  ist  auch  Lucan  VI  429 
Assyria  scrutetur  sidera  mra  aut  si  quid  tacitum,  sed  fas  erat. 
Dabei  ist  hervorzuheben,  daß  tacitus  keineswegs  immer  als 
lautlos  aufzufassen  ist.  Lucan  selbst  redet  von  einem  tacitus 
susurrus  (V  104)  und  die  magischen  tacitae  commercia  linguae 
mit  den  Manes  bei  der  Totenbeschwörung  VI  700  sind  natürlich 
halblaut  gedacht,  nicht  lautlos.^  Am  deutlichsten  ist  vielleicht 
für  den  Gebrauch  Apuleius  Metam.  IX  25:  tacite  suasi  ac 
denique  persuasi,  secederet.  —  In  diesen  Zusammenhang  gehört 
denn  auch  die  Aufforderung  in  Dieterichs  Mithrasliturgie  (17), 
zu  beten  ätovG)  cpd'oyyo),  lvcc  ^lii  ccxovdy.^  Die  Zauberin 
Medea  beschwört  den  Drachen  bei  Valerius  Flaccus  (VII  464) 
sepieno  murmure.  Nachher  (488)  aber  heißt  es:  tacitis  nam 
cantibus  illum  flexerat^    Auch  die  'E(ps6La  yga^^ata  lassen  die 


*  Clemens  Alex.  Strom.  IV  26,  vgl.  Ausfeld  a.  a.  0.  514. 
^  Besonders  charakteristisch  Orig.  Ttsgl  svxr]g  10. 

'  Vgl.  Horaz  Sat.  1  8,  40,  der  ein  solches  commercium  sogar  als 
triste  et  acutum  bezeichnet.  —  Eine  ähnliche  Vorstellung  begegnet  schon 
'bei  Jesaias  8,  19  *  Befragt  doch  die  Totengeister  und  die  Wahrsagegeister, 
die  da  flüstern  und  murmeln*.     (Kautzsch.) 

*  Dazu  Maaß  Tagesgötter  S.  245  ff. 
^  Ähnlich  Dracont.  JRomul.  X  14. 

Archiv  f.  KeligionswisBenscliaft  IX  14 


198  Siegfried  Sudhans 

Magier    die  Besessenen    ^für   sich'    hersagen.^      In    Quintilians 
10.  Deklamation    heißt    es:    ore    squalido    harbarum    murmur 
intonat  (sc.  magus),  dem  man  etwa  die  Ausdrücke  snCxQoiov 
ti  Tcal  aöacphg  s^d'syysto  .  .  .  rrjv  e:t(pdriv  exsCvrjv  v:totovd'OQv6ag  . . 
in  Lucians  Menippos  (7)  zur  Seite  stellen  kann.^    Besonders  a^HJ 
schaulich  ist  die  Szene  hei  Achilles  Tatius  II  7,  die  ich  zum  Schlüsse  '  ■ 
noch  erwähnen  will.^     Denn  die  Häufung  der  mir  zu  Gebote 
stehenden  Beispiele  bringt  weiter  keinen  neuen  Zug  in  das  Bild. 
Werfen  wir  nun   noch  einmal   einen  Blick  auf  die  Stelle, 
von   der   wir    ausgingen,    so    zeigt    sich,    daß   der  Magier 
Propertius  gewisse  preces  commmdaticiae^  zu  besitzen  vorgil 
die  seine  Rolle  enthält.     Solche  RoUen  hatten  für  das  Publiki 
eine   große   Anziehungskraft^,   sie   erbten   wie   die   Kunst ^ 
Chaldaei  vom  Yater  auf  den  Sohn.     Je  älter  und  verbrauchter 
sie    aussahen,    um    so    ehrwürdiger    und    vertrauenerweckender 
erschienen    sie    der    Menge.'      Yon    den    wirksamen    Sprüchen, 
den  Vota  und  carniina  exordbilia  gehörten  die,  die  Geburtsnöte 
beschwichtigten,   vielleicht   mit   zu   den   begehrtesten.      Hatten 
doch  selbst   die  Hebammen   solche   iTtadaC,   die   sie   bei  ihi 


hrfll 

e.  MI 


*  ol    jxayot    rovg    danLOVi^o^iivovg   y.eXsvov6L    rä    'EtptöLcc    ygcifi^ 
ytQog  avTovg  Tiataltysiv  Kai  ovofta^str,  Plut.  conv.  quaest.  YII  5,  706  e. 

'  Vgl.  auch  Pseudom.  13  u.  Dieterich  zur  MithrasUt  S.  34. 

'  Es  handelt  sich  um  Besprechung  eines  Bienenstiches  auf  der 
Lippe  des  Liebhabers:  tj  Sh  TtQOö'qXd-t  rs  xai  aviO'ri'icBv  mg  inaeovecc  tb 
6t6^cc  Kcci  ti  iipi^d'VQV^EV  iTtiTtoXfig  ipavovöa  ftov  t&v  %iiXioiv'  v,ctyoi 
7iatEq)lXovv  6L0)7cy  'nXiTCtav  r&v  (piXrniccToav  rbv  ipocpov  7}  Sh  avoiyovea 
ycoil  kXsIovgcc  t&v  %Bi,Xitav  tr]v  ev^ißoXijv  tS)  Tfjg  incadfig  ipvd'VQLöiiati 
cpiXi^liccta  iTtOLSL  trjv  iTCaöi^v. 

*  Nach  einem  Ausdruck  des  Amobius  (VII  62)  magi  spondent 
commendaticias  habere  se  preces  etc. 

^  Augustin  Conf.  IV  3,  VII  6.  «  Diodor  II  29. 

'  Lucian  Philops.  12:  iTteLTtav  lEgcctttid  rivcc  in  ßißXov  TtccXcciag  ovöybata 
kTtrd.  Vgl.  auch  Juvenal  VI  553,  574,  Plin.  N.  H.  29,  9.  —  Schon  bei 
Isocrates  19,  5  erbt  jemand  ähnliche  Rollen  rag  ts  ßlßXovg  rag  nsgl  rf}S 
iiavTLyi'Qg  avta  KatiXins.  Das  Geschriebene  wirkte  eben  wie  bei  uns  das 
Gedruckte,  es  hatte  seine  Gewähr  in  sich,  Xaßk  to  ßißXlov  sagt  der 
Mantis  in  Aristophanes'  Vögeln  974  ff.  —  Vgl.  auch  Horaz  epod.  17,  4; 
Plato  364  E. 


Lautes  und  leises  Beten  199 

IqjccQiiccxa  hersagten,  um  die  Wehen  zu  beschleunigen  und  zu 
mildern,  Geburt  oder  Abortus  einzuleiten.  Auch  zurückhalten 
konnten  jene  die  Geburt,  wie  Nectanebo  zweimal  die  Geburt 
des  Alexander  retardiert  haben  sollte.  Daß  nun  unser  magus 
seine  vota  taciie  vorgetragen  hat,  wird  man  nach  dem  Gesagten 
nicht  anders  erwarten,  mag  man  sich  darunter  ein  lento 
murmure  susurrare^  vorstellen  oder  an  Persius'  Schilderung 
jdes  jüdischen  Gebetes  denken  (labra  moves  tacitus  5,  184)  oder 
|ein  i^tiXs'ysLv  cpcoväg  ßaQßaQixdg^,  (pd'syysöd'ai  (pcovdg  nvag 
Idörjfiovg^  annehmen.  Schwerlich  aber  waren  diese  tacitae  preces, 
[um  einen  Ausdruck  des  Martial  (XII  77)  zu  gebrauchen,  mutae 
Ipreces;  denn  das  hätte  keinen  Effekt  gemacht. 

Alles  in  allem  weicht  die  antike  Art  und  Weise  des 
iGebetsvortrages  von  der  modernen  sehr  stark  ab.  Sie  begegnen 
ifiich  in  der  niedrigsten  Sphäre,  bei  der  Besprechung  und  Be- 
ischwörung,  im  Hersagen  von  Zauberformeln,  denen  das  Murmeln, 
ein  halblauter  Vortrag  wohl  stets  angehaftet  hat.  Ein  lautes 
Anrufen  eines  Heiligen  kann  man  in  Italien  auch  heute  noch 
bei  einzelnen  Betern  hören,  die  unbekümmert  um  etwaige 
Zuhörer  ihr  persönliches  Anliegen  vortragen.  Aber  eine  stille 
Schar  Betender,  wie  sie  sich  in  Andacht  versunken  etwa  um 
den  Sarkophag  des  Santo  zu  Padua  gruppiert,  kann  man  sich 
für  das  Altertum  kaum  vorstellen.  Nur  die  äußerste  Not  oder 
zufällige  Zwangslage,  Scham  oder  schlechtes  Gewissen  und 
(Menschenfurcht  kann  den  einzelnen  Beter  zu  leisem  Beten  ver- 
anlassen. Aber  auch  da  ist  die  Sitte  und  altüberlieferte  Gewohn- 
heit so  stark,  daß  wir  überall  eher  an  ein  Sinken  der  Stimme 
ials  an  ein  vollkommenes  Verstummen  zu  denken  haben.  Das 
laperto  vivere  voto  ist  eine  Forderung  der  Moral  und  des 
Anstandes  zugleich.^    Von  einer  Neigung,  leise  zu  beten,  spricht 

^  Firm.  Mat.  De  err.  prof.  rell.  XXII  1. 

^  Xenopli.  Eph.  I  5. '  ^  Luc.  Pseudom.  13. 

1  *  Das  illustriert  eine  Stelle  des  Herondas  (YII  74),    die   sich   sehr 

Inahe  mit  den  oben  zitierten  Versen   des  Horaz  epist.  I  16,  59  berührt: 

14* 


200  Siegfried  Sndhaus    Lautes  und  leises  Beten 

meines  Wissens  zuerst  Seneca  (De  benef.  II  1,  4)  in  folgendem 
Zusammenhange.  Den  Menschen  falle  es  im  allgemeinen  schwer, 
'bitte'  zu  sagen,  und  die  Wohltat,  die  um  diesen  Preis  ge- 
wonnen wird,  verliere  in  ihren  Augen  an  Wert  .  .  .  nulla 
res  carius  constat  quam  quae  precihus  empta  est.  Vota  homines 
parcius  facerent,  si  palam  facienda  essent:  adeo  etiam  deos, 
quibus  honestissime  supplicamus,  tacite  malumus  et  intra  nosmä 
ipsos  precari.  Die  Stelle  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  hier 
ganz  unverkennbar  eine  allgemeine  Neigung,  still  für  sich  zu 
bitten,  anerkannt  wird.  Wenn  es  angängig  ist,  wird  man  die 
Vota  nicht  vor  Zeugen  ablegen,  selbst  wenn  sie  ganz  unver- 
fänglich sind.  Der  Grund  ist  nach  Seneca  das  Zartgefühl  des 
Menschen,  der  selbst  den  Göttern  gegenüber  nicht  gerne  als 
Bittsteller  auftritt.  Allein  der  Ausdruck,  den  er  wählt:  de 
tacite  malumus  et  intra  nosmet  ipsos  precari  scheint  doch  au( 
ein  anderes,  dem  modernen  ganz  verwandtes  Empfinden 
verraten,  das  sich  gegen  das  Eindringen  einer  dritten  Pers( 
in  den  persönlichen  Verkehr  mit  der  Gottheit  auflehnt.^ 

^Egfii)  TS  itegdicov  v-al  ev,  negdlri  ÜBid'ot, 

ms  ijv  XI  117]  vvv  riiiiv  ig  ßöXov  7ivq6t[j, 

ovy,  ol3'  oxojg  &iislvov  7}  xvd'gr}  tcq-^^sl.  — 

Tl  tov&OQv^Big  v.O'h'K  iXEvd'igifj  yXdöGjj 

xov  rt^LOV  Sang  iöxlv  i^sdlcpriöag; 
Die  £i)xri  ^Eg^f}  xs  nsgdioav  xxX.  erinnert  an  das  kurze  von  Robert  (Bi 
und  Lied  S.  81  ff.)  behandelte  Stoßgebet,  das  so  recht  aus   dem  Leben 
gegriffen  ist  (Isocrat.  II  47):  m  Zev  TCccTsg^  al'd'e  nXovCLog  yivoi{^av). 

^  In  derselben  Zeit  fordert  ApoUonius  von  Tyana  ein  lautloses 
Beten.  Vgl.  Euseb.  praep.  ev.  IV  13,  eine  Stelle,  auf  die  mich  H.  Schmidt 
in  Kiel  aufmerksam  macht:  ^lövco  dk  xgarto  ngog  avxov  (sc.  Q'bÖv)  ccbI  tSj 
-Kghlxxovi  Xoym,  Xsyco  3h  xa>  ^i]  diä  Gxoiiaxog  iovxi,  Ttagä  dk  xov  -aaXXlcxov 
x&v  ovxav  diä  xov  KaXXißxov  x&v  iv  Tjiitv  aixoiri  xccyccd'd'  vovg  Si  iativ 
ovxog  ogydvov  ftrj  dsofisvog.  Der  Gedanke  findet  dann  in  der  neu- 
pythagoreischen und  neuplatonischen  Literatur  weitere  Verbreitung,  wie 
das  Dieterich  in  seiner  Mithrasliturgie  S.  42  f.  ausgeführt  hat. 


Feralis  exercitus 

Von  Ludwig  Weniger  in  Weimar 

A.   Das  schwarze  Heer  der  Harier 
I 

Tacitus  behandelt  im  zweiten  Teile  der  Germania  die 
deutschen  Völker  und  ihre  Sitten.  Sämtliche  Germanen  teilt 
er  in  Sueben  und  Nichtsueben  und  beginnt  die  Darstellung 
jmit  den  nichtsuebischen  Völkerschaften.  Und  zwar  nimmt  er, 
da  er  vom  Rhein  ausgeht,  zunächst  die  westlichen  vor,  darauf 
die  nordwestlichen.  Eine  Betrachtung  über  die  dem  römischen 
Reiche  von  den  Deutschen  drohende  Gefahr  schließt  den 
Abschnitt.  Hierauf  geht  er  zu  den  Sueben  über,  die  den 
größten  Teil  von  Germanien  innehaben.  Er  bespricht  zuerst 
die  Suebenvölker  im  'Inneren  des  Landes  bis  hinab  zur  Eib- 
mündung und  zur  kimbrischen  Halbinsel,  dann  weiter  südlich 
auf  die  Donau  zu,  darauf  im  Osten  und  Nordosten.  In  jenen 
Gegenden  teilt  ein  zusammenhängendes  Gebirge  das  Sueben- 
gebiet in  zwei  Teile.  Jenseits  der  Berge  wohnt  die  suebische 
Völkerschaft  der  Lugier;  endlich  folgen  die  Gotonen.  Die 
Lugier  zerfallen  in  mehrere  Stämme,  als  deren  bedeutendste 
die  Harier,  Helvaeonen,  Manimer,  Elisier  und  Nahanarvaler 
angeführt  werden.  Die  Harier  sind  es,  die  uns  im  folgenden 
beschäftigen  sollen. 

„Die  Harier  übertreffen",  so  erzählt  Tacitus,  „die  eben 
aufgezählten  Völker  nicht  nur  an  Macht,  sondern  sie  steigern 
diese  noch  durch  ihre  grimme  Art.  Ihrer  natürlichen  Wild- 
heit kommen  sie  durch  künstliche  Mittel  und  die  Zeit  zu 
Hilfe:    schwarze    Schilde,    gefärbte    Leiber;    schwarze 


202  Ludwig  Weniger 

Nächte  wählen  sie  zu  den  Kämpfen,  und  eben  durch 
das  Grausige  und  Schattenhafte  flößen  sie  den  Schrecken  eines 
Gespensterheeres  ein,  wie  denn  keiner  der  Feinde  den 
unbegreiflichen  und  gleichsam  dem  Totenreich  entsteigenden 
Anblick  aushält.  Denn  zuerst  in  allen  Kämpfen  sind  es  die 
Augen,  die  unterliegen"  (G.  43).  Ceterum  Harii,  super  vires, 
quibus  enumeratos  paulo  ante  populos  antecedunt,  truceSj  insitae 
feritati  arte  ac  tempore  lenocinantur :  nigra  scuta,  tincta  corpora; 
atras  ad  proelia  noctes  legunt  ipsaque  formidine  atque  umbra 
ferdlis  exercitus  terrorem  inferunt  nullo  hostium  sustinente  novum 
et  velut  infernum  aspectum.  Nam  primi  in  omnibus  proeUis 
oculi  vincwntur} 

Tacitus  hat  die  Germania  im  Jahre  98  n.  Chr.  abgefaßt  (3tH| 
Man  wird  annehmen  dürfen,  daß  das  von  den  Hariern  Be-  '■ 
richtete  in  das  erste  nachchristliche  Jahrhundert  gehört  und 
damals  noch  geübt  wurde.  In  dem  Bergzuge,  jenseits  dessen 
das  große  Volk  der  Lugier^  wohnt,  von  dem  die  Harier  einen 
Bestandteil  bilden,  ist  der  fortlaufende  Kamm  vom  Isergebirge 
bis  zum  Gesenke  zu  erkennen.  Das  Volk  saß  also  im  heutigen 
Schlesien,  am  oberen  Laufe  der  Oder  und  weiterhin  nach 
Osten.  Der  Name  „Harier"  scheint  aus  dem  gotischen  harjis, 
ahd.  hari,  heri,  nhd.  Heer,  vornehmlich  Kriegsheer,  erklärbar; 
also  „Heermänner".  Das  entspräche  der  Sitte  germanischer 
Völker,  die  sich  gern  nach  kriegerischen  Beziehungen  nannten, 
wie  z.  B.  Cherusker  und  Sachsen  nach  dem  Schwerte,  Franken 
nach  der  Lanze.  Wenn  es  heißt,  daß  die  Harier  „die  eben 
aufgezählten"  Völker  an  Macht  übertreffen,  so  werden  darunter 
nicht  bloß  die  Marsigner,  Cotiner,  Oser  und  Burer  zu  ver- 
stehen sein,  von  denen  Tacitus  am  Anfange  des  Kapitels 
sprach,  und  von  denen  Marsigner  und  Burer  nach  Sprache  und  ; 


1  F.  Zöchbaner  Zwr  Germania  des  Tacitus,  Wien  1899,  faßt 
feralis  exercitus  als  Nominativ  nnd  Apposition  zu  dem  in  inferunt 
enthaltenen  Subjekt  Harii. 

2  jxtya  ^^vos  nennt  sie  Strabon  7,  290.   Vgl.  Ptol.  2,  11,  10. 


Feralis  exercitus  203 

Sitte  zu  den  Sueben  gehörten,  die  Cotiner  aber  Kelten  und 
die  Oser  Pannonen  waren,  sondern  man  wird  aucb  die  übrigen 
Lugier,  d.  i.  die  Helvaeonen,  Manimer,  Elisier  und  Nabanarvaler, 
dazu  rechnen  dürfen.  Unter  der  Macht  —  vires  —  ist  zunächst 
Kriegerzahl  zu  verstehen;  die  Kriegstüchtigkeit  tritt  dann  dazu, 
um  das  Ansehen  der  Harier  weithin  bei  den  Grenznachbarn 
zu  heben. 

Der  grimmen  Art,    die  ihnen    eigen   ist,   kamen    sie   nun 
noch   durch   künstliche  Mittel   und   absichtsvoll   gewählte  Zeit 
zu  Hilfe.     Während  sonst  die  Germanen  ihre  Schilde  mit  den 
ausgesuchtesten   Farben  hervorstechend  machten^,  führten   die 
Harier  schwarze.     Von  der  Kleidung  ist  nichts  gesagt,   da  sie 
j  kaum  von  Bedeutung  war.     Die  Tracht  der  Germanen  bestand 
I  damals    bei    allen    in    einem    einfachen  Mantel,   saguniy   einem 
I  viereckigen    Stücke    groben    Tuches,    das    ihnen,    gleich    der 
hellenischen  Chlamys,  über  die  Schulter  hing.     Manche  trugen 
auch    Pelzwerk,    die    Reicheren    anliegendes    Gewand.^      Doch 
gingen  die  meisten  nackt  oder  halbnackt  in  den  Kämpft,   und 
bei    einer    solchen   Gelegenheit,    wie    der   hier    erwähnten,    wo 
das  Dunkel  der  Scham  zu  Hilfe  kam  und  alles,  was  ihre  Be- 
weglichkeit hemmte,  beseitigt  werden  mußte,  werden  sie  wohl 
unbekleidet   gewesen    sein,    wie    die    Vorkämpfer    der   Kelten. 
Dadurch  gewinnt  das  Färben  der  Leiber  an  Bedeutung.     Schwarz 
war  sicherlich    auch   die  Farbe,    der  sie    sich    dazu   bedienten. 
Das  besagt  tincta  corpora  an  sich  ja  nicht.     Man  könnte  sich 
I  irgendwelche    andere,    wenn    auch    dunkle,    Farbe    vorstellen, 
aber   es    ergibt    sich    aus  dem  Beispiele    der  Schilde   und    aus 


^  G.  6  scuta  tantum  lectissimis  coloribus  distingunt  Vgl.  Plut. 
3Iar.  25  die  weißen  Schilde  der  Kimbern,  nnten  S.  205,  Anm.  1. 

2  über  die  Tracht  G.  17.  Pomp.  Mela  3,  3.  Auf  der  Marcussäule 
tragen  die  Germanen  Hosen;  daraus  ist  aber  nicht  auf  allgemeine  Sitte 
zu  schließen. 

^  Tac.  Hist.  2,  22:  cohortes  Germanorum  cantu  truci  et  more  patrio 
nudis  corporibus  super  umeros  scuta  quatientium.  G  6:  nudi  aut  sagulo 
leves.    Vgl.  Caes.  B.  G.  4,  1,  10.  6,  21,  5. 


204  Ludwig  Weniger 

dem  Zwecke,  den  sie  erreichen  wollten.  Der  Ruß  des  Herdes 
ist  schnell  zur  Hand  und  zu  solchen  Zwecken  volkstümlich, 
auch  rasch  wieder  abzuwaschen.  Mit  ihm  beschmiert  sich  noch 
heute  der  bayrische  Dorfbursch,  wenn  er  zum  Haberfeld  treiben 
eilt.  Das  gleiche  tun  Schmuggler,  die  ebenfalls  ihr  dunkles 
Handwerk  zur  Nachtzeit  treiben,  nämlich  Waren  einschwärzen, 
und  andere  ihresgleichen.  Auch  von  anderen  Völkern  der 
damaligen  Zeit  wird  berichtet,  daß  sie  ihre  Leiber  färbten. 
Von  den  Briten  erzählt  Caesar,  daß  sie  sich  alle  mit  Waid  e: 
rieben  und  dadurch  eine  dunkelblaue  Farbe  erzielten,  d 
die  sie  im  Kampf  einen  schrecklicheren  Anblick  gewährte: 
Nach  Caesars  Darstellung  deutet  das  auf  eine  stehende  Si 
man  muß  annehmen,  daß  die  Briten  immer  so  gingen,  auch 
wenn  Friede  war,  und  daß  der  Anblick  schreckenerregend  mehr 
auf  Fremde,  wie  z.  B.  die  Römer,  wirkte,  als  auf  die  Volks- 
genossen, die  daran  gewöhnt  waren.  Daß  auch  die  Harier 
immer  schwarz  gingen,  läßt  sich  aus  dem  Wortlaute 
Tacitus  nicht  entnehmen.  Da  vorausgeht,  daß  sie  der 
geborenen  Wildheit  durch  Kunst  und  Zeit  zu  Hilfe  kam 
und  da  sie  die  schwarze  Nacht  als  Kampfeszeit  wählten,  also 
besondere  Fälle  im  Auge  haben,  so  muß  man  vielmehr  voraus- 
setzen, daß  sie  sich  nur  zu  diesen  bestimmten,  aber  nach  den 
Verhältnissen  in  ähnlicher  Form  immer  einmal  wiederkehrenden 
Gelegenheiten  schwärzten,  um  dadurch  mit  dem  Grausen  der 
Nacht  zusammenzuwirken.  Wie  sie  dies  taten,  ob  sie  sich 
mit  Ruß  einrieben  oder  mit  einem  Farbstoffe  bemalten,  ist 
gleichgültig.     Nur  darauf  kommt  es  an,  daß  nicht  ausgedrückt 

^  Caes.  B.  G.  5,  14:  omnes  vero  se  Britanni  vitro  inficiunt,  quod 
caeruleum  efficit  eolorem,  atque  hoc  horridiores  sunt  m  pugna  aspectu. 
Pomp.  Mela  3,  6:  (Britanni)  incertum  ob  decorem^  an  quid  aliud,  vitro 
Corpora  infecti.  Plin.  N.  H.  22,  2:  Similis  plantagini  glastum  in  Gallia 
vocatur.  Britannorum  coniuges  nurusque  toto  corpore  ohlitae  quibusdam 
in  sacris  nudae  incedunt  Äethiopum  eolorem  imitantes.  Von  den  Pikten 
ist  bei  Isidorus  Hisp.  orig.  19,  23,  27  Tätowierung  bezeugt.  Vgl.  Schrader, 
Beallexikon  d.  Indogerm.  Altertumskunde  unter  „Tätowierung''. 


rier    , 

1 


Feralis  exercitns  205 

ist,  sie  seien  für  gewöhnlich,  auch  bei  Tag  und  im  Frieden, 
wie  die  Briten,  so  entstellt  einhergegangen. . —  Arte  ac  tempore 
gehören  zusammen:  es  war  eine  Yermummung  zu  bewußtem 
Zwecke,  und  zwar  nicht  so  sehr,  um  unerkannt  zu  bleiben, 
wie  es  Diebe  machen,  oder  wie  es  der  verwundete  Arminius 
tat,  der  nach  der  Schlacht  von  Idistaviso  sein  Gesicht  mit  dem 
eigenen  Blute  bestrich,  um  so  zu  entkommen  (Ä.  2,  17),  sondern 
sie  taten  es,  um  die  Feinde  in  Angst  zu  jagen  und  danach 
leichter  zu  besiegen. 

Von  jeher  haben  es  deutsche  Krieger  geliebt,  sich  durch 
Aufputz  und  Vermummung  ein  besonderes  Ansehen  zu  geben, 
um  das  Gemüt  der  Feinde  zu  schrecken.  Von  den  Sueben 
überhaupt,  denen  ja  die  Harier  angehören,  berichtet  Tacitus 
(G.  38)  als  Volkssitte,  daß  sie  ihr  Haar  gegen  den  Strich 
kämmten  und  in  einen  Knoten  banden.  „So  unterschieden 
sich  die  Sueben  von  den  anderen  Germanen,  so  die  freien 
Sueben  von  den  Knechten.  Bei  anderen  Völkerschaften  kam 
es,  sei  es  durch  Verwandtschaft  mit  den  Sueben  oder,  wie  so 
oft,  aus  Nachahmungssucht,  in  seltenen  Fällen  vor  und  blieb 
auf  junge  Leute  beschränkt.  Bei  den  Sueben  aber  kämmte 
man  das  struppige  Haar  bis  ins  graue  Alter  nach  hinten  und 
band  es  oft  gerade  über  dem  Scheitel  zusammen.  Die  Vor- 
nehmen trugen  es  auch  schöner  hergerichtet.  Darein  setzten 
sie  ihre  Eitelkeit,  eine  recht  unschuldige.  Denn  nicht  um 
Liebschaften  anzuregen  oder  zu  finden,  sondern  zur  Erhöhung 
der  Gestalt  und  zum  Schrecken  trugen  sie,  für  die  Augen  der 
Feinde  geputzt  solchen  Schmuck."  So  der  Römer.  Die  Reiter 
der  Kimbern  hatten  Kopfbedeckungen  in  Gestalt  des  Rachens 
wilder  Tiere  und  phantastischer  Tiergesichter,  dazu  Feder- 
büsche,   und   erhöhten    so    ihre    Gestalt.^      Auch   bei   anderen 


^  Plut.  Mar.  25 :  ol  dh  iTtTests  .  .  .  i^'^Xccaav  layLTtgol,  xgccvr]  iihv  sl-naöiiiva 
i  d^Qioav  (foßsQ&v  xäcybccGi  xccl  Tcgotoiiccts  läLOiiogcpoig  %ovr8S,  ag  tJtaiQo^Evot 
XotpoLs  TCtsQcaroTg  stg  v'xpog  'i:(pcclvovto  nsi^ovg,  d'mQcc^v  Sh  xsxoöiisvoL  6iSriQotg^ 
;  9'VQSoTg  dh  Xsvnolg  ötiXßovtsg. 


206  Ludwig  Weniger 


m 

iclie^H 


Germanenstämmen  dienten  Eberbilder  und  Eberköpfe,  Draclie] 
bäupter,   Adlerflügel   und   anderes   dergleicben   dem  nämlicben 
Zwecke,   die    Menscbengestalt   ungebeuerlicb    zu    macben    und 
den    Gegnern    Angst    einzujagen.^      Die    Leute    des    Ariovist 
kämpften    barbäuptig.       So    siebt    man    Germanen    aucb    a 
römiscben  Denkmälern;   Helme  begegnen  zu  Tacitus'  Zeit  ni 
vereinzelt.^     Dagegen  wurden  die  Bilder  wilder  Tiere  als  Fei 
zeicben  aus  den  beiligen  Hainen  bervorgebolt,  ebenso  die  Ai 
zeicben  der  Götter  (G.  7.  K  4,  22).  Von  Tieren  war  der  Widdi 
dem    Tiu,   Scblange   und  Wolf   dem   Wodan,    der   Eber   d 
Freyr,   Bär   und  Bock    dem  Tbunar    gebeiligt;  unter    den  A 
zeicben  der  Götter   aber  wird   man  solcbe,  wie  den  Speer  d 
Wodan,   das  Scbwert   des   Tiu,    den  Hammer   des  Tbunar, 
versteben    baben.      Aucb    der    Barditus,    Scblacbtgesang 
ScblacbtgebrüU,  das  in  dem  Augenblick  erboben  wurde,  we 
die  Heere  bandgemein  wurden,  gebort  bierber,  als  Mittel, 
eigene  Zuversiebt   zu   erböben  und   durcb   den  sinnlicben  E: 
druck  auf  die  Seele    der  Feinde  zu  wirken.     Die  Hunnen, 
manches    mit    den    Germanen    gemein  batten,    bedienten    si 
äbnlicber   Künste.      Als    sie    unter   König  Sigebert   in    Gallie' 
einfielen,   erfocbten  sie  den  Sieg  dadurcb,  daß  sie,  in  Zauber- 
dingen wobl  erfabren,  allerlei  Spukgestalten  erscbeinen  ließen.^ 
Vieles  derart  läßt  sieb  aucb  von  anderen  Völkern  aller  Zeiten 
anfübren;   die  Sitte,    sieb   scbreckbaft  berzustellen,  ist  überall, 
wo  kriegeriscbe  Männer    gebaust  baben,    üblicb   gewesen   und 
ist  es  nocb  beute.     Bei  den  Germanen  war  sie  von  Anfang  an 
beliebt   und   wurde   vielseitig   ausgebildet.      Ibr   entsprach   das 
Tun  der  Harier. 


^  Lindenschmit  Handb.  d.  deutsch.  Altertumskunde  S.  256.  259. 

^  Cassius  Dio  38,  50.  Barhäuptig  sind  Germanen  auch  auf  der 
Marcussäule.     Tacitus  G.  6. 

^  Gregor.  Tur.:  Hist.  Franc.  4,  29  Cumque  confligere  deherent,  isti 
magicis  artibus  instructi,  diversas  eis  fantasias  ostendunt  et  eos  valde 
superant. 


Fei-alis  exercitus  207 

Wen  die  Harier,  als  sie  die  seltsame  Vermummung  er- 
sannen, unter  den  Feinden  sich  vorstellen  mochten,  ergibt 
sich  aus  der  Darstellung.  Es  sind  zunächst  die  umwohnenden 
Völker  nichtsuebischen  Stammes  —  obgleich  es  auch  an 
Streit  mit  den  Stammesgenossen  nicht  gefehlt  hat^  — ,  also 
Quaden,  Markomannen,  Cotiner,  Oser,  gelegentlich  auch  wohl 
die  Römer  und  deren  germanische  Hilfstruppen.  Daß  die 
Harier  von  vornherein  bestimmte  Feinde  im  Auge  hatten,  ist 
nicht  anzunehmen.  Man  dachte  an  Fremde;  je  weniger  die 
Gregner  der  Harier  eigentümliche  Sitte  kannten,  desto  größere 
Wirkung  war  zu  erhoffen. 

Die  Wahl  der  Nachtzeit  weicht  besonders  vom  Herkommen 
ab.  Es  handelt  sich,  das  geht  aus  der  Darstellung  hervor, 
um  Überfälle,  bei  denen  es  auf  Überraschung  abgesehen  war.^ 
Denn  Zeit  und  Gelegenheit  zum  Kampfe  zu  wählen,  liegt  sonst 
selten  in  der  Hand  der  Kriegführenden.  Insbesondere  für 
Raubzüge  eignete  sich  Vermummung  und-  nachtschlafende  Zeit. 
Bedeutet  der  Name  der  Kimbern  soviel  als  „Räuber"^,  so  ist 
auch  sonst  bekannt  {G.  14),  daß  von  den  Häuptlingen  die 
Mittel,  um  Milde  zu  üben,  durch  Kriege  und  räuberische 
Überfälle  beschafft  wurden.  Das  war  damals  allgemeiner 
Brauch,  wie  bei  den  Hellenen  der  Urzeit;  kein  Germane  fand 


^  Lugier  im  Kampfe  mit  Sueben:  Dio  Cassius  67,  5,  2.  Die  Lugier 
gehören  zum  Reiche  Marbods,  Strabon  7,  290. 

^  Vgl.  die  anschanhche  Schilderung  Tac.  Hist.  5,  22;  da  waren  es 
Tenkterer  oder  Brukterer,  die  den  Überfall  machten,  im  übiergebiet 
zwischen  Novaesium  und  Yetera:  Insidias  composuere  —  electa  nox  atra 
nuhibus  et  prono  amne  rapti  nullo  prohibente  Valium  ineunt.  prima  caedes 
astu  adiuta:  incisis  tdbernaculorum  funibus  suismet  tentoriis  coopertos 
trucidabant.  aliud  agmen  turbare  classem,  inicere  vincla,  traJiere  puppis, 
utque  ad  fallendum  silentio,  ita  eoepta  caede,  quo  plus  terrcyris  adderent^ 
cuncta  clamoribus  miscebant.  Momani  volneribus  exciti  quaerunt  arma, 
ruunt  per  vias,  pauci  ornatu  militari,  plerique  circum  brachia  torta  veste 
et  strictis  mucronibus.  dux  semisomnus  ac  prope  intectus  errwe  hostium 
servatur. 

»  Strab.  7,  293.     Diod.  5,  32.     Plut.  Mar.  11.     Festus  p.  43  M. 


208  Ludwig  Weniger 

etwas  Unanständiges  darin  — ;  wenn  die  edlen  Chaukc 
sicli  dessen  enthielten,  so  wird  es  von  Tacitus^  als  etwas  B( 
sonderes  hervorgehoben.  Die  Lugier,  denen  unsere  Hari( 
angehören,  fanden  sich  im  Jahre  50  n.  Chr.  im  Gebiete  d( 
Suebenkönigs  Yannius  ein,  weil  sie  durch  das  Gerücht  vo^ 
der  reichen  Herrschaft,  die  Vannius  während  eines  Menschei 
alters  durch  Beutezüge  und  auferlegte  Tribute  begründet  hati 
angelockt  wurden.  Sie  kamen,  um  den  Raub  teilen  zu  helfe^ 
(Ä.  12,  29).     Solche  Tatsachen  dienen  zur  Erläuterung. 

Die  schwarzen  Nächte,  welche  die  Harier  wählen,  sii 
solche  bei  bedecktem  Himmel,  in  finsterer  Jahreszeit  und  wei 
der  Mond  nicht  scheint.  Denn  vielleicht  wirkte  ein  Abei 
glaube  mit:  die  Neumondzeit  galt  für  heilig  und  segenbringei 
(G.  11).  Non  esse  fas  Germanos  superare,  si  ante  novm 
lunam  contenderenty  sagen  die  weisen  Frauen  dem  Ariovij 
bei  Caesar  {BG  1,  50).  Der  Einwand,  daß  bei  stockfinstere 
Nacht  keine  Schatten  zu  sehen  wären,  kann  nicht  in  Betracl 
kommen.  Im  Freien  ist  die  Nacht  nie  völlig  schwarz; 
erkennt  Gestalten,  die  schattenhaft  in  unbestimmten  Umrisse 
einherhuschen  und  desto  fürchterlicher  wirken.  Die  Nacht  n 
keines  Menschen  Freund;  in  ihr  treiben  Bösewichte  und 
heimliche  Mächte  ihr  Wesen.  Vom  Schlaf  aufgestört,  sind  d^ 
Menschen  ohne  Fassung,  und  auch  wer  wach  bleibt, 
schreckhaft.  Der  Sinn  des  Gesichts  versagt  seinen  Dienst; 
seiner  Stelle  erwacht  die  Phantasie  und  schafft  haltlose,  meis 
grausige  Bilder.  Der  Aberglaube  kommt  hinzu  und  steigert 
den  Wahn. 

Diese  Tatsache  ist  es,  die  der  trutzige  Germanenstamm 
sich  zunutze  macht  und  dadurch  die  Feinde  schon  besiegt, 
ehe  es  zum  Einhauen  kommt.  „Denn  keiner  hielt  den  Anblick 
aus",  sagt  Tacitus,  „war  es  doch,  als  sei  ein  Totenheer  im 
Anzüge."     Das    bedeutet   feralis   exercitus^    eine    Geisterschar, 

*  6r.  35;  anders  indes  A.  11,  18.  Zur  Sache  Pomp.  Mela  3.  Caes. 
B.  G.  6,  23;  danach  Mela  3,  3. 


Feralis  exercitus  209 

gespenstiscli,  unheimlicli,  wie  aus  dem  Totenreiclie,  ex  inferis, 
der  Grabestiefe,  entstiegen.^  Eben  darauf  weist  auch  der 
Ausdruck  novum  et  velut  infernum  aspectum.  Ein  „höllischer^' 
Anblick,  wie  manche  übersetzen,  bezeichnet  nach  heutigem 
Sprachgebrauch  etwas  anderes;  man  denkt  dabei  an  Teufel  und 
feurigen  Pfuhl  der  Kirche  des  Mittelalters,  nicht  an  Grabes- 
tiefe und  Unterwelt,  wie  hier  es  gemeint  ist.  Wie  Geister 
Verstorbener,  die  aus  ihren  Grüften  emporgestiegen  sind  und 
nachts  umgehen,  so  wollten  die  Harier  erscheinen  und  er- 
reichten oiBfenbar  ihre  Absicht. 

In  der  Darstellung  des  Geschichtschreibers  ist  weder 
gesagt,  noch  angedeutet,  ob  die  Angriffe  der  Harier  zu  Roß 
oder  zu  Fuß  oder  untermischt,  wie  es  auch  üblich  war  (6) 
erfolgten.  Reiten  steigert  das  Furchtbare  und  Überraschende. 
Einer  Windsbraut  gleich,  wie  Sturm  und  Wetter,  so  stürzt  die 
reisige  Schar  auf  den  Feind.  Benutzung  der  Pferde  braucht 
nach  dem  Wortlaute  nicht  ausgeschlossen  zu  sein.  Immerhin 
ist  sie  zunächst  nicht  vorauszusetzen;  auch  zogen  die  Germanen 
bei  Unternehmungen  von  zweifelhaftem  Erfolg  oder  wichtiger 
Entscheidung  den  Kampf  zu  Fuße  vor.  Sind  es  Kämpfer  zu 
Fuße,  so  wirkt  der  Eindruck  aus  Gräbern  entstiegener  Toter 
unmittelbarer  und  eindringlicher. 

Hält  man  fest,  daß  es  sich  nicht  um  einen  einzelnen 
Fall,  nicht  um  eine  Kriegslist,  die  irgend  einmal  angewandt 
worden  ist  und  sich  so  bald  nicht  wiederholt  hat,  handelt, 
sondern  um  einen  kriegerischen  Brauch  dieses  Germanen- 
stammes zu  Beginn  unserer  Zeitrechnung,  so  liegt  ein  folgen- 
reicher Schluß  nahe.  Ein  solcher  Brauch  setzt  eine,  sei  es 
freiwillig  oder  auf  Befehl  eines  Oberen,  getroffene  Verein- 
barung voraus,  die  irgend  einmal  für  kommende  Fälle  fest- 
gemacht sein  muß.  Es  pflegt  aber  dergleichen,  wenn  es  in  so 
wundersamer  Form  auftritt,  einen,  näher  oder  femer  liegenden, 

^  feralis  bei  Tacitus  Ä.  1,  62.  2,  31.  75.  3,  1.  4,  64.  H.  1,  37.  6,  25; 
überall  in  ähnlicliem  Sinne. 


210  Ludwig  Weniger 

religiösen  Hintergrund  zu  haben.  Die  Vermummung  hätte  balc 
ihre  Wirkung  eingebüßt,  wenn  ihr  nicht  bei  den  Feinde 
Aberglaube  und  göttliche  Scheu  zu  Hilfe  kam.  Dem  muß  b( 
den  Unternehmern  selbst  eine  gewisse  Überzeugung  entspreche! 
haben,  das  zu  sein,  was  sie  vorstellen  wollten.  Also  ei 
Art  Verpflichtung,  ein  Verlöbnis,  untereinander  sowohl,  wi 
gegenüber  den  Mächten  der  Geisterwelt,  deren  Rolle 
spielten,  und  die  sich  schwerlich  von  andern,  als  ihren  eigene! 
Leuten,  ungestraft  hätten  nachahmen  lassen.  Gelegenheitei 
einen  solchen  Bund  zu  schließen  oder  sich  in  ihn  aufnehme 
zu  lassen,  gab  es  genug.  Man  denke  an  die  Belehnung  de 
jungen  Kriegers  mit  Schild  und  Lanze  in  der  Versammlui 
der  Mannen  durch  Anführer,  Vater  oder  Verwandte  (13),  oder 
die  Begründung  der  Genossenschaft  eines  Häuptlings  (13.  14] 
Auch  stünde  ein  derartiges  Verlöbnis  nicht  vereinzelt  da.  Vo^ 
den  Chatten  erzählt  Tacitus,  daß  sie  sich  verpflichteten,  Ha£ 
und  Bart  wachsen  zu  lassen  und  einen  eisernen  Ring  um  d< 
Arm  zu  tragen,  bis  sie  den  ersten  Feind  erlegt  hätten  (31] 
Die  Genossenschaft  der  also  gebundenen  struppigen  Geselle 
von  wildem  Aussehen  kämpfte  für  sich,  stand  im  Vordei 
treffen  und  machte  den  Anfang  der  Schlacht.  Daheim  lebte^j 
sie  sorglos  ohne  Haus  und  Hof,  Verlobte  des  Kriegsgotte 
Solchen  etwa  ließe  sich  das  schwarze  Heer  der  Hari( 
vergleichen. 

n 

Aus  dem  ersten  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung,  in  de 
die  Harier  ihre  Rolle  spielen,  ist  etwas  Ähnliches  nicht  be 
richtet.  Um  weiter  in  den  Sinn  des  Überlieferten  einzudringen, 
ist  daher  die  Forschung  auf  Rückschlüsse  aus  späteren  Er- 
scheinungen angewiesen.  Glaube  und  Sitte  der  heidnischen 
Germanen  sind  anders  gestaltet  zur  Zeit  des  Caesar  und  Tacitus, 
anders  um  die  Zeit  der  Ausbreitung  des  Christentums.  Dazu 
kommt,  daß  deutsche  Stämme  schon  damals  und  mehr  noch 
in  der  eigentlichen  Wanderzeit  des  fünften  Jahrhunderts  weil 


Feralis  exercitus  211 

umhergetrieben  wurden.  Anders  auch  erscheinen  Glaube  und 
Sitte  bei  den  Germanen  des  Nordens,  wie  im  eigentlichen 
Deutschland.  Dennoch  wird  man  Überlieferungen  der  späteren 
Jahrhunderte,  selbst  solche,  welche  der  christlichen  Zeit  an- 
gehören, und  solche  sogar,  die  noch  heute  nicht  erstorben 
sind,  nicht  von  der  Hand  weisen,  wenn  sie  als  gemeingermanisch 
oder  auch  indogermanisch  zu  erweisen  sind.  Finden  sich 
gleiche  Anschauungen  durch  eine  Reihe  von  nahezu  tausend 
Jahren  bis  in  die  neuere  Zeit  hineinreichend  vor,  so  ist  der 
Schluß  berechtigt,  daß  ihre  Wurzeln  sich  auch  weiter  zurück 
bis  in  die  Anfänge  deutschen  Volkstums  hinauf  verzweigen,  es 
sei  denn,  daß  besondere  Umstände  eine  spätere  Entstehung 
begründet  hätten.  Auch  liegt  es  im  Wesen  der  Religionen, 
daß  ihre  Gebilde  sich  erstaunlich  lange  lebendig  erhalten. 
Selbst  durch  Lücken  im  Zusammenhange  darf  man  sich  nicht 
ohne  weiteres  beirren  lassen.  Es  ist  Tatsache,  daß  religiöse 
Vorstellungen  zeitweise  schlummern,  dann  aber,  durch  irgend- 
welche Umstände  veranlaßt,  wieder  aufwachen  und  Einöuß  ge- 
winnen.^ Und  ist  es  ein  und  dasselbe  Volk,  von  dem  berichtet 
wird,  so  bekundet  dies  Volk  auch  auf  dem  Gebiete  des 
Glaubens  seine  Zusammengehörigkeit  ebenso,  wie  auf  dem  der 
Sprache,  der  Einrichtungen  und  der  Sitten.  Dazu  kommt  das 
gemeinsame  Heimatland  und  die  gemeinsamen  Erlebnisse,  die 
das  bilden,  was  wir  seine  Geschichte  nennen. 

In  uralte  Zeiten,  noch  über  Tacitus  und  die  Kimbernkriege 
zurück,  reichen  bei  den  Germanen  die  Anfänge  des  Seelen- 
glaubens, erwachsen  aus  dem  Bedürfnisse  des  Menschengeistes, 
das  Rätsel  des  Todes  zu  lösen.  Leib  und  Seele  sind  im  Wesen 
verschieden,  aber  aneinander  gebunden.     Der  Leib  ist  die  Be- 


^  Vgl.  E.  Rohdes   Nachweis   vom  Schlummern  des  Seelenknltes  im 
i  Zeitalter  Homers,  Psyche  S.  277.     So  ist  neuerdings  in  der  christlichen 
i  Negerbevölkerung  auf  Haiti  der   aus  Afrika  mitgebrachte  Fetischdienst 
!  des  Wo  du  nach  langem  Schlummer  wiedererwacht  und  bedeutend  ge- 
worden. 


212  Ludwig  Weniger 

hausung,  in  der  die  Seele  wohnt,  solange  er  lebt.  Das  ist 
alte  Vorstellung.  Die  bekannte  Sage,  welche  Paulus  Diakonus 
(Ende  des  achten  Jahrhunderts)  von  König  Guntram  erzählt, 
ist  hierfür  bezeichnend.  Von  der  Jagd  ermüdet,  hatte  sich  der 
König  im  Freien  schlafen  gelegt.  Da  sah  sein  Diener,  daß 
dem  Munde  des  Schlummernden  ein  kleines  Tier  entschlüpfte 
und  über  ein  vorbeifließendes  Wässerlein  zu  kommen  bemüht 
war.  Der  Diener  legte  sein  Schwert  über  das  Wasser;  darauf 
lief  das  Tier  hinüber  und  verschwand  in  einem  Loche  des  nahen 
Berges.  Nach  einer  Weile  kam  es  zurück  und  fuhr  wieder 
in  den  Mund  des  Königs.  Guntram  erwacht  und  erzählt,  ihm 
habe  geträumt,  er  sei  auf  einer  eisernen  Brücke  über  einen 
Fluß  gegangen  und  in  die  Höhle  eines  Berges  gekommen,  wo 
große  Massen  Goldes  aufgehäuft  lagen.  Da  sagte  der  Gefährte, 
was  er  beobachtet  hatte ;  man  grub  nach  und  fand  einen  Schal 
Nicht  immer  freilich  ist  die  Seele  in  Gestalt  eines  Tieres,  s^ 
es  einer  Maus  oder  einer  Schlange,  eines  Vogels,  einer  Kröi 
eines  Wiesels  oder  anderswie  sinnlich  wahrnehmbar.  Imm( 
aber  galt  sie  als  vorhanden.  Stirbt  der  Mensch,  so  entfliel 
sie  aus  seinem  Leibe,  unsichtbar  und  doch  wirklich,  einem  Haue! 
vergleichbar.  Als  solcher  fährt  sie  in  die  Luft  und  lebt  ali 
Gespenst  weiter  oder  wohnt  bei  dem  Leichnam  in  der  Tiefe 
des  Grabes.  Die  Anschauung,  daß  die  Toten  in  unterirdischer 
Wohnung  ein  Scheinleben  weiterführten,  wird  auch  bei  den 
Germanen,  welche,  wie  die  Hellenen,  von  der  uralten  Sitte  des 
Begrabens  erst  allmählich  zum  Leichenbrand  übergegangen 
waren,  durch  die  Form  der  Bestattung  des  Toten  oder  seiner 
Asche  bezeugt.  Wenn  Waffen  und  Roß  dem  gestorbenen  Ej-ieger, 
Frauen  und  Knechte,  Speise  und  Trank,  Handwerkszeug,  Schmuck- 
sachen, Würfel,  Trinkhömer,  Spielzeug,  den  Toten  überhaupt,  je 
nachdem  auch  Weibern  und  Kindern,  ins  Grab  mitgegeben  werden^, 

^  Tacitus  G.  27,  dazu  Müllenhoff  Deutsche  Altertumskunde  IT, 
1.  S.  382,  313.  Bei  den  Herulem  erdrosselte  sich  die  Witwe  auf  dem 
Grabe  des  Mannes,  Procop.  B.  Got.  2,  14  S.  200. 


Feralis  exercitus  213 

so  konnte  dabei  nur  der  Gedanke  leiten,  daß  sie  sich 
auch  weiter  ihrer  bedienen.  Ein  Fortleben  setzen  auch  die 
Totenopfer  voraus,  welche  die  Knochen-  und  Kohlenreste  an 
den  Gräbern  oder  die  Steine  mit  Vertiefungen  auf  den  Grab- 
hügeln bezeugen.  Im  Indiculus  siiperstitionum  am  Schlüsse  des 
Capitulare  Karlomanni  von  743  handelt  Stück  1  de  sacrilegio 
ad  sepulchra  mortuorum,  2  de  sacrilegio  super  defunäos  id  est 
dädsisaSj  25  de  eo  quod  ihi  sanctos  fingunt  quoslihet  mortuos} 
Bei  Burchard  von  Worms,  f  1025,  heißt  es  interrogatio  19,  5 
{p.  195  b):  comedisti  aliquid  de  idolothito,  i.  e,  de  dblationihuSy 
qiiae  in  quihusdam  locis  ad  sepulchra  mortuorum  fiunt?^  Auch 
die  Pflicht  der  Blutrache,  auf  die  Tacitus  Germania  21  deutet^, 
setzt  einen  Anspruch  voraus,  den  der  Tote  erhebt.  Und  wenn 
(las  Blut  des  Erschlagenen  zu  fließen  beginnt,  sobald  der  Mörder 
naht,  wird  ein  Fortleben  und  Anteilnehmen  des  Toten  gedacht. 
Darauf  beruht  das  Bahrrecht,  das  aus  dem  Nibelungenliede  (984  ff.) 
bekannt  ist.^ 

Die  Seele  kann  Menschengestalt  annehmen  und  als  Gespenst 
erscheinen.  Zahlreiche  Sagen  aller  deutschen  Stämme  bezeugen 
diesen  Glauben,  von  dem  das  Volk  noch  heute  nicht  frei  ist. 
Der  Tote  geht  um  und  sucht  als  Geist  die  Lebenden  heim, 
liattenhaft,  sei  es  in  weißer,  grauer  oder  schwarzer  Gestalt, 
und  meist  des  Nachts.  „Wie  den  Lebenden  der  Tag,  so  gehört 
den  Toten  die  Nacht",  belehrt  die  Äbtissin  Brigida  ihren  Neffen 

^  Abgedruckt  bei  J.  Grimm  Deutsche  Myth.  3,  403.  Vgl.  E.  H.  Meyer 
Germ.  Myth.  S.  71.  Mogk  Mythologie,  in  Pauls  Grundriß  I  S.  1001.  Däd- 
sisas  sind  carmina  didbolica  quae  supra  mortuum  noctwnis  horis  cantantur 
(Burchard  von  Worms  in  der  Sammlung  der  Dekrete  Colon,  1548);  däd 
=  d6d,  sisu  naenia,  0.  Schade  Wörterh.  s.  v. 

2  Burchard  a.  0.  bei  J.  Grimm  Deutsche  Myth.  3,  404  f.  407;  ido- 
lotUtum  ist  sidmXod'VTOv',  Ygl.  Äpostelgesch.  15,  29.  21,  25.  1  Kor.  8,  1.  4. 
10,  19.  28. 

^  suscipere  tam  inimicitias  seu  patris  seu  propinqui  quam  amicitias 
necesse  est.  nee  implacaMles  durant;  luitur  enim  etiam  homicidium  certo 
itrmentorum  ac  pecorum  numero  recipitque  satisfactionem  universa  domus. 

^  ius  feretrii;  s.  J.  Grimm  Deutsche  JRechtsdltertümer  II,  930. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  15 


214  Ludwig  Weniger 


I 


Thietmar  von  Merseburg  (f  1018),  dem  sie  von  der  Erscheinung 
Toter  bei  nächtlicliem  Gottesdienst  erzählt.^  Große  Ver- 
scbuldung,  scbwere  Heimsuchung,  hinterlassenes  Geld,  Liebe 
und  Haß,  alles,  was  den  Lebenden  in  starke  Erregung  versetzen 
mußte,  treibt  den  Toten  aus  der  Grabesruhe  hervor,  um  als 
Gespenst  die  Menschen  zu  beunruhigen.  Einer  solchen  Er- 
scheinung gegenüber  wird  der  Stärkste  von  Furcht  übermannt 
und  wehrlos.  Der  erscheinende  Geist  ist  unverletzbar  und  ver- 
fügt über  zauberische  Mittel.  Darum  tut  man  gut,  den  Toten 
ihren  Willen  zu  lassen,  besser  noch,  ihr  Erscheinen  zu  hindern. 
Manche  Gebräuche  dienen  dem  Zwecke,  der  Wiederkehr  der 
Verstorbenen  zu  begegnen. 

Aus  der  Erwägung,  daß  so  viele  Tote  unter  der  Erde 
hausen,  ist  die  Vorstellung  eines  Totenreiches  in  der  Tiefe 
entstanden.  Dem  hellenischen  adrjg  entspricht  die  germanische 
Helle  (halja),  schon  bei  Ulfilas.  Die  Helle  ist  der  Aufenthalt 
der  abgeschiedenen  Seelen,  das  Reich  der  Schatten,  unterschied- 
los, gefallener  Helden  oder  anders  Gestorbener  finstere  Behausung. 
So  heißt  es  noch  bei  Widukind  von  Corvey  um  die  Mitte  des 
zehnten  Jahrhunderts  (1,  23)  tanta  caede  Francos  mulctaü 
sunt,  ut  a  mimis  declamaretur,  uhi  tantus  ille  infernus  esset, 
qui  tantam  muUitudinem  caesorum  capere  posset.  Der  Begrifi 
der  Qual  und  Peinigung  haftete  vor  dem  zehnten  Jahrhunderte 
der  Helle  nicht  an.  Erst  christlicher  Einfluß  hat  dies  geändert 
und  auch  den  Teufel  zum  Höllenwirt  gemacht.  An  die  alte 
Auffassung  anknüpfend  gab  sie  ihm  dann  folgerichtig  auch 
die  schwarze  'Farbe.^ 

Wenn  man  die  Vorstellung  eines  Totenreiches  im  schwarzen 
Dunkel  nächtlicher  Tiefe  bereits  im  ersten  Jahrhunderte  n.  Chr. 

^  Thietmar  Chron.  1,  7:  ut  dies  vivis,  sie  nox  est  concessa  defunctis; 
wie  es  scheint,    ein  aufgelöster  Hexameter,  Zitat  aus    einer  Dichtung. 

^  JSelant  31,  24  heißt  er  mirki,  d.i.  tenebrosus.  Der  hellewirt,  der 
ist  swarz  Parz.  119,  26.  Der  hellemor  Walther  33,  7.  Diabolus  in  effigie 
hominis  nigerrimi  Caes.  Heisterb.  7,  17.  Nach  J.  Gnmm  Deutsche  Myth. 
946,  wo  noch  andere  Beispiele  angeführt  sind. 


Feralis  exercitus  215 

voraussetzen  darf,  so  ist  der  Scliluß  berechtigt,  daß  die  schwarz-  t 
vermummten  Krieger  der  Harier  sich  als  Bewohner  eben  dieses 
Totenreiches  aufspielen  wollten,  daß  das  Grausige  und  Schatten-  , 
hafte  eines  Totenheeres  ihrer  heimischen,  nicht  bloß  griechisch- 
römischer Anschauung,  entsprach  und  aus  rein  germanischer 
Berichterstattung  in  die  Darstellung  des  römischen  Geschicht- 
schreibers geflossen  ist.^  Als  Nibelunge,  Nebelsöhne,  der  Helle  ent- 
stiegen, dem  alten  Niflheim  oder  Niflhel  der  Edda,  vom  Grauen  des 
Todes  umgeben,  so  stürzten  sie  sich  über  die  ahnungslosen 
Feinde,  wie  um  andere  mit  sich  hinabzuziehen  in  ihre  finstere 
Behausung.  Daher  denn  keiner  der  Feinde  den  unerhörten, 
der  Helle  entsprechenden  (velut  infernum)  Anblick  auszuhalten 
vermochte  und  sich  verloren  gab,  ehe  er  Widerstand  versuchte; 
wer  durfte  daran  denken,  es  mit  Geistern  aufzunehmen?  In 
der  Schilderung  der  Pest,  die  565  n.  Chr.  Italien  heimgesucht 
hat,  schreibt  Paulus  Diakonus:  „Zu  jeder  Stunde  des  Tages 
und  der  Nacht  klang  das  Schmettern  von  Ejriegsdrommeten  in 
die  Ohren.  Die  meisten  glaubten,  ein  Dröhnen  wie  von  einem 
Kriegsheere  zu  hören.  Zwar  zeigte  sich  nirgend  der  Fußtritt 
wandelnder  Menschen,  niemand,  der  getötet  hätte,  aber  die 
Leichname  der  Gefallenen  redeten  stärker,  als  das  Sehen  der 
eigenen  Augen." ^  Offenbar  wähnte  man,  ein  unsichtbares 
Geisterheer  habe  die  nichts  ahnende  Menschheit  nach  Krieger- 
art überfallen  und  so  fürchterlich  unter  den  Lebenden  ge- 
wütet. Paulus  schrieb  sein  Buch  700  Jahre  später  als  Tacitus, 
I  und  er  war  Christ.  Ist  es  da  von  der  Hand  zu  weisen,  daß 
I  heidnischen  Zeitgenossen  des  Römers,  Germanen,  gleichwie 
I  der  Langobarde,  eine  derartige  Vorstellung  vor  Augen 
I  schwebte? 

!  ^  Wie  weit   römisclie  Anschanung  den  Bericht  des  Tacitus  be- 

einflußt haben  kann,  bleibt  späterer  Erörterung  vorbehalten. 

^  2,  4:  Nocturnis  seu  diurnis  horis  personahat  tuba  tellantium,  au- 
1  diehatur  apluribus  quasi  murmur  exercitus.  NuXla  erant  vestigia  comme- 
j  antium,  nullus  cernebatur  percussor,  et  tarnen  visum  oculorum  superabant 
i  ^adavera  mortuorum. 

15* 


21^  Ludwig  Weniger 

Zu  der  Auffassung,  es  handle  sicli  um  Grestalten  der  Grabes- 
tiefe, konnte  bereits  im  ersten  Jahrhundert  ein  weiter  entwickelter 
Gedanke  hinzukommen,  der  durch  den  Ausdruck  exercitus  ebenso, 
wie  durch  den  Namen  der  Harier,  wenn  er  Heeresgenossen  be- 
deutet, nahegelegt  wird.  Die  Vorstellung  der  aus  dem  Leibe 
Verstorbener  entwichenen  Seelen  als  eines  Lufthauches  führte 
zu  dem  Gedanken,  daß  bei  starkem  Winde  Seelen  in  Scharen 
vereint  durch  die  Luft  fuhren.  Ursprünglich  ohne  Leitung. 
Aber  durch  einen  einfachen  Schluß  brachte  man  sie  schon  früh 
zu  göttlichen  Wesen  in  Beziehung,  deren  Walten  das  Volk  in 
Wind  und  Sturm  wahrzunehmen  geglaubt  hat.  So  übernahm 
die  riesenhafte  Gottheit  ihre  Führung,  die  in  dem  Elemente 
der  Luft  verkörpert  schien,  und  die  zu  Tacitus'  Zeit  bereits  als 
Wodan  Verehrung  fand.  Wenn  es  in  der  Germania  (9)  heißt, 
deorum  maxime  Mercurkim  cölimtj  so  ist  damit  kein  anderer 
als  Wodan  gemeint.  Dies  bezeugt  der  Name  des  vierten  Wochen- 
tags; dies  Mercurii  ist  Wödonesdag.  Die  siebentägige  römische 
Woche  kam  in  Deutschland  um  das  Ende  des  dritten,  spätestens 
zu  Anfange  des  vierten  Jahrhunderts  auf,  und  dabei  wurden 
die  Namen  der  Tage  in  das  Deutsche  übertragen,  nicht  auf 
dem  Wege  gelehrter  Arbeit,  sondern  durch  den  gemeinen  Mann 
im  Verkehre  des  täglichen  Lebens.  Man  vergleiche  Jonas  von 
Bobbio  in  der  Vita  S.  Columbani,  kurz  nach  620  geschrieben: 
alii  aiunt  deo  suo  Vodano,  quem  Mercurium  vocant  alii.  Paulus 
Diakonus  1,9:  Wodan  sane,  quem  adjeda  litera  Gwodan  dixerunt, 
ipse  est,  qui  apud  Bomanos  Merciirius  didtur}  Daß  Hermes- 
Mercurius  bei  den  Hellenen  und  Römern  im  wesentlichen  Wind- 
gott war,  scheint  sicher.^  Ist  nun  auch  Wodans  Verehrung 
als  Oberster  der  Götter,  wie  sie  Tacitus  in  der  oben  angeführten 
Stelle  (G.  9)  bezeugt,  vielleicht  ausschließlich  den  West germanen 
zuzuschreiben,  und  muß  man  annehmen,   daß  die  Harier  viel- 

1  Müllenhoff  D.  Ä.  4,  1,  213.  644f ,  vgl.  31.    Mogk  a.  0.  S.  1067ff. 

2  Röscher  Hermes  d.  Windgott.  In  römischen  Inschriften  der  ersten 
Jahrhunderte  n.Chr.  ist  Mercnrins  auch  Totengott;  Mogk  a.  0.  1070. 


I 


Feralis  exercitus  217 

mehr  an  dem  alten  Dienste  der  Nahanarvaler,  ihrer  lugischen 
Stammesgenossen,  beteiligt  waren,  in  deren  heiligem  Haine  das 
jugendliche  Brüderpaar  der  Älciy  denen  Tacitus  Castor  und 
Pollux  gleichstellt,  verehrt  wurde,  so  ist  doch  die  Auffassung 
des  Wodan  in  dem  besonderen  Sinn  als  des  Herrn  der  Winde 
und  Führers  der  Seelen  über  die  ganze  germanische  Welt  ver- 
breitet und  uralt.  Diesem  Wodan  gehören  die  im  Kampfe 
Gefallenen  an.  In  dem  Kriege,  der  zwischen  Chatten  und 
i  Hermunduren  um  die  heiligen  Salzquellen  entbrannt  war,  opferten 
die  siegreichen  Hermunduren,  es  war  58  n.  Chr.,  das  ganze  be- 
siegte feindliche  Herr,  so  Menschen  wie  Pferde,  dem  Mars  und 
dem  Mercurius,  d.  i.  Tiu  und  Wodan  (Tac.  Ä.  13,  57).  Acht 
,  Jahre  vorher  waren  Lugier  und  Hermunduren  in  das  Gebiet 
I  des  Yannius  eingedrungen.  Man  sieht,  daß  beide  Völkerschaften 
iu  Berührung  standen  (Tac.  Ä.  12,  30). 

Als  Windgott  ist  Wodan  gerade  so,  wie  Hermes -Mercurius, 
auch  Totengott.  Wenn  in  finsteren  Nächten  zu  winterlicher 
Zeit  der  Sturmwind  tobte,  so  glaubte  man,  daß  Wodan  als 
Herzog  der  Seelen  unter  Waffengetöse,  Rossewiehern  und  Huf- 
schlag einherfahre.  Üie  unheimliche  Art  der  elementaren  Er- 
scheinung in  Wald  und  Feld  kam  diesem  Glauben  zu  Hilfe. 
Das  Rasen  des  Windes,  der  die  Wolken  vor  sich  her  scheucht, 
Dächer  einreißt,  Bäume  entwurzelt,  Stämme  und  Äste  zerbricht, 
der  heult  und  pfeift  und  singt,  der  Gegenstände  auf  dem  Erd- 
boden fängt  und  hoch  emporwirft,  alles  das  bot  Veranlassung 
zur  Ausgestaltung  des  Mythos. 

Bekanntlich  hat  dieser  Glaube  sich  in  zwei,  nicht  immer 
auseinander  gehaltenen  Formen  der  Volkssage  niedergeschlagen, 
nämlich  in  der  Gestalt  einer  Heerfahrt  und  in  der  eines 
iJagdzuges.  Beide  laufen  auf  die  eine  Grundanschauung  im 
[Sturmwind  einherfahrender  Seelenscharen  hinaus  und  werden 
(durch  Einzelzüge,  insofern  es  sich  um  Kampf  mit  feindlichen 
I Mächten  oder  um  Erlegen  einer  Jagdbeute  handelt,  unter- 
schieden.    So   hat   sich   die,   in   unzähligen  Beispielen  belegte, 


218  Ludwig  Weniger 


I 


Sage  vom  Wütenden  Heer  und  von  der  Wilden  Jagd  aus- 
gebildet. Tote  Krieger  und  andere  Verstorbene  bilden  des 
Führers  gespenstisches  Gefolge.  Das  Heidnische  blickt  überall 
durch,  wenn  der  Sage  auch  christliche  Anschauungen  bei- 
gemengt sind.  Der  Gott  ist  zu  einer  teuflischen  Gestalt,  seine 
Gefährten  sind  zu  Gespenstern  geworden.  Infernalis  venator  heißt 
der  wilde  Jäger  bei  Caesarius  von  Heisterbach,  f  1240  (12,  20). 
Er  erscheint  weiß,  auf  einem  Schimmel  reitend,  wie  Wodan, 
oder  grau,  in  riesenhafter  Gestalt,  auch  ohne  Kopf  und  auf 
schwarzem  Pferde.  Mit  laut  tosendem  Ruf,  unter  Hundegebell 
und  Peitschenknall,  fährt  die  Wilde  Jagd  nächtlings  durch  die 
Lüfte.  Eber,  Kühe,  Hirsche,  auch  Weiber,  sind  Gegenstand  ihrer 
Verfolgung.  Wir  lassen  die  Einzelheiten  auf  sich  beruhen 
und  wenden  uns  derjenigen  Seite  des  Mythos  zu,  die  für  das 
Tun  der  Harier  in  Betracht  kommt  und  von  der  Erscheinung 
eines  Heereszuges  handelt. 

Die  Vorstellung  vom  Wutes  -  oder  Wütenden  Heere  findet 
sich  allenthalben,  wo  Germanen  eingesessen  sind.  Offenbar 
hängt  die  Bezeichnung  mit  dem  Namen  des  führenden  Gottes 
zusammen.  Wodan,  id  est  furor,  hella  gerit  hominique  ministrat 
virtutem  contra  inimicos  sagt  Adam  von  Bremen,  f  1076  (4,  2ß). 
Der  Sturm  in  den  Lüften  ist  ein  Bild  des  Kampfes  auf  der 
Erde,  wie  es  der  sprachliche  Ausdruck  festhält;  denn  Sturm 
bedeutet  Kampf.  Begriff  und  Wort  lassen  sich  weit  zurück 
verfolgen.  Im  Rolandslied  (204,  16)  heißt  Pharaos  vom  Meere 
verschlungenes  Heer  ^sin  wotiges  her'.  In  Konrads  von  Heimes- 
furt Urstende  aus  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
werden  die  Juden,  die  den  Heiland  überfallen,  das  Vuetunde 
her'  genannt.  In  Strickers  Karl  (6810)  steht  'daz  wüetende  her'. 
Michel  Beheim  im  Buche  von  den  Wienern  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  redet  (176,  5)  von  ^schreien  und 
wufen  als  ob  es  wer  daz  wütend  her'.  Im  Gedichte  von  Heinrich 
dem  Löwen  nach  der  Handschrift  von  1474  heißt  es:  ^da  quam 
er    under    daz    woden    her,    da    die    bösen    geiste   ir   wonung 


i  Feralis  exercitas  219 

lian'.^  Man  erkennt  die  Vorstellung,  daß  das  Wütende  Heer  ein 
(jeisterlieer  sei.  Vom  Wütenden  Heere  glaubt  das  Volk  in  gleicher 
i  Weise,  wie  von  der  Wilden  Jagd,  daß  es  nachts  in  der  Luft 
bei  großem  Sturm  einherfahre.  „Wenns  Muotas^  in  Ober- 
schwaben durch  die  Luft  saust,  kommt  hinterher  immer  ein 
heftiger  Sturm." ^  Wenn  es  bestimmte  Wege  innehält,  die 
Heer -Mutesheer -Frongasse,  an  einem  bestimmten  Baume 
vorüberbraust,  durch  ein  bestimmtes  Haus  fährt,  ein  solches 
namentlich,  dessen  Türen  einander  gegenüberliegen,  so  zeigt 
sich  das  Wesen  der  heftig  bewegten  Luft,  die  wie  ein  Strom 
durch  die  Öffnungen  braust.  Das  Heer  zieht  hindurch,  und, 
unbewußt  alte  Anschauung  festhaltend,  sagen  wir  noch  heute: 
„es  zieht".  „In  dem  Dorfe  Baiersbronn  im  Murgtale  liegt  ein 
sehr  alter  Hof,  der  Martishof.  Im  unteren  Stocke  des  Hauses 
befindet  sich  ein  Gewölbe,  durch  welches  um  Weihnachten 
regelmäßig  das  Mutesheer  mit  gewaltigem  Getöse  zu  ziehen 
pflegte.  Sobald  der  Hausknecht  es  kommen  hörte,  mußte  er 
nur  schnell  die  Tür  und  Klappe  des  Gewölbes  öffnen;  dann 
fuhr  es  sausend  hindurch."^  „Zu  Neubrunn  (im  Würzburgischen) 
zog  das  wütende  Heer  immer  durch  drei  Häuser,  in  welchen 
drei  Türen  gerade  hintereinander  waren,  vornen  die  Haustür, 
mitten  die  Küchentür,  hinten  die  Hoftür,  und  wo  sich  drei 
Türen  in  gerader  Richtung  finden,  da  zieht,  es  mag  sein,  wo 
es  will,  das  Wütende  Heer  hindurch."^  Wir  haben  gerade 
diese  Beispiele  aus  der  Menge  hervorgehoben,  weil  sie  vor 
j  anderen  bezeichnend  sind.  Es  ist  die  nämliche  Erscheinung, 
!  welche  das  Öffnen  des  römischen  Janus  begründet  hat,  nämlich, 
j  daß  die  Geister  des  Krieges,  die  in  He  er  es  form  zusammen- 
!  ' 

I  ^  Die   Beispiele   nach   J.  Grimm   D.  M.  2,  766.     Mogk   a.  0.  1002. 

\    Golther  Hdb.  d.  Germ.  Myth.  284,  1. 

^  Mutesheer  oder  bloß  Mutes  findet  sich  neben  Wutes. 

'  E.  Meyer  Schioäbische  Sagen  S.  127.  Weitere  Beispiele  bei  J.  W, 
i    Wolf,  Beitr.  z.  d.  Myth.  2,  161. 

*  E.  Meyer  Schwab.  S.  S.  135. 

^  J.  Grimm  D.  M.  2,  779.    J.  W.  Wolf  Beitr.  2,  131  f.  160. 


220  Ludwig  Weniger 

geschart  unsiclitbar  auf  der  Fahrt  sind,  freien  Durchzug  find( 
Bei  den  Grermanen  zieht  Wodan,  der  alte  Heervater  der  Edc 
mit  dem  Wütenden  Heer  in  den  Krieg;  die  Geister  gefallei 
Helden  sind  seine  Gefährten^  und  erneuern  den  Kampf,  d( 
sie  hei  Lebzeiten  geführt  haben.  Dieser  ursprünglich  heidnische 
Zug  wurde  in  der  christlichen  Zeit  so  umgedeutet,  daß  allerlei 
Totenvolk,  Gefangene,  Selbstmörder,  Grenzsteinverrücker,  Säufer 
und  anderes  Gesindel,  sogar  Scharen  ungetaufter  Kinder,  zum 
Wütenden  Heere  kamen.  „Also  redt  der  gemeine  Man  von 
dem  Wütischen  Heer,  daß  die,  die  vor  den  Zeiten  sterben,  ee 
denn  daß  inen  Got  hat  uffgesetzet,  als  die,  die  in  die  Reis 
laufen  und  erstochen  vrerden,  oder  gehenkt  und  ertrenkt 
werden,  die  müssen  also  lang  nach  irem  todt  laufen,  bis  das 
zil  kumpt,  das  inen  Got  gesetzet  hat  und  dann  so  würkt  Gl 
mit  ihnen,  was  sein  götlicher  Wil  ist."^  Wo  ein  Heer  i^ 
fehlt  es  auch  an  Kämpfen  nicht.  Das  Waffengetös  streiten( 
Heere  hört  man  besonders  an  Stätten  blutiger  Kriege, 
alten  Schlachtfeldern,  wo  die  Leichen  ungezählter  Streiter  vc 
scharrt  liegen.  Zur  Nachtzeit  steigen  die  Geister  aus  d^ 
Gräbern  hervor  und  erneuern  den  alten  Kampf.  Die  Zahl  dj 
überlieferten  Einzelsagen  ist  groß  und  kann  übergangen  werd( 
"VV^er  sie  begehrt,  findet  bei  Grimm  in  der  Mythologie  und 
Wolfs  Beiträgen  reichliche  Fülle  zusammengetragen.  In  viel< 
Fällen  wäre  der  Ausdruck  feralis  exercitus  durchaus  an  de 
Stelle.  Bemerkenswert  ist  auch  die  Bezeichnung  exercitus 
antiquus  in  der  spanischen  Sage,  wie  denn  die  romanische  über- 
haupt auch  ihrerseits  denselben  Volksglauben  durch  zahlreiche 
Beispiele  bezeugt.^    Prüft  man  aber  die   Gaue   unseres  Yater- 

^  animae  militum  interfectorum ,  Chron.  Ursher g.  a.  1223,  Mon. 
Germ.  8,  251;  Mogk  a.  0.  1005. 

2  Geiler  von  Kaisersberg,  S.  36  nach  J.W. Wolf  Beitr.  2,  153. 

'  Guilielm  Alvernus,  f  1248,  S.  1037:  De  equüihus  vero  nocturnis, 
qui  vulgari  Gallicano  Hellequin  et  vulgari  Hispanico  exercitus  antiquus 
vocantur,  nondum  tibi  satisfeci  etc.  —  S.  1073:  nee  te  removeataut  conturbet 
ullatenus  vulgaris  illa  Hispanorum  nominatio,  qua  malignos  spiritus,  qi^ 


Feralis  exercitus  221 

landes,  in  denen  Sagen  vom  Wütenden  Heere  vorkommen,  so 
ergibt  sich,  daß  sie  über  das  ganze  germanische  Gebiet  ver- 
teilt sind.  Am  reichlichsten  treten  sie  im  deutschen  Süden, 
Schwaben  und  Franken,  ferner  am  Niederrhein,  in  Hessen  und 
in  Thüringen  auf.  In  denselben  Gegenden  fehlen  auch  Sagen 
von  der  Wilden  Jagd  nicht,  doch  zeigen  sie  sich  in  größerer 
Menge  da,  wo  das  Wütende  Heer  zurücktritt,  besonders  im 
nördlichen  Deutschland.  Daß  der  Osten  nicht  leer  ausgeht, 
bekunden  Beispiele  aus  der  Lausitz,  Böhmen  und  Schlesien;^ 
ist  er  im  ganzen  weniger  beteiligt,  so  erklärt  sich  das  aus  der 
slawischen  Einwanderung,  die  jahrhundertelang  einst  die 
germanischen  Gaue  besetzt  gehalten  hat. 

Der  Nachweis,  daß  dieser  so  tief  eingewurzelte  Volks- 
glauben in  gleicher  Gestalt  bereits  in  den  Gedanken  der 
Deutschen  zu  Tacitus'  Zeit  lebte  und  auch  die  Harier  in 
ihrem  Tun  geleitet  habe,  läßt  sich  allerdings  nicht  führen. 
Ebensowenig  aber  läßt  sich  begründen,  daß  er  damals 
noch  nicht  bestanden  habe.  Die  Tatsache,  daß  er  bis  in 
das  elfte  Jahrhundert  zurück  verfolgt  werden  kann,  daß  er 
auf  gemeingermanischem  Seelenglauben  ruht,  ja  daß  er  auch 
im  Keltischen,  Romanischen  und  Slawischen  begegnet  und  mit 
ähnlichen  Anschauungen  bei  Hellenen  und  Römern  in  viel 
älterer  Zeit  übereinstimmt,  erhebt  die  Wahrscheinlichkeit  fast 
zur  Gewißheit,  daß  solche  Vorstellungen  bereits  den  Germanen 
des  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderts  nicht  fremd  gewesen 
sind.  Einzelzüge  dessen,  was  von  den  Hariern  berichtet  wird, 
stimmen  mit  solchen  des  Wütenden  Heeres  auffallend  überein. 
jZwar  wird  hier  schwarze  Farbe  der  Heeresgenossen  nicht  be- 
sonders hervorgehoben.  Sonst  aber  paßt  vieles:  die  gewählte 
(Zeit  der  Nacht  in  dunkler  Jahreszeit,  das  Grausige  und  Schatten- 

jm  armis  ludere  ac  pugnare  videri  consueverunt ,  exercitum  antiquum 
Inominant.    J.  Grimm  D.  M.  785. 

^  J.  Grimm  D.  M.  782,  1.  J.W.Wolf  Beitr.  2,  155.  E.  H.  Meyer. 
frerm.  Myth.  241.  256.    Zusammenstellung  bei  Mogk  1071.    Golther  285, 1. 


222  Ludwig  Weniger 

hafte,  der  Eindruck  eines  feralis  exercitus,  d.  i.  eines  Heeres 
von  Geistern  Verstorbener,  der  novus  et  velut  infernus  aspedus, 
den  das  Wütende  Heer  auf  solche,  die  es  gesehen  haben,  ge- 
macht hat.  So  viel  darf  man  festhalten:  die  Harier  spielen  die 
Rolle  von  Toten  in  bewußter  Nachahmung  der  Hellenbewohner 
und  ihrer  Erscheinung  in  nächtlich  einherfahrendem  Sturmes- 
heer. Darauf  beruht  der  Eindruck,  den  ihr  unvermutetes  Er- 
scheinen auf  die  Feinde  macht.  Denn  die  Feinde,  denen  der 
Überfall  gilt,  teilen  den  Glauben  der  Angreifenden.  Wenn  die 
wilden  Gesellen  zu  nachtschlafender  Zeit  schwarz  und  schatten- 
haft die  nichts  Ahnenden  überfielen,  so  schienen  Gräber  sich 
aufgetan  zu  haben  und  die  Geister  verstorbener  Krieger  auf- 
erstanden zu  sein.  Man  konnte  wähnen,  das  Wodansheer 
breche  ein,  von  dem  Gotte  geführt  oder  ausgesandt,  dem  Heer 
vater,  dem  Walter  über  Stürme  und  Schlachten.  Die  H 
selber  mochten  in  einer  Art  priesterlicher  Devotion  sich 
Gottheit  geweiht  haben. 

Wie  sehr  die  Yermummung  des  alten  Germanenstam: 
kriegerischer  Art  entspricht,  zeigt  sich  in  ähnlichen  Yorgängen 
des  späten  Mittelalters  und  der  Neuzeit.  Ein  schwarzes  Heer  des 
Königs  Matthias  Corvinus  von  Ungarn  wird  um  1474  erwähnt. 
„Zu  Anfang  des  Dreißigjährigen  Krieges  gab  es  bayrische  Reiter, 
die  unüberwindlich  genannt  wurden,  mit  schwarzen  Pferden, 
schwarzer  Kleidung  und  am  Helm  einen  schwarzen  Totenkopf. 
Friedrich  der  Große  hatte  ein  Regiment  Totenkopf husaren."^ 
Unbewußt  lebt  im  Chor  der  Rache  und  in  der  Lützowschen 
Freischar  das  uralte  Denken  wieder  auf. 

„Und  wenn  ihr  die  schwarzen  Gesellen  fragt: 
Das  ist  Lützows  wilde  verwegene  Jagd!", 

singt  Theodor  Kömer.  Denn  die  Dichtung  läßt  sich  der-- 
gleichen  eindrucksvoll  abenteuerliche  Erscheinungen  nicht  ent- 
gehen.   Bürgers  „Lenore"  und  Zedlitz'  „Nächtliche  Heerschau '' 


leer- 


^  J.  Grimm  D.  M.  3,  284. 


Feralis  exercitus  223 

zeugen  davon,  wie  aus  der  Zeit  des  großen  Kampfes,  den  das 
deutsche  Volk  vor  einem  Menschenalter  führen  mußte,  Geroks 
schönes  Gedicht  „Die  Geister  der  alten  Helden".  Der  sagen- 
bildende Trieb  schläft  nicht.  Es  steht  zu  erwarten,  daß  aus 
den  Schlachtfeldern  auf  französischer  Erde  früher  oder  später 
die  Geister  der  Gefallenen  wieder  aufsteigen  und  nicht  bloß  in 
der  Kunstdichtung  zu  neuem  Leben  erwachen  werden. 

B.  Das  weiße  Heer  der  Phoker 

I 

Zwischen  den  griechischen  Völkern  der  Thessaler  und  der 
Phoker  bestand  im  sechsten  Jahrhunderte  v.  Chr.  ein  bitterer 
Haß,  der  zu  heftigen  Kämpfen  geführt  hat  und  noch  in  den 
Tagen  der  Perserkriege  sich  kundgab.  Die  Thessaler  hatten 
eine  Zeitlang  die  Oberhand  gewonnen  und  Archonten  und 
Tyrannen  in  den  phokischen  Städten  eingesetzt,  bis  die  Phoker 
sich  erhoben  und  an  einem  Tag  ihre  Zwingherren  sämtlich 
erschlugen.  Die  Thessaler  rächten  sich,  indem  sie  250  phokische 
Geiseln  ums  Leben  brachten.  Es  kam  zu  einem  mit  großer 
Erbitterung  geführten  Kriege.  Bei  Kleonai  im  Gebiete  von 
Hyampolis  erlitten  die  Thessaler  eine  schwere  Niederlage.  Führer 
der  Phoker  war  der  gefeierte  Yolksheld  Daiphantes.  Nicht 
viele  Jahre  vor  dem  Feldzuge  des  Xerxes  unternahmen  die 
Thessaler  einen  neuen  Kriegszug  gegen  die  Phoker.  Dabei 
trug  sich  eine  merkwürdige  Geschichte  zu,  die  sich  bei  Herodot 
und  Polyaen,  sowie  bei  Pausanias,  überliefert  findet. 

„Die  Thessaler  samt  ihren  Verbündeten  hatten",  so  be- 
richtet Herodot,  „mit  ihrer  ganzen  Heeresmacht  einen  Ein- 
fall in  das  Gebiet  der  Phoker  unternommen,  nicht  viele  Jahre 
jvor  dem  Kriegszuge  des  Xerxes,  waren  aber  den  Phokern  unter- 
!  legen  und  übel  zugerichtet  worden.  Da  nämlich  die  Phoker 
auf  dem  Parnassos  eingeschlossen  waren,  ersann  der  elische 
i Seher  Tellias,  den  sie  bei  sich  hatten,  ihnen  folgende  List. 
Erließ  600  der  tapfersten  Phoker  sich  mit  Gips  bestreichen, 


1 


224  Ludwig  Weniger 

sicli  selbst  und  ihre  Rüstung,  und  stürzte  sich  zur  Nachi 
zeit  auf  die  Thessaler,  nachdem  er  vorher  Befehl  gegebc 
hatte,  wenn  sie  einen  sähen,  der  nicht  weiß  gefärbt  sei,  diese 
niederzuhauen.  Als  nun  die  Vorposten  der  Thessaler  diese  Manne 
erblickten,  gerieten  sie  in  Furcht,  denn  sie  meinten,  ein 
Wunder  vor  sich  zu  haben,  und  nach  den  Vorposten  auch 
das  Heer  selbst,  in  dem  Grade,  daß  die  Phoker  4000  Tote 
und  Schilde  in  ihre  Gewalt  bekamen,  von  deren  letzteren 
die  eine  Hälfte  nach  Abai,  die  andere  nach  Delphi  weihte 
Als  Zehnter  der  Beute  aus  dieser  Schlacht  wurden  die  große 
Standbilder  um  den  Dreifuß  vor  dem  Tempel  in  Delphi  ge- 
stiftet; andere  derart  sind  in  Abai  aufgestellt."  ''EeßaXövtss 
yaQ  TCaviStQatifi  avtoC  te  ol  @sö6aXol  ^al  ol  övinia%oi  avtcjv 
eg  tovg  ^coTtsag  ov  tcoXXoIöl  exBöi  stQÖtSQOv  tavtr^g  xfig  ßaöiXicDS 
öTQatriXaöCag,  i666d'r}6av  vtco  t&v  ^(oxsov  nal  ^tSQiecpd'TjöJKl 
tQrjxscog.  BTtsCxs  yaQ  xatsiXijd'rjöav  ig  xhv  IIccQvrjööbv  ol 
^coxseg  e%ovx8g  [idvxiv  TeXXCr^v  xbv^HXsiov^  ivd'avxa  6  TsXXCrjg 
ovxog  öotpC^sxai  wbxolöLxoidvde'  yv^a^ag  avdqag  s^axoöCovg 
xcöv  Ocozecov  xoi)g  aQCöxovg^  avxovg  xs  xovxovg  xal  xä  oTcXa 
a^röi/,  vvKxbg  sjtsd'TlTcccxo  xolöi  @s0öaXolöi,  TCQosCjtccg  avxoiöL, 
xhv  ctv  iiri  Xsvxavd'C^ovxa  idcovxai,  xovxov  tcxslvsiv,  xovxovg 
mv  at  xs  (pvXaTial  XGiV  @s06ccXg)v  TtQ&xai  iöovöav  iq)oß7]d'rjdav, 
d6h,aöai  aXXo  xi  etvai  [xsQagl,  xal  [lexä  xäg  cpvXaTiäg  avxri 
rj  öXQUxiij  ovxa  aöxs  xsxqccxlöxlXCcov  7CQaxf}öai  vszq&v  tcccI 
aöTcCdcav  ^(OTcsag,  x&v  xäg  ^ihv  '^^liösag  sg  "Aßag  ävid^söav^  xäg 
dh  ig  ^eXcpovg'  ri  dh  östcccxt}  iysvsxo  x&v  ^Qr^iäxav  ix  xavtrjg 
xfjg  ^(xxt]g  ol  iiayäXoi  ävÖQidvxsg  ol  stSQl  xhv  XQlTtoda  övveöXB&xsg 
e^TtQod^s  xov  vr^ov  xov  iv  ^dsXq)olöL'  xal  exsQoi  xolovxol  iv 
"Aßi^i^i  ävaxeaxcci} 

Dieselbe  Geschichte,  nur  kürzer,  erzählt  Polyaen.  Er 
entlehnt   seine    Mitteilung    wesentlich    Herodot;    nur    gedenkt 

^  Hdt.  8,  27.  —  rsQccs  ist  Glosse.  —  Es  folgt  dann  die  Erzählung  von 
der  Vernichtung  der  thessalischen  Reiterei  durch  eine  andere  Kriegslist 
bei  Hyampolis. 


Feralis  exercitue  225 

er  des  Sehers  Tellias  nicht  und  fügt  hinzu,  daß  der  Vorgang 
in  einer  YoUmondnacht  stattfand:  „Als  v die  Phoker  von  den 
Thessalern  auf  dem  Parnassos  eingeschlossen  waren,  bestrichen 
sie  sich  selbst  und  ihre  Rüstung  in  einer  Vollmondnacht 
mit  Gips,  verabredeten  miteinander,  die  mit  Gips  Gefärbten 
zu  schonen,  und  stürzten  sich  auf  die  Feinde  hinab.  Diese 
gerieten,  wie  vor  einer  fremdartigen  und  unbegreif- 
lichen Erscheinung  in  Furcht;  einige  auch  meinten,  die 
Angreifer  seien  andere,  und  so  wurden  sie  besiegt,  und  der 
Verlust  auf  selten  der  Thessaler  betrug  4000  Mann."  ^oxstg 
is  rbv  IlaQvaßbv  TcatccxXsiöd'evteg  V7tb  ©straX&v,  'yvtl^66avtsg 
avtovg  xal  tä  otcXcc  vvxtl  JtavösXrjvo)  xal  övvd'Tjiia  aXXrjXoig 
öövtsg  cpsCdsdd'ai  t&v  ysyvtl^coiisvcov,  iTttxcctaßcivteg  tolg 
TCoXsiiCoig  insd'svto.  Ol  da  co^jtSQ  g)d6iia  ^svov  tcccI  dXXÖTcotov 
(poßri%'evxeg^  evioi  de  xal  vo^iCöavtsg  äXXovg  slvai  xovg 
ixLtid's^svovg,  ritt7]d'7}6av  xal  Ttx&^a  iysvovxo  ©sttaXiTibv 
avÖQsg  X£tQa'xi6%CXioi} 

Pausanias  beginnt  seinen  Bericht  mit  der  Vernichtung 
der  thessalischen  Reiter  bei  Hyampolis  durch  die  Kriegslist 
der  Phoker,  welche  'Töpfe  in  die  Erde  eingegraben  hatten. 
Sodann  erzählt  er  die  Niederlage  von  300  auserlesenen  Phokern 
unter  Gelon  durch  die  feindliche  Reiterei  und  das  verzweifelte 
Vorhaben  der  Phoker,  im  Fall  ihres  Unterliegens  Weiber  und 
Kinder  umzubringen,  alle  Habe  zu  verbrennen  und  einen  ehren- 
vollen Untergang  zu  suchen.  Unter  Führung  des  Rhoios  von 
Ambryssa  und  des  Daiphantes  von  Hyampolis  und  auf  Grund 
der  klugen  Beratung  des  Tellias  erfochten  die  Phoker  danach 
einen  glänzenden  Sieg,  nach  welchem  sie  die  Bilder  ihrer  Führer 
und  einheimischer  Heroen  in  Delphi  weihten.  „Aber  auch 
späterhin",  so  fährt  Pausanias  fort,  „ersannen  die  Phoker  eine 
List,  die  dem  Früheren  an  Klugheit  nicht  nachstand.  Wie 
t nämlich    die    Heere    am   Eingange    nach    Phokis    einander 

^  Polyaen.  6,  18.      Es    folgt    gleichfalls    die   Reiterniederlage    der 
Thessaler  bei  Hyampolis. 


f 


226  Ludwig  Weniger 

gegenüber  lagen,  überfielen  500  auserlesene  Phoker,  indem  sie 
die  Füllung  der  Mondscheibe  w ab rn ahmen,  in  der 
Nacht  die  Thessaler,  sie  selbst  mit  Gips  beschmiert  und 
mit  weißen  Rüstungen  über  dem  Gips  angetan.  Da  soll  denn 
das  größte  Blutbad  unter  den  Thessalern  angerichtet  worden 
sein,  da  diese  die  nächtliche  Erscheinung  mehr  für  etw 
Göttliches,  als  für  einen  Angriff  von  Feinden  hielten.  Der 
Eleier  Tellias  aber  war  es,  der  auch  diese  List  den  Phokern 
gegen  die  Thessaler  ausgesonnen  hatte.  EvQEd-i^  ds  zal  vßtSQov 
tolg  ^(Dicsvöiv  ovx  ccTCodsov  öo(pCa  r&v  ^qoxbqcov.  cjg  yaQ  dii 
tä  ötQatÖTteda  avtSKdd-Tjto  ^sqI  tr^v  ig  tijv  ^cjtcC 
e6ßoX7]v^  Xoyddsg  ^axeav  TtsvtaTcööiOL  g)vXci^avTsg  ^tXtJQ 
tbv  oivaXov  tfig  ösXrjvrjg  k7ii%EiQOV(5iv  ev  tfj  vvztl  tolg 
@s66aXolg,  avtoC  ts  dXrjXifi^svoi  yvil^cj  xal  evdsdvicötsg 
oTtXa  Xsvxä  hTcl  rjjf  yöifjo).  kvtavd'a  e^SQyaö^fivai  (povov  rcov 
Qe66aXG)v  Xsy erat  tcXbIötov,  d'störsQÖv  ti  riyoviiivav  tj 
^axä  scpodov  7CoXs[iC(av  ev  ry  vvxtl  öv^ßalvov.  6  ds  'HXslog 
^v  TsXXlag  og  aal  tavta  tolg  ^coxsvöiv  a^rjxccv^öato  6g  tovg 
GeööaXovg} 

Weiterhin  gedenkt  Pausanias  auch  des  WeihgeschenkÄI 
das  die  Phoker  für  diesen  Sieg  nach  Delphi  gestiftet  hatte"' 
Man  erfährt,  was  bei  Herodot  nicht  ausdrücklich  gesagt  ist, 
daß  es  eine  Darstellung  des  Dreifußraubes  war,  Leto  und 
Artemis  neben  Apollon,  Athena  neben  Herakles,  die  übrigen 
Bildwerke  von  Diyllos  und  Amyklaios,  Athena  und  Artemis 
von  Chionis,  lauter  korinthischen  Meistern.^ 

Pausanias  schöpfte  aus  einer  anderen  Quelle  als  Herodot. 
Dies  bekundet  Reihenfolge  und  Inhalt  seiner  Erzählungen  über 

1  P.  10,  1,  3  ff. 

*  P.  10,  13,  7.  Das  Weihgeschenk  hatte  einen  bewußten  Sinn. 
Herakles  bedeutet  die  Thessaler;  denn  Thessalos  galt  als  sein  Sohn 
(Strab.  9,  444.  Schol.  Äp.  Bh.  3,  1090),  und  Athena  war  als  Itonia  eine 
Hauptgottheit  der  Thessaler  und  deren  Losung  in  den  phokischen 
Kämpfen;  P.  10,  1,  10.  Apollon  aber  und  die  Seinen  gehörten  zu  den 
Phokern  durch  Delphi  und  Abai. 


Feralis  exercitus  227 

die  Kämpfe.  Die  Reiterniederlage  bei  Hyampolis  stellt  er  an 
den  Anfang  des  Krieges;  Herodot  berichtet  sie  nach  dem 
phokischen  Überfall  in  der  Nacht  und  setzt  sie  diesem  zur 
Seite.  Pausanias  läßt  500  Phoker  den  Überfall  unternehmen, 
Herodot  600.  Pausanias  gibt  als  Örtlichkeit  die  Gegend,  wo 
man  den  Zugang  zum  Lande  Phokis  hatte  (itSQl  tijv  ig  ti^v 
0(oMa  sößolTJv)]  Herodot  sagt,  die  Phoker  seien  auf  dem 
Parnassos  eingeschlossen  gewesen.  Pausanias  folgt  offenbar 
derselben  Quelle,  wie  Plutarch  (mul.  virt.  2,  S.  244b),  wo 
dieser  von  dem  verzweifelten  Vorhaben  der  Phoker,  Weib  und 
Kind  zu  opfern,  berichtet.  Die  Zahl  der  4000  gefallenen 
Thessaler  gibt  nur  Herodot  und  der  von  ihm  abhängige  Polyaen. 
Herodot  war  in  Delphi  wohlbekannt  und  stand  daselbst  mit 
angesehenen  Männern  in  Verbindung^;  man  darf  annehmen, 
daß  er  dort  seine  Nachrichten  gesammelt  hat,  und  dies  geschah 
zu  einer  Zeit,  als  man  noch  unter  dem  Eindrucke  des  Erlebten 
stand.  Pausanias  mag  einzelnes  aus  Mitteilungen  der  Periegeten 
entnommen  haben.^ 

Der   Ort,   an   dem   der   nächtliche  Überfall    stattfand,    ist 

genau  nicht  angegeben.    Herodot  sagt  nur,  daß  die  Phoker  auf 

dem  Parnassos  eingeschlossen  waren,  als  Tellias  die  Kriegslist 

ersann.     Es   liegt   daher   am   nächsten,   daß   sie  von  dem  Orte 

dieser  Einschließung  aus  gegen  die  Feinde  zogen.   Nun  berichtet 

der   Geschichtschreiber  kurz   darauf,   daß  ein  Teil  der  Phoker, 

jals  die  Perser  von  Doris  her  unter  Führung  der  Thessaler  in 

1  Phokis  eindrangen,  auf  die  Höhen  des  Parnassos  zog.     Es  sei 

aber  auch  der  Gipfel  des  Parnassos,  der  für  sich  liegt  bei  der 

i Stadt  Neon,  für  einen  Heerhaufen  zur  Aufnahme  wohl  geeignet; 

sein  Name  war  Tithorea.     Auf  diesen  hatten  sie  ihre  Sachen 

srebracht  und  waren  selber  hinaufgezogen.^     Es  ist  sehr  wahr- 

^  Vgl.  1,  10.  92.  8,  39. 
j  -  Über   die  Periegeten  in  Delphi  Plut.  de  Pythiae  or.  S.  395  flf.   an 

vielen  Stellen;  dazu  W.  Gurlitt  über  Pausanias  S.  444 ff.  463. 
I  '  Hdt.  8,  32 :  rag  dh  iyt  rfjg  Jcagidos  is  t7\v  ^axida  iasßccXov,  ccitohg 

'  nkv  rovg   $cax8as  ovtc  aigiovei.    ol  iihv  yccQ  t&v  ^oi-nimv  ig  tu  ängcc  xov 


228  Ludwig  Weniger 

scliemlicli,  daß  es  eben  dieser  wohlgeeignete  Zufluchtsort  w 
den  die  Phoker  auch  bei  dem  Kriege  mit  den  Thessalern  auf- 
gesucht hatten,  und  daß  er  zu  verstehen  ist,  wenn  Herodot 
sagt,  daß  sie  auf  dem  Parnassos  eingeschlossen  waren.  Die 
Stadt  Neon  lag  weiter  hin  im  Tale  des  Kephissos  (H.  8,  33). 
Pausanias  nimmt  an,  der  Name  des  Pamassosgipfels  Tithorea 
sei  später  auf  die  ganze  Gegend  übergegangen,  zuletzt  aber 
auf  die  allmählich  aufgeblühte  Stadt  Tithorea,  die  einstmals 
Neon  geheißen,  beschränkt  worden  (P.  10, 32, 9).  Nach  Plutarch, 
der  die  Gegend  genau  kannte,  war  Tithora,  so  hieß  der  Name 
später,  im  Mithradatischen  Krieg  eine  von  schroffen  Abhängen 
umgebene  Festung,  dieselbe,  in  die  sich  einst  die  vor  Xerxes 
fliehenden  Phoker  gerettet  hätten.^  Die  alten  Mauern  von 
Tithora  sind  noch  heutigentags  gut  erhalten.  Sie  umgeben 
das  am  nördlichen  Fuße  des  Parnassos  gelegene  Velitza.  „Vom 
Fuße  einer  hohen  Felswand  des  Parnassos  ziehen  sie  sich  anfangs 
über  einen  schrägen  Abhang,  darauf  über  flacheren  Boden  in 
gerader  Richtung  gegen  Norden  hin  und  wenden  sich  darauf 
mit  einem  stumpfen  Winkel  nach  Osten  bis  an  das  rechte,  sei 
hohe  und  schroffe  Felsenufer  des  Gießbachs  Kakoreuma 
welcher  sich  vom  Parnaß  herab  durch  eine  tiefe  Schlucht 
Tal  und  weiter  abwärts  in  den  Cephissus  ergießt.  Pausanias 
(10,  32,11)  nennt  ihn  Cachales.  Durch  die  Schlucht  führt  ein 
beschwerlicher  Sumpfweg  über  die  Höhen  des  Parnassos  nach 
Arächova  und  Delphi.  Die  Mauern  zeigen,  daß  die  alte  Stadt 
nur  nach  Westen  und  Nordwesten  künstlich  befestigt  war. 
Nach  Nordosten  und  Osten  gewähren  die  senkrechten  Ufer  des 
Parnassos  hinlänglichen  Schutz  gegen  jeden  möglichen  Angriff."  — 
„In  einiger  Entfernung  hinter  Velitza  stromaufwärts  am  Cachales 
befindet  sich  eine  Höhle  in  einer  hohen  Felswand.  —  Sie  ist 


am 
iisPI 


naQvr]66ov  ccvsßriGav'    'iexi  dh  -aal  iTturjösri  ds^aöd'ui  o^iXov  tov  UaQvriGGov 
7]  •aOQVtpriy  y,aTu  Nscova  tcoXlv  xet/isVrj  in    loouT^g*    Tid'OQBa  ovro^ci  aw| 
ig  TTiV  dr]  ccvrivsiTiavTO  xal  avtol  ävißriöav. 

,     ^  Plut.  Sulla  15.     Vgl.  Bädeker  Griechenland^  S.  202. 


Feralis  exercitus  229 

sehr  geräumig,  hat  vortreffliches  Trinkwasser  und  ist  vollkommen 
unnehmbar,  und  es  ist  wohl  wahrscheinlich,  daß  sie,  wie  die 
Corjcische  Höhle  von  den  Delphern,  von  den  Bewohnern  Neons 
und  anderer  umliegenden  Ortschaften  als  Zufluchtsort  benutzt 
wurde."  ^  Die  Vermutung  des  Pausanias,  Tithorea  und  Neon 
möchten  identisch  sein,  ist  ungegründet.  Ulrichs  erkennt  Neon^ 
in  den  nicht  ganz  anderthalb  Stunden  nördlich  von  Velitza 
liegenden  Resten  einer  alten  Stadt,  die  man  jetzt  i^  Ualaiä  Oy^ßa, 
d.  h.  Alt -Theben  nennt.  —  Nach  alledem  wird  man  davon  aus- 
gehen dürfen,  daß  die  Stätte,  auf  der  die  Phoker  in  dem  Kampfe 
gegen  die  Thessaler  sich  bargen,  und  wo  der  Überfall  in  der 
Vollmondnacht  geplant  wurde,  dem  späterhin  zu  hoher  Blüte 
entwickelten  Tithora  entspricht. 

Betrachten  wir  den  von  Herodot,  Polyaen  und  Pausanias 
überlieferten  Vorgang,  so  ergibt  sich  zunächst,  daß  es  sich  um 
eine  Kriegslist  in  einem  einzelnen  Falle  handelt,  nicht,  wie 
bei  den  Hariern  des  Tacitus,  um  einen  gelegentlich  wieder- 
kehrenden Brauch.  Der  Vorgang  ist  daher  an  eine  bestimmte 
Ortlichkeit  geknüpft,  an  die  Berglandschaft  des  Parnassos 
oder  seiner  nächsten  Umgebung.  Eine  Schar  von  500  oder 
600  Kriegern,  groß  genug,  um  die  Bezeichnung  eines  „Heeres" 
zu  verdienen,  tritt  handelnd  auf.  Da  es  gegen  das  Fußvolk 
der  Thessaler  geht  und  das  Gelände  für  Reiterei  ungeeignet 
war,  greifen  auch  die  Phoker  zu  Fuß  an.  Von  der  Reiterschlacht 
wird  besonders  berichtet;  sie  fand  bei  Hyampolis  statt.  Die 
List  beruht,  wie  bei  den  Hariern,  auf  einer  Vermummung;  sie 
(beschmieren  sich  von  oben  bis  unten,  Körperteile,  wie  Waffen- 
rüstung, also  auch  die  Schilde,  mit  Gips,  so  daß  der  ganze 
|Mann  weiß  gefärbt  war.  Es  handelt  sich  um  einen  plötzlichen 
jÜberfall  der  Feinde,  und  zwar,  wie  bei  Polyaen  und  Pausanias 
jausdrücklich  hervorgehoben  wird,  um  Vollmondszeit,  wo  die 
jweißen  Gestalten  der  heranziehenden  Schar  noch  heller  leuch- 

^  Aus  Ubichs  Beisen  u.  F.  2  S.  114f.  118  f.  Als  Zufluchtsort  diente 
(sie  auch  während  des  griechischen  Befreiungskrieges;  s.  ebd. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  16 


230  Ludwig  Weniger 


i 


tend  erscheinen  und  einen  gespenstisclien  Eindruck  machen 
mußten.  Der  Zweck  wird  vollständig  erreicht.  Die  Thessaler 
wissen  sich  in  den  unbegreiflichen  Anblick  nicht  zu  finden; 
sie  denken  an  ein  Außergewöhnliches,  d.  i.  ein  Wunder,  es  sei 
alXo  XI  \tBQaö\f  (pdaiia  ^evov  xal  dXXöxotov,  d'SiötSQOv  7)  Tcatä 
£(podov  utoXsiiCcov,  aXXovg  toitg  i^Ld-s^evovg  elvai.  —  So  weit 
der  Tatbestand. 

Für  uns  ergibt  sich  die  Frage,  was  konnten  sich  die 
Thessaler  unter  der  fremdartigen  Erscheinung  vorstellen?  Wer 
waren  die  „anderen",  die  sie  in  den  Angreifenden  vermuten? 

Gespenster  schienen  es,  so  wird  auch  hier  zunächst  gesagt 
werden  dürfen.  Der  allgemeine  Ausdruck  für  solche  Spuk- 
gestalten findet  auch  bei  den  Hellenen  zunächst  auf  Tote,  aus 
dem  Grrabe  Erstandene,  seine  Anwendung.  Also  würde  der 
Ausdruck  feralis  exercitus  auch  auf  die  weißen  Phoker  passen, 
um  so  mehr,  als  es  griechischer  Brauch  war,  die  Toten  weiß 
anzukleiden.^  Dazu  kommt  die  bleiche  Farbe  der  Leichen  selbst, 
so  daß  der  Gedanke  an  Tote,  die  eben  den  Gräbern  entstiegen, 
beim  Anblicke  der  Vermummten  wohl  aufkommen  konnte.  So 
etwas  wie  in  Goethes  Totentanz: 

„Der  Mond,  der  hat  alles  ins  Helle  gebracht; 
Der  Kirchhof,  er  liegt  wie  am  Tage. 
Da  regt  sich  ein  Grab  und  ein  anderes  dann: 
Sie  kommen  hervor,  ein  Weib  da,  ein  Mann, 
In  weißen  und  schleppenden  Hemden." 

Man  müßte  sich  damit  zufrieden  geben,  wenn  nicht 
nähere  Erwägung  lehrte,  daß  ein  Aberglaube  besonderer  und 
an  die  Örtlichkeit  geknüpfter  Art  der  gewählten  Kriegslist  zu- 
grunde gelegen  hat. 


^  Artemidor.  II,  3:  ScvSqI  dk  voGovvxi  Isvaa  ^x^lv  liiöcxia  Q'ccvaxov 
TtQoayoQEvEt  dta  ro  tovg  ScnoQ'ccvovTccg  iv  XevkoTs  i7cq>^Q£6d'aL;  cf.  IV,  2. 
Nacli  dem  Begräbniskostengesetz  von  lulis  auf  Keos  durften  die  Toten 
in  höclistens  drei  weißen  Kleidern  bestattet  werden;  s.  Köhler  Athen.  Mitt. 
1,  139  ff.,  dazu  Roehl  ebd.  255. 


Feralis  exercitus  231 

n 

Geht  man  davon  aus,  daß  der  Vorgang  im  Bereiche  des 
Parnassos  spielt,  so  wird  man  zunächst  die  an  dies  Gebirge 
gebundenen,  sagenhaften  Anschauungen  ins  Auge  fassen 
müssen  und  danach  zu  prüfen  haben,  inwieweit  die  Einzel- 
lieiten,  der  Überfall,  die  Nachtzeit,  die  weiße  Färbung  dazu 
passen.  Man  erkennt  bald,  daß  es  sich  um  nichts  anderes  als 
um  eine  Art  Nachahmung  der  Orgien  des  Dionysos  oder 
vielmehr,  wie  bei  diesen  selbst,  um  eine  Entlehnung  von  Vor- 
gängen des  zugrunde  liegenden  IsQog  Xöyog  handelt. 

Den  Mittelpunkt  dieses  Gottesdienstes  bildet  Delphi.  700  m 
über  dem  Spiegel  des  korinthischen  Meerbusens,  in  emer  Höhe, 
die  den  kurzen  Aufstieg  von  der  Seeseite  ^  sehr  beschwerlich 
machte,  lag  das  Heiligtum  in  einem  engen,  für  die  Stadt  nur 
16  Stadien  Umfang  lassenden  Felsenkessel,  der  sich,  wie  das 
Halbrund  eines  ungeheuren  Theaters,  an  den  Parnassos  anlehnt. 
200  bis  300  m  hoch  fast  senkrecht  emporragende  Kalkwände, 
von  dem  Glanz  ihrer  Färbung  ^aiÖQiccdsg  genannt,  schließen  das 
Ganze  nach  Norden  ab  und  hatten  den  Peribolos  mit  den 
Heiligtümern  dicht  unter  sich.  Oben  führt  eine  weitie  Hoch- 
ebene in  die  wilde  Hochgebirgslandschaft.  An  den  Grotten 
und  Höhen  dieser  eindrucksvollen  Gegend  haftete  die  Sage  von 
den  winterlichen  Leiden  des  Dionysos,  welche,  durch  Dichtung 
und  Lehre  der  Orphiker  bis  ins  einzelne  ausgebildet,  für  die 
Gestaltung  des  Kultus,  und  zwar  ebenfalls  bis  ins  einzelne, 
maßgebend  wurde  und  danach  wieder,  in  weitere  Kreise  dringend, 
zu  einer  Art  Vulgata  sich  niedergeschlagen  hat. 

Dionysos  Zagreus,  d.  h.  der  große  Jäger  ^,  der  Sohn  des 
Zeus  und  der  Persephone,  wächst  als  ein  blühender  Knabe  in 

I  ^  Bädeker  Griechenland^  S.  156.     Von  der  Küste  bis  Krisa   4  km, 

I  von  da  hinauf  bis  Delphi  SVa  km.    Hiller  v.  Gärtringen  b.  Pauly-Wissowa 
"  IV,  2,  2518. 

*  Etym.  M.  406,  48:  ytagcc  rb  ^a,  iv  y  6  ndvv  ScyQSvoav.  Et.  Gud. 
1  S.  227,  40:  6  ^sydXag  ayQsvcov;  ebenso  Gramer  An.  Oxon.  2,  443,  8.  Vgl. 
I  Preller -Robert  Griech.  Myth.  805,  2. 

16* 


232  Ludwig  Weniger 

Verborgenheit  auf.     Im  Spiele  mit  seiner  Umgebung  begriffen,] 
wird    er  von  „Titanen",   die   sieb   mit   Grips   weiß   gefärbt^ 
hatten,  gepackt  und  in  Stücke  zerrissen.    Die  Unholde  werfen! 
seine   Glieder   in   einen  Kessel,   kochen  sie   über  einem  Feuer] 
und  schicken  sich  an,  sie  zu  verzehren.    Zeus  sieht  die  Greuel-J 
tat,  schmettert  die  Titanen  durch  seinen  Blitz  in  den  Tartaros 
und  übergibt  die  Überbleibsel  des  Dionysos  dem  Apollon,  dei 
sie  zu  Delphi  in  seinem  Tempel  beisetzt.     Das  noch  zuckende 
Herz   des   ermordeten   Gottes   wird  von  Pallas    gerettet.     Zeug 
macht  den  .Dionysos  wieder  lebendig,  und  dieser  geht  nach  sc 
viel  Leiden  in  den  Himmel  ein. 

Die  Darstellung  des  Ganzen  und  die  Belege  für  die  Einzeln 
heiten  finden  sich  bei  Lobeck  im  Aglaophamus  klar  und  er- 
schöpfend zusammengestellt,  so  daß  für  unsere  Erörterung  ni 
so  viel  nötig  ist,  als  zur  Beweisführung  gehört,  daß  diesei 
Mythos  die  Grundlage  für  die  Kriegslist  der  Phoker  gebotei 
hat.  Plutarch  (de  si  9),  der  die  Verhältnisse  von  Delphi,  das 
ihm  zur  zweiten  Heimat  geworden  war,  so  genau  wie  wenige 
seiner  Zeitgenossen^  gekannt  hat,  spricht  es  geradezu  aus,  daf 
Dionysos  an  Delphi  nicht  weniger  Anteil  habe  als  ApollonJ 
(rö  ^iovv<5(p)tG)v  ^dsXcp&v  ovdhv  '^trov  rj  rra  ^A^oXXovl  iibxsöxivI 
Diese  Gleichstellung  wurde  auch  dadurch  bezeugt,  daß  ii 
Vordergiebel  des  großen  Tempels  Apollon  mit  Leto,  Artemij 
und  den  Musen,  in  dem  hinteren,  westlichen,  der  Untergang" 
des  Sonnengottes,  Dionysos  und  die  Thyiaden  dargestellt 
waren.^  Das  Verhältnis  beider  Götter  kam  im  Gottesdienste 
zur  Geltung:  während  der  übrigen  Zeit  des  Jahres  wurde  bei 
den  Opfern  der  Paian   gesungen,  begann  aber  der  Winter,  so 


^  Das  Jahr  120  n.  Chr.,  unter  dem  Eusebios  den  Plutarch  anführt, 
ist  das  letzte  sichere  Datum  seines  Lebens;  W.  Gurlitt  Über  Pausanias 
S.  462. 

^  Paus.  10,  19,  4.  Die  Bildwerke  waren  von  Praxias,  einem  Schüler 
des  Kaiamis,  und  Androsthenes,  einem  Schüler  des  Eukadmos.  Vgl. Hiller 
V.  Gärtringen  b.  Pauly-Wissowa  IV,  2  Sp.  2566  f. 


I 


Feralis  exercitus  233 

wachte  der  Dithyrambos  auf;  man  ließ  den  Paian  ruhen  und 
rief  drei  Monate  lang  statt  des  Apollon  den  Dionysos  herab. ^ 
Die  drei  dem  Dionysos  vorbehaltenen  Wintermonate  hießen 
Dadophorios,  Poitropios,  Amalios  und  fielen  in  die  Zeit  der 
attischen  Maimakterion,  Poseideon,  Gamelion.  Im  Dadophorios 
alsO;  der  unserem  November -Dezember  entspricht,  begannen 
die  bakchischen  Winterfeiern.  Nach  Ablauf  des  Vierteljahrs, 
am  7.  Bysios  (Anthesterion,  Februar -März),  wurde  mit  der 
Wiederkunft  des  Apollon  das  große  Fest  der  Theophanien  und 
der  Neubeginn  der  apollinischen  Zeit  begangen.  Im  Hinblick 
auf  Mythos  und  Kultus  bezeichneten  die  delphischen  Theologen 
den  im  Winter  verehrten  Gott  nicht  bloß  als  Dionysos,  sondern 
auch  als  großen  Jäger  (ZayQSvsX  Nachtwalter  (Nvxtikiog)  und 
Gleichverteiler  (^löoöaCtrjg)  und  stellten  von  ihm  Vernichtet- 
werden und  Verschwinden,  Auferstehung  und  Wiedergeburt  dar.^ 
Als  Euios,  der  die  Weiber  aufstört  und  mit  seinen  rasenden 
Ammen  verkehrt,  rufen  sie  den  Dionysos  herauf.^  Von  der 
Beisetzung  der  Glieder  des  von  den  Titanen  zerrissenen  Gottes 
auf  dem  Parnassos  redet  Clemens  von  Alexandria  (Protr.  15). 
Nach  Lykophron,  Kallimachos  und  Euphorion  wurden  die  gött- 
lichen Reliquien  zu  Delphi  im  Adyton  und  neben  dem  Drei- 


^  Plut.  de  ü  9  S.389b;  nur  insofern  war  das  Verhältnis  ungleich, 
als  Apollon  über  neun  Monate  verfügte.  Daß  übrigens  Dionysos  im 
Sommer  nicht  ganz  vergessen  war,  beweist  der  neuentdeckte  delphische 
Paian  des  Philodamos  auf  diesen  Gott,  ein  v^ivos  xZTjrtxog,  der  ihn  zu 
den  Theoxenien  einladet.  Vgl. Weil  Bullae  Corr.Hellld,  1895  S.393ff.; 
dazu  Diels  Ber.  d.  Berl.  Ak.  1896  S.  457  ff. 

^  Plut.  de  sl  2k.  0.  .  .  .  (f%'OQag  nvag  ytal  ätfaviG^ovg  ol  rag  aito- 
ßi(a6SLs  xat  ■nccliyysvsGias.  Der  Sinn  erfordert  ccraßimOEis,  vgl.  de  Iside  35 : 
jcca  Tal<s  ävaßiwGBGi  xal  7CaXiyy£V£6la.ig.     Für  oi  tccs  Stegmann:  ELTa  d'. 

^  Plut.  de  et  a.  0.,  zu  lesen  ist:  s^lov  OQGLyvvaiyicc  iiccLVOfiivccig 
JlÖvvgov  Eatg  6vvs6vtcc  rid'TJvccLg  ccvay,a%ov6iv ,  statt  ^lÖvvgov  ävd'sovtcc 
ti^atg.  A.Waldenaer  6vv9'Eovta  tid-iqvaig  nach  Bahr  in  der  deutschen  Übers. 
S.  1216  Anm.  ***.  Der  Ausdruck  ccvaKalovaiv  ist  nicht  wörtlich  zu 
nehmen  als  her  auf  rufen;  gleich  darauf  sagt  Plutarch  xcctccKccXovvtcci, 
sie  rufen  herab.    Es  handelt  sich  allgemein  um  Adventslieder. 


234  Ludwig  Weniger 

fuß  aufgestellt.^  Dort  war  der  Erdspalt,  über  dem  die  Pythi 
Orakel  erteilte,  und  dort  stand  auch  ein  goldenes  Bild  d( 
ApoUon.^  Ebendort  nun  zeigte  man  den  Sarg  mit  den  Restei 
des  heiligen  Leichnams,  und  wer  es  nicht  besser  wußte,  hiel 
ihn  für  eine  Art  Untersatz.^  Die  hochheilige  Stelle,  die  dei 
Dionysosgrab  eingeräumt  ist,  das  Allerheiligste  von  Delp] 
die  Orakelhöhle  selbst,  bestätigt  mehr  als  alles  andei 
Plutarchs  Aussage,  daß  Dionysos  an  Delphi  nicht  mindere^ 
Anteil  habe  als  ApoUon. 

Mit  diesen  Überlieferungen  stimmen  die  Einzelheiten  d( 
delphischen  Gottesdienstes  bei  den  trieterischen  Winterfesten  d( 
Dionysos,    wo    in    drei   besonderen   Akten    das    Kommen    de 
Gottes  zu  Beginn  der  rauhen  Jahreszeit  und  sein  Schwärmt 
mit  den  Thyiaden  auf  den  Höhen  des  Parnassos  bis  zum  Übei 
falle  durch  die  Titanen,  sodann  sein  Tod  und  seine  Beisetzui 
und  zuletzt  seine  Wiederbelebung  in  anschaulichem  Ritus  dj 
gestellt   wurde.     Das   sind  die  ÖQÜ^sva  oder  ogyia,   zu   dene 
der    IsQog   Xöyos    den    dogmatischen   Hintergrund    bildet,     ai 
denen  er  also  herausgelesen  werden  kann.    Für  unseren  Zwe( 
kommt    allein    der    erste    dieser  Akte    in    Betracht.     Was   wi 
davon  wissen,  knüpft  an  die  Nachrichten  über  das  delphische 
Thyiadenkollegium  an,  eine  Genossenschaft,  die  dazu  bestimmt 
war,  in  einer  Art  Nachahmung  der  weiblichen  Mitglieder  des 
bakchischen   Thiasos,  der   Ammen   des  jungen  Gottes,  diesem 
die    gebührenden    Ehren    zu    erweisen.*      Unter    der    Leitung 

^  Lycophr.  AI.  207  ff.:  iv  fivxotg,  JsXcpLviov  TtuQ  avrga  Kegdcpov  d'sov. 
Dazu  das  Scholion.    Vgl.  Lobeck  Agl.  558. 

^  Daß  es  von  Goldelfenbein  gewesen  (Hiller  v.  Gärtringen  bei 
Pauly-Wissowa  IV  2,  2568),  kann  ich  aus  dem  Hymnos  des  Philodamos 
nicht  herauslesen. 

8  P.  10,  24,  5.  Plut.  Isis  35.  Eusebios  Chron.,  Schoene  II  S.  44  f. 
Syncell.  Chron.  S.  307  Dind.  Jo.  Malalas  Chron.  2,  52  S.  45  Dind.  Cyrill. 
c.  Jul.  X,  341.    Lobeck  Agl  573s. 

*  Ausführlich  handelt  darüber  meine  Abh.  Über  das  Collegium  der 
Thyiaden  v.  Delphi,  Eisenach,  1876,  deren  Aufstellungen  ich  noch  heute 
aufrechterhalte. 


Feralis  exercitus  235 

einer  Vorsteherin  und  vereint  mit  den  attischen  Thyiaden,  die  sich 
dazu  in  Delphi  einfanden,  und  unter  denen  wohl  keine  anderen 
als  die  Gerairen  zu  verstehen  sind,  wurde  zu  Anfange  des 
Winters  im  Monate  Dadophorios  an  einem  bestimmten  Kalender- 
tage, den  wir  nicht  wissen,  die  Erscheinung  des  Dionysos  ge- 
feiert. Die  Nachrichten  reichen  aus,  um  danach  ein  un- 
gefähres Bild  der  Vorgänge  zu  gewinnen.  Das  Fest  fand  in 
der  Nacht  statt  —  daher  wird  es  als  Nyktelia  bezeichnet, 
wie  der  Gott  als  Nyktelios  — ,  und  zwar  auf  den  Berghöhen 
des  Pamassos.     Am  Abende  vor  der  heiligen  Nacht,  so   darf 

I   man  annehmen,   versammelten   sich   die   priesterlichen   Frauen 

I  im  Festornat  an  einem  geeigneten  Platze,  wahrscheinlich  im 
Theater  von  Delphi,  das,  wie  in  Elis,  als  Dionysostempel 
diente.^  Von  da  aus  konnte  man  das  Temenos  durch  seinen 
westlichen    Ausgang    bequem    verlassen^    und    stieg    dann    in 

I  nordwestlicher  Richtung  aufwärts,  an  einer  Bildsäule  des 
Dionysos  vorüber,  die  von  den  Knidiern  gewidmet  war.    Eine 

j  ununterbrochene  Treppe  von  mehr  als  tausend  in  den  Stein 
gehauenen  Stufen,  „eines  der  kühnsten  und  bewunderns- 
würdigsten Werke  des  Altertums",  offenbar  zu  diesem  Zweck 
angelegt,  führt  auf  die  Höhe  der  Phaidriaden.^  Durch  eine 
Schlucht,  die  bis  zum  Gießbache  der  Kastalia  sich  hinzieht, 
gelangt  man  in  ein  schmales  Tal,  an  das  im  Westen  eine 
ganz  von  Bergen  umgebene  Hochebene  sich  anschließt,  deren 
südlichster   Teil   von    einem   kleinen    See    eingenommen    wird. 

*  In  Elis:  P.  6,  21,  1.  Einen  anderen  Dionysostempel  gab  es  in 
Delphi  nicht. 

2  Dahin  schaute  auch  das  westliche  Giebelfeld  des  Apollontempels 
mit  der  dionysischen  Darstellung,  ebenso  bezeichnend,  wie  das  östliche 
Giebelfeld  des  olympischen  Zeustempels  mit  Oinomaos  und  Pelops  nach 
dem  Hippodrom  zu  schaute.  Vgl.  die  Pläne  bei  Luckenbach  Olympia 
und  Delphi,  1904  S.  40  und  45  und  die  Abbildungen  ebd.  S.  39  und  44. 

"  P.  10,  32,  2.  Ulrichs  Beisen  u.  F.  1,  117.  Thiersch  Topogr.  S.  9. 
Vischer  Skizze  des  ParwayS,  Yerh.d.Philol.  Vers,  in  Altenburg  1854,  S.  13. 
Welcker  Tagebuch  einer  griech.  Reise  II,  76 f.  Bädeker  Griechenland^ 
S.  161  f. 


236 


Ludwig  Weniger 


Zwischen   dem   Tal  und   der  Hochebene   erhebt  sich  die  steile 
Anhöhe,    an  deren  Gipfel  eine  geräumige  Tropfsteinhöhle,  die 
Korykische  Grotte,  liegt.    Sie  war  dem  Pan  und  den  Nymphen 
geweiht,  die  man  als  Genossen  des  Dionysos  dachte.^    Weite; 
hin   nordöstlich    erhebt    sich    das    bei    2460  m   Höhe    oft  di 
Wolken  überragende,  stellenweise  mit  ewigem  Schnee  bedeckt 
Lykoreion    (jetzt   AvksqlJj   der   höchste   Gipfel   des   Parnasso 
Dorthin  verlegt  Pausanias  (10,  32,  5)  die   Orgien.     „Yon  d 
Korykischen  Grotte  aus'^,  so  schreibt  er,  „wird  es  auch  eine 
wohlgegürteten   Manne   schwer,   zu,  den   Höhen  des  Parnass 
zu  gelangen;   die  Höhen   aber   ragen   über  die  Wolken  hinau 
und   die    Thyiaden   rasen   auf   ihnen   dem   Dionysos   und  de 
ApoUon  zu  Ehren";  aTtb  dh  xov  KcoqvkIov  %aX67iov  ijdr]  aal  dvö 
sv^covG)  TtQog  tä  axQa  cctpi^ic^'ai  rov  üaQvaööov.    rä  de  vs(p&- 
t£   kötiv   dv(Dt£Q(D   tä   ccKQa,   xul   al    ©viddag   stcI   tovtoig   r 
/diovv6(p  Tcal  t(p  ^A%61Xg)vi  ^ccCvovr ai.    Mochten  die  göttliche 
Thyiaden  dort  oben  ihr  Wesen  treiben,  so  blieben  die  mensc 
liehen   weiter  unten,  wo  es  auch   zur  Nachtzeit   ohne  Lebe 
gefahr  auszuhalten  war.     Denn  erschien  auch  die  ganze  wer 
Höhe  dem  Dionysos  geweiht,  so  mochte  doch  die  Hocheben 
von  der   wir    sprachen,   und    die   Umgebung   der  Korykisch 
Grotte  den  eigentlichen  Schauplatz  des  Festes  bilden,  den  m 
sich  einigermaßen  hergerichtet  denken  muß.    Es  kam  vor,  d 
unter  besonderen  Umständen,  wenn    die   wallenden  Nebel  d 
Gebirgs    den    Schauplatz   verhüllten,    die    schwärmende    Schi 
sich  in  weite  Ferne  verirrte.     So  war  es  im  phokischen  Krie 
(355  bis  346  v.  Chr.)   geschehen,   daß   sie   den   Pfad   verlöre: 
hatten  und  schließlich  halbtot  im  fernen  Amphissa  anlangten.! 
Auch  hatten  die  Frauen  unter  der  nächtlichen  Kälte,  Winte 

^  Darin  Altar  mit  Inschrift;  Vorderseite:  Evörgarog  \  'AXyiiSäiiov 
ItifißQvöLog  I  eviiöSQLTtoloL  \  TIccvl  Nv[i(pais\  auf  der  oberen  Fläche  bei  de^ 
Escharen  Nv^cp&v  x  .  .  \  Tlavog  Kai  \   QväSav  a  .  .  \  XtasX7iq)9L  \ ;  LoUii 
Athen.  Mitt.  3,  2  S.  154.     Für   6v^6BQinoXoi    ist    offenbar   zu   lesen:    6v^ 
TtBQmoXoig.     Vgl.  Soph.  Antig.  1151:  6olg  aybcc  TtSQiTtoXoLg  QviuiGiv. 

2  Plut.  mul.  virt.  S.  249  c.     Weniger,  Abh.  Thyiaden  S.  10. 


I 


Feralis  exercitus  237 

stürmen  und  Schneegestöber  zu  leiden.*  Dort  oben  auf  den 
Höhen  der  Berge  wurde  nun  das  Nachtfest  mit  der  Erweckung 
des  Dithyrambos,  der  Herbeirufung  des  Dionysos  in  festlichem 
Adventslied,  unter  Fackelglanze  gefeiert.  Von  den  Fackeln  hat 
das  Fest  und  der  Monat  den  Namen.^  Mit  Vorliebe  schildern 
die  attischen  Bühnendichter  das  Treiben  des  Gottes  und  seiner 
Umgebung  und  den  Lichterschein  auf  den  Felshöhen  des 
Pamassos,^  Natürlich  durfte  Darbringung  eines  Opfers  nicht 
fehlen,  und  im  Anschlüsse  daran  mochte  der  Rebensaft  in 
Strömen  fließen.  Das  Nahen  des  Gottes  mußte  dargestellt  und 
gefeiert  werden,  ausgelassener  Festjubel  den  Freudenbringer 
begrüßen.*    Vor  allem  aber  war  den  priesterlichen  Thyiaden  das 


^  Einen  solchen  Fall  schildert  Plutarch  de  primo  frigore  18  S.  953  d. 
Abh.  Thyiaden  a.  0. 

^  Der  Festname  JadacpoQia  ist  jetzt  inschriftlich  bezeugt;  vgl. 
Dittenberger  Sylloge^  II  n.  438.  Dasselbe  bedeutet  (paval  Bay,%iov  Eurip. 
Ion  550.  ^coQOvvtccL  ds  6s  aO'ccvatoi  .  .  .  tQLSTSöLv  (pccvatg  Bgo^Log  im 
delphischen  Hymnos  des  Aristonoos  von  Korinth  Bulletin  de  Corr.  Hell. 
XVII,  1893  S.  561.  0.  Crusius  Die  delphischen  Hymnen,  Philol  53,  1894. 
Ergänzungsheft  S.  5.  15.  Vgl.  Tzetzes  Lyc.  212:  ^avariQQiog  dh  XeyEtaL  cctco 
Tov  diä  cpuv&v  nal  Icc^Litadcov  iTtitBlußd^ai  tu  tovtov  ^vGxriQia. 

^  Vgl.  Aesch.  Eum.  22ff. :  cißa  dh  vvnqxxg^  ^vd'a  KagvTilg  tcbtqcc, 
xoiXrif  (fiXoQVig,  dai^övcov  avccörgocf^'  Bgoiiiog  ^ibi  tov  ^mgov,  ovo' 
cc^vriiiovm,  i^  ovts  BaTt^c^ig  iöXQCctriyriGEV  ^sög.  Aristoph.  Nub.  603  ff. : 
IlaQVUGiav  dg  y,atex(ov  TtEtgccv  6vv  rcsvxaig  GsXccyet  BccTcxccig  ^sXtpiöiv 
i{i7tQE7C(ov,  xco^aöTrjs  ^lövvöog.  Eurip.  Hypsipyle  fr.  752  S.  467  Nauck: 
Jiövvöog,  dg  %'vq6oi6l  y,cd  vEßQcov  doQcctg  "nad^uTtrog  iv  nEVKCclGi  HaQvaGöov 
I  xaT«  Tcridä  %oqev(x)V  ^ag^Evoig  6vv  jEXcpiaiv.  Bacch.  306:  §V  avrov  öipEi 
xanl  AEXcfieiv  TtirgaLg  nrid&vra  avv  itEv-uccieiv  dvKOQVcpov  nXccna  näXXovta 
xal  GEiovra  Bayi%Elov  %Xd8ov.  Ion  714ff. :  i(b  ÖEiQccdEg  HaqvaGov  ititgag 
^%ov6ai  6%6nEXov  ovqccvlov  %''  i'Sgav,  Iva  Baycxtog  a^cpncvQOvg  avixcov 
nEv%(x.g  XaLipriQCi  7cr\Su  vvKtLJtöXoig  a^a  öhv  BdY.%uig.  1125:  Evd^a  tcvq 
%r\8&  Q'Eov  ßay.%Elov.  Soph.  Ant.  1126:  eh  8'  vTthg  8iX6(poLO  nstgag 
GTEQOip  Ötcotce  Xiyvvg,  ^vd-a  Kcagv-Kicci  Nviicpat  6xl%ov6i  Bav,%i8Eg  KaetaXiag 
ts  v&^.  Eur.  Phoen.  233:  oo  Xdiinovoa  tcetqcc  Tcvgog  SvKogvcpov  ciXag 
VTchg  ay.Q(ov  Bcc^xeIcov  JiovvGov. 

^  Bei  Euripides  Ion  550  ff.  hat  Xuthos  dem  Fackelfeste  beigewohnt, 
ist  mit  den  Mainaden  in  Berührung  gekommen  und  glaubt,  im  Fest- 
ransche  {Bcc^xiov  Tcgog  7}8ovaLg)  den  Ion  gezeugt  zu  haben. 


238  Ludwig  Weniger 

Reigentanzen  lieb  und  galt  als  wesentlicher  Bestandteil;  denn 
es  stellte  in  künstlerisclier  Form  das  Schwärmen  der  Mainaden 
des  Mythos  dar.  Gesang,  Musik,  Schwingen  des  Liknon  mit 
einem  vorgestellten  oder  nachgebildeten  Wiegenkinde,  Efeu- 
gewinde, Thyrsosstäbe  und  rauchende  Fackeln,  dazu  große 
brennende  Feuer,  um  Licht  und  Wärme  zu  spenden,  die  stillen, 
schneebedeckten  Bergriesen  im  Hintergrunde,  das  Ziehen  der 
Wolken  und  fahles  Mondlicht:  alles  zusammen  bildete  eine 
großartige  Szenerie,  die  auf  zuschauende  Laien,  auf  die  Seele 
des  Volkes  überhaupt,  offenbar  den  mächtigsten  Eindruck  ge- 
macht hat.  Allein  die  Szene  wechselt;  der  dionysischen  Lust 
folgt  dem  Mythos  gemäß  Entsetzen  und  Trauer.  Fürchterliche 
weiße  Gestalten  nahen;  es  sind  die  „Titanen",  die  das  Götter- 
kind überfallen,  ergreifen,  zerreißen,  die  zuckenden  Glieder  in 
einen  Kessel  werfen  und  auf  dem  Dreifuß  über  das  Feuer 
setzen,  bis  Zeus  dreinfährt  und  die  Unholde  zunichte  macht. 
Daß  auch  dieser  Teil  der  mythischen  Überlieferung  irgendwie 
dargestellt  wurde,  ist  nicht  zu  bezweifeln;  wie  es  aber  ge- 
schah, läßt  sich  nicht  nachweisen.  Flucht,  Verfolgung,  Suchen 
des  Entschwundenen  durch  die  Thyiaden  konnte  man  wieder- 
geben und  findet  anderwärts  Seitenstücke.^  Das  Zerreißen  und 
Kochen  bietet  Schwierigkeiten;  aber  die  Bühnentechnik  hat 
weit  größere  überwunden.  Indes  dürfen  wir  das  Weitere  auf 
sich  beruhen  lassen.  Denn  das  Vorgeführte  wird  genügen,  um 
zu  zeigen,  wie  in  Wirklichkeit  die  Sage  von  dem  Walten  des 
Dionysos  und  seines  Thiasos  und  vom  Überfalle  des  Gottes 
durch  die  weißgefärbten  Daimonen  an  den  Parnassos  geknüpft 
war  und  diesem  Gebirg  in  den  Seelen  der  umwohnenden  Be- 
völkerung einen  eigenartigen,  schauervollen  Reiz  verlieh,  als 
einer  Stätte,  da  es  nicht  geheuer  ist,  wo  unheimliche  Geister 
hausen  und  daemonische  Mächte  ihr  Wesen  treiben,  denen  man, 
wenn  es  möglich  ist,  aus  dem  Wege  geht. 

1  Vgl.  Preller-Eobert   Gr.  M.  1,  689 ff.     F.  A.  Voigt  in  Roschers 
Myth.  L.  1  Sp.  1037  f.  1056. 


Feralis  exercitus  239 

Delphi  und  Tithorea  bilden  die  Endpunkte  der  von  Süd- 
westen nach  Nordosten  in  weitein  Bogen  sich  hinziehenden 
Hauptkette  des  Parnassosgebirges,  und  die  Landschaft  um 
beide  Orte  macht  nach  Tansanias  (10,  1,  1)  das  eigentliche 
alte  Phokerland  aus.  Ebenso  wie  in  Delphi  und  den  darüber- 
liegenden  Berghöhen  darf  man  auch  in  Tithorea  und  dem 
nächstliegenden  Teile  des  Gebirges  die  Bekanntschaft  mit  den 
I  Sagen  von  den  Leiden  des  Dionysos  als  etwas  den  Bewohnern 
Geläufiges  und  Heimisches  voraussetzen.  Die  Entfernung  von 
Delphi  nach  Tithorea  betrug,  wenn  man  den  Weg  über  die 
Berge  nahm,  80  Stadien,  d.  i.  zwei  Meilen;  der  Fahrweg  war 
etwas  weiter  (P.  10,  32,  8).  Im  Volksglauben  erschien  das 
ganze  Parnassosgebirge  durch  die  geheimnisvollen  Vorgänge 
auf  seinen  Höhen  geweiht  und  stand  unter  der  Gewalt  jener 
Unholde^,  wie  bei  uns  der  Harz  in  weitester  Ausdehnung  unter 
ähnlichem  Zauber  liegt.  Der  Hexentanzplatz  ist  vom  Brocken 
weiter  entfernt  als  Delphi  von  Tithorea;  die  Gegend  von 
Schierke  und  Elend  liegt  in  der  Mitte.  Auch  im  Riesengebirge 
ist  Rübezahls  Gewalt  nicht  bloß  an  die  Umgebung  des  Hirsch- 
berger  Tales  gebunden,  sondern  erstreckt  sich,  so  weit  die 
Berge  reichen.  Es  liegt  im  Wesen  des  Volksglaubens,  zu 
verallgemeinern.  Selbst  in  den  lokrischen  Städten  Amphissa 
und  Tritaia  deutet  der  Monatsname  Gigantios,  der  in  Amphissa 
dem  Amalios,  in  Tritaia  dem  Poitropios  der  Delpher,  also 
zweien  der  bakchischen  Wintermonate,  entspricht,  auf  Bekannt- 
schaft mit  der  Titanensage;  die  Giganten  sind,  wie  so  oft, 
an  die  Stelle  der  Titanen  gesetzt.  Aus  Tithorea  weiß  man 
jvom  Dienste  des  Dionysos  und  daran  geknüpfter  Legende 
iwenig.^  Nur  die  Sage  von  Antiope,  die,  von  Dionysos  mit 
'Raserei   bestraft,    dort  von  Phokos    geheilt   und    als  Gemahlin 


^  Strabon  9,  417:  IsQOXQsnrjg  d' iarl  Tcäg  6  IIccQvccaeog  ^xav  avxga 

^  Um    so    mehr    aus    späterer    Zeit    vom    ähnlichen   Dienste   der 
ägyptischen  Gottheiten  Isis  und  Osiris. 


240  Ludwig  Weniger 


I 


heimgeführt  wurde,  ist  in  Tithorea  lokalisiert.  Man  zeigte  im 
Städtchen  das  Grab  der  Heroine,  ein  Mainadengrab  also,  wie 
das  der  Choreia  in  Argos,  der  Kosko,  Baubo,  Thettale  in 
Magnesia  a.  M.,  und  die  ähnlichen  der  Dionysosbräute  Physkoa 
in  Elis  (Orthia)  und  Ariadne  in  Argos.^  Fest  steht,  daß  die 
Bewohner  des  Ortes  und  seiner  Umgegend  völlig  mit  dem 
Gedanken  vertraut  waren,  der  das  Gelingen  der  angewandten 
Kriegslist  allein  ermöglichte,  dem  Gedanken,  daß  in  ihren 
Bergen,  welche  die  hochgelegene  Stadt  überragten,  wie  Frau 
Hütt  das  heutige  Innsbruck,  jene  Titanen  hausten,  die  dem 
Dionysos  den  Untergang  bereitet  hatten  und  seitdem  noch 
immer  zur  Nachtzeit  ihr  unheimliches  Wesen  trieben. 

Besteht  das  Hauptstück  der  vielgefeierten  Orgien  des 
Dionysos  aus  dem  Wechsel  von  höchster  Freude  mit  tiefstem 
Leid  in  der  Erweckung  des  Wiegenkindes  und  seiner  Zer- 
reißung durch  die  Titanen,  so  tritt  als  ein  Einzelzug  der 
Legende  sowohl,  wie  der  dQ6iiEva,  der  in  dem  geschilderten 
Vorgange  für  das  Verständnis  der  phokischen  Kriegslist  be- 
sonders*^ in  Betracht  kommt,  die  Vermummung  der  Verfolger 
hervor,  welche  darin  bestand,  daß  sie  sich  mit  Gips  bestrichen. 
Verkleidung  und  Entstellung  des  Angesichts,  um  etwas  anderes 
vorzustellen,  ist  von  Anbeginn  ein  eigentümlicher  Zug  der 
bakchischen  Religion.  Altertümliche  Figuren  des  Dionysos,  mit 
Mennig  oder  Zinnober  rot  gefärbt,  sah  man  zu  Pausanias'  Zeit 
noch  da  und  dort  in  Griechenland.^  Das  Beschmieren  mit 
Weinhefe,  Ton,  roter  Farbe  und  dergleichen,  dann  auch  Ver- 
hüllen der  Gesichtszüge  mit  Blättern,  findet  sich  früh  im 
Dienste  des  Gottes.  Bekanntlich  hat  sich  daraus  der  Ge- 
brauch der  Maske  im  Drama  entwickelt.  Thespis  zuerst 
soll  das  Gesicht  mit  Bleiweiß  gefärbt,  dann  mit  Portulak 
überzogen,  endlich  Masken  aus  unbemalter  Leinwand  hergestellt 

^  P.  2,  20,  4.  —  Athen.  Mitteügn.  15,  1890,  S.  331  f.;  Rohde  Fsyche^ 
342,  2.  —  P.  2,  23,  8.     Weniger  Kollegium  d.  16.  Fr.  in  Elis  S.  18  ff 
.    *  Vgl.  P.  2,  2,  6.  7,  26,  11.  8,  39,  6. 


Feralis  exercitus  241 

haben.^  Mochte  schon  bei  den  ersten  mimischen  Vorstellungen 
die  Absicht  mitwirken,  sich  unkenntlich  zu  machen  und  als  etwas 
anderes  darzustellen,  einen  abenteuerlichen  Eindruck  hervor- 
zurufen, insbesondere  komische  oder  schreckende  Wirkung  zu 
erzielen,  so  spielt  doch  die  erwähnte  Eigenart  des  dionysischen 
Kultus  dabei  mit,  und  es  ist  wahrscheinlich,  daß  dieser  Zug 
auf  die  Legende  von  der  Verfolgung  des  Gottes  durch  die 
Unholde  und  darüber  hinaus  auf  einen  uralten  Glauben  zurück- 
zuführen ist.^  Für  unseren  Zweck  kommt  es  besonders  auf  die 
weiße  Färbung  an.  Ganz  weiße  Kleider  trugen  auch  die 
Eingeweihten  des  idäischen  Zeus  im  Hinblick  auf  die  Nacht- 
feier  des  Zagreus  nach  dem  Fragment  aus  Euripides'  Kretern 
(v.  10)  vcyvbv  ds  ßiov  teivo^svj  6^  oi)  ^ibg  'IdaCov  ^uv0tr}g 
ysvönr^v,  xal  vvTcrtJCÖXov  ZdyQScog  ßiotäg  tag  %  dyiiocpd'yovg 
dalzag  rsXsöag  MtjtqC  x  oQsCa  dadag  äva(5%G)v^  xal  Kovqtjtcov 
Bd:iXog  ezXrid'riv  o^Lod'sCg.  IldXXsvKa  d^e%cov  suiiata 
(psvyo.  Das  Zeugnis  ist  insofern  von  Wichtigkeit,  als  es  dem 
Zeitalter  Herodots  nicht  fern  steht  und  einen  wohl  mindestens 
ein  Jahrhundert  alten  Brauch  voraussetzt.  Auch  die  weiße 
Färbung  der  Gesichter  war  Sitte  der  Eingeweihten  geworden. 
Dies  geht  aus  dem  Berichte  des  Demosthenes  in  der  Kranz- 
rede über  die  Hilfe  des  jungen  Aischines  bei  dem  nächtlichen 
Treiben  seiner  Mutter  Glaukothea  hervor,  bei  dem  er  den  Ein- 
[zuweihenden  die  Nebris  umtat  und  sie  mit  dem  Ton  und  der 
jKleie  einrieb  (259) :  vsßQ^^cov  %al  ^QatrjQC^cjv  ^al  ^ad'alQcov  tovg 
T6Xov[isvovg  Tial  aTtoiidttcov  rtp  7crjX(p  'Aal  xolg  TtitvQOig. 
Demosthenes'  Erklärer  Harpokration,  der  um  die  Zeit  der 
Antonine  lebte,  führt  die  Auslegung  Sachverständiger  an,  daß 
man  Ton   und  Kleie    denen,    welche    eingeweiht  wurden,    auf- 


^  Vgl.  Albert  Müller  G7\  Bühnenaltertümer  S.  270. 
;  2  Vgl.  die  ^oXosts  in  Orchomenos,  Plut.  Q.  G.  38  S.  299:  xai  v,Xri%'jivai 

Vohq  fihv  ävÖQag  ccvt&v  dvGu^atovvrag  vno  IvTcrig  xat  itevd'ovg  WoXosiSy 
fcvvcig  dk  'OXsiag  olov  oXodg.  kuI  iiexqI'  vvv  'ÖQXOiiBViOL  tccg  UTto  tov  ysvovg 
WTC)  ytcdovöi. 


242  Ludwig  Weniger 

schmierte  im  Hinblick  auf  die  Sage,  daß  die  Titanen  den 
Dionysos  gemißhandelt  hätten,  indem  sie  sich  mit  Gips 
färbten,  um  nicht  kenntlich  zu  werden.^  Das  gehörte  also 
zum  Mysterienapparat.  Besonders  deutlich  sind  die,  wenn 
auch  späten,  doch  auf  alter  Überlieferung  beruhenden  Angaben 
an  verschiedenen  Stellen  im  Epos  des  Nonnos.  So  heißt  es 
6,  170  von  den  Titanen:  akXä  s  yv^(p  ocs^daXer}  xQiöd-svtsg 
iTtCxXoTCa  TtvxXcc  xqoöütcov.  Daß  in  gleicher  Weise  die  Bak- 
chanten  ihr  Angesicht  weiß  färbten,  sagt  der  Dichter  27,  204: 
zvxXa  iLsXaQQCvoio  %Qo6d)7tov  "Ivdcov  XrjidC(DV  XevTcaCvsts 
^vatidi  yvifG).  Ebd^228:  eXsvxaivovto  dh  yvipc) 
livötiJCÖXq).  29,  274:  XQCöag  evd'a  Tcal  avd'a  xaQrjCda  Xsvxddi 
yv^o).  30,  122:  ^al  ov  yvtl^oLO  laxi^eig  avtoßacpfl  ^sd'snov 
TCSKOvi^sva  TivxXa  Ttgoötaitov.  34,  144:  ovdh  iiexoira  ns(pvQ^£va 
Xsvicddi  yv7l}(p^  G)g  TcdQog,  ägyaCvovxo.  47,  732:  6[irjysQ£eg 
ÖS  ütoXlrai  ^vötLTtöXc)  xqCovzo  TCaQtjia  Xsvxddi  yvtl^o). 

Es  ist  wohl  nur  ein  zufälliges  Zusammentreffen,  daß 
tltccvög  neben  yvipog^  öxiQQdg  oder  öxCQog^  Xatvicrj,  die  heUenische 
Bezeichnung  für  das  Mineral  bildet,  welches  wir  als  Gips  be- 
zeichnen.^ Zu  Anfang  scheint  man  Kalk  und  Gips  dem  Namen 
nach  nicht  unterschieden  zu  haben.  Später  behielt  der  Kalk 
den  Namen  rltccvögf  und,  wenn  er  gebrannt  und  zerschlagen 
war,  den  Namen  7tovCa\  Schon  im  Schiffskataloge  2,  735 
werden  Tixdvoi6  xb  XsvTcä  xdQrjvcc  erwähnt;  dazu  schol.  xCxavog 
il  ocovCa  TcaXsixccL.   diä   xb    öiatpaveg   ovxco   aaXslxai  (nämlich 

^ 'Ano^drtcov:  Jrnioöd'ivris  iv  ro)  vTihg  KtrißLg^&yrog.  ol  fihv  änXoiv,6a- 
TEQOV  dxovovöiv  ccvtl  tov  aTtotp&v  -nccl  ccTCoXviiaLvo^svog  y  äXXoi  dh  tcsqleq- 
yoTEQOv,  olov  ■7tsQL7fXdzT(üv  TOV  TCtiXov  'nccl  XU  TtiTVQa  ToTg  TsXov^evoLgj  ac 
Xiyonsv  ccTto^drtsöQ'ai,  xov  dvdQidvta  nriXo)'  ijXELcpov  yäg  rS)  -jtriXS}  y.al  to 
jtLtvQ(p  rovg  iivofiivovg,  iotfiiiioviisvoL  rä  ^iv&oXoyovfisvcc  itaq  ivioig, 
a}g  agu  ol  Titäveg  tov  ^ iovvaov  iXv^'^vavto  yvipco  y,axa7cXa6cc-. 
lievoi  inl  xm  ^ir}  yvmqi^oi  yEV&6%'cct,'  xovxo  ^ihv  ovv  x6  ^d'og  ixXiTtsiv 
TtriXo)  dh  V6XSQ0V  y,ccxccjtXdxxE6d-ai  vo^i^ov  %dQLv. 

^  Vgl.  Hes.  scut.  141:  itav  iihv  yccQ  xv^Xa  xixdvca  Xcvxra  r  iXicpavv 
TiXi-Ktgo)  t'  vTtoXcc^Tthg  ?rjv. 

'  Blümner  Technologie  2,  140. 


Feralis  exercitus  243 

der  Ort  in  Thessalien*,  Benseier  übersetzt  „Weißenfels"). 
Natürlich  ließ  man  sich  das  Wortspiel  zwischen  tttavog  und 
Tltävsg  nicht  entgehen  und  leitete  auch  die  Bezeichnung  des 
ungelöschten  Kalkes  von  den  mythischen  Titanen  her.^  Es 
läßt  sich  erkennen,  daß  die  Vorstellung  von  der  weißen  Färbung 
der  Titanen  viel  verbreitet  gewesen  ist,  und  nach  dem  vorher 
Entwickelten  muß  sie  auf  einen  alten,  tiefer  begründeten  Sagen- 
zug zurückgeführt  werden.  Allerdings  bleibt  zu  beachten,  daß 
dies  nicht  von  allen  Titanen,  insbesondere  nicht  von  denjenigen 
gilt,  deren  die  Uias  mehrfach  gedenkt^,  sondern  eben  aus- 
schließlich von  den  Unholden  des  Gebirges,  welche  den  Zagreus 
überfallen  und  zerrissen  haben,  und  denen  erst  Onomakritos 
den  Namen  von  Titanen  verschafft  hat  (P.  8,  37,  5). 

Wenn  wir  gesehen  haben,  daß  die  Wahl  der  Nachtzeit, 
die  sagenhafte  Ortlichkeit,  das  Beschmieren  mit  Gips,  wohl- 
geeignet waren,  in  hellenischen  Zeitgenossen  bei  dem  Angriffe 
der  Phoker  den  Gedanken  an  die  mythischen  Titanen  wach- 
zurufen, so  ist  für  das  Gelingen  der  Kriegslist  nicht  ohne  Be- 
deutung, daß  die  Leute,  welche  getäuscht  werden  sollen,  Thessaler 
gewesen  sind.  Die  "fhessaler  standen  durch  lange  Streitig- 
keiten mit  ihren  phokischen  Grenznachbam  in  Verbindung;  sie 
hatten  einige  Hundert  phokischer  Geiseln  in  ihrem  Lande  und 
ihi-erseits  Zivil-  und  Militärbeamte  in  Phokis  gehabt  (oben  S.  223) ; 
so  konnten  sie  mit  phokischem  Glauben  und  Aberglauben  wohl 

*  Strab.  9,  439:  Tlravog  d'ä%o  xov  cv^ßsßri'noTog  avo^idöd^ri'  Xsv- 
x6y£(ov  yccQ  iöZL  rb  %oiQiov  'Agvqg  -nXrieiov  'xal  [tmv  AcpsJT&v,  Thessalien 
war  reich  an  Kreide,  Plin.  35,  17,  57. 

^  Anch  das  alte  Titane  bei  Sikyon  scheint  von  den  weißschimmernden 
Bergwänden  seinen  Namen  erhalten  zu  haben.  Aber  am  Gipfel  haftete 
eine  Ortssage  von  Titan,  dem  Bruder  des  Sonnengottes;  Paus.  2,  11,  5. 
E.  Curtius  Pelop.  2,  501.  Eustath.  B.  2,  735  ixXrid'ri  dh  ovtag  {T^ocvog, 
die  thessalische  Stadt)  anb  t&v  ^ivd^LTicbv  TlravcoVy  ovg  6  xov  ^v^ov 
Zsvg  -KBQdvvolg  ßaXcav  ncctiipQvyE'  di  avtovg  yag  Kai  tb  1^  äyav  7toXii]g 
nccvGsoig  xccl  mg  olov  eItcelv  titavmdovg  ÖLatQvcp&hv  iv  Xid'oig  XsTtrbv 
riravog  avo^dad'Ti,  olov  jtOLvfjg  xivog  TixavtKfjg  ysvoiisvrig  iv  avrcö. 

»  14,  278 f.    273  f.    8,  479.    5,  898. 


I 


244  Ludwig  Weniger 

vertraut  sein.  Es  kommt  nun  aber  hinzu,  daß  die  Bewohner 
Thessaliens  durch  ihre  Nachbarn  in  Thrake,  so  wie  in  den 
angrenzenden  Ländern  von  Hellas,  nicht  nur  die  dionysischen 
Orgien  sehr  gut  kannten,  sondern  auch,  daß  sie  von  allen 
Hellenen  am  meisten  dem  Aberglauben  ergeben  waren.  Das 
thessalische  Pherai  galt  als  Geburtsort  der  Hekate^;  im  nahen 
lolkos  hatten  Medeia  und  Jason  gewohnt.  Kurz,  die  Denk- 
weise der  Thessaler  war  eine  solche,  daß  derartiger  nächtlicher 
Spuk,  wie  ihn  die  phokische  Kriegslist  darstellte,  bei  ihnen  . 
aufs  leichteste  Wirklichkeit  gewann.  ^^Hl 

Dazu    kommt   nun    noch    das    gespenstische    Mondlichi^^ 
Der  Glaube  der  Alten  an  Einwirkung  des  Mondes  bei  Zauberei^, 
und  Hexenspuk   ist  bekannt  und  wohl  begreiflich.     Das  fahle^^j 
Licht  mondbeglänzter  Zaubernacht,  die  den  Sinn  gefangen  hält, 
ließ    zu    allen  Zeiten  wunderbare  Märchenwelt    aufsteigen   uni 
zeigte   die  Dinge   zwar   klar  und  deutlich,   aber  nicht  so,   wi 
bei  Tage,   sondern   mit  Weiß  übergössen,   ein  anderes  Dasein 
der    Farbe    entbehrend.^      Niemand    mehr     als    die    Thessale 
wußten   davon   zu   erzählen,   welche  Einwirkungen   der   Mond 
schein     ausübt.       Ihre     Zauberinnen     verstanden    den     Mond 
herabzuziehen  und  zu  unheimlichen  Dingen,  vornehmlich  zur 
Erregung  der  Liebesleidenschaft,  dienstbar  zu  machen.    Zauber- 
kräuter wurden  im  Mondlichte  gesammelt;  Totenbeschwörung^n 
gelangen   am   besten    bei  Vollmond.     Der   helle  Mondenschein 
zieht   die  Toten   aus   den  Gräbern   heraus,   daß   sie  umgehen^, 
wie  in  Goethes  Totentanz  und  in  Bürgers  Lenore:  „Der  Mond 
der  scheint  so  helle;  Die  Toten  reiten  schnelle."    Auch  diony- 
sischer Spuk  liebt  den  Mondenschein.    „Nächtlich  erscheinender 
Dionysos,    Begleiter    der    Mondgöttin",     vvxtocpasg    ^i6vv66^ 


it, 

] 


1  Tzetz.  ad  Lyc.  1180.    Schol.  Theoer.  2,  36. 

^  Thuk.  7,  44:  hv  dh  waroiLuxia  .  .  .  nm^s  äv  rtg  öaqpwg  rt  ^dei;  riv 
iihv  yäg  Gsliivri  la^Ttga,  kagcov  dh  ovtcog  äXXi]Xovg  ojg  ^v  eEl'qvjj  sUbg  rr\v 
Hhv  oiptv  xov  6ä)(iaTog  Tcgoogäv,   xriv  6h   yv&6iv   tov  oly-slov  aTtiöxstöd'at. 

*  Die  Nachweise  bei  Röscher  Selene  und  Verwandtes,  S.  85.  88.  90. 


Feralis  exercitus  245 

QvvÖQO^is  M7]vi^g,  wird  der  Gott  bei  Nonnos  (44,  218)  an- 
geredet. Nach  alledem  mußten  die  unheimliclien  weißen 
Gestalten  der  Gipsmänner,  die,  im  Mondlichte  blinkend,  von 
dem  sagenumwobenen  Gebirge  heranstürmten,  in  den  vom 
Schlaf  aufgescheuchten  Thessalern  wohl  den  Gedanken  hervor- 
rufen, daß  ein  Außergewöhnliches,  äXXo  rt,  ein  Wunderereignis 
(teQag)  vor  sich  gehe,  und  daß  die  gespenstisch  Nahenden 
aXlovg  tivag  sein  könnten,  ein  Totenheer,  feralis  exercitus,  oder 
wohl  gar  das  dionysische  Heer  der  Titanen.  Denn  daß  es  so 
viele  waren,  ein  ganzes  Heer,  bildete  für  den  Wahnglauben 
kein  Hindernis.  Von  Phalangen  der  Titanen  spricht  schon 
Hesiod  {th.  676).  Man  hatte  sich,  wie  aus  Euripides'  Bakchen 
hervorgeht,  daran  gewöhnt,  den  Kampf  zwischen  Dionysos 
und  seinen  Gegnern  zum  Streite  ganzer,  großer  Scharen  ge- 
steigert zu  denken.  Pentheus  stand  an  der  Spitze  seiner 
Krieger  und  Dionysos  an  der  Spitze  der  Mainaden;  wer  konnte 
wissen,  wie  groß  die  Schar  der  Titanen  war,  die  im  Parnassos 
hausten? 

Auf  den  Aberglauben  solcher  Feinde,  wie  die  Thessaler 
waren,  konnte  ein  kluger  Mann  einen  Plan  bauen,  der  Ge- 
lingen versprach.  Dieser  kluge  Mann  fand  sich;  es  war  der 
elische  Seher  Tellias.  Tellias  spielt  im  Kriege  der  Phoker 
und  Thessaler  eine  so  hervorragende  Rolle,  daß  es  sich  ziemt, 
seiner  Geschichte  näher  zu  treten.  Im  olympischen  Gottes- 
dienste des  Zeus  wirkten  die  beiden  Seherfamilien  der  lamiden 
und  der  Klytiaden.  Obgleich  sich  in  den  Inschriften  gelegent- 
lich mehrere  von  jedem  der  beiden  Geschlechter  verzeichnet 
finden,  so  scheint  doch  in  der  Regel  nur  ein  lamide  und  ein 
Klytiade,  jeder  lebenslang,  den  Dienst  versehen  zu  haben.  Die 
übrigen  Glieder  des  Geschlechts,  welche  ebenfalls  die  heilige 
Weihe  als  Erbteil  besaßen,  auf  die  das  meiste  ankam,  und 
überdies  die  Seherkunst  durch  Gewohnheit  von  Jugend  auf  und 
durch  Unterweisung  der  Väter  erlernt  hatten,  suchten  ihr  Brot 
im  Auslande  zu  verdienen.    Daher  hört  man  von  Sehern  elisch- 

Archiv  f.  Eeligionswissenacliaft  IX  17 


246  Ludwig  "Weniger 

olympisclier  Herkunft  manclierlei  in  der  Geschiclite  ihrer 
Zeit,  besonders  aus  dem  sechsten  und  fünften  Jahrhunderte  v.  Chr., 
als  die  olympische  Mantik  in  Blüte  stand.  Sie  wirkten  nament- 
lich als  Heerespriester,  die,  wie  der  typische  Kalchas  der  Ilias, 
die  Aussichten  wichtiger  Unternehmungen  aus  den  Opfern 
vorausbestimmten,  zugleich  aber  auch  als  politische  und 
strategische  Ratgeber  die  Rolle  von  Diplomaten  spielten,  deren 
kluger  Rat  die  Entwickelung  der  Dinge  nicht  selten  beeinflußt 
hat.  Die  Telliaden  bilden  einen  selbständig  gewordenen  Seiten- 
schößling eines  der  beiden  Sehergeschlechter,  vermutlich  der 
Klytiaden.  Nur  zwei  Vertreter  dieses  Zweiges  sind  bekannter 
geworden:  unser  Tellias,  der  Heerespriester  der  Phoker  im 
Kriege  gegen  die  Thessaler,  sodann  Agesistratos,  den  Herodot 
(9,  37)  den  bedeutendsten  der  Telliaden  nennt,  der  bitterste 
Feind  der  Lakedaimonier  und  ihres  Heerespriesters,  des  Tisa- 
menos,  eines  Klytiaden  aus  lamidenstamme,  durch  Adoption 
zum  Klytiaden  gemacht.  Agesistratos  scheint  der  Sohn  unseres 
Tellias,  dieser  aber  der  Eponymos  des  Telliadengeschlechts 
gewesen  zu  sein. 

Die  olympische  Seherschaft  stand  zu  Delphi  in  naher  Be- 
ziehung, und  das  delphische  Orakel  förderte  die  Stellung  dieser 
Leute  in  Olympia  seinerseits  in  hohem  Grade.^  Kein  Wunder, 
wenn  Tellias  mit  den  delphischen  „Theologen",  deren  Plutarch 
gedenkt^,  d.  h.  Männern,  die  in  der  orphischen  Lehre  wohl- 
bewandert waren  und  danach  diese,  sonst  nur  vereinzelt  vor- 
kommende Bezeichnung  trugen^,  in  Beziehung  trat.  Um  so 
mehr,  als  der  Dionysosdienst  von  Elis,  das  Kollegium  der 
Sechzehn  Frauen,  die  man  als  Thyiaden  bezeichnen  darf,  das 
Epiphanienfest  der  Thyien  mit  dem  Wunder  der  Kesselfüllung, 
an  delphischen  Dionysosdienst  erinnert,    und    selbst    orphische 


^  Paus.  3,  11,  8.    Weniger  Der  heilige  Ölbaum  in  Olympia,  S.  27. 
2  Def.  or.  14,  S.  323.    Nikephoros  bei  Lobeck  Agl.  618. 
^  Lobeck   Agl.  465  ff.  Gerhard    Orpheus   und   die  Orphiker,    S.  74, 
Anm.  152. 


Feralis  exercitus  247 

Beziehungen  nachweisbar  sind.^  So  kannte  Tellias  die  Wunder- 
vorgänge auf  dem  Pamassos  gewiß  sehr  genau,  und  ebenso 
wußte  er  als  Seher  von  Fach  die  Menschen  zu  beurteilen,  wie- 
weit sie  Glauben  entgegenbrachten  oder  versagten.  Aus  solchen 
Ideengängen  eines  klugen  Pfaffen  ist  die  List  erwachsen,  welche, 
ohne  Rücksicht  auf  etwaigen  Zorn  der  Gottheiten,  es  kühnlich 
wagte,  die  Rolle  der  Titanen  zu  übernehmen  und  statt  des 
Dionysoskindes  und  seiner  Thiasoten  den  verblendeten  Thessalem 
den  Untergang  zu  bereiten. 

So  hat  es  sich  gefügt,  daß  dem  schwarzen  Heere  der 
germanischen  Harier  ein  weißes  der  hellenischen  Phoker  gegen- 
übergestellt werden  kann,  ein  halbes  Jahrtausend  älter  als  jenes, 
feralis  exercitus  das  eine,  wie  das  andere,  aus  gleichen  Um- 
ständen erwachsen  und  auf  einem  Aberglauben  beruhend,  der 
Ähnliches  und  Verschiedenes  zum  Vorscheine  bringt,  zuletzt 
aber  doch  auf  dieselbe  Grundan  schauung  zurückführt. 

^  Weniger  Kollegium  der  Sechzehn  Frauen,  S.  13. 


17' 


Walflschinytheii 

Von  L.  Badermaclier  in  Greifswald. 

Merkwürdige  Übereinstimmung  mit  einer  jedem  Philologen 
bekannten  Erzählung  Lucians  zeigt  eine  polynesische  Legende 
von  der  Meerfahrt  des  Rata  und  Nganaoa,  die  bei  Frobenius 
Das  Zeitalter  des  Sonnengottes  S.  63  ff.  am  bequemsten  zu- 
gänglich ist.  Die  Stelle,  die  in  Betracht  kommt,  lautet:  „Aber- 
mals setzten  sie  ihre  Reise  fort,  aber  eine  noch  größere  Gefahr 
harrte  ihrer.  Eines  Tages  rief  der  tapfere  Nganaoa  aus: 
„0  Rata,  hier  ist  ein  großer  Walfisch!"  Das  ungeheure  Maul 
desselben  war  weit  offen,  der  Unterkiefer  war  schon  unter  dem 
Boote  und  der  andere  über  demselben.  Ein  Augenblick  und 
der  Walfisch  hatte  sie  verschlungen.  Nunmehr  brach  Nganaoa 
„der  Drachentöter"  (the  slayer  of  monsters)  seinen  Speer  in 
zwei  Stücke,  und  in  dem  Augenblick,  als  der  Walfisch  sie 
zermalmen  wollte,  richtete  er  die  beiden  Stäbe  in  dem  Rachen 
des  Feindes  auf,  so  daß  er  seine  Kiefer  nicht  zu  schließen  ver- 
mochte. Nganaoa  sprang  schnell  in  das  Maul  des  großen 
Walfisches  und  blickte  in  dessen  Bauch  hinein,  und  was  sah 
er?  Da  saßen  seine  beiden  Eltern,  sein  Vater  Tairitokerau 
und  seine  Mutter  Yaiaroa,  welche  beim  Fischen  von  diesem 
Ungeheuer  der  Tiefe  verschlungen  worden  waren.  Das  Orakel 
hatte  sich  erfüllt;  die  Reise  hatte  ihr  Ziel  erreicht.'^  Nganaoa 
beschließt  nun  die  Flucht;  er  nimmt  einen  von  den  beiden 
Stöcken  aus  dem  Maule  des  Tieres,  zerbricht  ihn  in  zwei  Teile 
und  benutzt  diese  als  Feuerreibehölzer.  Die  Flamme,  durch 
Blasen  angefacht,  ergreift  die  fettigen  Teile  im  Bauche  des 
Wales.  Das  Ungeheuer  stirbt  an  der  inneren  Glut;  Nganaoa 
und  seine  Eltern  entkommen  durch  die  Kiefern  des  Fisches, 
die  mit  dem  Speerholz  auseinandergesperrt  waren. 


L.  Radermacher    Walfischmythen  249 

Auch  in  den  wahren  Geschichten  des  Lucian  (I  94) 
wird  ein  ganzes  Boot  verschluckt;  die  Reisenden  stoßen  im 
Bauch  des  Fisches  auf  andere  Menschen.  Sie  befreien  sich, 
indem  sie  ein  Feuer  anzünden  und  das  Fett  des  Wales  ver- 
brennen. Sie  sperren  das  Maul  des  Fisches  mit  einem  Baum- 
stamme, um  des  Ausweges  sicher  zu  sein;  so  entrinnen  sie 
aus  dem  getöteten  Tier.  Es  gibt  bei  Lucian  einige  groteske 
Übertreibungen,  entsprechend  seiner  Tendenz,  sich  über  die 
lügenhaften  Berichte  der  Reiseromane  lustig  zu  machen,  aber 
diese  Übertreibungen  sind  nach  Ausweis  der  Parallelerzählung 
unbedeutend.  Das  Seltsame  und  Auffallende  ist  die  Überein- 
stimmung der  Züge  bis  ins  einzelne.  Frobenius  hat  das  un- 
bestreitbare Verdienst,  nachgewiesen  zu  haben,  daß  über  die 
ganze  Erde  eine  Erzählung  verbreitet  ist,  nach  der  ein  Mensch 
von  einem  Fisch  (oder  Drachen  oder  Krokodil)  verschluckt 
ward,  aber  dann  lebend  wieder  zum  Vorschein  kam.  Die  Er- 
zählung nimmt  verschiedene  Formen  an;  die  oben  vorgelegte, 
die  bei  den  Aitutakis  (ich  kenne  die  Leute  nicht)  aufgezeichnet 
wurde,  ist  durchaus  singulär,  von  Lucian  hat  Frobenius  nichts 
gewußt,  was  dem  l^thnologen  niemand  verargen  kann.  Wie 
erklärt  sich  die  Übereinstimmung?  Ist  es  eine  Übertragung? 
Dagegen  spricht,  daß  die  Legende  der  Polynesier  noch  wirk- 
licher und  einfacher  Mythos  zu  sein  scheint;  ich  möchte  eher 
glauben,  daß  eine  Erzählung,  die  der  polynesischen  sehr  ähn- 
lich war,  bereits  dem  Lucian  vorgelegen  hat,  und  da  es  von  dem 
Propheten  Jonas  heißt,  daß  er  von  einem  Fisch  verschlungen 
und  wieder  ausgespieen  ward,  so  ist  dieser  Schluß  nicht  zu  kühn. 

Der  polynesische  Häuptling  Rata  baut  sein  Boot  mit  Hilfe 
eines  Reihers,  dem  er  beistand,  als  er  ihn  mit  einer  Schlange 
kämpfend  fand;  die  Vogelhilfe  ist  ein  Zug,  der  in  einer 
bestimmten,  freilich  weit  abliegenden  Gruppe  europäischer 
Märchen  wiederkehrt,  den  Märchen  von  der  vergessenen  Braut 
(Köhler,  Kl.  Sehr.  I  161  ff.).  Der  Reiher  ist  dort  durch  einen 
Raben  ersetzt. 


250  L*  Radermacher 

Das  von  Frobenius  beigebrachte  Material  ist  nacb  ver- 
schiedenen Richtungen  der  Erweiterung  fähig;  seltsamerweise 
ist  gerade  Europa  bei  ihm  zu  kurz  gekommen.  Seit  geraumer 
Zeit  ist  eine  Sage  aus  Livland  veröffentlicht,  die  die  einfachen 
Elemente  der  Lucianerzählung  enthält  (F.  Bienemann,  Liv- 
ländisches  Sagenbuch  S.  2).  Ein  Fischer  in  der  Ostsee  wird 
mitsamt  seinem  Boot  von  einem  ungeheuren  Wal  verschlungen, 
zündet  Feuer  im  Bauche  des  Tieres  an  und  wird  wieder  aus- 
gespieen. Ich  weise  noch  auf  eine  weitere  Erzählung  hin,  die 
einen  Ausblick  auf  griechische  Sage  eröffnet;  es  ist  ein  Märchen 
der  Angolaneger  (Froh.  S.  115).  Der  Held,  Sudika  Mbambi  mit 
Namen,  wandert  in  die  Unterwelt  und  fordert  von  dem  Unter- 
weltsbeherrscher dessen  Tochter  zur  Frau.  Er  soll  sie  sich  durch 
Lösung  verschiedener  Aufgaben  verdienen;  darunter  figuriert 
der  Kampf  mit  einem  Ungeheuer,  dessen  (Drachen-) Köpfe  auf 
einem  Felde  hervorwachsen.  Die  letzte  Aufgabe  ist,  den  großen 
„Krokodilfisch"  zu  töten,  der  die  Schweine  und  Ziegen  des 
Unterweltsherrn  gefangen  hat.  Bei  diesem  Abenteuer  wird 
Sudika  von  dem  Fische  verschlungen,  aber  durch  seinen  jüngeren 
Bruder  aus  dem  Bauche  des  Tieres  befreit  und  wieder  belebt. 
Hierzu  stimmt  in  vielen  Punkten  ein  finnisches  Märchen  (bei 
Emmy  Schreck,  S.  3  ff.)  von  dem  Schmied  Ilmarinen,  der  übers 
Meer  fährt,  um  die  Tochter  des  Teufelskönigs  zu  gewinnen. 
Ilmarinen  pflügt  ein  Schlangenfeld,  er  hat  einen  Kampf  mit 
einem  Seeungeheuer,  das  den  Brautschatz  der  schönen  Katrin  in 
seinem  Besitz  verwahrt.  Er  wird  verschlungen,  befreit  sich  aber 
aus  dem  Magen  des  Fisches,  indem  er  einen  eisernen  Yogel  an- 
fertigt, der  jenem  die  Eingeweide  zerreißt.  Ich  weise  noch  einmal 
(vgl.  Das  Jenseits  im  Mythos  der  Hellenen  S.  65  ff.)  darauf  hin,  daß 
griechische  Legende  Ahnliches  von  Jason  auf  Kolchis  berichtete. 
Ehe  er  die  Medeia  und  das  goldene  Vlies  gewann,  ward  er  von 
der  schatzhütenden  Schlange  verschlungen,  aber,  wahrscheinlich 
durch  das  Eingreifen  der  Athene,  wieder  ans  Licht  gerettet.  Dem 
Helden  Jason  war  auch  die  Aufgabe  gestellt,  mit  Hilfe  von  feuer- 


Walfischmythen  251 

sciliiaubendeii  Stieren  ein  Feld  zu  pflügen  und  Schlangenzähne  zu 
säen,  aus  denen  in  diesem  Fall  gewappnete  Männer  hervorwachsen. 
Ich  möchte  weiterhin  auf  ein  ungarisches  Märchen  aufmerk- 
sam machen,  das  eine  eigenartige  Version  der  weitverbreiteten 
Legende   enthält.     Es   ist    durch   Wlislocki    (Volksglaube    und 
relig.  Brauch  der  Magyaren  S.  54)  nach  der  Sammlung  Kalmanys 
übersetzt  und  darum  besonders  lehrreich,   weil  es  unverfälschte 
Mythologie   gibt.     Sonne,  Mond  und  Stern,   die   drei  Töchter 
eines   Königs,    sind   von   drei  Drachen  geraubt  worden.     Drei 
Brüder    der    Prinzessinnen    ziehen    aus,    ihre    Schwestern    zu 
befreien.     Als   der  siebenköpfige    Drache   erschlagen   ward,   da 
wurden  daheim  die  Sterne  sichtbar,  nach  dem  Tode  des  neun- 
köpfigen leuchtete  der  Mond,   nach  dem  Tode  des  elfköpfigen 
schien   wieder   die   Sonne.     Das   Folgende   gebe    ich    wörtlich: 
'Sie  gingen  nun  heimwärts;  die  Sonne  folgte  ihnen  nach;  sie 
kamen   hin   zum  Monde,   zu    ihrer   mittleren   Schwester;    auch 
die  ging  nun  mit  ihnen;    hierauf  gingen  sie  zur  Sternenmaid, 
und    auch    diese   folgte   ihnen   nach.      Als    sie    weiter   gingen, 
sprach   zu   ihnen    der   Alteste,   Janos:    „Geht   nur  weiter,   ich 
komme  bald   nach!"  '  Er   ging   in   eine  Steinburg  hinein   und 
i  suchte    dort   einen   Schmied  auf,  bei  dem   er   einen  Topf  voll 
I  Blei    schmelzen   ließ.     Dort    stand    außerhalb    der    Steinmauer 
eine  Hexe;  Janos  aber  befand  sich  innerhalb.     Sprach  zu  ihm 
die  Hexe:  „Ich  möchte,  daß  du  die  Steine  so  weit  wegräumst, 
daß  ich  dich  bis  zum  Halse  sehe."     Er  räumte  die  Steine  weg. 
Nun  sprach  die  Hexe:  „Ich  möchte,  daß  du  die  Steine  so  weit 
wegräumst,  daß   ich  dich  bis  zum  Gürtel  sehe."     Nun  räumte 
I  Janos  bis  zu  seinem  Gürtel  die  Steine  weg  und  hielt  den  Topf 
j  voll  geschmolzenem   Blei  in  der   Hand   hinter   sich   versteckt. 
;  Sprach  zu  ihm  die  alte  Hexe:  „Ich  möchte  gerne,  daß  du  die 
I  Steine  so  weit  wegräumst,   daß  ich   dich  bis  zur  Sohle  sehe." 
j  Er  räumte    sie    weg.     Sprach   nun    zu   ihm   die  Hexe:    „Jetzt 
j  verschlinge  ich  dich,   weil  du  meine  Söhne  getötet  hast!"  — 
j  „Nun    also",   versetzte    Janos,   „sperr    auf    dein   Maul,    damit 


252  I^-  Radermacher    Walfischmytlien 

ich  hineinspringe!"  Sie  öffnete  ihr  Maul,  und  Janos  warf  ihr 
den  Topf  voll  siedendem  Blei  in  den  Rachen.  Die  alte  Hexe 
verreckte.'  Der  eigentümliche  Schluß  hat  in  der  verwandten 
Literatur  seine  Analogien.  Auch  in  einer  Erzählung  von  West- 
neuguinea (Froh.  S.  70  vgl.  S.  149)  wird  der  Held  von  der 
Schlange  nicht  verschlungen,  sondern  wirft  ihr  in  den  geöffneten 
Rachen  erhitzte  Steine,  die  verschluckt  werden  und  die  Schlange 
töten.  Gewiß  ist  das  Motiv  des  Feueranzündens  im  Inneren 
ursprünglicher.  Mit  dem  ungarischen  Märchen  verwandt  ist  ein 
russisches  von  Iwan  Kuhsohn  dem  Sturmritter  (aus  Afanassjews 
Sammlung  jetzt  zugänglich  in  der  Übersetzung  von  A.  Meyer, 
Wien  1906  Bd.  I  Nr.  27).  Drei  Drachen  werden  erschlagen;  ihre 
Mutter,  die  Hexe,  verwandelt  sich  in  ein  Schwein  und  verschlingt 
von  den  drei  Brüdern  zweie;  da  nimmt  der  dritte  das  Schwein  bei 
beiden  Ohren  —  ^es  räusperte  sich  und  beide  Brüder  sprangen 
heraus'.  Eine  Dublette  hierzu  ist  Nr.  32  (Der  Soldat  und  der  Teu- 
fel); die  Schwester  der  drei  Drachen  in  Löwengestalt  verschluckt 
einen  Bruder,  wird  jedoch  gezwungen,  ihn  wieder  auszuspeien. 
Es  handelt  sich  um  Fragen,  über  die  das  letzte  Wort 
noch  nicht  gesprochen  ist.  Eine,  wenngleich  bescheidene  Ver- 
mehrung des  Materials  dürfte  da  nicht  unwillkommen  sein. 
Neues  strömt  immerfort  hinzu.  In  den  eben  durch  Kunos  ver- 
öffentlichten Türkischen  Volksmärchen  aus  Stambul  (Leyden 
1905)  erzählt  gleich  das  zweite  (S.  3  ff.)  von  einer  Sultanin,  die 
im  Bauche  eines  Fisches  gar  einem  Knaben  das  Leben  gibt. 
Der  Fisch  wird  gefangen  und  aufgeschlitzt,  wie  im  indischen 
Märchen.  „Und  was  erblickt  der  Padischah?  Seine  Gattin  im 
Fischmagen,  eine  goldene  Trinkschale  in  der  Hand,  silberne 
Schuhe  an  beiden  Füßen,  in  den  Armen  einen  kleinen  Sohn 
haltend."  Unter  den  Märchen  der  Südslaven  (Krauß  I  S.  291  ff.) 
findet  sich  eine  ähnliche  Erzählung,  die  dennoch  originale  Züge 
enthält.  Denn  die  junge  Frau  verwandelt  sich  in  einen  Vogel, 
den  ^der  große  Fisch'  verschluckt;  man  fängt  den  Fisch,  öffiiet 
seinen  Leib  und  findet  die  Gräfin  noch  am  Leben. 


St.  Lucia,  auf  germaniscliein  Boden 

Von  M.  Höfler  in  Bad  Tölz. 

St.  Lucia  (f  300)  wird  am  13.  Dezember  gefeiert.  Ihr 
Name  (lucens  =  leuchtend)  wurde  maßgebend  für  diese  Tages- 
wahl; denn  seit  Karl  d.  Gr.  hat  der  12.  Dezember  den  Namen 
St.  Luciennacht,  und  diese  entsprach  im  Volksbrauche  der 
später  fallenden  Perchtennacht;  von  da  ab  begann,  weil  diese 
nach  früherer  Annahme  die  längste  Nacht  war,  die  Sonne 
wieder  länger  zu  leuchten  [ygl.  altsächs.  thiu  berhta  sunna  = 
sei  lucens  (Heliand) ;  und  ahd.  giperahta  naht  =  die  leuchtende 
Nacht]. 

Als  Licht  bringender   Tag   [Lucifer]   hatte   durch  Volks- 
etymologie   auch    dieser   Heiligentag   bzw.    die    h.   Lucia   Be- 
ziehung zum  Augenlichte  wie  die  auf  den  gleichen  Tag  fallende 
St.  Ottilia^;  sie  wurde  zur  Patronin  der  Blinden;  sie  trägt  zwei 
ausgestochene  Augen  in  einer  Schale  oder  hält  eine  leuchtende 
Lampe   in   der   Hand;   nach    der  Volkslegende    war   sie    blind 
geboren;  in  Oberitalien  (Colle  de  S.  Lucia)  werden  vor  ihrem 
1  Bilde  und  am  dort  befindlichen  Kirchenbrunnen  mittelst  zweier, 
I  in  letzterem    angefeuchteter   und    mit    verschiedenen    seidenen 
I  Bändern  umwickelter,   ca.  Y2  ^  langer  Holzstäbe   die  kranken 
1  Augen  berührt.     „St.  Lucienschein"  heißt  auch  das  Triefauge. 
\  Ihre  volksmedizinische  Wertschätzung   ergibt  sich  auch  durch 
I  ihr  Patronat   für   weibliche    Blutflüsse;    auch  das  Lucianskraut 
I  (Arnica    montana)   hat  wohl  Beziehung   zur  St.  Lucia,    ebenso 

^  Hammarstedt,  Lussi  23  bringt  das  schwedische  Blindebock-  und 
I  das   deutsche  Blindekuhspiel  in  Beziehung  zu   dem  Runenkalender,  der 
für  St.  Luciatag  ein  blindes  Tierhaupt  als  Tageszeichen  hat. 


254  M.  Höfler 

das  Lucienliolz  (Prunus  padus),  worunter  man  allerdings 
ursprünglicli  Prunus  Mahaleb  verstand,  die  am  Minoritenkloster 
St.  Lucie  bei  Michel  ihren  Standort  hatte.  Wie  die  in  der 
Mittwinterzeit  besonders  gefeierte  Perchta  wurde  die  h.  Lucie 
auch  die  „Spinnerin"  genannt  und  ist  sie  in  den  Niederlanden 
Patronin  der  Weber  (Volkskunde,  Tijdschrift  voor  nederlandsche 
Folklore  1901.  25)*,  wie  Frau  Perchta  oder  Frau  Fasten,  so 
erhebt  sich  „Frau  Lutze"  als  Kalenderheilige  aus  dem  Schwärme 
der  in  der  längsten  Nacht  umziehenden  Geister.  Das  St.  Lucien- 
kreuz,  in  Weidenrinden  geschnitten,  vertreibt  die  Geisterschar. 
Um  diese  Zeit  war  im  15.  Jahrhundert  der  Aderlaß  als  Krankheit- 
Prophylaxis  üblich;  die  alten  Leute  ließen  sich  am  St.  Lucien- 
abend  an  den  Schienbeinen  zur  Ader,  während  man  die  jungen 
Leute  am  Mittwoch,  Donnerstag  und  Freitag  nach  Lucie  an 
der  Frauenader  „mittelte"  (ein  von  der  Medianader  über- 
tragener terminus  technicus  der  Aderlasser)  oder  mit  Pillen 
arzeneite.  Solche  Aderlaßtage  haben  sehr  häufig  Beziehung 
zu  althergebrachten  Kultzeiten,  in  denen  man  die  Krankheits- 
dämonen besonders  scheute  und  zu  vertreiben  suchte  (siehe 
Archiv  f.  Relig.-W.  II  95);  solche  Tage  waren  nach  römischem 
Vorbilde  u.  a.  die  Solstitien.  Mit  St.  Lucientag  begann  im 
14.  Jahrhundert  die  Winterzeit,  welche  bis  St.  Gertraudstag 
nach  den  Kalendermachern  dauerte;  damit  erklärt  sich  auch, 
daß  im  germanischen  Norden,  z.  B.  in  Västmanland,  St.  Lucien- 
tag als  lilla  jul  =  kleine  Jul-Zeit  bezeichnet  wurde;  nach 
E.Hammarstedt  (Omen  fomordisk  arstredelning  251  und  Lussi  11) 
heißt  die  Luciennacht  beim  schwedischen  Landvolke  modematten 
(=  Mutternacht)  als  Erzeugerin  der  kommenden  Jahresnächte, 
eine  Bezeichnung,  die  sonst  der  Julzeit  zukommt  und  schon 
im  Angelsächsischen  (modra-niht)  für  die  Weihnacht  oder 
Mittwinternacht  galt.  Noch  bei  Hans  Sachs  (1612)  „bringt 
Lucia  die  längsten  Nacht"  (Schmeller,  Bayerisches  Wörter- 
buch^ I  1550);  diese  Zeit  war  wegen  des  Schwarmes  der  Dunkel- 
Eiben  sehr  gefürchtet. 


St.  Lucia,  auf  germanischem  Boden  255 

Nach  den  Niederlausitzer  Mitteilungen  V  (1898)  Q6  und 
E.  H.  Meyer  (Volkskunde  252)  sind  auch  noch  in  Deutschland 
die  Hexen  am  St.  Lucientage  sehr  rührig  und  schreibt  man 
zum  Schutze  vor  demselben  Kreuze  über  die  Stalltüren,  wie 
sonst  am  h.  DreikÖnigstage  die  Zeichen:  +  C  +  M  +  B. 

Praetorius  (1668)  schreibt  in  seinem  Blocksberg  513:  „man 
lieset  von  den  Teuffein  und  Gespensten  ingemein,  daß  sie  vor 
allen  andern  Zeiten  heuffig  verspüret  werden  am  Tage  oder 
Feste  . . .  Luciae."  Olaus  Worm  (1643)  spottet  über  diese  lange 
Nacht;  sie  soU  so  lange  währen,  daß  die  Ochsen  aus  Hunger 
zuweilen  an  ihren  eigenen  Klauen  nagen. 

Nach  J.  Colers  Calendarium  perpetuum  oeconomicum  (1613) 
war  St.  Lucienfest  ein  Solstitium  der  Winterzeit  (vgl.  auch 
W.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  II  186). 

St.  Luciennacht  hat  also  die  Bedeutung  eines  Vorabends 
vor  einem  neubeginnenden  Jahre;  die  schwedische  Lucienbraut 
(lussibrud,  auch  lussi  genannt),  welche  am  Lucienabend  mit 
einem  glänzenden  Lichterkranze  am  Haupte  von  Gehöft  zu 
Gehöft  zieht,  ist  nur  eine  Personifikation  des  kommenden 
Jahres.  Als  Neujahrstagsgebräuche  sind  demnach  auch  die 
Volksgebräuche  des  St.  Lucientages  aufzufassen.  Der  Seelen- 
kult mit  der  Speisung  der  unterirdischen  Wesen  oder  der  Ver- 
storbenen muß  sich  dann  ebenso  bemerkbar  machen;  derselbe 
[Verlangte  eine  feste  Bindung  an  die  hergebrachte  Speiseordnung; 
!wer  sich  gegen  letztere  vergeht,  dem  schneidet  die  Perchta 
zur  Strafe  den  Leib  auf;  deshalb  ist  auch  „Frau  Luz"  wie 
jdiese  eine  Bauchaufschneiderin  (Grimm  Mytholog.^  1212).  Diese 
ISeelenspeisung  verlangt  gewisse  Opferspeisen  und  -Getränke; 
|die  schwedische  weißgekleidete  Lucienbraut  trägt  in  den  Händen 
leinen  Napf  mit  starkem  Bier  (öl),  den  sie,  mit  dem  Lichter- 
ikranze  auf  dem  Haupte,  ins  Haus  trägt;  so  erscheint  auch  an 
den  Quatemberfasten  (16.  Dezember)  noch  heute  im  Kloster 
jLüne  (gegenwärtig  ein  sog.  Damenstift)  ein  weißgekleidetes 
Mädchen,  welches  in  einer  uralten  Schale  eine  Kaltschale  oder 


256  M.  Höfler 

Weinsuppe  dem  Pastor  im  Auftrage  der  Äbtissin  übergibt; 
hier  ist  der  Pastor,  wie  öfter,  der  Empfänger  des  üblicben 
Seelenopfers.  Je  reicbliclier  diese  Seelenspeisung  ausfällt  — 
plenius  inde  recreantur  mortui;  so  sagen  auch  die  scbwediscben 
Bauern:  „sä  öfverflödigt  man  firade  lussi-högtiden,  sä  ymnigt 
skulle  det  nya  äret  blifva"  (Hammarstedt,  Svenska  Polket  478 
in  Sveriges  Rike  III  6  und  Lussi  15).  Auch  in  Deutschland 
gab  es  darum  eine  „verfressene,  versoffene  Luzei",  und  der 
Altbayer  kennt  ebenfalls  eine  „Bier-  und  Branntwein -LutzP^ 
An  dieses  näcbtliche  Seelenopfer  erinnert  auch  der  scbwediscbe 
„Lucienbissen"  (Lusse-biten,  Lucie-betan),  gebratener  Speck 
begleitet  mit  einem  Trünke  Branntwein  und  mit  Brot,  welcher 
Imbiß  [wie  in  Süddeutschland  die  weihnächtlichen  Mettenwürste 
oder  der  Julgalt  in  Schweden]  in  der  Luciennacht  1 — 2  Uhr 
an  alle  Hauspersonen  als  erste  Mahlzeit  verteilt  wird,  worauf 
sich  letztere  wieder  zu  Bett  legen.  An  diesen  fleischlichen  und 
vegetabilischen  Imbiß  der  Schweden  erinnert  anderseits  wieder 
der  um  zwei  Tage  früher,  am  11.  Dezember  beim  Kloster 
Kremsmünster  in  Oberösterreich  gefeierte  sog.  Gespendt-  oder 
Karnisseltag,  welcher  angeblich  der  Stiftungstag  des  Klosters 
sein  soll,  der  aber  historisch  nicht  über  das  14.  Jahrhundert 
hinausgeht.  Der  Name  des  Tages  [carnis  seil,  dies,  daraus 
Carnissel,  wie  Laetizl  aus  laetitium],  seine  Bezeichnung  als 
„Spendetag",  der  ganze  Brauch,  seine  zeitliche  Koinzidenz  mit 
dem  Lucientage  und  der  längsten  Nacht  sprechen  für  einen 
Seelenkulttag,  der  mit  üppiger  Fleischverzehrung  einherging. 
welche  als  eine  Art  Agape  funeralis  mitten  in  der  christlichen 
Adventfasten  mit  dem  angeblichen  Stiftungstage  des  Klosters 
in  Zusammenhang  gebracht  wurde  und  als  klösterliche  Fleisch- 
und  Brotspende  fortlebte.  Zur  Zeit  der  Gründung  von  Krems- 
münster 777  durch  den  Bayernherzog  Thassilo  galt  die  nach- 
folgende längste  Nacht  als  Winterbeginn,  der  sicher  mit  einen: 
althergebrachten  Totenkulte  oder  einer  Seelenspeisung  verbunder 
war.     Pfarrer  Hansjacob  (Letzte  Fahrten  1902.  S.  205)  schreib] 


St.  Lucia,  auf  gennanischeni  Boden  257 

darüber:  Bis  1773  bekam  jede  Person  ein  halbes  Pfund  Ocbsen- 
fleiscb  und  ein  zweipfündiges  schwarzes  Laibl  (dessen  primitive 
Farbe  schon  für  Seelenkult  spricht;  siehe  Spendebrot  bei  Sterbe- 
fäUen  im  Globus,  Band  LXXX  1901,  S.  91,  und  Allerseelentags- 
gebäcke  in  Beilage  zur  Allgem.  Ztg.  271.  1901.  25.  Nov.); 
zwischen  15 — 30000  Menschen  wallten  alljährlich  am  Kamissel- 
tag  dem  Stifte  zu,  wo  im  äußeren  Klosterhofe  die  Spendung 
vor  sich  ging;  die  Brotverteilung  allein  dauerte  von  12  bis 
4  —  5  Uhr;  auch  die  Nachbarklöster  (jüngerer  Gründungszeit) 
bekamen  an  diesem  Fleischtage  eine  Spende,  so  z.  B.  die 
Kapuziner  in  Wels  zwei  Ochsenhäute  zu  Sandalen;  am  eigentlichen 
Stiftertage,  dem  11.  Dezember,  wurden  die  Schulmeister,  die 
Hofmaier,  die  Totengräber  aller  Stiftspfarreien  gespeist;  jeder 
Gast  an  der  Prälatentafel  erhielt  an  diesem  Tage  einen  Laib 
Brot  und  ein  sog.  „Tafelstück"  Fleisch  im  Gewicht  von  fünf 
Pfund,  jeder  Mönch  Brot  und  vier  Pfund  Fleisch,  jeder  Student 
Brot  und  zwei  Pfund  Fleisch  und  ähnlich  jeder  Klosterdiener 
und  Beamte,  je  nach  seiner  Stellung;  ging  Fleisch  oder  Brot 
aus,  so  wurde  die  Entgeltung  oder  Vergütung  in  Geld  geleistet. 
Der  ganze  klösterliche  Brauch  entspricht  sicher  mehr  einer 
Gildenfeier  aus  heidnischer  Zeit  als  einem  christlichen  Stiftungs- 
feste. Im  schwedischen  Värmland  besteht  in  bezug  auf  das 
St.  Lucienfest  mit  seiner  überreichen  Verpflegung  die  alte  Sage, 
daß  in  längst  verflossenen  Zeiten  bei  einer  schweren  Hungers- 
not eine  Frau  namens  Lucia  sich  in  Lichtgestalt  auf  einem 
j Schiffe  bei  Vänern  geoffenbart  habe;  mit  diesem  Schiffe,  welches 
i  beladen  war  mit  Fleisch  und  Bier,  soll  sie  von  Strand  zu 
Strand  gefahren  sein,  um  ihre  Güter  an  die  Bedürftigen  zu 
I  verteilen,  und  seitdem  sei  es  zu  ihrem  Andenken  und  zu  ihrer 
Ehre,  daß  man  den  Lucientag  mit  Essen  und  Trinken  feiere 
(Hammarstedt,  Lussi  5).  Die  Übereinstimmung  mit  der  Legende 
des  h.  Nikolaus  (6.  Dezember)  ist  noch  größer  in  der  anderen, 
i  ebenfalls  aus  Schwedisch- Värmland  stammenden  Sage,  wonach 
ein  reicher  Spanier  namens  Lucian   nach  Schweden,  wo  eine 


258  ^-  Höfler 

Hungersnot  herrsclite,  mit  einer  Schiffslast  voll  Getreide  ge- 
fahren sei,  und  daß  man  seitdem  ihm  zu  Ehren  den  Lucientag 
feiere  (1.  c.  6). 

Sicherlich  mußte  der  Kirche  viel  daran  liegen,  diese 
Freßgelage  an  den  mit  einer  Totenfeier  oder  mit  einem  Seelen- 
kulte verbundenen  Volksfesten  in  mildere  Bahnen  zu  leiten 
und  durch  Bußordnungen  dem  orgienartigen  Treiben  entgegen 
zu  wirken. 

Als  ein  solches  Mittel  dienten  die  Fastengebote  einersei 
und  die  Umwandlung  der  Fleischgerichte  in  symbolisieren^ 
Gebildbrote.  Es  kann  uns  darum  nicht  wundem,  wenn 
bei  den  viel  später  christianisierten  Nordgermanen  das  Opfe 
oder  Spendefleisch,  oder  wie  der  Tiroler  sagt,  das  „schlachti^ 
Stuck"  dieser  St.  Lucienzeit  in  ein  das  tierische  Schienbein 
nachahmendes  Gebildbrot,  das  St.  Lucienbrot,  verwandelt  sehen, 
welches  mit  der  mehrfachen  Verlegung  des  Neujahrsfestes  auch 
auf  diese  verschiedenen  Neujahrstage  sich  übertrug;  Volkssitte_ 
und  Volksbrauch  sind  viel  hartnäckiger,  als  man  für  gewÖhnli( 
glaubt;  auch  die  christliche  Kirche  mußte  sich  dem  He 
gebrachten  anbequemen,  und  sie  verstand  es,  auch  unt 
Schonung  der  Rechte  und  Pflichten,  das  rohe  heidnische  Fes 
gelage  unter  andere  Formen  zu  bringen.  Wir  haben  schon 
der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  1903  S.  436  üb^ 
das  schwedische  Julbrot  und  Lucienbrot  gesprochen  und  doi 
auf  Grund  zahlreicher  Parallelgebäcke  dasselbe  den  sog.  Knauf- 
gebäcken  zugereiht,  welche  ihren  Urtypus  im  tierischen 
Schienbeine  haben,  und  welche  meistens  ein  Neujahrsgebäck 
sind;  so  verwandelte  sich  das  „Stück"  (verteilter  Fleischimbiß) 
in  eine  Fastenspeise,  in  ein  Knochengebäck  mit  je  zwei  oberen 
bzw.  unteren  Condylenknäufen  und  mit  einer  rundlichen  mittleren, 
dem  Fleischbrote  entsprechenden  Verdickung.  Dieses  Gebild- 
brot der  nordischen  Julzeit  heißt  dort  nicht  bloß  Lussibröd, 
sondern  auch  Döfvelskatt  (=  Teufelskatze);  letzterer  Name 
entspricht  dem  holsteinischen  Düvkater  (=  Teufelskater),  einem 


st,  Lncia,  auf  germaniscliem  Boden  259 

Gebäcke,  das  in  Friedrichstadt  in  Holstein  zur  Nikolauszeit 
hergestellt  wird.  Yon  Holländern  etwa  1620  bei  ihrer  Nieder- 
lassung dort  eingeführt,  hat  es  sich  seitdem  dort  erhalten  und 
gelangte  auch  als  Teufelskatze  zu  den  Schweden  in  Göteborg; 
Julkuse  (=  Julkalb),  Teufelskatze  und  Teufelskater  haben  als 
Gebäcke  oder  Gebildbrote  den  gleichen  Typus,  nämlich,  wie 
schon  erwähnt,  den  des  tierischen  Schienbeins,  d.  h.  des  aus- 
geschlachteten Fleischopferstückes.  Über  die  Deutung  der 
Namen  Teufelskatze  haben  wir  uns  schon  an  der  erwähnten 
Stelle  (Zeitschr.  d.  Y.  f.  Volksk.  1903  S.  436  ff.)  ausgesprochen 
und  verweisen  auf  letztere,  um  Wiederholungen  zu  ver- 
meiden. 

Auch    in   Niederbayern    ist    der    St.  Lucientag    ein   etwas 

abgeblaßter    Bauernfeiertag;     denn    nach    Schlicht    (Bayerisch 

[Land  521)    gibt    es    an    demselben     sog.   Weizennudel    (aus 

einerem,    besseren    Mehle)    und    sog.    Eierwacker,    eine    aus 

emmelschnitten,    Milchkäse,    Gewürz    und    Eiern    verfertigte 

ehlspeise,   zu  der  die  Dirne   die    Ingredienzen   sammelt    oder 

zusammenträgt,   also  eine  Art  „Zemede",   wie  sie   das  Sippen- 

pder  Gildenopfer  vorstellt,   welches   an  Seelenkulttagen   üblich 

fv^ar.     In   Norwegen   waren  die   Luciennächte   gefürchtet,   weil 

m  ihnen  die  Toten  einander  trafen,   die  als  wilde  Jagd  „jola- 

•eiden"  (Julreiten)  dahinsausen  und  Menschen  mit  sich  nehmen; 

|im    sich    vor    diesem    Seelen-    oder    Totenzuge    zu    schützen, 

Schüttete   man   dort  Julbier   über  Bäume   aus,  weil  diese  Ge- 

^pensterwesen   nach   diesem  Tranke   besonders   gelüstig   wären. 

In  Böhmen  hat  St.  Lucie   sogar   deutliche   Beziehung    zu 

ien    drei    Schicksalsfrauen.      E.  H.  Meyer    (Wuttke^   S.  177) 

)ringt  diese  drei  Töchter  der  h.  Lucia,  wovon  die  erste  spann, 

lie  zweite  aufwickelte,   die  dritte  „weifte*^,  in  Zusammenhang 

uit  den   drei  Nornen   der  Frigg;   ihr  Auftreten  und  ihre  Ver- 

iiindung  mit  St.  Lucia  entsprang  der  Bedeutung  des  Kalender- 

f-ages    der   letzteren,    der   als  Winterbeginn    ein    germanischer 

■^eujahrstag   war;   sonst   erscheinen   die   drei   Schicksalsfrauen 


260  M.  Höfler 

hauptsäclilicli   am  li.  Dreikönigstage   (6.  Januar  =  Großneujahr 
des  Mittelalters). 

Dieser  für  das  Schicksal  des  kommenden  Jahres  so  wichtige 
Tag  macht  sich  auch  im  schwedischen  Yolksglauhen  bemerkbar; 
denn  nach  der  öfters  schon  erwähnten  Quelle  (E.  Hammar- 
stedt,  Lussi  11)  macht  man  dort  in  der  Luciennacht  den 
ärsgäng  (Jahresgang)  nüchtern  und  vollständig  schweigend  zu 
einem  Kreuzweg,  um  Offenbarungen  für  das  zukünftige  Jahr 
hier  zu  erhalten.  Im  schwedischen  Smäland  werden  fünf  bis 
sechs  Los-  oder  Wahrsagenächte  angenommen,  und  unter  diesen 
ist  die  Luciennacht  die  vornehmste.  Lucie,  die  holde,  wird 
vom  schwedischen  und  dänischen  Mädchen  angerufen,  daß  sie 
es  wissen  mache,  wessen  Bett  es  soll  breiten,  wessen  Kind  es 
soll  tragen,  wessen  Schätzlein  es  soll  sein,  in  wessen  Armen 
es  soll  ausschlafen.  Analoges  findet  sich  in  Deutschland  in 
der  Andreas-  und  Thomasnacht. 

Diese  Neujahrstagrolle  kennzeichnet  sich  auch  du 
ungarische  und  kroatische  Yolksgebräuche.  In  Hdd-Me 
Yäsärhely  bäckt  man  am  St.  Lucientage  für  jedes  Famili 
mitglied  je  einen  Kuchen  und  steckt  (als  Symbol  des  Seel 
Opfers)  eine  Hahnenfeder  (pars  pro  toto)  in  jeden  hinein; 
wessen  Feder  dann  im  Backofen  verbrennt,  der  muß  im 
kommenden  Jahre  sterben  (Zeitschr.  d.  V.  f.  Volksk.  1894.  310). 
Wie  in  Deutschland  auf  Weihnachten  (im  Norden  in  der  Jul- 
zeit)  oder  am  modernen  Neujahr,  so  erhält  in  Ungarn  auch 
das  mit  dem  Menschen  symbiotische  Haustier  in  der  Lucien- 
nacht Brot  (und  in  Ungarn  auch  Knoblauch)  zu  fressen 
(1.  eod.  309),  um  des  Segens  der  Kultzeit  teilhaftig  zu  werden. 
In  anderen  Gegenden  Ungarns  soll  man  (vielleicht  als  christlichen 
Gegensatz  zum  heidnischen  Brauche)  am  St.  Lucientage  über- 
haupt kein  Brot  backen,  sonst  mißrät  es  (1.  eod.  310).  Die 
Kroaten  backen  für  Mensch  und  Tier  gerade  an  diesem  Tage 
Maiskuchen,  damit  ihnen  der  Biß  wütender  Hunde  nicht  schade, 
eine  Art  Hubertusbrot,   das  dem  Seelenkulte  und  der  Prophy- 


I 


St.  Lucia,  auf  germanischem  Boden  261 

laxis  vor  Krankheitsdämonen  entsprang  [Ethnolog.  Mitteilungen 
aus  Ungarn  IV  (1895)  173]. 

Wir  haben  demnach  in  dem  St.  Lucientage  ein  Beispiel, 
wie  gewisse  mythologische  und  religiöse  Vorstellungen  des 
Volkes  sich  hartnäckig  an  die  mit  dem  Toten-  oder  Seelen- 
kulte zusammenhängenden  Zeitperioden  des  Jahres  haften.  Zur 
Zeit  des  niedersten  Sonnenstandes  schwärmen  in  der  längsten 
Nacht  des  Jahres  die  Seelengeister,  deren  weibliche  Anführerin 
(in  Begleitung  der  drei  Schicksalsfrauen)  zur  Personifikation  des 
betreffenden  Tages  wird;  die  römisch -christliche  Heilige  Lucia 
tritt  durch  ihren  Namen  an  die  Stelle  einer  einheimischen 
Dämonenanführerin;  sie  übernimmt  damit  auch  fast  alle  Seiten 
dieses  Wesens,  ohne  aber  so  fest  zu  haften  wie  dieses.  Perchta 
und  St.  Lucia  decken  sich  nahezu  ganz  im  Volksglauben  auf 
germanischem  Boden. 


Arcliiv  f.  Keligionswissenschaft  IX 


II  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Vol 
ständigkeit  und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  FüUe  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  8  Heften 
von  2  Jahrgängen  schließen.  Mit  diesem  Band  IX  (1906)  beginnt 
die  neue  Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen 
der  Zeit  seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß 
des  betr.  neuen  Berichts  referiert  werden. 


2  Indonesien 

Von  Dr.  H.  H.  Juynboll  in  Leiden 

Borneo 

Nachdem  Dr.  A.  W.  Nieuwenhuis  1900  in  holländischer 
Sprache  sein  bekanntes  Buch  „In  Centraal  Borneo"  heraus- 
gegeben hatte,  ließ  er  1904  den  ersten  Teil  der  Ergebnisse 
seiner  Reisen  in  den  Jahren  1894,  1896  —  1897  und  1898—1900 
unter  dem  Titel  „Quer  durch  Borneo"  in  deutscher  Sprache 
erscheinen.  Auch  in  diesem  neuen  Buche  sind,  wie  in  dem 
vorigen,  die  religiösen  Yorstellungen  der  Bewohner  Zentral- 
Borneos  ziemlich  ausführlich  behandelt.  Zum  Beweise,  daß 
die  Bahau  sich  selbst  nur  graduell  von  den  Pflanzen,  Tieren 
und   Gesteinen    ihrer  Umgebung    verschieden   vorkommen,  er- 


H.  H.  Juynboll    Indonesien  263 

I  wälint  der  Autor^  daß  dieselben  niclit  nur  sich  selbst,  sondern 
I  auch  allen  belebten  und  unbelebten  Wesen  den  Besitz  von 
Seelen  (bruwä)  zuschreiben  (S.  96).  Die  Meinung,  alles  in  der 
1  Natur  besitze  eine  Seele,  ist  bekanntlich  eines  der  beiden 
I  Hauptdogmen  des  Animismus.  Die  Bahau  fürchten  aber  diese 
!  Seelen  nicht  so  sehr  als  die  Geister  (tö),  die  Donner,  Blitz, 
Regen  und  Wind  verursachen.  Der  Name  derselben  ist  all- 
gemein malaio-polynesisch,  wie  aus  den  verwandten  Sprachen 
(z.  B.  Mal.  hantUj  Mentawei,  Ceram,  Ambon,  Timor,  Sumbawa 
nitu,  Tagal.  anito  usw.)  ersichtlich  ist.  Zur  Vertreibung  dieser 
/()  gebrauchen  die  Bahau  dieselben  Mittel,  die  auch  den  Menschen 
Angst  und  Abscheu  einflößen,  z.  B,  Schwerthiebe,  das  Zeigen 
von  Schädeln  usw.  Die  Donnergeister  (td  helare)  sollen  den- 
jenigen, die  über  Tiere  lachen,  den  Hals  umdrehen.  Während 
die  gewöhnlichen  Leute  die  td  als  die  Urheber  ihrer  Freuden  und 
Leiden  betrachten,  meinen  die  Häuptlinge  und  Priester,  die  ^ö  seien 
nur  Werkzeuge  des  obersten  Gottes,  der  Tamei  Tingei  =  „unser 
hoher  Vater"  genannt  wird.  Dieser  lebt  mit  seiner  Gemahlin 
TJniang  Tmangan  über  allen  anderen  Regionen.  Unter  ihm 
stehen:  Bjäjä  Hipui,  die  Beherrscherin  der  guten  Geister, 
vermählt  mit  Howong  Hwän.  Sie  bewohnt  den  Äpn  Lagän 
oder  die  gute  Geisterwelt.  Unterhalb  dieser  findet  sich  die 
Apu  Kesiö,  von  den  Seelen  der  Verstorbenen  bewohnt.  Dann 
folgt  die  Erde  und  schließlich  die  Unterwelt,  bewohnt  von 
Amei  Awi  und  dessen  Gemahlin  Buring  Une,  welche  die  Erde 
und  den  Ackerbau  beherrschen. 

Tamei  Tingei  beherrscht  das  Lebenslos  der  Menschen.  Er 
ist  allwissend  und  straft  und  belohnt  die  Menschen. 

Bjäjä  Hipui  lebte  einst  als  menschliches  Weib  auf  Erden 
'und  ist  erst  später  nach  dem  Apu  Lagan  gezogen,  nachdem 
.ihr  Sohn  Tekwan  im  Lirong-¥\vi^  ertrunken  war,  Sie  greift 
!auch  in  das  Lebenslos  der  Menschen  ein. 

Die  guten  Geister  des  Apu  Lagan  beseelen  die  Priester, 
jdie  Tätowierkünstler,  Hirschhomschnitzer  und  Schmiede.     Die 

18* 


264  H.  H.  JuynboU 


I 


Bahau  stellen  sieb,  die  bösen  (djä-äh)  Geister  (td)  als  menscben- 
äbnlicbe  Wesen  mit  großen,  dicken  Leibern,  riesigen  Augen  in 
großen  Köpfen  und  scbweren  Hauern  vor.  Die  den  Donner 
und  Blitz  verursacbenden  td  helare  sollen  die  Bäume  aus- 
einanderreißen können. 

Man  meint,  daß  die  bösen  Geister  stark  bewacbsene  Berge, 
dunkle  Waldgebiete  und  Felsböblen  bewobnen,  wesbalb  man 
mit  Steinen  und  Holzstücken  nacb  ibnen  wirft.  Als  Ab- 
scbreckungsmittel  für  böse  Geister  dienen  Figuren  mit  über- 
trieben großen  Genitalien  oder  bloß  Genitalien,  weil  der  Anblick 
dieser  eine  abscbreckende  Wirkung  auf  die  bösen  Geister  übt. 
Aucb  einzelne  Pflanzen,  Zähne  verschiedener  Tierarten  (z.  B. 
Hunde,  Wildkatzen,  Bären,  Panther)  und  Steine  werden  zu 
demselben  Zweck  angewandt. 

Die  bösen  td  haben  für  die  Bahau  mehr  Interesse  als  die 
guten,  weil  die  letzteren  ja  unschädlich  sind. 

Diejenigen,  die  gesündigt  haben,  sterben  im  Kampfe  oder, 
wenn  es  Weiber  sind,  bei  der  Entbindung.  Sie  heißen  dann 
mätei  djä-äk,  d.  h.  eines  schlechten  Todes  gestorben.  Ihre 
Seelen  gelangen  nicht  in  den  Himmel  Apu  Kesio. 

Die  guten  Menschen  aber  sterben  durch  Krankheit  eines 
schönen  Todes  (mätei  saju)j  und  ihre  Seelen  gelangen  naet 
Apu  Kesio, 

Die  Bahau  schreiben  den  Menschen,  ihren  Haustieren  unc 
einzelnen  anderen  Tieren  den  Besitz  von  zwei  Seelen  zu,  dei 
übrigen  Tieren,  Pflanzen  und  toten  Objekten  aber  nur  eine 
Der  Teil  der  Persönlichkeit,  der  zeitweise  den  Körper  verlasser 
kann,  heißt  hruwa  oder  mata  Tcanan  (malaiisch  =  rechtes  Auge) 
der  zeitlebens  im  Körper  bleibende  Teil  aber  ton  luwä  odei 
mata  Mha  (mal.  =  linkes  Auge).  Hierbei  ist  zu  bemerken 
daß  Mha  nicht  malaiisch  ist,  denn  in  dieser  Sprache  ist  linker 
hiri,  im  Javanischen  aber:  Jciwa.  Der  hruwa  liegt  im  Haupt< 
des  Menschen  und  entflieht  diesem  leicht  in  Gestalt  einei 
Tieres:  eines  Fisches,  Vogels  oder  einer  Schlange. 


j  -  Indonesien  265 

Die  Priesterinnen  locken  mit  Hilfe  der  Geister  aus  dem 
lApu  Lagan  die  hruwa,  die  den  Menschen  oft  verläßt,  wieder 
in  den  Körper  zurück,  indem  sie  z.  B.  ein  schönes  Stück  Zeug 
'auf  das  Haupt  des  Patienten  legen  usw. 

Nach  dem  Tode  zieht  die  hruwa  nach  Äpu  Kesio  und 
später  nach  Langit  (Himmel)  Mengun,  wo  sie  ewig  fortlebt. 

Weil  die  hruwa  einen  sehr  gefahrvollen  Weg  zum  Äpu 
Kesio  zurücklegen  muß,  werden  dem  Verstorbenen  viele  Sachen, 
die  der  Seele  auf  der  Reise  und  später  von  Nutzen  sein  können, 
mitgegeben.  Erst  nachdem  die  Angehörigen  die  Trauer  ab- 
gelegt haben,  begibt  die  hruwa  sich  auf  die  Wanderung. 

Wenn   die    hruwa  über   die  Terrainschwierigkeiten,   z.  B. 

Wege   von   der  Schärfe  der  Schwerter,  nicht  hinweg  kommt, 

geht  sie  zugrunde.      Die  Verunglückten  schlagen  einen  durch 

Schwerter,   die  während   der  Geburt   gestorbenen  Frauen   und 

inder  aber  einen  durch  Gonge  bezeichneten  Weg  ein,  während 

ie  Guten  nach  dem  Äpu  Kesio  gehen.     Die  zweite  Seele  der 

ahau,  die  ton  luwa,  verläßt  den  Körper  erst  nach  dem  Tode 

bd  bleibt  dann  auf  dem  Begräbnisplatze,  bis  sie  zu  einem 
sen  Geiste  wird. 

Weil  die  ton  luwa  in  der  Gestalt  von  Hirschen  und  grauen 
Ä.ffen  erscheinen  können,  essen  die  Bahau  diese  Tiere  ungern. 
Der  Verfasser  gibt  zwei  Erzählungen  als  Beweise,  daß  die  ton 
luwa  in  Tieren  sich  aufhalten  können. 

Die  Bahau  unterscheiden  die  Haustiere,  Hirsche,  grauen 
iffen  und  Wildschweine,  die  nach  ihrer  Ansicht  wie  die 
Menschen  zwei  Seelen  (hruwa  und  ton  luwa)  haben,  von  den 
übrigen  Tieren,  die  nur  eine  Seele  haben  und  die  tulär  län 
genannt  werden. 

Eine  Erzählung,  wie  ein  Weib  sich  in  ein  hawui  (Wild- 
schwein) verwandelt,  erinnert  an  eine  tompake wasche  Fabel, 
von  Ref.  übersetzt  in  Bydr.  T.  L.  Vk.  1895,  S.  325—326.^ 


^  Der  Text  ist  herausgegeben  von  Jellesma  in  Vet'h.  Bat.  Gen. 
•^LVU,  S.  58. 


2ße  H.  H.  JuynboU 

Wenn  die  Bahau  einen  Panther  (Icule)  geschossen  haben, 
werden  Jäger,  Hunde  und  Waffen  mit  Hühnerblut  eingerieben, 
um   ihre  Seelen   zu  beruhigen,   und   müssen   die  Männer   acl 
Tage  lang  sowohl  tags  als  nachts  baden. 

Auch  nachdem  die  Jäger  ein  Wildschwein  erlegt  habei 
müssen  sie  acht  Tage  zu  Hause  bleiben,  nach  einer  Bärenjaj 
aber  nur  sechs  Tage. 

Nach  dem  Bau  eines  Hauses  tun  die  Kajan  ein  Jahr  lai 
Buße,  um  die  Seele  der  gefällten  Bäume  zu  sühnen. 

Bei  den  Ülu-Äjar  Dajaken  muß  man  sich  sogar,  nachdei? 
ein  Haus  von  wertvollem  Eisenholz  gebaut  ist,  drei  Jahre  lan^^. 
verschiedener  Leckerbissen  enthalten.  ^|| 

Auch   die   Seelen   des   Täsembaumes    (Äntiaris    toxicaria 
Lesch.)   und   des  Kampferbaumes   sind   schwer   zu  befriedige^ 
Die  Verehrung   des  Kampferbaumes    erhellt   übrigens   aus   d< 
Kampfersprache,   die   viele  Völker  Indonesiens,    auch  Bornec 
gebrauchen  müssen.^ 

Wie   die  Javanen  und   andere  Malaio-Poljnesier   glaub« 
auch  die  Dajaken  Zentral -Borneos,  der  Reis  sei  beseelt.     Dii 
jenigen  Gegenstände,  die  im  Leben  des  Menschen  eine  wichtig 
Rolle  gespielt  haben,  werden  zu  Lebzeiten  gesammelt  und  nach 
dem  Tode  ihres  Eigentümers  in  einem  großen  Packen  (legen) 
aufbewahrt. 

Aus  der  Überzeugung,  daß  ihnen  die  guten  Geister  des 
Äpu  Lagan  durch  die  Vermittelung  von  Tieren  und  durch  auf- 
fallende Ereignisse  den  Willen  und  die  Pläne  Allvaters  mit- 
teilen, hat  sich  ein  ausgebreitetes  System  von  Vorzeichen  ent- 
wickelt. 

Die  maßgebendsten  Orakelvögel  der  Bah  au  sind  der  hisit 
oder  Sit  (Änthreptes  malaccensis)  und  der  telandjang  (Flatilophus 
coronatus),  bei  den  Kenja-^iämmen  außerdem  eine  rote  Trogon- 
art  (Trogon  elegans)  und  ein  brauner  Falke  (Haliastur  intermedia). 

^  Siehe    betreffs    der  Malanau    in  Nord-Borneo:    Furneß, 
home-life  of  Borneo  head  hunters.    S.  168. 


Indonesien  267 

Auch  das  Reh  (Cervulus  muntjac)  und  eine  schwarze 
Schlange  (DoliopMs  Uvirgatus  Bor.)  sind  wahrsagende  Tiere. 
Die  Bahau  haben  ein  System  von  Verbotsbestimmungen, 
das  pemali  (Substantiv)  und  läli  (Adjektiv)  heißt  und  mit  dem 
polynesischen  tabu,  dem  malaiischen  pemali  und  pantang  über- 
einstimmt. Läli  bedeutet  „verboten",  aber  auch  „geweiht", 
z.  B.  Jiaung  läli  ist  ein  Hut,  der  nur  bei  religiösen  Zeremonien 
aufgesetzt  werden  darf.  Alle  Gegenstände,  die  überhaupt  beim 
Gottesdienste  gebraucht  werden,  heißen  pemali. 

Wie  fast  alle  Malaio-Polynesier  haben  auch  die  Bahau 
Personen,  die  ihrer  Meinung  nach  der  Geisterwelt  näher  stehen 
als  die  große  Menge. 

Diese  Personen,  die  eine  Yermittelung  zwischen  Volk  und 
Geisterwelt  übernehmen,  heißen  däjung  (=  singen).  Ihre  Hilfe 
wird  bei  bösen  Träumen,  Krankheit,  Tod  usw.  angerufen,  und 
sie  spielen  eine  wichtige  Rolle  bei  den  Ackerbaufesten.  Die 
däjung  sind  die  Gebildeten  und  Weisen  des  Stammes. 

Die  Jüngeren  der  däjung  werden  zwei  Jahre  lang  unter- 
wiesen.    In  der  Probezeit  müssen  sie  Erde  essen. 

Der  Verfasser  beobachtete  exaltierte  Zustände  der  däjung 
nur  in  rudimentärer  Form  beim  Neujahrsfeste. 

Die  junge  däjung  muß  durch  einen  guten  Geist  beseelt 
werden,  bevor  sie  ihr  priesterliches  Amt  antreten  kann.  Bei 
den  Bahau  gehören  die  Frauen,  die  an  Nervenkrankheiten  wie 
Epilepsie  leiden,  nicht  zu  den  däjung y  wie  dies  sonst  bei  den 
meisten  Indonesiern  der  Fall  ist. 

Selbstverständlich    genießen    die    däjung   große   Achtung. 
i  Ihr  sittliches  Leben  ist  untadelhaft,  also  ganz  verschieden  von 
!  dem  der  hälian  und  hasir  in  Südost- Borneo. 
!  Während  ihrer  Amtshandlungen  bedienen  sich  die  däjung 

j  einer  besonderen,  dahaun  tö  (Geistersprache)  genannten  älteren 
I  Sprache.  Um  mit  der  Geisterwelt  in  Verbindung  zu  treten, 
!  schlagen  die  Priesterinnen  auf  kupferne  Becken.  Die  Haupt- 
;  aufgaben  der  däjung   sind   erstens    das   Zurückholen   der   ent- 


268 


H.  H.  Juynboll 


flohenen  hruwa  und  das  Geleiten  (antar)  derselben  nach  Äi 
Kesid;  zweitens  die  Vermittelung  zwischen  der  Menschen-  un^ 
der  Geisterwelt  bei  dem  Ackerbau. 

Eine  religiöse  Handlung,  die  zum  Zweck  hat,  die  entflohen^ 
Seele  zurückzulocken  oder  die  beunruhigte  Seele  zum  Bleibei 
zu  bewegen,  heißt  hei  den  Bahau  mela.     Die  mela  fängt 
mit   einer  Mahlzeit   für    die  Geister   sowie   mit   der  Erzählui 
von   Geschichten.      Als    Geistertrank    dient    Schweinshlut,   ai 
Bananen-    und  Sawang- Blättern^    aufgefangen.     Die    verirrt« 
Seele    des  Patienten   soll   längs    des   alän  hruwa  (Seelenweg) 
einer  Schnur   mit  Lockmitteln,   aus   dem  Äpu  Lagan  zurücl 
kehren  und  wird  dann  in  ein  Körbchen  mit  Geisterspeise  gf 
steckt.     Nachdem  die  Seele  in  den  Kopf  des  Kranken  geblasei 
ist,  wird   sein  Arm   mit  einer  Speerspitze  gestrichen,  um  diJ 
Seele  in  seinem  Körper  festzuhalten.     Nach  dem  mela  ist  jed^ 
Arbeit  den  Hausbewohnern  während  eines  Tages  verboten,  um 
ihre  Wohnung  ist  läli.     Das  Ei  spielt  als  Opfer  bei  der  mel 
und  anderen  Gelegenheiten  eine  wichtige  Rolle. 

Zur  Anlockung  der  Geister  werden  ihnen  Schweine,  Hühnei 
Eier,  Fische  und  Reis  angeboten.  Diese  Opfergaben  werden 
kleine  Rollen  aus  Bananenblättern  (hawit),  die  acht  Lagen  en\ 
halten,  gewickelt. 

Vor  der  Reisemte  (ngeluno)  läßt  jeder  Bahau  eine  mel 
stattfinden,  für  die  die  Priesterin  drei  pemäli  verfertigt,  die  dej 
Verfasser  auf  Tafel  16  abgebildet  hat.  Jedes  der  Familiei 
glieder  ißt  mit  einem  hölzernen  Spatel  (ad  läli)  ein  paar  Reis 
körner  der  neuen  Ernte  und  trinkt  mit  einem  Kürbislöffe 
(tuhe  läli)  etwas  Wasser  vor  dem  Beginn  der  Festmahlzeit. 

Wenn   der  Reis   zuerst  in   die  Scheune  eingebracht  wirc 
werden  wieder  verschiedene  pemäli  verwendet,    um    die  Reig 


^  Die  Sawang- Pflanze  (Cordyline  javanica  Bl.  ßj  ei^ielt  nicht  nur  ii 
Zentral-  und  Südost-Borneo  (siehe  z.B.  Schwaner,  Borneo,  II,  27,  120), 
sondern  auch  in  der  Minahasa,  wo  sie  tawaang  heißt,  eine  bedeutende 
Rolle. 


I 


Indonesien  269 

Seelen  anzulocken,  aufzufangen  und  aufzubewahren.  Hierzu 
gehören  z.  B.  ein  Schöpfnetz  (hiköp  hulit)  in  Tandjong  Tcuda 
und  ein  Leiter  (sän  lali)  bei  den  Ma-Suling. 

Nicht  nur  die  Seelen  des  augenblicklich  vorhandenen 
Reises,  sondern  auch  die  des  auf  den  Boden  gefallenen  oder 
gefressenen  Reises  sucht  man  durch  pemali  zu  erhalten.  Auch 
um  die  erzürnten  Reisseelen  der  bereits  gefüllten  Scheune  zu 
beruhigen,  wird  ein  pemali  gebracht.  Wenn  eine  neue  Ernte 
beginnt,  werden  die  gebrauchten  pemali  durch  andere  ersetzt. 
Auch  beim  Anfang  des  Reisschnittes  werden  die  Geister  durch 
Eßwaren  und  Wasser  günstig  gestimmt.  Bei  dem  Saat-  und 
Neujahrsfest  werden  die  Götter  Tamei  Tingei  und  Bjäjä  Hipui 
verehrt,  für  die  ein  besonderes  pemali  von  den  däjung  ver- 
fertigt wird. 

Wir  können  hier  auf  die  verschiedenen  pemali  nicht  näher 
eingehen,  die  vom  Verfasser  ausführlich  beschrieben  und  ab- 
gebildet sind. 

Die  Besorgnis  um  die  Ruhe  ihrer  Seelen  beherrscht  das 
Tun  und  Lassen  der  Bah  au  während  ihres  ganzen  Lebens. 
Die  meisten  Mitteilungen  über  die  religiösen  Vorstellungen  der 
Eajan  am  Mendalam  verdankt  der  Verfasser  der  Oberpriesterin 
von  Tandjong  Karang,  TJsun  genannt. 

Nieuwenhuis  schließt  seine  Abhandlung  über  die  Religion 
i  Zentral-Borneos  mit  einer  Schöpfungsgeschichte  der  Mendalam 
iKajan^  aus  der  erhellt,  wie  sie  sich  vorstellen,  die  Menschen 
seien  erst  allmählich  zu  ihrer  jetzigen  Vollkommenheit  gelangt: 
aus  der  Vereinigung  eines  Schwertgriffes  und  eines  Weber- 
schiffchens soll  ein  menschenähnliches  Wesen  hervorgegangen 
sein  ohne  Arme  und  Beine,  das  sich  nur  schiebend  vorwärts 
ewegen  konnte.  Ihre  Nachkommen  konnten  nur  sitzen, 
und  erst  später  entstanden  richtige  Menschen,  deren  Tochter 
mit  ihren  Armen  den  Himmel  berühren  konnte.  Erst 
als  die  Menschen  Fische  gegessen  hatten,  begannen  sie  zu 
sprechen. 


i 


270  H.  H.  JuynboU 

Dies  ist  hauptsäclilicli  der  Inhalt  der  Kapitel  V  und  VI 
Außerdem  findet  man  im  Buche  zerstreut  noch  viele  Mit 
teilungen  über  die  Religion  der  Bewohner  Zentral -Borneos. 


I 


In  den  By dragen  v.  h.  Kon.  Inst.  v.  T.  L.  en  Volkenk. 
volgr.  II  (1904),  S.  532—546  verfolgt  M.  C.  Schadee  seine 
Bydrage  tot  de  kennis  van  den  godsdienst  der  Dajaks 
van  Landak  en  Tajan.  In  §24  ergänzt  er  die  Mitteilungen 
von  Wilken  und  Ling  Roth^  über  die  Oniromancie,  indem  er 
verschiedene  Träume  nebst  ihrer  Deutung  erwähnt.  Wie 
Nieuwenhuis  (siehe  oben)  behandelt  auch  Schadee  die  Tier- 
orakel, nach  einer  Notiz  des  malaiischen  Häuptlings  in  Darit 
über  die  Vögelorakel  der  Menjuke-D a-jaken^  in  malaiischem 
Text  nehst  holländischer  Übersetzung.  Wie  in  Zentral-Borneo 
und  Kutei  gehören  auch  in  West-Borneo  das  Mdjang  und 
hantjil  zu  den  Orakeltieren. 

In  §  28  sq.  werden  verschiedene  Verbotsbestimmungen 
(Mal.  pantangan)  erwähnt,  z.  B.  das  Verbot,  die  Namen  der  Eltern 
und  den  eigenen  Namen  auszusprechen,  dem  man  bekanntlich 
bei  vielen  Völkern  begegnet,  wie  aus  Andree's  Ethnogr. 
Parallelen  und  Tylor's  Researches  in  the  Early  history 
of  mankind  erhellt.  Die  pantangan  über  das  Essen  von 
Hirschfleisch  sind  örtlich  verschieden.  Auch  in  Kutei, 
Zentral-Celebes  und  Mindanao  ist  dieses  Fleisch  eine  ver- 
botene Speise. 

Die  Verfertigung  von  Matten  und  Reisblöcken,  das  Annehmen 
von  Titeln,  das  Tragen  von  Masken  und  das  Weben  sind  auch 
an  einzelnen  Orten  West -Borneos  verboten.  In  §  35  sq.  be- 
handelt der  Verfasser  die  Theogonie.  Der  Hauptgott  Batara 
Guru  wird  nicht  verehrt.  Die  guten  Geister,  die  bei  den 
MenjuJce-J) a^siken  djubata  (=  Skr.  dewatä)  heißen,  sind  sehr  zahl- 


^  Wilken,  Het  Shamanisme  nnd  Ling  Koth,  Natives  of  Sarawak 
and  British  North  Borneo. 


Indonesien  271 

reich.  Die  Land -DsLJaken  kennen  außer  den  djubata  die  deway  die 
natürlich  auch  hinduischen  Ursprunges  sind  und  die  echt 
dajakische  Kamang,  deren  Häuptling,  Trio  genannt,  der  Patron 
der  Kopfjäger  ist.  Trio  und  die  Kamang  sind  nicht  nur  im 
niederländischen,  sondern  auch  im  englischen  Teil  West- 
Bomeos  (Serawak)  bekannt. 

In  §  39  wird  ein  Talisman  des  Kopfjägers,  agit  genannt, 
aus  Zähnen  wilder  Tiere  bestehend,  beschrieben.  Zu  den 
Geistern  niedrigeren  Ranges  gehören  die  pudjut  und  der  Tajam, 
die  im  Tcaju  ara  hausen,  und  Mawing,  der  in  offenen  Wald- 
stellen vorzugsweise  sich  aufhält. 

Wie  fast  überall  in  Indonesien  werden  auch  in  West- 
Borneo  die  pontianak  (entstellt  aus  patianak  =  Kindertöter) 
gefürchtet.  Dieselben  versuchen,  die  Knaben  und  Männer 
der  Grenitalien  zu  berauben.  Vor  Hörnern  sollen  sie  sich 
fürchten. 

Schließlich  werden  noch  die  Jiantu,  die  in  Zentral-Bomeo 
ß  heißen,  der  Blatterngeist,  der  Hantu  Apaty  der  Reismangel 
und  Hungersnot  verursacht,  und  die  Hantu  Älus  und  8er dh, 
denen  resp.  Krankheiten  des  Reises  und  Mäuseplage  zugeschrieben 
werden,  erwähnt. 

In  den  Bydragen  v.  h.  Kon.  Inst.  v.  T.  L.  en  Volkenk. 

7«  volgr.  IV  (1905),  S.  489—513   findet  sich  die  Fortsetzung 

von   M.  C.  Schadee's    Bydrage    tot    de    kennis    van    den 

godsdienst    der    Dajaks    van    Landak    en    Tajan.      Das 

Mediumwesen  (der  Schamanismus)  bildet  den  Gegenstand  dieser 

I  Abhandlung.     Zuerst    gibt    er   in    §  50,    was    seit  Wilken^s 

I  Monographie  (in  B.  T.  L.  vk.  5®  volgr.  H)  über  Schamanismus 

'in  verschiedenen  Gegenden  West-Borneos  (Ober-Kapuasgebiet, 

Sambas,   Nanga   Tebidah   und   Djelei)    bekannt    geworden    ist 

durch    die    Abhandlungen    von    Tromp,    Eilerts    de   Haan, 

jKühr   und   Barth.      Bei    den   Landak-    und  Tajandajaken  ist 

der  Schamanismus  von  überwiegendem  Interesse  und  mit  allen 


272  H.  H.  Juynboll 

anderen   Zeremonien    und  Bräuclien    im  Zyklus    des    Familien- 
lebens innig  verbunden. 

Es  gibt  in  Landak  und  Tajan  zwei  Hauptarten  von 
Schamanismus,  die  herlenggang  und  hahalian  genannt  werden. 
Bei  dem  herlenggang  heißt  das  Medium  lenggang.  Es  gehört 
zu  den  Medien,  die  Greister  in  sich  aufnehmen  (hersarung).  Die 
halian  aber  (die  Medien  bei  dem  hahalian)  senden  ihre  Seele 
aus  nach  der  Greisterwelt;  das  hersarung  besteht  bei  ihnen 
nicht. 

Das  herlenggang  ist  eine  malaiische  Institution,  das  hahalian 
aber  (wie  der  Name  andeutet)  spezifisch  dajakisch.  Das  erstere 
ist  gebräuchlich  bei  den  Malaien  von  Landak,  bei  einzebien 
dajakischen  Stämmen  und  auch  wohl  bei  Chinesen  aus  Landak. 
In  Tajan  ist  das  herlenggang  vom  mohammedanischen  Fi 
bahan  verboten,  weil  es  dem  Islam  widerstreitet;  es  wird  £ 
von  den  Malaien  auch  dort  klandestin  getrieben,  und  auch 
dortigen  Dajaken  kennen  es. 

Lenggang  bedeutet  „schaukeln,  sich  hin  und  zurück 
wegen".  Wahrscheinlich  ist  dieser  Name  dem  Medium  ge- 
geben wegen  der  schwebenden  Bewegung  beim  einheimischen 
Tanz.  Es  ist  aber  auch  möglich,  daß  die  lenggang  sich 
wirklich  früher  auf  Schaukeln  setzten,  wie  die  landakischen 
halian  und  die  serawakschen  manang  noch  jetzt  tun.  Ge- 
wöhnlich ist  der  Zweck  des  herlenggang  die  Genesung  eines 
Kranken. 

Nach  der  Meinung  der  Dajaken  werden  Krankheiten  ver- 
ursacht, indem  die  Seele  zeitweise  den  Körper  verläßt  und 
ein  böser  Dämon  in  den  Körper  gefahren  ist.  Diesen  Dämon 
denkt  man  sich  in  der  Gestalt  von  Steinchen,  Tischgeräten, 
Skorpionen,  Würmern  usw. 

Zur  Genesung  eines  Kranken  muß  man  dabei  die  eigene 
Seele  in  den  Körper  zurückbringen,  den  Dämon  austreiben  und 
die  Gegenstände,  die  die  Krankheit  verursacht  haben,  aus  dem 
Körper  heraustreiben. 


Indonesien  273 

Man  fängt  an  mit  einem  Opfer  an  die  bösen  Geister,  aus 
verschiedenen  Speisen  (z.  B.  Hulin,  Reis,  Eiern,  Gebäck  und 
Bananen),  Zigaretten  und  Betelpriemcben  bestehend,  in  einem 
tumpang  genannten  Körbchen  von  jungen  Kokosblättem  vor  dem 
Hause  aufzuhängen.  Nachher  stellt  man  in  der  Mitte  des 
Vorderzimmers  einen  künstlichen  Baum  auf,  aus  verschiedenen 
Bestandteilen,  z.  B.  aus  simhar  agong  (platycerium  alcicorne) 
bestehend. 

Derartige  künstliche  Bäume  werden  nicht  nur  in  verschie- 
denen Gegenden  Bomeos  (bei  den  Meltau -j  Djelai-  und  Kenda- 
w?a)^^aw-Dajaken  in  West-Borneo,  den  Olon-Lowangan  in  Süd- 
ost-Borneo  usw.),  sondern  auch  bei  den  SaJcei  von  Malakka 
gefunden.  Dieser  taman  oder  Tidlam  genannte  Baum  wird  ver- 
ziert mit  roten  jpapaw^^^7- Blumen,  die  in  der  Sprache  des 
lenggang:  dara  menanggd'  (das  fischende  Mädchen),  und  den 
gelben  hunga  lemaSy  die  hudjang  menambei  (der  rufende  Jüngling) 
genannt  werden.  Der  Gipfel  des  taman  wird  von  einer  Ananas- 
frucht gebildet,  die  auch  auf  dem  Giebel  eines  Hauses  der 
Seelenstadt  und  als  Gipfelverzierung  eines  Opferhäuschens  für 
Tempon  Telon  sich  findet.  Um  den  Baum  werden  Teller 
mit  Opferspeisen  und  über  denselben  ein  Körbchen  (tum- 
pang) mit  Speisen  für  die  bösen,  hantu  genannten  Geister 
aufgehängt. 

Das  Medium  setzt  sich  auf  den  Boden  in  der  Nähe  des 
Baumes.  Vor  ihm  stellt  man  einen  Fächer,  der  in  der  Medium- 
sprache lajar  agong  (das  große  Segel)  genannt  wird,  brennende 
Benzoe  (kemenjan)  und  Sirih.  Er  überdeckt  den  Kopf  mit 
einem  Tuch  (slendang).  Die  Anwesenden  singen  unter  Be- 
gleitung von  Tamburinen  (rebana)  und  tawa'-tawa^  (Trommel) 
einen  Gesang,  dessen  Text  in  §  59  erläutert  wird. 

Der  Verfasser  meint,  die  Vorstellungen  der  landakischen 
Media  seien  dem  Tiwah-  oder  Totenfest  der  Olo  Ngadju  entlehnt. 
Infolge  des  Gesanges  wird  das  Medium  von  Mambang  huning 
beseelt.     Dieser  Geist  wird  auch  auf  Malakka  und  in  Sumatra 


274  H.  H.  Juynboll 


I 


gefürchtet.  Nach  einem  neuen  Gesänge  sieht  Mambang  Tcuning 
in  der  Gestalt  des  Mediums  in  einem  Steinchen  Quarz  (batu 
panilu)y  wie  das  Los  des  Kranken  ist.  Auch  eine  pinang- 
Blüte  und  zwei  Nadeln  werden  als  Orakel  zu  diesem  Zweck 
von  ihm  gebraucht.  Nachdem  Mamhang  huning  sich  allmählich 
entfernt  hat,  fängt  man  wieder  an  zu  singen,  bis  ein  neuer, 
Tjarang  hemuning  genannter  Geist  in  das  Medium  fährt.  Später 
kommen  noch  zwei  Geister  nacheinander  herab.  Diese  vier 
Geister  werden  die  radja  der  dewa  genannt.  Sie  werden  an- 
gerufen, damit  man  die  Hilfe  der  niedrigeren  dewa  erhalte, 
die  jetzt  herabsteigen.  Jeder  derselben  wird  mit  einer  besonderen 
Melodie,  aber  mit  denselben  Worten  angerufen.  Es  gibt 
männliche  und  weibliche  dewa. 

Als  der  Ana  Badja  Batu  Bahara  genannte  Geist  in  den 
lenggang  gefahren  ist,  greift  derselbe  im  taman  die  Seele 
(sumangat)  des  Kranken,  fängt  sie  in  einer  Kokosnußschale 
und  bringt  sie,  indem  er  bläst,  in  das  Ohr  des  Kranken. 

Der  stumme,  si  Awa  genannte  Geist  versteht  am  besten 
die  Kunst,  die  Krankheit  aus  dem  Körper  des  Patienten  zu 
entfernen,  indem  er  denselben  reibt  und  massiert,  damit  die 
Stückchen  Holz  oder  Stein,  welche  die  Krankheit  verursacht 
haben,  heraustreten.  Auch  dabei  wird  wieder  gesungen.  Dieser 
si  Awa  ißt  die  unter  dem  taman  stehenden  Speisen,  während 
andere  dewa  tanzen  (menari).  Die  dabei  gesungenen  Lieder 
(pantun)  werden  in  §  70  vom  Verfasser  in  Text  und  Über- 
setzung mitgeteilt.  Das  herlenggang  dauert  eine  oder  zwei 
Nächte.  Oft  tut  der  Hausherr  während  des  herlenggang  das 
Gelübde  (niat),  er  werde  nach  der  Genesung  des  Patienten  wieder 
herlenggang.  Dieser  herlenggang  hajar  niat  besteht  nur  aus 
Singen  (menjeni)  unter  Begleitung  von  rebana  und  tawa^-tawa^ 
und  Tanzen  (menari). 

Bei  dem  Tanzen  hält  der  lenggang  selbst  einen  slodang 
laut  genannten  Nachen  von  der  Hülle  der  Pinangblüte  und 
eine    andere    Person    einen    hölzernen    gelbgefärbten    Nachen 


I 


Indonesien  275 

(lantjing  Jcuning)  in  der  Hand.  Diese  stellen  die  Nachen  dar, 
in  denen  die  dewa  sich  nach  der  Menschenwelt  begeben  haben. 
Nachdem  der  dewa  seinen  Namen  genannt  hat,  wird  wieder 
ein  Gesang  gesungen,  der  vom  Verfasser  in  Text  und  Über- 
setzung mitgeteilt  wird.  Die  zwei  Fahrzeuge  und  der  Baum 
der  Seelenstadt  sind  von  Grabowsky  als  zu  dem  Tiwah-Fest 
der  Oh  Ngadju  gehörig  im  Int.  Arch.  f.  Ethnogr.  Band  ü, 
Tafel  YIII,  Fig.  1  und  2  abgebildet.  Auch  der  Name  dewa, 
der  natürlich  dem  Sanskrit  entlehnt  ist,  kommt  in  Südost- 
Borneo  vor,  wie  Hardeland  in  seinem  Wörterbuch  (s.  v.)  schon 
mitgeteilt  hat. 

[Fortsetzung  und  Schluß  folgen  im  nächsten  Heft:  Sumatra,  Celebes, 
Malakka,  Luzou.] 


3  Kussisclie  Volkskunde 

Von  Ludwig  Deubner  in  Bonn 

Die  Bericlite  über  russisclie  Volkskunde  müssen  notwendig 
eine  abgesonderte  Stellung  innerhalb  der  übrigen  Bericlite 
dieses  Archivs  einnehmen,  denn  es  kommt  bei  ihnen  weniger 
darauf  an,  eine  knappe  Übersicht  und  charakterisierende  Urteile 
zu  liefern,  als  vielmehr  bei  aller  Knappheit  möglichst  genau 
den  Inhalt  der  besprodienen  Abhandlungen  und  Werke  an- 
zugeben. Dies  erfordert  der  Umstand,  daß  die  Hauptmasse 
der  in  Betracht  kommenden  Literatur  in  russischer  Sprache 
verfaßt  wird,  deren  Kenntnis  nur  bei  einem  verschwindend  ge- 
ringen Teile  der  Leser  dieses  Archivs  vorausgesetzt  werden 
darf  Ein  bloßer  Hinweis  also  und  ein  paar  allgemeine  An- 
gaben würden  doch  ihren  Zweck  verfehlen,  da  der  Leser  nicht 
wie  auf  anderen  Gebieten  imstande  ist,  auf  Grund  der  Hinweise 
selbst  an  die  Quellen  heranzutreten. 

Die  wichtigste  russische  Zeitschrift,  die  sich  mit  der  Ver- 
arbeitung der  russischen  Volkskunde  beschäftigt,  ist  die  Etno- 
grafitscheskoje  Obosrenije.  Die  Redaktion  dieser  Zeitschrift 
hat  vor  längerer  Zeit  eingewilligt,  in  Austausch  mit  dem 
Archiv  zu  treten,  allein  bisher  ist  dem  Verlage  des  Archivs 
kein  Heft  der  Etn.  Obosr.  zugegangen,  so  daß  ein  zusammen- 
fassender Bericht  noch  nicht  in  Angriff  genommen  wurde. 
Dies  (und  der  oben  angedeutete  Gesichtspunkt)  soU  erklären, 
warum  im  folgenden  als  erster  Bericht  die  ausführliche  Lihalts- 
angabe  eines  hervorragenden  Werkes  erscheint. 


Ludwig  Deubner    Russische  Volkskunde  277 

E.  W.  Anitschkoff,  Das  rituelle  Frühlingelied  im  Westen 
und  bei  den  Slaven.  Teil  I.  Vom  Ritus  zum  Lied.^  St.  Peters- 
burg 1903.     XXIX  und  392  Seiten. 

Teil  II  dieses  Werkes  führt  den  Titel  „Vom  Lied  zur 
Poesie".  Die  Zweiteilung  ergab  sich  dem  Verfasser  aus  der 
doppelten  Fragestellung:  1.  zu  welchen  Resultaten  kann  das 
Studium  des  volkstümlichen  Frühlingsrituals  den  Religions- 
historiker führen?  2.  was  gibt  das  mit  dem  Frühlingsritual 
verbundene  Lied  für  die  Literaturgeschichte  aus  und  überhaupt 
für  die  Ästhetik?  Der  erste  Teil  zerfällt  in  drei  Kapitel  1.  Ein- 
leitung, 2.  Empfang  und  Verehrung  des  Frühlings,  3.  Das  wirt- 
schaftlich-religiöse Frühlingsritual.  Vorausgeschickt  ist  eine 
reichhaltige  Bibliographie. 

Die  Einleitung  S.  1  bis  86  beschäftigt  sich  mit  methodo- 
logischen Vorfragen.  Der  Verfasser  betont  die  Wichtigkeit 
der  vergleichenden  Methone  für  folkloristische  Studien  und  be- 
dauert, daß  gerade  mit  dem  so  reichen  slawisch -russischen 
Material  nach  Grimm  und  Mannhardt  sich  außer  den  Oster- 
reichem  kaum  ein  westeuropäischer  Gelehrter  befaßt  habe.  Auch 
unter  den  Slawen  gäbe  es  nur  zwei  bis  drei  Gelehrte,  die  in 
Betracht  kämen,  an  erster  Stelle  A.  N.  Wesselowski  (dem  auch 
das  vorliegende  Werk  gewidmet  ist).  Ein  Studium  aber  auch 
des  westeuropäischen  Volksliedes  ohne  Bekanntschaft  mit  den 
slawischen  Literaturdenkmälern  erscheint  unmöglich.  Der  Be- 
stand der  westeuropäischen  Volkslieder  zerfällt  in  drei  Teile: 
1.  von  den  Sammlern  des  XVIII.  und  XIX.  Jahrhunderts  auf- 
gezeichnete oder  zufällig  gedruckte  Lieder,  2.  alte  Lieder  in 
iHandschriffcen,  Liederbüchern  und  Flugblättern  des  XV.,  XVI., 
XVII.  Jahrhunderts,  3.  anonyme  Stücke,  verstreut  in  mittel- 
alterlichen Handschriften,  wovon  ein  Teil  auf  Rechnung  mittel- 
ialterlicher  Dichter  gesetzt  werden  kann.  Eine  der  wichtigsten 
Fragen,  die  sich  an  diese  Lieder  knüpfen,  ist  ihr  Verhältnis 

^         ^  BeceHHfla  oöpfli^oBaa  nucHfl  na  aana^^  n  y  cüaBAHt.  HacTb  L 
jOtI)  0üpfl;^a  Kt  ntcH*. 

Archiv  f.  EeligionswlBsenschaft  IX  19     • 


I 

I 


278  Ludwig  Deubner 

zur  Kunstpoesie.  Die  Frage,  was  Literatur,  was  Volksgut, 
läßt  sich  nur  durch  Vergleichung  mit  unabhängigem  Material 
entscheiden.  Die  gleiche  Schwierigkeit  der  Scheidung  entsteht 
angesichts  der  gegenwärtig  gesungenen  Lieder.  Ein  sicheres 
Kriterium  hietet  vor  allem  der  Zusammenhang  mit  dem  Ritus. 
G.  Paris  und  Bielschowsky  erkannten  die  Wichtigkeit  des 
rituellen  Liedes  für  die  Geschichte  der  Poesie  und  versuchten 
die  Rekonstruktion  seiner  ältesten  Form.  Die  Ausscheidung 
der  rituellen  Lieder  aus  dem  Liederbestand  Westeuropas  ist 
die  erste  Etappe  in  dem  wissenschaftlichen  Studium  der  Lieder- 
literatur. Die  dabei  vorzunehmende  Yergleichung  mit  den 
slawischen  Liedern  überträgt  das  Zentrum  des  Interesses  nach 
dem  Osten;  denn  hier  ist  das  allgemeine  Schema  gegeben,  zu 
dem  der  Westen  nur  einzelne  Züge  beisteuert. 

Um  die  ursprüngliche  Form  eines  Liedes  wiederherzustellen, 
muß  man  untersuchen,  zu  welchem  Ritus  es  gehört  und  welche 
Anwendung  es  in  der  rituellen  Handlung  fand.  Mit  dem  Ritus 
ist  die  Symbolik  des  Liedes  eng  verbunden.  Eben  diese  Sym- 
bolik, die  im  Westen  oft  kaum  mehr  vernehmbar  ist,  hat  sich 
im  Osten  deutlich  erhalten,  die  Volksdichtung  des  Ostens  kann 
bei  der  Erklärung  des  *  westlichen'  Liedes  nicht  umgangen 
werden. 

Das  Volkslied  ist  ursprünglich  ein  integrierender  Bestand- 
teil des  Ritus.  Was  ist  Ritus?  Grimm  führte  das  Frühlings- 
ritual auf  die  mythologische  Vorstellung  vom  Wechsel  des 
Winters  und  Sommers  zurück,  nicht  ohne  dabei  ihre  Bedeutung 
zu  überschätzen.  Kuhn  und  Schwartz  sind  der  Ansicht,  daß 
jeder  Ritus  einen  bestimmten  Mythus  vorstelle,  ihre  Theorien 
und  Deutungen  „beruhen  auf  der  völlig  aprioristischen  und 
durch  nichts  bewiesenen  Überzeugung,  daß  der  primitive  Mensch 
die  Natur  poetisch  auffasse,  daß  er  in  einer  gewissen  Phantas- 
magorie  bildlicher  Vorstellungen  lebe,  aus  denen  sich  in  der 
Folge  Mythen  bildeten,  daß  er  sich  zur  Natur  verhalte  wie 
ein  begeisterter  Künstler  und  nicht  wie  ein  eingeschüchterter 


Russische  Volkskunde  279 

und  räuberisclier  struggler  for  life,  für  den  an  erster  Stelle 
der  Kampf  steht  um  seine  Ernährung,  die  schwer  gewonnen 
wird  und  die  allernächste  Bekanntschaft  mit  den  rein  utili- 
tarischen  Erscheinungen  der  Natur  verlangt".  Taylor  und 
Lubhock  sahen  von  der  Mythologie  ab  und  betrachteten  Bräuche 
und  Riten  als  Erscheinungen  des  täglichen  Lebens,  die  einst 
einen  realen  praktischen  Sinn  hatten.  Zugleich  wurde  das 
Gesichtsfeld  durch  Betrachtung  der  Naturvölker  erweitert  und 
der  von  Max  Müller  vertretene  linguistische  Standpunkt  er- 
schüttert. Es  folgt  Mannhardt,  der  zuerst  das  Studium  des 
volkstümlichen  Ritus  auf  die  Höhe  wissenschaftlicher  Forschung 
hob,  aber  einen  Rest  mythologischer  Anschauungsweise  nicht 
loswerden  konnte.  Dies  zeigt  sich  darin,  daß  er  in  die  Riten 
des  Volkes  seine  Vorstellungen  von  Wald-  und  Baumgeistern 
hineinträgt.  Sein  Einfluß  macht  sich  bemerkbar  in  Frazers 
Golden  Bough,  sowie  in  Roschers  mythologischem  Lexikon. 
Mannhardts  Grundvorstellung'  ist  zu  abstrakt.  An  einen  in 
allen  Pflanzen  lebenden  Vegetationsgeist  vermag  der  primitive 
Mensch  nicht  zu  glauben.  Gleichwohl  hat  Mannhardt  den 
Ritus  einigermaßen  von  der  Mythologie  befreit  und  den  rein 
praktischen  Zweck  einer  ganzen  Reihe  von  Bräuchen  erkannt. 
Nach  ihm  betrachtet  man  den  Ritus  als  eines  der  Elemente, 
aus  denen  Glaube  sich  bildet.  „Er  ist  eher  eine  der  Zellen 
des  religiösen  Bewußtseins,  als  eine  Reproduktion  fertiger 
mythologischer  Vorstellungen.  Diese  sind  meist  jünger  und 
unter  seiner  Mitwirkung  entstanden."  Bei  den  ältesten  Stadien 
des  religiösen  Bewußtseins  muß  man  das  Wort  ^Religion'  durch 
^Weltanschauung'  ersetzen.  Das  Hinzutreten  von  Göttern  zu 
bestimmten  volkstümlichen  Riten  ist  sekundär  und  meist  da- 
durch bedingt,  daß  im  Kalender  Ritus  und  Gottesverehrung 
zusammenfielen.  Dagegen  liebt  der  Ritus  Personifikationen, 
die  aus  der  Benennung  des  Feiertags  oder  des  Ritus  selbst 
hervorgegangen  sind.  Solcher  Art  sind  Pfingstl,  Maie- 
röslein,  trimouzette,  Marena,  Kupalo,  Kostroma  usw.     Wo  die 

19* 


280  Ludwig  Deubner 

Etymologien  dieser  Namen  unsicher  oder  unbekannt  sind,  ist 
die  Untersucliung  des  Ritus  der  erste  Schritt  zu  ihrer  Deutung. 

Die  volkstümlichen  Feiertage  gruppieren  sich  um  die  vier 
festen  Jahrespunkte:  Sommersonnenwende,  Wintersonnenwende, 
Frühlingstag-  und  -nachtgleiche,  Herbsttag-  und  -nachtgleiche. 
Dazu  treten  einige  abseits  liegende  Feste,  wie  Fastnacht,  Pfingst- 
montag, Trinitatis.  Es  fragt  sich,  ob  diese  den  Frühlingsfesten 
zugezählt  werden  können.  Zu  bemerken  ist,  daß  der  Spät- 
frühling  mit  seinem  Blütenreichtum  dem  Menschen  viel  wichtiger 
und  interessanter  ist,  als  die  ersten  Anzeichen  des  Lenzes. 
Doch  nach  dem  Kalender  läßt  sich  nicht  fesstellen,  was  zur 
Frühlingsfeier  zu  zählen  ist,  die  Antwort  gibt  allein  das  Ritual. 
Riten  wurden  vollzogen  zu  Ostern,  um  Pfingstmontag,  am 
Georgstag  (23.  April),  am  1.  Mai.  Davon  erhielten  sich  im 
Osten  Georgstag  und  die  Woche  von  Pfingstmontag  bis  Trini- 
tatis (Russalnaja  nedelja),  im  Westen  hauptsächlich  1.  Mai  und 
Pfingstmontag.  Auf  diese  Weise  entsteht  eine  Art  Synkretismus 
des  Rituals,  indem  ursprünglich  nicht  verbundene  Riten  zu- 
sammen begangen  werden  und  zusammenfließen.  Daher  muß 
bei  der  Untersuchung  der  Riten  ihre  kalendarische  Festlegung 
außer  acht  gelassen  werden,  zumal  die  meisten  mehr  als  einmal 
jährlich  vollzogen  werden.  Die  vorliegende  Arbeit  hat  den 
Zweck,  den  allgemeinen  Sinn  der  Riten  herauszustellen,  die 
wir  im  Frühling  antreffen,  ihren  Typus  festzulegen  und  zu  er- 
klären, warum  sie  gerade  im  Frühling  angewendet  werden. 

Als  Ausgangspunkt  einer  jeden  Untersuchung  dieser  Art 
müssen  die  realen  Bedingungen  des  häuslichen  Lebens  dienen, 
„die  täglichen  Bedürfnisse  des  primitiven  Menschen  in  jedem 
gegebenen  Moment  seines  Wirtschaftsjahres".  Dies  gilt  un- 
eingeschränkt für  die  Frühlings-  und  Herbstriten;  verwickelter 
liegt  die  Sache  bei  den  Sonnenwenden.  Die  Psychologie  der 
ersteren  gründet  sich  auf  einen  bestimmten  Komplex  von  Sorgen 
und  Freuden,  Befürchtungen  und  Hoffnungen.  Der  Frühling 
stellt  eine  Kombination  dar  von  Kraftaufwand  für  die  Zukunft 


Russische  Volkskunde  281 

und  Genuß  gegenwärtiger  Vorteile.  Das  Zweite  hängt  davon 
ab,  ob  und  inwieweit  die  Viehzucht  in  Betracht  kommt.  Mit 
dem  Beginn  des  Frühlings  hört  die  Sorge  für  das  Viehfutter 
auf:  spätestens  am  Nikolaustage  (9.  Mai),  wenn  nicht  am  Georgs- 
tage, wird  das  Vieh  ausgetrieben,  am  Nikolaustage  auch  die 
Pferde.  Für  den  Ackerbauer  ist  der  Frühling  eine  Zeit  an- 
gespannter Kräfte,  die  wichtigste  Zeit  des  Jahres.  Aus  lang- 
jähriger Beobachtung  kennt  er  eine  Menge  von  Anzeichen, 
nach  denen  er  über  die  kommende  Ernte  urteilt;  ihren  Nieder- 
schlag finden  sie  in  Sprichwörtern.  Die  ästhetische  Seite  des 
Frühlings  hat  im  Volkslied  so  gut  wie  gar  keinen  direkten 
Ausdruck  gefunden.  Nicht  nach  Beschreibungen  darf  man 
I  suchen.  Nur  dort,  wo  die  Erscheinungsformen  der  Natur 
!  einer  seelischen  Stimmung  entgegenkommen  und  diese  sym- 
bolisch auszudrücken  imstande  sind,  entsteht  der  aller  Poesie 
I  eigene  psychologische  Parallelismus.  In  seiner  Symbolik  be- 
deuten die  Kennzeichen  des  Frühlings  stets  fröhliche  Stimmung, 
I  ein  erwünschtes  angenehmes  Ereignis.  Anderseits  fordert  das 
Volk  im  Liede  dazu  auf,  sich  mit  dem  Frühling  einzuleben. 
Es  liebt  die  Blumen,  als  Gegenstand  seiner  Lust  und  flicht 
Kränze.  Diese  ästhetische  Seite  darf  nicht  außer  acht  ge- 
lassen werden. 

Die   Frühlingsfeiem  und   ihr  typisches   Ritual   kehren   in 

allen  religiösen   Systemen   der   Welt  wieder.     Sie   entsprechen 

einem  bestimmten  Stadium  der  Kulturentwickelung,  durch  das 

alle  menschlichen  Rassen  und  Völker  hindurchgehen  müssen. 

Daneben  können  auch  direkte  Entlehnungen  stattgefunden  haben. 

In  diesem  Sinne  sind  die  russischen  Fremdvölker  wichtig,  da 

sie  manche  den  Slawen  entlehnte  Riten  treuer  und  klarer  be- 

;  wahrt  haben,  als  diese.     In  einer  ganzen  Reihe  von  Frühlings- 

[  feiern  bei  Chinesen  und  Wilden  äußert  sich  die  erwartungsvolle 

[Stimmung  der  hoffnungsfrohen  Menschen,   die   den  Grundzug 

der  Lieder,  Spiele  und  Riten  auch  bei  den  Frühlingsfeiem  der 

europäischen  Völker  bildet. 


^2:  Ludwig  Deubner 

2.  Kapitel  S.  87  bis  257.  Nach  dem  Einzug  des  Früh- 
lings und  der  Wiederbelebung  der  Vegetation  muß  eine  ganze 
Reihe  ritueller  Handlungen  vollzogen  werden,  damit  nicht  statt 
Glück  und  Frohsinn  irgendein  Unheil  entstehe.  „Der  Ritus 
sucht  an  das  Schicksal  des  Menschen  den  ganzen  Strom  leben- 
schaffender Kraft  zu  fesseln,  in  dem  die  Natur  vor  seinen  Augen 
frohlockt." 

Groß-  und  weißrussische  Lieder  bewahren  den  Ausdruck 
'den  Frühling  anrufen'.  Der  zugehörige  Ritus  erhielt  sich  in 
den  entsprechenden  Landschaften,  vor  allem  in  Weißrußland: 
am  1.,  9.  oder  25.  März  sammelt  sich  die  Jugend  auf  Hügeln, 
Speicherdächern,  überhaupt  erhöhten  Plätzen,  und  singt  dort 
besondere  Lieder.  Im  Gouvernement  Kostroma  vollziehen  die 
Mädchen  dieses  'Anrufen',  indem  sie  dabei  bis  zum  Gürtel  im 
Wasser  stehen,  oder,  wenn  das  Eis  noch  nicht  aufgetaut  ist, 
rings  um  ein  Eisloch.  Dies  geschieht  bisweilen  früh  morgens 
vor  Sonnenaufgang.  Die  Lieder  wenden  sich  am  häufigsten 
an  den  personifizierten  Frühling  (weiblich:  wessnd)  mit  der 
Frage,  welche  Freuden  er  mit  sich  gebracht  habe.  Der  Früh- 
ling kommt  gefahren  mit  Pflug  oder  Egge.  Dies  wird  im 
Borissoffschen  Kreise  figürlich  dargestellt:  ein  schönes  und 
arbeitsames  Mädchen  wird,  mit  einem  frischen  Kranze  ge- 
schmückt, auf  die  Egge  gesetzt  und  auf  dem  Felde  um  an- 
gezündete Holzhaufen  gefahren;  dabei  singen  die  Mädchen,  von 
einem  Schalmeibläser  begleitet.  Im  Gouvernement  Kursk  werden 
aus  Teig  gebackene  Schnepfen  mit  Fäden  an  Stangen  gebunden, 
die  man  in  Böden  steckt.  Die  Schnepfen  fliegen  im  Winde, 
die  Kinder  singen  ein  Lied:  ...  „es  flog  die  Schnepfe  her  übers 
Meer,  es  brachte  die  Schnepfe  neun  Schlösser.  Schnepfe, 
Schnepfe!  Schließ  zu  den  Winter,  schließ  auf  den  Frühling  — 
einen  warmen  Sommer."  Im  Gouvernement  Saratoff  und  sonst 
backt  man  am  9.  März  Lerchen,  mit  denen  die  Knaben  und 
Mädchen  auf  die  Dächer  der  Hütten  klettern.  In  der  Ukraine 
spricht   man   eine   Art   Beschwörung.      In  Weißrußland   backt 


I 


Russische  Volkskiinde  283 

man  Störche,  einen  Braucli,  wie  den  im  Gouvernement  Kursk, 
nennt  man  *  Schwälbchen'  oder  'DöUchen',  auch  hier  bringt 
das  Döhlchen  die  Schlüssel.  Überhaupt  spielen  die  Vögel  im 
Frühlingsritual  eine  große  Rolle.  In  zwei  Formen  also  ruft 
man  in  Rußland  den  Frühling:  1.  man  bittet  ihn,  seine  Gaben 
mit  sich  zu  bringen  und  stellt  ihn  auf  dem  Pflug  fahrend  vor^ 
2.  man  hält  die  vom  Süden  kommenden  Vögel  für  die  magischen 
Verkündiger  der  Frühlingsfreuden.  Bei  den  Serben  wird  gegen 
Mitternacht  ein  Holzhaufen  angezündet  und  gesungen  (der 
Ritus  heißt  na  ranilOy  'in  der  Früh').  Bei  den  türkischen 
Serben  tanzen  und  singen  die  Mädchen  bis  zum  ersten  Hahnen- 
schrei. Dann  laufen  sie  auf  den  Hof  hinaus,  klettern  auf  die 
Dächer  und  singen  dort  Lieder  scherzhaften  Inhalts.  Auch 
am  Wasser  finden  Bräuche  statt,  so  Reifspiel  und  Gesang  an 
Flüßchen  oder  Quellen.  An  Stelle  des  Vogels  findet  sich  in 
Serbien  gelegentlich  das  Bienchen.  In  Polen  versammeln  sich 
die  Mädchen  vor  Tagesanbruch  an  den  Ufern  der  Flüsse  und 
Teiche;  sobald  die  Sonne  erscheint,  entkleiden  sie  sich,  springen 
ins  Wasser,  lösen  ihre  Haare  und  sprechen  einen  Spruch, 
dessen  Grundgedanke  die  Heirat  ist.  Auch  in  Schweden  wird 
zu  Beginn  des  großen  Fastens  der  Sonnenaufgang  in  freier  Natur 
erwartet  und  mit  Liedern  begrüßt.  In  allen  diesen  Bräuchen 
ist  die  aufgehende  Sonne  als  Bringerin  des  ver  novum  gedacht. 
Bei  den  heidnischen  Fremdvölkern  Rußlands  findet  man  im 
Frühjahr  Darbringungen  von  Opfern.  Die  Wotjaken  breiten 
am  Tage  nach  dem  Zupflügen  der  Aussaat  auf  einer  Anhöhe 
unter  einer  Tanne  ein  Tischtuch  aus  und  legen  darauf  besondere 
1  Fladen  und  Pfannkuchen;  der  Priester  spricht  Gebete,  indem 
er  in  den  Händen  einen  Fichtenzweig  hält.  Während  des 
;  Gottesdienstes  bewirten  Mädchen  die  Anwesenden  gegen  be- 
j  sondere  Bezahlung  mit  Kumys.  Besonderes  Interesse  verdient 
!  ein  langes  Frühlingsgebet,  das  vom  Popen  an  den  aufgetauten 
I  Stellen  des  Feldes  gesprochen  wird,  indem  hierin  in  umständ- 
'  Hcher  Weise  der  ganze  Kreis  der  Feldarbeiten  bis  zum  Herbst 


234  Ludwig  Deubner 

aufgezäUt  wird,  wobei  der  Priester  sicli  bemüht,  nichts  aus- 
zulassen. Am  Schluß  stehen  folgende  Anrufungen:  0  du  Schöpfer 
und  Erhalter  des  Getreides,  Kjldyssine;  o  du  Geher  und  Wächter 
der  Haustiere,  Inmare;  o  du  Ordner  und  Befehlshaber  der  Bienen, 
Kwase-e:  seid  gesund!  Das  Ganze  mutet  an  wie  eine  römische 
Indigitation.  Der  Verfasser  hält  es  für  gefährlich,  von  einem 
heute  bestehenden  Ritus  auf  einen  heidnischen  Kult  zurück- 
zuschließen, indem  er  unter  Kult  eine  religiöse  Handlung  ver- 
steht, die  sich  unter  den  besonderen  Bedingungen  eines  mit 
Priestertum  und  Glaubensbekenntnis  verknüpften  Zustandes 
religiöser  Formen  herausgebildet  hat.  Er  sieht  im  Kult  den 
Endpunkt  der  rituellen  Evolution  und  verlangt  als  Kultgegen- 
stand ein  göttliches  Bild;  der  Lehre  von  dieser  Gottheit  müsse 
ein  Mythos  zugrunde  liegen.  Damit  wird  eine  Scheidung 
zwischen  Ritus  und  Kultus  vorgenommen,  die  nicht  alle  billigen 
werden,  denn  ein  ausgebildeter  Kult  ist  seinem  Wesen  nach 
von  den  ersten  Anfängen  ritueller  Handlungen  nicht  verschieden. 
Wo  Opfer  dargebracht  werden,  muß  eine  Gottheit  vorhanden 
sein,  und  diese  Gottheit  braucht  keineswegs  bildlich  vorgestellt 
zu  werden;  noch  weniger  bedarf  sie  eines  Mythos.  Eine  andere 
Frage  ist,  ob  bei  Riten  wie  die  Anrufung  des  Frühlings  eine 
Gottheit  tatsächlich  noch  ganz  fehlt.  Dafür  ist  die  Abwesen- 
heit eines  Mythos  natürlich  noch  kein  Beweis,  und  es  macht 
nichts  aus,  daß  der  Versuch  Faminzyns,  einen  solchen  Mythos 
zu  konstruieren,  mißglückt  ist.  Einen  ausgebildeten  Kult  im 
Sinne  Anitschkoffs  vorauszusetzen,  wird  natürlich  niemandem 
beifallen.  —  Der  Verfasser  gibt  zu,  daß  die  Symbolik  des 
Zugvogels  eine  altertümliche,  eingewurzelte  religiöse  Vorstellung 
bietet.  Ja,  die  Anbetung  der  Vögel  ist  zuverlässiger,  als  die 
Anrufung  der  personifizierten  Jahreszeit.  Der  Vogel  ist  ein 
heiliges,  fast  vergöttertes  Tier.  Die  christlichen  Schichten  der 
Frühlingslieder,  die  eine  Bitte  an  Gott  enthalten,  gestatten 
keinerlei  bestimmtere  Rückschlüsse  auf  einen  Kult.  Die 
rufungslieder    tragen    (nach    des    Verfassers    Scheidung) 


Russische  Volkskunde  285 

Charakter  eines  Ritus,  nicht  Kultes,  ihre  religiöse  Richtung 
ist  unabhängig  von  einer  breiteren  religiösen  Organisation. 
Beschwörung  und  Gebet  scheiden  sich  im  Volksbewußtsein 
i  recht  deutlich.  So  beginnt  ein  weißrussisches  Lied  (S.  89)  mit 
den  Worten:  „Gott,  hilf  (uns),  den  Frühling  anzurufen"  (ähnlich 
S.  88  „hilf  uns,  Gott,  zur  guten  Stunde  zu  beginnen  mit  dem 
Herausrufen  des  Frühlings").  Wir  werden  hier  deutlich  zwei 
Gebetsschichten  erkennen.  Dem  Verfasser  zufolge  ist  ein  Gebet 
nur  möglich  bei  einer  genauen  Vorstellung  von  der  Persönlich- 
keit des  angerufenen  Gottes,  von  seinen  Eigenschaften  und 
Tätigkeiten.  Die  Beschwörung  geht  aus  den  Bedingungen  des 
täglichen  Lebens  hervor.  Der  primitive  Mensch,  der  an  die 
sympathetische  Kraft  von  Wort  und  Handlung  glaubt,  bemüht 
sich,  eine  erwünschte  Erscheinung  hervorzurufen;  Namen  und 
Attribute  des  Segenspenders  sind  ihm  weniger  wichtig  als  die 
Aufzählung  dessen,  was  er  begehrt.  So  wird  jener  mit  der  Zeit 
verdrängt  und  verschwindet.  In  die  alte  Formel  der  Frühlings- 
beschwörung drang  die  allgemeine  Vorstellung  des  Frühlings: 
die  Personifikation  ist  dafür  nur  der  poetische  Ausdruck.  Auch 
die  Opfergaben  der  Weiber  gelten  nur  dem  Frühlingsmütterchen. 
—  Gewiß  beachtenswerte  Bemerkungen,  sofern  wir  nur  die 
Verwandtschaft  von  Beschwörung  und  Gebet  im  Auge  behalten. 

[Der  Schluß  des  Aufsatzes  folgt  im  nächsten  Heft] 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Diese  verschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesern  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  besonders 
neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke  und  Nach- 
weise oder  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den  ver- 
schiedenen religionsgeschichtlichen  Forschern  hier  u.  E.  entwickeln  können, 
wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung  widmen  würden.^ 


Totenklage  und  Tragödie 

Es  gibt  zwei  Formen  der  Totenklage.  In  der  ersten,  mehr 
epischen,  trägt  ein  Vorsänger  (-in)  ein  Lied  vor  (e^ccQiog  yooLo)^ 
worauf  der  Klagechor  das  Refrain  singt.  Ursprünglich  klagten  die 
Frauen  (Sl  723 ff.),  Verwandte  und  Freunde  (-S  317  ff,);  eine  spätere 
Entwickelung  ist  es,  daß  die  Totenklage  den  Aöden  überlassen 
(52  719 — 722),  also  unter  Aufnahme  epischer  Elemente  kunst- 
mäßig ausgebildet  wird.  Die  zweite  Form  ist  Wechsellieder 
(g)  58  ff.,  Plat.  leg.  p.  947  B).  ^'qtjvslv  TTETtoLTj^ivcc,  Plut.  Sol.  12,  vgl. 
Lukian  de  luctu  20.  Wechsellieder  nebst  Chor,  der  das  Refrain 
singt,  sind  zu  erschließen  aus  dem  Klagelied  über  Bion  v.  43 ff. 
Gerade  diese  Form  hat  die  Tragödie  übernommen;  sie  spielt  beson- 
ders in  den  ältesten  Tragödien  (Sept.  Choeph.  Pers.)  eine  hervor- 
ragende Rolle.  Dagegen  ähnelt  die  Komposition  der  ältesten 
Tragödien  der  ersten  Form  der  Totenklage:  in  beiden  werden  mehr 
schildernde  und  erzählende  Partien  von  lyrischen  Gefühlsausbrüchen 
begleitet. 

Die  Darstellung  von  Schmerz  und  Leid  ist  immer  als  für  die 
Tragödie  charakteristisch  betrachtet  worden  (s.  Aristot.);  dasselbe 
ist  der  springende  Punkt  bei  Hdt.  5,  67  über  die  Adrastoschöre 
(rQccyLKog  xoQog  =  tragischer    Chor).     Diese  Chöre   sind    eine  jedes 

^  Sog.  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig  enthalten  als 
sie  „Berichte"  ersetzen  soll.  Über  die  Zeitschriftenschau,  die  dem  Archiv 
besonders  beigegeben  werden  kann,  siehe  die  Mitteilung  Band  VIT,  S.  280. 


I 


Mitteilungen  und  Hinweise  287 

Jahr  wiederholte,  dramatisch  ausgestattete  TotenWage  (r«  ndd-ea 
iyiqaLQOv),  wie  auch  andere  Bestattungsgebräuche  im  Heroenkultus 
i  regelmäßig  wiederholt  werden.  Andere  Beispiele  einer  jährlichen  Toten- 
j  klage  bieten  Achilleus  in  Elis  und  die  Kinder  der  Medea  in  Korinth. 
Die  Haupthandlung  der  Orgien  war  die  Omophagie,  das  Zerfleischen 
des  in  Tiergestalt  vorgestellten  Gottes.  Eine  Totenklage  über  den 
so  getöteten  Gott  in  alter  Zeit  ist  allgemein  angenommen  und  sicher 
vorauszusetzen,  für  spätere  Zeit  bezeugt.  Nimmt  man  an,  daß 
die  Tragödie  eine  ihrer  Wurzeln  in  dieser  Totenklage  hat,  erklärt  es 
sich,  warum  Leid  und  Schmerz  immer  ein  Charakteristikum  der 
Tragödie  waren,  warum  die  älteste  Form  der  Tragödie  sich  der 
Totenklage  so  nahe  anschließt,  warum  die  Totenklage  gerade  in 
den  ältesten  Tragödien  einen  so  breiten  Kaum  einnimmt,  warum 
Göttermythen  in  die  Tragödie  nur  aufgenommen  werden,  wenn  sie 
zu  Heldensagen  herabgesunken  sind,  warum  so  viele  nicht- diony- 
sische Mythen  aufgenommen  sind  —  denn  die  Chöre,  die  anderen, 
z.B.  Adrastos,  galten,  sind  von  dem  berühmtesten,  dem  Dionysos- 
kult aufgesogen  worden.  Der  Grundunterschied  zwischen  Tragödie 
und  Totenklage  ist,  daß  jene  eine  fiLfirjöig  Öqcovzcov  ist;  doch 
tritt  dies  in  den  ältesten  Tragödien  weniger  hervor.  Wenn  der 
Bote  etwas  erzählt  und  der  Chor  darauf  klagt,  ist  das  mit  der 
epischen  Form  der  Totenklage  beinahe  identisch;  der  Unterschied 
zeigt  sich,  wenn  der  Held  selbst  auftritt.  Hier  muß  der  längst 
erkannte  mimische  Trieb  im  Dionysoskult  angezogen  werden. 
Dionysos  selbst  muß  auftreten  (Bethe,  Proll.),  wie  er  im  Kult  tut; 
die  Satyrn  passen  für  dieses  ernste  Spiel  nicht;  der  Chor  ist  der 
der  dionysischen  Totenklage,  die  in  das  Fell  des  getöteten  Tieres 
(gewöhnlich  ein  Bock)  gehüllten  Orgiasten,  die  durch  diese  Kleidung 
selbst  zu  TQccyoi  werden.  So  erklärt  sich  am  leichtesten  die  Grund- 
bedeutung des  Wortes  XQayfpdla.  Angenommen  ist  hier,  daß  Tra- 
gödie und  Satyrspiel  verschiedenen  Ursprungs  sind  (wie  Reisch  in 
der  Festschr.  f.  Gomperz).  Das  Satyrspiel  stammt  aus  der  Pelo- 
ponnes,  die  Tragödie  ist  dagegen  an  den  Kult  des  Eleuthereus 
gebunden,  der  von  der  böotischen  Grenze  gekommen  ist,  gerade 
Kithäron  und  Böotien  sind  die  berühmtesten  Stätten  des  diony- 
sischen Orgiasmus.  Martin  P.  Nilsson 

(Resume  eines  schwedischen  Aufsatzes  in  Cominent.  philologae  in 
hon.  Joh.  Paulson,  Göteborg  1905.) 


Thrakisches 


Die  von  Pauli,  Kretschmer  und  anderen  angeregten  Unter- 
I suchungen  über  die  vorgriechischen  Ortsnamen  hat  zuletzt  Fick 
in    seinem    Buch    „Vorgriechische    Ortsnamen    als    Quelle    für    die 


288  Mitteilungen  und  Hinweise 

Vorgeschichte  Griechenlands"  systematisch  weitergeführt.  Unter 
anderem  hat  Fick  (S.  105),  in  Übereinstimmung  mit  Pauli,  darauf 
hingewiesen,  daß  auch  die  Urbevölkerung  (nach  Fick  „pelagonisch- 
pelasgisch")  von  Thrakien  mit  der  „kleinasiatischen"  in  Beziehung 
zu  bringen  ist.  Dagegen  hatte  Kretschmer^  die  Meinung  Paulis 
zurückgewiesen.  Was  zunächst  die  Städtenamen  an  der  Westküste 
des  Pontes  betrifft,  hatte  Kretschmer  kaum  recht,  dieselben  von 
der  Gruppe  der  kleinasiatischen  mit  s- Suffix  gebildeten  Namen 
auszuschließen.  Wie  später  die  Griechen,  werden  schon  die  „Karer" 
den  Pontos  aufgesucht  und  Städte  an  dessen  Ufern  gegründet  haben; 
außer  den  Namen  wie  ^OSr}666g,  Ual^ivörjöGog  erinnert  an  sie  auch 
der  KaQ&v  h(n^v,  südlich  von  Kallatis.^  Über  die  Ansicht  Ficks, 
daß  auch  das  innere  Thrakien  einmal  von  „pelasgischer"  Be- 
völkerung besetzt  gewesen  sei,  ist  jetzt  nicht  zu  reden,  denn 
dieser  Gelehrter  behält  sich  vor,  auf  das  Verhältnis  der  „pelago- 
nischen  Urbevölkerung  von  Thrake  zu  den  Kleinasiaten  (Hettitern)" 
später  zurückzukommen.^  Auch  über  das  Verhältnis  der  Pelasger 
zu  den  Hettitern  überhaupt  spricht  sich  Fick  jetzt  nicht  aus. 
C.  F.  Lehmann*  rechnet  auch  die  Pelasger  zu  den  „Karern".  Wie 
dem  auch  sei,  die  Ansicht  Paulis  und  Ficks  lenkt  unsere  Auf- 
merksamkeit auf  Beziehungen  zwischen  Thrakien  und  den  „Klein- 
asiaten".    Davon  wollen  wir  hier  einiges  hervorheben. 

Auf  Karlen  deutet  das  Doppelbeil,  das  wir  auf  Münzen  der 
thrakischen  Könige  finden;^  dieses  Symbol  haben  die  Thraker  wahr- 
scheinlich von  der  älteren  Bevölkerung  übernommen.^ 

In  Kreta  finden  wir  einen  Fluß  KsÖQLöog;  „der  kretische  Fluß 
KeÖQLöog  gehört  seinem  Namen  nach  zweifellos  zum  Gebirge  Kiv- 
Sqlov  ...  die  richtige  Form  wäre  also  Kt,{v)6QLa6g^''  (Fick).  Damit 
stimmt  überein,  wohl  nicht  zufällig,  der  Name  des  thrakischen 
Gottes  KsvÖQLaog'^'^  auch  in  Thrakien  haben  wir   den  Ort  KIvöqcc.^ 

Mit  Recht  hat  Tomaschek^  den  ApoUon  in  die  Reihe  der 
thrakischen    Götter    aufgenommen.      Seine    überaus    lebhafte    Ver- 

^  Einl.  in  die  Gesch.  d.  griech.  Spr.  S.  405.  Vgl.  die  von  Fick 
S.  105  f.  aufgezählten  Namen. 

*  Siehe  Bürchner  Die  Besiedelung  der  Küsten  des  Pontos  Euxeinos 
durch  die  Milesier  I  S.  35. 

'  Wie  ich  aus  Lindl  Cyrus  (S.  32)  sehe,  hat  Knudtzon  vermutet, 
daß  die  Hettiter  aus  Thrakien  gekommen  wären. 

*  Beitr.  zur  alt.  Gesch.  IV  390.         ^  Head  Historia  nummorum  p.  240. 
^  Über  die  Verbreitung  des  Symbols  siehe  S.  Müller  Urgeschichte 

Europas  59. 

'  Über  ihn  siehe  Reinach  Bevue  des  etudes  Gr.  XV  (1902)  32  f. 

«  Tomaschek  Die  alten  Thraker  II  2  S.  85.  —  Vielleicht  hängt 
damit  zusammen  auch  der  erste  Bestandteil  des  Namens  Kstql-tcoqis; 
über  das  nasale  s  siehe  Müllenhoff  Deutsche  Altertumsh.  III  163. 

®  ibid.  II 1,  48.  Vgl.  auch  v.  Domaszewski  Belig.  des  röm.  Heeres  S.  53. 


Mitteilungen  und  Hinweise  289 

ehrung  in  Thrakien,  wo  er  mit  verschiedenen  Beinamen  erscheint, 
ist  durch  zahh'eiche  Inschriften  bezeugt.-^  Es  ist  wohl  nicht  zu 
zweifeln,  daß  die  Thraker  diesen  Gott  nicht  erst  von  den  Griechen 
übernommen  haben.  U.  v.  Wilamowitz^  hat  erwieseü,  daß  die 
Griechen  den  Apollon  von  der  „kleinasiatischen"  Bevölkerung  über- 
nommen haben;  aus  derselben  Wurzel  wird  auch  der  thrakische 
Apollon  stammen. 

Dasselbe  wird  wohl  auch  von  Artemis  gelten. 

Die  interessanten  Ausführungen  Ficks  über  den  Phallosdienst 
der  Pelasger^  führen  uns  auch  nach  Thrakien.  Es  sei  erinnert 
an  die  in  Weizenstroh  versteckten  lqcc,  die  thrakische  und  päonische 
Weiber  ''Aqxe^iSl  rrj  ßdödslrj  darbringen  (Herod.  IV  33),  und  die 
auch  im  Hyperboreerkult  eine  Eolle  spielen;  in  diesen  geheimnis- 
vollen iQcc  versteckt  sich  nach  Schroeder^  ein  Symbol  des  Frucht- 
barkeitsdämons. Auch  das  Eselopfer  der  Hyperboreer  deutet  nach 
Kleinasien  hin;  Lampsakos,  wo  das  Eselopfer  in  historischer  Zeit 
bezeugt  ist,  liegt  in  der  Nähe  der  alten  Pelasgerstädte  an  der 
Propontis.  Daß  der  Esel  als  Symbol  der  Zeugungskraft  der  Natur 
eine  Rolle  im  Kultus  der  kleinasiatisch -thrakischen  Urbevölkerung 
gespielt  hat,  wird  man  nicht  bezweifeln.^ 

In  diesen  Zusammenhang  gehört  endlich  auch  Hermes^,  der 
nach  Herodot  (V  7)  der  höchste  Gott  der  thrakischen  Fürsten  war; 
in  ihm  verehrten  sie  ihren  Stammvater.  Daß  „Hermes"  auch  der 
thrakische  Name  des  Gottes  gewesen  ist,  vermutet  mit  Recht 
Tomas chek."^  Auch  dieser  Gott  stammt  von  der  kleinasiatischen 
Bevölkerung,^  von  der  ihn  Griechen  und  Thraker  übernommen 
haben;  darum  trägt  der  Gott  denselben  Namen  bei  beiden  Völkern, 
ebenso  wie  auch  Apollon.  Gawril  Kazarow,  Sofia 


G.  Friederici  bespricht  im  Globus  89,  59 ff.  eine  Zeremonie 
der  Tupi  (Südamerika),  die  mit  dem  Namenwechsel  nach  der 
zu  kannibalischen  Zwecken  erfolgten  Tötung  eines  Feindes  zu- 
sammenhängt. Der  Matador,  der  bei  dieser  Gelegenheit  seinen 
Namen  ändert,  zieht  sich  schließlich  in  seine  Hängematte  zurück, 
muß  still  liegen  bleiben,  darf  gewisse  Dinge  nicht  essen  und  schießt 


^  Dumont-HomoUe  Melanges  d'archedlogie,  den  Index;  auch  die 
Inschriften  in  der  bulgar.  Zeitschrift  Sbornik  des  Ministeriums  für  Volks- 
außlärung  Bd.  XYI— XVII  72. 

^  Hermes  38  (1903)  575  f.  Unabhängig  von  ihm  Hommel  Grundriß 
der  Geogr.  u.  Gesch.  d.  alten  Orients  53. 

'  Siehe  aber  Dieterich  Mutter  Erde. 

*  Arch.  f.  Beligionswiss.  VIII  (1904)  S.  73.  Siehe  auch  Dieterich 
a.  a.  0.  104.  ^  Schroeder  ibid.  77.  «  Fick  S.  66.  45. 

'  a.  a.  0.  II  1  S.  56.  »  gi^he  Hommel  a.  a.  0.  S.  53. 


290  Mitteilungen  und  Hinweise 

mit  einem  kleinen  Pfeil  und  Bogen  auf  eine  wachsbestrichene 
Scheibe.  Alles  dies  sind  Zeremonien,  die  den  Matador  symbolisch 
in  den  Zustand  der  ersten  Kindheit  zurückversetzen,  damit  der 
Geist  des  Erschlagenen  seinen  Mörder  nicht  wiederfindet. 

L.  Deubner 

Zu  dem  vereinzelten  Zeugnis  aus  dem  Bereich  kulturloser 
Völker  für  das  Niederlegen  des  neugeborenen  Kindes  auf 
die  Erde  (Dieterich  Mutter  Erde  S.  15 f.)  kann  man  demselben 
Aufsatz  Friedericis  S.  60  und  63  zwei  Parallelen  entnehmen.  Bei  den 
Tupi  (Südamerika)  wird  das  Neugeborene  von  der  Erde  aufgehoben, 
und  dieselbe  Zeremonie  wiederholt  sich  dreimal  hintereinander  bei 
den  Azteken.  L.  Deubner 

Ein  Pestsegen.  Ein  mir  bekannter  Mann  in  St.  Martin 
(Bezirksamt  Landau  [Pfalz])  besitzt  ein  geschriebenes  Gebetbuch, 
das  sich  seit  sechs  Menschenaltem  als  'Hexenbüchel'  in  der  Familie 
vererbt.  Eines  der  ^Gebete'  lautet:  Es  bezeuget  Herr  Franciscus 
Solarius,  Bischof  zu  Salamanca,  daß  im  Konzilio  zu  Trient  anno 
1547  über  zwanzig  Bischöfe  und  Ordensgenerale  an  der  Pest  ge- 
storben. Da  habe  der  Patriarch  zu  Antiochia  allen  geraten  fol- 
gende Buchstaben,  so  von  dem  h.  Zacharia,  Bischofen  zu  Jerusalem, 
mit  ihrer  Auslegung  und  Beschwöi-ung  hinterlassen  worden,  als  ein 
gewisses  Mittel  gegen  die  Pest  bei  sich  zu  tragen,  und  als  dies 
geschehen,  da  ist  kein  einziger  mehr  an  der  Pest  gestorben,  und 
wenn  man  dieselbigen  Buchstaben  über  eine  Tür  geschrieben,  so 
sind  alle  in  selbigem  Haus  Wohnende  vor  die  Pest  bewahret 
worden: 

+  S.A.B-{-Z.H.G.F 
-{-JB.F.B.S. 

In  Geinsheim  (B.-A.  Neustadt  a.  H.)  sieht  man  heute  noch  diese 
Buchstaben,  in  ein  Holztäfelchen  eingeschnitten,  darunter  die  Jahres- 
zahl 1798,  über  einer  Haustüre  angebracht.  Vgl.  Fr.  Sprater  im 
Pfälzischen  Museum  XXH  (1905)  S.  122.  Statt  F  in  ZHGF  liest 
diese  Inschrift  P,  jedoch  mit  Unrecht.  Th.  Zink  in  Kaiserslautern 
fand  unsere  Inschrift  weiter  in  einem  aus  dem  Fichtelgebirge 
stammenden  Brauchbüchlein,  wie  sie  ja  nach  W.  H.  Eiehl,  Land 
und  Leute  ^  S.  303  "^zum  eigensten  Hausrat  des  Fichtelgebirgs '  ge- 
hören. Für  den  Kreis  Ahrweiler  hat  Jos.  Pohl  die  Inschrift 
nachgewiesen  (R.  Picks  Monatsschrift  f.  d.  Gesch.  Westdeutschlands 
VII  (1881)  S.  270ff.),  für  die  Pertisau  am  Achensee  A.  B.  Meyer 


Mitteilungen  und  Hinweise  291 

(Verhandl.  d.  Berliner  anthropol.  Gesellschaft  1884  S.  56);  wie  ver- 
stümmelt die  Formel  allmählich  wurde,  zeigt  folgende  Fassung: 

lJ^.j2.7.D.^Ä.  +  B,Y.3.S.Ä.B.  +  .3.-{-.H6f.-{-.B.F.2,S.-\-.+.+. 

(Albertus  Magnus,  Ägyptische  Geheimnisse  für  Mensch  und 
Vieh,  II  S.  49  nach  freundlicher  Mitteilung  von  Prof.  Dr.  G.  Heeger 
in  Landau).  Weitere  Nachweise  der  Formel  bietet  R.  Köhler 
(Verh.  d.  Berl.  anthr.  Ges.  1885  S.  145  ff.  =  Kleinere  Schriften  III 
572  ff.).  Unbedeutende  Varianten  weist  die  Buchstabenreihe  im 
Komanusbüchlein,  Druck  von  Bartels,  Berlin,  S.  44,  auf,  deren 
Kenntnis  ich  dem  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  Prof.  Albrecht 
Dieterich  danke.  Auch  der  'Benediktus -Pfennig'  und  die 
^Geistliche  Schildwacht'  kennen  neben  dem  Text  des  ^Hexen- 
büchels'  den  Segen  gegen  die  Pest.  Über  die  richtige  Form,  die  Be- 
I  deutung  und  den  Zweck  der  Formel  unterrichtet  zuletzt  B.  Friesen- 
egger.  Die  Ulrichskreuze,  Augsburg  1894,  40.  Der  Pestsegen  soll 
demnach  von  Papst  Zacharias  (741  —  752)  eingeführt  worden  sein. 
Er  besteht  aus  7  Kreuzen  und  18  Buchstaben:  jedes  Kreuz  bezeich- 
net ein  Gebet,  das  mit  Crux  anfängt,  z.  B.  Crux  Christi,  salva  me! 
Jeder  Buchstabe  ist  der  Anfangsbuchstabe  eines  Wortes,  mit  dem 
wieder  ein  Gebet  beginnt.  Die  richtige  Fassung  wäre  dement- 
sprechend : 

+  Z  +  DIA  +  BIZ  +  SAB  -f  Z  4-  HGF  +  BFBS. 

Den  Wortlaut  der  Gebete,  die  meist  mit  einer  Bitte  um  Abwehr 
der  Pest  schließen,  s.  bei  Friesenegger  a.  a.  0.  Der  Zacharias- 
pestsegen  erscheint  auch  öfter  auf  Medaillen  und  Kreuzen  in  Ver- 
bindung mit  dem  Benediktussegen.    Vgl.  hierzu  weiter  0.  Frank, 

i  Deutsche  Gaue  VI  (1905)  Sonderheft  38;  A.  Stöber,  Sagen  des 
Elsasses,  Straßburg  1892,  I  S.  145.  In  einem  zu  Bamberg  1774 
gedruckten  ^Rituale  Romano -Bambergense'  findet  sich  unter  den 
Benedictiones  extraordinariae  S.  297 ff.  eine  Benediktionsformel  für 
Zachariaskreuze  und  -münzen;  in  der  Beschwörung,  mit  der  die 
Priester  solche  Kreuze  und  Münzen  weihen  und  die  pestverbreitenden 
Teufel  bannen  sollten,  wird  Gott  unter  acht  Namen  (Messias, 
Emanuel,    Sabaoth  usw.)    angerufen.     Ich   vermute    deshalb,    daß 

imit    den    Buchstabengruppen    unserer   Inschrift    nebenbei    vielleicht 

|noch   auf  Namen,   wie  i>JA(bolus),  6MJ5(aoth)  angespielt  werden 

■mochte. 

Ludwigshafen  a.  Rh.  Dr.  Albert  Becker 

Bei  einer  am  19.  März  d.  J.  auf  Veranlassung  von  Dörpfeld 
jim  Opisthodom  des  Heraion  vorgenommenen  Grabung  fand 
isich  eine  prachtvoll  erhaltene  Bronzestatuette  von  23  cm  Höhe, 


292 


Mitteilungen  und  Hinweise 


darstellend  einen  bärtigen  Krieger  mit  Gurt,  Helm  und  reicher  Haar- 
frisur, die  Linke  abwärts  gestreckt,  die  Eechte  erhoben,  die  ein 
Geschoß  gehalten  haben  muß.  Dörpfeld  wies  gleich  auf  Pausanias 
V  17  hin,  wonach  im  Heraion  neben  dem  Herabilde  ein  Bild  des 
Zeus,  bärtig  und  mit  einer  ^vv^  bedeckt,  zu  sehen  war.  Ein  Zu- 
sammenhang ist  nicht  ausgeschlossen,  zumal  die  Statuette  einen 
Blitz  geschwungen  haben  kann.  Die  Wichtigkeit  des  Stückes 
würde  sich  erhöhen,  wenn  die  von  mehreren  Seiten  ausgesprochene 
Ansicht,  die  Statuette  stünde  mykenischer  Zeit  nahe,  sich  festigen 
sollte.^  Wie  dem  sei:  in  jedem  Falle  ist  dieser  Fund,  der  in  der 
Humusschicht  unterhalb  des  Heraion  zutage  kam,  ein  besonders 
hervorragendes  Exemplar  jener  Weihgeschenke,  die  beweisen,  daß 
bereits  vor  der  Erbauung  des  Heraion  an  derselben  Stelle  ein 
Heiligtum  bestanden  hat.  Die  Statuette  kann  nur  ein  Götterbild 
oder  eine  Votivfigur  vorstellen.  Ihre  Publikation  wird  alsbald  in 
den  Athen.  Mitteilungen  erfolgen. 

Olympia  L.  Deubner 

^  Inzwischen  scheint  man  sich  dahin  zu  einigen,  daß  die  Statuette 
aus  hocharchaischer  Zeit  stammt. 


[Abgeschlossen  am  25.  Mai  1906.] 


m^ 


I  Abhandlungen 


Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam 

Von  I.  Goldzilier  in  Budapest 

I 

Unter  den  auf  fünf  Tageszeiten  verteilten  Kultusübungen 
(salät),  zu  denen  der  Islam  seine  Gläubigen  verpflichtet,  wird 
bereits  in  jener  frühen  Zeit,  in  der  die  an  Mohammed  an- 
gelehnten traditionellen  Sprüche  entstanden  sind,  dem  für  die 
Nachmittagszeit  (al-^asr)  verordneten  Ritus  besondere  Be- 
deutung und  Wichtigkeit  zugeschrieben.  Die  für  das  ^asr 
bestimmte  Zeit  beginnt  mit  dem  Ende  des  für  den  unmittel- 
bar vorhergehenden  Mittagsritus  {al-zuhr)  festgesetzten  Zeit- 
raumes; ihre  Dauer  wird  bis  kurz  vor  Sonnenuntergang  aus- 
gedehnt. Jedoch  wird  in  den  alten  Quellen  besonders  ein- 
geschärft, von  dieser  Weite  der  Grenzbestimmung  keinen 
Grebrauch  zu  machen,  sondern  das  ^asr  möglichst  zu  vollziehen, 
jolange  die  Sonne  noch  „hoch  oben  steht  und  lebendig  ist" 
wal-samsu  murtafi^atun  hajjatun)}  'Ajischa  berichtet,  daß 
ler  Prophet  diesen  Ritus  zu  einer  Tageszeit  zu  vollziehen 
3flegte,  als  die  Sonne  noch  kräftig  in  das  Wohngemach  hin- 
jinleuchtete  und  als  noch  kein  Schatten  in  demselben  fühlbar 


^  Dies  wird  in  einer  Version  bei  Ibn  al-Gärüd  al-Nisäbüri  al- 
Muntakä  min  al-sunan  (Haidaräbäd  1315)  78  so  ausgedrückt,  daß  der 
i^rophet  den  Biläl  das  Adän  zum  'asr  rufen  ließ:  wal-samsu  murtafi'atun 
i)aidä'u    nakijjatun    „solange    die    Sonne    hoch    stand,    weiß   und    rein 

glänzend)". 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  20 


294  I-  Goldziher 

war.  Ein  Genosse  des  Propheten,  der  viele  Jahre  immer  in 
seiner  Umgebung  war  und  seine  Lebensgewohnlieiten  am  besten 
kannte,  erzählt,  daß  der  Prophet  das  ^asr  zu  einer  Zeit  ver- 
richtete, daß  er  nach  Beendigung  desselben  noch  nach  el-^Awäli 
ging  (die  Bestimmung  der  Entfernung  variiert  zwischen  vier 
und  acht  mil,  1 — 2  deutsche  Meilen,  von  Medina)  und  dort 
die  Sonne  noch  hoch  stehend  sah.^  Man  erzählt,  daß  *Alä 
einst  in  Basra  den  Anas  ihn  Mälik  (Abu  Umajja)  besuchte,  als 
dieser  eben  aus  der  benachbarten  Moschee  vom  Mittagsgottes- 
dienst kam.  Auf  die  Frage  des  ^Alä,  ob  sie  das  ^asr  bereits 
verrichtet  haben,  wies  Anas  darauf  hin,  daß  sie  ja  soeben  erst 
vom  mhr  (Mittagsgebet)  kämen.  Darauf  jener:  So  verrichtet 
denn  gleich  auch  das  ^asr,  denn  ich  habe  den  Propheten  sagen 
hören,  daß  es  Gewohnheit  der  munäfiJcün  sei,  mit  dem  ^asr  so 
lange  zu  warten,  bis  die  Sonne  zwischen  den  Hörnern  des 
Satans^  ist  (dem  Niedergange  naht).^ 

Es  wird  demgemäß  Wert  darauf  gelegt,  möglichst  den 
Beginn  der  für  das  '^asr  bestimmten  oberen  Zeitgrenze  zu  be- 
nutzen^ und  von  der  durch  das  Gesetz  zugebilligten  Latitude 
keinen  Gebrauch  zu  machen.  Mit  einem  Wort,  man  möge  sich  be- 
streben, das  ^asr  in  der  frühesten  Nachmittagszeit  zu  verrichten.^ 

^  Buchäri  Mawalüt  al-salät  Nr.  12  ff.  Les  traditions  islamiques  tra- 
duites  de  Vardbe  par  0.  Houdas  et  W.  Mar9ais  I  (Paris  1908)  192—194. 

*  Über  die  Bedeutung  dieser  Phrase  s.  meine  Ähhandl.  zur  arab. 
Philoll  113—115. 

^  Sunan  dl- Nasa' i  I  89,  Muslim  II  149. 

*  Ygl.  ju'ag^ilüna  al-'asr,  Mukaddasi  ed.  de  Goeje  130,  13.  Als 
mittlere  Zeit  wird  ungefähr  drei  Stunden  nach  Mittag  betrachtet 
(Snouck  Hurgronje  Mekka  II  91,  3);  für  die  Zeitbestimmung  dient  ge- 
wöhnlich die  Länge  des  von  den  Gegenständen  geworfenen  Schattens; 
Lane  Manners  and  customs  of  the  modern  Egyptians^  (London  1871) 
I,  91  Anm. 

^  Nichtsdestoweniger  wird  in  der  Gesetzschule  des  Abu  Hanifa  ge- 
lehrt, daß  es  kein  Vorzug  sei,  das  'asr  zu  beschleunigen;  die  anderen 
drei  orthodoxen  Schulen  halten  sich  an  den  Sinn  der  oben  angeführten 
Traditionslehren;  Bahmat  al-umma  15,  5  v.  u.  (wa-ta'gil  al-'asr  afdal 
illä  'inda  Abi  Hanifa). 


Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeifc  im  Islam  295 

In  der  Tat  wird  die  Zeitbestimmung  „zwischen  Mittag 
und  ^asr^^  zur  Umschreibung  eines  ganz  kurzen  Zeit- 
raumes gebraucht.^ 

II 

Man  findet  manche  Spur  davon,  daß  im  alten  Islam 
diesem  ^asr  eine  ganz  besondere  Yorzüglichkeit  vor  allen 
anderen  Riten  zugeeignet  wurde.  Der  überwiegende  Teil  der 
alten  Koranexegeten  deutet  in  der  medinensischen  KoransteUe 
Sure  2,  239  „Beobachtet  die  Gebete  und  das  mittlere  Ge- 
bet"^ diesen  besonders  hervorgehobenen  Ritus  auf  das  ""asr^ 
und  erklärt  dabei  das  Wort:  al-wustä  (das  mittlere)  im  Sinne 
des  altarabischen  Sprachgebrauchs  in  der  Bedeutung:  das  vor- 
nehmste. Nach  einigen  Traditionen*  soll  sogar  im  ursprüng- 
lichen Korantext  hier  statt  al-wustä  (das  mittlere)  ausdrück- 
lich al-^asri  gestanden  haben,  nach  anderen,  dem  jetzigen 
Text  ein  explikatives  wa-saläti-l-^asri  hinzugefügt  gewesen 
sein.^  Diese  ganz  unzulässigen  Voraussetzungen  sind  aber 
jedenfalls  Zeugnisse  für  den  bevorzugten  Charakter  des  salät 
al-^asr  im  Bewußtsein  der  alten  Islamlehrer.  Sie  wurden 
eben  durch  die  Überzeugung  von  einem  solchen  Charakter 
erst  hervorgerufen.® 


*  Jäm  III  478,  4. 

^  Vgl.  Houtsma  lets  over  den  dagelijlcschen  Salat  der  Mohammedaner 
{Theolog.  Tijdschrift  XXIV  130)  und  die  Korankommentare  zu  2,  239. 

^  Bei  Ihn  Mäga  (Dihli  1282)  50:  Die  Ungläubigen  hinderten  (während 
des  „Grabenkampfes")  den  Propheten,  das  'asr  zu  verrichten  bis  zum 
Sonnenuntergang;  da  sprach  er:  „Sie  haben  uns  vom  mittleren  salät 
zurückgehalten,  möge  AUäh  ihre  Häuser  und  Gräber  mit  Feuer  erfüllen," 

*  Buchäri  Tafsir  Nr.  19  und  dazu  die  bei  Kastalläni  z.  St.  VII  45  f. 
gesammelten  alten  Nachrichten. 

^  Muwatta'  (mit  Zarkäni)  I  254  —  255  (sehr  wichtig  für  diese  Frage). 

^  Wir  wollen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  nicht  in  anderen 
Traditionen  etwa  Opposition  gegen  die  Bevorzugung  des  *asr  sich  kund- 
gibt; z.  B.  in  einem  sicherlich  an  obige  Koranstelle  sich  anschließenden 
Hadlt- Spruch :  häfiz'alä-l-'asreini  „Beobachte  die  beiden 'asr"  (d.  h. 
Früh-  und  'asr- Gebet,  a  potiori)  bei  Nihäja  III  101,  Lisän  VI  252,  Tag 

20* 


296  ^-  Groldziher 


I 


In  einer  bei  al-Tirmidi  verzeiclineten  Nachriclit  sagen 
einmal  die  heidnischen  Gegner  von  der  gegen  sie  heranziehen- 
den Schar  Mohammeds:  „sie  hätten  ein  Gebet,  das  ihnen  lieber 
sei  als  ihre  Väter  und  ihre  Kinder;  dies  sei  das  ^asr^^}  Und 
auch  für  Einzelbitten  wird  in  manchen  traditionellen  Sprüchen 
dieser  Zeit  ein  besonderer  Erfolg  zugeschrieben.  Der  schiHtische 
Imam  Abu  ^Abdallah  Ga'far  al-Sädik  (st.  765)  erzählt,  daß 
sein  Vater,  wenn  er  Gott  eine  Bitte  anheimstellen  wollte, 
dazu  die  Zeit  wählte,  wann  die  Sonne  von  ihrer  Mittagshöhe 
abzubiegen  beginnt  (zawäl  al-sams).  Dies  wird  auch  von 
anderen  Imamen  wiederholt;  freilich  kommen  in  solchen  Tra- 
ditionen auch  andere  Zeitbestimmungen  vor.^  In  der  „Nahrung 
der  Herzen"  des  Mystikers  Abu  Tälib  al-Mekki  wird  als  Spruch 
des  Propheten  angeführt:  „Wenn  jemand  zu  jener  Zeit  vier 
ra¥ah's  verrichtet  und  .dabei  die  Koranrezitation,  die  Knie- 
beuscuns  und  Prosternation  korrekt  vollführt,  so  beten  70000 
Engel  mit  ihm  und  flehen  bei  Gott  um  Sündenvergebung  für 
ihn.  Denn  die  Tore  des  Himmels  werden  zu  dieser  Stunde 
geöffnet,  und  ich  liebe  es,  daß  man  gerade  damals  von  mir 
eine  fromme  Handlung  vorlegen  könne."  ^ 

Bei  keiner  der  Gebetzeiten  außer  diesem  ^asr  werden  den 
der  Gesetzübertretung  im  allgemeinen  geltenden  Drohungen 
noch  spezielle  Warnungen  hinzugefügt.  „Wer  das  ^asr  ver- 
nachlässigt, geht  des  Verdienstes  seiner  bona  opera  verlustig 
Qidbita  ^amaluhu)"'^  in  einem  anderen  Spruch  wird  von  einem 
solchen  gesagt,  er  sei  „als  ob  er  seiner  Familie  und  seiner 
Habe  beraubt  würde"  (Jca'annamä  wutira  ahlahu  wa-mälahu)^ 


dl-arus  III  404.  Es  würde  zu  weit  führen,  diesen  Gesichtspunkt  hier 
weiter  zu  verfolgen. 

^  Tirmidi  Sunan  II  172,  13:  inna  li-ha'ulä'i  salätan  hija  ahabbu 
ileihim  m^n  äbä'ihim  wa - abnä'ihim  wahija-l-'asru. 

2  Kulini   Uml  al-Käß  (Bombay,  Hth.  1302)  594. 

8  mt  al-iulüb  (Kairo  1310)  I  27  vgl.  11  146. 

*  Buchäri  Mawakit  1.  c.  Houdas  -  Margais  194,  Muwatta'  Seibänl  134; 
Muslim  II  150.     Es  ist  interessant,    zu  beobachten,    daß  in  einigen  in 


i 


Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam  297 

Hingegen  wird  jenem,  der  das  ^asr  regelmäßig  leistet, 
doppelter  Lohn  zugesagt.^  Schön  den  früheren  Religions- 
genossenschaften sei  dies  Gebet  angeboten  worden;  sie  fanden 
es  aber  als  zu  beschwerlich  {takulat  ^aleihim)  und  lehnten  es 
ab.  Erst  mit  dem  Islam  sei  es  durchgesetzt  worden.  Es  über- 
ragt den  Wert  der  anderen  Gebete  um  2Q  Grad  (daragat)} 

Es  braucht  nicht  bewiesen  zu  werden,  daß  der  Schwur 
„Beim  *asr",  mit  dem  die  103.  Sure  des  Korans  beginnt,  mit 
der  dem  salät  dl-^asr  zugeschriebenen  Weihe  (wie  z.  B.  Baidäwi 
an  erster  Stelle  erklärt)  nichts  zu  tun  hat.^  Zur  Zeit  der 
Offenbarung  dieses  mekkanischen  Orakels  war  ja  jenes  Gebet 
noch  gar  nicht  eingerichtet.  Schon  mohammedanische  Kom- 
mentatoren weisen  eine  solche  Beziehung  mit  dem  richtigen 
Hinweis  darauf  zurück,  daß  ja  am  Anfang  einer  anderen  Sure 
(93)  der  Schwur  bei  anderen  Tageszeiten  angewandt  wird.* 

III 

Die  besondere  Weihe  und  Bedeutung,  die  man  dieser 
Tageszeit  zueignet,  ist  noch  aus  einer  anderen  Erscheinung 
ersichtlich.  Man  läßt'  gerichtliche  Eide  im  Zusammenhang  mit 
dem  ^asr  ablegen.^  Die  Abnahme  des  Schwures  in  Verbindung 
mit  dem  Gebet  (ha^d  al-saläti)  wird,  wenigstens  für  einen  be- 
stimmten Fall  (Zeugeneid  betreffs  eines  mündlichen  Testamentes), 
bereits   im   Koran   (5,  105)   angeordnet.     Die   Kommentatoren 

'Alä  al-din  al-Muttaki  ^s  Kanz  al-ummal  IV  83  —  84  gesammelten  Ver- 
sionen diese  Warnung  denen  gilt,  die  das  salät  al-'asr  bis  zum  Sonnen- 
untergang, also  bis  zur  gesetzlich  zulässigen  Zeitgrenze  hinausschieben 
(s.  0.).  ^   Usd  al-gäba  V  148  unten;  vgl.  ZDMG  III  385  Anm. 

^  Kanz  al-ummal  IV  84  Nr.  1716. 

^  Unter  den  im  Tafsir  al-Tdbari  (XXX  160)  mitgeteilten  alten  Er- 
klärungen wird  diese  nicht  erwähnt. 

*  Vgl.  Fachr  al-dm  al-Bäzi,  Mafätih  z.  St.  VIII  675. 

^  Ganz  ohne  Bedeutung  ist  es  wohl,  wenn  in  einer  Schwurformel 
des  Dichters  Kutejjir  als  der  Zeitpunkt  des  Schwures  der  Abend  be- 
zeichnet wird:  halafta  .  .  .  .'asijjatan  (Jäküt  IV  769,  11);  *a^ijjatan 
scheint  hier  nur  Flickwort  zu  sein. 


298  I-  Goldziher 


I 


wollen  darunter  das  salät  al-'^osr  verstehen;  diese  Spezialisierung 
ist  jedoch  wahrscheinlicli  erst  in  der  Zeit  nach  Mohammed 
erfolgt.  Aus  einer  Reihe  von  Beispielen  aus  früher  Zeit,  die 
ich  gesammelt  habe,  hebe  ich  die  folgenden  heraus. 

Der  Kalife  ^Omar  läßt  den  Fezäriten  Manzür  ihn  Zabbän, 
der  zur  Zeit  des  Heidentums  die  Gattin  seines  verstorbenen 
Vaters  geehelicht  hatte  und  dies  blutschänderische  Verhältnis 
im  Islam  fortsetzte^,  zur  *asr-Zeit  vierzig  Eide  darauf  ab- 
legen, daß  ihm  das  auf  eine  solche  Ehe  bezügliche  Verbot 
des  Islam  unbekannt  war.  Daß  die  Eide  nach  dem  ^asr- Gebet 
abgelegt  wurden,  wird  hier  nicht  ausdrücklich  gesagt.  „Man 
behielt  ihn  im  Kerker  bis  zur  Zeit  des  ^asr- Gebetes"^  oder 
„bis  nahe  zum  ^a."^,  dann  ließ  man  ihn  schwören. 

Ibn  abi  Muleika,  dem  die  Aufsicht  über  die  Bevölkerung 
von  Tä'if  anvertraut  war,  holte  sich  bei  dem  alten  Ibn  ^Abbäs, 
der  in  Rechtssachen  als  Orakel  galt,  Rats  darüber,  wie  er 
gegen  eine  Sklavin  vorzugehen  habe,  die  laut  der  durch  einen 
rechtsgültigen  Beweis  nicht  bekräftigten  Anklage  ihrer  Ge- 
nossin diese  geschlagen  habe.  Ibn  ^Abbäs  gab  ihm  die  Weisung, 
daß  er  die  Verklagte  nach  dem  ^asr  festnehmen  lasse  und 
ihr  die  Koranworte  3,  71  („die  aber  den  Bund  Allahs  und 
ihre  Schwüre  für  geringen  Lohn  verkaufen"  usw.)  zu  Gewissen 
führe.  So  verfuhr  man  auch  und  die  Angeschuldigte  wurde 
geständig.*  Die  Anwendung  des  Koranverses  läßt  nicht  daran 
zweifeln,  daß  die  Prozedur  in  der  Weise  beabsichtigt  war,  die 
Angeklagte  im  Leugnungsfalle  auf  ihre  Aussage  einen  Eid 
leisten  zu  lassen.  Also  die  Eidesabnahme  in  Verbindung  mit 
dem  ^asr. 

Nach  einer  Nachricht  bei  Abu-1-farag  al-Isfahäni  in 
seinem  semitischen  Martyrologium  gab  der  Kalife  Hisäm  I. 
in  einem  obschwebenden  Rechtsfalle  die  Verordnung,  daß  vor 
allem    vom  Kläger    ein    Beweis   (hajjind)    für    seinen    Rechts- 

*  Muh.  Stud.  I  26.         2  jigänt  XI  55  paenult.        »  Ibid.  XXI  261,  3. 

*  Musnad  dl-Säfi  89. 


Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam  299 

anspruch  gefordert  werde;  wäre  er  nicht  imstande,  einen 
solchen  beizubringen,  „so  leget  der  Gegenpartei  nach  dem 
V/sr  einen  Eid  auf  bei  AUäh,  außer  dem  es  keine  Gottheit 
u,ibt,  daß  der  Kläger  ihr  nichts  zur  Verwahrung  gegeben  und 
(laß   er   überhaupt   keine  gültige  Forderung  zu  stellen  habe".^ 

Als  merkwürdige  Rechtsentscheidung  des  Abu  Müsä  al- 
As^ari  wird  folgendes  überliefert.  In  Angelegenheit  der  letzt- 
willigen Verfügung  eines  Muslim  in  Dakükä'  melden  sich  zwei 
christliche^  Zeugen;  als  die  Erben  ihre  Aussage  anzweifelten, 
ließ  Abu  Müsä  die  beiden  Christen  nach  Küfa  kommen  und 
nahm  ihnen  nach  dem  '^asr  einen  Eid  ab  des  Inhaltes:  „Bei 
AUäh,  wir  haben  uns  für  diese  Zeugenaussage  nichts  bezahlen 
lassen,  wir  verheimlichen  nicht  das  Zeugnis  Allahs;  ansonst 
mögen  wir  zu  den  Sündigen  gerechnet  werden".^ 

Nach  einer  nicht  allgemein  anerkannten  Textversion  soll 
auch  für  den  feierlichen  Zi^ä?«- Eidfluch  (Koran  24,  6  ff.) 
zwischen  Ehegatten  (wenn  jemand  sein  Weib  ohne  Zeugen- 
bekräftigung der  Untreue  zeiht),  der  nach  einigen  Gesetzes- 
j  gelehrten  zur  Klasse  der  Eide  gerechnet  wird*,  dieselbe  Zeit 
bestimmt  gewesen  sein.^ 

Wir  sehen  hier  eine  Reihe  von  Beispielen  für  die  Tat- 
sache, daß  man  die  Wahl  der  Zeit  des  ^asr  zur  Ablegung  des 
Eides  als  Verschärfung  (tagliz)  desselben  betrachtete.  Man 
scheint  vorauszusetzen,  daß  der  Schwörende  aus  Scheu  vor 
der  heiligen  Weihe   derselben   zu   dieser  Tageszeit    nicht    den 


^  Makätil  dl-Talibijjlna  162. 

^  Bei  Ibn  Kajjim  al-Gauzija,  al-turuk  al-hiJcmijja  fi-l-sijäsat  al- 
safijja  164,  wo  dieser  Rechtsfall  mitgeteilt  ist,  wird  der  Umstand,  daß 
es  christliche  Zeugen  waren,  verschwiegen;  statt  nasränijjän  (zwei 
Christen)  nur  allgemein  ragulän  (zwei  Männer). 

»  Därakutni  Sunan  (Dihli  1300)  495. 

^  Nach  Mälik  und  al-Säfi'i  wird  das  Li'än  als  Eidesleistung,  nach 
Abu  jjanifa  wird  es  als  Zeugenschaft  behandelt,  Kastalläm  YIII  194. 

^  Zarkäni  zu  Muwaüa'  III  50,  5  v.  u.  fatalä'anä;  al-Zuhri  f  ba'da- 
l-'asri. 


I 


300  I-  Goldziher 

Mut  haben  würde,  einen  Meineid  zu  schwören.  In  der 
heißt  es  auch  in  einem  Traditionsspruch:  „Dreierlei  Leute  sind 
es,  die  Gott  (am  Tage  des  Gerichtes)  nicht  anreden  und  auf 
die  er  nicht  blicken  und  denen  er  kein  Verdienst  anrechnen, 
die  er  hingegen  mit  schmerzlicher  Strafe  züchtigen  wird 
einen  Mann,  der  nach  dem  "^asr  um  eine  Ware  feilscht  u 
bei  Gott  schwört  usw."^ 

Was    ist  nun    aber    die    Ursache,    die   der   Tageszeit 
^asr  in   dem  religiösen  Vorstellungskreis    jene  Weihe   verli 
die    wir    an    zwei    hervorragenden    Momenten    des    religiösen 
Lebens  beobachten  konnten? 

Die  mohammedanische  Überlieferung  selbst  gibt  uns  den 
Grund  für  diese  Erscheinung  an  die  Hand.  Um  die  ^asr-Zeit 
—  so  belehren  uns  die  alten  Theologen  des  Islam  —  lösen 
die  zur  Überwachung  der  Welt  herabgesandten  Engelscharen 
einander  ab;  die  Tagesengel  kehren  in  den  Himmel  zurück, 
während  die  für  die  andere  Hälfte  des  Tages  abgeordneten 
Engel  auf  der  Erde  erscheinen.  Man  möge  nun  bestrebt  sein, 
daß  die  zurückkehrenden  Engel  auf  die  Frage  Allahs:  „Wie 
habt  ihr  meine  Diener  zurückgelassen?"  den  Bericht  erstatten 
können,  daß  sie  die  Muslims  im  Gottesdienst  verlassen  habend 
Dieselbe  Ablösung  findet  allerdings  auch  zu  anderer  Tageszeit 
statt;  aber  islamische  Kommentatoren  konstatieren,  daß  auf 
die  Nachmittagsabwechslung  mehr  Gewicht  gelegt  wurde.  Es 
sei  dies  die  Zeit,  in  der  die  Engel  über  die  Taten  der 
Menschen  Bericht  erstatten  (waU  irtiß^  äl-a^maiy.  Man  müsse 
also  während  dieser  Zeit  möglichst  in  frommen  Handlungen 
begriffen  sein.  Es  folgt  daraus,  daß  es  gefährlich  sei,  gerade 
zu  dieser  Zeit  Gott  durch  lügenhafte  Anrufung  seines  Namens 
zu  beleidigen. 


^  Buch.  Sahädät  Nr.  23  und  auch  sonst  in  den  anderen  Sammlungen, 
^  Buch.  Mawäkit  al-salät  Nr.  16   {Houdas -Margais  I  194),  Tauhid 
Nr.  24,  Murtadä  al-Zabidi,  Ithäf  al-sädat  al-muttakm  III  280. 

'  Bei  Kastallänl  IV  457.  ,, 


Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam  301 

Die  Vorstellung,  daß  Gott  zur  Zeit  des  Nachmittagsgebetes 
Gericht  über  die  Menschen  hält,  ist  in  diesem  Kreise  nicht 
vereinzelt.  Sie  begegnet  uns  auch  in  der  jüdischen  Kabbala, 
wie  dies  mehrere  Stellen  des  Zöhar-Buches  beweisen,  deren 
Inhalt  gewiß  auf  ältere  Überlieferung  zurückgeht.  Die  Zeit 
des  Minchäh- Gebetes  (dem  das  mohammedanische  salät  al-^asr 
entspricht)  wird  als  die  Tageszeit  bezeichnet,  in  der  Gott,  mit 
Ausnahme  des  Sabbatnachmittags,  scharfes  Gericht  über  die 
Menschen  hält  und  in  der,  bis  zum  Einbruch  der  Nacht,  die 
hohe  Gewalt  über  die  Welt  herrscht.^ 

IV 

Wenn  wir  nun  aber  zu  den  islamischen  Vorstellungen  von 
der  ^asr -Zeit  zurückkehrend,  auf  die  Frage  übergehen,  welches 
wohl  die  Quelle  davon  ist,  daß  man  in  jenen  Kreisen  mit 
dieser  Tageszeit  die  Abwechslung  der  Engelscharen  und  den 
Bericht  über  die  Andachtsübung  der  Menschen  in  Verbindung 
setzt,  so  möchten  wir  zur  Beantwortung  dieser  Frage  folgende 
Meinung  wagen.  Jene  Vorstellungen  sind  nicht  als  genuin 
islamisches  Produkt, '  sondern  als  von  außen  eingedrungenes 
Element  zu  betrachten.  Die  Keime  dazu  sind,  nach  unserer 
Ansicht,  in  der  „Stundentafel"  zu  finden,  die  auch  in  dem 
jüngst  durch  C.  Bezold  in  arabischem  und  äthiopischem  Text 
herausgegebenen,  auf  ein  griechisches  Original  zurückgehenden 
Testamentum  Adami  reproduziert  ist.  In  dieser  von  Adam 
dem  Seth  mitgeteilten  Stundentafel,  in  der  die  überweltlichen 
Vorgänge   auf  die   einzelnen  Stunden  des  Nvx%"iqiieQov  verteilt 

*  Perikope  Jithrö  (ed.  Amsterdam  II  88b  unten):   s^n'^ttJ  hz'z  itn  i<n 

I  "p-iSHT:  "psi"!  h2^  i^-^b^  xs^pn  xr"i  nnsTa^i  xri?::^  ^nraj  nü^  "la  NrnttJi  ^ai^ 

[  (nur    am    Sabbat    nictit,    da   herrscht    das    höchste   Wohlgefallen    5<1>"i 

n3rü5X  Nl"-!-:);  Perik.  Näsö,  Anf.  (ed.  Amsterd.  II  121a):  Nnibs"!  Nrs'ü:n 

H'ib-'b  bxri  j<nx"i  "ir  5<72brn  X'jba;  r\i<hs  n^n:i 5<^byn  t^-^iü  &<rn  nn:^"i 

Nach  dem  späten  Midrasch  Seder  Gan  "Eden  (Beth  ha-midräs,  ed 
Jellinek  III  131)  werden  die  Gesetzesübertreter  von  der  Minchäh- Zeit  ab 
durch  die  züchtigenden  Engel  herbeigeholt  und  in  die  Hölle  geführt. 


302     I-  Groldziher    Die  Bedeutung  der  Nachmittagszeit  im  Islam 

sind,  wird  die  siebente  Tagesstunde  in  folgender  Weise  charak- 
terisiert^: „In  der  siebenten  Stunde  gescbiebt  der  Eintritt  zu 
Grott  und  der  Ausgang  von  ihm,  denn  in  dieser  Stunde  werden 
Gott  die  Gebete  aller  Lebenden  vorgetragen";  in  einer  anderen 
erweiterten  Version:  „wenn  der  Mensch  zu  dieser  Zeit  betet, 
schließt  sich  seine  Lobpreisung  der  Lobpreisung  der  Engel  an 
und  sein  Gebet  findet  Erhörung  bei  Gott".^  Also  Abwechslung 
der  Engelscharen,  Vortrag  der  Gebete  und  zugesicherte  Er- 
hörung. 

Die  siebente  Tagesstunde  ist  eben  der  Beginn  des  ^asr, 
unmittelbar  nach  Schluß  der  Mittagszeit  (sechste  Stunde).  Wir 
haben  eingangs  gesehen,  daß  es  in  den  ältesten  religiösen 
Dokumenten  empfohlen  wird,  das  ^asr- Gebet  möglichst  am 
Beginn  des  für  dasselbe  zugelassenen  weiten  Zeitumfanges  zu 
erledigen.  Die  weite  Verbreitung  des  Testamentum  Adami  im 
morgenländischen  Christentum  gibt  der  Möglichkeit  Raum,  daß 
die  in  demselben  erläuterten  Ideen  in  den  islamischen  Volks- 
glauben eindringen.  Dafür  gibt  es  ja  viele  Beispiele.  War 
nun  einmal  der  Glaube  an  die  besondere  Wichtigkeit  der  ^asr- 
Zeit  für  die  Anrufung  Gottes  in  den  religiösen  Vorstellungs- 
kreis eingedrungen  und  in  muslimischem  Sinne  bearbeitet, 
konnte  er  sich  leicht  auch  auf  die  Voraussetzung  der  Scheu 
vor  Profanierung  derselben  im  Eid  ausdehnen.  Diese  mit 
dem  Nachmittagsgebet  verbundenen  Vorstellungen  übertrugen 
sich  dann  auf  den  ganzen  Zeitraum,  auf  den  sich  das  ^asr  im 
Sinne  der  legalen  Bestimmungen  erstrecken  darf 

^  Orientalische  Studien  (Theodor  Nöldeke  gewidmet)  898,  10.     Wir 
zitieren  nach  dem  arabischen  Text. 
2  ed.  Bezold,  ibid.  906,  8  v.  u. 


Die  luppitersäule  in  Mainz 

Von  Alfred  von  Domaszewski  in  Heidelberg 

Die  vor  kurzem  in  Mainz  entdeckte  luppitersäule  ist  von 
so  hervorragender  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Religion 
auf  gallischem  Boden,  daß  eine  Erörterung  dieses  einzigen 
Fundes  den  Lesern  des  Archivs  erwünscht  sein  wird.^ 

Auf  einem  doppelten  Sockel  von  2,98  Meter  Höhe  erhebt 
sich  eine  Säule,  deren  Schaft  und  Kapitel  5,60  Meter  mißt. 
Darauf  ruht  eine  Basis  von  0,62  Meter,  die  das  bronzene  Stand- 
bild eines  luppiter  trug.  Die  Vorderseite  der  oberen  Sockelstufe 
trägt  die  Inschrift:  I(ovi)  o(ptimo)  m(aximo)  pro  [sa]l[ute 
Nergnis]  Claufdji  Caesaris  Au[g(usti)]  imp(eratoris)  Canabarii 
pub[l]ice  L.  Sulpicio  Scri[bJonio  Proculo  leg(ato)  Äug(usti) 
p[r(o)]  [p]r(aetore);  cura  et  impensa  Q.  luli(i)  Prisci  et 
Q.  luli(i)  Audi.  —  L.  Sulpicius  Scribonius  Proculus  wurde, 
als  Statthalter  Obergermaniens,  im  Jahre  67  zugleich  mit  seinem 
Bruder  Rufus,  der  Niedergermanien  verwaltete,  von  Nero  ab- 
berufen und  von  dem  Virtuosen  in  Griechenland,  wie  auch  der 
Bruder  zum  Selbstmord  gezwungen.  Das  Schicksal  der  edeln 
jBrüder  hat  selbst  in  jener  Zeit,  die  die  Schandtaten  des 
Schlächters  des  altrömischen  Adels  mit  stumpfem  Knechtssinn 
ertrug,  ungewöhnliche  Teilnahme  hervorgerufen.^  Errichtet 
wurde  das  Denkmal  von  den  im  Umkreis  des  Lagers  an- 
gesiedelten Römern^  unter  der  Leitung  und  auf  Kosten  zweier 


^  Körber  Die  große  luppiter  -  Säule  \on  Mainz,  Mainzer  Zeitschrift 
1,  1906,  54fiF. 

*  Prosopogr.  imp.  Born  III  p.  186  n.  217.  219.  Tacitus  Teilnahme 
lan  Galbas  unglücklichem  Cäsar  Piso  ist  eine  Huldigung  für  das  erlauchte 
Haus  der  Scribonier.  '  Ygl.  über  die  Canabarii  oben  S.  153. 


304 


Alfred  von  Domaszewski 


Männer,  die  wahrsclieinlicli  als  die  obersten  Beamten  der  Cana- 
barii,  ihre  magistri  zu  fassen  sind. 

Die  Künstler,  welche  das  Werk  gefertigt  haben,  nennen 
sich  auf  der  obersten  Platte  der  unteren  Sockelstufe:  Samus 
et  Severus  Venicari  f(ilii)  sculpserunt.  Die  Gliederung  des 
Sockels  in  zwei  Stufen  ist  bedingt  durch  das  Bestreben,  die 
Weihinschrift  in  Sehweite  zu  bringen.  Dieser  scheinbare 
Zwang  des  tektonischen  Aufbaues  scheidet  die  Bildwerke,  die 
beide  Stufen  des  Sockels  und  den  Schaft  der  Säule  umziehen, 
in  drei  Gruppen.  In  Wahrheit  hat  der  Künstler  bei  dieser 
Gliederung  die  höchste  Freiheit  walten  lassen,  um  die  Gedanken, 
die  er  im  Bilde  verwirklichen  sollte,  in  reiner  Klarheit  hervor- 
treten zu  lassen.  Zur  leichteren  Übersicht  gebe  ich  ein  Schema 
der  auf  der  Säule  gebildeten  Göttergestalten  (vgl.  die  Tafel  II): 


"Hga 

ZeXrivn                           "miog 

Genius 
Augusti 

Lar 

JiovvGog 

Lar 

Maia 

Aequitas 

Jn^zriQ 

nsQöscpovTi 

Honos 

Pax 

Virtus 

'''HqiaLöTog 

IIoGELd&V 

"AQXB^ig 

"Agrig 

Victoria 

Insclirift 

Dioskur 

'ATCoXXaiv 

Dioskur 

Zsvs 

'AQ-nvu 
Fortuna 

'HQuyiXfig 

Mercurius 
Rosmerta 

Schon  durch  ihre  Größe  erscheinen  die  Götter  auf  den 
Reliefs  der  unteren  Sockelstufe  als  die  Hauptgestalten  jenes 
Kultes.  Es  sind  luppiter,  Minerva  mit  Fortuna,  Herkules 
Mercurius  mit  Rosmerta.  Die  Doppelgestalten  an  den  Seiten- 
flächen des  Sockels  dienen  nicht  nur  der  künstlerischen 
Symmetrie,  sondern  sie  sind  gefordert,  um  die  eigentliche  Be- 
deutung der  Minerva  und  des  Mercurius  in  ihren  Begleitern 
erscheinen   zu   lassen.     Mercurius   ist   durch  Rosmerta   als  der 


Die  luppitersäule  in  Mainz  305 

gallische  Gott  bezeichnet/  Dagegen  die  drei  anderen  Gott- 
heiten, luppiter,  Minerva,  indem  ich  Fortuna  zunächst  aus- 
scheide, und  Herkules  bilden  eine  Dreiheit  jener  Art,  wie  sie 
Usener  nach  ihrer  tieferen  Bedeutung  erläutert  hat.^  Die  innere 
Notwendigkeit,  durch  welche  die  Glieder  dieser  Dreiheit  zu- 
sammenhängen, läßt  die  Wiederholung  des  luppiter  auf  dem 
Sockel  erkennen,  dessen  Standbild  doch  die  Säule  selbst  trug. 
Entstanden  ist  diese  Dreiheit  im  griechischen  Glauben,  der 
allein  Zsvg,  ^Ad')]vä,  ^HQa^cXfjg  als  eine  Einheit  empfinden 
konnte.^  Auf  griechischem  Boden  in  lonien  ist  diese  Dreiheit  j 
allein  in  einem  hohen  Kunstwerk  nachzuweisen.  Strabon  14,  j 
1,  14  Samos  —  tö  ^Hgalov  —  x6  ts  vjtatd'Qov  o^oCog  iisötbv 
ccvdQLccvtcjv  h(5rl  tcjv  ccqCötcov'  cdv  XQCa  Mvgcovog  sQya  Tioloö- 
6mä  iÖQv^evcc  btcI  ^läg  ßccdscog,  et  '^qe  ^sv  'Avtaviog^  ävsd"rjxs 
dh  Ttdltv  6  Esßaötog  KalöaQ  sig  rr^v  avtriv  ßdöiv  xa  dvo,  %'r\v 
'Ad-Tjväv  xal  rbv  'HQaTcXsa,  tbv  dh  zJCcc  sig  tb  Ka7Cst6?.iov 
list7]V£yKS,  xaraöKSvdöag  avrq)  vaiGxov.  Ist  die  Dreiheit 
unseres  Denkmales  ionischen  Ursprunges,  so  ergibt  sich  eine 
noch  schärfere  Bestimmung  der  Herkunft  durch  die  Verbindung 
der  A&rjvä  im  Bilde  mit  der  Tvxtj,  römisch  Fortuna.  Denn 
in  den  griechischen  Städten  jener  Zeit  wurde  allgemein  der 
Schutzgeist  der  Stadt  als  Tvxr]  Ttölemg  verehrt.^  'Ad-rjvä  ist 
durch  die  Verbindung  mit  Tvxr^  als  Stadtgöttin  bezeichnet.^ 
A%"Yivä  wurde  aber  in  Massilia  als  Burggöttin  verehrt.     Justin 

^  Wissowa  Beligion  der  Homer  S.  250. 

^  Bhein.  Museum   58,   Iff.      Ygl.  Preller  -  Robert   1,   74   über   die 
Stellung  dieser  Dreiheit  in  der  Gigantomachie. 

'  Im  römischen  Grlauben  ist  diese  Dreiheit  nicht  nachzuweisen  und 

sie  widerstrebt   auch   sowohl   der  Bedeutung   der  römischen  Gottheiten 

als  ihrer  Stellung  im  Kult.     Nun  gar  auf  Gallisches  zu  raten,  verbietet 

j  die  lange  Reihe  sicher  griechisch-römischer  Gottheiten  der  oberen  Sockel- 

i  stufe  und  des  Säulenschaftes. 

^  Preller- Robert  Griech.  Myth.  1,  543. 

^  Der  Einfluß  des  römischen  Kaiserkultes,  der  mit  der  griechischen 
j  Götterreihe  auf  der  Säule  verschmolzen  ist,  hat  der  Gestalt  der  Tv%r\ 
'  diese  rein  römische  Charakteristik  aufgedrückt.     Vgl.  unten  S.  310. 


306  Alfred  von  Domaszewski 

43,  5,  Catumandus  —  cum  in  arcem  Minervae  venisset,  con- 
specto  in  porticibus  simulacro  deae  —  exclamat.  Diesen  Kult 
hatte  Massalia  mit  der  Mutterstadt  Phokäa  gemein.  Strabo  13, 
4,  41  TtoXXä  de  xcbv  a^yalaiv  rfjg  ^Ad'rjväg  ^odvcov  zad'7]^sva 
dsCzvvrai^  Tcad'ccTtSQ  iv  ^ozaCa,  MaööaXCa,  ^Pio^rj,  XCgj,  alXaig 
nXsCoGiv.  Ein  tiefer  religiöser  Sinn  erfüllte  die  Phokäer,  als 
sie  unter  dem  Schutze  jener  Dreiheit,  die  die  Götterwelt  vor 
dem  Ansturm  der  Giganten  siegreich  errettet  hatte,  ihre  Stadt 
im  fernen  Westen  mitten  im  Lande  feindlicher  Barbaren  grün- 
deten. Wenn  die  Dreiheit  hier  mit  dem  gallischen  Mercurius 
verbunden  ist,  so  ist  das  ein  Zeichen  mehr,  daß  der  griechische 
Götterkreis  der  Säule  aus  der  alten  lonierstadt  Massilia  stammt. 
Dies  bestätigen  die  anderen  Götter,  die  auf  der  oberen  Sockel- 
stufe und  dem  Schafte  der  Säule  dargestellt  sind.  Denn  auf 
der  oberen  Sockelstufe  erscheint  Apollo  begleitet  von  den 
Dioskuren,  den  schützenden  Göttern  der  Seefahrt.  In  Massilia 
wurde  Apollo  verehrt  als  ^Aitdllcov  ^sXg)Cviog}  Strabo  4,  1.  4 
iv  dh  tfl  ccotQo:  rö  ^E(pB6iov  LÖQvrai  Kai  tö  tot)  ZtsXtptvCov 
'AjtöXXcjvog  IsQÖv  tovto  iihv  tcolvov  ^Icbvtov  aTcdvxov^  rö  dl 
''E(pB6iov  rfig  ^AQts^idög  i^tt  vshg  trjg  'Eg)SöCag. 

Die  meisterhafte  Verbindung  der  Trümmer,  in  die  der 
Schaft  der  Säule  zerschlagen  war,  durch  die  Mainzer  Museums- 
verwaltung, läßt  sich  auch  aus  dem  Sinne  der  Darstellungen 
als  richtig  erweisen.  Die  Frontseite  der  Säule  wird  bezeichnet 
durch  die  Inschriftenfläche  der  oberen  Sockelstufe.  Die  vier 
Götter  auf  jeder  Säulentrommel  entsprechen  den  vier  Göttern 
auf  jeder  Seite  der  unteren  Sockelstufe.  Die  Stellung  und 
Folge  der  Säulentrommeln  ist  bestimmt,  wenn  sich  nachweisen 
läßt,  wo  auf  diesem  fortlaufenden  Bande  die  letzte  Gottheit 
der  unteren  Trommel  an  die  erste  Gottheit  der  nächstfolgenden 
Trommel  anschließt.  Dieser  Übergang  ist  zwischen  der  ersten 
und    zweiten    Trommel   vollkommen    gesichert.      Denn    an    die 


Preller -Robert  1,  257. 


Die  luppitersäule  in  Mainz  307 

mit  Mars  nach  römisclier  Art^  verbundene  Viktoria  kann  nur 
die  das  Tropäon  schmückende  Gestalt  der  zweiten  Trommel, 
Honos,  anschließen,  weil  Honos  und  die  als  dritte  Gestalt 
darauffolgende  Virtus  Eigenschaften  des  Mars  sind,  dessen 
Wesen  sie  zur  Entfaltung  bringen.^  Demnach  steht  Viktoria 
auf  der  ersten  Trommel  an  vierter  Stelle,  Poseidon  an  erster 
Stelle;  ebenso  hat  auf  der  zweiten  Trommel  Honos  die  erste 
Stelle,  Vulcanus  die  vierte.  Nicht  minder  gesichert  ist  der 
Anschluß  der  Götter  der  dritten  Trommel  an  die  der  zweiten. 
Auf  Vulcanus  kann  nur  die  ihm  im  römischen  Glauben  aufs 
engste  verbundene  Maia^  folgen,  die  also  den  ersten  Platz  ein- 
nimmt. Für  die  vierte  und  fünfte  Trommel  ist  die  Anordnung 
gleichfalls  gegeben.  Der  Genius  Augusti  steht  an  erster  Stelle, 
ebenso  wie  luno. 

Nach  Apollon  folgt  in  dem  meerbeherrschenden  Massilia 
Poseidon,  auf  ihn  Artemis,  die  durch  die  Trennung  von  Apollo 
kenntlich  ist  als  die  fremde  Gottheit.  Der  Künstler  hat  den 
griechischen  Typus  gewählt,  der  auch  an  das  befreundete, 
herrschende  Rom  erinnert.  Strabo  4,  1.  5  Tcal  dij  xal  t6 
locfvov  rfjg  ^AQts^iddg  trjg  ev  tö  ''AßertCvco  ol  ^Pco^aloc  x^v 
avtriv  did%'S6iv  s%ov  t^  jtaQcc  tolg  Ma66aXi6xaig  ccved'eöav. 
Daran  schließt  sich  mit  Entfernung  der  römischen  allegorischen 
Gestalten  das  Paar  "AQrig^  "Hcpaiötog^  in  denen  sich  der  Geist 
des  waffenfrohen  auch  durch  die  Künste  des  Friedens  glänzenden 
Massilias  verkörpert.  Auf  der  dritten  Trommel  stehen  nach 
römischen  Gestalten  zJrj^TJrriQ  und  IIsQöscpovr) ,  beide  als  Pflege- 
rinnen eines  Tieres;  hinter  Demeter  hat  sich  ein  Maultier  ge- 
lagert, Persephone  setzt  den  Fuß  auf  den  Kopf  eines  Rindes. 
Der  Boden  Massilias,  wenn  auch  wie   alle  Gestade   des  Mittel- 


^  Mars  ist  mit  Viktoria  verbunden  in  der  römischen  Heeresreligion 
Westd.  Zeitschr.  14,  33  ff.  In  der  griechischen  Religion  sind  Zsvg  und 
'AQ-rivu  die  vLTtricpoQOi.    Schon  Homer  läßt  den  Ares  keine  Siege  erringen. 

2  Westd.  Zeitschr.  14,  40  und  Festschrift  für  Otto  Hirschfeld  244. 

5  Festschrift  für  Otto  Hirschfeld  247, 


308  Alfred  von  Domaszewski 

meeres  in  jenen  einzig  glücklichen  Tagen  durch  angestrengten 
Fleiß  in  einen  Garten  verwandelt,  war  doch  nicht  reich  an  den 
Gaben  der  Demeter.  Strabo  A,  1,  5  yßiqav  d'  8%ov6iv  hlaio- 
cpvtov  yisv  %al  jcardiiTCsXov,  6Ctco  dh  Xv^QOtsQav  diä  X'^v  XQa%v~ 
t7]ra.  Dagegen  gedieh  in  der  Ebene  an  der  Rhonemündung  ^, 
wie  in  unseren  Zeiten,  die  Pflege  herrlicher  Rinder.  Plinius 
n.  h.  21,  57  thymo  quidem  nunc  etiam  lapideos  campos  in 
provincia  Narbonensi  refertos  scimus,  hoc  paene  solo  reditu, 
e  longinquis  regionibus  pecudum  milibus  convenientibus  ut 
thymo  vescantur.  Und  wie  das  Handelsvolk  des  Ostens,  die 
Nabatäer  auf  der  Sinaihalbinsel  die  Kamele  ihrer  Karawanen  zu 
Tausenden  hegten^,  so  muß  auch  Massilia  für  den  Handel  in 
den  nur  von  Saumpfaden  durchzogenen  Barbarenlanden  des 
Westens  Maultierherden  von  gewaltiger  Größe  besessen  haben. ^ 
Keines  der  Güter,  welche  die  geschäftigen  Griechen  mit 
sich  führten,  war  den  Barbaren  erwünschter,  als  der  herz- 
erquickende Wein,  Athenäus  4,  36  p.  153c  aus  Poseidonius  — 
Kslrol  —  ro  dh  7av6[iev6v  J^t^  ^ccQa  ^sv  tolg  %Xovxov6iv  otvog 
i^  'IxaXCag  aal  xfjg  MaööaXLtjxctv  X(OQag  Tta^aTcoiii^öfisvog, 
UKQaxog  ö'  ovxog.  So  folgt  auf  der  vierten  Trommel  zJiovväog. 
Dagegen  ist  "Hqu,  die  auf  der  fünften  Trommel  zwischen 
"Hliog  und  HsXr^vri  steht,  in  diese  himmlische  Höhe  aus  ihrem 
ursprünglichen  Sitze  vertrieben.  Denn  der  gallische  Gott  hat 
ihr  den  Platz  geraubt  auf  der  unteren  Sockelstufe  zur  Rechten 
des  Zsvg.  Der  Künstler,  der  durch  die  Ordnung  des  Kultes^ 
gezwungen  war,  dem  keltischen  Gotte  den  Ehrenplatz  auf  der 
unteren  Sockelstufe  zu  geben,  hat  mit  großer  Weisheit  die 
Himmelsgöttin  in  ihr  lichtes  Reich  zurückgeführt  und  so  dem 
herrschenden  luppiter  wieder  genähert. 


^  YgL.  über  dieses  sagenberühmte  Feld  Ukert  Geographie  I  10,  424  f. 
^  Euting  Sinaitische  Inschriften  p.  XI  f. 

^  Auch  in  Petra  stehen  die  Kamele  unter  dem  Schutze  einer  Gott- 
heit.    Brünnow  und  Domaszewski  Die  Provincia  Arabia  1,  336  n.  466. 
*  Ygl.  unten  S.  310. 


Die  luppitersäule  in  Mainz  309 

Die  wirkliche  Ordnung  der  /I68e7ca  ^soC^  Massilias  ist 
folgende:  Zevg,  ^Ad'tjvä^  'HQaxXrig,  "Hqu,  ^Ajt6X?.ov,  Iloöstd&Vy 
"jQts^ig,  "AQTig^  "HcpuLötog,  ^rj^TJtjjQ,  IIsQöscpövr],  /li6vv6og^ 
die  in  ihrer  Zusammensetzung  die  Geschichte  und  die  Kultur 
Massilias  widerspiegeln. 

Mit  diesem  Götterkreise  der  Massalioten  ist  auf  das  innigste 
verwoben  die  neue  göttliche  Macht  des  herrschenden  Reiches 
der  Römer,  der  Kaiserkult. 

Auf  der  vierten  Trommel  ist  der  Genius  des  Kaisers  mit 
den  Lares  publici  hinter  der  vorletzten  Stelle  eingefügt,  wie 
es  die  Ordnung  der  römischen  Religion  erfordert,  in  der  der 
Genius  des  Kaisers  hinter  die  dei  immortales  zurücktritt.^ 
Daß  er  vor  zJiovvöog  steht,  ist  nur  durch  die  Notwendigkeit 
bedingt,  ihn  an  der  Frontseite  der  Säule  sichtbar  zu  machen. 
Die  römischen  Götter,  die  sich  in  die  griechische  Reihe  mischen, 
sind  alle  dazu  bestimmt,  das  Wesen  des  göttlichen  Kaisers  zu 
beleuchten.  So  ist  Viktoria  dem  Mars  zugesellt  als  die  Sieges- 
kraft des  Imperators.^  Honos  und  Virtus  der  zweiten  Trommel 
sind  jene  echt  römischen  Tugenden,  die  gerade  der  Begründer 
der  Monarchie  im  höchsten  Maße  besaß.^  Zwischen  ihnen  steht, 
von  ihnen  gehütet,  eine  allegorische  Figur,  die  durch  Ähren- 
krone  und  dem  mit  Ähren  geschmückten  Zepter  als  eine  Eigen- 
schaft der  Tellus   bezeichnet  wird.^     Es  ist  die  Pax  Augusti.® 

^  Preller -Robert  Griech.  Myfh.  1,  110.  783   866.    Dittenberger  Insc. 

Orient.  322  und  die  nachgebildeten  dei  consentes  der  Römer.  Wissowa 
\BeUgion  55.  Diese  griechischen  Götterkreise  beruhen  wohl  auf  den 
}  Monatszeiten,  haben  aber  nicht  das  geringste  gemein  mit  den  semitischen 
I  Kalender göttern.  ^  Westd.  Zeitschr.  14,  68.  ^  Westd.  Zeitschr.  14,  37. 
j  *  Westd.  Zeitschr.  14,  43  Anm.  186.     Ich  glaube,  daß  die  das  Tro- 

'paeum  schmückende  Gestalt  trotz  ihrer  weiblichen  Bildung  wegen  der 
j  Natur  der  römischen  Eigenschaftsgötter  als  Honos  bezeichnet  werden 
;  darf.  Sonst  könnte  man  auch  an  die  der  Virtus  gleichartige  Nerio 
iMartis  denken.  ^  Festschrift  für  Otto  HirschfeU  248. 

^  Das  Tellusrelief  der  Ära  Pacis  bildet  den  Schmuck  der  Vorder- 
I  Seite  des  Altars ,  wie  die  von  der  Architektur  der  Umfassungsmauer  ab- 
i  weichenden    Säulen    zeigen.      Der   Altar    ist    also    der    Tellus    geweiht. 

Vgl.  Dieterich  Mutter  Erde  S.  80  f. 

Archiv  f.  Religionswissenscliaft  IX  21 


310  Alfred  von  Domaszewski 

An  Vulcanus  ist  seine  römische  Eigenschaftsgöttin  Maia  an- 
geschlossen, die  der  griechischen  Mutter  des  Mercurius  ange- 
glichen wurde.  Sie  steht  unter  dem  Genius  Augusti,  weil 
dieser  Augustus  kein  anderer  ist,  als  der  Begründer  der  Mo- 
narchie, den  die  italische  Welt  als  Mercurius  Maiae  filius 
feierte.^  Neben  Maia  steht  Aquitas,  die  römische  Auffassung 
der  lustitia,  eine  der  hohen  Tugenden  des  Augustus,  die  Horaz 
gefeiert  hat.^  So  spiegelt  diese  römische  Götterreihe  die 
Stimmung  wider,  die  das  Säkulargedicht  des  Horaz  ausspricht: 

iam  Fides  et  Pax  et  Honos  Pudorque 
priscus  et  neglecta  redire  Virtus 
audet  adparetque  beata  pleno 
Copia  cornu. 

Eben  diese  Copia  ist  in  der  Bildung  der  Tvxrj  von  Mas- 
silia  verkörpert  und  die  Wirkung  des  Kaiserkultes  reicht  hinab 
bis  in  die  Auffassung  der  Dreiheit  altmassaliotischen  Glaubens. 
Deshalb  ist  auch  Mercurius  nicht  schlechthin  der  Gott  der 
Gallier,  vielmehr  ist  Kaiser  Augustus  selbst  dargestellt,  wie 
ihn  die  Tres  Galliae  an  der  Ära  von  Lugdunum  verehrten.^ 

Der  luppiter,  den  die  Säule  trägt,  ist  nicht  der  massalio- 
tische  der  unteren  Sockelstufe,  sondern  er  ist  der,  den  die  In- 
schrift nennt,  der  luppiter  optimus  maximus,  der  das  Weltreich 
der  Römer  beherrscht. 

Die  Durchdringung  der  römisch -griechischen  Kultur  in 
gallischen  Landen  ist  zum  reinsten  Ausdruck  gebracht. 


1  Mit  Recht  hat  Gilbert  Bhein.  Mus.  59,  628  in  der  Ode  des  Horaz  I  2 
Züge  erkannt,  die  älter  sind,  als  die  Sammlung  selbst.  Sie  ist  ge- 
dichtet nach  der  Besiegung  des  Sextus  Pompeius,  als  Augustus  noch 
mgcctog  war  und  den  italischen  Handel  vom  Fluche  der  Piraterie  befreite. 
Für  die  Ausgabe  in  der  Sammlung  hat  Horaz  das  Gedicht  durch  einzelne' 
Züge,  princeps,  pater  v.  50,  erweitert. 

2  Bhein.  Mus.  59,  302.    Vgl.  Festschrift  für  Nöldeke,  861. 

^  Vgl.  Otto  Hirschfeld  in  der  Festschrift  der  societe  des  Äntiquaires 
de  France  (1904)  p.  211—216.. 


Die  luppitersäule  in  Mainz  311 

Das  Vorbild  der  Mainzer  Säule  stand  in  Massilia;  es 
wurde  geschaffen  in  den  Jahren,  die  zwischen  der  Säkularfeier 
in  Rom  (17  v.  Chr.)  und  der  Weihe  des  Altars  in  Lyon 
(12  V.  Chr.)  liegen,  als  der  Kaiser  in  Gallien  und  Massilia 
weilte  und  den  Provinzen  des  Westens  die  neue  Ordnung  gab. 
Das  Denkmal  hatte  für  Massilia  dieselbe  Bedeutung,  wie  die 
Ära  Pacis  und  Ära  Fortunae  reducis  für  Rom. 

Hält  man  gegen  dieses  Werk  augusteischer  Zeit  das  gleich- 
artige Denkmal,  das  unter  Septimius  Severus  in  Mainz  er- 
i  richtet  wurde  ^,  so  ermißt  man  mit  einem  Blicke  das  Wirken  der  *Wvc'*^-^ 
Kräfte,  die  das  Lichtreich  griechischer  Schönheit  und  römischer 
j  Kraft  zerstört  haben.  Das  durch  den  Bann  eines  halben  Jahr- 
Itausends  gebundene  Wesen  der  zum  Dienen  geschaffenen  Völker 
ides  Mittelmeerreiches  hatte  sich  losgerungen,  Knechte  waren 
zu  Herrschern  geworden,  um  in  den  entseelten  Formen  der 
Vergangenheit  gleich  Spukgestalten  eine  kurze  Zeit  weiter- 
[zuleben,  bis  in  der  wilden  Selbstzerstörung  des  dritten  Jahr- 
ihunderts  die  Nacht  der  Barbarei  auch  sie  begrub.  So  hatten 
»die  Giganten  über  die  Götter  des  Lichtes  gesiegt. 

^  Ygl.  oben  S.  158. 


21' 


AÜPOI  BIAIO0ANATOI 

Par  Salomon  Reinach  ä  Paris 

I 

De  la  Descente  aux  Enfers  attribuee  ä  Orphee  jusqu'ä 
V Inferno  de  Dante,  il  y  a  comme  une  lignee  continue  de  contes 
populaires  et  edifiants  sur  l'au-delä,  dont  quelques -uns  seule- 
inent  ont  ete  fixes  par  ecrit  ou  nous  sont  connus  par  les 
allusions  de  poetes  et  de  philosoplies,  Pindare,  Aristophane, 
Piaton,  Virgile,  Lucien,  Plutarque,  qui  ont  puise  lä  des 
inspirations.  II  s'ensuit  qu'un  texte  de  cette  serie,  meme 
redige  ä  une  epoque  tardive,  peut  avoir  conserve  des  traits 
de  la  tradition  la  plus  ancienne,  ou  la  forme  plus  archaique 
de  certaines  conceptions  qui  apparaissent  denaturees  ou  attenuees 
dans  des  textes  de  redaction  posterieure. 

Cela  pose,  examinons  les  vers  426  et  suivants  du  sixieme 
chant  de  VE)ieide. 

Apres  avoir  passe  le  fleuve  fatal,  Enee  et  sa  compagne 
endorment  Cerbere  et  poursuivent  leur  marche  entre  l'Aclieron 
et  l'interieur  des  Enfers.  Au  cours  de  cette  etape,  ils  entendent 
les  vagissements  d'enfants  enleves  au  sein  maternel  (ab  iibere 
raptos)  et  rencontrent  les  ämes  de  ceux  qui  sont  morts  sans 
crime  de  mort  violente,  soit  qu'ils  aient  ete  condamnes  injuste-' 
ment,  soit  qu'ils  aient  mis  fin  eux-memes  ä  leurs  jours.  Parmi 
les  suicides,  Virgile  distingue  les  victimes  de  l'amour,  comme 
Phedre  et  Didon,  qui,  tristement  privilegiees,  habitent  ä  l'ombre 
d*un  bois  de  myrtes.  Plus  loin  sont  les  heros  tombes  ä  la  guerre 


Salomon  Reinach    "Aoqol  ßiccioGccvatoi  313 

comme  Deiphobe,  dont  le  discours  ä  Enee  termine  cet  episode 
(v.  547).i 

D'apres  une  croyance  pythagoricienne  ou  orphique,  ä  la- 
quelle  Piaton  fait  allusion^  et  que  Tertullien  nous  a  transmise^, 
les  ämes  de  ceux  qui  ont  peri  prematurement  doivent  attendre, 
dans  des  quartiers  isoles,  que  la  duree  legitime  (maxima)  de 
leur  existence  ait  ete  remplie.  Mais  si  Virgile  s'est  inspire  de 
cette  idee  pour  grouper  ensemble  ceux  qui  sont  morts  avant 
I'heure,  il  ne  devait  pas  enumerer  seulement  les  enfants  ä 
la  mamelle^  les  condamnes,  les  suicides  et  les  victimes  de  la 
guerre;  en  dehors  des  enfants  en  bas-äge,  il  y  a  le  nombre 
infini  des  gar9ons  et  des  fiUes  qui  meurent,  soit  de  maladie, 
soit  d'accident,  avant  d'atteindre  l'äge  mür.  Ainsi  la  presence, 
en  cet  endroit,  des  nouveaux-nes,  reunis  aux  victimes  du  des- 
espoir  et  de  la  guerre,  est  absolument  injustifiable,  ä  moins  que 
(>es  enfants  j  eux  aussi,  ne  soient  morts  innocemment  de  mort 
violente. 

Ici  comme  ailleurs,  Virgile  parait  s'etre  conforme  ä  un 
modele  grec,  celui  peut-etre  dont  s'est  aussi  inspire  Plutarque 
dans  l'apokalypse  qui'  fait  partie  de  son  livre  sur  le  Genie  de 
Socrate.  Timarque  y  raconte  (XXII,  590  F)  qu'il  aper9ut  .un 
gouffre  profond,  rempli  d'une  vapeur  epaisse  et  noire,  d'oü 
montaient  des  burlements,  des  cris  d'animaux  et  des  vagissements 
d'enfants  {iivqIcov  xXavd^bv  ßQsq)G}v),  meles  ä  des  lamentations 
;  d'hommes  et  de  femmes.  Plutarque  ne  dit  pas  ce  qu'etaient 
i  ces  enfantS;  ßQsq^rj,  et  si,  comme  Virgile,  il  a  suivi  Posidonios, 


^  La  Sibylle  entraine  Enee  en  lui  disant  (v,  539) :  Nox  mit,  Äenea, 
nos  flendo  ducimus  horas.  On  pleure  beaucoup  dans  l'Eneide;  mais,  ici, 
Enee  ne  pleure  point,  non  plus  que  la  Sibylle  et  Deiphobe.  La  note 
de  Servius  (nam  et  lacrimae  et  gemitus  fuerant)  est  absurde;  eile  prouve 
simplement  que  la  faute  est  tres  ancienne,  due  peut-etre  aux  premiers 
^diteurs  de  l'lßneide.  Lire:  fando  („nous  perdons  notre  temps  en  con- 
versations").  Cf.,  pour  l'emploi  de  fando,  Virg.  Aen.,  II,  6,  81,  361; 
III,  481;  VI,  333. 

2  Plat.  Bep.,  p.  619  C.  »  TertuU.  De  anima,  c.  56. 


314  Salomon  Reinach 

nous  ignorons  en  quelle  compagnie  le  philosophe  grec 
avait  fait  vagir  ces  ämes  d'enfants.  Nous  le  savons  par  Virgile 
et  nous  avons  vu  que  ce  qu'il  dit  ä  ce  sujet  est  illogique  si 
Ton  n'admet  pas  que  les  ccoqol  etaient  en  meme  temps  des  ßiaio- 
ddivatoi,  Si  nous  pouvions  remonter  le  cours  des  apocalypses 
populaires,  nous  en  trouverions  certainement  une  oü  les  exigeances 
de  la  logique  etaient  respectees.  Meme  en  l'absence  de  tout 
texte  de  ce  genre,  nous  avons  donc  le  droit  de  supposer  que, 
dans  une  forme  moins  litteraire  de  la  tradition,  les  enfants  qui 
vagissent  ä  l'entree  des  Enfers,  en  compagnie  des  suicides  et  des 
morts  de  mort  violente,  sont  des  enfants  tues,  c'est  ä  dire  des 
vktimes  de  Vavortement  Virgile  ne  dit  pas  cela,  puisqu'il 
ecrit  ah  uhere  raptos\  les  enfants  dont  il  parle  sont  des  nour- 
rissons  qui,  au  debut  meme  de  leur  vie,  primo  in  limine  vitae, 
ont  ete  arraches  par  la  mort  du  sein  maternel.  Mais  les  mots 
sein  maternel,  aujourd'hui  encore,  offrent  une  equivoque;  il  peut 
s'agir  soit  de  la  matrice,  soit  des  mamelles.  L'equivoque  a 
pu  exister  dans  un  des  ecrits  intermediaires  entre  les  premiers 
essais  apocalyptiques  et  Virgile;  en  tous  les  cas,  un  texte  formel 
va  nous  permettre  de  la  dissiper  et  de  retrouver  la  conception 
primitive  sous  les  euphemismes  de  la  poesie  virgilienne. 

Le  precieux  fragment  que  l'on  appelle  VÄpocalypse  de 
Saint  Pierre j  decouvert  en  1886  ä  Akbmin,  est  une  revelation 
de  Jesus  ä  ses  disciples,  conduits  par  lui  sur  une  haute  montagne 
d'oü  ils  voient  d'une  part  les  bienheureux  dans  leur  felicite, 
de  l'autre  les  damnes  dans  leurs  souffrances.  Les  analogies  de 
cet  Enfer  chretien  avec  l'Enfer  hellenique  de  Virgile  ont  ete 
signalees  par  moi  des  1893  et  mises  en  lumiere  avec  beaucoup 
de  perspicacite  par  M.  Dietericb;  c'est  la  tradition  grecque 
populaire,  sans  elements  juifs,  cbristianisee  seulement  ä  la 
surface.  Or,  un  passage  significatif  de  cette  Apocaljpse  donne 
la  clef  des  vers  de  Virgile  sur  les  ämes  vagissantes  des  enfants. 
Dans  un  lieu  plein  de  boue  et  de  sang  sont  plongees  des  femmes; 
vis  ä  vis  d'elles,  on  voit  des  enfants  assis  qui  pleurent  (tcoXXoI 


"AcoQOL  ßiaLoQdvatOL  315 

Ttaldsg  xad'7]^evoi  sxXaiov,  ce  qui  correspond  au  vers  de  Virgile 
[infantumque  animae  flentes).  Ces  enfants  sont  nes  avant  l'heure 
[äcoQOi  itCjcrovro,  primo  in  limine  vitae),  mais  ils  ne  sont  pas 
nes  Sans  violencej  des  rayons  de  feu  partant  de  leurs  corps 
frappent  les  yeux  de  leurs  meres,  qui  les  ont  con9us  hors  mariage 
et  se  sont  fait  avorter  (al  äya^ov  6vXlaßov6ai  xal  iKtQ66a6ai.) 
Clement  d'Alexandrie  et  Methodios^  ont  fait  allusion  ä 
ce  passage  en  j  ajoutant  quelques  details.  Suivant  Clement, 
les  enfants  ainsi  nes  avant  terme  sont  confies  ä  un  ange  gardien 
qui  se  Charge  de  les  elever  et  fait  d'eux,  au  bout  de  cent  ans, 
les  egaux  des  fideles.  Cette  idee  meme  est  d'origine  grecque; 
on  trouve  la  trace  d'une  conception  analogue  dans  Virgile  (v.  329), 
suivant  lequel  les  ämes  des  atacpoi  errent  pendant  cent  ans 
avant  de  pouvoir  passer  l'Aclieron,  comme  aussi  dans  la  tradition 
grecque  conservee  par  TertuUien:^  „Ils  disent  que  ceux  qui 
meurent  tout  jeunes  doivent  errer  9a  et  lä  jusqu'ä  ce  qu'ils 
aient  atteint  Tage  auquel  ils  seraient  parvenus  s'ils  n'etaient 
morts  prematurement."  La  duree  de  cent  ans  n'est  pas  indiquee 
dans  ce  passage  de  TertuUien,  mais  eile  ressort  du  texte  parallele 
de  Virgile  que  Servius  commente  ainsi:  Centum  annos  ideo  dicit, 
qtiia  M  sunt  legitimi  vitae  humanae.  II  s'agit  donc  du  terme 
I  maximum  d'une  vie  humaine,  fixe  egalement  ä  cent  ans  par 
Platon.^  Les  avortes,  places  pendant  cent  ans  sous  la  garde 
d'un  ange,  sont  censes  mourir  charges  d'annees  et  entrer 
ensuite  dans  le  regne  des  bienheureux.  II  en  est  ainsi,  ob- 
serve  complaisamment  Metbodios,  meme  s'ils  sont  le  fruit  de 
l'adultere. 

Le  supplice  inflige  par  les  avortes  ä  leurs  meres,  dans 
l'Enfer    petrinien,   est    assez   etrange;   on   peut    supposer   qu'il 

^  Clem.  Alex.  Eclog.  Prophet.  41,  48;  Method.  Sympos.  II,  6. 

^  Tertull.  De  anima  c.  56. 

^  Plat.  JRep.  p.  614  B.  Au  congres  recent  de  la  Sanitary  Institution 
de  Londres,  le  president  de  la  section  de  medecine  parlait  des  „cent 
annees  de  vie  auxquelles  nous  avons  droit '^  {Revue  de  VUniv.  de 
Bruxelles,  1905,  p.  199.) 


31ß  Salomon  R-einach 

doit  son  origine  ä  quelque  peinture  de  Nekyia  oü  les  enfants 
assis  etaient  entoures  d'une  aureole  de  rayons  {Strahlenkram 
J'ai  montre  ailleurs  que  cette  description  chretienne  de  TEnfer 
contient  des  details  dont  Torigine  graphique,  c'est  ä  dire 
necessairement  grecque,  est  incontestable.^  Mais,  pour  nous 
en  tenir  ä  l'episode  des  avortes,  le  malentendu  —  si  malentendu 
il  y  a  —  n'a  pas  ete  commis  d'abord  par  l'auteur  de  l'Apocalypse; 
il  doit  etre,  comme  les  autres,  beaucoup  plus  ancien.  Nous 
pouvons  donc  ete  assures  que  l'idee  des  supplices  subis 
Enfer  par  les  femmes  qui  se  sont  fait  aYorter  bors  mariage 
est  une  idee  populaire,  non  pas  syrienne  on  juive,  mais  grecque 
et  paienne.  Je  crois  avoir  de  bonnes  raisons  pour  la  considerer 
comme  orpbique. 

II 

Ni  dans  rAncien  Testament  ni  dans  les  Evangiles,  on 
trouve  la  moindre  condamnation  du  suicide,  de  l'avortement, 
des  fraudes  privees  (jsiQOVQyCai)^,  trois  sortes  de  rifiuti  que 
rhistoire  des  idees  morales  doit  rapprocber,  parce  qu'ils 
constituent,  ä  des  degres  differents,  des  atteintes  au  principe 
de  la  saintete  de  la  vie,  des  negations  de  la  volonte  de  vivre.^ 
La  morale  cbretienne  postevangelique  a  condamne  ces  pratiques 
au  nom  de  principes  qu'elle  a  empruntes  au  paganisme,  en  parti- 
culier  de  l'interet  social  et  des  vceux  de  la  nature,  motifs  dont  le 
cbristianisme  evangelique  ne  se  preoccupe  jamais.    II  est  curieux 


I 


^  S.  Reinach  Cultes,  mythes,  etc.  t.  II,  p.  200. 

*  Onan  {Gen.  XXXVIII,  4)  se  soustrait  ä  robligation  que  lui  im- 
posait  la  loi  religieuse  du  levirat  d'assurer  une  posterite  ä  son  frere 
mort  avant  lui,  en  refusant  de  feconder  la  veuve  de  celui-ci.  II  est 
frappä  par  r£ternel,  non  pour  avoir  pratique  une  fraude  conjugale, 
mais  pour  avoir  contrevenu  a  la  loi.  Son  cas  n'a  donc  rien  ä  voir  avec 
la  fraude  priv^e  qui  lui  doit  son  nom  et  dont  il  n'est  pas  question  dans 
TEcriture;  la  loi  mosaique  ne  s'occupe  que  des  accidents  (pollutions), 
sans  chercher  ä  en  distinguer  la  cause. 

^  A  ce  titre,  ces  pratiques  ont  ete  discutees  simultanement  par 
Kant  dans  sa  Tugendlehre. 


"AcoQOL  ßiccio^dvutoi  317 

de  constater,  en  ce  qui  touclie  les  fraudes  privees,  l'evolution 
de  la  theologie  catholique  au  cours  des  derniers  siecles.  Alors 
que  le  celebre  Sancliez  (1550 — 1610)^  n'allegue  encore  que  la 
punition  Celeste  d'Onan  ^,  dont  la  signification  est  toute  differente, 
un  des  auteurs  les  plus  recents  d'une  Theölogia  moralis,  le 
R,  P.  Tanquerej,  relegue  le  cas  d'Onan  dans  une  note  et,  dans 
le  texte,  invoque  le  voeu  de  la  nature,  deux  vers  de  Martial, 
enfin  des  considerations  d'hygiene,  inconnues  de  tous  les  anciens 
casuistes  et  qui  remontent  au  XVIIP  siecle  seulement.^  Quant 
aux  „accidents"  qui,  dans  la  loi  mosaique  et  les  penitentiels 
du  moyen-äge,  tiennent  une  si  grande  place  et  comportent  des 
purifications  tres  compliquees*,  le  P.  Tanquerey  n'y  attache  plus 
aucune  importance;  dans  les  cas  graves,  il  conseille  de  consulter 
un  medecin.^ 

Si  la  theologie  morale  de  l'Eglise,  des  ses  debuts,  a  con- 
damne  d'une  maniere  formelle  le  suicide,  les  fraudes  privees  et 
ravortement,  il  faut  bien  qu'elle  ait  emprunte  ces  principes  ä 
la  morale  paienne,  puisque  les  Ecritures  sont  muettes  ä  cet 
egard;  mais  cette  morale  n'etait  pas  celle  des  pbilosophes  de 
l'ecole;  c'etait  une  morale  populaire  et  religieuse,  encore  tout 
impregnee  de  tdbous^  et  d'autant  plus  accessible,  semble-t-il, 
ä  la  foule  des  femmes  et  des  iUettres. 

Les  pbilosophes  grecs  ont  debattu  ces  graves  problemes  sans 
arriver  ä  se  mettre  d'accord.  Les  Cyniques  et  les  Stoiciens 
approuvaient  le  suicide;  les  Pythagoriciens  et,  ä  leur  exemple, 

^  Sanchez  De  sancto  matrimonio,  XI,  17  (ed.  de  Lyon,  t.  III,  p,  218). 

^  Ibid.:  Conclusiohaec  constat  ex  XXXVIII Geneseos uM  referturetc. 

^  Tanquerey  Synopsis  theologiae  moralis,  t.  I,  Suppl.,  p.  19*;  t.  11, 
Suppl,  p.  24*. 

^  Levitique,  XV,  31;  Reuß  La  Bihle,  t.  V,  p.  145,  153,  158; 
cf.  Lejay  Le  role  theologique  de  S.  Cesaire  d'Ärles,  Paris,  1906,  p.  118  sq., 
p.  140.  ^  Tanquerey  ibid.,  t.  II,  Suppl,  p.  24*. 

^  Je  vois  avec  plaisir  qu'un  des  plus  savants  docteurs  de  Flfiglise 
romaine,  M.  l'abbe  Loisy,  accorde  aujourd'hui  que  la  morale  primitive 
est  „un  Systeme  de  tabous,  c'est  ä  dire  d'interdictions  justifiees  par  un 
motif  religieux"  {Bevue  critique,  30  decembre  1905,  p.  505). 


318  Saiomon  Reinach 

les  Platoniciens  le  condamnaient.-^     Mais   on  peut  prouver  que 
les  Pythagoriciens  n'ont  fait,  dans  ce  cas  comme  dans  d'autres, 
que  donner  une  forme  litteraire  aux  enseignements  de  rorphisme.    . 
Platon''^,  apres  avoir  dit  que  le  Pythagoricien  Philolaos  defendait    | 
le  suicide,  ajoute    comme   motif  l'argument  enseigne   dans   les    j 
mysteres    (6    sv    djcoQQTJtOLg   Xsy6[isvog   tcsqI   avtcbv    X6yo<s),   ä 
savoir   que  le   corps   est  une  maniere   de  prison  oü  l'äme  est 
attachee,  en  expiation  de  fautes  passees,  et  dont  eile  n'a  pas    , 
le    droit    de    sortir    volontairement.      C'est    la    pure    doctrine   I 
orpliique  sur  le  peche.    Ce  passage,  soit  dit  en  passant,  pourra 
toujours   etre   objecte   ä   ceux   qui  veulent  que  l'enseignement 
des  mysteres  antiques  n'ait  presente  aucune  caractere  moral. 

Les  fraudes  privees  etaient  egalem ent  permises  et  meme 
recommandees  par  les  Cyniques  et  les  Stoiciens.^  Diogene  les 
pla^ait  sous  le  patronage  d'un  dieu*;  il  racontait  qu'Herraes 
les  avait  enseignees  au  dieu  Pan  pour  le  guerir  d'une  passion  ' 
que  le  tourmentait.^  Aucun  auteur  ancien  (ni  du  moyen-äge) 
ne  les  a  proscrites,  que  je  sache,  au  nom  de  l'hygiene;  si  Martial 
les  condamne,  c'est  parce  qu'elles  sont  contraires  ä  la  propagation 
de  l'espece  {guod  perdis  liomo  est).^  Mais,  dans  la  meme  epi- 
gramme,  Martial  qualifie  l'acte  en  question  de  scelus  ingens,  ex- 
pression  tres  forte  qui  a  lieu  d'etonner  cliez  lui  et  qui  implique 
une  transgression  d'ordre  religieux,  un  peclie.  C'est,  en  effet, 
comme  un  crime  contre  la  religion  que  les  fraudes  privees  etaient  j 
condamnees  par  l'orphisme;  je  peux  en  alleguer  deux  preuves. 
D'abord,    Aulugelle    nous    apprend    que    la    defense    orphique 


»  Cf.  Zeller  Gesch.  der  Philosophie,  P  p.  419,  426;  II  p.  891. 

2  Plat.  Phaed.,  p.  62B;  cf.  Gorgias,  p.  493  A. 

^  Chrysippe  ap.  Plnt.  Moral.,  II  p.  1277  D;  Zenon  ap.  Sext.  Pyrrh., 
in  206. 

^  Dio  Chrysost.  Orat,  VI  203;  Diog.  La.  VI  2,  46  et  69.  Cf. 
ZeUer,  II  1,  p.  322. 

^  L'idee  d'un  dieu  ;^stpovpyog,  qui  se  retrouve  en  Grece,  est  egalement 
egyptienne;   cf.  Lefebure  Bevue  mensuelle  d'anthropologie,  1899,  p.  203. 

6  Martial,  IX  42. 


"AoagoL  ßLccLoQccvcctoi  319 

TivdiKOv  ä%o  xslQccg  e%B6%'E  etait  interpretee  ainsi;  ce  texte  du 
grammairien  latin,  qui  vise  une  explication  dejä  ancienne, 
fournit  une  precieuse  indication  sur  la  morale  orphique.^  En 
second  lieu,  parmi  les  inscriptions  greco-phrygiennes  de 
Badinlar,  il  s'en  trouve  une  oü  le  penitent  s'accuse,  devant 
le  dieu,  d'un  attoucliement  personnel  impur,  constituant  un 
peche.^  Le  culte  d'Apollon  Lermenos  ä  Badinlar  n'est  pas 
necessairement  orphique;  mais  on  sait  que  Torpliisnie  est 
d'origine  thrace  et  que  la  Thrace  est  la  metropole  religieuse 
de  la  Phrygie. 

Nous  arrivons  donc  ä  des  resultats  singulierement  concordants : 
d'un  cote,  le  cynisme  et  le  stoicisme;  de  l'autre,  dans  la  voie 
etroite,  l'orpliisme  et  le  christianisme.  Ce  qu'il  y  a  de  plus 
interessant  ä  noter,  c'est  que  le  christianisme,  comme  l'orpliisme, 
et  ä  la  difference  des  philo  Sophies  de  lettres,  attache  aux  deux 
especes  d'actes  qu'il  reprouve  le  caractere  d'impietes,  de  crimes 
envers  Dieu,  de  tabous  violes.  L'orphisme  n'a  pas  invente  cette 
maniere  de  voir,  qu'il  a  transmise  aux  docteurs  chretiens  5  il  n'est 
ici  que  l'echo  de  vieilles  superstitions,  de  tabous  prehistoriques. 
Ces  tabous  ont  du,  ä  une  epoque  tres  reculee,  exercer  un  grand 
empire  sur  le  variete  blanche  de  l'espece  humaine,  sans  quoi 
eile  ne  se  serait  pas  elevee  si  haut.  A  cote  du  tabou  quasi 
universel  du  sang  clannique,  il  fallait  que  les  anthropoides 
d'avenir  eussent  le  scrupule  de  verser  leur  propre  sang  et  de 
repandre  inutilement  leur  seve  creatrice.  Ce  demier  tdbou 
n'existe  pas  chez  les  singes  et  existe  fort  peu  chez  les  negres; 
c'est  peut-etre  pourquoi  les  singes  sont  restes  des  singes  et 
la  plupart  des  negres  les  cousins  germains  de  ceux-ci. 


^  Le  vers  est  cite  comme  orphique  (Abel  Orphica,  263,  264). 
Aulugelle  (lY,  11,  9)  le  lisait  dans  les  Kad-aq^oi  d'Empedocle,  qui  suivaient 
la  doctrine  de  Pythagore,  c'est  ä  dire  l'orpliisme  scientifique,  Cf.  Diels 
Fragm.  der  Vorsokratiker,  p.  224. 

^  Ramsay   Gities  and  bishoprics,   t.  I,  p.  136,  152;    cf.  Journal  of 
hellenic  studies,  1889,  t.  X,  p.  222. 


320  Salomon  Reinach 

L'avortement  volontaire  parait  inconnu  des  animaux^  et  il 
est  rare  cliez  les  sau  vages;  rinfanticide  en  tient  lieu.  La 
seulement  oü  rinfanticide  est  repute  criminell  les  pratiques  de 
Tavortement  se  multiplient.  En  Grece,  le  plus  ancien  temoignage 
ä  cet  egard  serait  le  serment  dit  hippocratique,  par  lequel  le 
medecin  s'engageait  ä  ne  pas  remettre  de  pessaire  abortif  ä  une 
femme  et  ä  ne  pas  pratiquer  l'operation  de  la  taille.  Mais  la 
date  et  l'interpretation  de  ce  document  sont  egalement  incertaines; 
s'il  s'agit  bien  de  l'operation  de  la  taille  (et  non  de  la  castration), 
l'interdiction  parait  plutot  repondre  aux  interets  des  specialistes 
de  la  litbotomie,  auquel  cas  la  mention  des  pessaires  comporterait 
une  Interpretation  analogue  et  n'aurait  pas  la  portee  d'une 
probibition  morale.  Galien  pretend,  il  est  vrai,  que  l'avortement 
aurait  ete  interdit  par  Solon  et  par  Lycurgue;^  Musonios  dit 
que  les  legislateurs  ont  defendu  aux  femmes  de  se  faire  avorter, 
qu'ils  ont  inflige  des  peines  aux  delinquantes  et  leur  ont 
egalement  interdit  d'empecber  la  conception.^  Mais  ces  textes 
sont  singulierement  vagues.  II  n'y  a  rien  ä  tirer  de  l'bistoire 
rapportee  par  Ciceron  sur  une  femme  de  Milet  condamnee 
ä  mort  pour  avortement,  car  le  crime  consistait  dans  l'intention 
delictueuse,  la  femme  ayant  ete  corrompue  par  les  heritiers 
naturels  de  son  mari.*  A  Atbenes  comme  ä  Rome,  la  legislation 
n'est  intervenue  que  dans  l'interet  de  la  famille  et  des  droits  du 
pere;  si  l'avortement  en  soi  avait  ete  considere  comme  un  crime, 
Piaton  ne  l'aurait  pas  autorise  et  Aristote  ne  l'aurait  pas 
recommande  pour  prevenir  l'exces  de  population.^  Sous  l'Empire 
romain,  de  nombreux  textes  de  moralistes  prouvent  que  les 
avortements  etaient  tres  frequents  et  impunis,  bien  que  mal  vus 
de  l'opinion;  il  faut  attendre  jusqu'au  debut   du  IIP  siecle  de 

^  Les  cas  de  suicide,  chez  les  animaux,  sont  rares  et  douteux  La 
fraude  privee  n'est  pas  sans  exemple,  mais  eile  n  est  habituelle  que  chez 
les  singes.  ^  Galen,  t.  XIX,  p.  177  (Kühn). 

'  Musonios  ap.   Stob.  Floril.,  74,  75.  *  Cic.  Pro  Cluentio,  11. 

^  Plat.  Bep.  p.  461  C;  Theaet.  p.  149  D;  Arist.  Polit.  VII  4,  10, 
p.  1335  B. 


"AcoQOL  ßicctoQdvatOL  321 

notre  ere  pour  trouver  une  loi  qui  les  condamne.^  D'ailleurs  — 
et  ceci  est  essentiel  —  ni  en  Grece  ni  ä  Roma  l'avortement  de 
la  femme  non  ma/riee  n'a  ete  l'objet  de  mesures  legislatives; 
on  le  considerait  comme  une  affaire  privee. 

Dans  TApocalypse  de  Pierre,  il  s'agit  precisement  de  femmes 
qui  se  sont  fait  avorter  Jiors  mariage  et  qui  sont,  pour  cela, 
l'objet  de  chätiments  eternels.  Ceux  qui  infligent  les  chätiments 
sont  les  enfants  memes  nes  avant  terme,  consideres  comme 
les  victimes  de  leur  mere,  dont  le  crime  est  assimile  ä  un 
meurtre.  II  n'y  a  meurtre  que  si  Torganisme  detruit  est  un 
etre  humainj  le  cbristianisme  admet  cela  pour  le  foetus,  alors 
que  les  Stoiciens  et  les  Cyniques  —  ici  encore  dans  la  doc- 
trine  opposee  —  ne  le  pensent  point.^  L'idee  chretienne  a 
continue  ä  dominer  non  seulement  les  decisions  de  l'Eglise, 
mais  les  legislations  seculieres,  tandis  que  l'antiquite  paienne 
considere  plutot,  en  pareil  cas,  que  la  mere  a  tous  les  droits 
sur  le  fruit  de  ses  entrailles,  tant  qu'il  n'a  pas  encore  vu  le 
jour.^  Or,  puisqu'il  n'est  pas  question  de  cela  dans  l'Ecriture, 
il  faut  bien  que  la  morale  chretienne  naissante  ait  tire  d'ailleurs 
sa  doctrine  intransigeante  sur  l'avortement.  L'Apocalypse  de 
Pierre  prouve  que  cette  source  cachee  est  orpbique,  puisque, 
suivant  l'esclialotogie  orphique,  les  filles-meres  avortees  sont 
punies  de  cbätiments  eternels. 

Ainsi,  dans  l'etude  de  l'evolution  des  idees  sur  les  trois 
formes  de  la  negation  du  devoir  vital,  nous  arrivons  au 
meme  resultat,   qu'on   ne   saurait    attribuer   au   basard.     Trois 

^  Dig.,  47,  11,  4;  48,  19,  39.  Yoir  les  articles  Abigere  partum, 
Ämblosis,  Äbortio  dans  Saglio  et  dans  Panly-Wissowa. 

2  Plut.  De  placiUs  V,  15. 

^  Athenagore  declare  ä  Marc  Aurele  que  les  chretiens  tiennent  pour 
homicides  les  femmes  qui  se  fönt  avorter  —  preuve  que  ce  n'etait  pas 
Topinion  generale.  Innocent  XI  (2  mars  1679)  a  condamne  la  proposition 
suivante:  Licet  proeurare  dbortum  ante  animationem  foetus,  ne  puella 
deprehensa  gravida  occidatur  aut infatnetur  (Denzinger,  Enchiridion,  n.1051). 
Mais  la  contradiction  que  presentent  actuellement  la  loi  et  les  mceurs  est 
un  scandale  auquel  le  XX^  siecle  devra  mettre  fin. 


322  Salomon  Reinacli    "Aagot  ßiccio9dcvcctoi 


I 

ia 

dB 


fois  nous  avons  vu  le  christianisme  d'accord  avec  l'orpliis 
et  en  Opposition  avec  le  cynisme  et  le  stoicisme.  Dans  la 
Philosophie  de  l'ecole,  les  devoirs  des  individus  sont  sul 
ordonnes  ä  l'interet  de  la  cite;  dans  l'orphisme,  com 
dans  son  heritier  le  christianisme,  il  n'est  plus  question  d 
interets  de  la  cite,  mais  du  salut  eternel  des  individus,  qui  a 
pour  condition  essentielle  leur  purete.  Cette  doctrine  du  salut 
est  enseignee  par  des  Apocalypses,  c'est  ä  dire  par  des  revelations 
divines,  qui  sont  les  formes  primitives  de  l'enseignement  moral, 
qu'elles  soient  faites  ä  Hammourabi,  ä  Moise,  ä  Zarathustra, 
ä  Orphee  ou  ä  Minos. 

En  resume,  le  passage  de  Yirgile  sur  les  cccoqol  atteste 
l'existence  d'une  source  orphique  oü  les  äoQOi  etaient  des 
ßiaiod'dvatoiy  c'est  ä  dire  des  enfants  avortes;  cette  source 
orphique  a  egalement  inspire  l'auteur  judeo-egyptien  de  l'Apo- 
calypse  de  Paul;  eile  a  inspire  l'enseignement  du  christianisme 
en  ce  qui  touche  les  devoirs  physiques  de  l'homme  envers 
lui-meme  et  il  resulte  de  lä,  comme  d'autres  considerations 
concordantes,  que  le  christianisme  ne  derive  ni  du  judaisme 
sacerdotal,  ni  de  l'hellenisme  litteraire,  mais  de  Teschatologie 
populaire  de  la  Grece  greffee  sur  la  cosmogonie  des  Hebreux. 


Jupiter  summus  exsuperantissimus 

Par  Franz  Cumont  ä  Bruxelles 

Le  musee  de  Berlin  a  acquis,  il  y  a  peu  d'annees,  un  bas 
relief  provenant  de  Rome  et  portant  une  figure  de  Jupiter 
avec  la  dedicace  I(ovi)  o(ptimo)  m(aximo)  summo  exsupe- 
rantissimo.  Cette  plaque  sculptee  a  fait  aussitot  l'objet  d'une 
etude  sagace  de  [M.  Kekule  von  Stradonitz,  qui  a  reconstitue 
le  monument  auquel  eile  appartenait,  retrouve  son  histoire, 
apprecie  ses  caracteres  arcbeologiques  et  determine  sa  date.^ 
II  a  montre  que  ce  bas -relief  avait  fait  partie  d'une  base  tra- 
vaillee  au  moins  sur  trois  faces  et  que  sur  les  deux  cotes 
etaient  places  les  Dioscures.  Le  Jupiter  qui  occupait  la  par- 
tie anterieure,  etait  represente  tenant  de  la  main  droite  une 
patere  et  portant  de  l'autre  une  corne  d'abondance.^  C'est  une 
image  d'un  style  arcbaisant  mais  d'une  epoque  tardive;  eile  ne 
remonte  pas  plus  baut  que  la  fin  du  IP  siecle  de  notre  ere 
et  doit  etre  attribuee  sans  doute  au  regne  de  Commode,  qui 
fit  frapper  des  monnaies  au  type  de  Jupiter  avec  la  legende 
lovi  exsup(eranUssimo)^j    et    qui,    dans   le   calendrier  introduit 

^  R.  Kekule  von  Stradonitz  Über  das  Belief  mit  der  Inschrift  C.  I.  L. 
j  VI.  426  (Sitzungsber.  Akad.  Berlin  XVII,  p.  387),  1901. 
1  '  Un  type   analogue   est   reproduit  sur  nne  gemme  de  St.  Peters- 

j  bourg  dont  Tauthenticite  est  certaine,  quelqne  bizarre  qu'elle  paraisse 
i  (Reinach  Pierres  gravees,  pl.  123  No.  3  et  p.  134;  cf.  pl.  120  N«.  3  et 
I  p.  124).  On  y  voit  nn  Jupiter  archa'isant,  debout,  coiflfe  du  modius  de 
»S^rapis,  tenant  d'une  main  une  patere  sur  laquelle  se  pose  une  abeille 
';  (ou  un  papillon  selon  Winckelmann)  et  de  l'autre  une  corne  d'abon- 
■  dance. 

1  ^  Cohen  Monn.  emp.  rom.  III  ^  p.  261  Nos.  241,  242.     Jupiter  j  est 

i  represente  autrement   que  sur  le  bas -relief  de  Berlin:   il   est   assis   sur 
■an  trone  et  porte  le  sceptre  —  Annees  186—187. 


324  Franz  Cumont 

par  lui  ä  Rome,   donna  meme   au  mois  de  Novembre   le   nom 
d'Exsuperatorius  (en  grec  'T^squCqcov)} 

Si  je  reprends  ici  la  parole  a  propos  du  monument  de 
Berlin,  ce  n'est  pas  pour  combattre  les  conclusions  de  mon 
eminent  devancier  —  elles  paraissent  inattaquables  — ,  mais  je 
voudrais  etudier  au  point  de  vue  religieux  ce  Jupiter  etrange, 
dont  la  veritable  nature  n'a  pas,  semble-t-il,  ete  expliquee 
jusqu'ici.  On  verra  que  la  composition  arcbeologique  de  la 
base  romaine  eu  sera  eile  meme  eclaircie. 

*  * 

* 

Je  reunirai  d'abord  la  serie  des  inscriptions  oü  apparait 
le  Jupiter  exsuperantissimus.  On  peut  dejä  en  les  interpretant 
en  tirer  des  indications  precieuses  sur  le  caractere  de  ce  dieu: 

1.  Rome.  C.  IL.  YI.  416:  I(ovi)  o(pUmo)  m(aximo)  \  summo  \ 
exsuper[an]\tissim[o]  |.  —  Bas-relief  de  Berlin.  D'apres 
la  forme  des  caracteres,  il  date  environ  de  Tan  200  apr.  J.  C. 

2.  Italic.  Luceria.  C.  I.  L.  IX.  784:  [lovi  optimo]  \  maximo 
sum\mo  exsuperan\tissimo  M.  \  Aur(elius)  Äugendus  \  pro- 
c(urator)  s(aUuumF)  A(pulorum?)  pro  sa\lute  sua  et  M. 
Aur(eli)  \  Montani  eq(uitis)  R(omani)  fili  \  sui  v(otum) 
l(ihens)  m(erito)  solvit  \  B(e)d(icata)  VI  [N]o[nas]  Ma- 
[i(as)]. 

La  ligne  1  est  restituee  d'apres  le  numero  precedent 
(cf.  N°.  4).     La  date   de  l'inscription  est  suivant  Hirscb- 

^  Lampride  Commod.  c.  11:  Menses  quoque  in  honorem  eins  pro 
Äugusto  Commodum,  pro  Septembri  Herculem,  pro  Oetobri  Invictum,  pro 
Novembri  Exsuperatorium ,  pro  Decembri  Ämazonium  ex  signo  ipsius 
adulatores  vocabant;  cf.  c.  12:  Cum  patre  appellatus  Imperator  V  Kai,  Ex- 
superatorias.  Dion  Cass.  LXII,  15  (p.  297,  2  Boissevain) :  nal  ol  fi'qvsg 
ccTt'  avtov  TtdvTsg  ins'KXrj%'7\6av ,  mexs  y.axaqid'^slöd-ai  avrovg  ovtas' 
kna^6viog,'AvL->iritog,  EvTV%rig^  Evösß'^g,  Äovynog,  Al%Log,  AvQ'qXiogf  Ko^- 
^Lodog,  Avyovörog,  ^HgaTiXsLog,  '^Paficclog,  'TTisgalgav.  avrbg  yccQ  aXXore  äXXcc 
(istsXd^ßciVE  ta>v  ovo^idroav,  xov  8'  'A^a^oviov  ■not  xov  'TnsQalQOvrcc  Ttayiag 
kccvtat  ^d'ETO  mg  yial  iv  itaeiv  änX&g  Tcävxag   ccvd'QmTtovg   yiad''  vnsgßoXrjV 

VfK&V. 


Jupiter  surnmus  exsuperantissimus  325 

feld   {Bie  Kaiserl.  Verwaltungsheamten^  p.  127)    le   com- 
mencement  du  IIP  siecle. 

3.  Äeca.  C.  L  L.  IX.  948  ==  Kan  De  love  Dolicheno  N^  96: 
lovi  [D]o[l]ic[heno]  \  exuperantissfimoj  \  L.  Mummius 
Nig[er]  \  Quintus  Valeriufs]  \  V[ejg[e]his  SeverinfusJ  \ 
Camdius  Tertulflus]  j  co(n)s(ul)  v.  s. 

La  date  du  consulat  est  inconnue  mais  parait  devoir 
etre  placee  dans  la  seconde  moitie  du  11^  siecle  (Dessau 
Prosop,  II  p.  387  N°.  515). 

4.  Pres  de  Clusium.  C.  I.  L.  XL  2600  =  Dessau  Inscr.  sei. 
3003:  lovi  o(ptimo)  m(aximo)  siimm(o)  \  exsuperantisfsij- 
mo  I  T.  Sextius  Verian\us  pro  salute  Cor\neliani  f(ilii) 
clarissimi  virij  consulis  .... 

Consulat  de  date  inconnue. 

5.  Gaule.  Ager  Vocuntiorum.  C.  I.  L.  XII.  1533:  [I(ovi) 
o(ptimo)  m(aximo)?]  \  sjummo  \  [C]n.  H.  S.  \  [ex]  voto. 

Restitution  tres  douteuse. 

6.  Dacie.  Carlsbourg.  C.  I.  L.  IIL  1090  =  Dessau  Inscr.  sei. 
2998:  lovi  summo  ex\superantissimo  \  divinarum  hu\- 
mananimque  \  rerum  rectori  \  fatorumque  ar\hitro  .... 
.  .  a  \ et  pro  \ Ze^  | 

7.  Germanie.    Utrecht.     C.  I.  Rh.    55  =  Dessau    Inscr.  sd.  \ 
3094:  lovi  o(ptimo)  m(aximo)  \  summo  exsuperantissimo ,  \ 
Soli  invicto,  Apollini,  \  Lunae,  Bianae,  Fortunae,  \  Marti, 
Viäoriae,    Paci    \    [Q.J   Antistius    Adventus    |    leg(atus) 
Aug(usti)  pr(o)  pr(aetore)  \  dat. 

Q.  Antistius  Adventus  fut  legat  de  Germanie  sous 
Marc  Aurele  ou  Commode;  cf.  Prosopogr.  I  p.  85  N°.  589. 

8.  II  faut  rapporter  sans  doute  ä  la  meme  divinite  l'inscrip- 
tion  suivante  trouvee  pres  de  Capoue.  C.  I.  L.  X.  3305 
=  Dessau  Inscr.  sei.  2997:  I(ovi)  o(ptimo)  m(aximo)  \ 
summo  excellen\tissimo  \  Maecius  Prohus  v(ir)  c(larissimus), 
praef(ectus)   \   aliment(orum) ,   quod   hoc   in   loco   \   anceps 

Archiv  f.  Eeligionswißsenschaft   IX  22 


326  Franz  Cmnont 

periculum   \   sustinuerit   \    et  honam  valetudi\nem  recipera- 
verit  I  v(otum)  s(olvit). 

Maecius  Probus  fut  legat  de  Tarraconaise  sous  Sep- 
time Severe  et  Caracalla  (198 — 211  ap.  J.  C);  cf.  Prosop.  II 
p.  320  N°.  47. 

Ainsi  ces  inscriptions,  pour  autant  que  leur  date  puisse 
etre  determinee,  ne  sont  pas  anterieures  ä  la  seconde  moitie 
du  IP  siecle.  Cette  constatation  confirme  ce  qui  avait  dejä 
remarque  M.  Kekule  (p.  395):  „Si  l'usage  de  l'epitliete  Exsupe- 
rantissimus  ne  s'est  pas  introduite  sous  le  regne  de  Commode; 
il  s'est  certainement  alors  generalise."  Or,  nous  savons  que 
Commode  temoigna  une  devotion  particuliere  aux  cultes  orien- 
taux  —  comme  tous  les  despotes  sur  le  trone  des  Cesars.  II 
fut  le  premier  empereur  qui  se  fit  initier  aux  mysteres  de 
Mitlira  et  qui  figura  en  personne  dans  les  processions  isiaques.^ 
On  pouvait  donc  s'attendre  ä  ce  que  le  dieu  qu'il  honorait 
d'une  predilection  speciale,  au  point  de  le  faire  figurer  sur  ses 
monnaies  et  de  le  prendre  en  quelque  sorte  pour  patron,  ap- 
partint,  lui  aussi,  au  pantheon  asiatique  et,  de  fait,  c'est  ce 
qu'  attestent  les  inscriptions :  nous  trouvons  d'abord  (N°.  7)  le 
Jupiter  summus  exsuperantissimus  uni  au  Söl  invidus  qui  est  le 
nom  caracteristique  des  dieux  solaires  de  l'Orient.^  Dans  le 
calendrier  de  Commode  le  mois  Invidus  etait  pareillement  rap- 
proche  d'Exsuperatorius^,  et,  de  meme  que  la  premiere  epithete 
appliquee  au  prince  indique  qu'il  se  considere  comme  le  represen- 
tant  de  Soleil  sur  la  terre*,  la  seconde  l'assimile  au  maitre  des 
dieux,  ä  Jupiter  ou  pour  mieux  dire  ä  Baal.  Le  N°.  3  nous 
montre  en  effet  le  qualificatif  d^ exsuperantissimus  porte  par  le 
Jupiter  Dolichenus,  le  Baal  de  Doliclie  en  Commagene.  Une  autre 

^  Lampride  Commod.  c.  9 ;  cf.  Mon.  myst.  MitJira  I  p.  231  et  C.  I  L. 
VI.  420  =  Dessau  Inscr.  sei.  398. 

^  Mon.  myst,  Mithra  I  p.  48  ss.,  cf.  ibid.  II  p.  173  la  dedicace  lovi 
fulgeratori  (C.  I.  L.  VI,  377)  par  un  pretre  nomme  Exuperantius. 

*  cf.  supra  p.  324  n.  1. 

■*  Mon.  myst.  Mithra  I  p.  288.  Cf.  Usener  Bhein.  Mus.  LX,  1905,  p.  466  ss. 


'  Jupiter  summus  exsuperantissimus  327 

dedicace  d'un  serviteur  de  ce  Jupiter  semitique  (C.  I.  L.  YI. 
406  ==  30758)  est  consacree  Ex  praecq)to  I(ovis)  o(ptimi) 
m(aximi)  D(olicheni)  conservatori  totius  poli  et  numini  praestan- 
tissimo  ...  Ce  dernier  superlatif  est  un  equivalent  d^exsu- 
perantissimus.  Mais  le  plus  explicite  de  nos  textes  est  celui 
(N°.  6)  qui  donne  au  nouveau  Jupiter  les  titres  de  ^ydivinarum 
humanarumque  rerum  rectoYj  fatoruTnguearhiter".  On  en 
rapprochera  immediatement  la  celeßre  dedicace  bilingue  ä  Bei 

I  decouverte   ä  Vaison^:    JBelus   Fortunae    rector    mentisque    ma- 

!  gister  .  .  .  Evd^vvtfJQi  xvyjrig  BtjXg)  ....  L'une  et  l'autre  ' 
sont   inspirees    par   les    croyances    astrologiques    qui    ä   l'epo- 

i  que     imperiale     dominaient     toute    la    religion    de    la    Syrie. 

I  Le  dieu  supreme  est  le  ,,Seigneur  du  ciel"  (Ba^al  samin)  dont  , 
les  revolutions  determinent  tous  les  eyenements  de  ce  monde  ' 
et  les  pensees  meme  des  hommes.     II  peut   donc   etre   appele 

i  ä  juste    titre    ^^l'arbitre    de   la   Fortune^    le    guide    des    choses 

I  divines  et  liumaines  et  le  maitre  de  la  pensee". 

I  Le  caractere  du  Jupiter  Exsuperantissimus ,  tel  que  nous 

venons  de  le  definir,  permet  de  comprendre  certaines  particula- 

Irites    du   bas   relief  —  et  de  l'intaille  —  qui  le  representent. 

I  „C'est    le    seul  Jupiter   qu'on    voie    avec    une    corne    d'abon- 

!  dauce"  observait  dejä  Winckelmann.^  Mais  cet  attribut  insolite 
est  celui  de  la  Fortune,  ä  laquelle  preside  ce  Baal  oriental, 
comme  nous  venons  de  le  dire,  et  dans  la  dedicace  que  nous 

;citions    tantot,   l'epitbete  praestantissimo    est    suivie    de    celle 

■d'exhihitorij  c'est  ä  dire  „nourricier''.  En  second  Heu, 
l'artiste  a  prete  ä  son  Jupiter  une  apparence  archaique,  comme 
le  remarque  encore  Winckelmann,  „um  ihm  eine  entlegenere 
Ursprüngliclikeit  zu  geben".^  Les  cultes  orientaux  sont 
en  effet  entoures  du  prestige  d'une  antiquite  presque  infinie. 
Entin   ainsi    s'explique    qu'on    ait    place   ce   Jupiter   entre   les 

^  C.  I.  L.  XIL  1227  =  Dessau  Inscr.  sei  2997. 

*  Description   des    pierres   du    cabinet   Stoscli,   citee    par    Kekule 
l  c.  p.  389.  3  Kekule  Ibid.  p.  388. 

22* 


X 


328  Franz  Cnmont 

Dioscures,  qui  ne  sont  pas  les  compagnons  habituels  du 
dieu  latin.  Les  deux  heros  qui',  suivant  la  legende  grecque, 
vivent  et  meurent  alternativement,  etaient  devenus  aux  yeux 
des  theologiens  la  personification  des  deux  hemispheres  Celestes 
qui  passent  tour  ä  tour  au  dessus  et  au  dessous  de  la  terre.^ 
Comme  tels  ils  apparaissent  sur  un  monument  mithriaque 
des  deux  cotes  du  dieu  leoutocephale  du  Temps^,  identifie  avec 
le  Caelus  aeternuSy  et  on  les  trouve  frequemment  dans  les  pays 
semitiques  ä  droite  et  ä  gauclie  du  Ba%l  samtn^,  dont  notre 
Exsuperantissimus  est  l'equivalent  romain. 
*  * 

Les  resultats  auxquels  nous  ont  conduit  l'interpretation 
des  monuments  epigrapliiques  et  archeologiques  sont  confirmes 
et  precises  par  une  Serie  de  passages  d'ecrivains  latins. 


^  PMlon  De  decalogo  56  (II  189  M  =  IV,  281  Cohn- Wendland):  Tov 
Sh  oiiQccvov  slg  Ji^iecpaiQia  x&  Xoyco  dvavsiiiavTsg,  t6  fihv  VTthg  y^g,  ro  dh  vzb 
yqg,  JioöxoQOvg  i>tdXs6av  {ol  ^vQ'oyQdcpoL),  ro  TTJg  itsgrui^gov  ^oo^g  avtav 
ytQOötSQatEvödfisvoL  Siriyri^a.  Julien  Orat  IV,  147  A  (191  1.  2  Hertlein) 
^H^iGcfavQici  tov  Tcdvxog  xa  dvo  (sc.  Dioscuri);  Lydus  De  mensih.  IV,  17 
(p,  78  Wünscla):  Ol  cpiKoGocpoi  tpaöL  JLOß-Kogovg  elvui  xo  vtco  yfiv  v,al 
vTchg  yfjv  ii\Li6(puiQiov'  xsXsvto)6L  dh  a^oißadov  ^vd'LKÜg  olov8l  vtco  xovg 
&vxi-3to8ag  i^  diioißfjg  (pego^Evoi..  II  est  souvent  question  dans  les  astro- 
logues  de  la  rotation  des  cieux,  qui  fait  passer  successivement  chaque 
moitie  au  dessus  puis  au  dessous  de  la  terre  du  monde  visible  dans  le 
monde  invisible.  p.  ex  Manilius  III,  421  {sex  hdbeat  supra  terras  sex 
Signa  sub  Ulis)  et  l'extrait,  attribue  aux  XccXSalot.,  Cat.  codd.  astr.  V,  2 
p.  132,  6  SS.  *  Mon.  myst.  Mithra  I  p.  85. 

'  J'ai  cite  divers  monuments  op.  L  p.  86  n.  1.  —  II  y  en  a  d'autres. 
Une  s^rie  de  steles  puniques  inedites  conservees  au  British  Museum  nous 
montrent  ä  la  partie  superieure  (c'est  ä  dire  dans  le  ciel)  Jupiter  ou 
Saturne  (c'est  ä  dire  Baal)  avec  les  Dioscures  (Nos.  498,  501,  505,  516, 
620,  522).  Ceux-ci  sont  parfois  rempla9es  par  un  disque  solaire  et  un 
croissant,  symboles  du  jour  et  de  la  nuit,  —  Cf.  les  dedicaces  CLL. 
VI,  413  =  Dessau  4320:  lovi  Ddlicheno,  Herae,  Castorihus  et  CLL.  II, 
2407:  .  .  Caelo,  Castorihus.  —  II  faut  interpreter  de  meme  les  Dioscures 
plac^s  dans  les  coins  superieurs  d'une  plaque  estampee  dont  la  figure 
principale  est  Sabazius ,  plaque  publice  par  Blinkenberg  ÄrcMolog.  Studien 
1904,  pLIL 


Jupiter  summus  exsuperantissimus  329 

Apulee,  dont  l'activite  s'est  prolongee  precisement  jusque 
lus  le  regne  de  Commode;  nomine  au  moins  deux  fois  le 
summus  exsuperantissimusque  deorum.  D'abord  dans  sa  traduc- 
tion  du  TtsQl  Tioöpiov  il  substitue  ä  une  formule  vague  du 
grec  (6  xov  xoö^ov  hitiioav  ^b6%)  cette  expression  beaucoup 
plus  speciale.  Ce  qu'il  entend  par  lä,  c'est,  conformement  au 
modele  qu'il  habille  de  son  latin,  un  dieu  qui  reside  „sur  les 
hauteurs  les  plus  hautes  du  monde"  et  dont  la  puissance,  re- 
pandue  dans  toutes  ses  parties,  fait  mouvoir  le  soleil  et  la  ; 
lune,  tourner  la  spbere  entiere  du  ciel,  et  assure  par  leur  \ 
intermediaire  le  salut  des  creatures  terrestres.^  Le  traite  itBql  i 
xoö^ov  n'est  probablement  pas  anterieur  au  IP  siecle  de  notre 
ere,  mais  il  reproduit  les  conceptions  et  souvent  les  paroles 
meme  de  Posidonius  d'Apamee^,  dont  l'influence  sur  le  deve- 
loppement  de  la  tbeologie  romaine  fut  immense.  L'on  a  fait 
observer^  que  la  position  assignee  par  lui  au  dieu  supreme 
est  en  contradiction  avec  le  pantheisme  stoicien,  et  doit  etre 
consideree  comme  une  concession  faite  aux  croyances  popu- 
laires.  La  remarque  acquiert  maintenant  une  portee  nouvelle, 
puisque  nous  constatons  combien  cette  idee  que  Dieu  regne 
au  plus  baut  des  cieux  etait  mise  en  relief,  meme  ä 
Rome,  par  les  cultes  de  la  Syrie,  pays  dont  Posidonius  etait 
originaire. 


^  Apulee  De  Mundo  c.  27  (p.  126,  15  6d.  Goldbacher):  Summus  ex- 
superantissimusque divum  .  .  .  si  ipse  in  dito  residat  dltissimo  eas  autem 
potestates  per  omnes  partes  mundi  dispendat,  quae  sint  penes  solem  ac 
lunam  cunctumque  caelum.  horum  enim  cura  sdlutem  terrenorum  omnium 
gubernari.  Cf.  c.  25  (p.  125,  2) :  Summam  illam  potestatem  sacratam  caeli 
penetralihus.  Cf.  IIsqI  koö^ov  c.  6,  p.  398b  8  Bekker:  Zs^voxbqov  8h  kccI 
7CQS7t(ods6TSQOv  ccvTov  (sc.  tov  d'sov)  iTcl  rf}s  Scvatdra  ^copag  IdgveQ'cci,,  trjv 
dh  dvvccniv  diä  TOV  ev^Ttavtos  xoöftov  Sn^xovöav  rjXiov  rs  Ktvstv  xal 
OsXrjvriv  ytal  tov  TtdvTcc  ovqccvov  itBQidyBiv^  aitiov  xs  ylvsöd'cci  totg  i-rcl 
y^g  ßcotriQiag. 

2  Cf.  W.  Capelle  Die  Schrift  von  der  Welt  {Neue  Jahrb.  für  das 
klass.  Altertum  VIII,  p.  530  ss.). 

8  Capelle  l  c.  p.  28. 


330  Franz  Cumont 


I 


Le  second  passage  oü  Apulee  nomme  le  dieu  summ 
exsuperantissimus ,  se  trouve  dans  l'opuscule  De  Flatone^,  oü  il 
combine  avec  la  theologie  du  grand  idealiste  grec  une  foule 
de  doctrines  en  faveur  sous  les  Antonins.  La  fa9on  dont  il 
y  definit  ce  dieu,  repond  ä  peu  pres  ä  celle  dont  il  le  con9oit 
dans  le  De  Mundo.  11  divise  les  puissances  divines  en  trois 
classes:  la  plus  hasse  est  formee  des  genies  locaux  ou,  pour 
employer  le  terme  grec,  des  „demons";  la  seconde  des  habi- 
tants  du  ciel  (caelicoli)  et  en  particulier  des  astres,  enfin  au 
dessus  des  planetes  et  des  etoiles  fixes  siege  le  dieu  ,,seul  et 
unique,  ultramondain  et  incorporel,  pere  et  arcbitecte  de  ce 
monde  divin".^  Bien  que  ces  qualites  de  l'Etre  supreme  soient 
platoniciennes,  le  reste  du  developpement  d'Apulee  trahit  une 
tout  autre  influence:  il  s'y  inspire  des  theories  siderales  des 
astrologues.^  Je  n'en  veux  pour  preuve  que  la  mention  (c.  10) 
de  la  „grande  annee"  dont  le  terme  arrive  quand  toutes  les 
planetes  se  retrouvent  ä  leur  point  d'origine.  Cette  tbeorie 
est  ä  l'origine  „cbaldeenne"  et  fut  probablement  exposee 
d'abord  en  grec  par  le  babylonien  Berose.^  Nous  sommes 
ainsi  de  nouveau  conduits  vers  les  cultes  semitiques. 

Mais  nous  connaissons  par  d'autres  sources  le  Systeme 
cosmologique  des  „Chaldeens"  qui  a  inspire  cette  tbeologie 
dont  Apulee  -se  fait   le  predicateur.     Suivant   les   astrologues 


^  De  Plat.  I  12  (p.  73,  25  Goldbacher):  Providentiam  esse  summi 
exsuperantissimique  deorum  omnium  qui  non  solum  deos  caelicolas  ordi- 
navit  etc. 

^  c.  11:  Deorum  trinas  nuncupat  species  quarum  est  prima  unus  et 
solus  summus  ille  ultramundanus  et  incorporeus  quem  patrem  et  archi- 
tectum  huius  divini  orhis  superius  ostendimus. 

^  Apulde  cite  expressement  les  Chaldaei  dans  un  expose  aDalogue 
au  däbut  du  de  deo  Socratis  (c.  1,  p.  5,  17  Gold.).  —  II  est  re- 
marquable  qu'Aulu- Gelle  parle  de  Vexsuperantiam  des  planetes  dans  un 
passage  oü  il  combat  ä  la  suite  de  Favorin  les  memes  Chaldaei  (XIV» 
1,  12):  Propter  exsuperantiam  vel  splendoris  vel  altitudinis. 

*  Cf.  Bidez  Berose  et  la  grande  annee  (Melanges  Paul  Fr^derieq. 
1904,  p.  9  SS.).     Cf.  Hippolyte  l  c.  IV,  1  (p.  66  Cruice). 


Jupiter  summus  exsuperantissimus  331 

orientaux,    le    monde    divin    est    une    Trinite;    il    est    un    et 

triple:     il    se     compose     de    celui     des    etoiles    fixes,     inde- 

composable,    de    celui    des    planetes    partage    en    sept,    et    de 

celui   de   la  terre  ä  partir  de  la  lune.      Chacun    des    mondes 

inferieurs  re^oit  du  monde  superieur  une  portion   de   sa   puis- 

sance  et  participe  ä  son  energie,   et  la  source   de   toute   force 

et  de  toute  vertu  reside  dans  la  sphere  la  plus  haute,  une  et 

indivisible,  qui  regle  les  mouvements  de  toutes  les  autres  parties 

de  l'univers.^  ^  ^ 

* 

Un    siecle    avant   Apulee    la   doctrine    qu'il    adopte    etait 

dejä  populaire.     En  efi^et  Stace  y  fait  une  allusion  rapide  mais 

neanmoins  tres   claire.     Dans  la  Thebaide  (IV,  515)   le  devin 

Tiresias  evoque  les  ombres  infernales;  elles  tardent  ä  paraitre; 

il  menace  alors  de  les  y  contraindre  par  des  procedes  magiques: 

ni  te  TJiymbraee  vererer 
et  tripUcis  mundi  summum,  quem  scire  nefastum. 

Tiresias  recourrait  aux  pratiques  illicites  de  la  magie,  s'il  ne 
craignait  ApoUon,  c'est  ä  dire  le  Soleil,  et  l'Etre  place  ä  la 
tete  de  la  triple  bierarcbie  du  monde.  Pourquoi  ajoute-t-il 
quem  scire  nefastum'^  Est  ce  simplement  parce  que  ce  dieu 
lointain  est  inconnaissable^?  II  indique  plus  probablement  qu'il 
est  celui  dont  on  revelait  la  nature  dans  les  mysteres  orientaux, 
lesquels  se  propageaient  dejä  du  temps  du  poete.^    C'est  du  moins 

^  Cette  theorie  des  astrologues  chaldeens  est  expos^e  avec  un  grand 
luxe  de  chiffres  par  Hippolyt.  Adv.  haeres.  lY,  1  §  8  (p.  67  ss.  ed.  Cruice) 
et  V,  2  §  13  (p.  188  s.);  noter  surtout  la  phrase:  Acc^ißciveLV  ytoöiiov  ccTtb 
noe^iov  dvvayiiv  tiva  xccl  iiBTOVölav  ytal  ^Bxi%Biv  tav  vTtSQKSifievcov  ta 
vTcoKsiiiEvcc.  —  On  sait  que  les  Chaldeens  affectionnaient  la  division  des 
dieux  en  triades.  Comparer  ce  que  dit  Hippolyte  de  la  triple  division 
des  ämes  enseignee  dans  les  'AggvqIcov  rsXsrcci  (V,  1  §  7,  p.  145  Cr. 
cf.  p.  18  'ä66vqI(ov  ^vetriQia).  C'est  ä  cette  doctrine  que  semble  se  rap- 
porter un  passage  mutile  de  Firmicus  Maternus  De  errore  prof.  rel. 
c.  5  (p.  82  Halm).  ^  cf  p  333  ^  2  H. 

'  Cf.  note  1.  —  Ailleurs  Stace  mentionne  de  meme  incidemment 
les  mysteres  de  Mithra  {Thel).  I,  719),  qui  commen9aient  ä  se  repandre 
de  son  temps. 


332  Franz  Cumont 


I 


ainsi  que  l'a  entendu  le  commentateur  de  la  Thebaide,  Lact 
tius  Placidus.^ 

Mais  nous  trouvons  une  definition  beaucoup  plus  explicite 
du  summus  deus  dans  un  passage  de  Ciceron  qui  offre  avec 
les  chapitres  d'Apulee  {De  Fiat  11)  une  ressemblance  qui  ne 
saurait  etre  fortuite.  Seulement  le  Somnium  Scipionis^  oü  se 
trouve  ce  texte,  est  exempt  de  tout  melange  d'idees  platoni 
ennes,  et  il  nous  fait  remonter  ä  une  source  dont  la  purete 
presque  inalteree,  Decrivant  la  Constitution  du  ciel,  Cicer 
nous  dit:^  Novem  tibi  orbibus  vel  potius  glöbis  connexa  5 
omnia,  quorum  unus  est  cadestis  extumus  qui  reliquos  compl 
titur,  summus  ipse  deus,  arcens  et  continens  ceteros,  in 
sunt  infixi  Uli  qui  volvuntur  stdlarum  cursus  sempiterni. 
subiedi  sunt  Septem^  qui  versantur  retro  contrario  motu  ai 
caelum  ...  Le  summus  deus  n'est  plus  ici,  comme  ob 
Apulee,  une  puissance  „ ultramondaine  et  incorporelle%  c'es 
une  energie  residant  dans  le  ciel  des  etoiles  fixes,  qui  embrasse 
toutes  les  autres  spheres.  II  est  summus  precisement  parce  qu'il 
occupe  dans  l'espace  la  zone  la  plus  eloignee  de  la  terre.^  On 
admet  communement  que  la  cosmologie  et  l'escliatologie  mystiques 
du  Somnium  Scipionis  remontent  ä  Posidonius  d'Apamee,  auquel 
nous  serions  encore  une  fois  ramenes.    En  tout  cas,  l'auteur  suiri 


^  Lactantius  Plac.  Theb.  IV,  516  (p.  228  Jahnke):  Infiniti  (?)  autem 
philosophorum  magorum  Persae  etiam  confirmant  revera  esse  praeter  hos 
deos  cognitos  qui  cohmtur  in  templis,  alium  principem  et  maxime  domi- 
num, ceterorum  numinum  ordinatorem ,  de  cuius  genere  sint  soli  Sol  et  Luna ; 
ceteri  vero  qui  „circumferi"  (mss.  circumferri)  a  sphaera  nominantur,  eiuT~ 
clarescunt  spiritu.  On  ne  peut  guere  faire  fond  sur  les  donnees  confuses 
de  ce  compilateur  infime,  mais  la  correction  circumferi  me  parait  nean- 
moins  s'  imposer.    Lactantius  a  traduit  par  cet  adjectif  barbare  le  grec 

TCEQltpSQStg. 

*  Cicer.  Somn.  Scip.  4  =  De  Bep.  VI,  17. 

*  Cf.  Macrobe  Gomm.  I,  17  §  2:  Quod  autem  hunc  extimum  glohiim 
qui  ita  volvitur  summum  deum  vocavit,  non  ita  accipiendum  est,  ut  ipse 
prima  causa  et  deus  ille  omnipotentissimus  aestimetur  .  .  .  sed  summuvi 
quidem  dixit  ad  ceterorum  ordinem  qui  subiecti  sunt. 


Jupiter  summus  exsuperantissimus  333 

par  Ciceron  etait  un  adepte  de  l'astrologie  Orientale  *,  et  sa  con- 
ception  du  dieu  supreme  est  entierement  conforme  a  celle  que  la 
theologie  des  cultes  Syriens  se  faisait  du  Ba'^al  samin:  une  force  im-  ^ 
manente  qui  fait  mouvoir  les  cieux.  Cette  adoration  du  Ciel  \ 
(OtfQavög)  est,  aussi  bien  que  celle  des  astres,  un  des  caracteres 
saillants  de  la  religion  des  „Chaldeens",  et  chaque  fois  que 
Philon  d'Alexandrie  parle  de  ceux-ci,  il  ne  manque  pas  de  la 
leur  reprocher.^ 

*  Cf.  dans  le  meme  developpement  de  Ciceron:  Hominum  generi 
prosperus  et  salutaris  ille  fulgor  qui  dicitur  lovis,  tum  rutilus  horri- 
hüisque  terris  quem  Martium  dicitis.  Macrobe  Comm.  I,  19  §  2  re- 
marque  däjä  que  Tordre  des  planetes  adopt^  par  Ciceron  est  celui  des 
Chdldaei. 

*  Philon  De  Nobilit.  5  (II,  441  M.)  et  les  nombreux  passages  r^unis 
par  Conybeare  Philo  ahout  the  contemplative  life  p.  133,  16.  Comparer 
l'Apologie  d'Aristide  c.  4.  —  L'adoration  du  Ciel  parmi  les  populations 
semitiques  ^taient  si  generale  que  les  Juifs,  parfois  mediocrement 
orthodoxes,  de  la  Diaspora  paraissent  l'avoir  partagee  en  quelque  mesure, 
Ce  n'est  pas  une  simple  meprise  qui  les  a  fait  considerer  tres  fr^quemment 
comme  les  adorateurs  du  caeli  numen;  cf.  Friedländer  ä  Juvenal  YI,  545 
(summi  internuntia  caeli)  et  infra  p.  334  n.  5.  —  C'est  aux  memes  croyances 
sämitiques  que  fait  encore  allusion  Macrobe  Comm.  I,  14  §  2:  Propter 
illos  qui  aestimant  nihil  esse  aliud  deum  nisi  caelum  ipsum  et  caelestia 
ista  quae  cernimus.  Et  lorsqu'il  affirme  immediatement  apres  summi 
omnipotentiam  dei  posse  vix  intellegi,  il  nous  rappelle  ce  curieux  de- 
veloppement oü  Philon ,  en  invoquant  les  contradictions  des  doxographies,  ' 
demontre  que  la  nature  du  ciel  est  incompr^hensible  {De  Somniis.  I,  4 

§  21  p.  623  M  =  III,  209  ed.  Wendland);  cf.  Ps.  Apul.  Asclepius  19  (p.  41, 
i  16  Goldb.):  Caeli  vel  quicquid  est  quod  eo  nomine  comprehenditur  ovöiocq- 
!  X7i<s  est  lupiter.  —  De  meme  on  parait  avoir  tire  de  l'unite  de  mouvement 
!  du  ciel  superieur,  par  Opposition  aux  planetes,  l'idde  que  le  dieu  su- 
I  preme  est  infaillible:  Favon.  Eulogius  Disput,  de  somn.  Scipionis  p.  12, 16 
j  Holder:  Caeli  orhes  novem  .  .  .  Primus  et  summus  est  cctcXccv^s.  Qui 
i  quia  semper  uno  ac  iugi  conti nuatus  agitur  motu,  nulli  videtur  errori 
'■  subiectuni,  .  .  .  Ä-nXavri?  a  un  sens  physique  et  moral.  —  Sur  le  culte 
I  du  Ciel  dans  les  mysteres  orientaux,  cf.  Mon.  myst.  Mithra  I  p.  87  ss. 
j  n  faisait  partie  aussi  de  THermätisme.  li' Asclepius  dit  (c.  3,  p.  30,^7): 
i  Caelum.,  sensihilis  deus^  administrator  est  omnium  corporum  quorum  aug- 
{  menta  detrimentaque  Sol  et  Luna  sortiti  sunt;  mais  il  place  au  dessus  du 
!  ciel  le  createur  du  monde  entier.  Cf.  c.  9  (p.  34,  25):  dilectus  dei  caeli 
'  cum  his  quae  insunt  omnibus. 


334  Franz  Cumont 

Quel  est  l'equivalent  grec  du  nom  de  Jupiter  summiis'^ 
Le  7C6qI  zööiiov  appelle  dans  un  passage  son  dieu  supreme 
VTtatog^,  en  reprenant  un  terme  homerique  (vTtarog  d'S&v  etc.). 
Onretrouve  celui-ci  dans  certains  oracles  en  versrendus  äl'epoque 
romaine^;  mais  il  ne  semble  pas  que  cette  epithete  poetique 
du  roi  de  l'Olympe  ait  jamais  penetre  dans  le  rituel  des  cultes 
Syriens.  C'est  un  autre  qualificatif,  tres  rapproche  de  celui-ci, 
qui  j  est  applique  ä  Zeus:  il  est  dit  "Til;i6tog.  Le  nom  de 
Zeus  Hypsistos  ou  Hypsistos,  c'est  un  fait  maintenant  demontre, 
designe  en  dehofs  de  la  Syrie  Jehovali.  Mais  dans  les  pays 
semitiques  il  avait  une  signification  beaucoup  moins  speciale.^ 
II  s^applique  dans  plusieurs  regions  au  Baal  national,  con^u 
comme  siegeant  au  plus  haut  des  cieux.^  Un  passage  de  Jean 
Lydus^,  oü  celui-ci  embrouille  selon  sa  coutume  des  donnees 
heterogenes,  donne  de  Zaßa6d'  une  definition  qui  convient  en 
realite  ä  cet  Hypsistos:  il  est  dit  6  vjthQ  rovg  iztä  TCÖXovg, 
ce  qui  concorde  absolument  avec  ce  que  les  Latins  nous 
disent  du  Jupiter  summus. 

Pourquoi  ä  Rome  a-t-on  ajoute  ä  ce  titre  celui  d^exsu2)e- 
rantissimus,   qui  parait  correspondre   au   grec   ^ccvvTteQtarog'^^ 

^  IIsqI  ^oö^ov  p.  397  b.  24  Bekker:  Tijv  ^ihv  ovv  äv(atdx(o  yioi  nQÖa- 
rriv  t'Sgav  avtos  ^Xcc^ev,  VTtaros  ^h  &LCi  xovxo  avoiiaöTat  xal  xcctcc  tov 
TCOLTirriv  axQOtdtrj  xopvqp^  tov  öv^TtavTog  xa^'L^gv^iivos  ovgccvov. 

^  Oracle  de  Claros  citd  dans  Cornelius  Labeon  (Macrobe  I,  18  §  24): 
Tov  xdvtcov  VTtarov  d'sbv  ^inisv  'lam.  Cf.  Buresch  Klaros  p.  106  §  39: 
"Egtl  d's&v  ficcKagcov  VTtcctog  ^sog. 

^  Cumont  Hypsistos  p.  3  n.  1.  Dussaud  Notes  de  Mythologie  syrienne 
p.  122  SS. 

*  Cf.  Lebas -Waddington  Inscr.  de  Syrie,  index  de  Chabot  p.  10. 
Sobernheim  Palmyren.  Inschriften  p.  37  ss.,  qui  montre  (p.  43)  que  ce  dieu 
n'est  autre  que  Ba'al  samin.  —  Cf.  Renan  Mission  de  Phenicie  p.  103: 
@s&  v^löta  ovQCivicp.  Ibid.  p.  234:  Jil  ovQccvicp  viplörcp.  et  le  nom 
d.'^TipovQdvLog  dans  Philon  de  Byblos  (Dussaud  p.  138). 

^  Lydus  De  mensib.  IV,  53  (p.  111  Wünsch):  Kai  I^aßaad"  öh  tcoX- 
Xa^ov  Isystai  olov  6  vTihg  rovg  snta  noXovg,  xovtböxiv  6  dri^LOVQyog. 
Cf.  Orae.  Sihyll.  XII,  132:  OvgdvLog  Zaßaad'  d'sog  cccfd-itog  ald-egi  vaiav. 

^  Dans  le  tcsqI  koö^ov  (397  a  15),  le  ciel  est  dit  zy  ^syB&si  Tcavv- 
Tcigtarog,     De   meme   Hymn.  Orph.  IV.  8:  (Ovgavh)   TtavvTtSQrccre  dat^ov 


Jupiter  summus  exsuperantissimus  335 

Övidemment  pour  montrer  que  ce  dieu  de  l'ether  le  plus 
eleve  etait  infininieiit  saperieur  ä  tous  les  autres.  La  faveur 
que  Commode  temoigna  ä  ce  culte  doit  sans  doute  etre 
consideree  comme  une  premiere  tentative  pour  organiser  une 
hierarchie  officielle  des  etres  divins  et  etablir  au  profit  d'un 
Baal  semitique  le  monotheisme  dans  le  ciel  comme  la  mon- 
arcliie  regnait  sur  la  terre,  ainsi  que  le  firent  plus  tard  Helio- 
gabale  et  Aurelien.  De  meme  que  Jupiter  est  exsuperantissimus 
deorunif  Commode  est  dit  dans  une  dedicace  des  decurions  de 
Trevi  omnium  virtutum  exsuperant(issima) ,  pour  marquer  que 
Tempereur  etait  la  plus  puissante  des  forces  (virtutes)  par 
lesquelles  l'Etre  supreme  agit  dans  ce  monde  terrestre> 

* 
Cette  etude  nous  a  permis,  si  je  ne  m'abuse,  de  suivre 
l'introduction  en  Occident  d'une  doctrine  capitale  de  cette  reli- 
gion  astrologique  dont  les  fondateurs  furent  les  Chaldeens,  et 
les  legislateurs,  les  theologiens  grecs  de  l'epoque  alexandrine. 
Elle  s'introduit  d'abord  dans  la  litterature:  c'est  une  conception 
nouvelle  dont  un  pbilosopbe  s'est  empare  et  qui  lui  fournit  la 
matiere  de  speculations  originales.  Puis,  avec  Tinvasion  des 
cultes  Syriens,  un  dieu  metapbysique,   qui  ne  vivait  que   dans 

{7Cccvv7t€Qtatos  Bst  applique  ä  d^autres  dieux  ibid.  VIII,  17 ;  XII,  6;  LXVI,  5). 

—    Zeus    est    dejä    dit   icavvniQxaxos    dans    Callimaque    Hymn.  I,    91; 

Jehovah  dans  les  oracles  Sibyllins  fr.  III,  3  (p.  230  Getfcken):  'Alla  d'eog 

(lovog    slg    TCccvvTt^Qtccrog  \  dg    ^S7toLriy.sv    ovgavov   rjsXiov    rs   xrA.      Mais 

d'autre  part  le  nom   du  mois  JExsuperatorius  est    rendu   en  grec  par 
!  'TnsQcciQcov  cf.  supra  p.  324. 
I  ^  C.  I.  L.   XIY,  3449  =  Dessau  Inscr.  sei.  400.   —   Sur   ce   sens    de 

virtutes^  cf.  Bev.  de  Philologie  XXVI,  1902,  p.  8;  Lactantius  Placidus  ad 
j  Theb.  IV,  516;  August.  Civ.  dei  IV,  11  =  Varron.  Antiqu.  div.  I  fr. 
!  15b,  Agahd. —  Cette  interpretation  theologique  d'une  expression  tlieo- 
:  logique  me  parait  preferable  a  celle  qui  verrait  simplement  dans 
1  omnium  virtutum  exsup.  Taffirmation  que  le  courage  (virtus)  de  Com- 
I  mode-Hercule  surpasse  toutes  les  autres  bravoures.  L'empereur 
1  est  en  efifet  Timage  et  le  representant  du  Soleil  sur  la  terre,  et  c'est 
I  avant  tout  par  l'intermediaire  du  soleil,  suivant  la  doctrine  astrologique, 

le  dieu  du  ciel  exerce  son  action  ici  bas.     Cf.  cependant  p.  324,  n.  1 


336  Franz  Cumont    Jupiter  summus  exsuperantissimus 

les  livres,  devient  l'objet  d'une  adoration  presque  officielle; 
il  compte  un  empereur  parmi  ses  devots,  on  lui  consacre  des 
dedicaces  jusqu'  aux  extremites  de  Tempire.  II  restera  desor- 
mais  jusqu'  ä  la  fin  du  paganisme  un  des  aspects  sous  lesquels 
on  se  plait  a  considerer  la  divinite  la  plus  elevee  du  pantheon. 
La  conformite  du  mysticisme  astrologique,  dont  le  Somnium 
Scipionis  avait  ete  en  latin  la  premiere  expression,  avec  les 
doctrines  des  mysteres  orientaux  assura  ä  cet  essai  de  Ciceron 
un  regain  de  faveur  et  un  surcroit  d'autorite.  On  le  copia  et 
on  le  commenta  avec  predilection.^  Le  nom  meme  sous  lequel 
au  IP  siecle  le  dieu  Celeste  de  l'astrologie  avait  ete  venere 
ä  Rome,  ne  fut  jamais  oublie.  Au  milieu  du  IY%  l'auteur  de 
TAsclepius^,  interpolateur  audacieux  d'Hermes  Trismegiste, 
rend  gräces  dans  la  priere  qui  termine  sa  traduction  au  Sum- 
mus Exsuperantissimus^,  et  encore  vers  l'annee  409,  le  paien 
Nectarius  ecrivant  en  Afrique  ä  S*.  Augustin*  lui  disait:  Cum 
nos  ad  exsuperantissimi  Dei  cuUum  religionemque  compellereSj 
lihenter  audivi  et  finissait  sa  lettre  par  le  souhait  Deus  sum- 
mus te  custodiat.  Le  Jupiter  Syrien,  adopte  autrefois  par  Coi 
mode,  etait  de  venu  presque  chretien. 

^  En  dehors  du  Commentaire,  erudit  mais  indigeste,  de  Macro]| 
et  de  la  Disputatio  de  Favonius  Eulogius,  eleve  paien  de  S'.  August 
nous  en  trouvons  la  preuve  dans  Firmicus  Maternus  qui  le  copie  dail 
son  astrologie,  d'ailleurs  sans  le  citer:  le  eh.  III  §  4  =  Firmic.  Mat.  I,  5 
§11:  Sempiterni  stellarum  ignes  qui  glöbosae  rotundidatis  specie  formati 
circulos  suos  orbesque  celeri  festinatione  perßciunt  etc.  C'est  certaine- 
ment  parce  que  le  Songe  de  Scipion  etait  d'accord  avec  les  croyances 
des  mysteres  orientaux,  qu'il  a  ete  sauve  de  la  destruction. 

^  Sur  la  date  de  YAsclepius,  qui  se  saurait  etre  anterieur  au  milieu 
du  IVe  siecle,  cf.  Bernays  Abhandlungen  ed.  Usener  p.  337  ss. 

*  Asclepius  c.  41  (p.  61,  24  Goldbacher) :  Gratias  tibi,  summe,  ex- 
superantissime.  La  preuve  certaine  que  ces  epithetes  ne  figuraient  pas 
dans  Hermes ,  a  6t6  fournie  par  la  decouverte  du  texte  grec  (Reitzenstein 
Archiv  für  Religionsw.  VII,  1904,  p.  893  ss.).  Je  dois  l'indication  de  ce  pas- 
sage  ä  l'obligeante  erudition  de  mon  coUegue  M.  Thomas. 

^  Augustin.  Epist  103  (Migne  Patrol.  lat.  XXXIII  p.  386). 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid 

Von  Marie  Gothein  in  Heidelberg 

In  der  Beschwörungsszene  des  Faust  ist  die  Spannung  aufs 
liöchste  gestiegen.  Seinem  „Du  mußt,  du  mußt"  gehorchend, 
erscheint  der  Geist  der  Erde,  und  als  sich  der  Übermensch 
aufgerafft  hat,  der  Flammenbildung  ins  Auge  zu  schauen,  ent- 
hüllt ihm  der  Geist  sein  Wesen,  das  zu  begreifen  er  nicht 
geschaffen  ist,  mit  folgenden  Worten: 

In  Lebensfluten  und  Tatensturm 

Wall  ich  auf  und  ab, 

Webe  hin  und  her, 

Geburt  und  Grab 

Ein  ewiges  Meer, 

Ein  wechselnd  Weben, 

Ein  glühend  Leben, 

So  schaff'  ich  am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit 

Und  wirke  der  Gottheit  lebendiges  Kleid. 

Was  ist  „das  lebendige  Kleid  der  Gottheit",  das  am 
sausenden  Webstuhl  der  Zeit  der  Geist  der  Erde  in  ewiger 
Bewegung  schafft?  Warum  betont  Goethe  das  Geschäft  des 
Webens  so  besonders,  daß  er  es  dreimal  in  den  kurzen  Worten 
wiederholt?^ 

Die  Beantwortung  dieser  Fragen  führt  uns  hinauf  in  die 
Zeiten,  die  auch  den  Griechen  schon  als  halb  sagenhafte  er- 
schienen, in  denen  orphische  Denker  und  Theologen  sich  den 
Kosmos  mythisch  zu  erklären  suchten.  Unterirdische  Grab- 
funde, wie  ägyptische  Papyri  haben  in  dem  letzten  Jahrzehnt 
erwünschte    Bestätigung    dafür    gegeben,     daß    die    fragmen- 

^  Die  Kommentare  geben  über  diese  Stelle  keinen  Aufschluß. 


338  Marie  Gothein 

tarischen  Zeugnisse  später  neuplatonisclier  Schriftsteller  über 
orphische  Lehren  aus  echten  Quellen  geschöpft  sind.^  So  be- 
kräftigt ein  Papyrusfetzen,  den  B.  Grenfell  aus  seiner  Sammlung 
publiziert  hat^,  ein  längst  bekanntes  Zitat  des  Clem.  Alexan- 
drinus  (Strom.  YI  2,  9),  wonach  der  orphische  Weise  Phere- 
kydes,  den  die  Alten  einen  Zeitgenossen  des  Thaies  nannten, 
folgenden  Ausspruch  getan  hat: 

„Zeus  machte  ein  großes  und  schönes  Gewand  und  stickte 
darein  die  Erde  und  den  Okeanos  und  das  Haus  des  Okeanos."^ 
Aus  dem  Papyrus  nun  erfahren  wir,  daß  es  sich  um  ein  Hoch- 
zeitsfest handelt,  an  dem  Zeus  am  dritten  Tage  der  Braut  das 
Gewand  überreicht.  Die  Braut  aber,  die  in  dem  Papyrus- 
fragment nur  vv^cprj  genannt  ist,  ist  Chthonie,  wie  Diels  nach- 
gewiesen hat.*  Denn  Zeus,  Chronos  und  Chthonie  waren  von 
Uranfang  da,  und  Chthonie  nimmt  den  Namen  rfj  an,  nach- 
dem ihr  Zeus  die  Erde  als  Geschenk  gegeben  hat.^  Die  Erde 
aber  stellte  sich  Pherekydes  als  geflügelten  Eichbaum  vor, 
über  den  Zeus  das  von  ihm  bestickte  Gewand  warf.^ 

Nach  dieser  Anschauung  also  ist  Zeus  selbst  der  Yer- 
fertiger  des  bunten  Gewandes,  das  er  als  Bräutigam  der 
X^ovCri-rfi  verleiht.  Das  männliche  Urprinzip  beschäftigt  sich 
hier  damit  in  bunten  Farben  Bilder  hineinzusticken  (jjtoiTcCXXei). 
Die  Gewandverfertigung  war  aber  nach  griechischer  Vor- 
stellung Frauenarbeit,  —  spottet  doch  Herodot  darüber, 
daß    in   Ägypten   Männer    der    Webearbeit    oblagen.      So    ist 

^  Theodor  Gomperz  Griechische  Denker,  Leipzig  1896,  I  p.  69. 

*  Greek  Papyri  Ser.  II  New  classical  fragments  and  other  greek  and 
latin  papyri  ed.  by  ß.  Grenfell  and  A.  Hunt. 

^  Kern  De  Orphei  Epimenidis  Fherecydis  theogoniis,  Berlin  1888  p.  87. 
Z<i?  Tcoisl  (päQog  [liya  ts  "ncd  ycalbv  ■kccI  iv  ccvta  TtOLmlXsL  yfiv  y,ai  'Slyrivov 
■aal  xä  'Slyrivov  doa^ata. 

*  Diels  H.  Zur  Pentemychos  des  Pherekydes^  Sitzungsberichte  der 
Berlin.  Akad.  1897  p.  3  u.  4. 

^  Kern  a.  a.  0.  p.  84,  Laertius  Diogenes  I  119  Zag  [ihv  -kcu  Xgovog 
riGav  äsl  "koI  Xd'ovlr}'  Xd'ovlifj  dh  ovo^icc  iysvsTO  Fi},  i-TtSL^rj  avTjj  Zag  yfiv 
y^Qccg  diSot.  ß  Kern  a.  a.  0.  p.  87,  Clem.  AI.  Strom.  VI  6,  53. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  339 

denn  auch  die  Gewandbereitung  im  orphischen  Mythos  von 
Zeus  auf  eine  weibliche  Nachfolgerin  übergegangen.  In  dem 
reichen  Gemisch  mythischer  Vorstellungen,  die  in  dem  orphi- 
schen Kulte  zusammenflössen,  trat  Demeter  der  Chthonie  sehr 
nahe,  wenn  sie  nicht  ganz  mit  ihr  verschmolz,  wie  ihr  Bei- 
name /IriiiritriQ  Xd'ovlcc  zu  verraten  scheint.^  An  anderer  Stelle 
wird  allerdings  den  beiden  Göttinnen  ihr  getrenntes  Macht- 
bereich zuerteilt. 

jT^  (JLTJTEQ  TtdvTcoVy  JrjiirjteQ  TcXovioöorsLQa.^ 

Mit  Demeter  vereint  aber  erscheint  im  Kulte  immer  die  Tochter 
Köre,  die  nun  das  Recht  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  selbst 
als  Göttin  der  Erde,  als  Frühlingsgöttin  die  Gewandverfertigerin 
zu  sein.  „So  wird  Köre,  welche  die  Aufseherin  der  ganzen 
Schöpfung  ist,  als  Weberin  überliefert.^" 

Ebenso  berichtet  Proclus  in  Plat.  Crat.  p.  24,  daß 
Köre  und  ihr  ganzer  Chor,  solange  sie  droben  weilt,  „die 
Ordnung  des  Lebens  weben".*  Und  mehr  noch  in  neuplato- 
nischer  Sprechweise  drückt  sich  Damascius  aus,  wenn  er  sagt, 
daß  Köre  bei  Orpheus  Yerfertigerin  des  Gewandes  sei,  in  das 
sie,  während  sie  oben  ist,  die  Abbilder  der  Ideen  hineinwebt.^ 
Ob  dieser  Vorgang,  ob  die  Gabe  des  Zeus  an  Chthonie  in  dem 
verlorenen  orphischen  Hymnos  IIsTtXog^  besungen  war,  wird, 
wenn  nicht  auch  hier  noch  ein  Papyrusfund  Aufklärung  bringt, 
eine  offene  Frage  bleiben  müssen. 


1  Diels  a.  a.  0.  p.  7,  Paus.  III  14,  5.  ^  Abel  Orphica  Frgm.  165. 

'  Abel  a.  a.  0,  Frgm.  211  Porphyr,  de  antro  nympharum  XIV  15: 
OuTCö  y.a.1  TtccQCC  rä  'Ogcpst  7}  Koqt],  ^tzsq  iötl  TCavrog  tov  önsiQOiiivov  ^cpOQog 
ißrovQyovCcc  TCUQadidotcii.  ^  Abel  ebend. 

^  Kern  a.  a.  0.  p.  97  bei  Damascius.  Der  innige  Zusammenhang 
des  Gewandes,  das  Zeus  uranfänglich  einmal  verfertigt,  mit  dem  anderen, 
das  Köre  eben  gerade  zur  Frühlingszeit,  „solange  sie  oben  ist",  erschafft, 
scheint  mir  durch  diese  Fragmente  völlig  klar  zu  liegen  und  doch 
„weiter  zu  führen",  als  Diels  (a.  a.  0.  p.  4  u.  5)  Erinnerung  an  den 
Peplos  der  Athena,  der  bei  den  Panathenäen  vorgeführt  wurde. 

^  Lob  eck  Aglaopham.  379. 


340  Marie  Gothein 

Sicher  aber  ist  es  woM,  daß  der  Mythos  vom  Raube  der 
Proserpina  in  alexandriniscb-neuplatoniscben  Kreisen  sieb  am 
blühendsten  ausgestaltet  hat.  Sizilien  hat  frühe  den  Anspruch 
erhoben  der  Schauplatz  des  Göttinnenraubes  zu  sein.  Alle 
uns  überlieferten  Nachrichten  über  orphische  Korevorstellungen 
stammen  von  neuplatonischen  Schriftstellern.  Ihren  Kreisen 
nahestehend  müssen  wir  uns  auch  den  Dichter  denken,  der 
noch  im  sinkenden  Altertum  den  Raub  der  geliebten  Tochter 
der  Demeter  durch  Pluto  mit  all  der  Zierlichkeit  und  dem 
Überschwang  dieser  letzten  höfischen  Dichterblüte  besungen 
hat.^  Claudian,  der  sich  selbst  gerne  mit  Orpheus  vergleicht^, 
hat  auch  diese  Sage  nach  orphisch-sizilianischer  Überlieferung 
behandelt.  So  ist  auch  bei  ihm  allein  Proserpina- Köre  als 
Weberin^  dargestellt:  in  Henna  am  Ätna  sitzt  wartend  der 
Heimkehr  der  Mutter  das  geliebte  Kind  und  webt  für  diese 
ein  Geschenk^: 

Hie  elementorum  seriem  sedesque  paternas 
Insignihat  acu:  veter em  qua  lege  tumultum 
Discrevit  Natura  parens  et  semina  iussis 
Biscessere  locis. 

Da  ordnet  sich  alles:  Erde,  Meer  und  Sterne.  In  bunten 
Farben  wird  das  Meeresgestade  gewebt 

credas  illidi  cautihus  algam 
Et  raucum  hihulis  inserpere  murmur  harenis. 

Die  fünf  Zonen  werden  hinzugefügt,  man  kann  ihr  Klima 
und  ihre  Vegetation  erkennen,  und  alles  wird  vom  Okeanos 
umflossen.  Durch  die  Ankunft  der  Göttinnen  Minerva  und 
Venus  wird  Proserpina  an  der  Vollendung  des  Gewandes 
gehindert. 


^  Claudian  JRaptus  Proserpinae  ed.  S    Jeep  1875. 
^  Siehe  Kl.  Ged.  I  und  Widmung  zu  Baptus  Proserpinae. 
^  In  beiden  Versionen   des  Mythos   bei  Ovid  Fasti  IV  417  flf.  und 
Metam.  V  341  ff.  fehlt  dieser  Zug.  *  Baptus  Pros.  I  237  ff. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  341 

Hier    zum    erstenmal    haben    wir    also    in    ausgeführtem 
Bilde  die  Worte    des  Pherekydes:    die  Erde    und    der   Ozean 
sind  dargestellt  und  die  Sterne   in  die  Luft  aufgehängt,  doch 
auf  der  Erde  ruht  der  Nachdruck.     Wenn  also  orphische  Über- 
lieferung Claudian  zu  dieser  Webszene  angeregt  hat,  so  waren 
doch  andrerseits   solch  reich  gestickte  oder  gewebte  Gewänder 
damals    schon   ein   poetisches  Inventar,    das   sich  vererbte  von 
Dichter  zu  Dichter.     Schon   CatuU  hat  im  Epithalamium  von 
Peleus  und  Thetis  auf  einem  Gewände  den  ganzen  Mythos  von 
Ariadne,    die   von    Theseus    verlassen    wird,    gewebt   gesehen.* 
Virgil    läßt    Aneas    ein    königliches    Gewand,    auf    dem    eine 
Jagd    auf  dem    Ida   eingewebt   ist,   als   Siegespreis   aussetzen.* 
Ovid    aber    benutzt    den    Webestreit    zwischen    Minerva    und 
Arachne,    um  gleich    eine    ganze  Fülle    verschiedener    Szenen, 
besonders    Liebesabenteuer    der    Götter,    in    die    Gewänder   zu 
weben.^     Und  Claudian  selbst  hat  zu  wiederholten  Malen  noch 
solche  Bildergewänder  in  seinen  Gedichten  erwähnt:   so  bringt 
Roma  dem  Stilicho  das  kostbare  Gewand,  auf  dem  die  Zukunft 
seines  Hauses  dargestellt  ist,^     Diese   ganze  Kunstweise,   wohl 
schon  bei  den  alexandrinischen  Dichtem  ausgebildet,  ist  doch 
wieder  nur  ein  Zweig  jener  Schilderungslust   von    Bildwerken, 
mit   denen   römische  Dichter  ihre  Werke  auszierten,   und   die 
sie  bald  von  Tempelmauern,  bald  von  Schiffen,  Waffen  usw.  ab- 
lasen.    Alle  aber   leiten   sich    schließlich    doch    aus    der  einen 
Quelle,  dem  kunstreichen  Schilde,  den  Hephaistos  für  Achilleus 
schmiedet,  her. 

Für  Claudian  aber  war  dies  Weben  des  Gewandes  der 
F*roserpina  doch  noch  etwas  anderes,  als  für  alle  die  anderen 
römischen  Dichter,  es  sollte  in  allegorischem  Bilde  das 
Weben    des    Erdengewandes    dargestellt    werden,    das    durch 

^  CatuU  LXIII  50  ff.  «  Virgil  Aen,  V  250. 

3  Ovid.  Metam.  VI  1  ff 

*  Carm.  XXII,  Siehe  auch  Karl  Purgold  Archäologische  BenierJcimgen 
zu  Claudian  und  Sidonius  Gotha  1878  p.  108. 

Archiv  f.  Eeligions Wissenschaft  IX  23 


342  Marie  Gothein 

den  Raub  der  Frühlingsgöttin  unterbrochen,  unvollendet  ge- 
lassen wird. 

Und  gerade  diese  Allegorie  des  Gewandes,  in  das  der 
Kosmos  bineingewebt  ist,  bat  durcb  das  ganze  Mittelalter  und 
darüber  hinaus  gewirkt,  auch  als  man  seine  Weberin  längst  ver- 
gessen und  eine  andere  an  ihre  Stelle  gesetzt  hatte.  In  die  speku- 
lativen Träumereien  mittelalterlicher  Dichter  wollte  eine  so  fest 
umrissene  Persönlichkeit  wie  Proserpina  nicht  mehr  passen, 
auch  fand  ihr  Mythos  vom  Raube  durch  den  Unterwelts- 
beherrscher in  dem  christlich  gefärbten  Piatonismus  späterer 
Zeit  keinen  Platz  mehr.  An  Stelle  der  griechischen  Göttin 
der  Natur  trat  nun  Natura  selbst  als  Göttin  auf.  Allerdings 
ist  Natura -Physis  auch  schon  in  einem  orphischen  Hymnos  j 
als  Göttin  personifiziert,  zu  der  man  flehen  und  um  deren 
Schutz  und  Gaben  man  bitten  kann. 

nun  geht  es  nach  der  Weise  der  Hymnen  durch  28  Verse 
mit  verschiedenen  Beinamen  der  Göttin,  bis  zum  Schluß  die 
Bitte  kommt: 

alXd,  '9'fa,  lixo^ial  (>£,  6vv  evoXßoiöLV  iv  &QccLg 
EiQTivriv^  vyiHav  ayetv^  av'6,'Yi(SLV  äjtavxGiv} 

Doch  zeigt  vielleicht  gerade  diese  schier  unerschöpfliche 
Fülle  der  Beinamen,  die  der  Göttin  im  Hymnos  beigelegt 
werden,  daß  man  sich  nur  ein  sehr  zerflossenes  Bild  von  ihr 
machte,  und  daß  sie  bei  den  Orphikern  gegen  Chthonie  und 
Köre -Demeter  nicht  an  lebendiger  Gestaltung  aufkommen  konnte, 
wohl  auch  nie  einen  eigenen  Kult  gehabt  hat.  Auch  in  späterer 
Zeit  macht  die  griechische  Dichtung  nur  schwachen  Gebrauch 
davon,  die  (pvöig  zu  personifizieren.^  In  einem  Pseudolucianischen 


^  Orphica  rec.  G.  Hermann  p.  267. 

^  Hardy  Der  Begriff  der  Physis  in  der  griechischen  Philo- 
sophie kommt  zu  einem  ganz  negativen  Resultat,  was  die  Personi- 
fikation der  ^vöLg  anbetrifft. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  343 

Dialog ''EQCJtag  (19)  wird  sie  von  dem  Verfechter  der  Frauen- 
liebe  gegenüber  der  Knabenliebe  als  Zeugin  angerufen  und 
dabei  Allmutter,  heilige  Wurzel  der  Schöpfung  genannt.  Ähn- 
lich ablehnend  hat  sich  lange  auch  die  lateinische  Literatur 
verhalten.  Wir  finden  anfänglich  nur  eine  ganz  seltene  Ver- 
wendung des  Wortes  Natura,  erst  befruchtet  durch  die  reiche 
Bedeutung  des  griechischen  Begriffes  gelangt  die  Sprache  zu 
der  Vieldeutigkeit  dieses  Wortes.^  Noch  Lucrez  in  seinem 
nach  der  Natur  genannten  großen  Werke,  De  rerum  natura, 
personifiziert  nicht  die  Natur  selbst.  Wo  wir  dies  vielleicht  hätten 
erwarten  können,  in  seiner  wundervollen  Einleitung,  sehen  wir 
statt  ihrer  Venus,  die  zeugende  Frühlingsgöttin,  erscheinen, 
ausgestattet  mit  allen  Eigenschaften,  die  eine  spätere  Zeit  auf 
I  die  Natura  selbst  übertrug.  Erst  Claudian  wieder  führt  mit  dem 
I  Reichtum  von  Allegorien,  die  seine  Gedichte  beleben,  auch  die 
i Natur  gerne,  wenn  auch  nie  an  hervorragender  Stelle,  ein.  So 
tritt  in  einem  seiner  Gedichte  Natura  als  Türhüterin  auf,  sie 
öffnet  Sol  den  Eingang  zur  Höhle  der  Zeit.^  An  anderer 
j  Stelle  berichtet  Jupiter  im  Götterrat,  als  er  den  Mythos  vom 
I  Raube  der  Proserpina  seinen  versammelten  Untertanen  er- 
klären will: 

Nunc  mihi  cum  magnis  instat  Natura  querelis 

Humanuni  relevare  genus.^ 

Natur  habe  ihn  einen  harten  Tyrannen  gescholten  und  ihn 
an  die  Herrschaft  des  Vaters  erinnert.  Doch  im  Olymp  selbst, 
wo  doch  bei  dieser  Gelegenheit  alles  zusammengerufen  ist: 

pleheio  stat  cetera  more  iuventus 
Mille  amnis^ 

treffen  wir  sie  nicht  an.  Gerade  aber  dies  Bild  der  klagenden 
Natur,  das  Claudian  hier  zuerst  einführt,  hat  nach  langen  Jahr- 

^  J.  Claßen    Zur   Geschichte   des    Wortes   Natur.     Frankfurt   1863 
p.  11.     Festschrift  der  Senkenbergschen  Stiftung. 

^  Carm.  XXII  422  ff.  »  Baptus  Proserpinae  HI  33  ff. 

*  Bapt.  Pros.  IE  15  ff. 

23* 


344  Marie  Gothein 

hunderten  die  Phantasie  der  späteren  christliclien  DicMer 
beflügelt. 

Wir  müssen  bis  in  den  Anfang  des  12.  Jabrbunderts  herunter- 
gehen, um  der  Göttin  Natura  wieder  zu  begegnen.  Um  diese  Zeit 
blühte  in  der  Schule  von  Chartres,  die  die  platonische  Philosophie 
wieder  neu  beleben  wollte,  wenn  auch  mit  sehr  geringer  Kenntnis 
Piatos  selbst,  da  ihr  nichts  als  das  Timäusfragment  des  Chal- 
kidios  bekannt  war^,  der  jüngere  Bernhardus  Silvestris.  In 
einem  Gedichte,  De  mundi  universitate  ^,  macht  er  den  Ver- 
such mit  Piatos  kosmologischen  Phantasien  zu  wetteifern.  Hier 
nun  sehen  wir  der  Göttin  Natura  den  obersten  Platz  nach 
dem  Schöpfer  angewiesen.  Er  läßt  die  Göttin  „klagend  fast 
bis  zu  Tränen"  vor  Nous  ( Providentia  Dei)  erscheinen  mit  der 
Bitte,  das  (^haos  zu  einem  Kosmos  zu  gestalten,  Nous  will- 
fährt und  sendet  zum  Schluß  Natura  aus,  um  Urania,  die 
Herrscherin  der  Sternen  weit,  und  Physis  „quae  rerum  omnium 
peritissima  est"  herbeizuholen,  um  mit  ihnen  vereint  den 
Menschen  zu  schaffen.  Durch  die  Zweiteilung  der  Natura  und 
Physis  aber  verhindert  sich  Silvestris  selbst,  der  Natura  wirk- 
lich lebensvolle  Züge  zu  leihen;  sie  ist  die  oberste  Helferin 
und  Beraterin  des  Nous,  die  Verwalterin  des  Gesetzmäßigen  im 
Weltall,  die  eigentliche  Göttin  der  Erde  ist  Physis,  der  Urania, 
die  Herrscherin  im  Gebiete  der  Sterne,  gegenübersteht,  so  daß 
das  Bild  der  Allvermittlerin  Natura  ihm  unter  den  Händen 
zerfließt. 

Hier  gebührt  Alanus  de  Insulis  der  Ruhm,  mit  seiner  Kon- 
zeption der  Natura  das  Vorbild  geschaffen  zu  haben,  das  bis 
in  die  Renaissance  und  darüber  hinaus  die  Dichter  begeistert 
hat.       Sein    Gedicht    De    Planctu    Naturae^,     das    wohl    das 


^  Schaarschmidt  Joh.  Saresberiensis  nach  Leben,  Studien,  Schriften 
und  Philosophie.    Leipzig  1862  p,  73  ff. 

2  Bernhardus  Silvestris  De  mundi  universitate  ed.  S.  Barach  u. 
Joh.  Wrobel,  Innsbruck  1876. 

»  Migne  Patr.  Lat.  CCX  431  ff. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  345 

früheste     seiner   Werke    ist,    gilt   der   Bekämpfung   der  wider- 
natürlichen   geschlechtlichen   Laster.     Dem    Dichter   selbst   er- 
I  scheint    im   Traum  Natura   klagend    über   die   Verderbnis    des 
Menschen,    den   sie    geschaffen;    in   langem   Dialoge    mit   dem 
Dichter  werden  die  einzelnen  Laster  besprochen  und  den  Tugen- 
den   entgegengesetzt,    bis    sie    schließlich    durch    die   Ankunft 
!  des    hochgeehrten  Hymen    unterbrochen  werden.     Natura   be- 
schließt,   diesen    mit    einem    Briefe    zu    ihrem    Hohenpriester 
Genius  zu  senden.     Dieser  erscheint  und  spricht  ein  Anathema, 
j  eine  Exkommunikation  über  alle,  die  diesen  Lastern  huldigen, 
aus.      Alanus    war   weder  dichterisch    noch    philosophisch   ein 
sehr  tiefer  Kopf,  doch  wenn  ihm  der  hohe  Flug  der  Phantasie 
des  Bemhardus  auch  fehlt,  so  ist  es  ihm   dafür  gelungen,  die 
Göttin  Natura  wirklich  lebendig  zu  gestalten. 

Mit    allem    Aufwand    an    begeisterten   Worten    wird    die 

Schönheit  ihres  Leibes  geschildert.     Das  Wunderbarste  an  ihr 

aber  ist  das  Gewand,  das  sie  trägt.     Die  Jungfrau  hat  es  mit 

eigenen  Händen  gewebt,   dreifarbig  umgibt  es  ihren  Leib,  zu 

oberst  blau,  der  Luft  gleich,  von  so  großer  Zartheit  des  Gewebes, 

„ut  crederes  esse  naturam,  in  qua,  prout  oculis  pictura  imagina- 

tur,  animalium   celebratur  concilium".^     Nun  folgt  eine  lange 

Aufzählung  von  Geschöpfen  der  Luft,  die  man  mit  ihren  Schick- 

i  salen,  Lebensgewohnheiten  und  Eigenschaften  abgebildet  sieht, 

I  und  dem  entsprechend  schauen  wir  auf  den  unteren  Gewändern 

'  die    Geschöpfe    der   Erde   und    des  Meeres,    alle   als   lebendig, 

handelnd.     Selbst  Hemd  und  Strümpfe,  die  der  Dichter  nicht 

sieht,  glaubt  er  bemalt  mit  den  niederen  Wesen,  wie  die  Stiefel 

I  Pflanzen  und  Blumen  aller  Art  aufweisen.    Es  ist  unschwer  zu 

!  sehen,  woher  Alanus  diesen  Gedanken  nahm.     Er  selbst  weist 

uns  auf  Claudian,  als  den  Dichter  des  Altertums,  der  ihn  damals 

am  meisten  beschäftigte.    Sein  bald  darauf  entstandenes  Gedicht 

—  der  Anticlaudian  —  ist  im  Wetteifer  mit  dem  Dichter  des  aus- 


*  Migne  a.  a.  0.  435  D. 


346  Marie  Gothein 

gellenden  Altertums  geschrieben.^  Alanus  überträgt  also  hier 
zuerst  die  uralte  Funktion  der  Köre  auf  seine  neue  Göttin,  die 
von  nun  an  bei  den  christlichen  Dichtern  die  Stelle  der  Demeter- 
Kore  einnimmt.  Dem  mittelalterlichen  Dichter  freilich  ward 
diese  Gewandschilderung  in  erster  Linie  ein  Mittel,  didaktische 
Zwecke  zu  verfolgen:  gerade  bei  den  uns  heute  so  ermüdenden 
Aufzählungen  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  sie  der  seiner 
naturgeschichtlichen  Kenntnisse  frohe  Dichter  einem  lern- 
begierigen Leserkreis  darbot.  Neben  Claudian  hat  dann  auch 
Boethius'  Consolatio  philosophiae  auf  Alanus  eingewirkt,  nicht 
nur  daß  er,  wie  auch  schon  Silvestris  in  De  mundi  universi- 
tate  die  äußere  Form,  die  Mischung  von  Poesie  und  Prosa  für 
beide  Gedichte  wählt,  nein  auch  schon  Boethius  läßt  seine 
Philosophia  mit  einem  Gewände  bekleidet  sein,  das  sie  mit 
eigenen  Händen  gewebt  hat  und  das  mit  symbolischen  Zeichen 
und  Bildern  bedeckt  ist,^  So  benutzt  auch  Alanus  überhaupt 
solche  Gewandschilderungen,  um  das  Wesen  seiner  allegorischen 
Gestalten  damit  zu  erklären;  die  Tugenden,  die  Natura  gegen 
die  Laster  sich  zum  Tröste  aufruft,  zeigen  auf  ihren  Gewändern 
allerlei  Fabeln  eingewebt,  die  zu  ihrer  Verherrlichung  dienen^, 
und  Hymen  trägt  ein  Kleid  „in  quibus  picturarum  fabulae 
nuptiales  somniabant  eventus.*  Im  Anticlaudian  ^  trägt  fast  jede 
der  sehr  zahlreichen  allegorischen  Gestalten  ein  figurenreiches 
Gewand,  das  dazu  dient,  uns  ihr  Wesen  verständlicher  zu  machen. 

^  Migne  a.  a.  0.  487  ff.  Der  etwas  irreführende  Titel  dieses  Ge- 
dichtes erklärt  sich  daher,  daß  Claudian  in  einer  Invektive  gegen  den 
Minister  des  Honorius  Rufian,  den  Antirufianus,  von  Alecto  den  schlimm- 
sten aller  Menschen,  Rufian  eben  erschaffen  läßt;  des  Alanus  Thema  da- 
gegen beschäftigt  sich  mit  der  Schöpfung  des  besten  aller  Menschen. 

^  Boethius  Consol.    Prosa  I  1. 

^  De  PI.  nat.  473  A.  Castitas  z.  B.  trägt  ein  Gewand,  auf  dem  wir 
die  Geschichten  des  Hippolytus,  der  Daphne,  Lucretia,  Penelope  ein- 
gewebt sehen.  '^  De  PI.  nat.  472  B. 

^  Dazu  0.  Leist  Der  Anticlaudianus ,  ein  lat.  Ged.  d.  13.  Jahrh.  und 
sein  Verfasser  Alanus  de  InsuUs  Beilage  z.  Programm  des  Gymnas.  zu 
Seehausen  1872—1882. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  347 

Auch  in  diesem  zweiten  Werke  des  Alanus  tritt  die  Göttin  Natur 
klagend  auf,  auch  hier  erpreßt  der  Fall  und  die  Verderbnis 
des  Menschen  ihr  Tränen,  doch  beschließt  sie  hier,  als  Segen 
und  Heilmittel  den  „besten  Menschen"  zu  schaffen,  und  beruft 
dazu  eine  Versammlung  der  Tugenden.  Die  persönliche  Schilde- 
rung der  Göttin  und  mit  ihr  das  Gewand  läßt  der  Dichter  hier 
mehr  zurücktreten,  um  sich  nicht  zu  wiederholen,  dagegen 
iiören  wir  ausführlich  von  ihrem  Palast  und  Garten:  einsam 
wohnt  sie,  wo  in  ewigem  Frühling  immer  junges  Grün  sprießt, 
ferne  von  aller  Krankheit;  alle  Sinne  werden  angenehm  berührt. 
Ein  Wald  umgibt  den  Berg,  auf  dem  der  Palast  liegt,  wo  die 
Bäume  Blüten  und  Früchte  zugleich  tragen,  und  silberne  Quellen 
durchrieseln  ihn,  während  auf  den  Ästen  der  Gesang  der  Vögel 
niemals  verstummt,^ 

Mit  ähnlichen  Worten  hatte  auch  schon  Bernhardus  Sil- 
vestris  Granusion  geschildert,  den  Aufenthalt  der  Physis,  dessen 
Namen  er  herleitet  „quia  granium  diversitatibus  perpetuo  con- 
cubescit".^  Auch  Silvestris  hatte  solche  Schilderungen  nicht  er- 
funden. Henna,  den  Aufenthalt  Proserpinas,  schmückt  Claudian 
mit  allen  solchen  Reizen.  Größere  Übereinstimmung  mit  Alanus 
insbesondere  zeigt  aber  ein  anderes  Gedicht  des  Claudian,  sein 
l]pithalamium  für  Honorius  und  Maria,  die  Tochter  seines 
Gönners  Stilicho.^  Hier  wird  die  Wohnung  der  Venus  auf 
Cypern  geschildert,  die  in  allen  Einzelheiten  mit  dem  Palast 
der  Natur  übereinstimmt:  der  stille,  von  einem  Walde  um- 
gebene Berg,  auf  dem  der  Palast  steht,  der  ewige  Frühling,  fern 
von  Frost,  Winden  und  Wolken,  die  Vögel,  die  hier  erst  zu- 
gelassen werden,  wenn  sie  vor  Venus  ein  Examen  abgelegt 
haben,  die  Quellen,  die  den  Hain  durchrauschen.  Ovids  goldenes 
Zeitalter  und  TibuUs    Liebesgarten*    sind  römische  Vorbilder, 


^  Migne  a.  a.  0.  490  A  ff. 

^  De  mundi  universitate  II,  IX  15  ff.  '  Carm.  X. 

^  TibuU  I  3,  57  —  64. 


348  Marie  Gothein 

die  Claudian  Anregung  gegeben  haben  mögen.  Mit  breitem 
Pinsel  malt  Alanus  dieses  Heim  der  Natura  aus  und  findet 
dann  zum  Schluß  auch  noch  den  Ersatz  für  die  fehlende 
Gewandschilderung,  indem  er  in  den  Gemächern  des  Palastes, 
auf  die  Wände  gemalt,  solche  „lebende"  Szenen  erschaut. 

Hie  Jiominum  mores  picturae  gratia  scribet 


0  nova  picturae  miracula  transit  adesse 
Quod  nihil  esse  potest} 

Die  Göttin  Natura  aber  war,  gerade  wie  sie  bei  Alanus  sich 
gestaltete,  für  das  dichtende  Mittelalter,  das  immer  wieder  eine 
Neigung  zu  neuplatonischem  Pantheismus  zeigte,  eine  überaus 
glückliche  Erfindung.  Hinter  Alanus  Natura  steht  Gott,  als  der 
„mundi  elegans  architectus"!^  Er  selbst  hat  die  Natura  und 
mit  ihr  einmal  die  ganze  Welt  geschaffen.  Dann  aber  hat  er 
beschlossen,  selbst  nicht  mehr  einzugreifen,  untätig,  unnahbar 
zu  bleiben.  Statt  seiner  hat  er  nun  die  Natura  als  seine  Stell- 
vertreterin, „vicaria%  eingesetzt.  Alanus  braucht  gerade  dieses 
Epitheton  wiederholt^,  und  wir  werden  sehen,  wie  es  später  zu 
einer  Art  Amtsbezeichnung  der  Natur  wurde.  Sie  ist  die  Königin 
der  Welt*  und  steht  mitten  in  der  Schöpfung,  als  Wächterin  über 
alles  Gesetzmäßige;  alles  Werden  und  Vergehen  ist  ihr  Werk, 
der  ewige  Wechsel  des  Individuums,  die  Dauer  der  Art.^ 
Doch  als  erschaffen  ist  sie  fähig  menschlichen  Empfindens,  der 
Klagen,  Tränen,  Freude,  darin  ähnlich  den  griechischen  Göttern, 
besonders  dem  Göttinnenpaar,  das  sie  in  so  vieler  Hinsicht  ver- 
drängt hat:  Demeter  und  Köre. 


^  Migne  a.  a.  0.  491 A. 

^  De  planctu  naturae  Migne  a.  a.  0.  453  B. 

»  De  pl.  nat.  Migne  a.a.O.  442 C,  453 D,  476 B,  479 A. 

*  De  pl.  nat.  479  A. 

°  Vgl.  M.  Baumgartner  Die  Philosophie  des  Alanus  de  Insults. 
Beiträge  zur  Geschichte  des  Mittelalters  ed.  Cl.  Bäumker  u.  Hertling 
B.  II  Heft  II. 


\ 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  349 

Und  hier  möge  nocli  auf  einen  eigenartigen  Parallelismus 
der  Mythenbildung  hingewiesen  werden,  der  freilich  nur  beweist, 
wie  ähnliche  Spekulationen  über  den  Weltwerdeprozeß  sich  auch 
zu  ähnlichen  Bildern  gestalten.  Wie  einst  dem  orphischen 
Theologen  zufolge  Zeus,  das  Urprinzip,  einmal  das  Gewand 
der  Schöpfung  verfertigte  und  es  dann  der  Göttin  der  Erde 
übergab  —  wie  dann  aber  jährlich  aufs  neue  dies  Gewand  neu 
geschaffen  wurde  von  der  Göttin  der  Erde,  so  dachte  sich  auch 
der  mittelalterliche  Dichtertheologe  seinen  Gott  als  den  ein- 
üiahgen  Urschöpfer  des  Kosmos.  Dann  aber  übergibt  er  ihn 
der  Natura,  damit  er  von  dieser  ewig  neu  hervorgebracht  werden 
sollte.  Diese  durchsichtige  Allegorie  des  personifizierten  Begriffes 
Natur  war  es  gerade,  die  dem  mittelalterlichen  Empfinden  so 
ganz  entsprach,  so  daß  die  große  Wirksamkeit,  die  unser  „doctor 
universalis"  gerade  mit  dieser  Schöpfung  auf  die  nächstfolgenden 
Epochen  ausgeübt  hat,  wohl  erklärlich  ist. 

Wahrscheinlich  zu  gleicher  Zeit  wie  Alanus,  vielleicht  sogar 
ohne  Abhängigkeitsverhältnis,  führte  ein  anderer  lateinischer 
Dichter  die  Göttin  Natura  in  seinem  Werke  ein:  Johannes  von 
Anvillein  seinem  „Architrenus".  Der  Zisterzienser  Mönch  hat  hier 
das  uralte  Thema  von  der  Himmels  Wanderung,  die  auch  den 
wesentlichen  Inhalt  von  Bernhardus  Silvestris  und  Alanus 
Dichtungen  ausmacht,  zu  einer  allegorischen  Wanderung  auf 
der  Erde  umgewandelt.  Der  Wahrheit  und  Glück  suchende 
Jüngling  gelangt  auf  seiner  Pilgerfahrt  zu  einer  Reihe  allego- 
rischer Orte,  dem  goldenen  Haus  der  Venus,  dem  „coUis  prae- 
sumptionis",  dem  „mons  ambitionis",  allerdings  auch  nach  Paris, 
„der  mißachteten  Wissenschaft",  bis  er  zum  Schluß  auf  der  Insel 
Thylen  (Thule?)  die  versammelten  Philosophen  findet,  die  ihn 
zuletzt  zu  der  ewig  jungen  Göttin  Natura  führen,  die  er  in 
ihrem  Garten  antrifft,  wo  ewiger  Frühling  herrscht.  Sie  belehrt 
ihn  über  die  Entstehung  des  Kosmos,  was  ihn  aber  über  die 
menschliche  Unzulänglichkeit  nicht  tröstet,  erst  als  sie  ihm  eine 
Frau  verspricht,  sieht  er  sein  Glück  vor  sich.     Die  Hochzeits- 


350  Marie  Gothein 

feier,  bei   der  die  Tugenden  Dienerinnen  sind,  wird  dann  mit 
großem  Prunke  gefeiert.^ 

Auch  in  die  leichte  Yagantenliteratur  ist  die  Personifikation 
der  Natura  eingedrungen.  In  dem  Streitgedicht  Helena  und 
Ganymed,  das  der  im  Mittelalter  nur  zu  brennenden  Frage  der 
Bekämpfung  der  Päderastie  gewidmet  ist,  wird  Natura  als  Scbieds- 
ricbterin  zwischen  Helena,  der  Vertreterin  der  Frauenliebe,  und 
Ganymed,  dem  Verfechter  der  Knabenliebe,  aufgerufen,  in  ihrem 
Hause  findet  der  Streit  statt,  und  sie  wird  genannt: 

genetrix  Natura 
de  secreta  cogitans  verum  genitura 
hilem  muUifaria  vestiens  figura 
certo  res  sub  pondere  creat  et  mensura^, 

was  eine  direkte  Abhängigkeit  von  Alanus  nicht  unwahrschein- 
lich macht.^ 

Die  größte  und  nachhaltigste  Wirksamkeit  war  Alanus' 
bevorzugter  Göttin  bei  den  Dichtern  der  Vulgärsprachen  vor- 

^  Kuno  Francke  Ärchitrenus,  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte 
B.  XX  p,  473 ff.  Francke  glaubt,  daß  nicht  die  Moderantia  die  Frau 
sei,  die  Natur  dem  Ärchitrenus  verspricht,  sondern  eine  von  Fleisch  und 
Blut  (Schlußanm.  p.  502),  während  doch  einige  Handschriften  die  Über- 
schrift des  Schlußkapitels  „Nuptiae  Architreni  et  Moderantiae"  tragen. 
Der  Auszug  aus  dem  Gredichte  ist  gerade  für  diese  Partien  zu  un- 
genügend, um  ein  eigenes  Urteil  darüber  zu  haben,  doch  würde  die  alle- 
gorische Frau  dem  Geiste  des  Mittelalters  und  des  Gedichtes  weit  mehr 
entsprechen.  Ob  die  Tabula  Cebetis  auf  den  Ärchitrenus  eingewirkt 
hat,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden,  seine  eigentliche  Verbreitung  hat 
dieses  merkwürdige  kynische  Schriftchen  aus  dem  ersten  Jahrhundert  nach 
Chr.  erst  durch  die  Humanisten  erfahren,  anderseits  kannte  es  Tertul- 
lian:  mens  quidem  propinquus  ex  eodem  poeta  inter  cetera  stili  sui  otia 
pinacem  Cebetis  explicuit  (s.  Schanz  Gesch.  d.  röm.  Litt.  HI  ^  S.  45)  und 
die  ganze  Pilgerlebensreise  zur  wahren  Glückseligkeit,  die  dem  mittel- 
alterlichen Empfinden  sehr  entsprechen  mußte,  hat  einige  Ähnlichkeit 
mit  dem  Ärchitrenus. 

*  Zeitschrift]  für  deutsches  Altertum.  Bd.  18  p.  124  ff.,  siehe  auch 
ebenda  Bd.  22  p.  256  ff.  u.  43  p.  169  ff. 

*  Langlois  Origines  et  Sources  du  Roman  de  la  Böse.  Paris  1890 
p.  57.  Langlois  kann  mit  der  Altercatio  Ganimedis  et  Naturae  kaum 
etwas  anderes  meinen,  als  unser  oben  besprochenes  Gedicht. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  351 

behalten.  Naturgemäß  war  es  die  französieclie  Literatur,  die  am 
stärksten  davon  beeinflußt  wurde.  Doch  gehört  nicht  ihr  die 
früheste  Nachahmung  an;  ein  Werk  in  italienischer  Sprache 
vielmehr,  der  Tesoretto  Brunetto  Latinis,  des  Lehrers  Dantes, 
führt  uns  zuerst  Natura  in  der  Weise  des  Alanus  vor.  Latini 
schrieb  seinen  Tesoretto  während  seiner  Verbannung  auf  fran- 
zösischem Boden,  zu  gleicher  Zeit  wie  sein  großes  enzyklopä- 
disches Werk  le  Tresor,  mit  dem  er  dem  Volke,  das  den  Flücht- 
ling gastlich  beherbergte,  das  erste  große  enzyklopädische  Prosa- 
werk in  französischer  Sprache  schenkte.  In  kürzerer,  faßlicherer 
Form,  in  seiner  Muttersprache  und  in  gebundener  Rede,  wollte 
er  hier  nach  seinen  eigenen  Worten  die  gleichen  Resultate  den 
schwächeren  Geistern,  die  die  Wucht  der  Wissenschaft  nicht  er- 
tragen könnten,  zugänglich  machen,  und  darum  wählte  er  die 
allegorische  Einleitung.  Der  Dichter  erzählt,  wie  er,  noch  ganz 
überwältigt  von  dem  schmerzlichen  Eindruck,  den  ihm  die 
Niederlage  der  Ghibellinen  in  Florenz  gemacht  hat^,  sich  im 
Walde  verirrt.  Hier  trifft  er,  umgeben  von  allerlei  Geschöpfen, 
Männern,  Frauen  und  Tieren,  eine  hohe  Frau.  Sie  erscheint 
ihm  immer  wechselnd,  bald  den  Himmel  zu  berühren,  bald  die 
Erde  selbst  zu  sein,  die  sie  mit  ihren  Armen  umschließt.^  Er 
bewundert  ihre  große  Schönheit,  die  allerdings  ziemlich  dürftig 
geschildert  wird,  worauf  sie  sich  ihm  als  Natura  offenbart,  die 
von  Gott  geschaffen  sei  und  mit  Alanus'  Worten  heißt  es  dann 

Chosi  in  terra  e  in  aria 
M'a  fatto  sua  vicliaria.^ 

Dann  offenbart  sie  ihm  das  Weltbild  in  seiner  Entstehung, 
um   dieser  Betrachtungen  willen  hatte  ja  einzig  Brunetto   die 

^  Danach  würde  die  Abfassungszeit  bald  nach  1260  zu  setzen  sein. 

^  Hier  hat  Boethius  unmittelbar  gewirkt.  Bei  der  Schilderung  der 
Philosophie  heißt  es  (Pros.  I,  1)  Nam  nunc  quidem  ad  communem  sese 
liominum  mensuram  cohibebat  nunc  vero  pulsare  caelum  summi  verticis 
cacumine  videbatur. 

^  Zeitschrift  für  germ.  u.  roman.  Philologie  VII  236,  B.  Wiese  Der 
Tesoretto  des  B.  Latini  Cap.  III  v.  315. 


352  Marie  Gothein 

allegorische  Einkleidung  von  Alanus  geborgt.  Jedoch  ist  die 
Kosmologie  hei  weitem  christlicher  gefärbt  als  bei  den  latei- 
nischen Dichtern,  einmal  ist  das  Sechstagewerk  als  Leitfaden 
für  die  ganze  Darstellung  gewählt,  dann  aber  ist  Gott  selbst 
nicht  nur  der  einmalige  Schöpfer,  sondern  auch  fortwährender 
unmittelbarer  Leiter;  Natura  wird  nicht  müde  zu  betonen, 
daß  sie  nur  die  ausführende  Hand  des  jedesmaligen  göttlichen 
Befehles  ist. 

Alanus'  Göttin  dagegen  hat  mit  dem  spezifisch  christlichen 
Dogma  wenig  gemein,  und  in  dieser  Richtung  schließen  sich 
die  Dichter,  die  Alanus  in  französischer  Sprache  nachgeahmt 
haben,  ihrem  Vorbild  weit  näher  an.  Das  bedeutsamste  Gedicht 
ist  hier  der  zweite  Teil  des  „Roman  de  la  Rose".  Jean  de  Meung 
hatte  sich  ganz  mit  dem  Geiste  des  Alanus  erfüllt,  als  er  beschloß, 
an  das  naiv  heitere  Werkchen  des  Guillaume  de  Lorris  seine 
umfangreiche  Fortsetzung  anzuhängen.  Aus  dem  allegorischen 
Liebesgedichte  wurde  so  durch  ihn  ein  didaktisch  enzyklopädisches 
Werk,  das  ähnlich  wie  der  Tesoretto  das  allegorische  Gewand 
nur  benutzte,  um  anmutig  dem  Wissen  seiner  Zeit  Ausdruck  zu 
leihen.  Wie  Brunetto  fand  auch  Jean  de  Meung  die  von  Alanus 
geschaffene  Göttin  Natura  besonders  geeignet  für  seine  Ein- 
kleidung. Allerdings  erreicht  auch  der  französische  Dichter  sein 
Vorbild  nicht.  Schon  die  Einführung  entbehrt  des  Glanzes,  den 
ihr  Alanus'  Traumvision  verleiht.  Die  Göttin  erscheint  im  Rosen- 
roman ganz  unvermittelt  in  einer  Schmiede  ^,  wo  sie  die  Abbilder 
der  Ideen,  ^ie  Dinge  dieser  Welt  schmiedet,  und  zwar  im  steten 
Kampfe  mit  dem  Tode,  der  ihr  unaufhörlich  ihre  Werke  ent- 
reißen möchte;  sie  darf  nie  ruhen,  denn  sonst  würden  Pluto 
und  Cerberus,  die  Gewalten  der  Zerstörung,  sich  freuen.  Erst 
nachdem  dieser  Gedanke  in  ganzer  Breite  in  fast  100  Versen 
auseinandergesetzt  ist,  wird  der  Versuch  gemacht,  die  Schönheit 
der  Göttin  zu  schildern.    Dieser  Versuch  aber  fällt  ganz  negativ 


Roman  de  la  Rose  ed.  Michel.    Paris  1864  v.  16827  ff. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  353 

aus:  sie  ist  so  schön  und  herrlich,  daß  niemand  sie  malen 
könnte,  selbst  Zeuxis  nicht,  der  doch  sein  Tempelbild  aus 
den  Schönheiten  der  fünf  schönsten  Jungfrauen  bildete;  könnte 
es  der  Dichter,  so  wollte  er  es  wohl  gerne  tun  und  ihr  könntet 
es  dann  geschrieben  lesen,  doch  nur  Gott,  der  sie  gemacht, 
kann  es.  Nun  beginnt  Natur  zu  klagen,  wie  doch  alles,  was 
sie  so  schön  begonnen,  schlecht  ausgefallen  sei.  Sie  läßt  darauf 
ihren  Hohenpriester  Genius  kommen;  der  kurz  angedeutete  Ge- 
danke des  Alanus  wird  hier  in  aller  Breite  ausgeführt,  wir 
sehen  Genius  als  Kaplan  und  Beichtvater  der  Natura  gegenüber 
fungieren.  Sie,  die  von  Gott  zur  Wächterin  aller  Dinge  be- 
stimmt ist, 

Qu'ü  m'a  por  chamhriere  prise 

Por  chamhriere!  certes  vaire 

Por  constdble  et  por  vicaire^ 

wird  von  Genius  getröstet:  es  wäre  wohl  besser  um  diese  groß- 
angelegte Welt  bestellt,  deren  Kosmos  die  Natur  vorher  er- 
klärt —  wenn  die  Männer  den  neugierigen  Frauen  nicht  ihre 
Geheimnisse  preisgäben;  dieses  Thema  wird  dann  bis  zum 
Ende  des  Werkes  immer  wieder  auf  vielen  Umwegen  erreicht. 
Bei  der  weiten  Verbreitung  und  dem  großen  Einfluß,  den 
dieses  Werk  bald  auch  über  die  französischen  Grenzen  hinaus 
ausüben  sollte,  war  nun  auch  die  Rezeption  der  Göttin  Natura 
in  der  Volkssprache  vollzogen.  Deutliche  Spuren  der  Einwirkung 
des  Rosenromans  zeigt  dann  auch  gleich  ein  anderes  franzö- 
sisches Werk,  das  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  entstanden  ist, 
„Les  echecs  amoureux".^  Der  Verfasser  kennt  natürlich  Alanus 
auch,  ja  er  schließt  sich  an  ihn  weit  enger  an,  als  alle  bisher 
besprochenen  Nachahmungen.  Dem  träumenden  Dichter  erscheint 
die  herrlich  schöne  Frau  in  seinem  eigenen  Zimmer.  Sie  trägt 
ein  Gewand,  das  aus  den  vier  Elementen  gewebt  ist,  auf  dem 

^  Roman  de  la  Böse  a.  a.  0.  v.  17717 — 17719. 

^  Ernst  Sieper   Les  echecs  amoureux.    Eine    altfranzösiscbe  Nach- 
ahmung des  Rosenromans.     Weimar  1898. 


354  Marie  Gothein 

alle  Wesen  nach,  den  Ideen,  die  im  Geiste  Gottes  konzipiert 
waren,  eingewirkt  sind:  die  Fische,  die  Vögel,  die  Tiere  und 
zu  oberst  der  Mensch,  das  Antlitz  richtet  er  nach  oben,  die 
Tiere  überragend  durch  Vernunft  und  seine  unsterbliche  Seele. 
Zugleich  aber  nimmt  der  Dichter  aus  dem  Roman  de  la  Rose 
das  kräftig  wirkende  Bild  der  Schmiede  auf,  wo  die  Natur 
unausgesetzt  an  der  Erneuerung  der  vom  Tode  bedrohten  Wesen 
arbeitet.  Ihre  Schönheit  zu  schildern  erklärt  auch  er  sich  ebenso 
unfähig,  wie  der  Verfasser  des  Rosenromans:  das  gehe  über 
menschliches  Vermögen;  sie,  das  Urbild  aller  Schönheit,  erfüllt 
mit  ihrem  Glänze  das  ganze  Zimmer,  so  daß  selbst  die  Göttin 
Proserpina  mit  allen  ihren  Edelsteinen  ihr  nicht  gleichkommt. 
Aus  Boethius  borgt  er  dann  noch  den  Zug,  daß  seine  Göttin 
in  jugendlicher,  blühender  Frische  erscheine,  trotzdem  sie  so 
alt  sei,  daß  niemand  ihre  Jahre  zählen  könne.^ 

Außerhalb  Frankreichs  hat  der  Rosenroman  in  sehr  ver- 
schiedener Weise  gewirkt.  Schon  im  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts hat  er  einen  italienischen  Bearbeiter  gefunden.^  Ser 
Durante,  ein  toskanischer  Dichter,  verarbeitete  das  große  Werk 
in  232  Sonetten,  wobei  unwillkürlich  die  eigentliche  Liebes- 
fabel stärker  in  den  Vordergrund  tritt,  während  das  didaktische 
Element,  wenn  auch  nicht  unterdrückt,  so  doch  etwas  zurück- 
gedrängt wird.  Durante  nun  hat  jeder  der  zahlreichen  alle- 
gorischen Gestalten  seines  französischen  Vorbildes  ihren  Platz 
in  seinen  Sonetten  gegönnt,  nur  die  Göttin  Natura  samt  ihrem 
Kaplan  Genius  ist  merkwürdigerweise  ganz  unterdrückt.  Trotz 
des  Vorgangs  im  Tesoretto  hat  Natura  auf  italienischem  Boden 
sich  nicht  einbürgern  können. 

Ebenso  finden  wir  in  der  deutschen  Literatur  nur  ganz  ver- 
einzelt eine  Spur  von  ihr.  Diese  Spur,  die  sich  später  so  ganz 
verlieren  sollte,  führt  uns  in  den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts 

^  Boethius  a.  a.  0.  Prosa  I,  1. 

*  II  Fiore,  imite  du  Boman  de  la  Böse,  par  Durante  publ.  par 
F.  Castets.    Paris  1881. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  355 

zurück,  so  daß  wir  hier  vielleicht  den  frühesten  Einfluß  des 
Alanus  in  den  Volkssprachen  zu  konstatieren  hätten.  In  einem 
der  kleinen  Gedichte  des  Stricker^  erhebt  der  Dichter  einen 
langen  Klagesang  über  alle  Mißstände  der  Welt.  In  dem 
großen  Sündenregister  nimmt  einen  ziemlich  bedeutenden  Raum 
die  Anklage  der  unnatürlichen  Liebes  vergehen,  der  Päderastie 
insbesondere  ein,  und  hier  nun  tritt  zum  Schluß  „natüre"  per- 
sönlich auf,  wirft  sich  dem  Herrn  zu  Füßen  und  bittet  ihn, 
die  Wesen,  die  er  geschaffen,  damit  sie  ihr,  der  Natur,  Unter- 
tan seien,  zu  strafen,  weil  sie  „dich  hänt  an  mir  gehoenet". 
In  einer  Variante  heißt  es  dann  weiter: 

wann  du  mir  gebe  das  gebot, 
daz  ich  were  der  ander  got.^ 

I  Die  ganze  Situation  der  klagenden  Natur,  die  sich  besonders 
I  gegen  Verbrechen,  die  „widernatürlich"  sind,  richten,  sodann 
aber  der  Ausdruck  „der  ander  Gott",  d.  h.  vicaria,  zu  dem 
Natura  von  dem  Schöpfer  berufen  ist,  machen  einen  direkten  Ein- 
fluß der  lateinischen  Poesie,  des  Alanus  insbesondere,  sehr  wahr- 
scheinlich. Ebenso  aber  wie  in  Italien  hat  auch  in  Deutschland 
dieser  frühe  Versuch,'  eine  personifizierte  Natur  einzuführen, 
weitere  Folgen  nicht  gehabt.  Der  Rosenroman  hat  augenscheinlich 
überhaupt  keinen  Eindruck  mehr  in  dem  Deutschland  des  14.  Jahr- 
hunderts gemacht,  dessen  wachsende  Unbildung  den  internatio- 
nalen Austausch  immer  mehr  zurückdrängte. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung  fand  die  auf  französischem 

Boden  entstandene  Allegorie  der  Natura  in  der  englischen  Poesie. 

Sowohl  der  Rosenroman,  wie  Les  echecs  amoureux  sind  sehr  bald 

ins  Englische  übersetzt  worden,  und  zwar  hier  allein  in  wirklich 

I  treuer  Übernahme   der   Originale.     Von  Chaucers  Übersetzung 

.  des  Rosenromans  wie  in  den  anderen  uns  überlieferten  Bruch- 

I  stücken  haben   sich  gerade    die    Partien,    die    von   der    Natur 

j  handeln,   nicht   erhalten.      Doch    Geoffrey   Chaucer  war  nicht 

^  Stricker  Kleine  Gedichte  ed.  Hahn  p.  69  XII. 
2  Ebenda  Variante  v.  489  ff. 


356  Marie  Gothein 

nur  mit  dem  französisclien  Werke,  sondern  auch  mit  Alanus 
auf  das  beste  vertraut  und  kann  sogar  bei  seinen  Lesern 
das  gleiche  voraussetzen.  Die  spielend  leichte  Art,  wie  der 
englische  Dichter  die  Göttin  in  seine  Gedichte  einführt,  zeigt 
recht  eigentlich,  wie  sehr  die  Personifikation  den  Dichtem 
jener  Periode  schon  geläufig  ist,  alles,  was  die  Vorgänger  in 
Hunderten  von  Versen  geschildert,  weiß  er  auf  wenige  Zeilen, 
wie  in  „The  Parlament  of  Fowles",  zusammenzudrängen.  Auf 
schattigem  Bhimenhügel  sitzt  die  „noble  goddesse  Nature" 
deren  Schönheit  alle  Geschöpfe  überstrahlt,  wie  die  Sonne  das 
Sternenlicht,  aber  wie  sie  wirklich  aussieht,  erfahren  wir  von 
Chaucer  ebensowenig,  wie  von  den  französischen  Dichtern, 
schalkhaft  verweist  uns  der  Dichter  hier  an  die  rechte  Quelle: 

Änd  riglit  as  Alleyn  in  the  Pleynd  of  Kinde 

Devyseth  Nature  in  array  and  face 

In  swicli  array  men  mighten  hir  ther  finde} 

Alles  finden  wir  in  diesem  Gedichte  angedeutet,  das  Haus,  die 
Schönheit,  das  Kleid,  ihre  Stellung  als  Weltkönigin  und  Stell- 
vertreterin Gottes,  „the  vicaire  of  th'almjghty  lorde".^  Und  dieser 
Ausdruck  besonders  wird  nun  bei  Chaucer  wie  bei  seinen  Nach- 
folgern zu  einem  stehenden  Epitheton  der  Göttin.  In  „The  Phisi- 
cians  Tale"  tritt  wieder  Gottes  „vicaire  general"^,  die  Göttin 
Natura,  auf,  freilich  jetzt  nur  noch,  um  ein  schönes  Mägdelein 
zu  schaffen.  Chaucers  Nachfolger  Lydgate  gebraucht  vollends 
die  personifizierte  Göttin  Natur  als  ein  traditionelles  Gut. 
Lydgate  übersetzte  „les  Echecs  amoureux"  unter  dem  Titel  „Rea- 
Boun  and  Sensuality"^,  worin  gerade  die  Einleitungs träum vision 
und  die  Göttin  Natura  ganz  treu  nach  dem  Original  übertragen 
ist.^  Wenn  er  aber  hier  nur  fremdes  Gut  überliefert,  so  sind 
die  Stellen  zahlreich,  wo  er  in  eigenen  Werken  die  Göttin  ein- 


1  Chaucer  The  Minor  Poems  V  the  Parlement  of  Fowles  316  ff. 

2  Ebenda  379.  »  Canterbury  Tales  Group  G  v.  20. 
*  Early  Engl  Text  Soc.    Extr.  Ser.    Bd.  84,  89. 

^  J.  Schick  Kleine  Lidgatestudien  Anglica  Beiblatt  VIII  p.  134  ff. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  357 

führt.^  Etwas  später  schildert  auch  der  schottische  Dichter 
Dunbar  in  seinem  Gedichte  „The  Thrissel  and  the  Ross"^ 
Dame  Nature  inmitten  aller  Geschöpfe,  die  sich  einen  König 
wählen  sollen. 

Von  nun  an  behauptet  Nature  in  der  englischen  Literatur 
ihr  völliges  Bürgerrecht.  Und  ganz  anders  als  in  irgendeiner 
Sprache,  die  den  Begrilff  Natur  aus  dem  Lateinischen  entlehnt 
hat,  hat  er  sich  auch  heute  noch  in  der  englischen  die  Fähig- 
keit bewahrt,  sich  zu  lebendiger  Personifikation  zu  gestalten. 
j  Im  15.  und  16.  Jahrhundert  ist  die  Göttin  so  sehr  in  die 

I  Vorstellung  weiter  Kreise  übergegangen,  daß  sie  selbst  auf  der 
!  Bühne  heimisch  wurde.  In  den  sogenannten  Moralitäten,  alle- 
gorischen Stücken,  die  mit  Hilfe  der  Personifikation  von  Eigen- 
schaften und  einiger  anderer  Begriffe  den  inneren  Kampf  des  Guten 
I  und  Bösen  im  Menschen  anschaulich  vorführen  wollen,  tritt  Na- 
tura  häufig  auf.  Meist  spricht  sie  zur  Einführung  einen  Prolog,  in 
dem  sie  sich  über  das  Lieblingsthema  der  damaligen  Popular- 
philosophie,  die  Weltentstehung,  verbreitet.  Feierlich  wird  ihr 
Aufzug  geschildert,  meist  stellt  sie  sich  als  die  gütig  schaffende 
Herrscherin  dar,  aus'  deren  Händen  der  Mensch  rein  in  die 
Welt  ausgesandt  wird,  wie  in  der  englischen  Moralität,  die 
nach  ihr  benannt  ist  „Nature".^  In  ähnlich  feierlicher  Weise 
tritt  sie  in  einem  französischen  Stücke,  „Le  Dict  des  Jardiniers"*, 
auf,  wo  sie  ihr  Sprüchlein  in  fünffüßigen  Jamben  hersagt,  als 
Einleitung  für  ein  allegorisches  Stück  vom  Frauendienst. 

Ein  ganz  besonders  empfängliches  Gemüt  für  die  Natur- 
philosophie der  Zeit  setzt  das  englische  Stück  „The  Interlude 
of  the    Four    Elements"^   voraus,   indem    die   Erklärung    des 

^  TroybooJc  Dsd,  Fall  of  Princes  93  a,  ÄssemUy  of  Gods  452  u.  52, 
De  duöbus  Mercatoribus  v.  676,  diese  Stellen  lassen  sich  gewiß  noch 
vermehren. 

^  Dnnbar  The  Poems  B.  11  p.  183  ff.   Scottish  Text  Soc.  1883/84. 

^  Brandl  Quellen  des  welil.  Dramas  1898  p.  74  ff. 

*  Le  Dict  des  Jardiniers  ed.  Mugnier  Paris  1896. 

"  Dodsley  Old  Engl  Plays  ed.  Hazlitt  B.  I  p.  1  ff. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  24 


358  Marie  Gothein 

Kosmos  der  Gegenstand  als  solcher  ist,  wobei  Natura  ein  Haupt- 
unterredner bleibt.  Sie  wird  hier  männlich  Lord  Nature  ge- 
nannt, was  bei  dem  mangelnden  Gescblecbt  des  englischen 
Substantivs  möglich  ist,  aber  doch  sehr  selten  vorkommt.  In 
einer  anderen  englischen  Moralität,  „The  Marriage  of  Wit  and 
Sience"^,  fungiert  sie  als  Mutter  von  „Wit",  der  übrigens  hier 
ganz  an  die  Stelle  des  irrenden  und  schließlich  zum  rechten 
Ziel  geleiteten  Menschen  tritt. 

Weit  seltener,  vielleicht  nur  dieses  eine  Mal,  sehen 
wir  sie  in  christlichem  Sinne  klagend  über  ihre  Verderbnis 
auftreten.  Petit  (Repert.  p.  86)  beschreibt  sie  in  einem  Stücke, 
Nature,  Loi  de  Rigueur,  Divin  Pouvoir,  Loi  de  Grace, 
la  Vierge  so  auftretend,  und  zum  Schlüsse  sich  tröstend 
mit  der  Hoffnung  auf  Erlösung  durch  die  Jungfrau,  die  aus 
ihrem  Schöße  geboren  wird. 

Gerade  diese  Ausnahme  zeigt,  wie  wenig  begründet  die 
landläufige  Annahme  ist,  als  hätte  das  Mittelalter  nur  die  sün- 
dige, nach  Erlösung  seufzende  Natur  gekannt^,  ganz  im  Gegen- 
teil, wir  haben  sie  bis  hierher  in  aller  ihrer  Erhöhung  und  Gött- 
lichkeit gesehen,  umgeben  von  der  Herrlichkeit  ihrer  Schöpfung, 
nur  der  Mensch  mit  seiner  Neigung  zur  Verderbnis  macht  ihr 
stets  aufs  neue  Kummer,  doch  selbst  er  wird  nicht  durchaus 
immer  einer  Erbsünde  unterworfen,  sondern  von  Natur  aus  rein 
gedacht,  wie  die  oben  besprochene   englische  Moralität  zeigt. 

So  nahm  die  Renaissance  in  England  noch  am  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  die  Naturpersonifikation  ganz  unverändert  auf. 
John  Lyly,  ein  Zeitgenosse  Shakespeares,  läßt  sie  in  einem  Stück, 
„The  Woman  of  the  Moon"^,  das  erst   1597   gedruckt,   wahr- 

1  Dodsley  II  p.  1  fif. 

^  Claßen  Zur  Geschichte  des  Wortes  Natur  a.  a.  0.  p.  24  ff.  glaubt 
sogar,  daß  erst  das  18.  Jahrhundert  die  gänzliche  Befreiung  des  „in 
den  Schranken  des  theologischen  Dogmas"  festgehaltenen  Naturbegriffs 
brachte. 

^  The  dramatic  Works  of  John  Lilly  ed.  Fairholt,  London  1892 
II  p.  149  f. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  359 

öcheinlich  aber  mehr  als  ein  Dezennium  früher  entstanden  ist, 
ganz  in  Moralitätenweise  auftreten.  Lyly  war  ein  gelehrter 
Herr,  und  wenn  er  selbst  wohl  kaum  den  Alanus  gelesen 
haben  wird^,  so  zeigt  er  sich  doch  vertraut  genug  mit  den 
philosophischen  Vorstellungen,  die  das  Mittelalter  mit  Natura 
verknüpfte.  Er  gibt  ihr  als  Begleiterinnen  Discors  und  Concors, 
mit  deren  Hilfe  sie  aus  den  vier  Elementen  das  Weib  Pandora 
für  ihre  Hirten  von  Utopien  schafft.  „Nature  works  her  will 
from  contraries."^  Gerade  so  hatte  einst  Alanus'  Natura  den 
Menschen  aus  der  „quattuor  elementorum  Concors  discordia"^  ge- 
schaffen. Wenn  nun  in  allen  diesen  Stücken  des  Gewandes  der 
Göttin  nicht  Erwähnung  geschieht,  so  ist  das  wohl  am  besten 
daraus  zu  erklären,  daß  das  Gewand  der  auftretenden  Allegorien 
immer  nach  Möglichkeit  so  gewählt  wurde,  daß  es  ihr  Wesen 
erklären  hilft;  so  läßt  sich  auch  wohl  denken,  daß  Dame  Nature 
bei  ihrem  Auftreten  ein  Gewand,  das  mit  allerlei  Geschöpfen 
der  Luft,  der  Erde  und  des  Wassers  bestickt  war,  trug. 

Wenn  die  Renaissance  nun  auch  Alanus  nicht  mehr  gelesen 
hat,  seinen  Namen  hatte  man  in  England  doch  nicht  vergessen. 
Edmund  Spenser  in  ,dem  nachgelassenen  Fragment  zur  Faery 
Queen*  hat  ihn  in  gleicher  Weise,  spielend  wie  Chaucer,  von 
diesem  direkt  übernommen.  In  Spensers  großem  Gedichte  münden 
wie  in  einem  Strome  alle  Allegorien,  die  vom  Altertum 
geschaffen  oder  angeregt,  durch  den  Geist  des  Mittelalters 
durchgegangen  waren,  und  nun  in  dieses  Renaissancedichters 
blühender  Phantasie  ein  letztes,  reiches  Leben  erhielten.  Die 
Personifikation  der  Natur,  die  diesen  Gesang  eröffnet,  zeigt  am 
besten,  wie  er  es  verstand,  im  Rahmen  der  Tradition  ein 
grandioses  Gemälde  zu  entwerfen.  Auf  seinem  heimischen  Berge 

^  De  Planctu  Natur ae  wenigstens  ist  nicht  vor  1633  gedruckt, 
während  der  Anticlaudian  schon  1530  erschien. 

2  Lilly  a.  a.  0.  p.  154. 

^  De  Fl.  Nat.  Migne  443  B.  Auch  Horaz  »Ep.  I  12,  19  gebraucht 
concordia  discors  und  Ovid  Met.  1,  433  discors  concordia. 

^  Faery  Queen  Fragment  Canto  VII  Str.  IX. 

24* 


360  Marie  Grothein 

auf  Arlokill  versammelt  er  die  Götter,  und  Nature  ist  jetzt 
niclit  nur  unter  ihnen,  nein,  sie  wird  ausdrücklich  greatest 
godess  genannt.  Ihr  Palast  steht  auf  dem  lieblichen  Hügel,  er 
ist  von  der  Erde  selbst  zu  ewigem  Frühling  erbaut,  und  alle 
Frühlingslust  umgibt  ihn.  Dort  führt  die  Hehre  den  Vorsitz, 
die  Schönheit  ihres  Antlitzes,  die  für  den  Beschauer  blendend,  ja 
tödlich  sein  könnte,  verhüllt  ein  Schleier,  so  daß  man  nicht  er- 
kennen kann,  ob  sie  männlichen  oder  weiblichen  Geschlechts 
ist.  Und  gar  ihr  Gewand  zu  schildern  geht  über  Menschenkraft 
so  sehr, 

That  old  Dan  Geoffrey  (in  wJiose  gentle  sprigJit 

The  pure  well  -  head  of  poetry  did  dwell 

In  Ms  Fowls  Parley  durst  not  with  it  mell 

But  it  transferres  to  Alane,  who,  he  thought 

Had  in  his  plaint  of  Kinds  described  it  well 

Which  who  will  read  set  forth,  so  as  it  ought 

G-o  seeJc  he  out  that  Alane,  where  he  may  he  sought. 

Wenn  Spenser  hier  auch  offen  seine  Unkenntnis  über  das 
Gewand  der  Natur  ausspricht,  so  ist  ihm  doch  die  Vorstellung 
eines  Gewandes,  das  Naturdinge  „wie  lebendig'^  zeigt,  nicht 
fremd.  Hier  und  dort  in  Faery  Queen  finden  sich  solche  An- 
deutungen. Am  deutlichsten  wohl  bei  dem  Neptunsfest  ^,  wo 
der  Flußgott  Themse  ein  blaßblaues  Gewand  trägt,  auf  dem 
die  Wogen,  wie  Kristallglas  glitzernd,  so  kunstvoll  eingewoben 
waren,  daß  wenige  erraten  konnten,  ob  sie  falsch  oder  echt 
waren.  Und  ganz  ist  in  der  englischen  Literatur  die  eigenartige, 
faszinierende  Vorstellung  eines  solchen  lebendigen  Wunderkleides 
nicht  verschwunden.  Noch  einmal  hat  John  Keats,  der  Dichter 
der  Renaissance  der  elisabethanischen  Poesie  im  19.  Jahrhundert, 
diesen  uralten  Gedanken  aufgenommen.  In  seinem  großen  Jugend- 
gedichte Endymion  muß  der  Hirtenjüngling,  nach  der  unbe- 
kannten Geliebten  suchend,  das  Innere  der  Erde  und  die  Tiefen 
des  Meeres  durchwandern.   Hier  trifft  er  den  Meergreis  Glaukos  ^, 


Book  ly  C.  XI  Str.  XXYII.  ^  Endymion  Buch  III  196  ff. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  361 

sitzend,  bekleidet  mit  einem  blauen  Mantel,  „auf  dem  zu  schauen 
war  jede  Meergestalt,  der  Sturm,  das  Meeresrauscben,  der  öde 
Strand,  dann  alle  Geschöpfe,  je  nachdem  das  Auge  darauf 
schaut,  bald  groß,  bald  klein,  weiter  sah  man  auch  Neptun 
mit  seinem  Hofstaat  von  Nymphen  darauf".  Die  Lektüre  des 
jimgen,  damals  20jährigen  Keats  war  beschränkt.  Von  den 
^Iten  kannte  er  Homer  nur  in  Übersetzung  des  alten  Elisa- 
bethaners  Chapman,  Ovid  und  Vergil  in  der  Ursprache,  sonst 
hielt  sich  seine  schaffende  Phantasie  an  Kompendien  und  Hand- 
bücher über  das  Altertum.  Spenser  aber  war  der  Dichter,  der 
ihn  in  jener  Periode  vollkommen  beherrschte;  ob  er  sich  von 
den  geringen  Andeutungen,  die  ihm  die  Faery  Queen  bot,  hat 
anfeuern  lassen,  ob  ihm  irgendwoher  klarere  Quelle  dieser  antik- 
mittelalterlichen Vorstellung  zufloß,  jedenfalls  hat  dieser  Dichter, 
wie  so  oft  noch  sonst,  mit  glücklichem  Künstlerinstinkt  das 
Wesen  dieser  alten  Vorstellung  in  die  Schilderung  des  Gre- 
wandes  des  greisen  Seegottes  hineingebracht. 

Und  kehren  wir  nun  zurück  zu  unserem  Ausgangspunkt, 
zu  Goethe,  dessen  Geeist  wie  das  Erdreich  den  Regen  aller- 
wärts  aufnimmt  und  als  ursprünglichen  Quell  wiedergibt;  auch 
er  kennt  in  ähnlicher  Weise  wie  Keats  die  Vorstellung  eines 
wunderbar  gewebten  Gewandes.  In  Hans  Sachsens  poetischer 
I  Sendung  trägt  das  „rümpfet,  strumpfet,  buckelt  und  krumb" 
1  Weiblein,  Frau  Historia,  ein  IQeid,  von  dem  es  heißt: 

I  Auch  war  bemalt  der  weite  Raum 

Ihres  Kleids  und  Schlepps  und  auch  der  Saum 
Mit  weltlicher  Tugend  und  Lastergeschicht. 

,  Und  in  diesem  Gedichte,  das  mit  so  unvergleichlicher  Frische  Stil 
und  Gestalten  des  Meistersingers  von  Nürnberg  nachahmt,  treffen 
wir  auch  noch  eine  andere  Gestalt  wieder,  die  uns  schon  mehrere- 
mal  in  engster  Verbindung  mit  der  Natur  begegnet  ist,  den  Genius. 

Der  Naturgenius  an  der  Hand 
Soll  dich  führen  durch  alle  Land, 
Soll  dir  zeigen  all  das  Leben  usw. 


362  Marie  Gothein 

Diesen  Genius  der  Natur  führte,  wie  wir  sahen,  zuerst  Alanus 
ein.  In  engster  Verbindung  mit  der  Göttin  aus  einer  Idee 
Gottes  entstanden,  „cum  unius  ideae  exemplaris  notio  nos  in 
nativum  esse  produxerit"  ^,  ist  der  Genius  die  ausführende 
Gewalt  der  Natur,  ihr  Hoherpriester,  der  den  Geistern  der  Sinn- 
lichkeit besonders  feindlich  gesinnt  ist.  Eine  ganze  Reihe  antiker 
Vorstellungen  scheinen  hier  auf  Alanus  eingewirkt  zu  haben. 
Wie  schon  bei  den  Alten  den  Göttern  ein  Genius  beigesellt 
wurde,  der  zwar  wesenseins  mit  ihnen,  doch  aber  von  ihnen 
getrennt  die  ausübende  Gewalt  personifizierte^,  so  erhielt  nun 
auch  die  neue  Göttin  ihren  Genius  beigesellt.  Doch  auch  für 
die  spezielle  Stellung,  die  er  in  Planctus  Naturae  einnimmt, 
ein  Gegner  aller  Fleischeslaster  zu  sein,  fand  Alanus  antike 
Vorbilder.  Er  kannte  wohl  aus  Augustinus'  Gottesstaat  die 
Lehre  des  Varro,  der  den  Genius  als  eiae  anima  rationalis  faßt, 
im  Gegensatz  zu  Sinnen-  und  Zeugungstrieb.^  So  sehr  sich  diese 
auch  von  der  ursprünglichen  Bedeutung  des  Wortes  entfernte, 
so  paßte  sie  doch  zu  der  christlichen  Anschauungsweise;  der 
geistliche  Verfasser  hing  ihm  nun,  als  Gegner  der  fleischlichen 
Laster,  noch  ein  priesterlich  Gewand  um. 

Der  Rosenroman  übernimmt  diese  Gestalt  von  Alanus, 
erweitert  ihre  geistlichen  Funktionen  nur  noch,  indem  er  sie 
zum  Beichtvater  der  Natur  macht.  Diesen  Gedanken  nimmt 
Chaucers  Zeitgenosse,  der  englische  Dichter  Gower  in  seiner 
Confessio  Amantis  auf.  Hier  ist  der  Genius,  der  Hohepriester 
der  Venus,  Beichtvater,  Berater  und  Leiter  des  Menschen,  seine 
Funktion  ist  aber  auch  hier,  den  Menschen  durch  Rat  und 
Beispiel  von  den  Lastern  zu  befreien. 

Wieder  näher  seiner  ursprünglichen  Vereinigung  mit  dei 
Natur  erscheint  dieser  Leiter  und  Führer  bei  Hans  Sachs.  Eine 
Hauptquelle    für  die  Einführung   des  Genius   ist  dem  Meister- 

*  De  Planctu  Nat.  Migne  481 A. 

^  Röscher  Lexicon  der  griech.  u.  röm.  Mythologie  Art.  Genius  v.  Birt 
Usener  Götternamen.   297  ff.  ^  De  civitate  Dei  7,  13;  23. 


Der  Gottheit  lebendiges  Kleid  363 

singer  die  Tabula  Cebetis^  gewesen,   dafür   zeugt   schon   seine 
Bearbeitung  des  antiken  Schriftchens.^ 

Hier  steht  Genius  am  Eingang  des  Lebenstores,  als  alter 
Mann  gedacht  mit  einem  Stabe  in  der  einen,  eine  Schrifttafel 
in  der  anderen  Hand,  er  warnt  die  eintretenden  Seelen  vor  den 
Lastern,  die  sie  vom  rechten  Wege  abführen,  unter  denen  die 
des  Fleisches  naturgemäß  einen  großen  Raum  einnehmen.  Das 
Merkwürdige  ist  nun,  daß  Hans  Sachs  in  seinem  Gedicht  den 
Pförtner  des  Lebens  nicht  Genius,  sondern  Gott  der  Natur 
nennt.  Diese  eigentümliche  Interpretation,  zu  der  der  antike 
Philosoph  ihm  nicht  den  geringsten  Anlaß  gibt,  führt  uns  mit 
gewissem  Zwang  zu  dem  Schluß,  daß  Hans  Sachs  die  mittel- 
alterliche Vorstellung  des  Genius  nicht  fremd  war.  Aus  welcher 
Quelle  sie  ihm  zugeflossen  ist,  aus  dem  Lateinischen  oder  Eng- 
lischen, wird  sich  bei  seiner  diffusen  Lektüre  schwer  bestimmen 
lassen.  Genug  „Genius"  und  „Gott  der  Natur"  sind  ihm  gleich- 
bedeutend, das  zeigt  noch  deutlicher  eine  andere  Stelle.  Im 
Landsknechtsspiegel  erscheint  ihm  direkt  „der  groß  Gott  der 
Natur,  Genius",  und  entführt  ihn  in  die  Luft,  um  ihm  des 
Krieges  Wüsteneien  zu  zeigen.^  Der  Führer  und  Leiter  ist  er 
immer  und  erscheint  ihm  noch  zu  wiederholten  Malen,  um  ihm 
irgendein  belehrendes  Schauspiel  zu  zeigen.^   Natura  als  Person 

^  Die  Tabula  Cebetis  hat  ihre  weite  Verbreitung  im  16.  Jahrhimdert 
hauptsächlich  durch  die  deutschen  Humanisten  erfahren.  Schon  1507 
erscheint  eine  Edition  von  Johannes  Aesticampianus,  dem  Lehrer  Huttens, 
ihr  ist  ein  Kupferstich  beigegeben,  der  das  Gemälde,  das  der  Erklärung 
der  Pilgerfahrt  zur  wahren  Glückseligkeit  in  der  Schrift  zugrunde  liegt, 
wieder  herstellen  soll.  Diesen  naheliegenden  Gedanken  hat  dann  Hol- 
bein in  großartiger,  kraftvoller  Weise  bald  darauf  auch  als  Buchtitel 
durchgeführt.  Siehe  Geschichte  des  deutschen  Kupferstiches  und  Holz- 
schnittes von  C.  V.  Lützow.  Berlin  1891.  Text  p.  146  u.  Reprod.  Holbein 
hat  hier  wie  schon  vor  ihm  der  Kupferstecher  um  1507  das  Kostüm 
seiner  Zeit  eingeführt  und  dadurch  die  Wirkung  sehr  erhöht. 

2  jjf^^g  gf^^j^g  e<i  geller  B  III  p  75ff         s  ^^^^  gachg  a.  a.  0.  HI  470. 

*  Ebend.  I  437  ff.  Der  Tod  zuckt  das  Stüllein  und  IV  176  ff.  Ein 
artlich  Gespräch  der  Götter  die  Zwietracht  des  römischen  Reiches  be- 
treffend, wo  der  Genius  Engel  genannt  wird. 


364  Marie  Gothein    Der  Grottheit  lebendiges  Kleid 

hat,  wie  wir  sahen,  nach  einem  frühen  Versuch  im  mittelalt 
liehen  Deutschland  keinen  Boden  gefunden,   dafür  ist  hier 
Hoherpriester  Grenius  zum  Gott  der  Natur  erhoben  worden. 

Bei  Goethe  endlich  hat  sich  der  Inhalt  dieser  ganzen  Y( 
Stellung  unendlich  vertieft  und  ist  doch  jenem  mittelalterlichen 
nicht  ganz  fremd  geworden.  Er  setzt  der  „Gottheit"  zur  Seite 
den  Erdgeist,  der  nun  aber  selbst  der  schaffende  geworden  ist, 
ihm  fällt  zu,  was  jene  einst  mit  eigenen  Händen  vollbracht 
hat:  ihr  lebendiges  Kleid  zu  weben. 

So  sahen  wir,  wie  in  langer  Kette,  wenn  auch  nicht  lücken- 
los, so  doch  nie  ohne  sichtbaren  Zusammenhang,  theologisch- 
mythische Vorstellung  die  dichterische  befruchtet  hat,  so  daß 
diese  wieder  mythische  Gestalten  nicht  ohne  theologische  Absicht 
bildete.  Nicht  im  schaffenden  Volksbewußtsein  hat  sich  dieser 
Prozeß  vollzogen;  kaum  jemals  ist  er  bis  zu  diesem  herab- 
gestiegen. Gelehrte  Spekulation  hat  diese  Metapher  zuerst 
erdacht,  die  doch  durch  die  tiefe  Bedeutung  des  Bildes  mit 
eigentümlich  weithin  reichender  Kraft  begabt  war. 

Nachtrag 

Zu  p.  363.  In  dem  Bibliotheksverzeichnis  von  Hans  Sachs  aus  dem 
Jahre  1562  ed.  Goedeke,  Archiv  f.  Literaturgesch.  VIT  p.  1  ff.,  ist  ein 
Gedicht  des  Alanus  de  Insulis  „von  der  Menschwerdung  Christi"  ver- 
zeichnet. Der  junge  Hans  Sachs  hat  aus  diesem  Gedichte  sein  erstes 
Meisterlied  „das  Geheimnis  der  Trinität"  (1514)  genommen,  den  Ge- 
danken, daß  das  Geheimnis  der  wunderbaren  Geburt  des  Sohnes  den 
sieben  freien  Künsten  verborgen  gewesen  sei.  Damit  ist  außer  Frage 
gestellt,  daß  Hans  Sachs  Alanus  gekannt  hat. 

Ich  verdanke  diese  Notiz  Herrn  Professor  F.  BoU  aus  Würzburg, 
ebenso  wie  die  folgende,  die  leider  zu  spät  in  meine  Hände  kam,  um 
als  interessante  analoge  Vorstellung  zu  dem  gewebten  Schöpfungsgewande 
in  dieser  Abhandlung  verwertet  zu  werden. 

Nach  Porphyrius  IleQl  Srvyos  bei  Stobäus  Ecl.  I  1,  56  erzählt  der 
Gnostiker  Bardesanes  —  nach  Mitteilung  von  Indern,  die  als  Gesandte 
durch  Mesopotamien  ziehen  — ,  daß  in  Indien  im  Mittelpunkte  des  Erd- 
kreises eine  hochgelegene  Höhle  läge,  in  der  sich  eine  Bildsäule  10  bis 
12  Ellen  hoch  befände,  mit  gekreuzten  Armen  und  halb  Mann,  halb 
Weib.  Auf  ihren  Körperteilen  sei  die  Sonne  und  der  Mond,  die  Engel 
und  alles,  was  in  der  Welt  ist,  Himmel  und  Berge  und  Meer  und  Flüsse 
und  Okeanos  und  Pflanzen  und  Tiere,  kurz  alles,  was  existiert,  ein- 
gegraben. Diese  Statue  habe  Gott  seinem-  Sohne  gegeben,  als  er  die 
Welt  gründete,  damit  er  ein  sichtbares  Vorbild  habe  {d'sarbv  naQaduyiLu). 


Die  Entstehnng  der  Bilderwand  in  der  griechischen 

Kirche 

Von  Karl  Holl  in  Berlin 

In  der  heutigen  griechischen  Kirche  ist  die  sogenannte 
Bilderwand,  d.  h.  die  feste  Wand,  die  den  Altarraum  vom  Schiffe 
trennt,  ein  unentbehrliches  Stück  der  Ausstattung  des  Gottes- 
hauses. Sie  dient  nicht  nur  als  Schmuck  und  als  Stätte  der 
Anbetung,  sie  erfüllt  auch  im  Gottesdienst  eine  wichtige  Funktion. 
Durch  sie  erhält  die  griechische  Messe  ihren  spezifischen  ge- 
heimnisvoll-feierlichen Charakter.  Indem  sie  sich  wie  eine  un- 
durchdringliche Mauer  zwischen  die  Gemeinde  und  den  Altar 
schiebt,  macht  sie  den  heiligen  Raum  zum  advtov  im  vollen 
Süm  und  stempelt  die  dort  vollzogene  Handlung  zum  ^vötjJQtov. 
Die  Abschließung  ist  jedoch  nicht  starr.  Die  Wand  ist  durch- 
brochen durch  drei  Türen,  die  den  Abteilungen  des  Altarraums 
entsprechen.  Die  mittlere,  die  Haupttür,  führt  direkt  auf  den 
Altar  zu.  Von  den  kleineren  Seitentüren  geht  die  —  vom  Be- 
schauer aus  geredet  —  linke  in  die  sogenannte  TtQod'söig:  hier 
steht  der  Rüsttisch;  durch  die  rechte  kommt  man  in  das  öiccxo- 
viiiov.  Diese  Türen  spielen  beim  Vollzug  des  Gottesdienstes 
eine  bedeutsame  RoUe.  Ihre  Öffnung  und  Schließung,  das 
Heraustreten  des  Priesters  beim  großen  und  kleinen  „Einzug" 
|(6l'0odog)  grenzt  die  einzelnen  Akte  der  Liturgie  scharf  gegen- 
f  einander  ab  und  bewirkt  den  eigentümlichen  Rhythmus  der  ganzen 
[Handlung.  Während  der  erste  Teil  des  Gottesdienstes,  die 
l^r^oöxo^t^Tj,  (heute)  ganz  hinter  geschlossenen  Türen  vor  sich 
Igeht,  wird  der  zweite,  der  Lehrgottesdienst,  (nach  einleitenden 
Gebeten)  feierlich  eröffnet  durch  den   „kleinen  Einzug".     Der 


366  ^^^1  Hol! 

Priester  verläßt  unter  Vorantritt  des  das  Evangelienbucli  tra- 
genden Diakonen  den  Altarraum  durch  die  linke  Seitentür.  Sie 
gehen  in  das  Schiff  hinein  bis  zur  vordersten  Reihe  der  hier 
stehenden  Gemeinde;  in  der  Mitte  des  vaög  wenden  sie  um 
und  kehren  durch  die  Haupttür  in  den  Altarraum  zurück.  Der 
Sinn  der  Zeremonie  ist  unmittelbar  klar.  Der  Prozession  liegt 
ursprünglich  keine  andere  Absicht  zugrunde  als  die,  der  Ge- 
meinde das  Evangelium  vorzuführen  und  sie  nachdrücklich  auf 
die  nun  folgende  Lesung  hinzuweisen.  Es  ist  offenbare  üm- 
deutung,  wenn  die  „tiefere"  Auslegung  der  Liturgie  darin  die 
Menschwerdung  und  die  Predigttätigkeit  Jesu  symbolisch  dar- 
gestellt findet.  —  In  ganz  ähnlicher  Weise  wird  der  letzte  Teil, 
die  eigentliche  Opferung  durch  den  „großen  Einzug"  eingeleitet. 
Wieder  gehen  Priester  und  Diakon,  diesmal  mit  den  vom  Rüst- 
tisch aufgenommenen  Elementen  durch  die  linke  Seitentür  aus 
dem  Altarraum  heraus;  sie  beschreiben  dieselbe  Kurve,  um 
wieder  durch  die  mittlere  Tür  vor  den  Altar  zu  treten.  Dann 
beginnt  der  Weiheakt. 

Wann  ist  diese  Form  des  Gottesdienstes,  die  die  Bilder- 
wand zur  Voraussetzung  und  an  den  beiden  siöodoi  ihr 
charakteristisches  Merkmal  hat,  entstanden  und  welches  Motiv 
hat  auf  sie  hingeführt?  Man  hat  dieser  Frage  bis  jetzt  nocli 
nicht  die  ganze  Aufmerksamkeit  gewidmet,  die  sie  verdiente. 
Die  archäologische  und  die  liturgische  Forschung  haben  sich, 
soweit  sie  überhaupt  darauf  eingegangen  sind,  jede  nur  mit 
der  ihrem  Gebiet  angehörigen  Seite  des  Problems  beschäftigt, 
ohne  auf  die  andere  Rücksicht  zu  nehmen.^  Und  doch  ist  von 
vornherein  zu  vermuten,  daß  Bilderwand  und  sYöodoi  wie  in 
einer  inneren  sachlichen,  so  auch  in  einer  zeitlichen  Beziehung 
zueinander    stehen.     Aus    der    Verkennung    dieses    Zusammen- 


*  Die  liturgische  Forschung  ist  hinsichtlich  unseres  Problems  weiter 
fortgeschritten  als  die  archäologische.  Die  beste  Zusammenfassung  der 
bisherigen  Resultate  über  die  Geschichte  der  Liturgie  findet  sich  bei 
F.  E.  Brightman  Liturgies  eastern  and  western^  Oxford  1896. 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     367 

liangs  mag  es  sich  auch  erklären,  daß  die  letzte  Frage,  die 
.  nach  der  Herkunft  der  beiden  Institutionen ,  bisher  überhaupt 
noch  nicht  aufgeworfen  wurde. 

Es  darf  als  bekannt  vorausgesetzt  werden,  daß  der  Ab- 
schluß durch  eine  feste  Wand  nicht  die  erste  Form  einer  Ver- 
deckung  des  Allerheiligsten  gewesen  ist.  Die  Bilderwand  hat 
ihre  Vorstufe  in  der  Abgrenzung  des  Altarraums  durch  Schranken 
oder  durch  eine  Säulenstellung.  Zu  noch  dichterer  Verhüllung 
wurden  Vorhänge  um  den  Altar  oder  in  den  Zwischenräumen 
der  Säulenreihe  angebracht.  Seit  dem  4.  Jahrhundert  lassen 
sich  diese  verschiedenen  Arten,  den  Altarraum  oder  doch  den 
Altar  dem  Blick  zu  entziehen,  teils  nebeneinander  teils  mit- 
einander kombiniert  nachweisen. 

Aber  Unsicherheit  herrscht  nun  in  der  gelehrten  Literatur 
hinsichtlich  der  Frage,  wann  die  griechische  Kirche  —  nur  sie 
kennt  ja  die  Ikonostasis  —  dazu  fortgeschritten  ist,  Altar- 
raum und  Schiff  durch  eine  feste  Wand  voneinander  zu 
scheiden.  In  den  Handbüchern  der  Archäologie  findet  man, 
soweit  sie  überhaupt  eine  bestimmte  Epoche  angeben,  allgemein 
die  von  Goar  (Euchologium  sive  rituale  Graecorum,  Paris 
1647  p.  18)  zuerst  aufgestellte  These  wiederholt,  daß  die 
Bilderwand  (in  oder)  nach  den  ikonoklastischen  Streitigkeiten 
aufgekommen  sei.  Ich  verweise  auf  Dict.  of  christ.  antiqu.  Art. 
iconostasis  und  Kraus,  Realenzyklop.  der  christl.  Altert.  Art. 
Bilderwand.  Auch  ein  so  sorgfältiger  Forscher  wie  Nikolaus 
MüUer  hat  sich  (R  E  ^  „  Altar  ^'  S.  398,  28)  Dei  diesem  Ansatz 
beruhigt.  Goar  hat  keine  Belege  für  seine  Datierung  gegeben, 
offenbar,  weil  er  es  für  selbstverständlich  hielt,  daß  zwischen 
Bilderwand  und  Bilderstreitigkeiten  ein  innerer  Zusammenhang 
obwalte.  Allein  diese  Annahme  ruht  auf  einem  Vorurteil,  das 
die  uns  geläufige  Bezeichnung  allerdings  außerordentlich  nahe- 
legt. Der  Name  Bilderwand  verleitet  unwillkürlich  zu  der 
Meinung,  daß  die  Errichtung  der  festen  Wand  in  erster  Linie 
aus  dem  Interesse  erfolgt  sei,  Bilder  daran  aufhängen  zu  können. 


368  Karl  Holl 

Jedocli  nicht  nur  ist  der  Name  Ikonostasis  sehr  jung^;  auch 
sachlich  ist  es  nichts  weniger  als  selbstverständlich,  daß  man 
gerade  den  Bildern  zulieb  zu  dieser  Form  der  Absperrung  des 
Altarraums  überging.  Auf  Grund  der  Tendenz,  die  sich  schon 
seit  dem  2.  und  noch  bestimmter  seit  dem  4.  Jahrhundert  in 
der  Entwickelung  des  Kultus  verfolgen  läßt,  ist  vielmehr 
zu  vermuten,  daß  der  Zweck  der  Neuerung  zunächst  kein 
anderer  war  als  der,  den  heiligen  Raum  völlig  dem  profanen 
Blick  zu  verschließen.  Daß  man  die  Wand  mit  Bildern  schmückte, 
erscheint  als  etwas  Sekundäres,  als  eine  weitere  Verwertung 
der  schon  geschaffenen  Einrichtung.  Denn  Bilder  konnte  man 
auch  anderwärts  anbringen  und  hat  sie  tatsächlich  reichlich 
genug  an  anderen  Stellen,  an  den  Mauern  und  Pfeilern,  ange- 
bracht. Dieses  Interesse  hätte  nicht  dazu  genötigt,  gerade  vor 
dem  Altar  eine  Wand  zu  errichten. 

Es  ist  aber  auch  mit  positiven  Gründen  zu  erweisen,  daß 
Goar  die  Entstehung  der  Bilderwand  in  einen  falschen  historischen 
Zusammenhang  gerückt  hat.  Einen  ersten  Anhaltspunkt  für 
die  Bestimmung  der  Ursprungszeit  griechisch  kirchlicher  Sitten 
gewährt  in  der  Regel  die  Vergleichung  mit  den  Nebenkirchen.  Die 
dort  vorliegenden  Tatsachen  reden  auch  in  unserem  Falle  deut- 
lich genug.  Die  Nestorianer  und  noch  die  Armenier  kennen 
die  Bilderwand  nicht.     Bei  den  Armeniern  vertritt  ein  Vorhang 


^  Die  gewöhnliche  Bezeichnung  der  „Bilderwand"  ist  bis  in  die 
späteste  Zeit  i}  Ibqcc  myjiUg  (xayxeUat);  vgl.  —  ich  gebe  nur  Proben 
aus  späterer  Zeit  —  vit.  Steph.  tun.  M.  100,  1081 C,  1128  C;  vit  Euthym. 
ed.  de  Boor  46,  14;  de  cerim.  aul.  Byz.  I,  10,  M.  112,  161 A,  169  A,  171 A, 
1004  C;  Ps.  Germ.  rer.  erat,  contempl.  M.  98,  392 A;  Sym.  Thess.  expos.  de 
div.  templo  M.  155,  704  C/g.  Daneben  kommt  vor  tä  etriQ'sa  de  cerim.  aul. 
Byz.  M.  112,  168  A;  Ps.  Germ.  M.  98,  389  D  und  rcc  didötvXa;  Sym.  Thess. 
M.  155,  345  C.  —  Den  Ausdruck  stuovoetdaLov  hat  auch  du  Lange  nur 
an  einer  Stelle  nachzuweisen  vermocht  bei  (Codinus)  de  off.  aul.  Byz. 
c.  6,  M.  157,  61 D.  Aber  das  Wort  bezeichnet  dort  noch  etwas  anderes 
als  die  Bilderwand,  eine  Art  Ständer,  der  bei  einer  bestimmten  Ge- 
legenheit in  einem  Gemach  des  kaiserlichen  Palastes  (nicht  in  einer 
Kirche)  aufgestellt  wurde,  um  Heiligenbilder  daran  zu  hängen. 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     369 

ihre  Stelle.  Dagegen  findet  sie  sich  bei  den  Kopten.  Alfred 
I.  Butler  hat  in  seinem  vortrefflichen  Werk  The  ancient  coptic 
churches  of  Egypt.  2  vis.  Oxford  1884,  eine  Reihe  von  alten 
koptischen  Kirchen  beschrieben,  in  denen  überall  eine  kunst- 
voll verzierte  Holzwand  den  kaikäl  —  so  heißt  hier  das 
Allerheiligste  —  vom  Schiff  trennt.^  Nach  seinen  Feststellungen 
kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  bei  den  Kopten  die 
Bilderwand  bis  in  den  Anfang  ihrer  Sonderexistenz  zurückgeht. 

Schon  diese  Daten  ermöglichen  es,  die  Entstehungszeit  der 
Bilderwand  in  relativ  enge  Grenzen  einzuschließen.  Da  es  eben- 
so undenkbar  ist,  daß  die  Kopten  nach  ihrer  Loslösung  diese 
Einrichtung  von  der  griechischen  Kirche  übernahmen,  wie  daß 
die  Orthodoxen  sie  von  den  Ketzern  lernten,  so  liefert  das 
Ausscheiden  der  Kopten  aus  der  Reichskirche  den  terminus  ad 
quem.  Den  terminus  a  quo  geben  die  Armenier.  Nun  läßt 
sich  freilich  der  Abbruch  der  Beziehungen  zwischen  den  Kopten 
und  der  Reichskirche  nicht  auf  ein  bestimmtes  Jahr  datieren; 
aber  man  darf  doch  —  um  möglichst  weit  herabzugehen  — 
etwa  600  als  die  Grenze  bezeichnen,  nach  der  ein  Austausch 
der  beiderseitigen  Institutionen  nicht  mehr  wohl  vorstellbar  ist. 
In  das  6.  Jahrhundert  muß  somit  das  Aufkommen  der  Bilder- 
wand fallen,  und  man  darf  vielleicht  schon  darauf  raten,  daß 
die  Regierungszeit  Justinians  den  neuen  Brauch  geschaffen  habe. 

Dieser  Rückschluß  wird  durch  ein  direktes  Quellenzeugnis 
aus  der  griechischen  Kirche  bestätigt.  In  seiner  berühmten 
Schilderung  der  Hagia  Sophia  hat  Paulus  Silentiarius  auch 
I  die  uns  interessierende  Partie  der  Kirche  genau  beschrieben. 
Die  betreffende  Stelle  seines  Gedichts  ist  allerdings  von  den 
verschiedenen  Forschern,  die  sie  verwertet  haben,  nicht  in 
übereinstimmendem  Sinn  verstanden  worden.  Lethaby-Swainson 
I  (The  church  of  S.  Sophia  1894  p.  46)  und  Gh.  Diehl  (Justinien 
et  la  civilisation  byzantine.     Paris   1891   p.  484)  haben    ohne 

^  Vgl.  auch  die  Beschreibung  alter  kaikäl -Türen  bei  J.  Strzygowski 
im  Oriens  christianus  I,  363flP. 


I 


370  Karl  Hol! 

weiteres  vorausgesetzt,  daß  Paulus  eine  wirkliche  Ikonostasis 
meine.  Dagegen  wollen  Holtzinger  (Die  altdiristliche  Archi- 
tektur. Stuttgart  1899.  S.  160)  und  Venahles  (Dict.  of  christ. 
antiq.  Art.  Iconostasis)  nur  eine,  auch  sonst  bekannte  Vor- 
stufe der  Bilderwand  in  der  Schilderung  wiederfinden.  Keiner 
der  Genannten  hat  seine  Auffassung  des  näheren  aus  dem  Text 
begründet.  Es  ist  darum  notwendig,  die  wichtigsten  Verse  hierher 
zu  setzen  und  in  den  entscheidenden  Punkten  zu  interpretieren. 
Paul.  Sü.  descr.  S.  Sophiae  M.  86,  2,  2145: 

V.  686  ovSs  ^sv  ovöe  (lovoLg  inl  zeiieöiv^  bnitoGa  (jLvörrjv 
av8qa  TtoXvyX&GGoio  öcazQLVovöLv  ofilkov 
yv^ivag  ccQyvQsag  k'ßaXe  nXccTiag,  ccXka  aal  avtovg 
TiCovccg  ocQyvQSOLöL  oXovg  e%dXvips  (lEtdXloLg 
tYjXeßoXoLg  CsXdeaöL  XeXa(i7c6tag  e^cckl  öoLOvg' 
olg  eitL  %aXXiTt6voLO  %SQbg  TSivrj^ovL  Qvd"^^ 
o^vrsQOvg  kvkXolo  idXvip  KOLXrivciTO  öiöTiovg. 

Dann  folgt  die  Beschreibung  der  einzelnen  Bilder,  die  hier 
übergangen  werden  kann.  Nur  die  Schlußworte  kommen  wieder  ■ 
in  Betracht: 

V.  712  ig  ÖS  fieöccg  leqov  TcXaKccg  eQTisog  dt  itEQl  cp&xag 
svLEQOvg  XBvyipv6v  (israL^fiLCc  y  yQccfifia  '/aQccGöu 
7}  yXvcplg  *£v  noXv^vd'Ov'  doXXl^ei,  yccQ  dvdöGijg 
ovvo(ia  accl  ßpcöcXr^og'  l'aav  ys   ^hv  dficpaXoiööri 
aöTtlÖL  ^B66axioL6L  xonov  KOLXrjvaxo  %(OQ0Lg 
axavQOv  dTtccyyiXXovöa'   öia  xqlöö&v  Se  d^vQexQCOv 
SQKog  öXov  (ivöxrjöLv  ccvolyexcci'  iv  yccQ  EKdöxr} 
TcXevQTJ  ßaicc  ^VQexQa  ödx^ayev  SQyoTtovog  xslq. 

Unmißverständlich  ist  an  der  Schilderung,  daß  eine  Säulen- 
stellung den  Altarraum  und  das  Schiff  trennt.  Daß  die  Säulen 
paarweise  verbunden  waren,  wie  schon  du  Lange  annahm,  ist 
durch  den  Ausdruck  i^dici,  doiovg  nicht  gefordert,  und  daß 
vollends  bei  den  gekoppelten  Säulen  eine  hinter  der  anderen 
stand,  wie  Lethaby- Swainson  es  sich  vorstellen,  erscheint  durch 
V.  690  ausgeschlossen:  die  „in  weithin  blitzendem  Schimmer 
strahlenden"  müssen  alle  für   den  Beschauer  unmittelbar  sieht- 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     371 

bar  gewesen  sein.  Man  wird  sich  die  12  Säulen  als  in  einer 
li,eihe  stehend,  in  gleichmäßigem  Abstand  voneinander  zu 
denken  haben.  Diese  Auffassung  entspricht  auch  allein  den 
liaum Verhältnissen:  ca.  32  m  beträgt  nach  Fleury,  La  messe 
III,  116  die  mit  den  Säulen  zu  besetzende  Linie. 

Die  Interkolumnien  sind  durch  silberüberzogene  Wände 
ausgefüllt.  Aber  hier  fragt  sich  nun,  ob  die  Zwischenstücke 
nach  Art  der  alten  cancelli  nur  etwa  bis  zur  Hälfte  der  Säulen- 
höhe reichten,  so  daß  der  obere  Teil  der  Interkolumnien  frei 
blieb,  oder  ob  sie  bis  zum  Architrav  hinaufgingen.  Die  Aus- 
drücke, die  Paulus  zur  Bezeichnung  der  Wand  gebraucht:  rsCxri^ 
£Qxog,  [jLStaCx^Lcc  geben  darüber  nichts  Bestimmtes  an  die  Hand. 
Wohl  aber  ist  entscheidend,  was  Paulus  von  den  Türen  sagt, 
die  durch  sie  hindurchführen.  Nicht  schon  das,  daß  Paulus 
überhaupt  von  Türen  redet:  d'VQSTQa  könnten  auch  Durchgänge 
durch  Schranken  sein.  Aber  wenn  Paulus  besonders  hervorhebt, 
daß  die  beiden  Seitentüren  kleiner  waren,  als  die  mittlere,  so 
ist  das  nur  mit  der  zweiten  der  aufgestellten  Möglichkeiten 
vereinbar.  Die  verschiedene  Höhe  der  Türen  kann  man  sich 
doch  nur  so  vorstellen,  daß  sie  in  die  Wand  eingeschnitten 
waren.  Man  beachte  auch  den  Ausdruck  diixiiaysv  v.  719,  der 
direkt  auf  diese  Auffassung  hinleitet.  Dann  ist  auch  klar,  daß 
die  Füllung  bis  oben  hinaufreichte.  Damit  ist  erwiesen,  daß 
die  justinianische  Hagia  Sophia  schon  eine  die  Apsis  völlig 
gegen  das  Schiff  abschließende  Bilderwand  besaß.^ 

^  Die  anonyme  narratio  de  struct.  templi  S.  Sophiae  ergibt  für 
unsere  Frage  neben  der  Schilderung  des  Silentiarius  nichts  Belangreiches. 
Doch  hebe  ich  die  Stellen  hervor  c.  16;  ed.  Preger  94,  Iff.  ra  Sh  6ri]d'Bcc 
xal  xiovag  aqyvQai  itdvxa.  TCSQdvlsiGs  6vv  rotg  tcvXb&gvv  avx&v  und 
c.  28;  ed.  Preger  105,  18 ff.  Die  einstürzende  Kuppel  hat  im  Jahre  567 
den  Ambo  und  die  Solea  zerschlagen  6vv  rmv  xqvggw  errid'scav  xai  xQvoav 
xal  KLovoav  oXoaQyvQoav.  —  Yon  späteren  Zeugnissen  ist  noch  interessant 
der  Bericht  über  die  Zerstörung  der  Bilderwand  durch  die  Kreuzfahrer 
im  Jahre  1204  Chron.  Nowgorod,  (Hopf  Chron.  grecorom.  p.  97):  invaserunt 
sanctam  Sophiam  . . .  contuderunt  podium  sacerdotale  argento  ornatum 
et  duodecim  columnas  argenteas. 


372  Karl  Holl 

Relativ  untergeordnet  ist  für  unsere  Untersucliung  die 
Frage,  wo  genauer  sich  die  Bilder  befanden,  die  Paulus  in 
dem  oben  ausgelassenen  Passus  beschreibt.  Die  Angaben  in 
den  zitierten  vv.  686—691  sind  verzwickt,  weil  der  Dichter 
zwei  Gedanken  verwirrend  miteinander  verbunden  hat.  Paulus 
will  erstens  sagen:  der  Baumeister  hat  nicht  nur  die  Wände 
in  den  Interkolumnien  mit  silbernen  Platten  verkleidet,  sondern 
auch  die  Säulen  überzogen;  zweitens:  die  Wände  zwar  sind 
ungeschmückt  —  nur  das  kann  yviivccg  in  v.  688  bedeuten  — , 
aber  über  —  so  muß  wohl  hier  das  iTcl  gefaßt  werden  —  den 
Säulen  sind  Bilder  angebracht.  Holtzinger  (Die  altchristl. 
Archit.  S.  161  A.  1)  wird  also  wohl  recht  haben,  daß  die 
Medaillons  am  Architrav  und  Fries  zu  denken  sind.  —  Ähn- 
lich laufen  auch  bei  den  Kopten  die  Bilder  oben  an  der 
kaikäl-Wand  entlang,  vgl.  A.  I.  Butler  I,  29. 

Wenn  das  Zeugnis  des  Silentiarius  bisher  nicht  voll  ge- 
würdigt wurde,  so  trägt  daran  z.  T.  der  Umstand  Schuld,  daß 
nach  ihm  ziemlich  lange  Zeit  hindurch  keine  QuellensteUe  mehr 
sich  findet,  die  mit  gleicher  Bestimmtheit  die  Existenz  der 
Bilderwand  verbürgte.  Es  ist  ja  von  vornherein  nicht  zu  er- 
warten, daß  gerade  dieses  Stück  der  Ausstattung  der  Kirche 
häufiger  erwähnt  wird.  Und  tatsächlich  sind  nicht  bloß  in 
der  vorikonoklastischen,  sondern  in  der  griechischen  Literatur 
überhaupt  die  Stellen  dünn  gesät,  an  denen  —  abgesehen  von 
eingehenden  Kirchenbeschreibungen  —  die  Bilderwand  vor- 
kommt. Der  Altar  wird  genannt,  die  Türen,  die  Bilderwand 
seltener,  und  wo  sie  einmal  auftaucht,  da  ist  der  schon  be- 
rührte Sprachgebrauch  hinderlich,  daß  sie  in  der  Regel  mit 
dem  alten  Ausdruck  xiyxXCg  bezeichnet  wird.  Ich  wüßte  aus 
dem  ganzen  Material  bis  ca.  800  nur  eine  einzige  Stelle  zu 
nennen,  aus  der  man  mit  annähernder  Sicherheit  auf  das  Vor- 
handensein der  Bilderwand  schließen  könnte.  Sie  findet  sich 
in  der  Biographie  des  Tarasius  (f  806).  Es  ist  unmöglich, 
den   ganzen  Passus   hier   mitzuteilen,   aber   ich   darf  vielleicht 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     373 

auch  ohne  wörtliches  Zitat  aussprechen,  daß  die  S.  407  ed. 
J.  A.  Heikel  (act.  soc.  sc.  Fennicae  t.  XVII  Helsingfors  1891) 
erzählte  Szene,  wo  Tarasius  einen  an  den  Altar  Geflohenen  zu 
beschützen  sucht,  nur  unter  der  Voraussetzung  einer  die  Apsis 
vollkommen  verhüllenden  Wand  vorsteUbar  ist.  —  Viel  un- 
deutlicher reden  zwei  andere  Zeugnisse,  die  einzigen,  die  sonst 
noch  wenigstens  relativ  in  Betracht  kommen.  In  der  vita 
des  Theodor  von  Sykion  werden  c.  8;  ed.  Theoph.  Johannes. 
Venedig  1884  S.  368  —  die  Stelle  wurde  auch  auf  dem 
2.  nie.  Konzil  zitiert  Mansi  XII  89  E  —  die  siöödia  tov  d'vöia- 
etrjQCov  erwähnt  und  zugleich  angegeben,  daß  oberhalb  — 
wie  mir  scheint,  oberhalb  der  TayxXCg  —  iv  tcj  6ravQo86%G) 
sich  ein  Bild  Christi  befand.  Ganz  ähnlich  ist  aus  Nikephoros 
antirrhet.  III  45,  M.  100,  465  A/B  (vgl.  dazu  apol.  minor  M.  100, 
836  A/B  und  namentlich  die  offenbar  davon  abhängige  Stelle 
bei  Georgios  Hamartolos  786,  23 ff.  ed.  de  Boor)  zu  ersehen, 
daß  auch  ev  xaig  iBQalg  TayTcXCöi  Bilder  sich  befinden,  die  von 
den  Gläubigen  verehrt  werden:  Bilder  an  der  KLyxXCg  —  auf 
eine  vollständige  Bild^rwand  dürfte  man  von  diesem  Indizium 
aus  gewiß  nicht  schließen.  —  Besäße  man  die  Daten  aus  den 
Nebenkirchen  und  die  Beschreibung  des  Silentiarius  nicht,  so 
Iwäre  in  der  Tat  die  chronologische  Fixierung  des  Ursprungs 
der  Bilderwand  zwar  nicht  unmöglich,  aber  doch  nur  auf  Um- 
wegen zu  erreichen. 

Auch  diese  unter  sich  so  fest  ineinander  greifenden  Zeug- 
nisse lassen  jedoch  noch  einen  Punkt  im  dunkeln.  Es  erhellt 
aus  der  Schilderung  des  Paulus  Silentiarius  nicht,  ob  der  voll- 
ständige Abschluß  des  Altarraumes  in  der  Hagia  Sophia  eine 
schlechthinige  Neuerung  war.  Soweit  wir  sehen,  ist  das  frei- 
jlich  der  Fall  gewesen.  Bis  zum  Ende  des  5.  Jahrhunderts 
I reichen  unsere  Belege  dafür,  daß  man  sich  mit  Schranken, 
1  Säulenstellungen  und  Vorhängen  zur  Abgrenzung  und  Ver- 
hüllung des  Allerheiligsten  begnügte.  Lehrreich  ist  in  dieser 
'Hinsicht  namentlich  eine  Erzählung  in  der  vita  Euthymii   des 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  25 


374  Karl  Hol! 

Kyrill  von  Skythapolis  Anal,  graeca  der  Mauriner.  Paris  1688 
S.  60£:  ein  Neugieriger  stellt  sich  an  die  Schranken,  excov 
tag  %£iQciS  e^tsötrjQL'y^Evag  tm  xayxsXXa)  rov  d'v6Laöt7]QCov,  um 
ganz  genau  zu  sehen,  was  auf  dem  Altar  vor  sich  geht.  Noch 
mehr  fällt  ins  Gewicht,  daß  auch  Dionysius  Areopagita  in 
seiner  mystischen  Beschreibung  der  heiligen  Handlungen  nichts 
von  einer  Weiterentwickelung  verrät.  Wenn  er  ep.  8  M.  3, 
1088 D  von  den  TtvXai  rcbv  ädvtcjv  redet,  so  ist  der  Ausdruck 
sicher  im  bildlichen  Sinne  zu  verstehen.  Zwischen  Dionysius 
Areopagita  und  dem  Neubau  der  Hagia  Sophia  unter  Justinian* 
liegt  aber  ein  so  kurzer  zeitlicher  Zwischenraum,  daß  ein 
Aufkommen  der  Bilderwand  außerhalb  Konstantinopels  höchst 
unwahrscheinlich  wird.  Bedenkt  man  noch,  daß  die  Ein- 
führung der  Bilderwand  nicht  bloß  eine  Äußerlichkeit  ver- 
änderte, sondern  den  ganzen  Charakter  und  die  Stimmung 
des  Gottesdienstes  in  fühlbarer  Weise  abwandelte,  so  wird 
man  vollends  geneigter  sein,  den  maßgebenden  Vorgang 
in  die  Zentrale  —  das  wird  Konstantinopel  unter  Justinian 
auch  in  kirchlichen  Dingen  —  als  irgend  anderswohin  zu  ver- 
legen.^ 

Von  Konstantinopel  aus  muß  sich  die  neue  Errungen- 
schaft verhältnismäßig  schnell  verbreitet  haben.  Selbstverständ- 
lich  ist   nicht   anzunehmen,    daß    sie    sich   mit   einem   Schlage 


^  Das  Gedicht  des  Paulus  Silentiarius  schildert  die  Sophienkirche 
so,  wie  sie  im  Jahre  563  nach  der  Wiederherstellung  des  eingestürzten 
Teiles  aussah.  Aber  man  darf  wohl  unbedenklich  voraussetzen,  daß  in 
dem  uns  interessierenden  Stück  der  ursprüngliche  und  der  restaurierte 
Bau  nicht  wesentlich  verschieden  waren. 

^  Beachtenswert  erscheint  mir  immerhin  in  technischer  Hinsicht 
die  Beschreibung  des  Ciboriums  in  Thessalonich  acta  Demetrn  M.  116, 
1265  {yiißöaQiov)  ig)LdQV(iivov  k^ayöavcp  GxriyLari^  vAoGiv  £|  ycal  toi%oig 
laagld'iLOLg  i^  ccgyvQOv  doTclfiov  nal  Siaysylviiiievov  fi£^OQq)(J0^8VOV. 
Silberne  Türen  führen  in  das  Ciborium  hinein,  das  wie  ein  Mantel  die 
Ruhestätte  des  Heiligen  umgibt  (ib.  1249 A,  1265 D).  Die  Art,  wie  die 
Interkolumnien  ausgefüllt  und  die  Türen  eingeschnitten  sind,  steht  der 
Konstruktion  der  Bilderwand  in  der  Hagia  Sophia  außerordentlich  nahe. 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     375 

Überall  durchsetzte.^  Aber  daß  mindestens  die  Großstädte  bald 
das  Beispiel  Konstantinopels  nachahmten,  beweist  der  bereits 
hervorgehobene  Tatbestand  bei  der  koptischen  Kirche.^ 

Das  gleichmäßige  Vordringen  der  neuen  Einrichtung  ist 
sicher  wesentlich  befördert  worden  durch  die  eindrucksvolle 
Zeremonie,  die  die  liturgische  Ergänzung  zu  ihr  darstellt. 

Über  die  Zeit,  in  der  der  Ritus  der  stöodoi  eingeführt 
wurde,  fließen  die  Quellen  reichlicher  als  bei  der  Bilderwand. 
Das  erste  ganz  unzweideutige  Zeugnis  für  das  Bestehen  der 
Sitte  findet  sich  in  der  mystagogia  des  Maximus  Konfessor 
(f  662),  Die  Schrift  ist,  wie  im  Hinblick  auf  andere  ähnliche 
Werke ^  besonders  betont  werden  muß,  ohne  alle  Frage  echt. 
Bei  der  Erklärung  der  Liturgie  kommen  überall  die  Lieblings- 
ideen des  Maximus  zum  Vorschein;  zudem  steht  ihr  ein  gutes 
äußeres  Zeugnis  zur  Seite;  sie  wird  bei  Anastasius  Sinaita 
quaest.  et  resp.  154,  M.  89,  813  C  zitiert.    Maximus  kennt  schon 


^  Doch  ist  es  vielleicht  nicht  überflüssig,  wenn  ich  daran  erinnere, 
daß  man  aus  der  Erwähljung  von  Altarvorhängen  nicht  folgern  darf,  die 
Bilderwand  sei  an  einem  bestimmten  Ort  nicht  bekannt  gewesen.  Denn 
die  Ciboriumvorhänge  wurden  durch  die  Ikonostasis  nicht  überall  ver- 
drängt und  teilweise,  nachdem  sie  schon  abgeschafft  waren,  später  wieder 
eingeführt.  Es  genüge  hier  der  Hinweis  auf  Sym.  Thess.  de  sacro  templo 
M.  155,  341 C. 

^  Aus  der  melchitischen  Kirche  besitzen  wir  für  Alexandria  nur 
ein  höchstens  indirekt  beweisendes  literarisches  Zeugnis.  In  der  vita 
jdes  Johannes  edeem.  c.  14;  ed.  Geizer  29,  6  spielt  eine  Szene  r/^i]  Xombv 
<Tov  dia'Kovov  triv  xad'oXi-KJiv  VTtdyovtos  'nkr\Q&6ai  £vxi]V  nal  xov  ayiov 
xatciTterdö^arog  vipovö&aL  fiiXXovTog.  Mit  Recht  hat  Geizer  zur 
Erklärung  auf  Ps.  Germ.  M.  95,  428  C  verwiesen  und  geschlossen,  daß  der 
hier  gemeinte  Vorhang  der  oberhalb  der  Mitteltür  befestigte  sei,  was 
jdie  Bilderwand  voraussetzt.  Doch  wird  dieser  Schlxiß  nur  im  Zusammen- 
hang mit  den  oben  aufgeführten  Daten  sicher. 

^  Die  Erklärungen  der  Liturgie,  die  unter  den  Namen  des  Ger- 
manus und  Sophronius  laufen,  sind  anerkanntermaßen  unecht.  Beide 
stehen  mit  dem  Kommentar  des  Theodorus  von  Andida  in  einem  engen 
literarischen  Verhältnis.  Die  Schrift  des  Ps,  Germanus  ist  wohl  die 
älteste  unter  den  drei;  aber  auch  sie  darf  nicht  vor  dem  11.  Jahrhundert 
angesetzt  werden. 

25* 


376  I^arl  Holl 

eine  doppelte  suöodog  im  Gottesdienste;  er  unterscheidet  eine 
üfQ6tr]  siöodog  (M.  91,  688 C,  697 C,  704B)  und  eine  slö- 
odog  tav  äyCcov  fLv6trjQC(x)v  (700 B,  704C,  708 C).  Die  Form 
der  Ausfülirung  ist  jedoch  bei  beiden  nicht  gleichmäßig.  Der 
erste  Einzug  geht  vom  Narthex  aus;  es  ist  der  feierliche  Ein- 
tritt in  die  Kirche.  Mit  ihm  wird .  der  Gottesdienst  eröffnet; 
auf  diesen  Akt  folgt  zunächst  die  Lesung  (700  A).  Dagegen 
bewegt  sich  die  sleodog  t&v  ^vöttjqCcdv  vom  Altarraume  aus 
nach  dem  Schiff  zu.  Maximus  beschreibt  sie  nirgends  ein- 
gehend; aber  die  Parallele  zum  ersten  Einzug,  der  Name 
siöodog  und  die  Andeutungen  namentlich  in  c.  16,  M.  91, 
693 C/D  machen  es  doch  unzweifelhaft,  daß  die  Prozession 
schon  zur  Zeit  des  Maximus  ganz  in  der  Weise  der  späteren 
fisyciXr]  siöodog  vor  sich  ging.^  —  Genau  so,  wie  es  Maximus 
uns  erkennen  läßt,  ist  der  Gottesdienst  noch  in  de  cerim.  aul. 
Byz.  (10.  Jahrhundert)  geschildert.  Das  anschauliche  Bild,  das 
wir  hier  erhalten,  mag  zur  Illustration  der  kurzen  Angaben 
des  Maximus  dienen.  Auch  hier  beginnt  die  Liturgie  im 
Narthex;  nach  Gebeten,  die  vor  den  königlichen  Türen  ge- 
sprochen werden,  findet  der  Einzug  in  die  Kirche  statt  (vgl. 
z.  B.  de  cerim.  aul.  Byz.  I  1,  9,  M.  112,  152  ff.).  Die  euöodog 
t&v  iiv6triQC(Dv  spielt  sich  folgendermaßen  ab.  Der  Patriarch 
mit  dem  Klerus  geht,  die  heiligen  Gaben  tragend,  aus  dem 
Altarraum  heraus  auf  den  Ambo  zu.  Dort  hat  der  Kaiser 
(hinter  dem  Ambo)  Stellung  genommen.  Wenn  die  Prozession 
ihn  erreicht  hat,  schließt  er  sich  dem  Zuge  an.  Patriarch 
und  Kaiser  durchschreiten  dann  die  solea  (zwischen  Ambo 
und  Bilderwand);  vor  den  heiligen  Türen  halten  sie  einen 
Augenblick  still;  dann  betreten  sie  miteinander  das  Aller- 1 
heiligste,  vgl.  z.  B.  de  cerim.  aul.  Byz.  I  1,  11,  M.  112,  168ff. 
Für  Maximus  sind  die  beiden  e16o8oi  offenbar  schon  ein 
ganz    selbstverständliches    Stück    der    Liturgie,    so    gut    wie 

^  Zu  dem  Zeugnis  des  Maximus  kommt  aus  dem   7.  Jahrhundert 
noch  das  des  Quinisextum  can.  90  hinzu. 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     377 

Schriftverlesung  und  Rezitation  des  Glaubensbekenntnisses.  Der 
Ursprung  des  Ritus  muß  geraume  Zeit  vor  seiner  Epoche  liegen. 
Es  fehlt  nicht  an  Spuren,  um  von  ihm  aus  die  Sache  weiter  zu- 
rückzuv erfolgen.  Zunächst  kommt,  wenn  wir  rückwärts  schreiten, 
eine  Notiz  im  Chronicon  p aschale  in  Betracht.  Die  Chronik 
berichtet  (M.  92,  989 A)  zum  Jahre  615  (645  ist  Druckfehler): 

SV  rovTG)  tq)  BXBi  STcl  UeQyCov  %atQidQ%ov  KavöTavtLvov- 
TtöXscjg  ccjcb  xrig  ä  ißdo^ddog  rcbv  vrj6tsLG)v  ivdixtt&vos  d 
yjQ^ato  TpciXXsö^ai  ^atä  to  „ üCwtc vO'wO'ijTC) "  av  ta  TtaiQq) 
Tov  siödysöd'ai  xä  JtQorj'yLaö^svcc  dcjQa  slg  TÖ  d'vöiaötrJQiov 
ccjib  tov  öTcsvocpvXaTcCov  ^srä  tö  einsiv  xhv  lsqek  „Äara  triv 
dcoQsäv  rot)  XQtörov  ^ov"  svd'mg  dQxerai  6  Xabg  ,,Nvv  al 
dvvd[iSLg  rcbv  o^^ai/öv  6vv  rj^lv  doQdrcog  XatQSvov- 
6iv'  idov  yaQ  eiöTtoQSVBtai  6  ßaöiXsvg  tfig  dö^rjg'  idov 
d'vöCa  ^vötiTiri  tstsXsLca^evrj  8oQv(poQsitai'  TtCötSi  xal 
cpößo)  TtQoöeXd'co^sv,  Iva  iiBxo%oi  Jo-^g  aicoviov  ysvG}" 
jis^a.  dXXrjXovia".  rovto  dh  ov  ^övov  iv  talg  vrjötsCaig 
TtQorjyiaa^svov  siöccyo^evcDV  tpdXXerat,  dXXd  aal  iv  dXXatg 
Tj^SQUig,  böd^ig  av  %Qoriyia6^Bva  yCvrjtaL. 

Erzählt  wird  qine  Neuerung  in  der  Liturgie  der  vor- 
geweihten Gaben,  die  Einführung  eines  Psalms,  der  in  dem 
Moment  gesungen  werden  soll,  in  dem  die  Gaben  vom  Rüst- 
tisch ^  auf  den  Altar  gebracht  werden.^    Deutlich  ist  dabei  die 


^  Der  Chronist  sagt  cctco  tov  GKSvocpvXccKLOv.  In  der  gelehrten  Lite- 
ratur herrscht  über  die  Lage  des  öxcvoqpv^axtov  ziemliche  Verwirrung. 
Es  ist  darum  nötig,  zu  betonen,  daß  in  den  Quellen  das  ßy.svocpvXdy.iov 
immer  mit  der  ngod'sais,  niemals  mit  dem  diuY.oviy.ov  identifiziert  wird. 
Um  der  Bedeutung  der  Sache  willen  setze  ich  die  entscheidenden  Beleg- 
stellen her:  de  cerim.  aul.  Bys.  I  1,  27,  M.  112,  208 A  SiiQxovtai  diä  tov 
CCQ16TEQ0V  ii^Qovg  (das  Zeremonienbuch  nimmt  immer  den  Standpunkt 
des  Beschauers  ein)  tov  avtov  ß'^^icctog  (=  Altarraum)  xal  slöSQxovtai 
iv  tä)  öxsvoqpvXorxiöj.  Ps.  Germ.  M.  98,  396 B/C  7}  nQ06y.o^idri  V  y^voyi,ivri 
iv  TM  öTisvocpvXccyiLG}.  Sym.  Thess.  de  sacro  templo  M.  155,  348  A  6  ix 
'JtXayiov  tov  ß'^^iatog  tov  6KSV0(pvXaiiL0v  tOTtog,   og  xai   Xsystau  TtqoQ'söig, 

^  Die  zitierten  Gebete  und  Lieder  sind  die  heute  noch  üblichen. 
Vgl.  die  vollständigen  Texte  bei  Brightman  Liturgies  eastern  and  western: 


378  Karl  Hol! 

siöodog  vorausgesetzt.  Wenn  von  einem  siödyetv  der  daQ« 
—  der  Ausdruck  tritt  wie  ein  t.  t.  auf;  vgl.  auch  das  sle- 
jtoQBvstai  6  ßaöLlsvg  rflg  äö^rjg  —  gesprochen  wird,  so  kann  es 
sich  nicht  mehr  um  ein  einfaches  Herübersetzen  der  Elemente 
vom  Rüsttisch  auf  den  Altar  handeln;  die  Präposition  ist  nur 
verständlich,  wenn  der  Weg  über  das  Schiff  genommen  wird. 
Evident  wird  das  durch  den  Inhalt  des  Liedes:  begrüßt  wird 
der  Gott,  der  vor  die  Gemeinde  hergetragen  wird  {öoQvcpoQsl- 
r«t,  man  beachte  den  solennen  Ausdruck!). 

Die  Liturgie  der  vorgeweihten  Gaben  ist  auf  einen  Aus- 
nahmefall berechnet.  A  minori  ad  maius  ist  dann  zu  folgern, 
daß  im  regulären  Gottesdienste  die  st^odog  am  Anfang  des 
7.  Jahrhunderts  schon  üblich  war. 

Noch  einen  Schritt  weiter  rückwärts  führt  eine  Nachricht 
bei  Cedrenus.  Er  vermerkt  zum  9.  Jahr  Justins  II  (573/74) 
M.  121,  748  B:  htv7C(D%"ri  ds  tjjdXXsöd'aL  xccl  6  x^Q^'^ß^^^S  v^vog. 
Die  Notiz  klingt  abgerissen;  über  ihre  Tragweite  bezüglich 
der  uns  interessierenden  Frage  ist  doch  kein  Zweifel  möglich. 
Der  cherubische  Lobgesang  ist  der  Hymnus,  den  die  Gemeinde 
beim  großen  Einzug  anstimmt,  das  Seitenstück  zu  dem  eben 
erwähnten  Psalm  in  der  Liturgie  der  vorgeweihten  Gaben. 
Auf  die  Zeremonie  des  Einzugs  deuten  auch  die  Worte  des 
Liedes  unverkennbar  hin.  Der  Hymnus  lautet  Brightman 
p.  377  und  379,  Maltzew  S.  70  und  73:  ol  rä  xsQovßln 
fiv6tiK&g  siKOvC^ovtsg  tcccI  tfj  ^(DOTtoim  XQiddi  xov  tQiöd'yLOV 
v^ivov  TtQoöadovtsg  %ä6av  ti^v  ßicotvK'^v  d7Cod'6^sd'a  ^eQi^vav, 
cjg  xov  ßaöiXsa  t&v  oXcjv  vjtoö 8^,6 ^evoi  talg  dyysXiTialg 
doQdtog  doQvg)OQOVßSvov  td^söi.  dXXrjXovta  dlXrjXovia 
aXXrjXovia.     Wenn  die  Gemeinde  hier  „den  von  Engelscharen 


Das  Kcitsvd'vvd'ijtco  p.  346;  das  Kcctä  rr/v  dagsav  p.  348;  es  ist  der  laut 
gesprochene  Schluß  des  zweiten  Gebets  der  Gläubigenmesse ;  der  Psalm  ib. 
-T-  In  deutscher  Übersetzung  findet  man  die  Stücke  bei  Maltzew  Die 
Liturgien  der  orth.-kath.  Kirche  des  Morgenlandes.  Berlin  1894.  S.  144, 
145,  149,  150. 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     379 

unsichtbar  einhergetragenen  König  des  Alls"  begrüßt,  so  spielt 
das  „unsichtbar"  offenkundig  an  auf  das,  was  sichtbar  vor 
sich  geht,  die  Hereintragung  der  Elemente  durch  den  Priester.^ 
!>is  573/74  ist  also  der  Ritus  sicher  zurückzudatieren. 

Man  müßte  noch  fast  um  ein  Jahrhundert  weiter  hinauf- 
steigen, wenn  eine  kurz  hingeworfene  Bemerkung  Duchesnes 
vollkommen  zuträfe.  Duchesne  hat,  ohne  tiefer  auf  die  ganze 
Frage  einzugehen,  in  einer  Anmerkung  (Origines  du  cult 
chretien.^  Paris  1902,  p.  84  Anm.  1)  notiert,  daß  schon 
Dionysius  Areopagita  die  Prozession  —  er  meint  die  sXöodog 
—  und  den  Brauch,  dabei  einen  Hymnus  zu  singen,  erwähne. 
Er  verweist  auf  eccl.  hier.  HI  2,  M.  3,  425  C.  Allein  an  dieser 
Stelle  ist  von  einem  Einzug  jedenfalls  nicht  ausdrücklich  die 
Rede.  Es  heißt  nur,  daß  Priester  und  Diakonen  in  dem 
betreffenden  Moment  Brot  und  Wein  auf  den  Altar  setzen 
[jtQOtid'saöi^  wie  es  an  den  früher  behandelten  Stellen  lautete 
siödyovöiv).  Die  Annahme,  daß  die  Übertragung  der  Elemente 
auf  dem  Umweg  über  das  Schiff  erfolgte,  wäre  nur  dann  be- 
gründet, wenn  der  allerdings  erwähnte  Hymnus  {jCQOO[ioXoyrj- 
^sCörjg  vjtb  TCavtog  -pov  tfig  sxxX7]öCag  jtXrjQm^atos  r^g  zad'O- 
XiJiTjs   v^voXoyCag)    mit    dem    cherubischen    Lobgesang    gleich- 

^  Gegen  den  cherubischen  Lobgesang  scheint  „Eutychius"  in  dem 
j  sermo  de  paschate  et  s.  aecharistia  M.  86,  2400/2401  sich  zu  wenden. 
I  Er  findet  es  unangemessen,  daß  man  die  noch  nicht  geweihten  Gaben 
I  als  König  der  Herrlichkeit  begrüßt.  Der  von  ihm  stigmatisierte  Aus- 
druck —  ßccöiUa  tfjg  do^rig  —  findet  sich  allerdings  in  dieser  genauen 
Form  nicht  im  cherubischen  Lobgesang  —  hier  steht  dafür  ßaailaa  x&v 
'  oXav  — ,  sondern  in  dem  bei  den  vorgeweihten  Gaben  üblichen  Psalm. 
j  Aber  wenn  Eutychius  diesen  letzteren  meinte,  so  hätte  er  seiner  Polemik 
I  eine  andere  Form  geben  müssen.  Er  müßte  dann  dagegen  protestieren, 
daß  man  einen  bei  schon  geweihten  Gaben  berechtigten  Psalm  miß- 
i  bräuchlich  auch  in  der  gewöhnlichen  Liturgie  verwendete.  Er  verwirft 
\  aber  nicht  eine  unpassende  Übertragung  des  Hymnus,  sondern  den 
:  Hymnus  überhaupt.  Also  kann  er  doch  nur  den  cherubischen  Lob- 
I  gesang  im  Auge  haben.  —  Rühren  die  Fragmente  wirklich  von  Euty- 
i  chius  (Patriarch  von  Konstantinopel  552  —  565  und  wieder  577  —  582) 
i  her,  so  sind  sie  eine  wertvolle  Bestätigung  der  Nachricht  des  Cedrenus. 


380 


Karl  Hol! 


gesetzt  werden   dürfte.     Diese  Identifikation   unterliegt  jedoch 
den  schwersten  Bedenken.     Einmal  müßte  dann   die  Nachricht 
des   Cedrenus   über   das  Ursprungsjahr   des   cherubischen  Loh- 
gesangs  umgestoßen   werden,    was   bei   einer  so   genauen   An- 
gabe  kaum    angeht.      Dann   aber   ist  —  und   das    scheint 
entscheidend  —   eine    so    frühzeitige    Entstehung    der   suöodi 
mit   den  Tatsachen,   die   wir  bei   den   Nebenkirchen   antreffe! 
nicht  zu  vereinigen.     Den  Monophysiten  ist  die  Zeremonie 
bekannt:  von  den  Kopten  speziell  berichtet  Butler  (The  anciei 
coptic  churches  II  284),  daß  bei  ihnen  nur  eine  Art  Umgai 
um    den  Altar    üblich    sei.     In    dieser  Form  werden  wir 
auch   das   feierliche   TtQotid-ivai   der   Gaben   zu   denken  habei 
von  dem  der  Areopagite  spricht.     Daß  man  diesen  Akt,   auc 
wenn  noch  keine  Vorführung  der  Gaben  stattfand,  durch  ein< 
Hymnus    auszeichnete,   ist    wohl    verständlich.      Und    es    fei 
nicht  an  tatsächlichen  Belegen  dafür,  daß  schon  vor  dem  Ai 
kommen    des    cherubischen   Lobgesangs    an    dieser    Stelle    d^ 
Liturgie   ein   Lied    gesungen  wurde.     Ich   erinnere   namentlic 
an    den  Hymnus    öLyrjödtcD   Ttäaa   ö«^|    (Brightman   p.  41,  21 
dazu  Maltzew  S.  70  Anm.  1),  der  allem  nach  beträchtlich  äH 
ist    als    das   Cherubimlied.  —    Ist   demnach   der  Versuch, 
El<5o8og   bis    ans   Ende    des    5.  Jahrhunderts    hinaufzuschiebei 
nicht  durchführbar,  so   ist  die  Nachricht  des  Dionysius  Are( 
pagita   für   unsere  Frage   doch   nicht   wertlos.     Sie  rückt  ei 
die  Notiz  bei  Cedrenus  in  das  richtige  Licht.    Wir  sehen  jetzl 
daß   die  Einführung   des  Cherubimliedes   nicht   erst  überhauj 
die    Sitte   begründete,   bei   der   Übertragung   der   Gaben   eine! 
Hymnus   zu   singen.     Der   cherubimische  Lobgesang   trat  viel 
mehr  an  die  Stelle  eines  älteren  Liedes.     Dieser  Wechsel  ab( 
wird    nur    dadurch  begreiflich,    daß   in   der  Zwischenzeit  ei 
Änderung  in  der  Zeremonie  stattgefunden  hatte,   d.  h.  die  sii 
oöog  aufgekommen  war. 

Das  Jahr  573/74  bleibt  also  für  uns  das  letzte  erreichbai 
Datum,  bis  zu  dem  wir  den  Ritus  sicher  zurückführen  könnei 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechischen  Kirche     381 

Wir  sind  schon  damit  nahe  an  den  Zeitpunkt  herangerückt, 
wo  wir  die  Bilderwand  auftauchen  sahen.  Das  Zusammen- 
stimmen der  beiden  Resultate  ist  eine  Gewähr  für  ihre  Richtig- 
keit. Denn  es  ist  evident,  daß  die  Zeremonie  der  alöodog  nur 
i  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  der  Altarraum  durch  eine  feste 
Wand  vollkommen  abgeschlossen  war.  Solange  nur  Vorhänge 
das  AUerheiligste  verhüllten,  war  mit  ihrer  Zurückziehung  ganz 
dasselbe  zu  erreichen,  was  die  Siöodog  bezweckte.  Man  er- 
innere sich  an  die  heute  noch  bei  den  Armeniern  übliche  Art, 
j  das  Heilige  bald  zu  zeigen,  bald  zu  verdecken.  Erst  wenn 
!  eine  unbewegliche,  übermannshohe  Brustwehr  sich  zwischen- 
einschob, konnte  ein  Bedürfnis  entstehen,  durch  ein  Heraus- 
tragen der  Symbole  das  Interesse  der  Gemeinde  an  dem  im 
;  ädvtov  sich  Vollziehenden  wach  zu  erhalten.  So  schlägt  das 
'  Resultat  der  zweiten  Untersuchung  das  der  ersten  definitiv  fest. 
Nur  das  könnte  noch  einen  Augenblick  als  problematisch 
betrachtet  werden,  ob  wirklich,  wie  es  nach  dem  Bisherigen 
scheint,  die  Einführung  der  siöoöoi  der  Bilderwand  erst  in 
einem  gewissen  Abstand  nachfolgte.  Logisch,  möchte  man 
meinen,  wäre  vielmehr  eine  gleichzeitige  Entstehung  gefordert. 
Allein  die  innere  Konsequenz  der  Sache  braucht  nicht  sofort 
empfunden  worden  zu  sein,  und  die  Quellenzeugnisse  reden  in 
diesem  Punkt  so  bestimmt,  daß  kein  Räsonnement  gegen  sie 
aufzukommen  vermag.  Den  Daten,  auf  die  wir  in  der  grie- 
chischen Kirche  geführt  wurden:  die  Bilderwand  schon  in  der 
Hagia  Sophia,  die  siöodoi  nicht  viel  vor  573/74,  entspricht 
ganz  exakt  die  Tatsache,  daß  die  Kopten  wohl  die  Bilderwand, 
aber  nicht  die  slöodoi  haben.  Etwa  eine  Generation  muß 
zwischen  den  beiden  Institutionen  liegen.  Auch  dann  noch 
bleiben  sie  sich  zeitlich  so  nahe,  daß  der  innere  Zusammen- 
hang zwischen  ihnen  sichtbar  ist. 

Erst  jetzt  kann  die  Frage  aufgeworfen  werden,  wie  man 
denn  in  der  griechischen  Kirche  dazu  kam,  den  Kultus  gerade 
mit  diesen  Formen  zu  bereichern.     Es  muß   nachdrücklich  be- 


382  ^^^^  Soll 

tont  werden,  daß  hier  noch  ein  erst  zu  lösendes  Problem  vor-  j 
liegt.  Es  genügt  nicht,  wenn  man  auf  das  Allgemeine  ver- 
weist, daß  der  christliche  Gottesdienst  im  Orient  mehr  und 
mehr  den  Charakter  einer  Mysterienfeier  annahm.  Dem  daraus 
sich  ergebenden  Interesse  war  ja  schon  gedient,  wenn  man  das 
AUerheiligste  durch  Vorhänge  verdeckte.  Warum  ist  man  bei 
diesem  Modus  nicht  stehen  geblieben?  Erinnert  man  demgegen- 
über mit  Recht  daran,  daß  seit  Dionysius  Areopagita  das  Be- 
dürfnis nach  einer  noch  dichteren  Verhüllung  des  Mysteriums 
sich  regte,  so  bleibt  doch  immer  noch  die  Frage,  wie  man 
dann  gerade  auf  die  „Bilderwand"  verfiel.  Selbstverständlich 
ist  es  doch  nicht,  daß  dem  Wunsch  sich  gleich  diese  so  fertig 
aussehende  Konstruktion  zur  Verfügung  stellte.  Hier  muß  ein 
bestimmtes  Vorbild  eingewirkt  haben,  etwas  aufgenommen 
worden  sein,  was  vorher  schon  da  war. 

Und  es  ist  auch  nicht  schwer,  das  Vorbild  zu  entdecken. 
Man  vergegenwärtige  sich  noch  einmal  die  Anlage  in  der  Hagia  < 
Sophia:   die  Reihe  der  zwölf  Säulen,   die  Interkolumnien  aus- 
gefüllt durch  Tafeln,   die    so   hergestellte  Wand    durchbrochen  , 
durch  drei  Türen,   die  Mitteltür  höher   als   die  Seitentüren  —  ' 
ich  denke,  bei  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  wird   dieses  Bild 
sofort   ein   anderes  in   Erinnerung  rufen:  die  „Bilderwand" 
ist  das  Proskenion  des  antiken  Theaters. 

Die  Analogie  zwischen  den  beiden  Konstruktionen  geht 
bis  ins  einzelne.  Wie  im  griechischen  Theater  (vgl.  Dörpfeld 
und  Reisch,  Das  griechische  Theater.  Athen  1896)  seit  der|: 
Errichtung  eines  steinernen  Proskenions  die  Wand  durch 
Säulen  und  zwischeneingestellte  Tafeln  gebildet  war,  so  treffen 
wir  es  auch  in  der  Hagia  Sophia.  Auch  die  Zahl  der  zwölf 
Säulen,  die  wir  im  Bau  Justinians  finden,  scheint  nicht  zufällig 
zu  sein.  Denn  genau  dieselbe  Zahl  hat  Dörpfeld  (S.  385)  an 
den  Proskenien  vieler  Theater  konstatiert  und  ist  geneigt,  sie 
für  charakteristisch  zu  halten.  Die  drei  Türen,  denen  eine 
Dreiteilung  des  Innenraums   entspricht,   sind  beidemal  in   der- 


Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griechisclien  Kirche     383 

selben  Weise  eingesetzt.^  —  Vielleicht  erstreckt  sich  die  Parallele 
noch  weiter:  die  solea  in  der  Hagia  Sophia  hat  ihr  Gegenstück 
in  dem  Raum  zwischen  dem  Proskenion  und  der  Thymele,  der 
Ambo  steht  —  ich  kann  das  hier  nicht  näher  beweisen;  meine 
Auffassung  stützt  sich  hauptsächlich  auf  die  Angaben  des 
Zeremonienbuchs  —  etwa  an  der  Stelle,  wo  die  alte  Thymele 
sich  befand,  und  auch  die  Lage  der  kaiserlichen  Loge  deckt 
sich  in  beiden  Fällen.  Ich  will  auf  diese  Kleinigkeiten  kein 
großes  Gewicht  legen:  die  Übereinstimmung  in  den  ent- 
scheidenden Zügen  scheint  mir  evident. 

Es  ist  noch  eine  besonders  willkommene  Bestätigung  der 
aufgestellten  Hypothese,  daß  mittelst  dieser  Analogie  sofort 
auch  der  zweite  Ejioten  sich  löst.  An  und  für  sich  ist  es  ja 
nicht  selbstverständlich,  daß  man  nach  der  Einführung  der 
festen  Wand  gleich  auch  eine  liturgische  Zeremonie  fand,  die 
den  aUzu  strengen  Abschluß  wieder  milderte  und  die  Gemeinde 
mit  der  am  Altar  vollzogenen  Handlung  direkt  in  Kontakt  setzte. 
Aber  dasselbe  Vorbild  hat  auch  bei  diesem  Problem  gewirkt. 
Der  „Einzug"  im  christlichen  Gottesdienst  hat  gleichfalls  seine 
Parallele  im  antiken  Drama.  Wie  dort  der  Aufzug  des  Chores 
die  Szenen  schied,  so  markieren  in  der  griechischen  Liturgie 
die  8L6odoi  die  Akte  des  heiligen  Dramas.  Auch  der  Name 
slöodog  ist  wohl  von  dorther  entlehnt.  Elcodog  scheint  zwar 
nicht  die  gewöhnliche  Bezeichnung  für  den  Einzug  des  Chores 
gewesen  zu  sein  —  es  wäre  begreiflich,  wenn  man  den  eigent- 
lichen t.  t.  vermieden  hätte;  doch  ist  auch  möglich,  daß  der 
Sprachgebrauch  wechselte,  vgl.  die  unten  angeführte  Stelle  — ; 
jedenfalls  war  es  ein  geläufiger  Ausdruck  für  die  Sache.^     Ich 

^  Daß  der  Typus  hier  wie  dort  nicht  starr  ist,  daß  die  Zahl  der 
Säulen  (und  der  Türen)  sich  auch  nach  den  Verhältnissen  richtete, 
braucht  wohl  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

^  Ich  darf  vielleicht  diese  Gelegenheit  benutzen ,  um  die  Philologen 
auf  eine  Stelle  hinzuweisen,  die  mir  für  das  Fortleben  der  alten  Tragödie 
beachtenswert  erscheint.  In  den  Akten  des  heiligen  Demetrius  wird 
(M.  116,  1206ff.)   ein  Traum  erzählt,   den  der  Bischof  von  Thessalonich 


384      I^arl  Holl     Die  Entstehung  der  Bilderwand  in  der  griech.  Kirche 

unterlasse  es,  die  Vergleichung  noch,  weiter  durchzuführeu. 
Die  Übereinstimmung  in  der  Hauptsache  scheint  mir  auch  hier 
handgreiflich. 

Es  ist  ein  alter  Vorwurf  der  Abendländer  gegen  die  Orien- 
talen, daß  ihr  Gottesdienst  „theatralisch."  sei.  Ist  der  gelieferte 
Nachweis  richtig,  so  trifft  diese  Kritik  im  eigentlichsten 
Sinne  zu. 


während  des  Avareneinfalls  im  Jahre  597  hatte.  Der  Bischof  sieht  sich 
ins  Theater  versetzt.  Er  fragt  sich  erstaunt,  wie  er  an  den  für  ihn  un- 
schicklichen Ort  komme,  und  will  das  Theater  verlassen.  Da  betritt  ein 
Tragöde  die  Bühne  {öq&  xQccymdov  stesQxofiEvov  inl  tb  y.aXov^svov  rov 
Q-sdtQov  XoyLov)  und  fordert  ihn  auf  zu  bleiben,  um  seinen  Sprue); 
anzuhören  (iistvov,  ort  ch  xal  t7]v  d'vycctEQci  6ov  i%(0  tQaycpdfjöai).  Yj- 
gelingt  dem  Bischof  zu  verhindern,  daß  der  Tragöde  mit  seiner  Klage 
anhebt.  —  Der  Traum,  der  natürlich  auf  das  der  Stadt  drohende  Unheil 
hinweisen  soll,  scheint  mir  psychologisch  nicht  erklärbar,  wenn  der 
Bischof  (resp.  der  Verfasser  der  Akten)  die  Tragödie  nur  aus  der  lite- 
rarischen Überlieferung  kannte.  Ich  bin  geneigt,  daraus  zwar  nicht  z^ 
folgern,  daß  zur  Zeit  des  Verfassers  der  Akten  noch  Tragödien  ai 
geführt  wurden,  wohl  aber,  daß  noch  tragische  Schauspieler,  Rezitator« 
wenn  auch  vereinzelt,  auftraten.  Doch  mögen  darüber  die  SachkennJ 
urteilen. 


Leichenbestattuiig  in  Uiiteritalieii 

Von  H.  Braus  in  Heidelberg 

Zu  Beginn  des  Jahres  brachte  eine  der  gelesensten  Zei- 
tungen Neapels,  der  Mattino  (14./15  1. 05),  einen  lebhaften  Appell 
an  die  städtische  Verwaltung,  welcher  eine  Erneuerung  der 
„Polizia  mortuaria"  verlangte,  da  augenblicklich  die  übliche 
Bestattung  allen  Regeln  der  Kultur  und  öffentlichen  Hygiene 
Hohn  spreche.  „Denn  —  das,  was  hier  gesagt  wird,  erscheint 
unglaublich,  bemerkt  der  Artikelschreiber  —  hier  exhumiert 
man  die  Leichen  schon  nach  kaum  neun  bis  achtzehn  Monaten 
(je  nach  dem  Alter  des  betreffenden  Individuums),  während  das 
Gesetz  verordnet,  daß  der  Bestattungsturnus  zehn  Jahre  be- 
trage." Was  liegt  näher  für  den  Uneingeweihten  als  die  Ver- 
mutung, die  große  Stadt  mit  ihren  17000  Beerdigungen  pro 
Jahr  (Mattino  2.  HI.  05)  dulde  wegen  Platzmangel  auf  den 
Kirchhöfen  eine  so  grauenvolle  Umackerung  dieser  Stätten. 
Sind  doch  gewiß  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  die  21ustände 
der  Bestattung  von  Leichen  Unbemittelter  gerade  in  Neapel 
sehr  üble  gewesen,  wie  allgemein  erzählt  wird.  Und  doch 
liegt  der  Tatsache ,  daß  die  Leichen  nur  kurze  Zeit  in  der  Erde 
verbleiben  —  nicht  nur  in  Neapel,  sondern  allgemein  in  beiden 
Sizilien  —  ein  Volksbrauch,  ein  Herzensbedürfnis  aller,  auch 
der  bemittelten  Stände,  zugrunde.  Da  ich  mich  durch  eigenen 
Augenschein  von  manchem  unterrichten  konnte,  was  bei  der 
Bestattung  nicht  öffentlich  ist  und  deshalb  den  meisten  Reisen- 
den nicht  zu  Gresicht  kommt,  ist  es  vielleicht  für  die  Kenntnis 
der  Beerdigungsgebräuche  von  Nutzen,  wenn  ich  das  schildere, 
was  ich  sah  und  sonst  sicher  in  Erfahrung  brachte. 


iwß^ 


386  H-  Braus 

In  manchen  kleinen  Städten  und  Städtchen  Sizilie: 
nimmt  der  Camposanto  einen  ganz  beträchtliclien  Flächenraum 
ein,  selbst  dort,  wo  eine  Neuanlage  besteht  und  deshalb  auf 
die  Entvölkerung  der  Orte  durch  Auswanderung  Rücksicht  ge- 
nommen sein  könnte.  In  Milazzo  z.  B.,  an  der  Nordküste  der 
Insel,  dessen  enormer  Weinexport  nach  Frankreich  durch  die 
Gesundung  der  Reben  an  der  Loire  schnell  zurückging,  so  daß 
besonders  viele  brotlos  wurden,  nach  Amerika  zogen  und  ihre 
Häuser  in  der  Stadt  dem  Verfall  überließen,  erstreckt  sich  der 
Friedhof  hoch  über  dem  Meere  in  herrlichster  Lage  weit  über 
die  Hügel  hin.     Er  ist  1887  angelegt,  ein  Stolz  der  Bewohner: 

La  Pieta  dei  Milazzesi 

Volle  consacrato  ai  suoi  morti 

Questo  poggio  incantevole 

Perche  la  loro  memoria 

In  tanta  fecondita  di  natura 

Rifiorisse  amorosamente  nel  euere 

Delle  piu  lontane  generazioni. 

Auch  auf  diesem  Camposanto  wird  unter  Umständen  sch( 
nach  einigen  Monaten  exhumiert.  Questa  soglia  divide  due 
mondi,  la  pieta  li  congiunge.  Pietätlosigkeit  und  Platzmangel 
sind  es  also  gewiß  nicht,  welche  hier  den  Bestattungsturnus 
diktieren.  Am  beredtesten  sind  die  Begräbnisgebühren, 
welche  die  Stadt  erhebt.  Bleiben  die  Leichen  in  der  Erde,  bis 
der  gesetzliche  Turnus  von  zehn  Jahren  abgelaufen"  ist ,  so  ist 
der  Platz  gratis.  Wird  dagegen  schon  nach  kurzer  Zeit 
exhumiert,  so  ist  eine  Gebühr  von  125  Lire  (100  Mark)  zu 
zahlen.     Ein  Grab  auf  ewige  Zeit  kostet  nur  60  Lire. 

So  bleiben  denn  die  Leichen  der  Armen  und  Ärmsten  auf 
diesem  Camposanto  fast  am  längsten  in  der  Erde;  denn  die 
Zahl  der  gekauften  Gräber  (posti  distinti)  ist  nicht  groß.  Gerade 
die  Begüterten  aber  lassen  schon  nach  einigen  Monaten  ihre 
Verstorbenen  exhumieren.  Der  Platz  in  der  Erde  war  auch 
für  sie  frei.     Er  wird  alsbald  von  einem  Neuankömmling  ein- 


Leichenbestattung  in  Unteritalien  387 

genommen,  damit  die  Reihe  voll  bleibt.  Das  große  Geldopfer 
—  besonders  groß  für  den  relativen  Wert  der  Münze  in  den 
wirtschaftlich  rückständigen  Verhältnissen  —  wird  gebracht, 
um  den  geliebten  Leichnam  so  unterzubringen,  daß  das  persön- 
liche Verhältnis  zu  dem  Toten  den  Überlebenden  besser  gewahrt 
scheint. 

So  ist  es  auch  in  kleinen  Ortchen.  Der  Arme  verbleibt  in 
der  Erde.  Der  Wohlhabende  wird  exhumiert.  Überall  sind 
die  Taxen  für  die  Ausgrabung  recht  hoch.  Auf  der  Insel 
Lipari,  der  größten  der  Aolischen  Inseln,  werden  100  Lire  ge- 
zahlt, und  das  ist  für  die  meisten  der  armen  Bevölkerung  so 
unerschwinglich,  daß  außer  den  Armengräbern  viele  Posti  distinti 
existieren,  welche  wie  bei  uns  mit  Grabsteinen  und  Marmor- 
büsten und  Monumenten  geziert  sind.  Denn  für  diese  zahlt 
man  pro  Platz  nur  die  Hälfte.  Nur  diejenigen,  welche  als 
ganz  reich  gelten,  exhumieren  ihre  Toten. 

Alle,  welche  italienische  Friedhöfe  gesehen  haben,  kennen 
die  Marmorplatten,  mit  welchen  die  Mauern  in  mehreren  Reihen 
übereinander  bedecklj  sind.  Sie  verschließen  die  Nischen 
(nicchi,  auch  cugette,  dasselbe  Wort  wie  Schiffskabinen),  in 
welchen  der  exhumierte  Leichnam  untergebracht  wird.  Hier 
wohnt  der  Tote.  Am  Allerheiligen-  und  Allerseelentag  ist  die 
ganze  Stadt  auf  dem  Camposanto.  Da  sah  ich  in  Neapel,  daß 
die  Besucher  auf  die  Marmorplatte  der  Nische  verstorbener  Be- 
kannter und  Anverwandter  mit  Bleistift  ihren  Namen  ein- 
schrieben. Ganze  Besuchslisten  waren  auf  Steinen  von  einst 
i  reich  verschwägerten  oder  vielbefreundeten  Toten  zu  lesen ,  oder 
i  viele  an  Ornamente  und  in  Ritzen  angeheftete  Visitenkarten 
zeugten  von  der  Zahl,  dem  Stand  und  gesellschaftlichen  Schliff 
der  Besucher. 

Der  Wunsch,  daß  der  Tote  erhalten  bleiben  möge  in  allen 
seinen  Teilen  und  als  körperliches  Ohjekt  für  alle  Akte 
des  pietätvollen  Sinnes  der  Hinterbliebenen,  hat  die  frühe 
Leichenausgrabung    bei    den   Wohlhabenden    in    Schwung    ge- 


388  H.  Braus 

bracht,  seitdem  die  Bestattung  in  der  Erde  aus  hygienisclien 
Gründen  im  modernen  Italien  gesetzlicli  durcligefülirt  wurde. 
Denn  in  der  gewöhnliclien  Erde  des  Camposanto  (der  terra 
frigida)  verwesen  die  Weichteile,  und  selbst  die  Knochen  werden 
bald  mürbe  und  zerstört.  Unterbricht  man  jedoch  diesen  Prozeß 
im  richtigen  Augenblick,  so  tritt  unter  der  Einwirkung  der 
trockenen  Luft  Mumifikation  ein,  und  nur  wenig  vom  Körper 
geht  verloren. 

Ich  kenne  diese  Prozeduren  am  besten  aus  Neapel,  wo  sie 
sehr  ausgebildet  sind.  Hier  wird  die  vulkanische  Tufferde 
(terra  bruciata)  benutzt,  um  von  vornherein  in  der  Erde  schon 
ein  Mumifizieren  der  Leiche  einzuleiten.  In  KapeUen,  welche 
sich  auf  dem  größten  Teil  des  unteren  Friedhofes,  dem  Campo- 
santo der  Reichen,  aneinander  drängen  —  großen  Häusern, 
welche  die  Wege  zu  Straßen  einer  Totenstadt  gestalten  und 
darin  wohl  antiken  Gräberstraßen  ähneln  — ,  befinden  sich  zu 
ebener  Erde  kleine  Grabfelder,  welche  regelmäßig  ummauert 
und  durch  Zwischenwände  in  drei  oder  mehr,  unter  Umständen 
acht  oder  zwölf  Einzelgräber  eingeteilt  sind.  Die  Erde  in  den- 
selben ist  von  außerhalb  des  Friedhofes  herbeigeschafft  worden  und 
besteht  aus  Rapilli,  welche  in  großen  Bänken  in  der  ganzen 
Umgebung  der  Stadt  von  den  früher  tätigen  Vulkanen  ab- 
gelagert wurden.  Der  Camposanto  des  Vorortes  Fuorigrotta 
liegt  selbst  auf  solchem  Boden  und  ist  erhöht  angebracht,  da- 
mit die  Feuchtigkeit  abfließen  kann.  In  den  Kapellen  des 
großen  Friedhofes  bleibt  die  vulkanische  Erde,  da  sie  unter 
Dach  und  Fach  ist,  stets  trocken. 

Wird  nun  eine  Leiche,  welche  in  dünnem  tannenen  Sarge 
in  diesen  Boden  bestattet  ward,  nach  der  vom  Mattino  im  all- 
gemeinen richtig  angegebenen  Zeit  (9  Monate  bei  Kindern, 
IV2  Jahr  bei  Erwachsenen)  ausgegraben,  so  ist  wohl  eine  be- 
trächtliche Eintrocknung,  aber  von  Verwesung  kaum  etwas  zu 
bemerken.  Die  Haut  einer  Frau  von  einigen  50  Jahren,  welche 
sehr  stark  gewesen  sein  sollte  und  15  Monate   in  dieser  Erde 


Leichenbestattung  in  Unteritalien  389 

gelegen  hatte ,  war  im  Augenblicke  der  Exhumierung  pergament- 
artig, aber  weich  anzufühlen.  Alle  Gewänder,  in  welche  die 
Leiche  gehüllt  war,  fand  ich  gut  erhalten.  Nur  da,  wo  das 
Gresicht,  das  zur  Seite  gewandt  wat,  den  Kissen  aufgelegen 
hatte,  waren  Lippen  und  Wange  durch  die  Zersetzungsprozesse 
zerstört.  Die  Haare  und  seihst  Augen  und  der  ganze  übrige 
Körper  waren  intakt.  Es  soll  dies  der  gewöhnliche  Zustand  der 
Leichen  sein.  Nur  bei  besonders  fetten  Personen  oder  nach  Krank- 
heiten, die  mit  starken  Zersetzungsprozessen  vor  dem  Tod  ein- 
hergehen, soll  der  Zerfall  nicht  ganz  aufgehalten  werden 
können.  Ich  sah  noch  die  Leiche  eines  an  Gehirnentzündung 
infolge  von  Mittelohreiterung  verstorbenen  Kindes  von  ca.  sechs 
Jahren,    welche    zehn   Monate    in    derselben   Kapelle    beerdigt 

i  gewesen  war  und  so  völlig  intakt  war,  daß  die  Eltern  das 
Haar  der  Kleinen   strählten   und  mit  Bändern  verzierten ,   wie 

I  wenn  sie  lebend  sei.  Der  Vater  zeigte  mir  die  Photographie, 
damit  ich  sehen  könne,  wie  gut  ihnen  ihr  Liebling  erhalten 
wäre. 

Denn  die  Anverwandten,  welche  eine  Nische  in  der  Kapelle, 
deren  Innenwände  ebenso  wie  die  Mauern  des  Friedhofes  mit 
solchen  bedeckt  sind,  erstehen  können,  betten  den  Toten  nach 
der  Exhumierung  in  einen  Schrein,  angetan  mit  einem  hellen 
Totenhemd ;  unter  Umständen,  wie  bei  jenem  Kind,  geschmückt 
mit  bunten  Schleifen  und  Zieraten.  Da  mögen  nun  die  Glieder 
unter  dem  Einfluß  der  Luft,  welche  durch  Löcher  in  der 
marmornen  Verschlußplatte  frei  zu-  und  abströmen  kann,  weiter 
trocknen  und  schrumpfen,    da  mögen  schließlich  die  Gesichts- 

j  züge    und   Körperformen    unkenntlich  werden,  es   bleibt  doch 

i  die  Gewähr  für  die  Anverwandten,  daß  der  Tote  ganz  ge- 
blieben ist. 

Das  Zusammenbleiben  des  Leichnams  ist  die  Hauptsache. 
Denn  da,  wo  keine  Tufferde  vorhanden  und  der  Verwesungs- 
prozeß nicht  so  gut  aufzuhalten  ist,  hat  man  neuerdings  be- 
gonnen,   gar  nicht   mehr    zu    beerdigen,    sondern   —   was   in 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  26 


390  H.  Braus 

diesem  Falle  gestattet  zu  werden  pflegt  —  die  Leichen  in 
Zinksärge  zu  verlöten  und  dann  direkt  in  Nischen  beizusetzen. 
Es  ist  dies  z.  B.  in  Sizilien  und  auf  den  Liparischen  Inseln 
mehr  und  mehr  üblich  geworden.  In  solchen  Fällen  wird  die 
Nische  vermauert  und  dann  erst  die  Marmorplatte  davor  be- 
festigt. Oder  aber  man  begnügt  sich  damit,  das  Skelett  und 
von  den  Weichteilen  so  viel  wie  möglich  zu  erhalten,  indem 
man  auf  Ys — ^V2  J^^^  beerdigt,  und  zwar  auf  möglichst 
trocken  gelegenen  Friedhöfen,  bei  welchen  manchmal  die  Erde 
zwischen  Mauern  mit  besonderen  Abflußlöchem  hoch  über  dem 
Niveau  der  Umgebung  aufgeschüttet  ist,  dann  die  Überreste 
exhumiert  und  in  Nischen  mit  Luftzutritt  verbringt. 

Je  nach  dem  Vermögen  der  Hinterbliebenen  wird  der 
Raum  der  Nischen  ausgenutzt.  Es  werden  manchmal  mehrere 
Leichen  in  einer  untergebracht,  denn  durch  die  Schrumpfung 
ist  der  Platz,  welcher  für  einen  Menschen  berechnet  ist,  auch 
für  mehrere  so  präparierte  Mumien  ausreichend.  Doch  ist  dies 
wohl  eine  Folge  der  Teuerung  in  der  Großstadt.  In  der 
Provinz  legt  man  kellerartige  Gelasse  an,  von  denen  jedes  für 
eine  Familie  bestimmt  und  mit  zahlreichen  Nischen  versehen 
ist.  Das  Ganze  ist  von  einer  großen  Grabplatte  gedeckt  und 
mit  einer  Leiter  zugänglich.  Immer  aber  hat,  bei  Einzelnischen 
oder  Grüften,  die  Familie  den  Schlüssel,  ohne  welchen  niemand 
die  Toten  stören  kann. 

Die  Armeren,  welche  keine  Nischen  zahlen  können,  lassen 
gleichwohl  in  Neapel  häufig  die  Leichen  in  der  Tufferde  trocknen, 
dann  aber  in  Ossuarien  verbringen,  großen  Räumen  unter 
denselben  Kapellen,  welche  auch  die  trockene  Erde  bergen. 
In  Ossuarien  werden  so  allmählich  viele  Leichen  vereinigt, 
ohne  daß  sie  einzeln  mehr  kenntlich  wären.  Es  genügt  da 
offenbar  das  Bewußtsein ,  daß  die  Leiche  nicht  durch  Verwesung 
zerstört  wurde.  Auch  werden  Nischen,  deren  Zins  durch  Aus- 
sterben der  Verwandtschaft  oder  im  Laufe  der  Zeiten  sonstwie 
nicht  gezahlt  wird,  frei  gemacht  dadurch,   daß  man  die  Toten 


Leichenbestattung  in  Unteritalien  391 

in  die  Ossuarien  verbringt.  Die  Ärmsten  schließlich,  welche 
keine  Kosten  für  die  Bestattung  aufbringen  können,  werden 
iu  gewöhnlicher  Erde  begraben  und  in  der  Provinz  zehn  Jahre, 
in  Neapel  nur  ^3 — IV2  ^^^^  ^^  derselben  belassen.  Dann 
kommen  die  Skelette  in  große  Ossuarien.  Aber  auch  die  Pietä, 
der  Armenfriedhof  von  Neapel,  hat  Nischen  in  den  Mauern, 
und  manche  von  ihnen  sind  verschlossen,  weil  das  ^cherflein 
des  Armen  genügte,  um  hier  die  Knochen  seiner  Toten  auf- 
zuheben.    Die    meisten   freilich  starben   mit    garstigen    offenen 

j  Höhlen  auf  dieses  weite  Amphitheater  schnell  wechselnder 
Gräber.     Italia  povera! 

Die  Christengräber,   welche  in  die  Stufen  antiker  Tempel 
zu  Girgenti  eingeschnitten  sind,  und  die  weiten  unterirdischen 

I  Grabfelder  Siziliens  und  Italiens  erinnern  daran,  daß  auch  in 
frühen  Zeiten  dasselbe  Bestreben  wie  heute  herrschte,  die 
Leichen  so  zu  bergen,  daß  alle  Teile  möglichst  zusammen- 
blieben, und  zu  verhindern,  daß  nicht,  wie  bei  langem  Auf- 
enthalt im  Erdboden,  die  durch  Zersetzungsprozesse  gelösten 
Teile  unauffindbar  wegsickerten.  Im  Mittelalter  und  bis  in  die 
neuere  Zeit  hinein  war  es  üblich,  in  trockenen  Kellern  unter 
den  Fußböden  der  Kirchen  zu  bestatten.  Dort  wurden  die 
Särge  hingestellt  und  in  vielen  Fällen  mumifizierten  die 
Leichen  unter  dem  Einfluß  der  trockenen  Luft.  Es  sind  heute 
noch     solche    Grüfte    mit     vielen     Hunderten     wohlerhaltener 

I  Kadaver  zu  sehen.  In  den  am  besten  zur  Mumifizierung  ge- 
eigneten wurden  häufig   die  Leichen,  nachdem  sie  in  dem  be- 

!  treffenden  Raum  ausgedörrt  waren,  in  ihren  Kleidern  aufgestellt. 

I  Bekannt  sind  die  phantastischen,  Personen  der  verschiedensten 

1  Stände  bergenden  Leichenkeller  der  Cappucini  in  Palermo.  In 
der  von  dem  Habsburger  Karl  V.  gebauten  Feste  auf  Lipari,  dem 

1  Kastell  der  Hauptstadt  der  Insel ,  sind  unter  dem  Boden  der 
Kathedrale  in  einem  hellen  luftigen  Raum  die  Cannonici  der 
Kirche  seit  Jahrhunderten  aufgestellt,  zum  Teil  frei  an  den 
Wänden  stehend,    zum   Teil   in   ihren  Särgen   gebettet.      Alle 


392  H.  Braus 

waren  einst  wohl  mumifiziert,  zerfallen  und  vermodern  aber 
jetzt  allmählicli,  da  scMießlich.  Luft  und  Licht  die  Arbeit  von 
Insekten  u.  dgl.  nur  fördern.  Die  Bischöfe  haben  besondere 
Grüfte,  die  nicht  zu  öffnen  sind.  Was  hier  gelang  und  die 
Absicht  der  Hinterbliebenen  war,  die  Leichen  möglichst  zu  er- 
halten, war  nicht  immer  möglich,  namentlich  in  Orten,  wo  der 
Boden  tief  oder  sogar  im  Meeresniveau  liegt.  So  hört  man 
denn  oft  erzählen,  daß  jedesmal  bei  Leichenbegängnissen,  wenn 
die  Platte  von  der  Gruft  unter  der  Kirche  weggehoben  wurde, 
entsetzliche  Gerüche  den  Leidtragenden  entgegenströmten  und 
tagelang  das  Gotteshaus  füllten.  Die  Leichenträger  mußten 
Masken  anlegen,  welche  die  Nasenöffnungen  verschlossen,  um 
den  Sarg  in  den  Keller  hinabtragen  zu  können. 

Die  Bourbonen  suchten  in  Neapel,  als  die  Keller  der 
Kirchen  zur  Aufnahme  der  Leichen  nicht  mehr  ausreichten, 
dadurch  abzuhelfen,  daß  sie  eine  große  unterirdische  Gruft 
außerhalb  der  Stadt  erbauten.  Sie  ist  jetzt  noch  auf  dem 
großen  Camposanto  in  dessen  oberstem  Teil  erhalten.  Das 
moderne  Italien  verbot  dann  die  Aufhebung  der  Leichen  in 
Kirchen  völlig  und  machte  die  Erdbestattung  auf  Friedhöfen 
obligatorisch.  Wie  dabei  die  alten  Sitten  doch  wieder  auf- 
tauchten, indem  die  alle  Zersetzung  begünstigende  Wirkung  der 
Erde  durch  frühe  Ausgrabung  aufgehoben  oder  sogar  eine 
Mumifikationsmethode  durch  vulkanischen  Tuff  gefunden  oder 
schließlich  durch  Anwendung  von  Zinksärgen  doch  wieder  die 
Erdbestattung  vermieden  wurde,  haben  wir  oben  gesehen. 

Welche  enorme  Wichtigkeit  die  Art  der  Bestattung  in  den 
Anschauungen  und  im  Leben  des  unteritalischen  Volkes  hat, 
das  beweisen  die  sozialen  Einrichtungen,  welche  auch  dem 
wenig  Bemittelten  erlauben,  zu  Lebzeiten  sich  eine  entsprechende 
Behandlung  seiner  Leiche  und  derjenigen  seiner  nächsten  An- 
gehörigen zu  sichern.  Ich  meine  die  Confraternitä,  die  Brüder- 
schaft, welche  zumal  in  Neapel  noch  heute  eine  große  Be- 
deutung hat  und  welcher  außer  den  ganz  Armen  die   meisten 


Leichenbestattung  in  Unteritalien  393 

Bürger,  auch  viele  Reiche  angehören.  Fast  jede  der  Kapellen 
auf  dem  Camposanto  von  Neapel,  deren  Einrichtung  oben  Er- 
wähnung fand,  gehört  einer  Confraternitä  an,  deren  Mitglieder 
hier  bestattet  werden.  Die  eigentümlichen  Umzüge  beim  Tode 
eines  fratello  (daher  auch  Fratellanza  für  die  Institution  als 
Ganzes),  bei  welchen  die  übrigen  fratelli  vermummt  sind  und 
den  Prunksarg  tragen,  hat  man  oft  Gelegenheit  in  den  Straßen 
Neapels  und  auch  sonst  in  italischen  Städten  zu  sehen.  Die 
meisten  dieser  Brüderschaften  sind  sehr  alt.  Es  liegen  mir  die 
Statuten  und  Dokumente  der  Venerabile  Congregazione  sotto 
il  titolo  di  Maria  S.  S.  Assunta  in  Cielo  vor.  Sie  bestand  ur- 
sprünglich nur  aus  Fischern  und  deren  Angehörigen,  bis  durch 
das  Anwachsen  Neapels  zur  Großstadt  immer  mehr  das  Fischer- 
element aus  der  inneren  Stadt  verdrängt  wurde  oder  so  ver- 
armte, daß  die  Kongregation  einzugehen  drohte.  Deshalb 
wurden  unter  Murat  1813  die  Statuten  geändert,  so  daß  auch 
Angehörige  anderer  Gewerbe  Aufnahme  finden  konnten,  weil 
quelli  del  ceto  di  terra  lucrano  piu  di  quelli  di  mare.  Ge- 
gründet in  dem  inzwischen  aufgehobenen  Kloster  S.  Maria  in 
Portico  di  Chiaja  und  schon  1666  erwähnt,  weil  damals 
Alexander  YII.  einen  Ablaßbrief  der  Kongregation  gab,  wahr- 
scheinlich aber  schon  50  Jahre  oder  noch  länger  vorher  be- 
stehend, ist  sie  später  in  die  kleine  Kirche  Della  Vittoria  an 
j  der  Villa  nazionale  übergesiedelt,  welche  sie  jetzt  noch  für 
'  Kultuszwecke  in  Ordnung  zu  halten  hat  und  welche  ihr  als 
Versammlungsort  und  zu  Messen  dient. 

Der  wesentliche  Vorteil,  welchen  die  fratelli  dieser  Laien- 
kongregation durch  ihre  Beiträge  sich  und  ihren  Angehörigen 
[  erwerben,    ist   zweifellos    in    den  Augen    dieser  Leute    das  Be- 
\  gräbnis  und  die  Unterbringung   der  Toten  in   der  Kapelle   der 
Confraternitä.      Zu  den  Benefizien  gehörte  zwar   ursprünglich 
auch   unentgeltliche  Behandlung  durch   den  Arzt   der  Kongre- 
;  gation,  Unterstützung  bei  Krankheiten  durch  Geld  und  persön- 
\  liehe  Pflege;  damit  war  eine  ziemlich   komplizierte  Gliederung 


394  H.  Braus 

der  Fratellanza  in  eine  banca  mit  verschiedenen  Ämtern  und 
in  gewölinliclie  fratelli  verbunden.  Heute  besteben  wesentlich 
nur  noch  die  Vorschriften  über  die  Beerdigung,  und  zwar  be- 
ziehen sich  dieselben  einmal  auf  die  Art  des  Umzuges,  welchen 
die  Confraternitä  mit  dem  Prunksarg  (in  welchem  oft  der  Tote 
gar  nicht  vorhanden  ist,  weil  der  Friedhof  so  weit  außerhalb 
liegt,  daß  man  sich  mit  einem  Umzug  durch  die  Straßen  des 
betreffenden  Stadtteiles  begnügt)  auszuführen  hat,  über  be- 
sondere Klageweiber  (piangenti),  Palmen,  Wachskerzen  und 
die  zu  haltenden  Messen,  ferner  aber  auf  die  Bestattung  selbst. 
Ursprünglich  fand  dieselbe  in  der  Fossa  der  Kongregation,  d.h. 
im  Keller  der  Kirche  statt,  jetzt  in  der  besonderen  Kapelle 
auf  dem  Camposanto  in  der  geschilderten  Weise.  Dabei  geben 
alle  Strafvorschriften,  welche  die  Rechte  einschränken,  oder 
die  den  Novizen,  Frauen  und  entfernteren  Angehörigen 
stehenden  minderen  Rechte  oder  schließlich  die  den  im  Kranke 
haus  oder  auf  Reisen  Verstorbenen  gewidmeten  Vorschrifte 
deren  Rechte  auch  geschmälert  sind,  immer  noch  den  Genuß 
des  Anrechtes  auf  die  Fossa  d.  h.  die  Kapelle,  auch  wenn  alle 
anderen  Rechte  verloren  sind.  Hier  tritt  der  eigentlichste 
Charakter  der  Fratellanza  klar  zutage.  Auch  geben  die  Leute 
im  Gespräch  die  Bewährung  der  Leiche  vor  Verwesung  in  der 
Erde  als  Beweggrund  ihres  Beitritts  zu  derselben  an. 

Wie  stark  die  Beweggründe  sind,  geht  aus  dem  Geldopfer 
hervor,  welches  diese  Form  der  Bestattung  erfordert,  und 
welches  die  Kongregation  ihren  Mitgliedern  erleichtert,  indem  sie 
monatliche  Beiträge  erhebt  und  dann  aus  dem  Gesamtvermögen 
die  meisten  Unkosten  bestreitet.  Es  ist  also  eine  ganz  alte 
Form  von  Versicherungsgesellschaft,  welche  die  Confraternitä 
vorstellt.  Der  Beitrag  ist  z.  B.  für  die  durchschnittlich  wenig 
bemittelten  Mitglieder  der  Congregazione  di  S.  Maria  in  Cielo 
sehr  hoch.  Er  beträgt  1.10  Lire  pro  Monat  (früher  12  grana) 
und  wird  vom  19.  Jahr  bis  zum  Tode  gezahlt.  Erfolgt  der 
Eintritt   später,    so    muß    eine    dem    Alter    entsprechende  Ein- 


aer 
:en^ 


1  Leichenbestattung  in  Unteritalien  395 

trittsabgabe    entrichtet    werden.     600    bis    700    Franken    und 
mehr    zahlen  diese  Leute,    deren   Verdienst    kärglich    ist  und 

i  oft  für  die  meist  große  Familie  knapp  ausreicht,  für  sich  und 
die  Angehörigen  aus  Pietät  für  die  Toten.  Dazu  kommt  noch 
der  Betrag  für  die  Nische  und  deren  Ausstattung,  welcher 
über  200  Lire  betragen  soll.  Bei  anderen  Kongregationen  sind 
die  Beiträge  viel  höher,  5  Lire  monatlich  und  mehr.  Das 
Benefiz  genießen  außer  dem  Familienvater  selbst  dessen  Frau, 
die  Kinder  (Mädchen  bis  zur  Verheiratung  und  Söhne  bis  zum 

j  18.  Jahr),  die  angenommenen  Kinder  (figli  di  Dio)  und  die 
Mutter  des  Mannes,  falls  sie  als  Witwe  stirbt. 

Der  moderne  Staat,  welcher  die  Beerdigung  aus  hygienischen 
Gründen  obligatorisch  gemacht  hat,  konnte  bisher  die  Ge- 
bräuche der  Bestattung  wohl  umformen,  aber  ihnen  ihren 
eigentlichen  Charakter  nicht  nehmen.  Soweit  die  erheblichen 
Kosten  vom  einzelnen  direkt  oder  durch  den  Beitritt  zur  Con- 
fraternitä  bestritten  werden  können,  wird  Sorge  getragen,  daß 
die  Verwesung  und  Auflösung  der  Leiche  in  der  Erde  nicht 
eintreten  kann,  sondern  daß  eine  möglichst  vollständige  Kon- 
servierung durch  Beerdigung  in  geeigneter  Erde  und  frühe 
Exhumierung  oder  durch  letztere  allein  ^erzielt  wird.  Die  Be- 
stattung im  Zinksarg  ist  ein  Notbehelf  an  Orten,  wo  die  Erde 
zu  schnell  eine  Zersetzung  herbeiführen  würde.  In  der  Ein- 
richtung der  Posti  distinti,  der  gekauften  Grabplätze,  in 
welchen  die  Leiche  ewig  verbleibt,  ist  jedoch  die  moderne  Be- 
erdigung, wie  sie  bei  uns  üblich  ist,  eingedrungen  und  wegen 
der  an  vielen  Orten  geringeren  Kosten  im  Vordringen  begriffen. 
Daß  in  großen  Städten  wie  Neapel  auch  die  Leichen  der 
Ärmsten  schon  nach  kurzer  Zeit  dem  Grabe  entrissen  und  in 
Ossuarien  vereinigt  werden,  ist  wohl  nichts  anderes  als  eine 
Folge  des  Platzmangels.  Es  fehlt  aber  in  den  Augen  des 
Volkes,  dessen  wohlhabende  Klassen  aus  Pietät  früh  exhumieren, 
diesem  Vorgang  die  Vorstellung  des  Grausigen,  welche  er  für 
uns  hat.     Ob  mit  Recht? 


396  H.  Braus    Leichenbestattung  in  Unteritalien 

Unsere  Kultur  versucht  an  die  Stelle  der  Beerdigung 
die  Leichenverbrennung  zu  setzen.  Wie  die  Guillotine  die 
Hinrichtung  maschinell  gemacht  hat,  so  gibt  der  Siemenssche 
Ofen  der  Bestattung  das  Gepräge  unserer  technisch  hoch- 
entwickelten Zeit.  Zum  mindesten  sollten  diejenigen,  welche 
in  der  partiellen  Vernichtung  des  menschlichen  Körpers 
durch  das  Feuer  und  der  üblichen  Sammlung  und  Zerkleinerung 
der  Reste  durch  das  Personal  der  Feuerungsanlage  eine  be- 
sonders pietätvolle  Art  der  Bestattung  erblicken,  die  Gefühle 
des  Italieners  verstehen,  welcher  in  seiner  Weise  die  ihm  teuren 
Reste  den  desorganisierenden  Einflüssen  der  Erde  zu  entziehen 
und  sie  durch  künstliche  Mittel  als  körperliches  Objekt  in 
Nischen  zu  bewahren  sucht.  Wir  alle  fürchten  die  Erde  und 
machen  uns  schreckliche  Vorstellungen  über  die  Art  der  Zer- 
setzung des  Organischen  in  ihr,  welche  das  Volk  in  seiner 
Art  personifiziert.  Nicht  jeder  hat  den  grimmigen  Humor 
Luthers,  der  kurz  vor  seinem  Tode  schrieb :  „Wenn  ich  wieder 
heimkomme  nach  Wittenberg,  will  ich  mich  in  den  Sarg  legen 
und  den  Maden  einen  feisten  Doktor  zu  essen  geben." 


iff 


Erklärung  der  Abbildung  auf  Taf.  III,  oben 
Teil  des  Camposanto  in  Milazzo 

Auf  der  oberen  Terrasse  befinden  sich  mehrere  Leichenkapell 
von  Bruderschaften  und  Privaten.  Der  Raum  zwischen  ihnen  ist  von 
unterirdischen  Gelassen  eingenommen,  welche  zu  ebener  Erde  mit  großen 
Steinplatten  bedeckt  sind. 

Die  Futtermauer  der  Terrassen  und  die  Schranken,  welche 
von  ihr  aus  in  die  nächst  tiefere  Terrasse  vorspringen  (eine  der  letzteren 
ist  im  Vordergrund  des  Bildes  in  der  Nähe  zu  sehen),  sind  vollständig 
überdeckt  mit  Grabnischen  (nicchi).  Einige  im  Vordergrund  sind  noch 
leer.  Die  am  meisten  links  in  der  unteren  Reihe  der  Mauer  befindliche 
enthält  einen  Zinksarg.  Sie  ist  mit  Ziegelsteinen  frisch  zugemauert. 
Die  noch  unbehauene  Marmorplatte  für  den  definitiven  Abschluß  steht 
am  Boden  in  der  Mitte  der  Mauer.  Die  vier  Nischen  rechts  und  alle 
in  der  Futtermauer  tragen  Marmorplatten,  welche  den  Ziegelabschluß 
verdecken. 

Die  Gebüsche  (Rosenhecken)  hinter  der  Schranke  im  Vordergrund 
umfriedigen  große  Felder,  welche  also  die  untere  Terrasse  bedecken  (auf 
den  im  Bilde  nicht  sichtbaren,  nach  rechts  folgenden  tieferen  Terrasseu 
finden  sich  noch  mehr  solcher  Felder).  In  ihnen  liegen  in  Reihen  die 
Gratisgräber  (Wechselgräber).  Man  sieht  im  Hintergrund  des  Bildes  einige 
Monumente:   Posti  distinti  (Dauergräber). 


Orthia' 

Von  Anton  Thomsen  in  Kopenhagen 

Die  bekannte  Artemis  Orthia  in  Sparta  hieß  ursprünglich 
nur  Orthia,  wie  wir  es  bei  Alkman  und  in  einigen  Inschriften 
finden,  und  dies  ist  also  noch  eine  Bestätigung  der  genialen 
Theorie,  die  Hermann  Usener  in  „Götternamen"  aufgestellt 
hat.  Über  ihren  Kultus  kennen  wir  folgendes:  bei  Alkman 
(Fr.  23,  61  Bergk^)  bringen  die  Chorjungfrauen  der  Orthia  ein 
OAPOU  dar;  dies  Wort  haben  einige  als  cpäQog,  Gewand,  ge- 
deutet und  mit  den  Kleidern  der  verstorbenen  Wöchnerinnen, 
die  der  Iphigeneia  geweiht  wurden,  zusammengestellt;  die 
Deutung  wäre  gestützt  durch  die  vermutete  Verwandtschaft 
Orthias  mit  Iphigeneia,  welche  aber  nur  ein  Hirngespinst  von 
Tansanias,  d,  h.  der  rationalisierenden  Mythenforschung  ist.^ 
Mir  gefällt   besser   die  Interpretation  Sosiphanes'  im  Scholion, 

^  Als   ich  1902    eine  Untersuchung  Orthia   in   Studien  zur  Sprach- 
und  Altertumsforschung   der    philologisch -historischen    Gesellschaft    zu 
Kopenhagen   herausgab,    war    mein    Hauptzweck,    die    traditionelle  Er- 
klärung der  äLa^cc6tLy(o6Ls   als  Ablösung   eines   früheren  Menschenopfers 
zu  widerlegen,   indem   ich   teils   die  Unzulänglichkeit  dieser  Erklärung 
zu  erweisen,   teils    einer  neuen  Deutung   den  Weg   zu  eröffnen  suchte. 
Erst   nachdem   diese   Abhandlung    schon    lange    gedruckt  war,    bin  ich 
;  darauf  aufmerksam  geworden,  daß  eine  der  meinigen  sehr  ähnliche  Er- 
I  klärung  von  J.  Gr.  Frazer  in  seinem  Pausanias-Kommentar  (1898)  schon 
aufgestellt  ist.     Da   seine  Deutung  in  Deutschland  bisher  gar  nicht  be- 
rücksichtigt  worden   ist,    auch   in    der   Pausaniasausgabe   Hitzigs    und 
I  Blümners  nicht,  die  doch  in  der  Vorrede  des  zweiten  Halbbandes  (1899) 
j  des  Kommentars  Frazers  Erwähnung  tun  und  auch  an  mehreren  Stellen 
!  Frazer  anführen,  noch  in  dem  späteren  Artikel  Orthia  in  Roschers  Lexikon 
'  (von  Höfer),  ist  es  mir  sehr  darum  zu  tun,  auf  sie  aufmerksam  zu  machen. 
^  Ganz   irrig   Ramsay   Journ.  Hellen.  Stud.  III  (1882)  S.  55,    dem 
Frazer  zu  Pausan.  II,  7,  6  folgt. 


398  Anton  Thomsen 

der  es  als  q)ccQogj  Pflug,  versteht^,  welche  aucli  von  den  Sicheln 
gestützt  wird,  die  der  Siegespreis  ihres  Agon  waren  und  von 
den  siegenden  Knaben  ihr  geweiht  wurden.^  Sie  wurde  also 
durch  Jungfrauenchöre  und  Agone  gefeiert  und  zudem  mit  einer 
Pompe  von  Lydern^,  die  nach  Diels^  mit  den  gepeitschten 
Ephehen  identisch  waren.  Diese  dia^aötCycoöig  ist  ja  der  be- 
kannteste Zug  des  Kultus.  Die  Quellen  fließen  nur  spärlich^; 
Hauptstelle  ist  Pausanias  III,  16,  auf  die  ich  später  zurück- 
kommen werde,  die  anderen  Berichte  sind  kürzer  als  der  des 
Pausanias  und  von  der  Deutung  des  betreffenden  Verfassers 
beeinflußt;  fest  steht,  daß  die  Epheben^  jedes  Jahr  vor  dem 
Altar  der  Orthia  gepeitscht  wurden. 

Die  von  den  Alten  aufgestellten  Deutungen  sind  folgende: 
entweder  wird  darauf  Gewicht  gelegt,  daß  der  Göttin  Blut 
geopfert  wurde  und  die  Epheben  gegeißelt  wurden,  um  den 
Altar  mit  Blut  zu  benetzen  (Pausan.  III,  16,  10,  Philostrat.  7ita 
Apoll.  VI,  20),  oder  dies  wird  vom  früheren  Menschenopfer  ab- 
geleitet (Pausanias,  Suidas  v.  Lykurgos,  Hygin.  261).  Plutarch, 
Aristides  17,  läßt  die  Sitte  eine  Nachahmung  einer  Episode  in 
der  Schlacht  bei  Platää  sein;  sie  ist  aber  selbstverständlich 
viel  älter,  und  diese  Geschichte  kann  den  Ursprung  durchaus 
nicht  erklären.  Die  Deutung,  die  wir  am  meisten  finden 
([Plut.]  Inst.  Lac.  S.  239  C;  Lukian,  Anacharsis  38 — 39,  weniger 
klar  Cic.  Tusc.  II,  20,  TertuU.  ad  martyr.  IV'),  sieht  in  der 
Kultussitte  einen  Wettkampf  und  eine  Prüfung  der  Abhärtung, 

^  So  auch  Bergk  und  Diels  Hermes  XXXI,  359. 

2  Vgl.  Th.  Preger  Musische  Knabenwettkämpfe  in  Sparta,  Athen. 
Mitt.  1897,  S.  334 f. 

«  Plutarch  Theseus  31,  Aristides  17.         *  Hermes  XXXI,  361. 

^  Am  vollständigsten  gesammelt  bei  C.  Trieber  Quaestiones  Laconicae 
(Göttingen  1866). 

^  Die  Epheben  nennen  die  meisten  Quellen,  nur  [Plutarch]  Inst. 
Lac,  S.  239C  und  Cicero  Tusc.  11,14  Knaben,  was  gewiß  ungenau  ist; 
so  Schneider;  irrig  Haase  zu  Xen.  Rep.  Lac.  II,  9. 

^  Die  heillos  korrupte  Stelle  Xen.  Rep.  Lac.  II,  9  gehört  wohl  hierher. 
Vgl.  S.  405. 


Orthia  399 

kurz  ein  Examen  der  jungen  Menschen,  die  ins  Leben  treten 
sollten.  Es  ist  einleuchtend,  daß  dieses  pädagogische  Motiv 
nicht  das  ursprüngliche  war;  es  ist  eine  rationalistisch- 
moralische Erläuterung  derart,  wie  wir  sie  immer  wieder  treffen, 
wo  der  alte  Kultus  seinen  ursprünglichen  Sinn  eingebüßt  hat 
und  man  im  Begriffe  steht,  die  eigentliche  Religion  zu  ver- 
lassen, um  auf  eigener  Hand  sich  hinauszuwagen.  Obwohl 
aber  dieses  Motiv  als  das  ursprüngliche  nicht  gelten  kann,  ist 
doch  später  gewiß  eine  Motivverschiebung  eingetreten,  und  ein 
Nebenphänomen  ist  zum  entscheidenden  Hauptmoment  gemacht 
worden;  und  darauf  deutet  wohl  die  Verbreitung  dieser  Er- 
klärung; von  besonderem  Interesse  ist  hier  Philostratos,  nach 
welchem  die  diaiiaötC'ycoßig  eine  Ehre  wäre,  die  der  skythischen 
Artemis  dem  Orakel  gemäß  erzeigt  würde;  und  auf  den  Ein- 
wand, daß  es  nicht  weise  Ratgeber  wären,  läßt  er  Apollonios 
entgegnen:  „Nicht  zum  Peitschen,  sondern  den  Altar  mit 
Menschenblut  zu  benetzen,  rieten  sie  ihnen  —  — ;  die  Klug- 
heit der  Lakedämonier  hat  aber,  was  bei  diesem  Opfer  unver- 
meidlich war,  es  zu  einem  Wettkampf  des  Aushaltens  gemacht, 
wobei  niemand  stirbt  und  die  Göttin  doch  das  Opfer  ihres 
Blutes  erhält."  Also  die  Prüfung  der  Abhärtung  ist  später 
und  menschlicher  Erfindung  entsprungen,  das  blutige  Opfer 
ist  das  ursprüngliche  und  von  den  Göttern  gestiftet.  Dieselbe 
Auffassung  tritt  bei  Suidas  und  Pausanias  hervor;  Suidas  sagt, 
daß  Lykurg  das  Peitschen  aller  Epheben  zum  Ersätze  des 
früheren  Opfers  eines  derselben  eingeführt  habe. 

Es  wäre  dann  wahrscheinlich  dieses  festzustellen:  der 
j  Kultus  der  Orthia  stammt  von  ursprünglichen  blutigen 
! Menschenopfern  her;  die  Vorstellung,  daß  die  Göttin  Blut 
I forderte,  hat  sich  als  die  entscheidende  erhalten;  im  Laufe  der 
iZeit  aber  sind  die  Menschenopfer  Geißelungen  geworden,  durch 
welche  der  Altar  mit  Blut  benetzt  wurde,  ohne  daß  der  Kultus 
lunter  normalen  Bedingungen  den  Tod  herbeizuführen  brauchte, 
wenn  es  auch  dann  und  wann  (Plutarch,  Lukian)  geschah;  dies 


400  Anton  Thomsen 

wird  aber  ausdrücklich  als  Ausnahme  bezeichnet,  die  der  Wett- 
eifer der  Epheben  verschuldete,  also  nachdem  die  ethische 
Seite  des  Kultus  hervorgetreten  war.  Dieser  Auffassung  der 
spätantiken  Schriftsteller  schließen  sich,  soviel  mir  bekannt 
ist,  alle  Forscher^  der  Neuzeit  an  ohne  besondere  Ab- 
weichungen, nur  Frazer  bildet  eine  Ausnahme.  Es  ist  hier 
zunächst  die  Aufgabe,  zu  zeigen,  daß  diese  Erklärung  un- 
möglich ist  oder  jedenfalls  mit  solchen  Schwierigkeiten  ver- 
bunden, daß  sie  sich  kaum  behaupten  läßt. 

Um  diese  Anstöße  zu  verstehen,  muß  man  die  griechischen 
Menschenopfer  ins  Auge  fassen.  Sie  sind  Ausnahmen;  zwar 
in  außerordentlichen  Fällen  mußte  es  dem  religiösen  Bewußt- 
sein naheliegen,  nach  außerordentlichen  Maßregeln  zu  greifen, 
und  dann  sucht  man  wieder  nach  alten  kräftigen  Mitteln, 
denn  in  allen  Religionen  ist  das  alte  immer  das  stärkste. 
Periodische  Menschenopfer  sind  aber  sehr  selten;  mit  solchen 
muß  man  die  Kultussitte  der  Orthia  zusammenstellen,  denn 
wir  haben  keinen  Grund,  anzunehmen,  daß  diese  alte  Sitte  den 
sehr  seltenen  Weg  vom  gelegentlichen  zum  periodischen  Opfer 
durchgemacht  hätte;  die  ungereimten  Veranlassungen,  die 
Plutarch  (Arist.  17)  und  Pausanias  (Orakel!)  anführen,  können 
wir  ruhig  unbeachtet  lassen.  Bei  den  meisten  periodischen 
Menschenopfern  (Lykaios,  Kronos  auf  Rhodos,  Thargelien  usw.) 
wurden  nur  Verbrecher  geopfert,  was  schon  Ersatz  ist^;  aber 
der  gewöhnliche  Ersatz  ist  irgendein  Tier,  das  dann  oft,  um 
den  Übergang  leichter  zu  machen,  als  Mensch  angekleidet  oder 
behandelt  wird  (Buphonia,  das  Kalb  auf  Tenedos) ;  oder  es  wird 


^  Z.  B.  K.  0.  Müller,  Welcker,  Schneider  zu  Xenophon,  Preller, 
Schoemann,  Bernays  {Theophrast  über  Frömmigkeit),  Ernst  Curtius,  Stengel, 
Wide;  in  Uoacheis  Lexikon  a.  Artemis  {^chieihei),  Iphigeneia  (StoU),  Orthia 
(Höfer). 

*  Cäsar  B.  G.  VI,  20 :  supplicia  eorum  qui  in  furto  aut  latrocinio 
aut  aliqua  nota  sunt  comprehensi,  gratiora  diis  immortalibus  esse 
arbitrantur,  sed  cum  eius  generis  copia  deficit  etiam  ad  innocentium 
supplicia  descendunt.     Hier  ist  das  Verhältnis  auf  den  Kopf  gestellt. 


Orthia  401 

bei  der  Zeremonie  dem  Opfer  ein  Ausweg  offen  gehalten,  der 
kaum  ursprünglich  ist,  so  daß  das  Menschenopfer  nur  durch 
einen  Unglücksfall  oder  unter  besonderen  Umständen  statt- 
findet (Agrionia  zu  Orchomenos,  Leukas),  oder  der  Mensch 
wird  durch  eine  menschenähnliche  Puppe  ersetzt  (Argeia  in 
Rom,  auch  in  europäischer  Bauernsitte).  Der  Ersatz  ist  also 
immer  etwas  geringeren  Wertes,  statt  mehrerer  Menschen  nur 
wenige,  statt  ehrlicher  Menschen  Verbrecher,  statt  Menschen 
Tiere,  ja  man  begnügt  sich  sogar  mit  Puppen  und  leeren 
Zeremonien.  Die  entgegengesetzte  Entwickelung  sieht  man 
nie  bei  periodischen  Opfern,  wohl  aber  bei  gelegentlichen. 

Zu  dieser  Entwickelung  aber  bildet  scheinbar  der  Kultus 
der  Orthia  einen  merkwürdigen  Gegensatz.  Der  Ersatz  hat 
nur  einen  Sinn,  wenn  das  Peitschen  der  Epheben  das  Opfer 
derselben  ablöste,  die  Sitte  wäre  dann .  gemildert  worden,  wenn 
auch  die  Göttin  dann  und  wann  ernstliche  Opfer  forderte. 
Diese  Auffassung  ist  aber  a  priori  sinnlos,  denn  kein  Volk 
ist  so  dumm  gewesen  und  kein  Volk  hätte  viele  Jahre  existieren 
können,  wenn  es  den  Göttern  das  Beste,  die  jungen  Männer, 
des  Staates  zukünftigen  Schutz,  hingegeben  hätte.  Hier  liegt 
das  entscheidende  Argument  gegen  die  Theorie  des  Menschen- 
opfers. Es  ließe  sich  aber  dagegen  einwenden,  daß  der  Ersatz 
nicht  notwendigerweise  auf  ein  solches  Opfer  zurückzugehen 
brauchte,  es  wäre  denkbar,  daß  ein  einzelner  Mensch  jedes 
Jahr  geopfert  und  dann  das  Peitschen  aller  Epheben  als 
Ersatz  eingeführt  worden  wäre,  wie  auch  Pausanias  und  Suidas 
ausdrücklich  sagen.  Dies  ist  aber  unwahrscheinlich,  denn  bei 
dergleichen  Ablösungen  gibt  es  immer  ein  Zwischenglied;  das 
religiöse  Bewußtsein  wird  schwerlich  den  Sprung  vom  einzelnen 
Manne  oder  vom  einzelnen  Epheben  zum  feierlichen  Durch- 
;  peitschen  aller  Epheben  tun.  Schon  bei  dem  Übergang  vom 
Menschen  zum  Tier  gibt  es  Schwierigkeiten,  die  im  Alten 
i  Testamente  Jahve  persönlich  bei  der  Opferung  Isaaks  be- 
i  seitigen    mußte,    und     doch    galt    der    Unterschied    zwischen 


4Q2  Anton  Thomsen 

Menschen  und  Tieren  dem  primitiven  Menschen  viel  v^eniger 
als  uns.  Das  Opfer  des  einzelnen  aber  und  das  Peitschen 
aller  sind  ganz  inkommensurable  Dinge;  es  läge  am  nächsten, 
nach  Tieren  sich  umzusehen;  die  Einwendung  des  Thespesion  bei 
Philostratos:  dieses  wäre  eine  seltsame  Behandlungsweise  von  freien 
Griechen,  ist  sehr  berechtigt  und  wird  in  der  Religionsgeschichte 
durch  Hinweisung  auf  pädagogische  Motive  nicht  entkräftet. 

Hiermit  ist  aber  die  Sache  nicht  erledigt;  das  Zwischen- 
glied wäre  ja  im  Blute  vorhanden;  die  Göttin  fordere  Blut, 
und  anstatt  daß  einer  all  das  seinige  gäbe,  müßten  alle 
Epheben  ihren  Beitrag  leisten.  Auch  mit  diesem  Zwischen- 
glied, das  Tansanias  und  Philostratos  so  stark  hervorheben, 
steht  die  Opferablösung  als  etwas  Besonderes  da;  das  Ganze 
könnte  viel  leichter  und  dem  religiösen  Bewußtsein  ansprechender 
erreicht  werden  als  durch  diese  tagelange  Geißelung;  der 
Sprung  zwischen  dem  ursprünglichen  Opfer  und  der  Ablösung 
ist  ungeachtet  des  Blutes  zu  groß.  Daß  das  Blut  an  und  für 
sich  ein  vorzügliches  Zwischenglied  sein  konnte,  steht  fest; 
Euripides,  Iph.  Taur.  1459,  —  rfjg  öfig  öcpayfig  cctcovv  btci- 
6%BtG)  ^Ccpog  —  ^^Qll  ^Qog  ccvdQog  al^d  t'  ^^avihco  —  06 Lag 
hart,  d'sd  -9''  o:tcog  ti^äg  exji.  Dies  ist  ein  deutliches  Bei- 
spiel der  Ablösung  durch  das  Blut;  der  Weg  aber,  der  von 
dem  einen  zu  den  vielen  führt,  bleibt  noch  unerklärt,  wozu 
noch  eine  wichtige  Erwägung  kommt:  warum  dieser  ungeheure 
Umweg?  warum  das  Peitschen?  Durch  einen  Schnitt  in  die 
Haut  konnte  ja  der  Altar  ebensogut  mit  Blut  benetzt  werden, 
warum  dann  diese  beschwerliche  Zeremonie,  die  ja  doch  den 
Delinquenten  nicht  gerade  angenehm  sein  konnte?  Die 
pädagogisch -rationalistische  Erklärung  ist  selbstverständlich 
eine  spätere,  und  niemand  wird  behaupten,  daß  dadurch  das 
Zwischenglied  gefunden  wäre.  Dann  steht  aber  der  Über- 
gang von  einem  Manne  zu  allen  den  jungen  und  der  vom 
Blutopfer  zum  Peitschen  als  psychologisch  ganz  unerklärlich 
und  ohne  Seitenstück  in  der  Religionsgeschichte  da. 


Orthia  403 

Es  stellt  sich  nun  die  Frage  ein,  ob  wir  sonst  im  grie- 
chischen Kultus  Geißelungen  dieser  Art  antreffen.^  Schon 
Pausanias  (VIII,  23,  1)  hat  folgende  Parallele  herangezogen: 
ßsäv  de  IsQa  avtod'L  {^v  ^AXsa)  —  Ttal  /liovvöov  vabg  xal 
ciyaXpicc.  rovt<p  ütccQa  stog  S-aiBQSia  eoQxriv  ayovöi,  xal  iv 
/JLOVvöov  tfl  ioQtfi  Ttaxä  iidvtev[ia  ix  zisXq)G)v  iiaötiyovvtai 
yvvalxsg,  xad'ä  xal  ol  UTtaQt iatmv  6(pr}ßoi  Tta^ä  xfl  'Og^Ca. 
Diese  als  ursprüngliches  Menschenopfer  zu  fassen,  scheitert  an 
demselben  Einwand  wie  bei  der  Orthia;  daß  mehrmals  einzeLue 
Menschen  dem  Dionysos  geopfert  wurden,  kann  ja  nicht  eine 
allgemeine  Stäupung  erklären.  Bei  Dionysos  konnte  man  sie 
aber  auch  als  Sakrament  betrachten,  den  anderen  sakramen- 
talen Formen  des  Dionysosdienstes  ähnlich.  Während  das 
Opfer  den  Weg  vom  Menschen  zum  Gott  bezeichnet,  haben 
wir  im  Sakrament  den  Weg  vom  Gott  zum  Menschen,  und 
sein  Kern  ist  die  unmittelbare  Übertragung  der  göttlichen 
Kraft.  Im  Dionysoskultus  finden  wir  öfter,  wie  Rohde^  ge- 
zeigt hat,  diese  Übertragung  durch  das  Blut,  ähnlicherweise 
wie  im  alten  arabischen  Kamelopfer  ^  und  bei  der  Hostie. 
Geht  es  auch  später  in  Symbolik  über,  die  ursprüngliche  Idee 
bleibt  doch  immer  dieselbe:  der  Wunsch,  den  Gott  in  sich 
aufzunehmen  und  seiner  Kraft  durch  direkte  körperliche  Über- 
tragung teilhaft  zu  werden.  Robertson  Smith  hat  auch  im 
Kultus  der  Orthia  den  sakramentalen  Charakter  angedeutet*, 
er  hebt  hervor,  daß  der  Bund  des  Menschen  mit  Gott  durch 
das  Blut  geknüpft  wird.  Der  Begriff  des  Sakraments  muß 
dann    ausgedehnt    werden,    um    überhaupt    die    unmittelbare 


^  Anf  Hesych  vv.  FviLVOTtaidia,  JrilLaTibg  voiios,  Moqottov,  xvnui, 
tvn&vrsg  und  Pausan.  VIII,  15,  3  (vgl.  Mannhardt  Mythol.  Forsch.  S.  121) 
verweise  ich  nur,  weil  diese  Stellen  teils  zu  fragmentarisch,  teils  zu 
unsicher  sind.  ^  Psyche^  11  S.  14f. 

'  Robertson  Smith  Die  Beligion  der  Semiten  (1899)  S.  262  (englisch 
p.  338). 

*  a.  a.  0.  S.  247  (englisch  p.  322).  Vgl.  Farneil  Cults  of  the  greek 
States  (1896)  IT,  439. 


1 

k 


404  Anton  Thomsen 

körperliclie  Verbindung  zwisclien  Gott  und  Mensclien  sowohl 
in  den  Blutopfern  als  auch  in  den  Haaropfern  zu  bezeichnen. 
Somit  wäre  die  Verknüpfung  der  diaiiaörCycoöig  mit  der 
Weibergeißelung  in  Alea  abgetan,  und  von  dieser  letzteren 
aus  durch  die  anderen  dionysischen  Blutsakramente  könnte 
eine  abgerundete  Theorie  aufgestellt  werden.  In  diesen 
Sakramenten  ist  es  aber  gerade  das  Blut  Gottes,  das 
der  Mensch  aufnimmt,  und  nicht  umgekehrt,  und  zudem 
steht  stets  das  Peitschen  als  Mittel,  Blut  zu  erlangen,  ganz 
irrationell  da. 

Diese  mystischen  Sakramente  gehören  ja   zum  Orgiasmus, 
und    man   könnte,    wie  K.  0.  Müller^,    die    dia^aötfycjöig   als 
Ausschlag  davon  betrachten.     Dies    ist   aber  keine    Erklärung, 
weil  der  orgiastische  Kultus   viele   verschiedene  Elemente   um- 
faßt und  der  Orgiasmus  als  Begriff  nicht  zur   Erklärung   aller 
möglichen    irrationellen    und    scheinbar    widersinnigen    Dinge 
verwendet  werden  kann.    Vom  phallischen  Dienst  des  Dionysos 
und    der    vermuteten    gleichartigen    Bedeutung    des    Namens 
Orthia   ausgehend,    könnte    man    unsere    Sitte    in    Sparta 
auch    die    in   Alea  als  sexual -pathologische   Erscheinungen  q\ 
klären,  späteren  christlichen,  wie  den  Flagellanten,   der  MarJ 
Magdalena    von    Pazzi    und    der    Elisabeth    von    Genton    ei 
sprechend;    diese    Erklärung    muß    aber    entschieden    zurücl 
gewiesen    werden;    alte    religiöse    Kultussitten,    wie    die    d( 
Orthia,      sind     nicht     vorübergehenden     religiös -hysterisch« 
Perversitäten  entsprungen.^ 

Viel  ansprechender  als  alle  bisher  genannten  Deutung 
versuche  scheint  mir  der  von  J.  G.  Frazer  in  seinem  Pausanij 
Kommentar  III  S.  341f.  aufgestellte:  Before  Coming  forward 
be  scourged,  the  lads  had  to  go  through  a  course  of  bodily 
training  (Hesych  s.  v.  cpova^iQ^).  Although  tradition  averred 
that  the  scourging  of  the  youths  was  instituted  as  a  Substitute 


^  Dorier  I,  386.  ^  Ygl.  Mannhardt  Mythol.  Forsch.  S.  147. 


Orthia  405 

for  human  sacrifice^,  analogy  suggests  that  it  was  simply  one 
of  those  cruel  ordeals  whicli  among  savage  tribes  youths  have 
to  undergo  on  attaining  to  manhood.  For  example  among 
the  Becliuanas  no  lad  may  marry  tili  he  has  gone  through 
the  initiatory  ceremony  called  boguera.  The  ceremony  is  per- 
formed  upon  a  number  of  lads  together.  They  live  for  six 
or  eight  months  in  huts  erected  in  a  secluded  spot.  They 
are  scourged  frequently  and  mercilessly,  and  they  "make  it  a 
point  of  honour  to  affect  absolute  impassibility,  and  the  greater 
number  display  a  stoicism  which  would  have  been  admired  at 
Lacedaemon,  at  the  feasts  of  Diana  Orthia".  Blood  spouts  from 
their  backs  under  the  Switches,  and  the  marks  remain  deep  and 
broad  for  life.  In  other  respects  the  training  of  these  young 
blacks  resembles  that  of  the  Spartan  youths.  During  the  boguera 
they  are  allowed  no  flesh  meat  except  what  they  can  steal;  if 
they  are  caught  stealing  "they  are  beaten  unmercifully  for  their 
clumsiness,  while  a  successful  foray  is  regarded  as  deserving  of 
all  praise".  They  are  trained  to  endure  cold  and  hunger  and 
are  daily  practised  in  the  use  of  arms.  With  all  this  may  be 
compared  the  training  of  the  Spartan  youths  as  described  by 

Xenophon  (Rep.  Lac.  2 — 4)  and  Plutarch  (Lycurgus  16  sqq.) . 

The  tortures  undergone  at  initiation  by  the  young  men  of  the 
Mandan  Indians  are  familiär  from  the  descriptions  and  sketches 
of  Catlin:  Letters  and  Notes  etc.  on  the  North  American 
Indians  I  p.  157  sqq.^  Probably  as  I  have  suggested  elsewhere 
(The  golden  Bough  II  p.  233  sq.)  these  ordeals  were  originally 
instituted  not  as  tests  of  endurance  but  as  religious  purifications. 
Among   primitive   peoples  beating  is   certainly  practised    as    a 

^  Frazer  schreckt  ja  übrigens  sonst  nicht  vor  der  Annahme  der- 
artiger Menschenopfer  zurück:  siehe  z.B.  seine  Behandlung  des  Passah, 
The  golden  Bough  II,  S.  48f. 

^  Der  Kuriosität  halber  mache  ich  auf  Grote  History  of  Greece 
(New  Ed.  1862)  II  S.  147  aufmerksam,  der  auch  Catlin  zur  Vergleichung 
mit  der  spartanischen  Sitte  heranzieht,  aber  die  pädagogischen  Motive 
betont  und  „religious  feelings"  in  dem  Hintergrund  stehen  läßt. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  27 


406  Anton  Thomsen 

healing  and  purifying  ceremony,  without  any  idea  of  punishing 
or  testing  the  endurance  of  the  sufferer.  See  The  golden 
Bough  n  p.  149  sq.,  187,  213—217,  233  note  3.^ 

Daß  Frazers  Parallele^  uns  den  rechten  Weg  zeigt,  bin 
ich  überzeugt,  aber  „initiatory  rites"  umfassen  viele  ganz 
heterogene  Sitten^,  und  eine  eingehendere  Erklärung  ist  mög- 
lich, wenn  man  die  Natur  der  Göttin,  mit  welcher  der  Ritus 
verknüpft  war,  schärfer  ins  Auge  faßt.  Hier  müssen  wir  uns 
zu  Pausanias  wenden;  er  hat  von  der  Herkunft  des  Kultbildes 
zwei  sich  widersprechende  Berichte.  Dem  ersten  nach  wäre  es 
mit  dem  Bild  der  taurischen  Artemis  identisch,  das  Iphigeneia 
und  Orestes  aus  Tauris  stahlen.  Um  diese  späte  Kombination 
zu  widerlegen,  brauchen  wir  kein  Wort  zu  verlieren.^  Der 
andere  Bericht,  der  der  Meinung  Pausanias'  nach  —  aber 
gegen  jedes  gesunde  UrteiP  —  den  ersten  begründen  soUte, 
sagt,  daß  Astrabakos  und  Alopekos  das  Bild  fanden  und  irr- 
sinnig wurden;  dies  wird  ohne  Zwang  mit  den  letzten  Worten, 
daß  das  Bild  in  einem  Lygosgesträuch  gefunden  wurde,  ver- 
bunden. Dieser  ist  der  echte  alte  Kultusmythos;  der  Zug  des 
Wahnsinns  zeigt  das  Alter  der  Sage,  Astrabakos  kennen  wir 
ja  aus  Herodot  II,  69  als  spartanischen  Heros.^  Hieraus  ergibt 
sich:  Orthia  war  eine  alte  lokale  Göttin  in  Sparta,  ihr  Holz- 
bild war  mit  Lygoszweigen    umwunden,   sie   war   eine   Baum- 

*  Andrew  Lang  hat  in  Myth,  Bitual  and  Beligion  (1899)  S.  235  f. 
die  alte  Erklärung  als  Menschenopfer  im  Anschluß  an  K.  0.  Müller;  in 
Custom  and  Myth  (1901)  aber  bespricht  er  die  Orthia  beiläufig  bei 
australischen  Initiationsriten,  ohne  aber  ein  Wort  über  die  frühere  Be- 
sprechung zu  äußern  oder  auf  Frazer  zu  verweisen. 

*  Die  Sitte  in  Alea  hat  Frazer  auf  gleiche  Weise  erklärt,  Kom- 
mentar IV,  278. 

^  Über  einige  Riten  von  ganz  anderer  Art  siehe  Dieterich  Mithras- 
liturgie  S.  157f. 

*  Vgl.  Welcker  Griech.  Götterlehre  I,  587,  Robert  Archäol.  Märchen 
{Philol  Unters.)  S.  144-150,  und  in  Prellers  Griech.  Myth.  S.  309. 

^  Vgl.  Pausanias  ed.  Hitzig  und  Blümner  I,  S.  799. 
«  Wide  Lakon.  Kulte  279. 


I  Orthia  407 

o'öttin,  und  daher  wurde  sie  später  von  Artemis  verschlungen, 

deren   Hypostasen    besonders    im  Peloponnes   diesen  Charakter 

tragen.   Dann  standen  die  Peitschungen  der  Epheben  als  etwas 

I  ganz  Unverständliches    da,    und    den    späteren  Mythologen   ist 

I  die   grausame    Sitte    wohl    die  Veranlassung  der  Verknüpfung 

mit  der  taurischen  Artemis  gewesen.     Daß  diese  vermeintliche 

Verbindung  mit  der  durch  Menschenopfer  verehrten  taurischen 

^^Artemis^'  vielleicht  die  Annahme  des  Blutes  als  Zwischenglied 

veranlaßt  habe,    darauf  deutet  auch  hin,  daß   diese    Erklärung 

I  nur  bei  Philostratos  und  Pausanias  sich  findet,  und  gerade  nur 

bei    diesen   Autoren  wird    Orthia    mit    der    taurischen    Göttin 

verknüpft. 

Der  Baum  der  Orthia  war  der  Lygos;  im  Lygosgesträuch 
wurde  sie  gefunden,  und  Lygoszweige  umwanden  ihr  Bild;  sie 
hieß  daher  Orthia  Lygodesma  (Pausanias).  Lygos  oder  Agnos^ 
wird  oft  ein  großer  Baum  (Piaton,  Phaidros  p.  230 B,  Pausan. 
III,  14,  7);  seine  allbekannte  Verwendung  bei  Thesmophorien 
und  dem  Herafest  auf  Samos  zeigt,  daß  seine  Berührung 
sakramentale  Wirkungen  erzielte.  Daß  auch  Dionysos  zu 
Alea  ein  Baumgott  war,  ist  wahrscheinlich,  wenn  die  Deutung 
des  Namens  des  Festes  2JxiSQeLa  als  Verhüllung  und  die  Ver- 
gleichung  mit  der  Sitte  in  Phigalia,  das  Bild  des  Dionysos 
mit  Efeu  und  Lorbeer  zu  verhüllen^,  richtig  ist. 

Bei  der  Orthia  haben  wir  also  einen  mit  Peitschungen 
verbundenen  Baumkultus,  und  es  ist  somit  natürlich,  sich  zu 
Mannhardt  zu  wenden;  es  wird  nunmehr  klar,  daß  die 
dia^aötCyco^ig  mit  den  Sitten,  die  er  als  „Schlag  mit  der 
Lebensrute''  bezeichnet  hat,  ganz  gleichbedeutend  ist.  Seine 
Erörterungen  dieser  Sache  gehören  gewiß  zum  besten  Teile 
seines  Hauptwerkes:  Wald-  und  Feldkulte;  denn  hier  gerade 
kommt  der  sakramentale  Zauber  klar  zum  Vorschein,  dem 
Mannhardt  ja   an   anderen    Stellen   zu    große    Bedeutung    zu- 

^  Siehe  Pauly-Wissowa  Ägnos. 

^  Immerwahr  Die  Kulte  und  Mythen  Arkadiens  I,  S.  189. 

27* 


408  Anton  Thomsen 

schreibt,  so  daß  er  den  Begriff  des  Opfers  unterscliätzt. 
„Menschen,  Tiere,  Pflanzen  werden  zu  verschiedenen  Zeiten 
des  Jahres  mit  einem  grünen  Zweige  (resp.  Stock)  geschlagen 
oder  gepeitscht,  um  gesund  und  kräftig  zu  werden."^  Die 
zugrunde  liegende  Idee,  daß  die  Kraft  von  dem  göttlichen 
Baume  oder  dem  Baumgotte  selbst  durch  die  Stäupung  in  die 
Menschen  übergeführt  wird,  hat  sich  im  Yolksbewußtsein  oft 
erhalten;  zuweilen  sind  aber  die  religiösen  Vorstellungen  ver- 
schoben. Sowohl  Menschen  als  Tiere  müssen  sich  dem  Heil- 
mittel unterwerfen,  und  am  meisten  werden  junge  Menschen 
beider  Geschlechter  geschlagen.  Hier  in  Dänemark  steht  noch 
das  Fastnachtsreis  in  voller  Blüte  mit  papiernen  Blumen  und 
goldenen  Blättern,  und  alle  Kinder  peitschen' die  Alteren  am 
Fastnachtsmorgen  und  bekommen  dafür  einen  Wecken. 

Mit  diesen  Bräuchen  möchte  ich  die  ÖLa^aötfycaöLg  zu- 
sammenstellen; statt  des  unheimlichen  Menschenopfers  und  der- 
gleichen will  ich  das  unschuldige  und  heilsame  „Schmachostern", 
statt  blutigen  Opfers  unblutiges  Sakrament  vorschlagen. 

Gegen  diese  Hypothese  ließe  sich  einwenden,  daß  die 
spartanischen  Epheben  sehr  hart,  als  Regel  vielleicht  blutig 
gepeitscht  wurden,  ja  in  einigen  Fällen  zum  Sterben.  Daß 
der  Schlag  mit  der  Lebensrute  ursprünglich  recht  kräftig  ge- 
wesen ist,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  sollte  der  Gott 
doch  in  den  Körper  eindringen;  bisweilen^  wird  man  überall 
geschlagen,  daß  keine  Achillesferse  übrigbleibe;  und  es  war 
auch  nicht  nötig,  für  gar  kleine  Mühe  Lohn  zu  geben.  Eben 
diese  Vorstellung  ist  die  Ursache  der  Peitschungen,  sonst 
könnte  man  ja  auf  seinem  Lygosbette  weiter  ruhen.  Der 
Brauch  wird  natürlich  oft  abgeschwächt,  wo  die  ursprünglichen 
religiösen  Anschauungen  verschwanden;  er  kann  sich  aber 
auch  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  entwickeln,  zu  einem 
rohen  Sport ^  oder  zu  einer  Prüfung  umgebildet  werden,  wie  es 

^  Wald-  und  FeldkuUe  S.  251. 

2  Wald-  und  Feldkulte  S.  262.         «  Ebenda  S.  255. 


Orthia  409 

namentlicli  in  den  von  Frazer  gesammelten  Parallelen  hervor- 
tritt. Oft  gesellen  sich  ganz  unanständige  Vorstellungen  hinzu, 
und  bisweilen  taucht  das  Pathologische  auf,  z.  B.  bei  den 
Barbaren  Rußlands,  wo  die  Stäupung  der  Braut  oft  zu  den 
Hochzeitsgebräuchen  gehörte. 

Zu  einer  Prüfung  hat  sich  also  die  spätere  dicc^aörCycoöLg 
entwickelt,  die  ursprünglich  eine  Übertragung  der  Kraft  war. 
Von  der  alten  Baumgöttin  empfingen  die  Jünglinge,  wenn  sie 
an  die  Arbeit  des  Lebens  Hand  legen  sollten,  die  göttliche 
Weihe,  die  ihnen  Gesundheit,  Kraft  und  langes  Leben  geben 
sollte.  Es  wird  somit  klar,  warum  alle,  auch  die  Schönen 
und  Vornehmen,  gepeitscht  wurden;  die  dia^aötCyoöig  war 
eine  Wohltat,  die  Einweihung  zum  Leben,  wenn  es  auch  nicht 
ausgeschlossen  ist,  daß  sie  zudem  speziellere  Zwecke  hatte. 
Wäre  auch  hierdurch  der  Kultus  der  Orthia  erklärt,  bleibt 
doch  eine  Lücke  der  Argumentation:  daß  wir  nicht  wissen, 
ob  die  Epheben  mit  Lygos  gepeitscht  wurden.  Plutarch, 
Aristides  17,  wo  allerdings  von  den  Lydern  die  Rede  ist,  und 
Pseudoplutarch,  Inst.  Lac.  S.  239,  C,  erzählen  von  Stöcken  und 
Peitschen,  was  aber  leicht  auf  Verschiebung  des  Ursprünglichen 
beruhen  kann;  anderwärts  zeigt  die  Lebensrute  auch  diese 
Entwickelung  —  oder  die  entgegengesetzte,  die  zu  Spielzeug 
führt,  wie  das  Fastnachtsreis.  Daß  man  Lygos  zum  Peitschen 
brauchte,  steht  fest  (Diosc.  I,  136  äyvog  7^  Xvyog,  d^ä^vog  eötl 
d£vdQ6drjg  .  .  .  Qccßdovg  e^cov  dved-Qavötovg  ^axQccg  .  .  •, 
Athen.  XV,  S.  671f.  TCQog  dsö^ovg  yaQ  xcci  nXiy^ata  ri  Xv'yog 
£mt7]d eiog-,  Eustath.  S.  834  ad  II.  A  105  (pvxov  lnavtcböeg  xal 
ciTCaXhv  —  ol  ccTtalol  äxQe^ovEg  xal  ^äXXov  al  TtaQacpvccdsg  Tial  sig 
TtXeyficc  6v6tQ£(povtat  xal  elg  dsöiiovg^  natd  xivag  öxoCvovg  re 
nal  liidvtag^  vgl.  Etym.  M.  ii66%oi6i  Xvyoiöiv,  Suidas,  v.  Xvyi- 
^o^svog,  .  .  .  tLvsg  öh  Ttal  xb  ^sxä  XL^o^Cag  ßaöavC^siv  XvyC^SLV 
aal  al  ^döxiysg  alg  ot   dd'Xrjxal  xvnxovxai^  Xvyoi   TtaXovvxav). 

Von  Interesse  ist  es  auch,  daß  Lygos  zu  einem  religiösen 
Peitschen  verwendet  wird:    Plutarch,  Sympos.  VI,  8,  1:    0v6{a 


I 


410  Anton  Thomsen 

tCg  höxi  TtcctQLog,  tjv  6  fisv  ccqxcdv  sitl  xfig  xoivfjg  eötCag 
tcjv  ^'  ciXXcov  E%a6xog  btc'  oIkov  TcaXeltai  dh  BovXC[iov  e^sXaöig' 
Tcal  xcbv  oiTiBXcbv  £va  xvTtxovxsg  ccyvCvaig  Qttßdoig  diä 
d'VQä)v  i^sXavvovöiv  ijaXsyovxsg,  "E^o  ßovXi^oVj  eöa  de 
nXovxov  Tcal  ^TyCsiav.  Diese  Sitte  ist  von  Mannhardt  be- 
sprochen, Mythol.  Forsch..  S.  129  f.,  und  in  Zusammenhang  mit 
(fdgiiaTioi  und  anderen  unzweifelhaften  Menschenopfern  ge- 
bracht —  von  einzelnen  Menschen;  das  Peitschen  zeigt  sich 
auch  hier  als  sakramental. 

An  eine  geschichtliche  Verbindung  glaube  ich  selb« 
verständlich  gar  nicht;  dieselben  Bräuche  können  in  Griech( 
land  wie  im  nördlichen  Europa,  in  Rom  wie  in  Australi« 
denselben  religiösen  Vorstellungen  entsprossen  sein,  welcl 
von  allerlei  spekulativen  Systemen  und  theologischen  Int« 
pretationen  abgesehen,  vielleicht  ursprünglich  nicht  so  v( 
schieden  gewesen  seien,  wie  es  oft  vermutet  wird. 

Es  bleibt  noch  übrig,  die  Deutungen  des  Wortes  Ortl 
zu  besprechen.  Der  des  Tansanias,  daß  die  Lygoszweige 
Bild  oQd'dv  machten,  schließen  sich  Preller-Robert^  an^ 
wogegen  Schreiber^  einwendet:  es  wäre  unwahrscheinlich, 
daß  man  aus  einer  allen  älteren  Holzbildern  gemeinsamen 
Eigenschaft  eine  individuelle  Bezeichnung  gebildet  hätte;  seine 
eigene  Deutung  aber,  die  das  Phallische  zugrunde  legt  (so 
auch  K.  0.  Müller),  scheint  mir,  weil  es  sich  auf  eine  Göttin 
bezieht,  ganz  unannehmbar.  Wide^,  im  Anschluß  an  Baunack, 
nimmt  die  antike  Erklärung  der  Orthosia^  auf:  oxi  ÖQd'ol  slg 
öcjxrjQCav  rj  ÖQd'ol  xoifg  ysvvco^svovg]  sie  wäre  also  eine  „Heil- 
oder vielmehr  Geburtsgöttin",  was  durch  den  bekannten  Gebrauch 
des  Lygos   und   die   vermutete  Verbindung   mit  Iphigeneia  ge- 

^  Griech.  Myth.  (Ausg.  lY)  I,  309. 

*  Roschers  Lexikon  I,  586  —  587  (Artemis). 

^  Lakon.  Kulte  S.  112 — 115;  Höfer  in  UoscherB  Lexikon  (Orthia). 

*  Die  Gleicbsetzung  Orthosias  mit  Orthia  scheint  mir  fraglich,  vgl. 
Hitzig-Blümner  Pausanias  I,  S.  598;  Orthosia  steht  für  Orthia  bei  Suidas 
Lykurgos. 


Orthia  411 

stützt  wäre;  Orthia  hat  aber  mit  Iphigeneia  durchaus  nichts 
zu  tun,  und  sinnlos  wäre  ja  das  Peitschen  junger  Männer  vor 
dem  Altar  einer  speziell  weiblichen  Göttin.  Eine  vierte 
Deutung  wäre  möglich;  ÖQd-öSf  urspr.  Sögd'ogj  entspricht 
Sanskrit  ürdhva-s  (von  *vrdhvö-s)  aufgerichtet,  von  der  Wurzel 
yvardh  —  erhöhen,  größer  machen,  verstärken,  gedeihen 
machen,  intr.  wachsen,  sich  mehren,  gedeihen  usw.;  ÖQd-Ca  be- 
deutet dann  die  Emporgewachsene,  was  mit  Preller-Roberts 
Deutung  sehr  wohl  vereinbar  ist.  Ihr  Idol  denke  ich  mir  der 
sogenannten  delischen  Artemis  ähnlich. 

Die  hier  versuchte  Erklärung  der  Orthia  bezweckt,  erstens 
gegen  die  Deutung  des  Kultus  als  eines  ersetzten  Menschenopfers 
und  nachher  gegen  das  Blutopfer  ohne  ursprüngliches  Menschen- 
opfer Front  zu  machen,   und  endlich  auch  Frazer    gegenüber 
eine  genauere  Bestimmung  der  Grundidee    dieser   Initiation  zu 
geben,  die  ich  im  Baumsakrament  gefunden   zu   haben  meine, 
indem    das    Hauptgewicht    auf   den   Lygosbaum    und  die  wohl 
ursprünglich  von  diesem  abgeschnittene  Lebensrute  zu  legen  ist. 
Immer    und    überall,    wenn    das    Logosevangelium    oder 
irgendein  anderes  religionsgeschichtliches   Dokument   ausgelegt 
werden    muß,    werden    in    der     Religionsgeschichte     wie     im 
Leben  die  Worte  Goethes  ihre  Geltung   behalten:   Im    Anfang 
i  war   die    Tat!     Wenn    man    einen    Gott  zu  verstehen  sich  be- 
müht,   dann    muß    man   zuerst   fragen:    was    tut    er?   und    in 
zweiter  Reihe  erst:  was  und  wie  er  ist.    Auch  in  der  Religion 
waltet   das    Gesetz    der    Sparsamkeit;    soll    ein    Gott    bestehen, 
muß  er  Macht  haben;   die  Götter  kann  man   nicht  widerlegen, 
diejenigen    aber,    die   nicht    wirken   und    nicht    mehr    verehrt 
werden,    ersterben   von    selbst.     So    wahr   das  Religiöse   nicht 
Stimmung,    Poesie    oder   Philosophie    ist,    sondern    der  harten 
j  Not  des  täglichen  Kampfes  ums  Leben  entsprungen,  so  sicher 
I  müssen   auch    die    Götter    etwas    wirken   können,    sei    es    nun 
j  Gutes  oder  Böses;  warum  sollten  sich  die  Menschen  sonst  um 
!  sie   bekümmern?     Ganz    wertlos    ist    daher  die  Einteilung  der 


412  Anton  Thomsen 


I 


Religionen  in  Monotheismus  und  Polytheismus,  die  in  der 
Religionsgeschiclite  wie  auch  in  der  Religionsphilosophie  eine 
so  große  Rolle  gespielt  hat.  Ein  Monotheismus  im  eigent- 
lichen Sinne  hat  nie  existiert  und  wird  auch  nie  existieren;  es 
hat  auch  kein  Interesse,  die  Zahl  der  helfenden  oder  schadenden 
Mächte  zu  kennen;  nur  auf  die  Hilfe  oder  auf  den  Schaden 
kommt  es  an,  auf  die  Spannung  zwischen  dem  positiven  und 
negativen  Pol;  jede  Religion  hat  ein  dualistisches  Element,  ein 
reiner  Monismus  hat  nie  in  der  Religion,  sondern  nur  in  der 
religiösen  Spekulation  existiert.  Die  Haupteinteilung  muß 
davon  ausgehen,  ob  der  Gott  überwiegend  Schaden  oder  Hilfe 
bringt,  und  das  wird,  wo  ethische  Ideen  in  die  religiösen 
hineingemischt  werden,  zu  den  Bestimmungen  „Gut"  und 
„Böse";  völlig  böse  Götter  gibt  es  so  wenig  wie  völlig  gute, 
sogar  der  Teufel  könnte  noch  schlimmer  sein.  Gerade  gegen 
die  Theorie  des  ersetzten  Menschenopfers  möchte  ich  das  segens- 
reiche Wirken  der  Orthia  als  das  Ursprüngliche  behaupten. 
Wie  das  Prinzip  der  Tat  für  das  Verhältnis  der  Götter 
zu  den  Menschen  gilt,  so  auch  für  das  der  Menschen  zu 
den  Göttern.  Das  religiöse  Grundaxiom  ist  das  praktische 
gegenseitige  Verhältnis  zwischen  dem  Menschen  und  einem 
übernatürlichen  Wesen,  d.  h.  unmittelbarer  Kultus  —  Gebet, 
Opfer,  Beschwörung.  Namen  und  Dogmen,  alle  theologischen 
und  philosophischen  Systeme  entstehen  und  verschwinden,  ja 
selbst  was  die  höheren  Religionsformen  genannt  werden,  die 
in  der  Tat  nur  theologische  Gebäude  auf  der  eigentlichen 
Religion  sind,  wechseln  und  vergehen,  nur  der  Kultus  besteht, 
denn  alle  Religion  ist  Kultus,  und  nur  Kultus  ist  Religion.^ 
Entweder  gibt  es  so  viele  Religionen  wie  Menschen,  oder  aber  im 
eigentlichen  Sinne  nur  eine;  ohne  Verbindung  entstehen  überall 
ähnliche  Vorstellungen  und  Sitten,  die  eben,  wenn  man 
Religion    und    Theologie    klar    auseinanderhält,    sich    gleich- 


^  Vgl.  Frazer  The  golden  Bough^^  III,  S.  49  sq. 


Orthia  413 

artiger  zeigen  werden,  als  man  von  Anfang  an  glauben  sollte. 
Einerseits  ist  es  daher,  wie  gefährlich  es  auch  oft  erscheint, 
bei  der  Erklärung  eines  Kultus  sich  zu  weit  vom  Heimatsort 
zu  entfernen,  in  einem  Falle  wie  diesem  erlaubt,  die  Parallelen 
bei  anderen  Völkern  zu  suchen,  wenn  es  nur  deutlich  präzisiert 
wird,  daß  das  leitende  Prinzip  die  Ähnlichkeit  der  mensch- 
lichen Gemüter,  nicht  die  geschichtliche  Verbindung  ist. 
Anderseits  wird  man  oft  auch  genötigt  werden,  Verknüpfungen, 
die,  wie  die  der  Orthia  mit  der  taurischen  Artemis  und 
Iphigeneia,  eine  große  Rolle  bei  der  Erklärung  gespielt  haben, 
fallen  zu  lassen,  wenn  man  fest  daran  hält,  daß  Religion 
Kultus  ist,  äußerer  oder  innerer,  nur  was  Menschen  tatsächlich 
glauben,  was  sie  unmittelbar  verehren,  im  eigenen  Herzen 
oder  durch  Opfer,  Sakramente  und  Taten,  allein  oder  in  Ge- 
meinschaft mit  Gleichgesinnten,  ist  Religion;  alle  Erklärungen, 
Dogmen,  Systeme  und  Spekulationen  sind  nicht  Religion  und 
haben  keinen  religiösen  Wert.  Spekulation  und  lebendige 
Religion  können  sich  sehr  wohl  in  einem  Bewußtsein  finden, 
weil  die  menschliche  Natur  in  sich  große  Gegensätze  vereinen 
kann;  aber  in  den  Augenblicken,  wo  man  glaubt,  spekuliert 
man  nicht,  und  wenn  man  spekuliert,  schläft  der  Glaube. 
Alle  Religion  ist  Kultus,  und  daher  haben  die  konstruierten 
Verbindungen  zwischen  den  Göttern  nichts  mit  der  Religion 
zu  schaffen,  so  wenig  wie  spekulative  Theologie  oder  die 
naiven  Versuche  bis  auf  den  heutigen  Tag,  mehr  zeitgemäße, 
humane  und  komfortable  „Religionen"  zu  konstruieren.  In 
der  Religion  ist  eben  das  Alte  das  Gute,  und  die  ältesten 
I  Schichten  haben  die  Stärke  von  Jahrtausenden,  sie  sind  der  mäch- 
1  tige  lebende  Untergrund  aller  Religionen,  welche  sich  erhalten, 
i  auch  wenn  die  höheren  Schichten  sich  auflösen  und  ver- 
schwinden. 

Lukian  (Anacharsis  38 — 39)   erzählt,    daß   das   Peitschen 

eine   Prüfung    der   Erhärtung   sei,    der  die  Eltern   beiwohnen, 

1  froh,  wenn  die  Söhne  aushalten;  die  Epheben,  die  sie  bis  zum 


414  Anton  Thomsen 

Tode  ertragen,  bekommen  Statuen  auf  öffentliclie  Kosten.  Man 
kann  es  wohl  als  sicher  betrachten,  daß  die  Geißelung  immer 
mehr  eine  Prüfung  wurde,  wo  die  Eltern,  wie  jetzt  bei  öffent- 
lichen Examen,  gespannt  dem  Verlauf  folgten,  und  wo  Prämien 
verteilt  wurden  (ßaiiovCzai).  Wir  stehen  hier  einer  inter- 
essanten Form  des  Yerschwindens  eines  religiösen  Elementes 
gegenüber.  Das  Religiöse  hat  eine  obere  und  eine  niedere 
Grenze;  wie  die  niedrigsten  Formen  der  Religion  zu  etwas 
hinweisen,  das  wir  nicht  Religion  im  eigentlichen  Sinne  nennen 
wollen,  so  kann  auch  das  Religiöse  durch  eine  Entwickelung 
von  niedrigeren  zu  höheren  Formen  in  das  Mchtreligiöse 
übergehen.  Diese  Entwickelung  kann  den  langen  Weg  der 
Spekulation  gehen  und  ruhig  oder  durch  Krisen  in  meta- 
physische Systeme  oder  in  eine  rein  positive  Lebensauffassung 
überführen,  oder  sie  kann  unbewußt  und  unmerkbar  durch  die 
tägliche  Praxis  geschehen,  indem  die  religiösen  Formen,  die 
im  Kampf  von  Tag  zu  Tag  nicht  mehr  in  Gebrauch  sind, 
schlechthin  wegfallen.  Die  erste  Form  ist  an  und  für  sich 
nicht  religiös,  denn  wo  die  Spekulation  beginnt,  hört  die 
Religion  auf;  wird  aber  auch  der  religiöse  Kultus  nicht  mehr 
verstanden,  kann  er  doch  bestehen  und  wird  wohl  eigentlich 
immer  eine  Zeitlang  die  Auflösung  der  höheren  Schichten 
überleben.  Nur  vom  reinen  dogmatischen  Standpunkt  aus 
kann  man  den  Glauben  vom  Aberglauben  unterscheiden;  in 
der  Religionswissenschaft  kann  man  die  Distinktion  nur  als 
eine  soziale  und  geschichtliche  fassen,  als  eine  zwischen 
höheren  und  niedrigeren  Schichten,  d.  i.  zwischen  eigentlichen 
religiösen  Schichten  und  solchen  mit  ethischen  und  meta- 
physischen Ideen  mehr  verquickten,  oder  rein  kultisch  zwischen 
privatem  und  offiziellem  Kult.  Eben  die  primitiven  Schichten 
sind  die  tiefsten  und  auch  die  festesten,  im  Unbewußten,  Un- 
mittelbaren und  Gewohnheitsmäßigen  wurzelnd,  sind  sie  eben 
darum  schwierig  zu  entdecken,  während  die  Systeme  und 
Stimmungen,  die  auf  der  Oberfläche  liegen  und  diskutiert  und 


Orthia  415 

poetisch  dargestellt  werden,  leichter  ins  Auge  springen.  Nur 
wo  Spekulation  und  Kritik  die  höheren  Formationen  auflösen, 
tritt,  dem  Gesetze  folgend,  das  zuerst  von  David  Hume,  dem 
Grundleger  der  modernen  Religionswissenschaft,  aufgestellt  ist 
(Natural  History  of  Religion,  1757.  Sect.  VIII),  der  lebende 
religiöse  Untergrund  deutlicher  hervor,  weil  die  höheren  Schichten 
nicht  länger  sie  gleichsam  niederdrücken,  teils  aber  weil  jene  eine 
Verbindung  zwischen  den  eigentlichen  religiösen  Schichten  und 
allem,  was  sonst  im  Bewußtsein  lebt,  schufen;  hei  der  Auflösung 
der  höheren  Schichten  werden  die  alten  Formationen  bloßgelegt 
I  und  leichter  beobachtet  durch  den  schroffen  Gegensatz,  den  sie 
jetzt  zum  übrigen  Inhalt  des  Bewußtseins  bilden.  In  diesen 
primitiven  Schichten  wurzelt  alle  Religion  und  kann  darüber  nie 
hinausgehen.  Daher  muß  die  Religionsphilosophie  vergleichende 
Religionsgeschichte  werden,  und  daher  muß  der  Religions- 
forscher die  psychologische  Analyse  mehr  in  den  Vordergrund 
schieben,  und  besonders  muß  er,  wenn  er  psychologisch  seinen 
Stoff  durchdringen  will,  immer  zur  phantastischen  Welt  des 
Kindes  zurücksuchen  —  iäv  ßti  'ysv7]öd'6  cjg  tä  TtaiöCa  ov  ^iri 
dösXd'rjts  eig  ri}v  ßaöilsCav  xcbv  ovqccvcov.  Und  daher  streben 
so  viele  Bekehrte  zum  Kinderglauben  zurück,  daher  kann,  wo 
der  christliche  Glaube  schon  geschwunden,  der  Christbaum  im 
heidnischen  Kinderglanz  strahlen,  und  hier  liegt  auch  die 
I  Lösung  des  bekannten  Problems,  warum  Unglaube  so  oft  mit 
j  Aberglauben  verbunden  ist.  Wie  der  Greis  in  seinen  letzten 
Tagen  zu  den  abgebrochenen,  unwesentlichen  Erinnerungen 
'seiner  frühesten  Kinderjahre  sich  wendet,  während  er  schon 
I  alles,  was  darauf  später  gebaut  und  mit  Recht  die  Aufmerk- 
samkeit an  sich  gezogen  und  die  ersten  Erinnerungen  in  das 
Unbewußte  herabgedrückt  hatte,  vergessen  hat,  so  geht  es 
auch  in  der  Geschichte  der  Religion;  wo  die  höheren  Schichten 
aufgelöst  und  vergessen  sind,  können  die  sonderbaren,  barocken 
Brocken  der  früheren,  des  primitiven  Kultes,  zurückerstehen,  die 
das  Erste  waren  und  auch  das  Letzte   sein  werden.     Es   kann 


416  Anton  Thomsen     Orthia 

aber  aucli  so  gehen,  daß  der  leere  Kultus  und  die  theologische 
Spekulation  sich  zusammenfinden,  und  dann  tritt  eine  Rationa- 
lisierung ein.  So  ist  es  wahrscheinlich  auch  in  Sparta  ge- 
schehen, der  eigentliche  Sinn  ist  verschwunden,  das  Sakrament 
unwesentlich  geworden,  vielleicht  vergessen;  dem  alten  reli- 
giösen Kult  hat  man  eine  nichtreligiöse  Erklärung  unter- 
geschoben; das  Examen  ist  die  Hauptsache  geworden,  gerade 
deshalb  hat  auch  die  Sitte  so  lange  die  eigentliche  Idee  über- 
lebt und  eine  so  hervorragende  Rolle  gespielt.  Auch  bis  auf 
den  heutigen  Tag  sehen  vielleicht  die  meisten  in  der  Examination 
in  der  Kirche  den  Hauptzweck  der  Konfirmation,  in  dem,  wie 
Philostratos  sagt,  was  die  Klugheit  ersonnen  hat,  und  nicht  in 
dem  folgenden  Abendmahl,  das  Gott  als  die  innerliche  Ver- 
bindung zwischen  sich  und  den  Menschen  gesetzt  hat. 

Ich  möchte  gern,  daß  dieser  Kultus,  worin  man  Über- 
bleibsel des  Rohesten  und  Grausamsten,  das  wir  in  der  Ge- 
schichte der  Religionen  kennen,  gesehen  hat,  mit  sanfteren 
Blicken  betrachtet  werden  könnte.  Die  alte  Orthia  Lygodesma 
möchte  ich  vom  Gebiete  des  unheimlichen  Menschenopfers, 
des  blutigen  Todes,  in  die  schönen,  friedlichen  Gefilde  ver- 
setzen, wo  Fastnachtsreis  und  Lygosbaum  geschnitten  werden, 
wo  der  Christbaum  wächst,  in  den  Kult,  dessen  höchstes  und 
schönstes  Symbol  die  alte  Vorstellung  des  Baumes  des 
Lebens  ist. 


Mythologische  Fragen 

Von  Richard  M,  Meyer  in  Berlin 

Die  bloße  Existenz  des  „Archivs  für  Religionswissenschaffc" 
bedeutet  für  den  Gesamtbetrieb  der  Mythologie  einen  un- 
schätzbaren Fortschritt.  Es  ist  damit  ein  in  Permanenz  er- 
klärter „Kongreß  für  Religionsgeschichte"  gegeben^  ein  Areopag, 
dem  man  mit  gleichem  Vertrauen  die  speziellsten  und  die 
allgemeinsten  Fragen  vorlegen  darf.  Es  ist  so  natürlich,  wie 
es  richtig  ist,  daß  das  „Archiv"  bis  jetzt  vorzugsweise  Probleme 
spezieller  Natur  behandelt  hat;  je  mehr  aber  das  Material 
anwächst,  desto  wünschenswerter  wird  es  erscheinen,  daß  wir 
uns  von  Zeit  zu  Zeit  auch  allgemein  über  methodologische 
Probleme  unterhalten.  Schon  geht  für  manche  Begriffe  die 
Terminologie  in  die  Brüche,  für  nicht  wenige  Worte  die  Auf- 
fassung auseinander;,  und  wie  Andreas  Heusler  in  seiner 
wichtigen  Abhandlung  „Lied  und  Epos"  (S.  47f.)  für  diese  ja 
auch  mythologisch  so  wichtigen  Kategorien  eine  strengere 
Nomenklatur  gefordert  hat,  so  wird  es  nicht  lange  mehr  ver- 
mieden werden  können,  daß  für  das  vieldeutige  Wort  „Zauber" 
einigermaßen  offizielle  Definitionen  aufgestellt  werden. 

Wer  ausschließlich  auf  dem  Felde  der  Mythologie  tätig 
ist,  für  den  mag  durch  den  vielfältigen  Gebrauch  eine  gewisse 
Kompensation  der  Gefahren  eintreten,  die  mit  methodologischen 
Unklarheiten  verbunden  sind;  so  wie  einige  Arzte  meinen,  wer 
die  Hände  viel  brauche,  könne  es  eher  wagen,  offene  Wunden 
an  den  Fingern  herumzutragen,  als  wer  sie  zumeist  behand- 
schuht in  den  Schoß  legt.  Ich  meinerseits  freilich  möchte  in 
beiden  Fällen  der  Vorsicht  das  Wort  reden!  Jedenfalls  aber 
wird  die  Unsicherheit  dann  vollends  unerträglich,  wenn  nun 
aus  den  oft  noch  recht  unsicheren  Ergebnissen   der  Religions- 


418  Richard  M.  Meyer 

Wissenschaft  heraus  in  die  verhältnismäßig  gesicherten  Gebiete 
der  Literaturgeschichte,  Historie,  Kulturgeschichte  Folgerungen 
getragen  werden.  Gerade  der  Abwehr  solcher  Gefahren  suchen 
meine  methodologischen  Studien  zu  gelten. 

Die  Gefahr  wächst  natürlich  mit  der  Bedeutung  der 
Forscher.  Je  bedeutender  Wissen,  Gedankenreichtum,  Energie 
eines  Gelehrten  sind,  desto  eher  können  Anschauungen,  die 
ihm  als  völlig  sicher  erscheinen,  ohne  doch  vielleicht  fest 
genug  fundiert  zu  sein,  dahin  übertragen  werden,  wo  sie  wirk- 
lichen Schaden  zu  stiften  geeignet  sind.  Ich  bitte  deshalb 
gerade  die  Forscher,  gegen  die  ich  mich  zu  wenden  habe  (und 
die  zumeist  dem  „Archiv"  zu  dessen  größtem  Vorteil  besonders 
nahe  stehen),  meine  gegen  sie  gerichteten  Bedenken  als  eine  Art 
Huldigung  aufzufassen  —  selbst  wenn  die  Form  das  nicht  verrät! 

I  Die  IJberscliätzuiig  des  Zaubers 

Von  „wissenschaftlichen  Moden"  hat  man  längst  ge- 
sprochen. So  hat  etwa  der  berühmte  Chemiker  H.  Kolbe  die 
Anfänge  der  physikalischen  Chemie  als  „Moden  der  modernen 
Chemie",  übrigens  unglücklich,  verspottet  (vgl.  Strigel,  ADB 
51,  328),  und  allgemeiner  habe  ich  neuerdings  („Gestalten  und 
Probleme",  S.  13  f)  auf  den  Einfluß  solcher  Lieblingsvorstellungen 
einzelner  Epochen  auf  ihre  Erkenntnis  hingewiesen.  Es  liegt 
keine  Beleidigung  darin,  wenn  wir  das  scheinbar  abschätzige 
Wort  „Mode"  verwenden:  es  wird  damit  eben  nur  auf  das 
deutlichste  die  Zwangsvorstellung,  die  Suggestionskraft  be- 
stimmter Ideen  ausgedrückt,  denen  sich  kaum  jemand  entziehen 
kann,  weil  sie  „in  der  Luft  liegen",  weil  man  sie  einatmet 
und  ausatmet  wie  die  Luft  selbst. 

Vielleicht  aber  ist  die  Kraft  solcher  Zeitideen  selten  so 
mächtig  gewesen  wie  heute.  G.  v.  Below  hat  kürzlich  gezeigt, 
wie  rasch  eine  solche  Modevorstellung,  die  der  großen  Alter- 
tümlichkeit russischer  Agrarverhältnisse,  sich  überlebt  hat; 
V.  Hehn  hat  sie  begründet,  0.  Schrader  u.a.  haben  sie  durch- 


Mythologische  Fragen  419 

geführt  —  jetzt  scheint  man  sie  aufgeben  zu  müssen.  Eine 
viel  wichtigere  ^^leitende  Idee"  habe  ich  in  meinen  soeben  er- 
schienenen „Kriterien  der  Aneignung"  (Neue  Jahrbücher  1906, 
und  in  Sonderausgabe)  bekämpft:  die  Vorstellung,  als  müsse 
eine  weitgehende  Übereinstimmung  religiöser,  kultureller,  poli- 
tischer Art  allemal  auf  geographischer  Übertragung  beruhen.  — 
Beide  Anschauungsformen  sind  für  die  Mythologie  von  großer 
Bedeutung,  zumal  die  zweite,  aber  auch  die  erste.  Hängt 
doch  die  Überschätzung,  die  unser  verehrter  Meister  Usener 
slawischen  Götterlisten  in  seinen  „Göttemamen"  (S.  29  f.)  ge- 
spendet zu  haben  scheint,  mit  der  Überschätzung  slawischer 
Altertümlichkeit  überhaupt  zusammen;  freilich  hat  den  genialen 
Mann  gerade  dies  vielleicht  zu  seinem  glücklichsten  Aper9u 
geführt,  wie  nach  Reitzensteins  Urteil  („Epigramm  und 
Skolion"  S.  263)  eine  unbewiesene,  ja  sogar  verfehlte  Konjektur 
Meinekes  das  richtige  Verständnis  der  Bukolik  eröffnete:  die 
Großen  irren  oft  fruchtbarer  als  wir  Kleinen  das  Richtige  er- 
kennen! —  Aber  beide  wissenschaftlichen  Moden  beschäftigen  sich 
doch  nicht  so  unmittelbar  mit  Kernfragen  der  Mythologie,  wie  eine 
dritte,  noch  jüngere:  die  fast  unbegrenzte  Bewertung  des  Zauber  s. 
Es  ist  bekannt,  daß  die  Religionsgeschichte  (man  erlaube 
mir,  hier  diesen  Ausdruck  einfach  mit  „Mythologie"  alternieren 
zu  lassen)  lange  Zeit  unzweifelhaft  den  „Inhalt"  der  religiösen 
Vorstellung  viel  zu  ausschließlich  in  den  Vordergrund  gestellt 
hat.  Man  glaubte  wie  Schiller:  „es  ist  der  Geist,  der  sich 
den  Körper  baut";  Riten,  Sitten,  Formeln  sah  man  als  mehr 
j  oder  minder  ungeschickte  Ausdrucksformen  an,  die  einen  schon 
I  vorhandenen  Gedankenkomplex  anschaulich  machen  sollten.  — 
Hierin  einen  großen  Umschwung  hervorgebracht  zu  haben,  ist 
I  bekanntlich  vor  allem  das  Verdienst  Robertson  Smiths  mit 
j  seiner  „Religion  of  the  Semites".  (Über  den  Verfasser  und 
\  sein  Werk  handelt  ein  schöner  Essay  in  J.  Bryces,  des  be- 
kannten deutschfreundlichen  englischen  Ministers  und  Historikers, 
„Studies  in  contemporary  biography",  S.  311  f.)     Der  englische 


420  Richard  M.  Mejer 

Geistliclie  erklärte  im  Gegenteil  den  Kult  mit  aller  Ent- 
schiedenheit für  das  prius  und  verlangte,  daß  seine  Geschichte 
das  Rückgrat  der  Religionsgeschichte  bilden  solle.  Übrigens 
hatte  vor  ihm  z.B.  K.  Weinhold  nachdrücklich  auf  die  Wichtig- 
keit des  Kultes  für  die  Mythologie  hingewiesen;  aber  Robertson 
Smith  führte  als  erster  diesen  Gesichtspunkt  energisch  und 
scharfsinnig  durch. 

Wohl  auch  zu  energisch!  Denn  schließlich  läßt  es  sich 
doch  nicht  leugnen,  daß  ein  Kult  auch  jünger  sein  kann  als 
die  Anschauung,  der  er  dient.  Am  häufigsten  wird  dieser 
Fall  durch  Übertragung  eintreten,  wie  wenn  etwa  die 
Neuchristen  auf  Madagaskar  Taufe  und  Abendmahl  im  Sinne 
ihrer  angestammten  Religion  zaubermäßig  verwenden  (Reville, 
Verhandlungen  des  IL  Internat.  Kongresses  f.  allgem.  Religions- 
geschichte in  Basel,  S.  338)  —  wobei  es  eine  Frage  für  sich 
bleibt,  ob  diese  christlichen  Gebräuche  ihrerseits  auf  uralten 
heidnischen  Brauch  zurückgehen  (vgl.  Keßler  ebd.  S.  259). 
Aber  auch  durch  innere  Entwickelung  kann  die  Religion 
über  den  Kult  herauswachsen  und  neue  Kultformen  fordern: 
Bußpsalmen,  ob  nun  babylonisch  oder  hebräisch,  setzen  eine 
Reife  der  religiösen  Anschauung  voraus,  die  niemand  als 
primitiv  ansehen  wird.  Aber  selbst  in  der  Gegenwart  läßt 
sich  ja  noch  die  Entstehung  neuer  Kultformen  —  natürlich 
unter  Anlehnung  an  alte  —  beobachten;  so  berichtet  Konrad 
Martin,  der  aus  dem  „Kulturkampf"  bekannte  Bischof  von 
Faderborn  (Drei  Jahre  aus  meinem  Leben,  Mainz  1877,  S.  122f), 
unter  welchen  Schwierigkeiten  sich  die  Andacht  zum  heiligsten 
Herzen  Maria  von  einem  bestimmten  Zentrum  aus  seit  1836 
durchsetzte  und  verbreitete.  Sicher  also  werden  wir  nicht 
jeden  Kult  unbesehen  seinen  mythischen  Zusammenhängen 
gegenüber  als  „primitiven  Kern"  betrachten  dürfen,  noch 
weniger  freilich  in  die  alte  Anschauung  zurückfallen,  aus  der 
heraus  Kuhn  und  Schwartz  meinten,  jeder  Ritus  stelle  einen 
bestimmten  Mythus  vor  (vgL  Deubner,  Archiv  für  Religions- 


Mythologische  Fragen  421 

wissenscliaft  9,  278).  Davon  bin  ich  auch  so  weit  entfernt, 
daß  ich  soeben  erst  selbst  empfohlen  habe,  nach  Useners 
glänzendem  Beispiel  bei  der  Erklärung  mythologischer  Er- 
scheinungen weniger  ausschließlich  literarisch  und  mehr  volks- 
kundlich vorzugehen  („Ikonische  Mythen",  Ztschr.  d.  Phil.  38, 170). 
Aber  es  bleiben  Fälle,  wo  man  für  das  genealogische  Ver- 
hältnis zwischen  Ritus  und  Mythus  über  die  berühmte  uralte 
Rätselfrage j  ob  das  Ei  älter  sei  oder  die  Henne,  einstweilen 
wenigstens  nicht  herauskommt. 

Zunächst  aber  wirkte  Robertson  Smith,  nicht  bloß  auf  die 
Semitisten,  mit  geradezu  faszinierender  Kraft.  Und  aus  der  Vor- 
stellung, alle  Religion  beginne  schlechtweg  mit  Kulthandlungen, 
wuchs  insbesondere  auch  die  ganz  neue  Wertung  des  Zaubers  hervor. 
Eigentlich  liegt  nur  ein  Spezialfall  vor.  Frühere  Mytho- 
logen,  am  stärksten  die  erste  vergleichende  Schule,  die  der 
Creuzer,  Kanne,  Görres,  dichteten  den  Urmenschen  in  einen 
geheimnisvollen  Propheten  um,  der  göttliche  Offenbarung  in 
dunkler  Verhüllung  hütete  und  fortpflanzte.  Die  neuere 
Mythologie  geht,  besonders  seit  dem  Erwachsen  der  folk- 
loristischen Schule  der  Lipper t.  Lang,  Frazer,  von  der 
entgegengesetzten  Idee  aus:  instinktive,  dumpf  tappende  Hand- 
lungen sind  ihr  die  Wurzel  aller  Religion  und  die  älteste 
Mythologie  gleichsam  nur  ein  System  von  volkstümlichen 
Deutungen  der  eigenen  Gesten.  Führt  ja  auch  die  moderne 
Psychologie  die  „Bildlichkeit  oder  Gegenständlichkeit  des 
Denkens"  auf  den  psychischen  Zwang  oder  doch  die  psycho- 
logische Nötigung  volkstümlicher  Denkart  zurück  (L.  W.  Stern, 
Die  Analogie  im  volkstümlichen  Denken,  S.  57).  Vereinigt 
sich  nun  mit  dieser  Gewohnheit  triebartiger,  gestikulierender 
„Handlungen"  eine  starke,  auf  bestimmte  Zwecke  gerichtete 
Absicht,  besser  gesagt  ein  einem  bestimmten  Ziel  zugewandter 
j  Wunsch  —  so  entsteht  der  Zauber,  wie  ihn  sich  die  Mytho- 
I  logen  und  Kulturhistoriker  unserer  Tage  —  auf  Grund  zahl- 
'  loser  wohlbezeugter  Belege  —  vorstellen. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  IX  28 


422  Richard  M.  Meyer 

Es  ist  niclit  durchaus  nötig,  die  Zauberei  so  aufzufassen. 
Vielmelir  erscheint  sie  auf  höherer  Kulturstufe  naturgemäß  in 
viel  stärkerer  „Bewußtheit":  als  überlegter  Versuch,  sich  Kräfte 
anzueignen,  die  eigentlich  nur  höher  stehenden  Wesen  gehören. 
So  habe  ich  sie  z.  B.  für  die  Edda  definieren  können,  in  einer 
Abhandlung,  die  einmal  systematisch  gewisse  Grundbegriffe 
der  Mythologie  für  ein  bestimmtes  ethnologisches  Gebiet  fest- 
zulegen suchte  (Der  Begriff  des  Wunders  in  der  Edda,  Ztschr. 
d.  Phil.  31,  318).  Eine  allgemeine  Definition  des  Wunderbegriffs 
gab  Hume  im  Essay  X  —  nicht  ein  wandsfrei,  wie  sein  geistlicher 
Gegner  Whately  richtig  nachwies  (vgl.  Famous  pamphlets  ed. 
by  H.  Morley  bes.  S.275).  Auch  wird  im  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch der  Gelehrten  zwischen  diesen  Formen  kaum  entschieden: 
V.  d.  Leyen  z.  B.  (s.  u.)  denkt  fast  nur  an  die  überlegte,  von  be- 
stimmten Voraussetzungen  ausgehende  Zauberhandlung,  Kauff- 
mann  („Balder")  unterscheidet  sie  nicht  von  dem  instinktiven 
„Analogiezauber",  Preuß  hat  diesen  ausschließlich  im  Auge. 
Immerhin  ist  die  Kontinuität  dieser  Stufen  der  Magie  nicht  zu 
bestreiten,  und  der  Versuch,  Dinge  zu  erzwingen,  die  sonst 
nicht  eintreten  würden,  und  zwar  durch  Vermittelung 
der  dazu  jeweilig  kompetenten  übermenschlichen 
Wesen  —  dieser  praktische  Versuch  der  Thaumaturgie  bleibt 
allezeit  Seele  und  Kern  alles  Zaubers. 

Zauber  nun  in  diesem  Sinne  ist  in  letzter  Zeit  in  un- 
geahnter Weise  zu  Ehren  gekommen.  Man  möchte  beinahe 
von  einem  Rückfall  in  jene  rationalistische  Erklärungsweise 
der  Aufklärungsperiode  sprechen,  für  die  bewußter  „Pfaffen- 
trug" und  blöde  Nachahmung  von  selten  der  „dummen  Menge" 
das  Wesen  der  Religion  ausmachten;  oder  mindestens  in  die 
Anschauung  der  bei  entgegengesetztem  Standpunkt  nicht  minder 
einseitigen  Romantiker,  die  mit  Creuzer  (Briefe  über  Hermes 
und  Hesiodus  S.  31)  den  Begriff  des  Magischen  in  die  Odyssee 
hineintragen.  Weltanschauung,  Andacht,  Verkörperung  aus 
ästhetischem  Bedürfnis,  Wißbegier,  Systembildung,  Anpassung 


Mythologische  Fragen  423 

an  gegebene  Deutungen  —  alles  das  verschwindet,  und  es 
bleibt  nur  noch  der  Zauberritus.  Wir  werden  demgegenüber 
nicht  mit  Faust  rufen: 

Könnt'  ich  Magie  von  meinem  Pfad  entfernen, 
Die  Zaubersprüche  ganz  und  gar  verlernen 

(Faust  II,  Weim.  Ausg.  v.  11404), 

aber  immerhin  gewissen  Übertreibungen  gegenüber  uns  seine 
Worte  aneignen: 

Mir  widersteht  dies  tolle  Zauberwesen! 

Wenn  Usener  dem  Ritus  weitgehende  Bedeutung  für  die 
Entstehung  aller  sozialen  Ordnung  zuschrieb  —  wie  kräftig 
hat  er  doch  daneben  (z.  B.  Archiv  f.  Religionswissenschaft  7,  281) 
jene  anderen  psychologischen  Wurzeln  aufgedeckt!  Jetzt  erklären 
Hubert  und  Mauß,  denen  Forscher  vom  Range  Preuß'  und 
Kauffmanns  begeistert  folgen,  der  Glaube  an  eine  Zauber- 
kraft sei  vor  aller  Erfahrung  a  priori  gegeben,  er  sei  eine 
„materielle  und  zugleich  geistige  Substanz"  (ich  zitiere  Preuß, 
Archiv  9,  96).  Sie  machen  den  Zauberwillen  gleichsam  zur 
Ilrkraft  der  Menschheit,  zu  einem  metaphysischen  Urphänomen, 
wie  Schopenhauers  „Wille  zum  Leben",  Ed.  v.  Hartmanns 
„Unbewußtes",  Nietzsches  „Wille  zur  Macht",  dem  er  am 
nächsten  stehen  mag.  —  Aus  solchen  primitiven  Vorstellungen 
hat  denn  z.  B.  v.  d.  Leyen  (Germanistische  Abhandlungen, 
H.  Paul  dargebracht,  S.  I51f)  die  zentrale  Gestalt  des  alt- 
germanischen Olymps,  den  Gott  Odin,  abgeleitet,  der  für  ihn 
nur  die  Verkörperung  des  Zauberwesens  ist.  Das  geschieht 
immer  noch  in  wissenschaftlicher  Weise.  Nun  aber  hat  z.  B. 
in  populärer  Darstellung  Arthur  Bonns  (Kunstwart  18, 235 f.) 
;  alle  Erzählungskunst  aus  dem  Zauberspruch  abgeleitet  und 
I  alle  gründliche  und  überlegte  Forschung  über  die  Anfänge  der 
!  Prosa  ebenso  wohlgemut  ignoriert  wie  die  klugen  Spekulationen 
jJacobowskis  (Gesellschaft  15,  9 f.),  die  doch  immerhin  auf 
empirischer  Basis  ruhen. 

28* 


424  Richard  M.  Meyer 

Der  Klassiker  aber  des  wissenschaftliclien  Zauberglaubens 
ist  der  Mann,  dem  freilich  seine  gelehrten  Arbeiten  auch  das 
meiste  Recht  geben,  ein  von  ihm  in  seiner  Bedeutung  fast  neu 
entdecktes  Werkzeug  zu  überschätzen:  K.  Th.  Preuß.  Seine 
an  sich  so  wichtigen  Aufsätze  über  den  Ursprung  der 
Religion  und  Kunst  (Globus  LXXXYI— LXXXVII),  die  durch 
die  Studie  über  den  dämonischen  Ursprung  des  griechischen 
Dramas  (Neue  Jahrbücher  1906,  S.  161  f)  ergänzt  werden,  zeigen 
den  Zauberkultus  auf  der  Höhe.  Von  dem  höchst  gefährlichen 
Dogma,  daß  es  „nur  eine  Psychologie  für  die  Entstehung 
geben  kann"  (86,  361)  ausgehend,  leitet  er  aus  dem  Zauber 
ab  allen  Körperschmuck  (ebd.  S.  391),  alle  Spiele  der  Er- 
wachsenen (daß  sie  „sämtlich  auf  zauberisch -religiöse  Motive 
zurückgehen",  ist  ihm  ein  „unumstößlicher  Gesichtspunkt" 
87,  333),  allen  Arbeitsrhythmus  (ebd.  S.  335),  alle  Tänze 
(„ursprünglich  sind  alle  Tänze  religiös"  —  ein  von  Preuß 
übernommenes  Dogma  Gerlands,  S.  336)  und  schließlich 
(S.  382f.)  die  Sprache  selbst!  „Die  weitere  Konsequenz  ist, 
daß  die  Sprache  dem  Zauber  der  Töne  und  des  Wortes  über- 
haupt ihren  Ursprung  verdankt"  (S.  397).  „Weder  Affekte 
noch  Hilfsbedürftigkeit  noch  irgend  etwas  läßt  sich  denken, 
das  mehr  als  rohe  Schreie  hervorzurufen  vermöchte  ...  Die 
Sprache  ist  das  Ergebnis  des  Zauberglaubens"  (von 
mir  gesperrt;  S.  397).  Das  ging  denn  selbst  W.  Wundt  zu 
weit,  der  doch  sonst  in  seiner  „Völkerpsychologie"  so  gern 
dem  mythischen  Brüderpaar  Reich  und  Preuß  (die  trefflichen 
Forscher  sind  wirklich'  verschwägert!)  nachgeht  (vgl.  Reich, 
Deutsche  Lit.-Ztg.  1906,  S.  1606)  und  Preuß  den  zaubermäßigen 
Ursprung  des  Gewand-  und  Körperschmuckes  (S.  204)  und  des 
Ornamentes  an  Waffen  (S.  212)  abnimmt,  den  unbedingten 
religiösen  Ursprung  aller  Tänze  (als  hätte  Groos  nie  seine 
„Spiele  der  Tiere"  und  „Spiele  der  Menschen"  geschrieben!) 
einfach  voraussetzt  (S.  398,  403,  429)  und  selbständig  die  Ab- 
leitung der  festen  Tonskalen  aus  den  „heiligen  Zahlen"  (S.447, 


Mythologische  Fragen  425 

vgl.  S.  453  Anm.)  hinzufügt  —  eine  der  kühnsten  anti- 
empirisclien  Spekulationen  aus  dem  modernen  Zauberdienst 
heraus!  Aber  selbst  dieser  große  Adept  der  alten  Magie  meint 
doch  (S.  322  Anm.),  daß  die  Konsequenz,  die  Sprache  verdanke 
ihren  Ursprung  dem  Zauber  der  Töne  und  des  Wortes  über- 
haupt, allein  scbon  geeignet  sei,  gegen  Preuß'  Verallgemeinerung 
mißtrauisch  zu  machen.  Und  wenn  in  der  Arbeit  über  den 
Ursprung  des  griechischen  Dramas  Preuß'  Tanz  und  Musik 
lediglich  als  Zaubermittel  aufgefaßt  werden  (ebenso  S.  169 
alles  Ballspiel),  so  hat  K.  Euling  (Das  Priamel  bis  Hans  Rosen- 
plüt,  S.  176  Anm.)  wohl  nicht  ohne  Grund  gefürchtet,  daß  die 
Kategorien  der  Kausalität  und  der  Teleologie  vertauscht  seien. 
Man  vergegenwärtige  sich  doch  nur  einmal  dies:  der 
primitive  Mensch,  der  noch  nicht  eigentlich  reden  kann,  soll 
vermöge  des  Analogiezaubers  bereits  ein  weitgreifendes  System 
von  Kulthandlungen  besitzen!  Er  soll  Zauberriten  ohne  Sprache 
überliefern  und  soll,  ehe  er  die  allen  höheren  Tieren  gemeinen 
Künste  des  Spiels  und  Tanzes  besitzt,  bereits  von  der  schwie- 
rigen Vorstellung  individueller  magischer  Kräfte,  des  ^orenda' 
der  Irokesen  (Hubert  und  Mauß  a.  a.  0.),  durchdrungen  sein! 
Ein  stummer  Philosoph,  ein  sprachunfähiger  Zauberer,  hinter 
ihm  ein  Volk  von  Zauberlehrlingen,  mit  denen  er,  die  sich  mit 
ihm  nicht  verständigen  können!  Es  bleibt  ihnen  das  äußer- 
liche Nachahmen,  wohl;  dies  aber  soll  beim  Ritus  genügen, 
bei  dem  jede  Kleinigkeit  von  ungeheurer  Wichtigkeit  ist? 

Einerseits  wird  der  Urmensch  unter  die  Stufe  des  Tieres 
heruntergedrückt,  das  spielt  und  in  seiner  Weise  sogar  redet; 
anderseits  wird  er  über  den  Magier  aller  bekannten  Zeit  er- 
hoben, der  zauberkräftig  schlechterdings  nur  durch  das  Zu- 
sammenwirken von  „Wort"  und  „Werk",  Ritus  und  Spruch 
aufzutreten  vermag!  Ferner:  in  allen  bekannten  Zeiten,  bei 
allen  beobachteten  Völkern  ist  der  Zauber  „stets  bei  wenigen 
I  nur  gewesen";  selbst  P.  v.  Bradke,  der  von  einer  vorhisto- 
I  rischen   „Schule"   träumte,   meinte    doch    selbst   noch   für  die 


426  Richard  M.  Meyer 

Arier  der  Urzeit:  „War  gleicli  eine  gewisse  Kenntnis  der 
heiligen  Rede  auch  den  übrigen  arisclien  Männern,  insonder- 
heit den  Vornehmen  und  Herren  unter  ihnen,  unentbehrlic 
die  Pflege  des  Wortes  und  die  Unterweisung  im  Worte  ko 
wenigstens  auf  die  Dauer  nicht  ausreichend  von  Mann 
geübt  werden,  denen  gleichzeitig  —  und  zwar  in  erster  Linie 
die  Geschäfte  des  Krieges  und  der  Versammlung,  des  Staa 
und  der  Familie  oblagen"  (Beiträge  zur  Kenntnis  d.  vorhis 
Entwickelung  unseres  Sprachstammes,  S.  9).  Für  Preuß  aber 
wäre  nicht  nur  „jedermann  sein  eigener  Zauberer"  —  nein, 
nach  jener  Vorstellung,  die  er  (87,  418 f.)  von  der  Verbreitung 
des  Zauberwesens  entwickelt,  wäre  er  eigentlich  nur  dies  ge- 
wesen. Wie  man  der  glottogonischen  Theorie  Lazarus 
Geigers  vorgeworfen  hat,  nach  ihr  müsse  der  Urmensch 
aufhörlich  „tönen",  &o  muß  er  jetzt  fortwährend  „zaube 
Ich  bin  der  letzte,  zu  bestreiten,  daß  den  primitiven  Mensch 
eine  fast  undurchdringliche  Atmosphäre  von  religiöser  Sc 
umgab;  und  Usener  hat  uns  ja  gelehrt,  wie  jede  Waffe,  jeder 
Klotz  ihm  zum  „Augenblicksgott"  werden  konnte.  Ich  glaube 
sogar,  daß  dies  alles  durchdringende  „Abhängigkeitsgefühl" 
bis  in  die  Sprache  hinein  seinen  Einfluß  ausübt:  den  Optativus 
als  indogerm.  Modus  weiß  ich  mir  nur  so  zu  erklären,  daß  er 
die  Verwirklichung  eines  Wunsches  von  der  Zustimmung 
höherer  Mächte  abhängen  läßt,  wie  der  Konjunktiv  von  be- 
stimmten Bedingungen,  der  Imperativ  von  der  Tätigkeit  einer 
angeredeten  Person.  Aber  eine  weite  Kluft  trennt  solche 
religiöse  Befangenheit  noch  von  dem  unaufhörlichen  Verrichten 
magischer  Handlung,  wie  Preuß,  Hubert,  Mauß  es  voraus- 
setzen. Der  Begriff  des  Zaubers  geht  auf  diese  Weise  völlig 
in  die  Brüche,  weil  eine  fortwährend  und  überall,  von  allen 
und  bei  jeder  Gelegenheit  ausgeübte  Tätigkeit  jenen  Charakter 
einer  ungewöhnlichen  Anstrengung  nicht  bewahrt,  ohne 
den  der  Zauber  keinen  Sinn  hat:  mit  Alltäglichem  zwingt 
man  die  Götter  nicht.     Wenn  es  nur  religiöse  Tänze  gibt,    so 


rus 

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Mythologische  Fragen  427 

gibt  es  keine  religiösen  Tänze.  Und  in  der  Tat!  Worauf  gründet 
man  denn  z.  B.  jenen  Glaubenssatz,  daß  alle  Feste  ursprünglich 
religiöser  Art  waren?  Man  denke  doch  an  unsere  Kirchweih! 
Was  ist  denn  das  prius:  religiöse  Empfindung  oder  naive  Ver- 
gnügungssucht? Das  Bedürfnis  der  Menschen,  zusammen- 
zukommen, miteinander  zu  „spielen",  ihre  Kräfte  zu  messen, 
darf  doch  wohl  schon  wegen  der  Analogien  bei  den  höheren 
Tieren  als  ein  wirkliches  „Urphänomen"  angesehen  werden; 
dies  wird  mit  der  Zeit  diszipliniert,  unter  den  Schutz  heid- 
nischer und  kirchlicher  Zeremonien  gestellt,  wie  die  erotische 
Lyrik  fast  überall  (z.  B.  in  der  Edda  in  dem  Gedicht  von 
Skirnirs  Fahrt)  unter  mythologischem  Mantel  in  die  Tradition 
eintritt.  Ein  durchschnittliches  Kirmesfest  ist  trotz  Kirchgang 
und  Weihgaben  seinem  Ursprung  nach  so  wenig  „religiös", 
wie  ein  Trinkgelage  von  Krieger-  oder  Turnervereinen  zuerst 
„patriotisch"  ist  —  der  Verein  mag  es  deshalb  doch  sein!  — ; 
die  bestimmenden  Motive  liegen  nicht  so  tief:  man  will  bei- 
sammen sein  und  sich  amüsieren. 

Und  all  die  psychologischen  und  historischen  Schwierig- 
keiten jener  Vorstellung  —  wodurch  werden  sie  denn  eigent- 
lich nötig  gemacht?  Wodurch,  durch  welche  greifbaren 
Argumente  ist  die  frühere  Anschauung  widerlegt,  wonach 
umgekehrt  durch  eine  Auslese  aus  dem  Alltäglichen,  Selbst- 
verständlichen Religion,  Ritus,  Zauber  sich  erst  entwickelt 
haben?  Viel  weiter  im  Unwahrscheinlichen  als  in  der  Her- 
leitung der  Sprache  aus  dem  Zauber  kann  man  doch  schwer 
gehen!  Höchstens  könnte  man  noch  die  Art  der  Fortpflanzung, 
die  der  Mensch  mit  dem  Tier  teilt,  für  eine  rituelle  Nach- 
ahmung des  IsQog  yd^og  erklären,  wofür  denn  auch  die  nie 
fehlende  Begleitung  religiöser  Zeremonien  bei  der  Eheschließung 
und  die  feierliche  Behandlung  der  Ehe  in  der  Poesie  zeugen 
könnten  .  .  . 

Dies  führt  zu  einem  weiteren  Gesichtspunkt.  Preuß  trägt 
der  poetischen  und  pathetischen  Auslese  nicht  Rechnung. 


428  Richard  M.  Meyer    Mythologiscbe  Tragen 

Ganz  natürlich  ist  in  der  Überlieferung,  zumal  der  poetischen^ 
von  diesen  feierlichen  und  aufregenden  Dingen  unverhältnis- 
mäßig viel  die  Rede.  Man  denke  doch  noch  an  die  neuere 
Dichtung!  Ist  es  doch  vielleicht  auch  ein  Symptom  der  Über- 
schätzung des  Zaubers,  daß  Traumann  (Literaturblatt  f.  germ. 
u.  rom.  Phil.  26  [1905]  S.  231)  Minors  gelehrtem  Werkchen 
über  Goethes  Fragmente  vom  ewigen  Juden  vorwerfen  konnte, 
er  verwechsele  poetische  Verwertung  mit  Wunderglauben.  Sehr 
früh  wird  auch  hier  schon  das  Spiel  neben  die  gläubige  Aus- 
übung getreten  sein,  wie  bei  unseren  Kindern  und  ihren 
Messen  und  Predigten.  Wenn  der  junge  Schiller  den  Pastor 
Moser  agierte,  lag  ihm  der  Glaube  an  Wunderwirkung  des 
heiligen  Wortes  fern,  den  der  Geistliche  noch  gefühlt  haben 
mag.  Aufmerksam  spüren  die  Traditoren  jede  Kunde  von 
mexikanischem  Heidentum  auf;  das  hört  sich  dann  an,  als  ob 
der  Azteke  in  lauter  Zauber  gelebt  hätte.  Aber  wieviel  Aber- 
glaube ist  von  den  heutigen  Deutschen  noch  belegt  (man  sehe 
nur  Wuttke  -  E.  H.  Meyers  „Deutschen  Yolksaberglauben"  oder 
die  Ztschr.  d.  Vereins  f.  deutsche  Volksk.  durch!),  und  wie  wenig 
Raum  nimmt  tatsächlich  die  Ausübung  dieser  Riten  im  Leben 
des  Volkes  ein!  Die  Zauberberichte  in  ihrer  ganzen  Breite 
ins  Leben  zu  projizieren,  ist  gewiß  noch  voreiliger,  als  wenn 
man  aus  den  Romanen  und  Gedichtbüchern  schließen  wollte, 
der  moderne  Mensch  lebe  nur  für  die  Liebe  und  allenfalls 
noch  für  die  philosophische  Grübelei. 

Gegenüber  der  Vernachlässigung  der  Kultgebräuche  be- 
deutet Preuß'  Betonen  des  Zaubers  einen  wichtigen  Fort- 
schritt. Nun  aber  kommt  es  darauf  an,  den  wirklichen  Umfang 
des  Zauberwesens  nach  Möglichkeit  festzustellen,  die  charak- 
teristischen Züge  der  Magie  als  einer  ungewöhnlichen 
Anstrengung  nicht  zu  verwischen  und  einen  fruchtbaren 
Gesichtspunkt  nicht  durch  Übertreibung  zu  schädigen! 

[Der  Schluß  des  Aufsatzes  folgt  im  nächsten  Heft] 


II  Berichte 


Die  BericMe  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  8  Heften 
von  2  Jahrgängen  schließen.  Mit  diesem  Band  IX  (1906)  beginnt 
die  neue  Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen 
der  Zeit  seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß 
des  betr.  neuen  Berichts  referiert. 


'  2  Indonesien 

Von  Dr.  H.  H.  JuynboU  in  Leiden 
[Fortsetzung  und  Schluß] 

Sumatra 

Neue  Mitteilungen  betreffs  der  religiösen  Anschauungen 
der  Karo-Batak  enthält  J.  H.  Neumanns  Abhandlung:  „De 
j  tendi  in  verband  met  Si  Dajang'^  (Mededed.  Ned.  Zend. 
Genootsch.  XL VIII  (1904),  S.  101  flg.). 

Nach  ihrer  Meinung  besteht  der  Mensch  aus  drei  Teilen: 
1.  die  tendi  (Seele  im  Körper,  Lebenskraft),  2.  eine  zweite 
tendi,  die  nach  dem  Tode  hegu  (die  unvergängliche  Seele)  wird, 
3.  der  Körper. 

Die  erste  tendi  hält  sich  unter  dem  Hause,  wo  die  Placenta 
begraben  liegt,  auf,  die  zweite  aber  auf  dem  Dachboden  (paro). 


430  H.  H.  JuynboU 


I 


Die  eine,  maringala  genannte,  verschwindet  nach  dem  Tode, 
die  andere  aber  wird  hegu  djahu. 

Nach  der  Anschauung  der  guru  hat  der  Mensch  sieben 
tendif  deren  sechs  die  Sklaven  der  ersten,  Si  Djudjung  oder 
Djungdjungen  genannten,  sind.  Wer  alle  diese  sieben  tendi  hat, 
würde  unglücklich  sein,  denn  die  sechste  ist  ein  Dieb,  die 
siebente  ein  Spieler.  Diese  siehen  tendi  finden  sich  in  sieben 
verschiedenen  Körperteilen. 

Die  tendi  ist  mit  dem  Blut  innig  verbunden,  denn  sie  ist 
die  Wärme,  die  Essenz  des  Blutes. 

Zwei  Dogmata  der  Karo-Batdk  sind:  alles,  was  lebt,  hat 
eine  tendi,  und  der  Mensch  wird  mit  einer  tendi  geboren.  Die 
tendi  wächst  mit  dem  Menschen.  Wenn  ein  Kind  Zähne  hat, 
wird  seine  tendi  als  hart  (fest)  betrachtet.  Die  tendi  geht  von 
den  Eltern  aus.  Wenn  man  träumt,  die  tendi  seines  Kindes 
gebe  ein  hartes  Objekt,  so  ist  dies  ein  günstiges  Omen.  Nach 
einem  Traum  fragt  man  nicht:  was  war  Ihr  Traum?  sondern: 
was  war  seine  tendi?  weil  der  Traum  eine  Wanderung  der 
tendi  ist. 

Bei  der  ersten  Haar  schneidung,  die  nicht,  wie  sonst, 
gunting,  sondern  indjami  (leihen)  heißt,  bekommt  das  Kind 
Nippsachen,  damit  die  tendi  sich  nicht  fürchte  und  entfliehe. 
Wegen  derselben  Ursache  wird  das  Haar  des  Kindes  nicht  ab- 
geschnitten, bevor  es  Zähne  hat.  Man  knüpft  die  ersten  ab- 
geschnittenen Haare  zusammen  und  bewahrt  dieselben  auf,  da- 
mit man  die  tendi  festhalte. 

Die  tendi  ist  zugleich  Lebenskraft  und  alter  ego.  Die 
tendi  bestimmt  den  Menschen.  Wenn  bei  einer  Krankheit  die 
Arzneimittel  nichts  nutzen,  stellt  man  die  Diagnose:  die  tendi 
ist  erzürnt.  Seele  und  Menschen  hängen  innig  zusammen. 
DerBatak  sagt:  ich  will,  kann  aber  auch  sagen:  meine  tendi  will. 

Das  Wort  nawa  (=  Mal.  njawa)  wird  bisweilen  in  der 
Bedeutung  von  „Atem"  gebraucht;  die  große  Menge  kennt  es 
aber  nicht. 


Indonesien  431 

Die  tendi  kann  den  Körper  des  Menschen  verlassen  bei 
Schreck  und  wird  dann  auf  sieben  verschiedene  Weisen  zurück- 
gerufen, je  nachdem  sie  sich  mehr  oder  weniger  weit  entfernt 
hat.  Die  tendi  wird  mit  begu  assimiliert.  Der  Verfasser  gibt 
zwei  Zauberformeln  (tabas)^  um  die  entflohene  Seele  zurück- 
zurufen, in  Karo-batakischem  Text  und  Übersetzung. 

Die  Karo -Batak  kennen  keinen  Hauptgott,  aber  drei  Dihata. 
Der  Gott  der  oberen  Welt  heißt  empung  oder  nini  (Großvater). 
Die  Karo -Batak  betrachten  sich  als  die  dibata  tengah  (Mittel- 
götter) und  nennen  die  Ahnen  empung  dihata. 

Die  Seelen  gehen  nach  dem  Tode  nicht  nach  einem  be- 
stimmten Seelenland,  sondern  bleiben  einfach  auf  dieser  Erde, 
bisweilen  selbst  im  Hause.  Der  Begriff  eines  persönlichen 
Gottes  fehlt.  Eine  Vergeltung  ist  auch  nicht  vereinbar  mit 
ihrem  Schicksalsglauben. 

Der  Krieg  hat  den  Charakter  eines  Gottesurteiles,  bei  dem 
dibata  Schiedsrichter  ist.  Die  dibata  sind  die  Ahnen  (nini 
empung)^  die  durch  fremde  Einflüsse  Namen  erhalten  haben. 
Das  Band  zwischen  der  Seele  und  den  Göttern  ähnelt  dem 
zwischen  dem  lebenden  Geschlecht  und  den  Ahnen. 

Die  Religion  der  Karo-Batah  ist  aber  nicht  einfach 
„Ahnendienst".  Neben  der  Verehrung  seiner  Ahnen  fürchtet 
er  die  Naturkräfte. 

Die  Lebenskraft  von  Tieren  und  Pflanzen  heißt  auch  tendi. 
Diese  tendi  ist  sich  selbst  bewußt.  Daher  ist  die  tendi  eines 
gefällten  Baumes  zu  fürchten.  Die  tendi  gestorbener  Tiere  und 
Pflanzen  werden  Wind. 

Für  kleine  Kinder,  die  jung  sterben,  und  für  plötzlich  ge- 
storbene und  unverheiratet  gebliebene  Frauen  verfertigt  man 
einen  Garten,  der  „Sonnenschirm  der  tendi^^  heißt.  Dieselben 
haben  noch  eine  tendi,  weil  sie  noch  nicht  ausgelebt  haben. 
Ein  guru  kann  das  Leben  eines  Menschen  verlängern,  indem 
er  die  tendi  eines  anderen  Menschen  nimmt.  Die  tendi  wird 
oft  in  Verbindung  gebracht  mit  dem  Atem  (kesali).     Die  begu 


432  H.  H.  Juynboll 

bleiben  auf  der  Erde,  werden  Beschützer  ihrer  Nachkommen, 
sind  ihre  dihata  oder  bleiben  herumirrend.  Unter  tendi  verstehen 
die  Karo-Batah  eine  Person  und  eine  Kraft,  etwas  Bestimmtes 
und  etwas  Unbestimmtes. 

Wenn  ein  Kind  krank  ist,  schickt  die  Mutter  ihre  eigene 
tendi,  um  die  iendi  des  Kindes  zurückzuholen. 

Die  tendi  des  Reises  heißt  wie  der  Reis  selbst  Si  Dajang.  Si 
Dajang  wird  als  eine  Person  gedacht  und  angeredet.  Sie  hat 
als  Ort  die  perhenihen,  die  Nachahmung  eines  Waldes,  als 
Sonnenschirm.  Wie  bei  dem  Kinde  wächst  die  tendi  auch  bei 
dem  Reis.     Derjenige,  dessen  tendi  hart  ist,  ist  gesund. 

Der  Verfasser  gibt  hier  eine  Erzählung,  wie  aus  dem  be- 
grabenen Vogel  si  Icanlca  nukur  der  Reis  entstanden  ist,  die 
eine  große  Ähnlichkeit  zeigt  mit  der  minahassischen  Erzählung 
des  heheJcou} 

Si  Dajang  ist  die  schöpfende  und  unterhaltende  Kraft,  die 
sich  als  die  gnädige  offenbart.  Sie  ist  die  tendi  der  Welt  und 
wird  in  einem  hellen  Vogel  symbolisiert,  wie  im  ganzen  Archipel 
die  flüchtige  Seele  oft  als  Vogel  dargestellt  wird.  Sie  findet 
sich  in  allem,  speziell  im  Reis.  Da  ist  ein  Präfix,  das  Liebe 
und  Ehrfurcht  ausdrückt,  und  jang  ist  ein  allgemeiner  Name 
für  Geister  und  Götter  im  indischen  Archipel. 

Der  Verfasser  deutet  das  Abschlagen  oder  Schwarzmachen 
oder  Schmücken  der  Vorderzähne  als  ein  Mittel,  damit  Jang 
(der  Reis)  sich  nicht  fürchte,  wenn  sie  in  den  Mund  eintritt. 
Bei  der  Zahnfeilung  bietet  man  der  tendi  des  Patienten  ein 
Geschenk  dar,  damit  sie  nicht  entfliehe;  die  tendi  des  Reises 
ist  wie  diejenige  der  Menschen  empfindlich  für  Schreck,  Un- 
achtsamkeit und  Unhöflichkeit. 


^  Jellesma.  Bydr.  t.  d.  kennis  van  hat  Tompakewasch.  (Verb.  Bat. 
Gen.  XL VII,  S.  54  — 55  und  meine  Übersetzung  in  B.  T.  L.  Vk.  1894,  716 
bis  717.  Siehe  die  toumbuluscbe  Redaktion  in  Niemann,  Bydr.  t.  d. 
kennis  der  Alfoerscbe  taal,  Text  7,  übersetzt  von  Wilken  in  Med.  Zend. 
Gren.  VII,  295  und  304. 


Indonesien  433 

Bihata  hat  die  Welt  nicht  geschaffen.  Der  Mensch  ist 
von  Dibata  nicht  geschaffen,  sondern  geschmolzen  oder  gegossen. 
Die  Menschen  sind  die  dibata  der  Mitte.  Bihata  ist  ein  jüngerer 
(sanskritischer)  Name  als  die  malaio-polyn.  Si  Dajang. 

Diese  Abhandlung  schließt  mit  einem  Mythus  iXherSi  Dajang, 
der  vielen  Sonnenmythen  bei  anderen  Völkern  ähnelt. 

Celebes 

Paul  und  Fritz  Sarasins  „Reisen  in  Celebes"  (Wies- 
baden, 1905)  bilden  die  erste  Monographie  über  die  ganze 
Insel  Celebes,  während  bisher  nur  der  südliche  und  nördliche 
Teil  durch  die  Publikationen  von  Matthes  und  Graafland, 
sowie  Zentral -Celebes  in  den  letzten  zehn  Jahren  durch  die 
von  Kruyt  und  Adriani  veröffentlichten  Mitteilungen  be- 
kannt geworden  sind.  Hier  wird  aus  dem  Buch  der  Herren 
Sara  sin  nur  der  auf  Religion  bezügliche  Teil  hervorgehoben 
werden. 

Zuerst  wird  in  flüchtigen  Umrissen  (1, 44)  die  Beschreibung 
der  Religion  der  Mijiahasser  vom  Jahre  1679  durch  Padt- 
Brugge  gegeben.  Nach  ihm  basierte  die  Kopfjagd  größtenteils 
auf  religiösen  Anschauungen.  Eine  große  Zahl  von  Priestern 
(wdlian)  sorgte  für  genaue  Einhaltung  der  religiösen  Ge- 
bräuche, welche  hauptsächlich  in  Opferfesten  (fosso)  bestanden. 
Der  Name  wdlian  ist,  wie  schon  Wilken  hervorgehoben  hat, 
dem  dajakischen  balian,  balinesischem  ivewalen  usw.  verwandt. 
Die  fosso  sollten  dazu  dienen,  die  Hilfe  der  Götter  anzurufen. 
Auch  Totenopfer  spielten  eine  große  Rolle. 

Man  meinte,  die  zahlreichen  Götter  (empung)  hätten  ihre 
Wohnsitze  auf  Berggipfeln,  an  Wasserfällen,  bei  großen  Bäumen 
oder  unter  der  Erde.  Sie  waren  ursprünglich  Große  und 
Mächtige  der  Vorzeit,  die  zu  Gottheiten  geworden  waren.  Sie 
verkündeten  ihren  Willen  durch  Schamanen  (männliche  und 
weibliche)  und  durch  Vogelgeschrei.  Auf  Vorzeichen  wurde 
streng    acht   gegeben,    und    Gottesurteile    spielten    eine    große 


434  H.  H.  Jnynboll 

Rolle.  Dies  alles  hat  sehr  viel  Ähnliclikeit  mit  den  jetzigen 
religiösen  Anschauungen  der  Bewohner  Borneos. 

Auf  S.  51  findet  sich  die  Abbildung  der  minahassischen 
Hausgottheit  Teteles;  derartige  hölzerne  Bilder  wurden  früher 
als  Heiligtümer  in  den  Häusern  aufbewahrt,  sind  jetzt  aber 
sehr  selten  geworden. 

Nach  Anlaß  der  Abbildung  eines  „Loho'^  von  Manangälu 
(I,  S.  218)  wird  gesagt,  die  Loho  seien  der  Wohnsitz  der  Dorf- 
schutzgeister (Anitu)  und  könnten  als  Tempel  oder  Geisterhäuser 
bezeichnet  werden.  Speziell  eine  Säule,  die  von  der  Mitte  des 
Längsbalkens  nach  oben  zum  Dach  geht,  dient  den  dorf- 
beschützenden Änitus  als  Wohnsitz.  Oben  um  sie  herum  ist  ein 
kleines  Giebeldach  angebracht,  unter  dem  menschliche  Schädel 
hangen.     Diese  sind  der  Anteil,  welchen  die  Geister   erhalten. 

In  einer  Schmiederei  sahen  die  Autoren  (I,  S.  230)  ein 
Bündel  aus  weichem  Holz  geschnitzter  Messer,  Hämmer,  Lanzen- 
spitzen usw.,  deren  Sinn  nach  Kruyt  der  eines  Opfers  ist. 
Die  Geister  sollen  sich  mit  den  hölzernen  Modellen  begnügen 
und  nicht  die  eisernen  schädigen,  denn  wenn  sie  die  Seele  des 
Eisens  wegnähmen,  so  würde  das  Eisen  kraftlos  werden.  In 
einer  anderen  Schmiederei  (von  Lemhong  pangi)  sahen  die  Ge- 
brüder Sarasin  allerlei  kleine  Opferhäuschen  von  den  Dach- 
balken herabhängen,  die  dienen,  um  die  Seelen,  die  ihren 
Körper  verlassen  haben,  zurück  zu  locken.  Über  die  Totenopfer 
der  Toradjas  erfahren  wir,  daß  diese  durchschnittlich  alle  drei 
Jahre  gefeiert  werden.  Zu  Ehren  der  Toten  wird  ein  mehr- 
tägiges Fest  gefeiert,  mit  Tanz,  Gesang,  Schlachten  und  Yer- 
schmausen  vieler  Opfertiere,  was  also  viel  Ähnlichkeit  hat  mit 
dem  Tiwahfest  der  Olo  Ngadju.  Hierauf  werden  die  Knochen 
der  Toten  in  einer  Kiste  gesammelt  und  in  eine  abgelegene 
Felskluft  hinausgetragen. 

Auf  S.  234  findet  sich  die  Abbildung  einer  Opferstätte 
auf  der  Paßhöhe  des  TaJcalehadjo,  aus  einer  Menge  in  die  Erde 
gepflanzter  Stöcke  bestehend,   in  die  Opfergaben   hineingelegt 


Indonesien  435 

werden.  Das  Gebet  eines  Kahosenja  bei  der  Darbringung  seines 
Opfers  (eines  Siribpriemchens  und  eines  Stückes  Baumrinde) 
ist,  wie  Kruyt  es  belauscht  bat,  hier  wiedergegeben.  Im 
zweiten  Teil  (S.  20)  finden  sich  einzelne  Mitteilungen  über  den 
Dämonenkult  in  Pakuli.  Dort  gibt  es  einige  sehr  schlecht 
aus  Holz  gearbeitete  Bildnisse,  von  stark  ausgeprägter  phal- 
lischer Haltung,  die  als  Stellvertreter  für  Kranke  dienen;  der 
Priester  zaubert  den  Dämon  aus  dem  Kranken  in  ein  solches 
Bildnis. 

Die  Nachrichten  über  die  religiösen  Anschauungen  der 
Toala  (H,  290)  sind  mehr  negativ  als  positiv.  Es  ist  dort  die 
Rede  von  einem  gewissen  Baum,  in  dem  ein  Geist  wohnt.  An 
diesem  opfert  man  Reis,  Gemüse  und  Hirschfleisch,  um  eine 
gute  Ernte  zu  erbitten.  Der  Ada,  der  dieses  Opfer  bringt, 
kennt  aber  den  Namen  des  Geistes  nicht.  "Von  Mohammed 
hat  er  reden  hören,  kennt  ihn  aber  nicht.  Er  weiß  nicht,  wer 
Welt  und  Himmel  gemacht  hat,  was  aus  der  Seele  nach  dem 
Tode  wird  usw. 

Auf  S.  292  ist  eine  Holzmaske  aus  Ldmontjong  abgebildet. 
Hierüber  sagen  die  Verfasser,  daß  bei  einzelnen  Toradjastämmen 
Totenmasken  vorkommen,  welche  den  Schädeln  beim  Totenfest 
vorgebunden  werden.  Der  Name  dieser  Masken,  den  die  Ver- 
fasser nicht  nennen,  ist  pemia. 

Schließlich  ist  auf  S.  312  von  einem  Opferplatz,  der 
Karaeng  Lowe  geweiht  ist,  und  von  einem  an  Karaeng  Lowe 
j  geweihten  Häuschen,  in  welchem  ein  aufrecht  gestellter  Holz- 
pflock das  Symbol  der  Verehrung  darstellt,  gesprochen.  Reste 
des  bei  den  Toradjas  noch  heute  herrschenden  Animismus 
sind  auch  bei  den  Makassaren  und  Buginesen  unschwer  zu 
ünden. 

Im  allgemeinen  lernt  man  aus  dieser  Reisebeschreibung 
nicht  viel  Neues  über  die  Religion  der  Celebes  bewohnenden 
Völker.  In  dieser  Hinsicht  sind  die  Publikationen  von  Kruyt, 
die  von  den  Verfassern  auf  S.  369  verzeichnet  werden,  von  viel 


436  H.  H.  JuynboU 

größerem  Interesse,  weil  derselbe  durch  seinen  zehnjährigen  Ver- 
bleib in  Zentralcelebes  besser  als  irgendein  anderer,  Adriani 
vielleicht  ausgenommen,  mit  den  religiösen  Anschauungen  der 
Eingeborenen  sich  vertraut  gemacht  hat. 


In  den  Bydragen  tot  de  Taal-  Land-  en  Yolkenkunde 
vanNederlandschlndie  (L  VIII,  1905)  findet  sich  von  der  Land- 
schaft Donggala  oder  Banawa  auf  Celebes  noch  die  folgende 
Notiz:  Das  Opfern  bei  heiligen  Bäumen,  das  Darbringen  von 
Opfern  an  die  bösen  Geister,  um  dieselben  günstig  zu 
stimmen  durch  die  halyangs  (Art  Priester  und  Priesterinnen), 
das  mit  dem  Blut  einer  auf  greuliche  Weise  getöteten  Ziege 
oder  Büffels  gepflogene  Bestreichen  einer  neulings  genesenen 
Person,  um  deren  Seele  zu  verstärken,  beweisen,  daß  der 
Mohammedanismus  den  Animismus  noch  nicht  ganz  verdrängt 
hat  (S.  519). 

Malakka 

Sehr  interessante  Mitteilungen  über  die  religiösen  An- 
schauungen der  Inlandstämme  Malakkas  enthält  Dr.  Rudolf 
Martins  „Die  Inlandstämme  der  malaiischen  Halb- 
insel", Jena,  1905,  S.  932—987.  Zuerst  werden  fremde  Ele- 
mente, malaiische,  buddhistische,  hinduistische,  dajakische  und 
christliche  erwähnt,  von  denen  das  erstere  am  mächtigsten 
gewesen  sein  muß  (S.  933).  Nach  Anlaß  eines  Berichts  von 
Borie  (La  Presqu'  ile  de  Malacca,  les  Malais  et  les  sau  vages 
(1886):  „Le  seul  monument  qu'il  en  restät  alors,  etait  une 
peau  de  hiavak,  espece  de  grand  lezard  (l'iguane),  sur  laquelle 
on  voyait  des  caracteres  que  personne  ne  comprenait  plus^^ 
sagt  Martin  (S.  936):  „Denn  daß  die  wilden  Eingeborenen  je 
eine  auf  Tierhäuten  fixierte  Schrift  gekannt  hätten,  ist  durch 
die  Gesamtheit  ihrer  Ergologie  vollständig  ausgeschlossen." 
Hierbei  ist  aber  zu  bemerken,  daß  doch  auch  die  Malegassen 
auf    Tierhäuten    schrieben.      Eine    derartige,    mit    arabischen 


Indonesien  437 

Charakteren  in  Malagasy  beschriebene  Haut  findet  sich  in  der 
Leidener  Universitätsbibliothek  (Cod.  3037  leg.  Warn.).  Auch 
das  von  Newbold  (Political  and  Statistical  Account  of  the 
.British  Settlements  in  the  Straits  of  Malacca,  1839)  konstatierte 
Grerücht,  wonach  die  Semang  auf  „Stebbal- Blätter"  schreiben 
sollen,  nennt  Martin  „natürlich  falsch",  obgleich  es  doch  be- 
kannt ist,  daß  Baumblätter,  spez.  Lontarpalmblätter  ein  sehr 
gewöhnliches  Schreibmaterial  bilden  im  Archipel  (Bali,  Lombok, 
früher  auch  Java),  Hinterindien  und  Vorderindien.  Zu  den  ältesten 
Nachrichten  (S.  939)  gehört  die  von  Godinho  de  Eredia  (1602), 
nach  der  die  „Banuas"  Zauberer  sind,  die  der  Magie  frönen, 
und  daß  sie  sich  mittelst  Zauberkünste  in  Tiger,  Schlangen, 
Krokodile  usw.  verwandeln  können.  Ein  derartiger  Glaube 
ist  allgemein  malaio  -  polynesisch.  Begbie  (The  Malayan 
Peninsula,  1834)  berichtet:  „Da  sie  keine  Religion  haben,  be- 
sitzen sie  auch  keine  Priester;  ihr  einziger  Lehrer  ist  der 
Puyung,  der  sie  in  Sachen  der  Zauberei,  der  bösen  Geister, 
Gespenster  usw.,  an  die  sie  fest  glauben,  unterrichtet."  Auch 
die  Berichte  von  Abdullah  ben  Abdelkadir  Munsji  über 
die  Djakun,  die  Martin  nach  der  Übersetzung  Van  RonkePs 
(im  Globus,  LXIV,  1893)  mitteilt,  stimmen  damit. 

Martin  unterscheidet  in  diesen  ältesten  Nachrichten  drei 
v^erschiedene  Elemente:  1.  ein  ausgebildetes  Schamanentum, 
las  in  Form  eines  Pawangismus  oder  Poyangismus  auftritt; 
12.  schwache  manistische  Vorstellungen,  und  3.  ein  oberfläch- 
liches, theistisches  Element,  das  nach  Logan  (1847),  Stevens, 
|5keat  und  anderen  dem  ursprünglichen  Vorstellungskreis  der 
Inlandstämme  angehört.  Hierbei  ist  noch  zu  bemerken,  daß 
jler  Pawangismus  oder  Poyangismus  allgemein  malaio -poly- 
iiesisch  ist,  wie  aus  Wilken's  Abhandlung  „Het  Shamanisme" 
jirhellt.  Der  ^amepawang  ist  entstellt  aus:  pawwang  =  pahyang, 
Irom  Radix  hyang  (Gott),  der  mit  eyang  (Großvater)  und  wayang 
iSchatten)  zusammenhängt.  Von  dem  Dämonismus  oder  Geister- 
i^lauben   sagt   Martin,    derselbe    schließe    sich    außerordentlich 

Archiv  f.  Eeligionswiasenschaft  IX  29 


438  H.  H.  JuynboU 

eng  an  den  Volksglauben  der  Malaien  und  Dajaken  an.  Die 
Dämonen  heißen  auch  hier  hantu.  Dieser  Name  ist  auch  all- 
gemein malaio-polynesisch,  den  Namen  anitu,  to  (daj.)  usw. 
verwandt.  Verschiedene  dieser  hantu  werden  von  Martin  er- 
wähnt (S.  942  —  947).  Unter  ihnen  sind  der  Hantu  Sa^u/ru  \ 
(der  wilde  Jäger)  und  der  Grabdämon  hervorzuheben.  Der 
„Hantu  Mati  ÄnaJi,  Dämon  des  Geburtsfiebers,  in  der  Form  eines 
Frosches  oder  eines  Vogels'^  (S.  944)  ist  natürlich  der  malaiische 
puntianaJi,  sund.  kuntianah^  philipp.  patiana,  d.  h.  „Kinder- 
töter",  also  auch  allgemein  malaio-polynesisch. 

Martin  will  die  Hantu  in  zwei  Gruppen  einteilen.  Die 
ersteren  knüpfen  an  die  Seele  des  Verstorbenen  an,  die  den 
Hinterbliebenen  in  irgendeiner  Form  Schaden  tun  kann.  Zu 
dieser  Kategorie  von  Geistern  gehören  sämtliche  Krankheits- 
dämonen, einschließlich  des  Mati  Änak  und  des  Hantu  Kuhur 
(Grabdämons). 

Die  zweite  Kategorie  von  hantu  hat,  nach  Martin's 
Meinung,  eine  rein  animistische  Basis  (S.  946).  Es  gibt  Berg-, 
Wald-  und  Baumhantu  usw. 

Auch  hier,  wie  bei  anderen  Völkern,  z.  B.  den  Malaien, 
besteht  ein  inniger  Zusammenhang  zwischen  Menschenseele 
und  Vogel.  Nach  Stevens  haben  alle  Arten  Tiere  ihre  ent- 
sprechenden Seelenpflanzen,  die  durch  das  Verzehren  der  Pflanzen 
in  den  Körper  der  betreffenden  Tiere  gelangen. 

Am  meisten  verbreitet  ist  der  Glaube,  daß  der  Geist  beim 
Tode  den  Körper  verläßt  und  nach  einem  paradiesischen  Lande 
gelangt,  wo  er  in  aller  Ewigkeit  verweilt.  Nach  den  An- 
schauungen der  Drang  Blandass  gelangen  die  guten  Seelen, 
nachdem  sie  in  einem  siedenden  See  gereinigt  sind,  zu 
einer  Fruchtinsel  (mal.  pulau  huwah),  welche  am  Ende  der ; 
Welt  liegt. 

Bei  den  Jakun  und  den  Semang  besteht  die  Anschauung, 
daß  der  Himmel  aus  drei  Stockwerken  bestehe,  von  denen  die 
beiden  oberen  mit  Fruchtbäumen  bestanden  sind,  während  das 


Indonesien  439 

unterste  nur  die  Gewitterwolken,  die  den  Menschen  Krank- 
heiten bringen,  enthält.  Nach  der  Vorstellung  der  Mintera 
gehen  die  Seelen  derjenigen  Menschen,  die  eines  blutigen  Todes 
gestorben  sind,  in  die  „Rote  Erde"  (mal.  Tanah  Merah)  ein. 
Der  Glaube,  der  Mensch  sei  imstande,  die  hantu  zu  be- 
einflussen und  mit  ihnen  in  Verbindung  zu  treten,  führt  zu 
dem  Schamanismus.  Man  versucht  die  gefürchteten  hantu 
zu  verscheuchen  durch  Aufhängen  von  Affenkinnladen  an  dem 
Dache  der  Häuser,  durch  Versperrung  der  Fußpfade  und  durch 
Amulette.  Interessant  ist  der  Brauch  des  „Blutwerfens"  zur 
Abwehr  von  Gewitterstürmen,  in  dem  Martin  einen  Wetter- 
zauber erblickt.  Die  berufsmäßigen  Schamanen  heißen  bei  den 
Semang  B^ian,  was  dem  dajakischen  halian,  toumbuluschen 
icaliany  balinesischen  wewalen  usw.  entspricht,  während  der 
Name  Foyang,  wie  schon  oben  gesagt,  aus  pahyang  entstanden 
ist.  Nach  Stevens  (Die  Zaubermuster  der  Orang-hütan, 
Z.  f.  Ethn.  XXVI,  S.  147)  gibt  es  7  Arten  von  Zauberern.  Die 
Würde  eines  Poyang  ist  meist  erblich.  Äußerlich  unterscheidet 
er  sich  nur  bei  den  Jakun  und  einigen  Senoi-Gruppen  durch 
eine  besondere  Bekleidung  und  Bemalung  und  durch  den  Besitz 
einer  Art  Zauberstockes.  Der  Poyang  ist  in  erster  Linie 
„Medizinmann".  Die  Mittel,  die  angewandt  werden,  um  ihn 
jin  einen  bewußtlosen  Zustand  zu  bringen,  sind  Abbrennen  von 
Räucherwerk,  Tanz,  Gesang,  Musik  und  Lärm,  also  die  gleichen 
jwie  bei  anderen  malaio-polynesischen  Völkern. 

Neben  der  direkten  Suggestivbehandlung  ^  werden  auch 
I  Amulette  und  Heilmittel  gebraucht  zur  Heilung  von  KJrank- 
jheiten.  S.  965 — 966  gibt  Martin  eine  ganze  Reihe  von  Heil- 
j  mittein.  Außer  den  Krankenheilungen  führen  die  Poyang  noch 
ieine  Reihe  anderer  Beschwörungen  aus,  z.  B.  die  Beschwörung 
einer  gebärenden  Frau  usw.  Ihnen  wird  auch  die  Fähigkeit 
einer  schädigenden  Fernwirkung  zugeschrieben. 

Man   glaubt,    die   Zauberer   seien   imstande,    sich   in   ver- 
schiedene  Tiere,    zumal   Tiger,   zu  verwandeln   und   in   dieser 


ers 

I 


440  H.  H.  JuynboU 

veränderten  Gestalt  ihren  Mitmenschen  zu  schaden.  Der 
Poyang  fungiert  naturgemäß  auch  als  Traumdeuter  und  Wahr- 
sager. 

Der  „Liebeszauber"  besteht  gewöhnlich  in  einer  besonders 
wohlriechenden   weißen    Blume    oder  Wurzel,    die    schwer 
finden  ist. 

Wie  z.  B.  bei  den  Ätjehern  und  Serawak- Dajaken  fehlt  au 
bei  den  Jäkun  die  Kampfessprache  (mal.  hehasa  hapur)  nie! 
Martin  vergleicht  diese  mit  der  „Kriegssprache"  der  See 
Dajaken,  dem  „Slang"  der  Singhalesen  beim  Reisbau  usw. 
Er  hätte  auch  die  „Seesprache"  (Sasahara),  die  die  Sangi- 
resen  nur  auf  dem  Meere  gebrauchen  dürfen,  hier  erwähnen 
können. 

Bei  den  Mantra  fehlt  die  sonst  so  weit  verbreitete  Sage, 
die  auch  bei  den  Semang  und  einigen  Senoi  sich  findet,  daß 
Finsternisse  durch  ein  Ungeheuer,  welches  den  Planeten  ver- 
schlingt, hervorgerufen  werden.  Das  Ungeheuer  heißt  bei  den 
Sakai  Bähu,  wie  bei  den  meisten  Völkern  Indonesiens,  während 
der  Name  Hürä  bei  den  Semang  durch  Metathesis  hieraus 
entstanden  zu  sein  scheint  (S.  977,  nach  Skeat,  Wild  Tribes  of 
the  Malay  Peninsula,  1905). 

Nach  dem  Glauben  der  Semang  und  Jakun  besteht  der 
Himmel  aus  drei  Stockwerken.  Der  Regenbogen  wird  von  den 
Semang  als  eine  riesige  Schlange  (Ikuh  Hiiyä)  vorgestellt,  und 
auch  die  Malaien  in  Pinang  bezeichnen  den  Regenbogen  als 
Bogenschlange  (^mal.  ular  danu),  nach  Maxwell,  The  Folklore 
of  the  Malays,  1881  (J.  S.  B.  R.  A.  S.).  Nach  der  Mythologie 
der  Semang  ist  die  Erde  flach  wie  eine  Platte. 

Die  bei  den  malaio-polynesischen  Völkern  so  verbreitete 
Mythe,  nach  welcher  das  Menschengeschlecht  aus  einem  Ei 
hervorgegangen  ist,  fehlt  bei  allen. Inlandstämmen.  Nach  einer 
Schöpfungslegende  der  Mantra  stammen  dieselben  von  zwei 
weißen  Affen  (mal.  TJngTca  putih)  ab.  Ähnlich  leiten  die 
Orang  Laut  als  Bewohner   der  Sumpfregion  ihre  Abstammung 


Indonesien  441 

von   einem    weißen  Alligator    und    einem    Delphin    ab    (New- 
bold,  II,  412). 

!  Die  Mantra  erzählen  von  einer  großen  Flut,  vor  der  sich 
idie  ersten  Menschen  in  einem  Schiff  retteten,  und  die  Benua 
haben  die  Tradition,  daß  Pirman  (d.  h.  das  arabische  firmän) 
einmal  die  Erde  mit  Wasser  überschwemmte.  Die  letztere 
Fassung  kehrt  bei  den  Semang  wieder,  nur  ist  es  hier  die 
Regenbogenschlange,  welcher  die  Handlung  zugeschrieben  wird 
(Stevens,  die  Zaubermuster  usw.  S.  126). 

Die  Stammessagen  übergeht  Martin,  weil  dieselben,  wie 
schon  Grünwedel  und  Skeat  nachgewiesen  haben,  nicht 
ursprünglich,  sondern  den  Malaien  entlehnt  sind. 

Die  theistischen  Vorstellungen  der  Inlandstämme  hält 
der  Verfasser  für  die  am  wenigsten  ursprünglichen.  Schon  die 
Namen  Gottes  deuten  auf  malaiisch -moslimischen  Einfluß:  die 
Benua  haben  nach  Logan  (The  Orang  Binua  of  Johore, 
J.  I.  A.  I,  275)  einen  Gott,  Pirman ,  während  ein  großer  Teil 
der  Jahun  nach  Favre  (Account  of  the  wild  tribes  usw.  1865, 
S.  31)  ein  höheres  W^sen  anerkennen,  das  sie  mit  den  Malaien 
Tuhan  Allah  (mal.  Herr  Gott)  nennen. 

Nach  den  Orang  Blandass  ist  Tuhan  (mal.  Herr)  der 
Schöpfer  der  Welt.  Die  Temia  geben  dem  höchsten  Wesen 
den  Namen  Sam-mor  (S.  984).  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich, 
daß  dieser  Name  mit  Semar  zusammenhängt.  Dieser  ist  im 
heutigen  javanischen  Schattentheater  (wajang)  ein  Clown 
und  Diener  der  Pdndawo ,  muß  aber  ursprünglich  ein  alter 
malaio-polynesischer  Gott  gewesen  sein,  wie  schon  Hazeu 
(Bydrage  tot  de  kennis  van  het  Jav.  tooneel.  S.  112,  Anm.  2) 
nachgewiesen  hat.  Ein  vierter  Name  Gottes,  Teng  (nach 
Stevens)  oder  Pönn  (nach  Skeat)  scheint  ursprünglich  zu  sein. 

Nach  Stevens  heißt  der  oberste  Gott  der  Semang  Kei  iy 
der  unsichtbare  Donnergott,  der  über  den  Menschen  wacht,  sie 
bestraft  und  ihnen  verzeiht,  über  Leben  und  Tod  gebietet  und 
alles  geschaffen  hat  außer  der  Erde  und  den  Menschen  (S.  985). 


442  H.  H.  Juynboll 

Wie  Sam-mor  mit  dem  javanisclieii  Semar,  könnte  vielleicht 
Kei  t  mit  dem  javanischen  hyahi  zusammenhängen.  Dies  ist 
ein  verehrender  Titel  nicht  nur  vornehmer  Personen,  sondern 
auch  verschiedener  Geister,  z.  B.  Kyahi  Sadana,  des  Bruders 
der  Reisgöttin  Njahi  Sri,  ferner  Kyahi  JBuyut,  Kyahi  Gede 
Ndbiyen,  Kyahi  Gede  Sumurnja,  Kyahi  Owar  Tali,  Kyalii 
Empuh  (Med.  Ned.  Zend.  Gen.  XXIII,  9  und  Vreede,  Jav. 
Woordenb.  I,  529  s.  v.  kyahi).  Dies  ist  aber  nur  eine  Kon- 
jektur. 

Es  ist  Skeat  nicht  gelungen,  die  Stevensschen  Angaben 
über  Kei  t  und  Ple  (den  Fruchtgott)  zu  bestätigen.  Nur 
einmal  hörte  er  von  einem  Tä-Pönn  als  dem  Schöpfer  der 
Welt,   der  so   mächtig   sei  wie   ein   malaiischer  Raja  (S.  986). 

Martin  schließt  diesen  interessanten  Abschnitt  seines 
Buches  mit  der  Bemerkung,  daß  ein  ursprüngliches  theistisches 
System  bei  keinem  der  Inlandstämme  sicher  erwiesen  ist.  Ein 
„Gott"  ist  von  den  Inlandstämmen  übernommen  worden,  aber 
er  hat  dabei  von  seinen  wesentlichen  Attributen  eingebüßt,  er 
hat  legendarische  und  mythologische  Form  angenommen  und 
ist  eine  neue  Verbindung  mit  einem  viel  ursprünglicheren 
Animismus  und  Dämonismus  eingegangen  (S.  987). 

Luzon 

In  A.  E.  Jenks  „The  Bontoc  Igorot"^  ist  Kapitel  VIII 
der  Religion  gewidmet.  Der  Glaube  an  die  Geister  der  Ver- 
storbenen (anito)  ist  bei  den  Igoroten  allgemein.  Der  Geist 
eines  lebenden  Menschen  heißt  tdko  (S.  196). 

Neben  anito ,  dem  allgemeinen  Namen  für  Geister  der 
Verstorbenen,  gibt  es  noch  Namen  für  besondere  Geister: 
pinieng  heißt  der  Geist  eines  Enthaupteten,  wulwul  der  eines 
Taubstummen,  wongong  der  eines  Kranksinnigen,  futatii  der 
eines   bösen  Menschen.     Limum  ist   der  Name    der    geistigen 


Manila  1905. 


I  Indonesien  443 

ii'orm  des  menschliclien  Körpers,  der  auf  die  Brust  Schlafender 
sich  setzt. 

Die  Igoroten  meinen,  die  Änito  leben  gerade  so  wie 
Menschen:  sie  bauen  Häuser,  verheiraten  sich,  sterben  usw. 
Man  glaubt,  daß  sie  in  den  Bergen  sich  aufhalten.  Wenn  ein 
Änito  stirbt,  wird  er  eine  Schlange  oder  ein  Fels,  gewöhnlich 
aber  Ufa,  der  phosphoreszierende  Glanz  in  dem  toten  Holz 
des  Gebirges  (S.  197). 

Alle  Krankheiten,  außer  Zahnweh,  und  selbst  der  Tod 
werden  verursacht  von  Änito.  Nur  der  Geist  eines  Enthaup- 
teten, der  pinteng,  geht  nach  dem  Himmel  (chayya),  während 
die  Änito  in  den  umliegenden  Bergen  sich  aufhalten.  Der 
pinteng  ist  verantwortlich  für  den  Tod  aller,  die  ihren  Kopf 
verlieren  (S.  198). 

Schlangen,  Ratten,  Krähen  und  der  rötlichbraune  Vogel 
icJiu  sind  ihre  Orakeltiere.  Diejenigen,  die  die  Änito  aus  den 
Körpern  der  Kranken  austreiben,  heißen  insüpäk  Sie  streichen 
die  Kranken,  um  die  bösen  Änito  herauszulocken.  Der  Ver- 
fasser gibt  einzelne  Beispiele  von  Formeln,  um  die  Seele  des 
Kranken  zurückzurufen  (S.  199). 

Bei  der  afat  genannten  Zeremonie  wird  ein  Schwein  ge- 
opfert, um  die  entflohene  Seele  des  Kranken  zur  Rückkehr  zu 
nötigen.  Den  folgenden  Tag  wird  ein  Küchel  geopfert  in  dem 
Hause  des  Kranken.    Diese  Zeremonie  heißt  mangmang  (S.  200). 

Der  höchste  Gott  heißt  Lwmawig,  auch  Funi  oder  Kam- 
himyan.  Der  letztere  Name  ist  wohl  dem  malaiischen  sembunji 
verwandt  und  bedeutet  also:  der  Verborgene.  Er  ist  der 
Schöpfer.  Auch  die  Igoroten  haben  eine  Sintflutsage,  und  ihre 
Adam  und  Eva  heißen  Fatanga  und  Fukan  (S.  201).  Die 
Geschichte  von  Lumawig  wird  ausführlich  erzählt.  In  den 
letzten  zwei  Jahren  ist  eine  Sekte  entstanden,  die  sich  selbst 
Siipalado  nennt.  Dieselben  glauben,  daß  Lumawig  zurück- 
kehren wird.  Dies  ist  also  ein  Messiasglaube.  Zwei  Familien 
in  Bontolc   werden    olot   genannt.     Diese    sind    Vegetarier    und 


444 


H.  H.  Jnynboll    Indonesien 


rauchen  nicht.  Es  gibt  drei  Arten  von  Priestern.  Die  erstere 
heißt  wdkü  und  besteht  aus  drei  Personen,  die  die  Feiertage 
dem  Yolke  erkundigen.  Von  der  zweiten,  patay  genannten 
Art,  gibt  es  zwei  Personen  in  Bontok  (S.  205).  Die  dritte 
Art  besteht  aus  sieben  Personen,  von  denen  jede  einen  be- 
sonderen Namen  und  einen  besonderen  Wirkungskreis  hat 
(S.  206).  Der  Ruhe-  oder  Feiertag  in  Bontok  heißt  Tengao  und 
fällt  gewöhnlich  in  Perioden  von  zehn  Tagen. 

Schließlich  werden  verschiedene  Zeremonien  vom  Verfas 
mitgeteilt:   S.  207 — 213,   auf  den  Ackerbau  bezüglich   (zeJ 
S.  213 — 214  Zeremonien  um  Regen  zu  fragen  und  böses  Wettw 
abzuwenden  (drei),  S.  214  —  215  auf  Kopfjagd  bezüglich  (zwei) 
und  S.  214  auf  Adoption  sich  beziehend. 


i 


3  Eussische  Volkskunde 

I  Von  Ludwig  Deubner  in  Bonn 

[Schluß] 

Die  in   den    bisher   angeführten  Riten  und  Liedern  herr- 
schende Stimmung  ist  die  der  Erwartung  zu  Beginn  des  Früh- 
i  lings.     Anderer  Art  sind  die  Bräuche,  die  sich  an  die  Zeit  der 
I  Blüte,  des  Vorsommers  knüpfen,  wo  der  Frühling  sein  letztes 
Wort  spricht.     Weit  verbreitet  ist  die  Sitte,  den  Mai  aus  dem 
Walde  zu  holen;  um  Mitternacht  verläßt  man  Stadt  oder  Dorf, 
frühmorgens     bei    Sonnenaufgang     kehrt     man     mit    Blumen, 
Zweigen  und  Maibaum  heim.     Dies  geschah  in  Frankreich  am 
1.  Mai,  ebenso   in  Italien  und  England.     In  Deutschland  tritt 
neben  den  1.  Mai  aucli  der  Pfingstmontag,  zuweilen  auch  schon 
die  Butterwoche  oder  Lätare.     Die  gleichen  Bräuche  sind  aus 
Dänemark  und  Skandinavien  für  den  1.  Mai  und  Pfingstmontag 
bekannt.      Die    vielerorten    aufgerichtete    Maistange    ist    ohne 
Zweifel  der  letzte  Überrest  früherer  lebender  Bäume.    In  ältester 
Zeit    brachte    man   nicht  nur   einen   einzelnen   Baum,    sondern 
überhaupt    frisches   Grün   aus    dem  Wald:    dieses    nannte   man 
i  Mai.     Gerade  die  ältesten  Zeugnisse  reden  von  der  Einbringung 
des  Grünwerks  und  dem  Schmücken  der  Häuser,  Kirchen  und 
Straßen,  nicht  aber  unbedingt  von  der  Einbringung  des  Maibaumes. 
Auf  slawischem   Gebiet  ist   dieser  gar  nicht  bekannt,  nur  im 
Westen  findet  er  sich  unter  dem  Einfluß  der  deutschen  Nachbarn. 
Verwandte   Bräuche    (Ausputzen    eines   Birkenbäumchens,    Ge- 
lsang und    Tanz)   am    Donnerstag   vor  Pfingsten   unterscheiden 
'sich   von   den   vorgenannten   dadurch,   daß   sie  nicht  mit  dem 
'Schmuck    der   Häuser   verbunden    sind   und   nicht   vor   Tasjes- 


446  Ludwig  Denbner 

anbruch  vorgenommen  werden^  sondern  nachmittags  nach 
längeren  Spielen.  Dagegen  besteht  allenthalben  die  Sitte, 
Häuser  und  Kirchen  mit  frischem  Grün  zu  putzen.  Ein 
eigentliches  Ritual  setzt  hier  erst  ein  mit  dem  Austragen,  nicht 
dem  Einbringen.  Im  Gouvernement  Saratoff  wird  am  Donners- 
tag vor  Pfingsten  eine  auf  dem  Dorfplatz  aufgestellte  lebende 
Birke  von  einem  Mädchen  aufgenommen  und  in  den  Wald 
getragen,  ihm  folgen  die  übrigen  mit  Gesang;  die  Lieder  reden 
die  Birken  an,  denen  Pasteten,  Kuchen  und  Eierspeisen  ge- 
bracht werden.  Im  Freien  geht  eine  Mahlzeit  vor  sich,  der 
Überrest  einer  alten  Opferhandlung.  Dieses  Mahl  findet  sich 
allerorten  in  Groß-,  Weiß-  und  Kleinrußland.  Nach  dem  Essen 
wird  die  Birke  ^frisiert',  d.  h.  ihre  Zweige  werden  in  Kranz- 
form geflochten;  zuweilen  werden  dabei  Kuchen  in  Kranzform 
gegessen.  Die  mit  diesem  Ritus  zusammenhängenden  Lieder 
werden  selten  während  des  ^Frisierens'  gesungen.  Dieser  Brauch 
wird  somit  in  der  freien  Natur  vollzogen,  nicht  in  Dorf  oder  Stadt. 
Der  Frühlingsbaum  spielt  die  Hauptrolle  wie  im  Westen,  aber 
er  bleibt  im  Walde,  und  oft  wird  er  nicht  einmal  abgehau 
Unter  dem  Baum  wird  das  Opfer  dargebracht,  aus  seini 
Blättern  wird  der  Kranz  geflochten,  um  ihn  singt  man  Liede: 
und  spielt  Reigenspiele.  Ohne  jede  Prozession  mit  der  Birke 
gestaltet  sich  das  Einholen  von  Grün  in  Serbien  und  Griechen- 
land. Ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  russischen  1.  Mai,  Georgs- 
tag, Pfingsten  und  Pfingstmontag  feierten  Griechen  und  Römer 
den  Tag  des  Rosenfestes,  das  sich  in  der  slawischen  ^  Russahiaja 
nedelja'  (Woche  vor  Pfingsten)  widerspiegelt.  Das  Sammeln 
von  Blumen  war  auch  im  W^esten  üblich;  das  zeigen  alt- 
französische pastourelles  und  Neidhart  von  Reuenthal;  die 
Blumen  sind  das  Symbol  der  Liebe. 

Welches  ist  der  Sinn  der  geschilderten  Bräuche?  Indische 
Riten  kommen  uns  zu  Hilfe.  Zu  Beginn  der  Regenzeit, 
wenn  die  Aussaat  vonstatten  geht,  werden  zwei  Mädchen  in 
den   Wald   geschickt:    sie   begießen    den   heiligen   Baum    Chili 


ber 

1 

le~ 


Russische  Volkskunde  447 

mit  Wein  und  Ol,  dann  brechen  sie  einen  Zweig  ab. 
Dieser  wird  ins  Dorf  gebracht  und  am  Ufer  eines  Baches  auf 
einen  Stein  gelegt.  Alsdann  bringt  man  ihm  Opfer  dar,  ge- 
wöhnlich einen  Ziegenbock.  Es  folgt  Tanz  und  Spiel.  Ähn- 
liches geschieht  bei  den  Oraonen  in  Bengalien  zur  Zeit  der 
Eeisaussaat.  Unter  den  Bäumen  des  heiligen  Haines  Sarna 
wird  ein  Opfer  von  fünf  Hausvögeln  dargebracht,  wobei  jeder 
ein  Stück  Fleisch  erhält.  Darauf  kehrt  man  beladen  mit 
blühenden  Zweigen  ins  Dorf  zurück.  Eine  verwandte  Feier 
veranstalten  die  Abchasier,  die  in  heiligen  Hainen  noch  den 
Baumkult  ausüben,  dem  Gotte  der  Wälder  Misitch.  Auch  bei 
den  Osseten  wird  zu  Pfingsten  ein  heiliger  Baum  verehrt,  zu 
dem  die  alten  Weiber  in  weißer  Kleidung  hinziehen.  Hier 
beten  sie,  verzehren  Gebäck  und  umtanzen  den  Baum.  Bei 
den  Oraonen  und  Abchasiern  sind  die  aus  dem  heiligen  Hain 
entnommenen  Zweige  Gegenstand  religiöser  Verehrung.  Der 
Baumkult  ist  bei  den  Slawen  und  den  Fremdvölkern  Rußlands 
verbreitet;  wie  immer  man  ihn  erklärt,  gerade  im  Frühling 
mußten  ihm  gewisse  rituelle  Vorstellungen  entsprechen.  Das 
Einholen  der  Zweige  hat  den  Sinn,  daß  das  Dorf  als  religiös- 
wirtschaftliche  Einheit  an  dem  Segen  teilnimmt,  der  von  dem 
heiligen  Baume  ausgeht.  Der  primitive  Mensch  hält  seine 
Familie,  sein  Dorf,  seinen  clan  für  das  Zentrum  der  Welt;  er 
interessiert  sich  für  die  äußere  Natur  nur  soweit  ihre  Er- 
scheinungen sich  in  dem  Schicksal  der  ihm  verwandten  Ge- 
meinde abspiegeln.  Und  jene  religiös -wirtschaftliche  Einheit 
ist  auch  die  Trägerin  seines  eigenen  Schicksals.  Im  Westen 
erhielt  sich  der  Akt  der  Einholung  des  Zweiges  oder  Baumes 
aus  dem  heiligen  Hain,  im  Osten  das  Opfer,  der  Kult  des 
Baumes,  die  feierliche  Prozession  zu  ihm.  In  enger  Verbindung 
mit  diesem  Ritus  steht  das  Sammeln  der  Blumen,  der  Schmuck 
der  Häuser.  Der  Moment  der  Blüte  ist  der  wichtigste  im  all- 
mählichen Erwachen  der  Natur,  von  ihm  hängt  die  Fruchtbar- 
keit   der   Pflanzen   ab.     Auf  ihn   beziehen   sich   die  römischen 


448 


Ludwig  Deubner 


Floralien.      Schon    Frazer    erklärte    das    Blumenfest    als    sym- 
pathetische  Beschwörung  der  Frühlingsblüte,  im  Grunde  richtig, 
nur  daß  nicht  mehr  diese   dadurch   begünstigt  werden    sollte 
sondern    das    Getreide;    vielleicht    ist    es    richtiger    zu    sagen! 
alle  Frucht. 

Während  die  Lieder  bei  der  Einholung  des  Maien  spärlicl 
sind,   stehen   sie   im  Mittelpunkt  bei   der  Frühlingsbegrüßunj 
indem  die  Jugend  von  Haus  zu  Haus  zieht  und  den  Hausherrei 
ihre  Wünsche  vorträgt,  in  der  Erwartung,  Geschenke  oder  Gel^ 
zu  erhalten.    Je  weiter  nach  Osten,  desto  deutlicher  zeigt  siel 
die   alte   Bedeutung   dieser   Lieder.     Bei   den  Romanen  erfol| 
diese  Begrüßung  am  I.Mai  oder  ersten  Sonntag  des  Monats.   Bit 
weilen  ist  unter  dem  Chor  eine  reine  de  mai  oder  mariee  odi 
sposa  di  may  vertreten,   in  deren  Namen  dann  gesungen  wirc 
In  Portugal  wird   das  Mädchen   mit  Blumen   geschmückt   unj 
auf    einen   Thron    gesetzt;    der    Vorübergehende    muß    Tribi 
entrichten.     Häufig    bringt    die    Jugend    frische    Zweige    un^ 
Blumen  mit  in  die  Häuser,  in  Spanien  wird  ein  Knabe  ode 
Mädchen  unter  einer  Blumenhülle  herumgeführt  (mays,  maya] 
Auch   in   Dänemark,  Holland  und  England  finden  solche  Ui 
züge   statt.     In    Deutsehland   macht   sich   der   Streit   zwische 
Winter  und  Sommer  auch  in  diesen  Begrüßungsliedern  bemerl 
bar.     Der  junge  Mann,   der   von  Kopf  bis   zu  Fuß   mit  Gri 
geschmückt  wird,  heißt:   der   grüne  Mann,    Großkönig,   Laul 
männchen  usw.    Daneben  wird  auch  einfach  der  frische  Zwei 
mitgebracht.     In  Oberbayem   erscheint   sogar   ein  Vogel.     Ai 
Montag   nach  Pfingstmontag   führt   man  im  Dorf  einen  Reite 
herum,   auf  den   ein   riesiger   Schwanenhals   gesetzt   ist.      De 
Körper   des  Schwanes   wird  aus  Grün  und   Sumpf blumen  vei 
fertigt.     Diese  Figur  heißt  Wasservogel,  man  begießt  sie  eifrij 
mit  Wasser. 

Das  Begrüßungslied  findet  sich  auch  bei  Slawen,  Grieche! 
und    Rumänen,    auch    hier    steht   die   Bitte  um   Geschenke 
erster  Stelle.     In  Bulgarien  und  Serbien  wählt  man  den  Lazarus 


Russische  Volkskunde  449 

Samstag  in  der  sechsten  Fastenwoche,  Mädchen  von  12 — 13  Jahren 
ziehen  umher  und  singen  Lazarus -Lieder.  Herr  und  Frau  des 
Hauses  werden  als  Zar  und  Zarin  angeredet  und  großer  Reich- 
tum wird  ihnen  angedichtet.  Bei  den  türkischen  Serben  kleiden 
sich  zwei  Mädchen  als  Lasar  und  Lasariza,  die  eine  in  männ- 
liches Kostüm,  mit  einer  Keule  auf  der  Schulter;  der  anderen 
wird  ein  Sack  aus  durchsichtigem  roten  Musselin,  wie  die  Braut 
ihn  trägt,  über  den  Kopf  bis  an  den  Gürtel  hinuntergezogen. 
Beide  sind  mit  Blumen  reich  geschmückt.  Verwandt  ist  der 
serbische  Umzug  von  ^ König'  und  ^Königin'  (Kral  und  Kraliza). 
In  Polen  wird  ein  kleines  Mädchen  ganz  mit  Laub  und  Zweigen 
verhüllt.  Bei  dem  Umgang  mit  den  frischen  Zweigen  werden 
bei  den  Slawen  dieselben  Heiligen  angerufen  wie  bei  der  Be- 
schwörung des  Frühlings.  Der  heilige  Georg  soll  mit  dem 
Schlüssel  die  Erde  aufschließen.  Bei  den  Kroaten  und  Slowenen, 
wo  die  'Begrüßung'  am  Georgstag  stattfindet,  wird  ein  von 
Kopf  bis  zu  Fuß  mit  grünen  Zweigen  bedeckter  Bursche  vom 
Chor  umhergeführt:  der  grüne  Georg.  Gleicher  Art  ist  die 
russische  'Pappel',  ein  Mädchen,  das  mit  Schmucksachen, 
Bändern  und  Tüchern  behängt  wird,  indem  sie  die  Hände  über 
dem  Kopf  zusammenhält;  die  Hände  können  durch  Stäbe  ersetzt 
werden.  An  anderer  Stelle  heißt  das  in  Zweige  und  Laub  ge- 
hüllte Mädchen  Kust  (Strauch).  Im  Gouvernement  Jenissei 
wird  eine  Birke  in  Frauenkleider  gesteckt.  Die  deutschen 
Bräuche  zeigen,  daß  die  mit  grünen  Zweigen  geschmückte  Figur 
gewöhnlich  mit  Wasser  begossen  wird.  Dies  ist  nichts  anderes 
als  Regenzauber.  Der  Ritus  des  Begießens  mit  Wasser  wird 
bei  den  Slawen  auch  zur  Zeit  einer  Dürre,  gewöhnlich  in  der 
Mitte  des  Sommers  ausgeübt.  Die  Namen  für  die  begossene 
Figur  sind  von  großer  Mannigfaltigkeit.  Ein  rumänisches  Lied, 
das  bei  diesem  Ritus  gesungen  wird,  lautet:  „Kaijan,  Kaijan, 
er  und  ich,  wir  bitten  vereint,  daß  die  Pforten  sich  öffnen  und 
der  Regen  befreit  werde  und  wie  ein  Flüßchen  ströme,  mit 
Geräusch,   bis   die   Nacht   beginnt,   damit   das   Korn    wachse.*^ 


450  Ludwig  Deubner 

Bei  der  Wichtigkeit   des  Frülilingsregens  ist  anzunelimeii,  daß 
diese  Riten  ursprünglich  dem  Frühling  angehören.    In  Kachetien 
(Kaukasus)   werden   tönerne   Figürchen  begossen.      Sie  heißen 
Lasare,  obwohl   der  Brauch   im  Sommer  vollzogen  wird;  auch 
im   Lied  wird    Lazarus   genannt.     Seine   zäh   festgehaltene  Er- 
wähnung   im    Regenzauber    beruht   vielleicht   auf  dem  Lub 
evangelium  16,  24.     Neben  den  frischen  Zweigen  begegnet 
Emblem  bei  der  „Begrüßung"  auch  die  Figur  eines  Frühling 
vogels,    besonders    der    Schwalbe.     Hierher    gehört    schon   d^ 
altgriechische   ^Xd''  ^Xd's  xeXid6v.     Wahrscheinlich  trugen 
Knaben  das   Bild   einer  Schwalbe  mit  sich,  wie  bei  den  Nei 
griechen  am  1.  März  eine  grob  aus  Holz  geschnitzte  Schwall 
von  den  Knaben  umgeführt  wird.  In  Polen  wird  zu  Ostern  der  Ui 
gang  mit  dem  Bilde  eines  Yogels  aus  Hahnenfedern  bewerkstellig 
Zu   den   Begrüßungsliedern   gehören   auch   die  Lieder  d^ 
weißrussischen  Wolotschobniki,   die   in   der  Osterwoche   gegi 
Abend  umherziehen.    Vier  Episoden  lassen  sich  scheiden:  l.d^ 
Bericht  über  den  Weg  und  die  Ankunft;  2.  die  Hervorrui 
des  Hausherrn  und   das  Lob  seines  Hofes;  3.  der  Bericht  dj 
über,  was  der  Hausherr  sieht,  wenn  er  aus  dem  Fenster  blicl 
die  Heiligen  sind  auf  seinen  Hof  gekommen,  oder  Gott  selbs 
sitzt  auf  einem  Lehnstuhl  da;  auch  bildet  sich  die  Vorstelli 
von  einem  Gastmahl  der  Heiligen  aus;  am  Schluß  werden  dij 
Feiertage  aufgezählt,  deren  Vertreter  die  Heiligen  sind;  4. 
Tätigkeiten  der  Heiligen.     Das  Gastmahl  scheint  auf  das  erst 
Mahl  nach  den  Festen  gedeutet  werden  zu  müssen;  auf  Ostei 
brauch  weist  alles  hin.    In  der  Aufzählung  der  Heiligen  scheide 
sich  zwei  Gruppen:    1.  die  Heiligen  vor  Ostern,   in   trockene 
kalendarischer  Aufreihung;   2.  die  Heiligen   nach   Ostern,   b< 
denen  in  poetischer  Weise  ihre  spezielle  wirtschaftliche  Tätif 
keit  angegeben  wird.     Es   ist   klar,   daß   nur  die  zweite  Rei 
ursprünglich   ist.     Die   Tätigkeit   der   Heiligen   hängt  mit  de 
ländlichen  Arbeiten  zusammen,  die  jedesmal  nach  ihrem  Peiei 
tage  vorgenommen  werden,  wobei  Varianten  vorkommen.     Inj 


Russische  Volkskunde  451 

dem  man  sicli  die  Heiligen  selbst  im  Liede  als  ländliche  Ar- 
beiter vorstellt,  soll  der  wirtscbaftlicbe  Erfolg  bildlich  ausgedrückt 
werden.  Der  Ritus  bei  der  ^Begrüßung'  ist  dem  bei  der  Ein- 
holung des  Maien  verwandt.  Hier  wird  der  Maibaum  ins  Dorf 
gebracht,  es  ist  ein  Fest  der  ganzen  Gemeinde;  dort  werden 
Zweige  in  jedes  einzelne  Haus  getragen.  Welches  ist  der  Sinn 
der  Begrüßung?  Der  Eegenzauber,  der  in  einer  Reihe  inter- 
essanter Beispiele  vorgeführt  wird ,  ist  kein  wesentlicher  Bestand- 
teil des  eigentlichen  Ritus.  Sein  Grundzug  ist  die  Einbringung 
des  heiligen  Zweiges  ins  Haus.  Wie  die  Einbringung  des 
Maien  ins  Dorf  diesem  den  Segen  der  erwachenden  Natur  ver- 
mitteln soll,  so  wird  dieser  längst  sehnsüchtig  erwartete  Segen 
bei  dem  Begrüßungsumgang  in  jedes  Haus  gebracht,  zu  jedem 
Herd,  für  jede  Geschlechtsgemeinschaft  als  eine  selbständige 
religiös -wirtschaftliche  Einheit.  Verwandte  Bräuche  erläutern 
diesen  Sinn.  Jede  Geschlechtsgemeinschaft  hatte  ihren  eigenen 
häuslichen  Kult,  jede  Familie  bildete  einen  selbständigen  reli- 
giösen Verband.  Dem  primitiven  Menschen  genügt  es  nicht, 
daß  der  Frühling  kam  für  die  ganze  Gemeinde,  für  alle  Menschen: 
er  muß  sich  davon  überzeugen,  daß  der  Frühling  auch  für  ihn 
kam.  Er  ist  selbst  der  Träger  seines  Schicksals,  seiner  Vorher- 
bestimmung, sein  Werk  ist  die  Ernte.  Der  Erfolg  der  Wirt- 
schaft ist  abhängig  von  der  Beobachtung  des  Ritus,  durch 
diesen  wird  der  Landmann  der  Güter  des  Frühlings  versichert. 
Gott,  die  Heiligen,  der  grüne  Georg  legalisieren  den  Ritus  für 
das  Christentum,  der  letzte  als  eine  Art  Zwischenstufe  zwischen 
diesem  und  dem  Heidentum.  Mannhardts  Ansicht,  die  Figuren 
des  Pfingstl,  Maikönig  usw.  seien  Waldgeister,  ist  unhaltbar, 
denn  nirgends  tragen  sie  einen  entsprechenden  Namen.  Die 
Tatsache,  daß  für  den  frischen  Zweig  auch  die  Schwalbe  ein- 
treten kann,  ist  ein  weiterer  Gegenbeweis.  Merkwürdigerweise 
zeigen  auch  die  Begrüßungslieder  zu  Weihnachten  und  Neujahr 
Züge  der  Frühlingslieder.  Der  Verfasser  stellt  dies  fest,  ohne 
weiter  darauf  einzugehen. 


Lieh: 

leaB^i 


452  Ludwig  Deubner 

3.  Kapitel  S.  258  bis  392.  Den  Riten  des  vorigen  Kapitels 
treten  hier  solche  gegenüber,  die  verschiedene  Befürchtungen 
und  Sorgen  darum  offenbaren,  daß  nicht  auf  dem  Wege  zum 
Ziel  irgendwelche  Hindernisse  sich  einstellen.  An  erster  Stelle 
steht  der  Ritus  der  Reinigung.  Fünf  Formen  sind  möglich: 
I.Waschung;  2.  Feuer;  3.  Umpflügung,  Umgang;  4.  Schauke 
5.  Lärm.  Reinigung  des  Körpers  findet  zu  Ostern  statt,  n 
dem  die  Seele  durch  Fasten  sich  geläutert  hat.  Entspreche 
den  zwei  Zyklen  von  Frühlingsriten  wird  die  Reinigung  zwei- 
mal im  Frühling  vorgenommen.  Die  zweite  Reinigung  fällt 
im  Osten  auf  den  Georgstag,  im  Westen  auf  den  1.  Mai.  Ihr 
gehören  auch  die  Thargelien  an.  1.  Als  rituelle  Waschung  ist 
das  auf  slawischem  Gebiet  vor  Sonnenaufgang  bei  der  Anrufung 
des  Frühlings  vor  sich  gehende  Bad  anzusehen.  2.  Im  mittleren 
Rußland  verbrennt  man  am  Vorabend  von  Maria  Verkündigung, 
Butterwoche  oder  Ostern  das  Bettstroh,  worauf  man  den  ganzen 
Winter  geschlafen  hat;  auch  verbrennt  man  aUen  Kehricht. 
Mit  dem  Rauch  reinigt  man  die  Hütte.  3.  Um  den  ^Kuhtod' 
aus  dem  Dorfe  zu  treiben,  gehen  die  Frauen  in  bloßem  Hemd 
mit  aufgelösten  Haaren,  mit  Sicheln,  Schüreisen  usw.  in  den 
Händen  in  Prozession  um  die  Siedelung,  wobei  eine  nackte 
Frau  (Witwe,  Schwangere  oder  altes  Weib)  den  Pflug  zieht, 
dazu  werden  Formeln  gesprochen.  Zu  diesem  Mittel  griffen 
die  Bauern  besonders  häufig  während  der  letzten  Cholera- 
epidemieen.  Die  serbischen  Frauen  laufen  am  Georgstag  auf 
einem  Stock  reitend,  nackt  oder  einen  Quirl  über  der  Schulter, 
um  ihren  Viehhof,  damit  ihnen  niemand  Milch  stehle  und  sie 
nicht  von  der  Hitze  verderbe.  4.  Daß  Schaukeln  nichts  als 
purgatio  aere  ist,  erkannte  Lilek.  In  Bosnien,  Herzegowina 
und  Altserbien  heißt  es,  daß,  wer  sich  am  Lazarus -Samstag 
schaukelt,  das  ganze  Jahr  gesund  sein  wird.  5.  Bei  den  Fremd- 
völkern Rußlands  beginnt  die  Austreibung  des  Satans  bei  der 
äußersten  Hütte,  wo  sich  einige  Leute  mit  Stöcken  aus  Eber- 
eschenholz sammeln.    Man  löscht  das  Feuer  und  beginnt  unter 


Russische  Volkskunde  453 

Geschrei  und  Lärm  mit  den  Stöcken  an  den  Wänden,  Tischen, 
Bänken  und  auf  der  Diele  umherzuschlagen:  dazu  die  betäubende 
Musik  einer  Art  Rassel.     Aus  der  Hütte  geht  es  auf  den  Hof, 
dann  zum  zweiten  Haus;  die  Zabl  der  Leute  wächst,  zum  Schluß 
sucht   man   eine    Schlucht   des   nahen  Waldes  auf.     Man  geht 
dreimal  um  den  größten  Baum  und  schlägt  ihn  mit  den  Stöcken. 
Darauf  werden  diese  fortgeworfen:  die  Teufel  sind  in  den  Baum 
eingegangen.    Ahnliche  Austreibungen  sind  verbreitet.    Bei  den 
südlichen   Slawen  wendet   man    sie    gegen    die    Schlangen   an. 
Zu  den  vorstehenden  Bräuchen  gehört  auch  die  folgende  Aus- 
treibung des  Kuhtodes  bei  den  Russen:  Um  Mittag  schichten 
die  Frauen  an  den  beiden  entgegengesetzten  Enden  des  Dorfes 
je  einen  Düngerhaufen,  den  sie  um  Mitternacht  anzünden.    Zu 
dem  einen  Haufen  führen  die  Mädchen  einen  Pflug,  in  weißen 
Hemden,  mit  aufgelösten  Haaren,   eine  trägt  hinter   ihnen  ein 
Heiligenbild.     Zum   anderen  Haufen   bringen   die  Frauen  einen 
schwarzen  Hahn,  in  schwarzen  Röcken  und  schmutzigen  Hemden. 
Dreimal  tragen  sie  den  Hahn  herum.     Dann  ergreift  eine  Frau 
den  Hahn   und   rennt   mit  ihm  an  das  entgegengesetzte  Ende 
des    Dorfes,   indem    sie    unterwegs    zu  jedem   Haus   läuft,   die 
übrigen  Frauen  laufen  ihr  nach  und  schreien:  „geh  unter,  du 
schwarze   Krankheit."     Am   Ende   des   Dorfes   wirft    die   erste 
den  Hahn   in   den   schwelenden  Dünger,   die   Mädchen  werfen 
trockene  Blätter  und  Reisig  darauf.     Dann  fassen  sie  sich  an 
der  Hand    und    springen   mit   dem    erwähnten   Rufe    um    das 
Feuer.    Nach  der  Verbrennung  des  Hahnes  springen  die  Frauen 
in  den  Pflug  und  die  Mädchen  umpflügen  mit  dem  Heiligenbild 
an  der  Spitze  dreimal  das  Dorf.     Hiernach  ist  die  Austragung 
des  Todes  zu  beurteilen.     Sie  ist  verbreitet  bei  den  westlichen 
;  Slawen.     Die   Kinder  verfertigen   in   der  fünften  Fastenwoche 
I  eine  Frauenfigur  (der  Tod  ist  im  Slawischen  weiblich)  aus  Stroh 
und  ertränken  sie   außerhalb   des  Dorfes.     Bei  Polen  und  Mo- 
■rawen  heißt  sie  nicht  Tod,  sondern  Marzana,  Marena;  man  er- 
tränkt sie  am  Sonntag  Lätare.      In  Thüringen  und  der  Eifei 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  30 


454  Lndwig  Deubner 

binden  die  Knaben  einen  Strohmann  an  ein  Rad  und  rollen 
es  angezündet  bergab.  Anderes  an  anderen  Orten.  Alle  diese 
Riten  gruppieren  sich  um  die  Mitte  des  großen  Fastens.  Einen 
abweichenden  Charakter  hat  das  Inswasserwerfen  der  Kostroma 
zu  Pfingsten  oder  am  Pfingstmontag  in  Rußland  und  das  Aus- 
führen oder  Ertränken  der  Russalka.  Grimm  sah  in  den  er- 
wähnten Bräuchen  die  Austreibung  des  Winters,  Mannhardt 
bezog  sie  auf  seinen  Yegetationsgeist.  Beide  umgehen  den 
Charakter  der  Reinigung,  der  auch  bei  antiken  Parallelen  klar 
hervortritt,  so  bei  dem  delphischen  Ritus  der  Bestattung  der 
Charila  und  bei  der  römischen  Argeerprozession.  Auch  bei 
den  Naturvölkern  wird  die  Reinigung  durch  Austragen  besonderer 
Puppen  vollzogen.  In  Ozeanien  werden  die  Dämonen  in  Puppen 
geschlossen  und  m  hloque  ins  Meer  geworfen.  Ebendahin 
gehört  die  Verbrennung  des  Mamurius  Yeturius.  Vieles  der- 
art ist  nur  noch  im  Spiel  erhalten.  In  allen  analogen  Fällen 
nimmt  die  betreffende  Figur  alles  Übel  der  Vergangenheit  auf 
sich.  Daß  man  besonders  im  neuen  Frühling  von  vorn  anfangen 
woUte  zu  leben,  ist  verständlich.  Ganz  abseits  steht  der  Streit 
zwischen  Winter  und  Sommer,  ein  rein  deutsches  rituelles 
Spiel.  Hier  handelt  es  sich  nicht  um  eine  kategorische  Aus- 
treibung, wie  beim  Tode.  Der  Winter  mißt  sich  mit  dem 
Sommer.  Bei  den  Eskimos  findet  ein  ähnliches  Spiel  zwischen 
zwei  Gruppen  von  Burschen  im  Herbst  statt.  Siegt  der  Sommer, 
so  kann  man  noch  auf  gutes  Wetter  hoffen,  also  eine  Art 
Orakel. 

Einen  hervorragenden  Platz  im  slawischen  Frühlingsritual 
nehmen  die  am  Samstag  oder  Sonntag  nach  Ostern,  gelegentlich 
auch  am  Gründonnerstag  stattfindenden  Gedächtnisfeiern  auf 
den  Kirchhöfen  ein.  Das  Volk  nimmt  Trank  und  Speise  mit. 
Nachdem  die  Geistlichkeit  die  Seelenmessen  abgehalten  hat,  wird 
geschmaust  und  gesungen:  es  entsteht  eine  Art  allgemeiner 
Orgie.  Besonders  festlich  begeht  man  diese  Feier  in  Klein- 
und    Weißrußland.      Im    Kreis    Perejaslawl     zerschlägt    jeder 


Russische  Volkskunde  455 

Familienvater   am    Schlüsse   der  Seelenmesse  ein  buntgefärbtes 
Ei    am    Kreuz    und    gibt    es    den    Bettlern.      Auf   das    Grab 
wirft  man  Salz  und  die  Überreste  der  'heiligen'  Speise;  auch 
ein    Glas    Schnaps    gießt   man   aus   und   ruft   dabei   die   Toten 
an:    „eßt,    trinkt    und    denkt  unser."      In    Weißrußland    gießt 
man  Wein  auf  die  Gräber  und  spricht:  „heilige  Eltern,  warum 
seid  ihr  von  uns  geflogen?  kommt  zu  uns,  wir  wollen  essen,  was 
(lott  gibt".     Gerade  im  Frühling,  im  wichtigsten  Moment  des 
Wirtschaftsjahres,  muß  man  die  Toten  als  die  Beschirmer  der 
Interessen  ihrer  Nachkommenschaft  günstig  stimmen.    Sie  sollen 
dem  Landmann  helfen  mit  ihrem  geheimnisvollen  und  weisen  Ein- 
tiuß  auf  sein  Schicksal.    Die  gleichen  Riten  kennen  die  Fremd- 
völker, bei  denen  sie  auch  zu  Ostern,  am  Palmsonntag,  in  der 
dritten  und  vierten  Fastenwoche  vorkommen.    Bei  ihren  Toten- 
bewirtungen lassen  sie  entweder  einige  Stühle  frei  oder  lassen 
den  gedeckten  Tisch  eine   Zeitlang   stehen.     Ja  sie  heizen  für 
die   Toten   sogar   Bäder.     Auch   an   die  Woche   vor   Pfingsten 
schloß  sich  die  Totenverehrung;  ihr  Name  'Russalnaja  nedelja' 
geht   auf  die   griechisch-römischen  ^ PovCdXia  Rosalia  Rosaria 
I  zurück,  die   den   Charakter   einer  Totenfeier   haben.     Dasselbe 
Fest  begegnet  in  frühchristlichen   griechischen   Inschriften  als 
,  Qodiöiiög  oder  QoöödXia.  Yon  dem  Fest  wurden  bei  den  Russen 
I  die  Seelen  der  Toten  '^russalki'  genannt.     Die  Frage  des  Ver- 
I  fassers,   warum   diese   Bilder   der  Toten  nur  weiblich  gedacht 
werden,  ist  leicht  zu  beantworten:  man  hat  sich  die  Seele  zu 
:  allen  Zeiten  weiblich  vorgestellt.     Ebensowenig   Schwierigkeit 
j  bereitet  die  Austreibung  der  Russalka.     Es  ist  nicht  nötig,  eine 
'Umwandlung  der  Volksvorstellungen  anzunehmen.     Die   Seele 
des  Toten  ist  von  jeher  auch  als  Feind  betrachtet  worden,  so 
|gut  wie  als  Freund;  davon  liegt  hier  ein  Rest  vor.     Daß  man 
'die  Toten  auch  in  der  Woche  vor  Pfingsten,  gegen  Ende  des 
^  Frühlings  verehrt,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  der  Bauer  ihre 
Hilfe   zur  Zeit   der   Kornblüte   genau   so  nötig  hatte,  wie  zu 
Beginn    des    Frühlings.      Die   Feiern   tragen    einen    fröhlichen 

30* 


456  Ludwig  Deubner 

Charakter,  ihr  Name  ^russaliji'  wurde  daher  überhaupt  zur  Be- 
zeichnung von  Volksspielen. 

Eine  besondere  Rolle  im  Frühlingsritual  spielen  die  Eier 
und  die  Erstlinge  der  Herde.  Das  Ei  ist  die  erste  frische 
Opfergabe,  daher  erklärt  sich  seine  rituelle  Bedeutung,  die  mit 
Symbolik  nichts  zu  tun  hat.  Die  Erstlinge  der  Herde  werden 
feierlich  geschlachtet.  In  Serbien  und  Bulgarien  verzehrt  man 
das  erste  Lämmchen  am  Georgstag.  Ehe  man  es  tötet,  werden 
auf  seinen  Hörnern  Kerzen  angezündet,  dann  wird  es  in  der 
Kirche  gesegnet.  Auch  ruft  der  Hausherr,  vordem  er  es 
schlachtet:  „heiliger  Georg,  da  hast  du  das  Lämmchen",  während- 
dessen gehen  die  Weiber  um  das  Tier  herum  und  beschmieren 
sein  Maul  mit  Honig.  Die  Letten  schicken  am  Georgstag  die 
Pferde  zum  erstenmal  auf  die  Weide,  was  die  Jugend  mit 
einem  Mahl  in  freiem  Felde  feiert.  Der  dabei  angerufene  Ussin 
ist  eine  rein  rituelle  Figur  und  nichts  anderes  als  eine  Personi- 
fikation des  Feiertags  (wir  werden  sagen:  ein  Sondergott).  Der 
Verfasser  erblickt  in  Ussin  die  lettische  Bezeichnung  für  den 
heiligen  Georg,  da  dieser  gelegentlich  für  Ussin  eintritt  und 
Ussin  auch  als  Ritter  erscheint.  Es  liegt  näher,  eine  Beein- 
flussung oder  Verdrängung  des  alten  Ussin  durch  den  christlichen 
Georg  anzunehmen.  Der  Sinn  des  Opfers  an  den  heiligen 
Georg  liegt  in  dem  Schmecken  des  ersten  Zuwuchses.  Das 
erste  Austreiben  des  Viehes  erfolgt  im  ganzen  griechisch- sla- 
wischen Osten  am  Georgstage,  das  Austreiben  der  Pferde  in 
Rußland  am  Nikolaustag  (9.  Mai).  Im  slawischen  Westen  wird 
das  Vieh  am  Pfingstmontag  oder  1.  Mai  ausgetrieben;  dabei 
erscheint  als  zentrale  Persönlichkeit  der  Hirt:  er  wird  beschenkt 
und  bewirtet.  Bei  den  Russen,  Esten  und  Letten  begießt  man 
ihn  mit  Wasser,  damit  das  Gras  genug  Regen  bekommt.  Wich- 
tiger ist  die  magische  Umgehung  des  Viehes.  Im  Gouverne- 
ment Kowno  wird  das  Vieh  auf  den  Hof  hinausgelassen, 
der  Hausherr  klebt  an  die  Ränder  eines  mit  Serviette  oder 
Handtuch    bedeckten    Tellers    Kerzen    im    Schema    eines    drei- 


Russische  Volkskunde  457 

armigen  Leuchters,  legt  auf  den  Teller  Heiligenbilder  und  ein 
Paar  Eier  und  geht  damit  um  das  Vieh  herum.  Hinter  ihm 
schreitet  seine  Frau,  in  der  einen  Hand  einen  Topf  mit  glühenden 
Kohlen  haltend,  in  der  anderen  eine  Schürze  voll  heiligen 
Grases;  damit  beräuchert  sie  das  Vieh.  Den  Beschluß  macht 
der  Hirt,  der  mit  einem  von  der  Palmwoche  aufbewahrten 
Zweig  möglichst  jedes  Tier  schlägt.  Dieser  Umzug  geht  drei- 
mal vonstatten.  Daß  es  sich  um  eine  Reinigung  handelt, 
zeigt  der  weißrussische  Brauch,  mit  dem  der  dreimalige  Um- 
gang geschlossen  wird.  Man  bleibt  auf  der  Stelle  stehen,  von 
der  man  ausging.  Der  Oberhirt  betet,  indem  er  auf  die  Herde 
blickt:  „errette,  Herr,  unsere  Herden  und  jedes  Stück  Vieh 
von  jeglichem  gleitenden  Reptil  und  bösem  Raubtier."  Darauf 
wenden  alle  Hirten  der  Herde  den  Rücken  zu,  und  der 
Oberhirt  spricht  die  Worte:  „hussa  Hexe^';  alle  Hirten 
schreien:  „hussa  Hexe!"  Der  Hirtenbube,  der  weiter  vor- 
getreten ist,  knallt  laut  mit  der  Peitsche  in  die  Luft. 
Der  Oberhirte  fährt  fort:  „Salz  in  die  Augen!",  der  Bube 
wirft  aus  seiner  hohlen  Hand  Salz  ins  freie  Feld.  „Den 
Feuerbrand  in  die  Zähne!"  der  Bube  schleudert  nach 
derselben  Seite  einen  Feuerbrand.  Darauf  lassen  sich  alle 
Hirten  auf  die  Erde  nieder  und  nehmen  ihre  Mahlzeit  ein. 
Aber  es  muß  auch  jedes  einzelne  Tier  von  jeglicher  Seuche  ge- 
reinigt werden,  die  in  ihm  stecken  könnte.  Das  einfachste 
Mittel  ist,  die  Herde  durch  einen  Gegenstand  zu  jagen,  der 
die  Unreinigkeit  nicht  durchläßt,  wobei  der  Gegenstand  entweder 
so  heilig  ist,  daß  die  Unreinigkeit  vor  ihm  Halt  macht,  oder 
seinerseits  alles  Unheil  an  sich  zieht.  Zum  zweiten  gehört  die 
Umtragung  des  schwarzen  Hahnes  bei  Letten  und  Litauern. 
In  Südfrankreich  trieb  man  das  Vieh  durch  eigens  errichtete 
tunnelartige  Tore  aus  Erde.  Die  Mordwinen  bauen  gleichfalls 
einen  Tunnel,  verteilen  aber  außerdem  darin  einen  Holzbrand, 
so  daß  das  Vieh  in  Wolken  von  Rauch  geht.  Hier  tritt  der 
erste  Gedanke  hinzu:  vor  dem  Feuer  muß  alles  Unheil  zurück 


458 


Ludwig  Deubner 


bleiben.    Der  Brauch,  das  Vieh  durch  Scheiterhaufen  zu  treiben, 
ist  weit  verbreitet,  bis  zu  den  Hottentotten.    Reinigende  Kraft 
schreibt  man  an  einigen  Orten  auch  dem  Osterei  zu.    Im  Kreis 
Grodno   breitet  man  beim  ersten  Austreiben  vor  der  Schwel 
des  Viehstalls  einen  Pelz  aus,  mit  den  Haaren  nach  oben, 
legt  darauf  Eier.     Dasselbe  geschieht  in  Deutschland.     In  d( 
Mark  Brandenburg  geht  das  Vieh  über  ein  unter  der  Schwel 
vergrabenes  Ei,  anderswo  wirft  der  Hirt  den  Kühen  Eier  untc 
die  Füße.     Reinigend   ist   der   Schlag   mit   der   Gerte,   der 
vielen  Orten  bezeugt  ist.     Es  scheinen  sich  zwei  Vorstellunge 
zu  verbinden,  1.  der  einfache  Akt  des  Austreibens,  der  feierliche 
mit  einem  geweihten  Zweig,  vollzogen  wird,  2.  die  Lustratioi 
in  Weißrußland   schlägt  der  Hirt  die  Tiere,  während  Haui 
herr    und    Hausfrau    den    Umgang    vornehmen.       Interessj 
sind     die    Worte,     die     der    indische    Priester    während     d( 
Opfers     zu    dem     Zweig    in    seiner    Hand    spricht:    „behüi 
das   Vieh,    das    das    Opfer    darbringt,    das   im    Walde    umhe^ 
streifen     wird,     vor     dem     Schrecken     des     Räubers,     wilde 
Tiere  und   jeglichen    Unheils;  die  mit  dem  Zweig  geschützi 
Kühe    werden    ohne    Fehler    nach    Hause    kommen."      Wei 
die     bulgarischen    Mädchen    sich    am     Georgstage    schaukel 
versetzen  ihnen  die    Burschen   hin   und    wieder    eins    mit   d( 
Rute. 

Eine  weitere  Anzahl  von  Riten  knüpft  sich  an  die  ersi 
Ausfahrt   mit    der   Egge,   bei   den   Fremdvölkern,   in  Englai 
und  Deutschland.     Auch  gibt   es  im  Frühling  einige  Tage, 
denen  es  gefährlich  ist,  sich  mit  dem  Pflug  zu  befassen, 
der   Ausfahrt   aufs    Feld   zum  Pflügen  wird   um  Fruchtbarkei 
gebetet,    desgleichen  bei   der  Aussaat.     Brot  und  Eier  werde 
in  Rußland  bald  auf  die  Egge  gelegt,  bald  über  das  Feld  vei 
streut.     In  Deutschland  fährt  man  mit   der  Egge   über  eine 
Topf  Milch  mit  Brot  und  Ei.    In  Westfalen  zieht  ein  altes  Weil 
den   Pflug.       Eiopfer    begegnen    auch    in    Kleinrußland,    Sei 
bien,  Bosnien  und  Herzegowina.     Eier  oder  Eierschalen  stecl 


Russische  Volkskunde  459 

man  in  Deutschland  und  Rußland  dem  Sämann  in  den  Korb; 
gewöhnlicli  nimmt  man  dazu  Ostereier.  Auch  wirft  der  Sä- 
mann eine  Handvoll  Samen  rückwärts  über  die  Schulter  und 
schließt  dabei  die  Augen.  Die  Mordwinen  fahren  vor  der  Aus- 
saat mit  einem  ganzen  Mittagessen  aufs  Feld,  schneiden  einzelne 
Scheiben  Brot  ab  und  legen  auf  jede  je  ein  Stück  von  jeder 
Speise.  Diese  Scheiben  vergraben  sie  in  die  Erde.  Nach  dem 
darauf  folgenden  Essen  machen  sie  sich  an  die  Aussaat.  Die 
Wotjaken  decken  über  die  aufgepflügte  Erde  ein  Tischtuch, 
darauf  legen  sie  Eier,  Brot  und  andere  Speisen.  Nach  einem 
Gebet  erfolgt  die  erste  Aussaat,  wobei  zugleich  mit  dem  Korn 
auch  die  Eier  ausgestreut  werden.  Eins  davon  wird  eingepflügt, 
die  anderen  verzehrt  man.  Zum  Sämann  wird  bei  den  Tschu- 
waschen ein  'glücklicher  Mensch'  ausgewählt.  Im  Gouvernement 
Ssamara  schloß  sich  der  Landmann  am  Vorabend  der  Aussaat 
ein,  zündete  eine  Wachskerze  an  und  legte  vor  den  Heiligen- 
bildern eine  Handvoll  Samenkörner  hin;  dann  begann  er  eifrig 
zu  beten  um  Herabsendung  glücklicher  Saat  und  Ernte.  Dabei 
wurden  im  Haus  sorgfältig  alle  Spalten  und  Offnungen,  sowie 
die  Ofenrohre  zu  dem  Zwecke  geschlossen,  daß  der  herab- 
gesandte Segen  Gottes  nicht  aus  dem  Hause  entweiche.  In 
Neuseeland  müssen  die  Arbeiter  vor  dem  Aufpflügen  fasten 
und  sich  waschen.  Die  Slowenen  werfen  in  der  Mitte  der 
fünften  Fastenwoche  auf  dem  Felde  einen  Teil  des  Pfluges 
(verMo)  gegen  die  Sonne.  Wo  er  hinfällt,  vergräbt  man  ihn. 
Rostet  er  nicht,  so  gibt  es  gute  Ernte.  Nach  Herausnahme 
des  verMo  aus  der  Erde  umwindet  man  es  mit  Efeu  und  setzt 
es  in  den  Pflug  ein.  Am  anderen  Morgen,  wenn  man  zum 
Pflügen  ausfährt,  steckt  man  dort,  wo  das  verklo  vergraben 
war,  eine  geweihte  Palmweide  hinein.  Zu  den  betrachteten  Riten 
gehört  auch  das  Spiel  Kostrubonko:  Kostrubonko  wird  gesucht, 
man  findet  ihn  nicht;  er  ist  tot  und  wird  beweint;  plötzlich 
springt  Kostrubonko  auf  und  hascht  die  Mädchen.  Eine  Replik 
davon   ist    das   epirotische   Spiel   Saphira.     Saphira   stellt  sich 


460  Ludwig  Deubner 

tot,  man  beschüttet  ilm  mit  Blumen  und  beweint  ihn;  kaum 
spricht  man  von  seinem  Tode,  so  springt  er  auf  und  fängt 
den  Chor.  Man  hat  damit  mehrfach  das  Adonisfest  von  Byblos 
verglichen:  Klage  um  den  Toten,  am  folgenden  Tage  Freude 
über  den  Auferstandenen.  Man  hat  hierunter  nicht  den  Tod 
der  Natur  im  sommerlichen  Brand  und  ihr  Erwachen  im  Früh- 
ling zu  verstehen,  wobei  zwei  auseinanderliegende  Momei 
zusammengerückt  wären,  Adonis  ist,  wie  das  Theokritscholi( 
zu  ni  48  erklärt,  6  öltos  öTtsiQÖ^svog.  Die  Adonien  waren 
sprünglich  ein  Saatzauber,  der  Ritus  sollte  ein  schnelles  ui 
erfolgreiches  Aufgehen  der  Pflanzenkeime  begünstigen,  nachde 
der  kostbare  Same  in  die  Erde  geworfen  und  in  ihrer  schre( 
liehen  ungekannten  Tiefe  untergegangen  war.  Es  stimi 
dazu,  daß  die  alten  Adonien  in  Byblos  um  die  Wende  d^ 
Februar  während  der  Aussaat  des  Sommergetreides  gefei( 
wurden. 

Auch  für  den  Aufgang  des  Wintergetreides  um  Himm< 
fahrt  wird  gesorgt.  Man  backt  aus  Teig  sog.  ^TreppeJ 
(lestnisy)^  Pasteten  mit  quer  übereinander  gelegten  Schichi 
Sie  symbolisieren  den  Wuchs  des  Getreides.  Im  Grouvernement 
Ssaratoff  gingen  die  Weiber  mit  ihren  ^Treppen'  aufs  Feld, 
wälzten  sich  auf  der  Wintersaat  und  warfen  Eier  in  die  Höhe. 
So  hoch  das  Ei  flog,  sollte  der  Roggen  wachsen.  In  Ober- 
bayem  geht  zu  Ostern  jeder  Bauer  mit  seinen  Leuten  aufs 
Feld  und  richtet  an  jeder  Ecke  ein  Kreuz  aus  frischen  Zweigen 
auf-,  ebenda  legt  er  Schalen  von  Ostereiern  nieder.  Außerdem 
wird  in  der  Mitte  des  Feldes  ein  Ei  vergraben.  Geweihte 
Speise  vergräbt  man  in  Osterreich.  Ahnliches  geschieht  in 
Indien.  Es  ist  die  Vorstellung  des  magischen  Kreises,  durch 
den  man  das  Feld  schützt.  Dasselbe  sucht  man  durch  feier- 
lichen Umgang  zu  erreichen,  der  bei  den  Slawen  sehr  verbreitet 
ist.  Bei  Serben  und  Bulgaren,  wo  sich  auch  die  Geistlichkeit 
beteiligt,  werfen  die  Burschen  kleine  Bälle  in  die  Höhe  und 
springen   möglichst    hoch,    damit    das    Getreide    ebenso    hoch 


Russische  Volkskunde  461 

wachse.  Während  das  Kreuz  umgetragen  wird,  legen  sicli 
die  Kranken  quer  über  den  Weg,  damit  die  Prozession  über 
sie  hinweg  ginge  und  ihre  Krankheit  ausgetrieben  werde.  Ver- 
wandt mit  diesem  Umgang  ist  der  germanische  Flurumritt. 
Die  lustrierende  Kraft  des  Umgangs  wird  stellenweise  durch 
Tragen  von  Fackeln  verstärkt.  Bei  den  Russen  und  Serben 
sind  auch  Lieder  mit  dem  Umgang  verbunden.  Die  gleichen 
Riten  finden  wir  bei  den  alten  Römern,  auch  ins  Christliche 
\Yerden  sie  übertragen.  Die  Reinigung  des  Feldes  ist  der  letzte 
Akt  der  rituellen  Handlung  im  Frühjahr.  Eine  Beschwörung 
der  Ähren  stellt  das  großrussische  Spiel  Kolossok  dar:  ein  zwölf- 
jähriges Mädchen  geht  über  die  kreuzweis  verschränkten  Hände 
der  in  zwei  Reihen  sich  gegenüberstehenden  Mädchen  und  jungen 
Frauen  bis  zum  Feld,  indem'  die  hintersten  immer  nach  vorn 
laufen  und  die  Brücke  fortsetzen.  Auf  dem  Felde  reißt  das 
Mädchen  eine  Handvoll  Roggen  ab,  trägt  sie  zur  Kirche  und 
wirft  sie  dort  hin. 

Die  Mehrzahl  der  in  dem  vorliegenden  Buche  analysierten 
Riten  gehören  zu  den  zwei  großen  Kategorieen  der  Beschwörungen 
und  Lustrationen.     Einen  Glauben  an  Geister  setzt  keiner  not- 
wendig  voraus.      Der    primitive    Mensch    erzielt,    wie    Frazer 
sagt,    durch    ähnliche    Handlungen    ähnliche    Erscheinungen. 
i  Doch  ist  es  nicht  richtig,   wenn  Frazer  behauptet,   der  Wilde 
erreiche    sein    Ziel    auf   übernatürlichem  Wege.      A.  Lang   hat 
1  betont,  daß  Erscheinungen  wie  Halluzinationen,  Fernwirkungen, 
'  Erraten    den  Wilden   längst   bekannt    sind.      Wenn    der   Zulu 
einen  verlorenen  Gegenstand  nicht  finden  kann,  nimmt  er  seine 
Zuflucht   zur   inneren  Eingebung   und   bemüht  sich  zu  fühlen, 
wo   der   Gegenstand    steckt.      Fast   alle  wilden  Völker   kennen 
':  diesen  Akt  des  unbedingten  Willens;  sie  nennen  das  *die  Tore 
(  der  Entfernung    öffnen'.      Es  ist    eine    unbewußte  Gehirntätig- 
keit,   die   an  Ekstase  grenzt.     Der  Grundzug  der   betrachteten 
Riten  ist   der  Glaube   des  Landmanns,   daß  sein  Schicksal  mit 
dem  seines  Feldes   identisch   ist;   daß  seine  Vorherbestimmung 


462  Ludwig  Deubner 

von  ihm  selbst  abhängig  ist  oder  seiner  religiös -wirtschaftlichen 
Gemeinde.  Seine  Art,  die  Natur  anzusehen,  ist  streng  egozentrisch. 
Sie  existiert  für  ihn  persönlich.  Seine  Ansicht  wird  erschüttert, 
wenn  eine  Naturerscheinung  sich  ihm  schädlich  erweist;  nur 
durch  den  Gedanken  an  die  Möglichkeit  eines  Widerstandes 
kann  seine  egozentrische  Metaphysik  wieder  ins  Gleichgewicht 
gebracht  werden.  Dieser  Widerstand  in  Form  der  Beschwörung 
oder  Lustration,  erscheint  uns  übernatürlich.  Nach  Spencer 
stellen  sich  dem  primitiven  Menschen  komplizierte  Objekte  und 
Verhältnisse  unter  den  Bezeichnungen  einfacher  Objekte  und 
Verhältnisse  dar.  Wenn  der  Wilde  erkrankt,  erscheint  dem- 
nach als  erstes  Mittel  die  Aussaugung  der  Krankheit:  diese 
wird  ganz  konkret  gedacht.  Daneben  steht  die  Austreibung 
durch  Riten,  die  den  magischen  Bräuchen  der  Reinigung  und 
Beschwörung  verwandt  sind.  Der  kirgisische  Baksy  bringt 
sich  in  Ekstase  durch  das  hartnäckige  innere  Bestreben,  d 
Kranken  zu  heilen.  Der  Ekstase  dienen  das  Drehen  im  Kreis^ 
eintönige  Musik,  narkotische  Getränke,  Pasten  u.  dgl.  Der 
Beschwörer  fühlt  in  sich  die  Kraft,  durch  Willensanspannung 
die  gewünschte  Erscheinung  hervorzurufen:  er  muß  an  sich 
glauben.  Der  primitive  Mensch,  der  durch  seine  Ekstase  die 
Tore  der  Entfernung  öffnet  und  Krankheiten  heilt,  muß  glauben, 
daß  er  durch  dieselbe  Ekstase  auch  den  Regen  herbeiführen,  die 
Blüte  der  Nutzpflanzen  beschleunigen  und  sichern  könne  usw. 
Diese  Weltanschauung  muß  religiös  genannt  werden.  Sich 
selbst  hält  der  primitive  Mensch  für  eine  Art  Gott;  auch  der 
kirgisische  Baksy  und  der  türkische  Schamane  halten  sich  zweifel- 
los für  Götter.  Die  Vorstellung  vom  Mensch- Gott  ist  bei  den 
Wilden  weit  verbreitet.  Frazer  hält  diese  Menschengötter  fälsch- 
lich für  Besessene.  Ihre  Göttlichkeit  gründet  sich  auf  den 
Glauben  an  sich  selbst,  und  dieser  Glaube  wurzelt  in  der  Fähig- 
keit, sich  auf  einen  Wunsch  zu  konzentrieren.  Ohne  Wunsch 
keine  Religion,  kein  Gott,  sagt  Peuerbach.  Die  rituelle  Handlung 
liegt  den  vollkommeneren  Formen  des   religiösen  Bewußtseins 


>er 
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Russisclie  Volkskunde  463 


zugrunde.  Sie  erklärt  auch  den  Dualismus  von  Gut  und  Böse, 
Liebe  und  Furcht  in  der  Vorstellung  von  der  Gottheit.  In  der 
Beschwörung  vollzieht  sich  der  Prozeß  der  Entstehung  des 
wohltätigen  Gottes,  in  der  Lustration  hat  man  die  Quelle  des 
Menschenfeindes  zu  suchen.  Das  rituelle  Lied  dient  einerseits 
der  Ekstase,  anderseits  drückt  es  den  Wunsch  selbst  durch  das 
Wort  aus.  Der  rhythmisch  ausgedrückte  Wunsch  liegt  der 
Beschwörung  zugrunde.  Das  rituelle  Beschwörungslied  ist  eine 
selbständig  entstandene  und  ursprüngliche  Form  der  Volkspoesie. 
Nach  Bücher  waren  Arbeit,  Musik  und  Poesie  auf  der  ersten 
Stufe  der  Entwickelung  eine  Einheit,  aber  das  Grundelement 
bildete  die  Arbeit.  Energische  rhythmische  Körperbewegungen 
führten  zur  Entstehung  der  Poesie,  insonderheit  die  Bewegungen, 
die  wir  Arbeit  nennen.  Tanz  ist  eine  Nachahmung  bekannter 
Arbeitsprozesse.  Im  Rhythmus  sieht  Bücher  mit  Nietzsche  eine 
Nötigung,  eine  Anspannung  der  Energie,  die  geeignet  ist,  bis 
zur  Eingebung,  zum  Rausch,  zur  Ekstase  zu  führen.  Seine  eigene 
Theorie  von  der  Entstehung  des  Liedes  aus  dem  Beschwörungs- 
verfahren betrachtet  der  Verfasser  als  eine  Weiterbildung  der 
Theorie  Büchers.  Denn  auch  hier  liegt  derselbe  psychologische 
Prozeß  zugrunde,  wie  beim  Arbeitsliede.  Auch  hier  dient  das 
Lied  der  Erregung  und  der  Anspannung  der  psychischen 
Impulse  und  Muskelenergie.  Arbeits-  und  Rituallieder  sind  die 
Grundtypen,  in  die  der  ganze  Liederschatz  des  primitiven 
Menschen  aufgeht.  Kriegs-,  Jagd-  und  Liebeslieder  gehören 
zur  zweiten  Gruppe.  Auch  die  im  zweiten  Teil  zu  betrach- 
tenden Lieder  und  Tänze,  in  denen  das  ganze  Menschenleben 
mit  allen  seinen  Fragen  sich  widerspiegelt,  sind  ein  integrierender 
[Bestandteil  des  Ritus,  obwohl  sie  ihn  anscheinend  unabhängig 
begleiten. 


4  Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer 

Reisebericht  von  K.  Th.  Preuß  z.  Z.  in  Mexiko 

^5i  Am  25.  Dezember  1905  brach  icli  von  Tepic  auf  ^,  um 
die  Stämme  der  Sierra  Madre  besonders  in  bezug  auf  Religion 
und  Kunst  zu  untersuchen  in  der  Hoffnung^  hier  auf  ursprüng- 
liche Ideen  zu  stoßen,  die  die  dunkeln  Anfänge  dieser  un- 
praktischen und  doch  so  tief  in  die  Tätigkeit  der  primitiven 
Völker  eindringenden  „Mittel  zur  Lebenserhaltung"  ein  wenig 
erhellen.  Auch  glaubte  ich  hier  manche  Erklärungen  für  die 
Zeremonien  und  Bilderschriften  der  alten  Mexikaner  zu  finden, 
da  an  beiden  Orten  sowohl  die  gleichen  Lebensbedingungen! 
des  Ackerbaues  und  Regens,  der  gleiche  Sonnenstand  imd  die ! 
gleichen  Tiere  sich  finden,  wie  auch  ein  sprachlicher  und 
räumlicher  Zusammenhang  vorhanden  ist.  In  sechs  Tagereisen 
nach  Norden  erreichte  ich  das  Hauptdorf  der  Cora- Indianer 
Jesus  Maria,  das  ich  als  Hauptstützpunkt  erwählte,  um  von 
hier  aus  die  anderen  bedeutenden  Cora-Pueblos  zu  besuchen, 
das  zwei  Stunden  entfernte  San  Francisco  und  das  eine  bzw. 
zwei  Tagereisen  nach  Westen  und  Norden  gelegene  Mesa  de 
Nayarit  und  San  Theresa.  In  diesen  Dörfern  werden  verschiedene 
Dialekte  gesprochen,  doch  so,  daß  sich  die  Bewohner  unter- 
einander sehr  wohl  verstehen  können.  In  San  Theresa  bin  ich 
jedoch  noch  nicht  gewesen,  da  ich  in  meiner  Nähe  ein  großes 
Material  vorfand.  Die  Grundlage  für  meine  Untersuchungen  ; 
mußte  das  Aufschreiben  und  Übersetzen  von  Texten  und  daher 
das  Studium   der   Sprache   sein,    da   wir   außer   einem    kleinen  Ij 


^  Die  Mittel  zu  dieser  Reise  gewährte  mir  die  Preußische  Regierung 
aus  der  „Herzog  von  Loubat  Professur- Stiftung". 


K.  Th.  Preuß    Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer     465 

Vokabular  des  Pater  Ortega  vom  Jahre  1732  nichts  dergleichen 

;  besitzen.     Wenn   ich   nun  im   folgenden  einzelnes  von  meinen 

über  Erwarten  reichen  Funden  mitteile,  so  geschieht  es  in  der 

Erkenntnis,   daß  ein  viermonatiger  Aufenthalt  nur  gerade  Zeit 

i  genug  bietet,   um   zu   übersehen,   in   welchen   Richtungen   die 

'  Arbeit  einzusetzen  hat.     Ich  biete  daher  weder  Vergleiche  mit 

dem  Altmexikanischen,  noch  teile  ich  etwas  aus  dem  Original 

der  Texte   mit,   da  die  vollkommene  Verarbeitung  Jahre  nach 

i  meiner  Rückkehr  erfordern  wird.     Auch   muß  man  immer  be- 

!  denken,    daß    ein    Endurteil    über    die    Cora    erst    nach    dem 

Studium    der    sprach-   und    kulturverwandten    Nachbarstämme 

möglich  ist,  zu  denen  ich  im  Juli  übersiedeln  will,  und  zwar 

zunächst  zu  den  Huichol- Indianern. 

Kaum  war  ich  einige  Tage  bei  den  Cora,  so  führte  mich 

der  Indianer,  den  ich  für  meine  Sprachstudien  gewonnen  hatte 

!  —   ein  Verächter   der   alten   Corasitten  — ,   in   der   Nacht    zu 

einigen  „Höhlen"   in   der   Umgebung   des   Dorfes.     Es   waren 

teils    kleine    Hohlräume    aus    kunstlos    übereinandergesetzten 

Steinen,   teils   Felsspalten    und  Bildungen   aus    überhangenden 

Felsen,   deren   Eingang   durch  Steine   verbaut   war.     Ich  fand 

dort   außer   kleinen   Schälchen   mit   Lebensmitteln   und   Tabak 

für  die  Toten  und  Takuäte  —  die  Götter  —  eine  Anzahl   be- 

t  malter  und  mit  Federn  behängter  Zeremonialpfeile.     Im  Laufe 

der  Zeit  besuchte  ich  viele  andere  wirkliche  Höhlen,   auch  in 

der  Umgebung  von  San  Francisco  und  der  Mesa,  die  zum  Teil 

I  tief  hinabführten   und  nur  auf  dem  Bauche  zugänglich  waren. 

I  Die  Fülle  der  dort  vorgefundenen  Pfeile,   die  Masse  der  einen 

I  bedeutenden   Geldwert   repräsentierenden   Federn  —  an  einem 

einzigen  Pfeil  zählte  ich  z.  B.  80  Bündel  — ,  endlich  die  kunst- 

I  voll  hergestellten,  zum  Teil  gewaltigen  Sterne  daran  aus  weißen 

BaumwoU-  und  blauschwarz  gefärbten  Wollfäden  machten  es 

mir  zur  Gewißheit,  daß  in  diesen  „Pfeilopfern"  ein  wesentlicher 

Teil    der    Corareligion    stecke.      Tatsächlich    haben    die    Cora 

jedes  Dorfes   auch   einen   sehr  einflußreichen  „Alten"  an  ihrer 


9 

1 


466  K-  Th.  Preuß 

Spitze,  den  man  den  Vater  des  Dorfes  nennen  könnte,  und 
der  als  vornehmste  Aufgabe  die  Sorge  für  die  gemeinsamen 
,, Pfeilopfer"  hat.  Diese  bilden  gewissermaßen  einen  Ersatz  der 
fehlenden  Götterbilder.  Und  das  alles,  obwohl  seit  fast  200 
Jahren  hier  die  christliche  Kirche  besteht.  Gegenwärtig  be- 
findet sich  ein  Pfarrer  in  Jesus  Maria  und  ein  anderer  in  dem 
fast  ganz  mexikanisierten  San  Juan  Peyotan.  Die  Cora  sagen 
einfach,  Gott  selbst  habe  diese  Gebräuche  eingesetzt,  und  s 
nicht  minder  fromm  als  Christen  wie  als  Heiden. 

Wegen  des  Mißtrauens,  das  die  Cora  allen  Fremden  e 
gegenbringen,  gelang  es  mir  erst  ganz  kürzlich,  eine  Serie 
Pfeile  nebst  einer  authentischen  Erklärung  ihrer  Bedeutung 
zu  erlangen.  Zugleich  hatte  ich  achtgegeben,  welche  Federn 
in  den  verschiedenen  Zeremonien  gebraucht  wurden,  so  daß 
ich  mir  jetzt  ungefähr  ein  Bild  von  diesen  „Pfeilopfem" 
machen  kann.  Danach  darf  man  in  ihnen  weder  Opfer  noch 
Gebete  sehen,  sondern  auch  heute  sind  es  lediglich  un- 
umgänglich notwendige  Mittel,  Leben  und  Gesundheit,  Regen 
und  gute  Ernte  u.  dgl.  m.  zu  erhalten.  Wollte  der  Vater  eines 
neugeborenen  Knaben  oder  Mädchens  nicht  einen  Pfeil  mit 
der  Feder  des  kleinen  Sperbers  bzw.  der  Taube  anfertigen  und 
im  Hause  aufbewahren,  so  würde  das  Kind  sterben.  Ganz 
ebenso  z.  B.  würden  die  Toten  kommen  und  dem  Kinde  Schaden 
zufügen,  wenn  er  nicht  einige  Tage  Zweige  des  Zapotebaumes 
in  den  Türrahmen  steckte.  Zweige  und  Federn  sind  ein  Mittel 
zur  Abwehr.  Dasselbe  wiederholt  sich  für  die  Gesundheit 
des  ganzen  Dorfes  besonders  beim  Neujahrsfest  im  Januar  und 
beim  Fest  der  Reife  der  Knaben  und  Mädchen  im  Mai. 

Außerordentlich  gut  für  die  Verhinderung  und  Heilung  von 
Krankheiten  sind  Pfeile  mit  den  Federn  des  großen  Sperbers, 
die  auch,  an  ein  Stöckchen  gebunden,  den  Heilkünstlern  bei 
ihren  Kuren  dienen.  Um  eine  gute  Ernte  zu  erlangen,  ge- 
braucht man,  hauptsächlich  zur  Saatzeit,  die  prächtigen  blauen 
Federn   des   Blauhähers    oder    die    gelben    des    Papageis.     Am 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  467 

Ende  der  Regenzeit,  im  Dezember,  macbt  man  zum  Fest  der 
mit  der  Erdmutter  identifizierten  Jungfrau  von  Guadalupe 
Pfeile  mit  Reiherfedem,  die  Wasser,  und  mit  großen  Flocken  von 
Baumwolle,  die  Wolken  bedeuten.  Anfang  Mai  werden  der 
Sonne  Pfeile  mit  den  rötlicli- blauen  Federn  des  Guacamayo 
und  roter  Zeichnung  des  Schaftes  in  die  Höhlen  gestellt,  und 
beim  Mitotetanz,  über  den  ich  noch  sprechen  werde,  bedeutet 
ein  kurzer  Stab  mit  denselben  Federn,  der  neben  das  Feuer 
inmitten  der  Tänzer  gesteckt  wird,  zugleich  das  Feuer  und 
die  Sonne.  Ja,  dieses  Feuer  selbst  wird  in  den  von  mir  in 
der  Corasprache  aufgezeichneten  Mitotegesängen  die  Federn 
der  Sonne  genannt.  Der  Name  des  Adlers  kuolreäbe  ist  zu- 
gleich ein  Beiname  der  Sonne,  und  Adlerfedern  werden  an 
Pfeilen  gegen  Krankheiten  angebracht,  aber  nur  vom  Ober- 
haupt des  Dorfes,  dem  „gobernador"  {ta^htüany,  offenbar,  weil 
der  Zauber  dieses  Vogels  für  andere  zu  stark  ist  und  nicht 
beherrscht  werden  kann. 

Den  Federn  wird   eine   besondere  Kraft  nach  ihrer  Farbe 
und    dem    Ort    des   Vorkommens    der    betreffenden  Vögel    zu- 
geschrieben.   In  zweiter  Linie  sind  sie  den  Gottheiten  geweiht, 
und    zwar    trägt    jeder    Pfeil    die    Zeichen    des    Morgensterns 
'  'Hätzikan,    der    Erdmutter    Te^kame    und    der    verstorbenen 
„Alten",  der  Takuäte,  die  besonders  im  Osten,  in  den  Bergen 
und   zwischen  den  Wolken  leben.     Selbst  in  den  Zeichnungen 
j  der  Sonnenpfeile   ist  nicht  die  Sonne  allein  vorhanden.     Doch 
'  sind  einige  Pfeile  mehr  "^Hätzikan,   andere   mehr  Te^kame   ge- 
weiht  und   vertreten   daher  je   nachdem    mehr   das   Männliche 
oder     mehr     das    Weibliche     unter     den     Menschen.       Diese 
i  Teilung    findet    sich   z.  B.   bei    den  Pfeilen    für    Knaben    und 
j  Mädchen,    bzw.  Männer    und  Frauen   mit   Federn   des   kleinen 
S  Sperbers  und  der  Taube,  für  die  wiederum  entsprechend  gelbe 

^  Über  die  Aussprache  der  Coraworte  bemerke  ich,  daß  'h  geringe 
I  gutturale  Aussprache  des  h  bedeutet,  x  =  seh  und  ^  der  saltillo  ist.  Auch 
;  ist  griechisch  %  verwendet. 


468  ^-  Th.  Preuß 

Papageienfedern  bzw.  Federn  des  Blauhähers  treten  können. 
Die  gelben  Papageienfedern  trägt  beim  Mitote  ^Hätzikan  in 
seiner  Krone  und  gleich  dem  Morgenstern  der  Hirsch,  der  die 
übrigen  gelben  Sterne  vorstellt.  Stäbe  mit  Federn  des  Blau- 
hähers kommen  dagegen  im  Mitote  der  Erdmutter  zu  und  ent- 
sprechen offenbar  dem  Wasser,  das  die  Welt  umgibt  und  be- 
sonders ein  Attribut  der  Erdmutter  ist.  Der  Ort  des  Vor- 
kommens entscheidet  z.  B.  bei  dem  Gebrauch  des  ai^nata  ge- 
nannten Habichts,  der  sich  in  den  Bächen  von  Krebsen  nährt. 
Einen  entsprechenden  Federstab  tragen  einerseits  die  Anführer 
des  Mitotetanzes  auf  dem  Hut,  während  ihre  langen  Rohrstäbe 
mit  Wolkenzeichnungen  bedeckt  sind,  anderseits  wird  er  bei 
der  achttägigen  Zeremonie  der  „Badenden"  kurz  vor  Ostern, 
die  jetzt  zugleich  dem  Fischfang  dient,  am  Ufer  aufgepflanzt. 
Ein  Yögelchen,  das  sich  wegen  seiner  roten  Farbe  wie  eine 
Blume  auf  den  Bäumen  und  Sträuchern  ausnimmt,  nennen  die 
Cora  xiM,  was  „Sonne"  und  zugleich  „Tag"  bedeutet. 

An  den  Pfeilen  befinden  sich  häufig  vier-,  sechs - 
achtstrahlige  Sterne  aus  weißen  Baumwollfäden  oder 
wechselnd  mit  blauschwarz  gefärbter  Wolle  bzw.  gelber  Ba 
wolle  oder  gelbgefärbter  Wolle.  Übereinstimmend  wurden  sie 
in  Jesus  Maria  als  Nachbildung  der  flachen,  runden  Kale- 
bassenschale erklärt,  die  im  Mitotetanz  die  Erdmutter  in  den 
hochgehobenen  Händen  trägt.  Die  Schale  trägt  in  Jesus  Maria 
innen  einen  achteckigen  Stern  aus  aufgeklebten  Perlen,  die  die 
Versammlung  im  Mitote  vorstellen,  die  ihrerseits  wieder  die 
ganze  Welt  bedeutet.  Ebenso  tanzen  die  Götter  auf  dem  Tanz- 
platz, „Welt"  genannt.  Dieser  erscheint  in  den  Liedern  von 
San  Francisco  als  Vorstadium  der  Kröte,  das  sich  hier  zur 
Regenzeit  massenhaft  findet.  Die  Schale  ist  mit  Baumwolle, 
„den  Wolken",  gefüllt  und  obenauf  liegen  einige  Blunien- 
peyote  —  ein  wunderbar  stimulierendes  Knollengewächs  — 
u.  dgl.  m.  Die  Farbe  der  Sterne  aber  richtet  sich  lediglich 
nach    der   Farbe    der  Federn,    ebenso    wie  die  entsprechenden 


Hi 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  469 

1  locken    von  Baumwolle    und  Wolle,   die    sich    an   den  Stiel- 
enden der  Federn  befinden. 

Vor  etwa  20  Jahren  hängte  man  an  die  Pfeile  mit  Reiher- 
ledern für  die  Jungfrau  von  Guadalupe  rechteckige  weiche 
Gewebe  meist  aus  weißer  Baumwolle,  die  als  ihr  Bett  be- 
zeichnet werden.  In  einer  Höhle  von  San  Francisco  fand  ich 
1  reichlich  Baumwolle,  ihr  „Sitz".  Beides  ist  also  ihr  Wolken- 
i  sitz.  Ich  habe  auch  von  diesen  Pfeilen  noch  eine  Anzahl  für 
das  Berliner  Museum  retten  können. 

In   einem  Falle  fand  ich  ein  kleines  Säckchen  mit  Tabak 
I  an  einem  Pfeil,  also  eine  Opfergabe,  wie  sie  auch  allein  neben 
Eßwaren  für  die  Toten  und  Götter  vielfach  vorkommt. 

Es  ist  bedeutungsvoll,  daß  selbst  bei  diesem,  sich  mitten 
im  devoten  Kirchenglauben  befindenden  Volke  die  Pfeile  nicht 
j  als  Opfergabe  gelten.  Auf  meine  hoffnungslose  Frage  nach 
'  der  Bedeutung  der  Pfeile  sagte  mir  zu  meiner  Freude  ein 
„Alter",  daß  sie  wie  die  Pfeile  des  Morgensterns  sind.  Das 
bezieht  sich  auf  eine  Zeremonie  des  Mitote.  Beim  Aufgang 
des  Morgensterns  nämlich  tritt  dieser  Gott  unter  dem  im 
Osten,  d.  h.  am  östlichen  Ende  der  Welt  errichteten  Altar  her- 
vor, er  erscheint  aus  der  Unterwelt  und  versendet  einen  Pfeil 
nach  Westen  ins  Dickicht  auf  die  die  Menschen  bedrohende 
Wasserschlange,  die  offenbar,  nach  den  Liedern  zu  urteilen, 
die  Morgenröte  darstellt.  Vorher  hat  er  bereits  auf  die  gleiche 
Weise  den  Hirsch,  d.  h.  die  übrigen  Sterne,  erlegt.  Es  ist 
also  der  von  mir  in  der  altmexikanischen  Religion  aufgedeckte 
„Kampf  der  Sonne  mit  den  Sternen",  den  wir  hier  lebendig 
vor  Augen  sehen.  Glücklicherweise  wußte  der  „Alte"  auch 
noch  anzugeben,  daß  der  Hirsch  und  der  Morgenstern  Brüder 
und  wesensverwandt  sind,  so  daß  über  die  Deutung  nicht  der 
geringste  Zweifel  obwalten  kann.  Sind  aber  die  Zeremonial- 
pfeile  gleich  den  Pfeilen  ^Hätzikans,  so  wohnt  in  ihnen  nicht 
die  Kraft  des  Gebetes  oder  des  Opfers,  sondern  die  der  Gewalt, 
gleichwie  es  nicht  gut  anzunehmen   ist,   daß   man  je   fromme 

Archiv  f.  Beligionswissenschaft  IX  31 


470  K-  Tt.  Preuß 

Wünsche  der  Gottheit  vermittelst  eines  Pfeiles  übersendet  hat. 
Auch  trägt  die  jährlich  gewählte  Obrigkeit  von  San  Francisco 
Riesenpfeile    ohne    Federn,    aber    mit    denselben    Zeichnungen, 
und   von   dem   Teil,   der   sich   auf  die  Takuäte   beziehen    soll, 
heißt    es    wohl,    das    sind    die    Zeichen    des    gobernador    usw.  . 
Die  „Alten"  besitzen  eben  Zauberkraft,   und  diese  wird  durj^fl 
die  Zeichnungen  unterstützt.     Die  Pfeile  also  sind  „Wesen  fu^ 
sich",   die   eine  Zauberkraft  ausüben  gewissermaßen  an    Stelle 
der  fehlenden  Götterbilder.     Stellte   man  doch  in  den  Mitotes 
zunächst   ebenfalls    die  Erdmutter    und    den  Morgenstern    dar, 
um    sie    zur  Hergabe   ihrer  Segnungen    zu  zwingen.     Freilich 
mischt   sich  jetzt   in  den  Liedern  und  Gebeten  das   Vertrauen 
auf  ihr  Wissen   und    auf  die  Wirkung  der  korrekten    Durc^^ 
führung  aller  Gebräuche  mit  der  Demut  vor  den  Göttern.     ^M 

Es  fragt  sich  nur,  weshalb  werden  die  Pfeile  und  anderes^ 
in    die    Höhlen    gestellt,    mit   welchen    kosmogonischen    Ideen  ^ 
hängt  das  zusammen?  —  Denn  daß  dort  die  Götter  und  Takuäte 
wohnen,  ist  noch  lange  nicht  die  letzte  Antwort  darauf.    Hier 
muß   es  vorläufig  genügen,   daß   der  Glaube  besteht,   von  den  , 
Bergen  gehe  aller  Segen  aus.     Die  Wolken   z.  B.,   die  Träger 
alles  Segens,  kommen  von  den  Bergen  —  zugleich  von  Osten  — 
und   nicht   vom   Wasser   der    Flüsse    und    Bäche.     Nach    den 
Höhlen   schleppen   die  Cora    die  Erstlinge  von   allen   Erzeug- 
nissen, um  reichen  Ertrag  zu  erlangen,  z.  B.  die  Blüten  aller 
Früchte  bzw.  diese    selbst   lange    vor   ihrer  Reife   und   gegen- 
wärtig auch  eine  in  der  Sonne  getrocknete  Iguana  und  fünf  ebenso 
gedörrte  Fische  vom  Ertrag  der  „Badenden",   damit  es  später   1 
viele  Iguanas  und  Fische  gebe. 

Die  Vögel  sind  nicht  die  einzigen  Tiere,  denen  Zauber- 
kraft zugeschrieben  wird.  Vor  allem  spielt  hierin  der  Hirsch  eine 
Rolle,  dessen  Schwanz  an  einem  kurzen  Stabe  befestigt  gleich 
dem  Federstab  des  Blauhähers  in  den  Zeremonien  des  Mitote,  | 
z.  B.  des  Morgens  bei  Sonnenaufgang,  zum  Besprengen  mit 
Wasser  verwendet  wird.     Auch  die  Federstäbe   sind  übrigens 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  471 

sämtlicli  aus  den  Schwanzfedern  der  betreffenden  Vögel  her- 
gestellt. Groß  ist  auch  die  Zahl  der  in  den  Mythen  als  Ent- 
sprechung von  anderen  Naturerscheinungen  auftretenden  Tiere, 
und  noch  ist  der  Glaube  an  die  Kraft  dieser  Tiere  nicht  ganz 
geschwunden. 

Beim  Mitote  der  Saat  im  Anfang  Juni,  kurz  vor  der 
Regenzeit,  wird  in  San  Francisco  und  Jesus  Maria  ein  großer 
Maiskuchen  gegessen,  der  cliicharra  heißt.  Diese  ist  ein 
fliegendes  Insekt,  das  sich  zwar  auch  zu  anderen  Jahreszeiten 
findet,  aber  nur  im  Anfang  der  Regenzeit  singt.  Die  Cora 
glauben,  durch  diese  Zeremonie  den  Regen  herbeizuziehen. 
Der  Gedankengang  ist  offenbar  der,  daß  die  chicharra  durch 
ihren  Gesang  den  Regen  veranlaßt,  und  wenn  sie  gegessen 
wird  —  selbst  in  einer  Nachbildung  — ,  so  haben  auch  die 
I  Menschen  diese  Fähigkeit  durch  ihren  Gesang  —  die  Cora 
singen  nur  bei  Zeremonien  — ,  aber  wohl  auch  durch  ihr  bloßes 
Sprechen,  sei  es  in  den  „Gebeten"  oder  im  täglichen  Leben, 
den  Regen  hervorzurufen.  In  den  Mitotegesängen  rufen  sie 
die  Grille  zu  Hilfe,  'weil  sie  so  taktgemäß  zu  singen  ver- 
stehe, und  in  einer  Höhle,  wo  ich  eine  Menge  alter  zu 
den  Mitotezeremonien  gehöriger  Objekte  fand,  waren  die 
kleineren  Gegenstände  in  zwei  Taschen  untergebracht,  deren 
Muster  mir  schon  vorher  als  niünkari  „Worte"  erklärt 
jwar.  Wie  es  scheint,  ist  darunter  der  Donner  zu  ver- 
istehen,  denn  auch  Zeichnungen  von  Wolken  nannte  man 
„Worte".  Überall  in  den  Liedern  drückt  sich  das  Vertrauen 
in  die  Worte  aus.  Ja,  das  im  Mitote  gebrauchte  Musik- 
instrument, der  auf  eine  Kalebasse  gelegte,  mit  zwei  Hölzchen 
geschlagene  Bogen,  und  jeder  Teil  desselben  haucht  Zauber- 
worte aus.  Selbst  den  zahlreichen,  im  Mitote  gebrauchten 
Blumen  werden  Zauberrufe  zugeschrieben. 

Am  Neujahrsfest  bot  sich  mir  eine  weitere  Gelegenheit, 
die  Zauberwirkung  von  Tieren  und  Menschen  zu  beobachten. 
Die  Hauptfeierlichkeit   am  1.  Januar   besteht  in   der  Übergabe 

31* 


472  ^  Th.  Preuß 

der  Amter  an  die  neugewählte  Dorfobrigkeit.  Es  werden,  ent- 
sprecliend  der  Zahl  der  Amter  —  es  sind  einige  dreißig  — ^ 
einlieimisclie  Holzsessel  aufgestellt,  deren  Rücklehnen  mit  aller- 
hand Figuren  aus  gebackenem  Maismehl  behängt  sind.  Andere 
befestigt  man  an  hohen  Zuckerrohren,  die  nebst  Bananen 
und  anderen  Lebensmitteln  den  neuen  Beamten  von  den  alten 
als  Geschenk  überreicht  werden.  Die  Bananen  schmücken  zum 
Teil  malerisch  den  Sessel  und  die  Zuckerrohrstangen,  auch 
setzt  man  den  Neugewählten  eine  mit  Bananen  bedeckte  Krone 
aufs  Haupt.  Die  Figuren  stellen  Männer  und  Frauen,  Kro- 
kodile, Tauben  und  Enten  vor,  die  mit  dem  Läuten  der  Kirchen- 
glocken Beauftragten  erhalten  Figuren  von  Glocken,  die  Ge- 
hilfen des  Richters  eine  aus  kleinen  Tamales  von  Pinole  und 
Honig  zusammengesetzte  Peitsche  als  Sinnbild  ihres  Amtes 
der  Züchtigung  mit  der  Iztlepeitsche.  Doch  sind  die  richter-,. 
liehen  Funktionen  auf  die  mexikanische  Regierung  über-| 
gegangen,  und  die  Peitsche  existiert  nicht  mehr. 

So  harmlos  die  gebackenen  Glocken  und  die  Peitsche  aus- 
sehen, so  wurde  mir  doch  bezüglich  der  Figuren  von  Männern 
und  Frauen  die  Auskunft  zuteil,  das  seien  die  Beamten  des 
neuen  Jahres  —  denn  auch  die  Frauen  der  Gewählten  nehmen 
an  den  Obliegenheiten  der  Männer  teil,  wie  das  überhaupt  bei 
den  Cora  Sitte  ist  — ,  und  in  der  Tat  sollen  die  Männer  nur 
Männerfiguren,  die  Frauen  nur  Frauengestalten  an  diesem  Feste 
geschenkt  erhalten.  Zugleich  sei  aber  mit  den  Figuren  ^Hätzi- 
kan  und  Te;^kame  gemeint.  Es  wiederholt  sich  hier  also  die 
Zweiheit  in  manchen  Pfeilen,  die  sowohl  Männer  bzw.  Frauen 
als  auch  die  genannten  beiden  Gottheiten  bedeuten.  Durch 
das  Essen  werden  sie  also  der  Götter  teilhaftig.  Das  Krokodil: 
aber,  das  sich  in  dem  Flusse  von  Jesus  Maria  findet, 
sei  das  gleichnamige  Sternbild  am  Himmel.  Es  ist  zugleich 
das  am  meisten  an  den  Haustüren  nachgebildete  Tier.  Enten 
aber  und  Tauben  liefern  ihre  Federn  für  die  Zeremonialpfeile; 
die  Enten,  besonders  die  ganz  schwarzen,  für  die  merkwürdigen 

S 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  473 

befürchteten  Götter  des  Wassers  (Txakan),  die  Krankheiten 
senden  und  lieilen.  Anfangs  Januar  erfolgt  unter  Fasten  und 
Wachen  die  Anfertigung  der  Pfeile  und  Aschenkuchen  für 
diesen  Gott  Txäkan,  wozu  aus  allen  Häusern  des  Dorfes  Asche 
zusammengetragen  wird.  Die  Taube  ist  in  einer  Mythe  zu- 
trleich  die  Tochter  der  Erdmutter  und  Trägerin  alles  Reich- 
tums. Am  Neujahrsfest  scheinen  also  die  neuen  Dorfobrig- 
keiten gewissermaßen  das  ganze  Dorf  zu  repräsentieren. 

Das  geht  auch  aus  folgender  Beobachtung  hervor.  An 
den  ihnen  überreichten  Zuckerrohrstangen  sind  lange  Bananen 
wie  Hörner  von  Stieren  befestigt  und  sollen  auch  solche  be- 
deuten. Es  traten  einige  Leute  mit  Gestellen  aus  Zucker- 
rohr auf  den  Köpfen  auf,  die  Stiere  darstellten,  und  mit  denen 
die  berittenen  „Moros"  —  wir  werden  sie  noch  kennen  lernen 
—  in  aller  Kürze  ein  Stiergefecht  zur  Kurzweil  aufführten. 
Einen  Monat  später,  Anfang  Februar,  erfolgte  dieselbe  Über- 
gabe der  Ämter  bei  Gelegenheit  eines  kirchlichen  Festes  in 
dem  nahen  San  Francisco,  und  da  wurde  die  Szene  der  Stiere 
weiter  ausgeführt.  Etwa  20  junge  Leute,  nackt  bis  auf  die 
Schambinde,  bemalten  sich  am  ganzen  Körper  schwarz,  weiß 
und  rot,  was  die  Farben  der  Stiere  nachahmen  sollte,  und 
wurden  von  zwei  maskierten  Yiehtreibern,  „Alten",  die  auf 
Stöcken  ritten,  von  auswärts  ins  Dorf  getrieben.  Die  Schar 
lagerte  sich  unter  einem  Baum,  und  die  beiden  wüst  aus- 
sehenden Gesellen  gingen  zu  meinem  Erstaunen  ans  Tor  der 
Kirche,  aus  der  auf  ihr  Pochen  der  gleichfalls  maskierte  „Alte" 
der  „Danzantes",  einer  religiösen  Tanzgesellschaft,  herauskam, 
um  von  ihnen  die  Stiere  zu  kaufen.  Ich  will  hier  nicht  aus- 
führen, wie  der  Handel  in  aller  Umständlichkeit  vor  sich  ging, 
wie  der  Preis  bezahlt,  die  Tiere  einzeln  taxiert,  überliefert  und 
mit  neuen  Besitzermarken  versehen  wurden,  —  es  genüge  das 
Ergebnis,  daß  hier  augenscheinlich  ein  Analogiezauber  ausgeübt 
wurde,  durch  den  dem  Dorf  Reichtum  an  Kühen  für  das 
kommende  Jahr  gesichert  wurde.     Der  „Alte"  der  „Danzantes" 


474  K.  Th.  Preuß 

repräsentierte  hier  wiederum  das  Dorf.  Natürlich  war  den 
Teilnehmern  diese  Idee  nicht  mehr  gegenwärtig.  Ich  weiß 
auch  nicht,  welche  Szene  ursprünglich  zugrunde  gelegen  hab( 
mag.  Sicher  ist  nur,  daß  dieses  Spiel  „zu  Ehren  der  Ju] 
frau"  stattfand,  die  identisch  ist  mit  der  Erdmutter,  und  ds 
alle  religiöse  Frömmigkeit  der  Cora  —  auch  der  Kirche  gegei 
über  —  irdischen  Segen  bezweckt.  Dieser  Kuhhandel  ist  et^ 
mit  den  Lehmkühen  zu  vergleichen,  die  die  benachbarten  Hi 
chol  in  die  Höhlen  stellen,  um  Reichtum  an  Vieh  zu  erlangei 
Ich  habe  solche  Kühe  massenhaft  in  den  Höhlen  gesehen. 

Bei  den  Cora  zeigt  sich  besonders  ausgeprägt  die  Id( 
die  ich  auch  schon  bei  anderen  Völkern,  z.  B.  den  Puebl 
stammen  von  Neu -Mexiko  und  Arizona  verfolgt  habe,  daß 
in  der  Natur  wirkenden  Kräfte,  z.  B.  Tiere,  Wolken  u.  dj 
mit  den  Verstorbenen,  hier  mit  den  verstorbenen  „Altei 
identifiziert  werden.  Dieser  Prozeß  ist  aber  auch  hier  nicl 
in  jeder  Beziehung  durchgedrungen.  Vielmehr  ist  es  wol 
richtiger  zu  sagen,  die  Gottheiten  bestehen  aus  den  Vorfahre 
und  den  wirkenden  Naturkräften,  ohne  daß  die  Grenze  leid 
zu  ziehen  wäre.  Auch  erscheint  es  häufig  als  bloße  Laun^ 
ob  irgendein  Objekt  mit  dem  Namen  Täkua  bezeichnet  wii 
oder  nicht.  So  wurden  allerhand  Säugetiere  und  von  den  li 
Sekten  z.  B.  die  Grille,  die  Chicharra,  die  Fliegen,  die  Fröscl 
und  ihr  Vorstadium  Täkua  genannt,  dagegen  —  abgesehe 
von  wenigen,  z.  B.  dem  Adler,  dem  Kolibri  —  nicht  die  Y'ögi 
oder  die  Blumen,  obwohl  sie  in  den  Mitotegesängen  in  d< 
gleichen  wirkenden  Weise  vorkommen.  Nur  eine  gelbe  Blui 
Cempoalsuchil,  die  auch  bei  den  alten  Azteken  sehr 
deutungsvoll  ist,  sei  unter  einem  anderen  Namen  ein  Täkui 
Die  wirkenden  Dinge  brauchen  deshalb  nicht  geringere  Kk 
zu  haben.  So  tritt  der  Morgenstern  in  dem  einen  Liede  uni 
der  Gestalt  der  wirkenden  Blumen,  Tiere,  Zeremonialpfeilc 
Mitoteobjekte  u.  dgl.  m.  auf.  Der  Mais  ist  direkt  die  Mutt« 
Te;ukame,  der  Maisgott,   ihr  Sohn,  wird  zwischen  den  jungei 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  475 

I  Maisstauden  geboren,  als  reifer  Mais  im  Feuer,  den  Federn  der 
Sonne,  geröstet  und  getötet,  ersteht  aber  wieder  u.  dgl.  m.    Die 
gelbe  Farbe  von  der  Blüte  der  pinus-pinole,  die  vor  der  Fasten- 
zeit Tag  für  Tag  in  der  Zeremonie  der  „Pachitas"  den  Sängern 
von  den  Weibern  ins  Gesicht  geschmiert  wurde,  ist  die  Morgen- 
röte, deren  Gottheit  direkt  „der  gelbe  Gott"  genannt  wird.    Die 
rote  Farbe  bezieht  sich,  wie  wir  sehen,  direkt  auf  die  Sonne  usw. 
So  besitzt  bei  den  Cora   alles   in   der  Natur  eine  gewisse 
Zauberkraft,  ohne  daß  dadurch  ihr  Verhalten  den  betreffenden 
Naturobjekten  gegenüber  beeinflußt  wäre.    Das  heißt,  sie  haben 
keine  Scheu  vor  ihnen,  sie  nutzen  nur  deren  Kräfte  aus.     Und 
das   geschieht   meist   in   einer   so  alltäglichen  Form,  daß  dem 
oberflächlichen  Beobachter  vieles  entgehen  würde.     Der  Cora 
reitet  z.  B.  zur  Fastenzeit  an  den  Abhängen  des  Tales  von  Jesus 
Maria   dahin.     Ganz   winzig   und   in   weiten  Abständen   zeigen 
sich  einzelne  Ranchos  der  Eingeborenen.     Überall  weiden  ver- 
einzelt  und   sich   selbst   überlassen  Kühe,  Esel,  Maultiere  und 
Pferde.     Eine  brühende  Hitze  ^  lagert   auf  den   scharf  hervor- 
tretenden Abhängen  der  Berge,  die  mit  ihrem  spärlichen  Laub- 
gehölz wie  ergrauende  Häupter  aussehen.     Ab  und  zu  erblickt 
man  kleine  kahle  rechteckige  Flächen  im  Walde:  Rohdünger 
für  die  Aussaat  des  Maises,  die  nach  drei  Jahren  wieder  dem 
schnell  nachwachsenden  Walde  überlassen  werden.     Tief  unten 
im  Fluß   suchen   bis   auf  die  Schambinde   nackte   Eingeborene 
nach  Krebsen,  ihre  dunkelbraunen  Gestalten  neben  den  leuch- 
tenden  weißen  Baumwollgewändern   der  Frauen  und  Mädchen 
geben   ein   heiteres  Bild,   denn    den   Schmutz    sieht    man   von 
weitem  nicht.     Alles  erscheint  wie  ein  Spiel,  ein  Zeitvertreib. 
Langsam  schreitet  ein  nackter  Jüngling  am  Ufer  entlang,  auf 
einer  Rohrflöte  blasend.     Er  ist  kein  Hirte.     Er  hat  in  der  Tat 
gar  nichts    zu    tun.     Nun  hörst    du    auch  von   anderen  Seiten 
dieselben  Melodien.     Wanderer   kommen  vorüber,   den  breiten 


*  Mittags  40<>  C  im  Schatten. 


lie 

i 


476  K.  Th.  Preuß 

selbstgeflochtenen  Strohhut  mit  dem  holieii  mexikanischen 
Kegel  insbesondere  mit  weißen  und  gelben  Blumen  oder  mit 
Vogelköpfen,  z.  B.  dem  roten  Kopf  des  pito  real  oder  dem 
Schopf  des  Blauhähers  geschmückt.  Von  der  Schulter  hängt 
ihnen  meist  eine  in  schönen  Mustern  gewebte  oder  gestickte 
Tasche  herab,  ein  langer,  ebenso  gemusterter  Gürtel  hält  die 
Hose  oder  —  bei  Frauen  —  den  Rock  an  der  Hüfte  fei 
Denn  nur  bei  der  Arbeit  oder  in  der  Nähe  ihrer  Häuser  pfleg 
die  Männer  zumal  in  der  heißen  Zeit  bis  auf  die  Scha: 
bekleidung  nackt  zu  gehen. 

Wer  wollte  nun  bei  den  heiteren  Bildern,  die  sich  den 
Sinnen  bieten,  vermuten,  daß  das  Pfeifen  auf  der  Rohr  flöte 
eine  religiöse  Zeremonie  darstellt?  Nur  in  der  Fastenzeit  hört 
man  überall  die  Töne.  Sie  lösen  den  zwei  bis  drei  Wochen 
dauernden  Brauch  der  Pachitas  ab,  in  denen  Sänger  von  Haus 
zu  Haus  gehend  die  Sonne  und  anderes  in  aztekischer,  den 
Corasängern  selbst  unverständlicher  Sprache  besingen,  während 
ein  kleines  Mädchen,  die  Erdmutter  Te;^kame,  den  Takt  dazu 
mit  einer  Fahne  voll  Glöckchen  stampft.  Das  gelbe  Pulver, 
das  dabei  die  Weiber  als  Hauptzeremonie  den  Sängern  ins 
Gesicht  und  in  die  Luft  streuen,  bedeutet,  wie  erwähnt,  die 
Morgenröte.  Und  am  Osterfest  werden  die  Flöten  von  anderen 
antiken  Gebräuchen  abgelöst,  die  den  Tod  und  das  Herab- 
kommen der  Sterne  bedeuten.  Die  Flöten  aber  sind  mit 
Blitzen  und  Regenwolken  bemalt,  denselben  Mustern,  die  sich 
auf  den  Stöcken  der  Vortänzer  im  Mitote  finden.  Die  Blumen 
auf  den  Hüten  sind  dieselben,  die  in  den  Mitotegesängen 
immerfort  als  Blumen  des  Lebens  bezeichnet  werden.  Ihnen 
entsprechen  —  nach  den  Liedern  zu  urteilen  —  die  Sterne 
des  Himmels,  und  der  Altar  des  Mitote  mit  seinen  blumen- 
geschmückten Bögen  darüber  bedeutet  den  östlichen  Ausgang 
aus  der  Unterwelt  und  den  sich  darüber  wölbenden  Himmel. 
Auf  den  Taschen  und  Gürteln  aber  finden  sich  wiederum 
u.  a.  die   Wolken,    die  Zeichen   des  Morgensterns,    die   Tiere, 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  477 

die  in  den  Gesängen  und  aufgezeichneten  Mythen  Naturkräfte 
besitzen,  und  ebenso  die  Blumen. 

Natürlich  ist  den  Cora  die  Ableitung  ihrer  Kunst  und 
ihres  Schmuckes  von  der  Religion  nicht  mehr  gegenwärtig, 
ebenso  wie  sie  die  Zeremonien  und  Lieder  nicht  mehr  ganz  ver- 
stehen. Ein  Zweifel  darüber  kann  aber  nicht  bestehen.  Und 
dem  Fremden  erscheint  aller  Schmuck  im  Leben  der  Cora, 
alle  Kunst  und  Poesie  deshalb  nicht  minder  anziehend  und 
eindrucksvoll,  weil  alles  das  in  einer  Welt  des  Zaubers  ent- 
standen ist  und  sich  zum  größten  Teil  noch  darin  befindet. 
Im  Gegenteil,  der  Fremde  fühlt  sich  selbst  mitten  hinein- 
versetzt, da  ihm  weder  Unsinniges  noch  Greuelvolles  aufstößt. 
Freilich  ist  der  Aberglaube  oft  auch  für  ihn  sehr  störend. 
Das  ganze  Bild  des  alltäglichen  Lebens  der  Cora  wirkt  erst 
dann  plastisch,  wenn  zu  den  täglichen  Handlungen  der  Cora 
den  Täkua  und  den  Toten  gegenüber  auch  die  Kunst  als 
integrierender  Teil  hinzugefügt  wird. 

Was  jedoch  der  einzelne  Cora  täglich  im  Dienste  seiner 
Religion  tut,  ist  viel  schwerer  zu  übersehen,  als  die  zahl- 
reichen  im  Interesse   des  Ganzen   vorgenommenen  Zeremonien. 

'  Zwar  weiß  ich,  daß  der  einzelne  vor  dem  Fällen  der  Bäume 
zur  Feldbestellung ,  vor  der  Saat ,  vor  dem  Legen  von  Schlingen 
für  den  Hirschfang,   vor  dem  Fischfang   und   im  allgemeinen 

i  zur  Vermeidung  jeder  Art  Krankheit  Gebete  sagt,  Pinole  und 
Tabak  oder  Aschenkuchen  für  den  Flußgott  Txäkan  niederlegt 
und  Pfeile  anfertigt,  daß  bei  Geburt  und  Tod,  bei  der  Heilung 
von  Krankheiten,  bei  dem  Herausholen  von  Krankheitsstoffen 
aus  der  Erde   (Heilung  der  Erde)  besondere  Zaubergebräuche 

I  bestehen,    daß   an  vielen  Häusern  besonders    in  der  Mesa   de 

'  Nayarit  Brettchen  an  der  Hinterseite  der  Häuser  angebracht 
sind,  um  bei  jeder  Gelegenheit  Nahrung  für  die  Toten  nieder- 
zulegen, daß  manche  von  jeder  Speise  etwas  über  die  Schulter 
werfen  für  die  Toten  oder  die  Täkua  —  aber  man  darf  sicher 
viel,    viel    mehr    Handlungen    der    Art    erwarten.     Die    Worte 


eine 

1 


478  K.  Th.  Preuß 

eines  Cora,  daß  ihr  Leben  vollständigen  Regeln  unterworfen 
und  deshalb  stets  von  Erfolg  begleitet  sei  —  im  Gegensatz  zu 
den  Mexikanern,  die  neben  ihnen  wohnen  — ,  müssen  daher 
möglichst  weit  gefaßt  werden.  Da  ich  im  alten  Konvent  der 
Kirche  wohne,  so  kann  ich  mich  auch  von  dem  kirchlichen 
Eifer  der  Cora  überzeugen:  keine  Nacht  vergeht,  ohne  daß  eine 
Anzahl  Cora  Blumen,  Baumwolle  und  Kerzen  vor  den  Heilige 
bildern  niederlegt,  um  irgend  etwas  von  ihnen  zu  erlangen. 

Wir  würden  aber  wenig  von  der  Religion  der  Cora 
Ganzes  wissen,  wenn  wir  nicht  ihre  Mitotegesänge, 
Zeremonien  und  ihre  Mythen  hätten.  Namentlich  stehen  die 
Gesänge  in  der  Weltliteratur  einzig  da.  Man  denke  sich,  daß 
z.  B.  in  dem  Mitote  der  Chicharra,  im  Juni,  zugleich  dem  Be- 
ginn der  Aussaat  und  der  Regenzeit  der  Sänger  vom  Abend 
des  einen  Tages  bis  zur  Mitternacht  des  nächsten  fast  ununter- 
brochen singt  und  dabei  den  ganzen  Schatz  seines  religiös^H 
Denkens  offenbart.  Hätten  die  Cora  diese  Lieder  nicht,  ^fl 
würden  sie  sicher  nichts  mehr  von  ihrem  Glauben  wissen, 
sondern,  abgesehen  von  unverstandenen  Gebräuchen,  vollständig 
in  der  Kirche  aufgegangen  sein.  Und  es  werden  deren  immer 
weniger,  die  diese  Gesänge  kennen.  Ist  z.  B.  der  Sänger  krank, 
so  gerät  gleich  das  Dorf  in  Verlegenheit,  oder  die  entfernteren 
Ranchos  können  das  Fest  nicht  abhalten.  In  20  bis  30  Jahren 
wird  wohl  nichts  mehr  davon  existieren.  Ich  habe  daher  von 
ihnen  gerettet,  was  ich  konnte.  Es  wäre  aber  notwendig,  von 
allen  vier  Hauptdörfem  die  Gesänge  aufzuschreiben,  da  sie  sehr 
verschieden  voneinander  sind.  Ich  habe  bisher  von  San  Francisco 
20  Gesänge  und  von  Jesus  Maria  32  erlangt,  so  daß  von  denen 
des  letzteren  Dorfes  kaum  mehr  als  2 — 3  fehlen  werden.  Vom 
ersteren  scheint  es  überhaupt  weniger  zu  geben. 

Die  Gesänge  ergehen  sich  in  der  Schilderung  und  Auf- 
fassung der  Zeremonien,  des  gebrauchten  Schmuckes,  der  Macht 
und  der  Taten  einzelner  Täkua  und  Götter.  Wir  erfahren  z.  B. 
wie   die  Regenwolken   entstehen,    wie   es   dem  Frosch  gelingt, 


Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer  479 

sie  von  Osten  heranzulocken,  wie  bei  der  Zeremonie  der  Aus- 
saat der  Mais    tanzend    in    den  Boden   versenkt    und    von    der 
Gottheit    des    Morgensterns,    einem  Knaben,   mit  Wasser  be- 
gossen wird,  wie   er  den  Hirsch,  die  Sterne,  erlegt  und  dann 
bei  Sonnenaufgang  mit  der  Schlange  (in  der  Morgenröte)  kämpft. 
An  den  verschiedenen  Mitotes  werden  die  Gesänge  wieder- 
holt und  wenige  andere  für  die  Gelegenheit  hinzugefügt.     Be- 
sonders wichtig  sind  die  drei  Mitotes  der  Aussaat,  des  Kochens 
der  jungen  Maiskolben    (helotes)   und  des  Röstens   des   reifen 
Maises  (esquite).     Aber  manche  Dörfer  haben  auch  Mitote  am 
i^nfang  oder  Ende  kirchlicher  Feste,  wenn  Krankheiten  herrschen 
oder  in  der  Regenzeit   einen  Tag   der  notwendige  Regen   aus- 
bleibt.   Immer  ist  der  Tanz  um  das  Feuer  und  um  den  mit  dem 
Gesicht  nach  Osten  zum  Altar  gekehrten  Sänger  die  Hauptsache. 
Wer    die   Mythen   und    Zeremonien    der    alten   Mexikaner 
kennt,  wird  erstaunt  sein,  hier  so  enge  Beziehungen  zu  diesen 
zu  finden.     Auf  Schritt  und  Tritt   findet  er   einerseits   die  Er- 
klärung von  vielen  im  Mexikanischen  und  umgekehrt.     Ich  er- 
wähne z.  B.  die  weißen  und  roten  Streifen  auf  den  Backen  des 
Morgensterns   beim    Mitote,    die   der    rotweißen   Streifung   des 
i  Körpers   aller   Nachtgestalten   sowie   des  Morgensterns   in  den 
'mexikanischen    Bilderschriften    entspricht.      Die    weiße    Farbe 
bedeutet   das  Licht   der  Sterne,   die  rote  ihren  Tod  durch   das 
i Licht  der  Sonne.     Entsprechend  traten  am  Gründonnerstag  des 
I  Osterfestes  einige  40  schwarz  und  weiß   gestreifte  nackte  Cora 
lauf  —   sie  trugen  nur  die  Schambinde.     Es  waren  die  Stern- 
jdämonen,  die  im  Frühling  herabkommen,   sterben  und  sich  in 
idas  Licht  der  Sonne  verwandeln:  Frühlingsgeister.     Sie  tanzten 
'immer    mit    dem    Kopf    vornübergebeugt,    wie    herabstürzend, 
machten   eifrig    Koitusbewegungen   und    waren  am    Karfreitag 
'außerdem  Tot    gestreift,    d.  h.  von   der  Sonne    getötet.     Dem- 
ientsprechend  führten  sie  außer  anderen  burlesken  Szenen,    die 
offenbar  ihren  Tod  bedeuteten,  einen  Kampf  auf,  bei  dem  die  eine 
Partei  getötet  und  dann  wieder  belebt  wurde  und  umgekehrt. 


480     K.  Th.  Preuß    Beobachtungen  über  die  Religion  der  Cora- Indianer 

Das  Ganze  aber  findet  in  dem  um  dieselbe  Zeit  gefeierten  alt- 
mexikanisclien  Xipefest  (tlacaxipeualiztli)  seine  Parallele. 

Übrigens  wußten  die  Leute  nichts  mehr  von  der  Bedeutung 
dieser  Gestalten.  Im  Gegenteil  waren  sie  zu  Juden  geworden, 
die  Christus  in  Gestalt  eines  kleinen  Knaben  durch  das  ganze 
Dorf  verfolgten  und  schließlich  kreuzigten.  So  ist  in  den 
kirchlichen  Festen  noch  viel  Altheidnisches  enthalten ,  wie  z.  B. 
die  eingangs  erwähnten  Gruppen  der  Danzantes,  Maromeros 
und  Moros  um  Weihnachten  und  Neujahr.  Doch  würde  es  zu 
weit  führen,  hier  auf  alles  einzugehen. 

Meine  Arbeit  hier  ist  trotz  allem ,  was  ich  schon  zu  Papier 
gebracht  habe,  selbst  im  groben  noch  lange  nicht  beendet. 
Es  fehlen  besonders  die  Gesänge  des  Festes  des  Weines  —  es 
handelt  sich  eigentlich  um  Schnaps  (mescal)  aus  einer  Maguey- 
art,  den  die  Cora  jetzt  kaufen.  Es  wird  in  Jesus  Maria  in  der  | 
zweiten  Hälfte  des  Mai,  und  zwar  in  den  Bergen  wie  der  Mitote  . 
gefeiert  und  ist  zugleich  ein  Fest  der  Reife  für  Knaben  und 
Mädchen.  Voran  pflegt  die  sogenannte  Schlafheilung  zu  gehen, 
die  ein  grelles  Licht  auf  die  Sitte  des  Wachens  bei  allen 
religiösen  Zeremonien  wirft.  Die  Cora  betrachten  den  Schlaf 
eben  als  eine  Krankheit,  und  wenn  man  nicht  zu  schlafen 
braucht,  hat  man  die  größten  Zauberkräfte.  So  wird  z.  B. 
in  den  Liedern  der  Adler  gefeiert,  weil  er  nie  schläft,  und 
sein  Ebenbild  auf  der  Erde,  d.  h.  er  selbst  ist  ein  Baum,  dessen 
Blätter  sich  stets  bewegen.  Leider  ist  es  sehr  fraglich,  ob  ich 
den  einzigen  Sänger,  der  diese  Lieder  kennt,  gewinnen  oder 
auch  nur,  ob  ich  dem  Fest  werde  beiwohnen  können,  denn  die 
Cora  sind  wegen  ihres  Aberglaubens  gegen  Fremde  sehr  zurück- 
haltend und  schwierig  zu  behandeln.  Es  dauerte  sehr  lange 
Zeit,  bis  [ich  die  ersten  Mitotelieder  niederschreiben  und  in 
meinen  Phonographen  aufnehmen  konnte.  Und  ebenso  war  es 
mit  den  Mythen.  Und  doch,  wenn  ich  mich  bis  zum  Juli  den 
Cora  widme,  ist  es  schon  das  Äußerste,  was  ich  ohne  zu  große 
Benachteiligung  des  Studiums  der  anderen  Indianer  tun  kann. 


5  Ägyptische  Keligion  (1904—1905) 

Von  A.  "Wiedemann  in  Bonn 

Die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  ägyptischen  Religions- 
kunde in  den  letzten  Jahren  entsprechen  nicht  der  Arbeit,  welche 
auf  die  Erörterung  ihr  entlehnter  Fragen  aufgewendet  wurde.* 
Das  liegt  großenteils  daran,  daß  nur  wenige  der  in  Frage 
kommenden  Bearbeiter  sich  mit  den  Ergebnissen  der  Religions- 
forschung im  allgemeinen  bekannt  gemacht  haben  und  man  infolge- 
dessen vielfach  die  in  Ägypten  entgegentretenden  Prozesse  als  iso- 
lierte Erscheinungen  ansah.  Man  versuchte  dieselben  aus  sich 
heraus  und  vielfach  aus  ägyptischen  lokalen  Verhältnissen  zu 
erklären,  ohne  zu  berücksichtigen,  daß  es  sich  um  Denkvorgänge 
handelte,  die  an  den  verschiedensten  Stellen  der  Erde  in  ana- 
loger Weise  auftraten  und  Ausbildung  erfuhren.  Es  vollzieht 
sich  auf  diesem  Arbeitsgebiete  derselbe  Vorgang,  der  sich  in 
der  Geschichte  der  Ägyptologie  bereits  mehrfach  wiederholt 
hat.  Man  hat  sich  anfangs  bestrebt,  das  historische  Ägypten 
als  ein  gegen  das  Ausland  abgeschlossenes,  völlig  selbständiges 
Land  anzusehen.  Die  fortschreitende  Denkmälerkenntnis  hat 
demgegenüber  gelehrt,  daß  das  Niltal  von  der  Pyramidenzeit 
an  nicht  nur  mit  Asien  und  dem  südlicheren  Afrika  in  regel- 
mäßigen Handelsbeziehungen  stand  und  von  dort  aus  zahlreiche 

^  Eine  sorgsame  Zusammenstellung  der  Werke,  die  bei  einer  Be- 
arbeitung der  ägyptischen  Religion  in  Betracht  kommen,  unter  beson- 
derer Berücksichtigung  der  Erscheinungen  des  Jahres  1904,  verfaßte 
Capart  Bulletin  critique  des  Beligions  de  VEgypte  1904  in  Mev.  Hist.  des 
Bei.  51  S.  192 ff.  Übersichten  über  die  einschlägige  Literatur  gaben 
Griffith  Archaeological  Beport  1904—1905  (Egypt  Exploration  Fund). 
London  1905  und  Wiedemann  Ägypten  in  Jdhresber.  der  Geschichts- 
lüissenschaft  1904  I.  S.  Iff. 


482 


A.  Wiedemann 


Einwanderer  empfing,  sondern  daß  ähnliche  Verbindungen  auch 
zu  Libyen  und  den  Mittelmeerländern  dauernd  aufrecht- 
erhalten wurden.  Dann  wollte  man  das  ägyptische  Volk 
eine  Einheit  erklären.  Die  Funde  des  letzten  Jahrzehnts  zeigt 
wiederum,  daß  dasselbe  sich  von  Anfang  an  aus  zahlreiche 
grundverschiedenen  Völker-  und  Rassenresten  zusammensetzt 
Ahnlich  steht  es  bei  der  Sprache.  Auch  sie  erweist  sich  nicl 
als  eine  abgerundete,  gleichmäßige;  sie  ist  eine  aus  verschiede! 
artigen  afrikanischen  und  asiatischen  Bestandteilen  zusammen 
gewachsene  Mischsprache.  Die  seit  der  Entzifferung  der  Hiei 
glyphen  eifrig  erörterte  Frage,  ob  das  Ägyptische  eine  semitiscl 
Sprache  sei  oder  nicht,  erledigt  sich  mehr  und  mehr  dahi^ 
daß  die  semitischen  Elemente  im  historischen  Ägyptisch  vc 
einem  dieser  Bestandteile  der  Sprache  herrühren.  Es  handt 
sich  nunmehr  darum  festzustellen,  wie  umfassend  dieser  Einz( 
teil  und  wie  stark  sein  Einfluß  auf  die  anderen  heterogene 
Sprachelemente  gewesen  ist. 

Nicht  anders  liegen  die  Verhältnisse  für  die  Religion  d^ 
alten  Ägypter.  In  ihr  Ganzes  haben  während  der  historische 
Zeit  Ägyptens  nicht  nur  mehrfach  fremde  Götter  Aufnahi 
gefunden,  es  haben  auch  von  auswärts  hereingetragene  rel 
giöse  Gedankenkreise  die  Gestaltung  der  bereits  im  Lande  voi 
handenen  Lehren  beeinflußt.  Ferner  haben  von  Anbeginn 
die  verschiedenen  Stämme,  aus  denen  das  geschichtliche  Ägyptei 
tum  erwuchs,  eigene  Religionssysteme  besessen.  Aus  ihrei 
Zusammenfluß  hat  sich  das  Gewirr  der  späteren  religiösen  Voi 
Stellungen  entwickelt,  deren  innere  Widersprüche  teilweisj 
eben  in  diesem  heterogenen  Ursprünge  ihre  Erklärung  findei 
Durch  diese  Erwägungen  gewinnt  man  die  Möglichkeit,  zunächfi 
eine  Reihe  der  Eigentümlichkeiten  zu  deuten,  welche  die  Aug 
bildung  des  ägyptischen  Tierkultes  darbietet. 

Dieser  Kultus   erscheint  in   den  ältesten   Texten  als  ein^ 
weitverbreitete    Religionsform,    er    blieb    bis   in    die    späteste 
Zeiten   hinein    der    volkstümlichste    Glaube  im    Niltale.     Ein4 


Ägyptische  Religion  (1904—1905)  483 

lange  Reihe  von  Tiergattungen  wurde    dauernd  in  ihn  hereiu- 
bezogen,    wobei  man   sich    bereits    in    der   Vorzeit  jede    der- 
selben   monarchisch  in   der  Weise   organisiert   dachte,   daß  an 
ihrer  Spitze  ein   ihr  angehöriges  Geschöpf  als  Herrscher   oder 
Hauptvertreter  stand.     Als  in  der  Nagada -Periode  ein  fremdes 
Volk    das   Niltal    betrat  und    die  Herrschaft   gewann,    suchte 
dieses     die    altheiligen     Tiergattungen    seinen    geistiger    auf- 
gefaßten Göttern  anzugliedern.     Man  erklärte  zu  diesem  Zwecke 
die  jeweiligen  Obertiere  der  einzelnen  Gaue  für  Verkörperungen 
der  eigenen  Götter  oder  für  bestimmte  Erscheinungsformen  der- 
selben.    Die  Gleichstellung  erfolgte  in  sehr   äußerlicher  Weise 
auf  Grund    des    zufälligen   lokalen  Zusammentreffens  der  Ver- 
ehrungsstätte eines   der  heiligen  Tiere  mit  dem  Kultorte   einer 
bestimmten   Gottheit.     Aus  diesem  Umstände  erklärt  sich  der 
geringe,   bisweilen   auch   ganz   fehlende  innere  Zusammenhang 
zwischen  diesen  Tieren  und  den  Göttern,  als  deren  Manifestationen 
sie  auftraten^.    Inniger  ist  die  Verbindung  eigentlich  nur  zwischen 
dem  Gotte  Horus  und  dem  Falken,  eine  unmittelbare  Folge  des 
Ümstandes,  daß   der  .erste  Herrschersitz  der  Einwanderer    die 
j  den  Falken  verehrende  Stadt  Hieraconpolis  in  Oberägypten  war.^ 
I         Diese  Ausführungen  versuchen  Entwickelungsvorgänge  zu 
erklären,  die  sich  in  Ägypten  selbst  abgespielt  haben.     Loret^ 
hat  die  Entstehung  des  ägyptischen  Tierkultes  überhaupt  deuten 
1  wollen.     Nach  seiner  Ansicht  hätten  die  einzelnen  ägyptischen 
j  Stämme  in  der  Urzeit  rein  willkürlich  sich  allerhand  Symbole, 
!  darunter  auch  Tiere,  ausgewählt,  um  sie  als  Stand  artenzeichen 
zu  benutzen.     Derartige  Bilder  habe  man  im  Laufe  der  Zeit  für 
I  Gottheiten  gehalten  und  verehrt.     Diese  Erklärung  beruht  auf 

^  Wiedemann  Quelques  remarques  sur  le  culte  des  animaux  en 
i^gypte  in  Museon  VI.     S.  113  ff. 

2  Newberry  The  Horus -title  of  the  Kings  of  Egypt  in  Froc.  Soc. 
Bibl  Arch.  XXVI.    S.  295  ff. 

^  Les  enseignes  militaires  des  tribus  in  Rev.  Egypt.  X.  S.  101  ff.; 
I  Quelques  idees  sur  la  forme  primitive  de  certaines  religions  Egyptiennes 
in  Bev.  Egypt.  XL     S.  69  ff. 


484  A..  Wiedemann 

rationalistischen  Vorstellungen,  die  bereits  Diodor  und  Plutarch 
entwickelt  hatten.  Sie  wird  als  nicht  beweiskräftig  durch  die 
Tatsache  erwiesen,  daß  der  Tierkult  nicht  eine  selbständige  Er- 
findung der  Ägypter  gewesen  ist;  er  gehört  zu  den  allgemein 
verbreiteten  menschlichen  Religionsanschauungen,  die  demgemäß 
auch  eine  einheitliche  Beurteilung  verlangen. 

Die  Funde  der  letzten  Jahre  brachten  für  mehrere  der 
heiligen  Tiere  bisher  unbekanntes  Material  bei,  welches  von 
neuem  die  große  dauernde  Bedeutung  der  hierher  gehörigen 
Kulte  für  das  Niltal  erweisen.  Daß  in  den  Tempeln  dieser 
Glaubensform  verhältnismäßig  selten  gedacht  wird,  liegt  daran, 
daß  die  Tempelkulte  den  geistigeren  Göttern  galten  und  diese, 
wie  eben  ausgeführt,  nur  künstlich  mit  den  heiligen  Tieren  in 
Verbindung  gebracht  worden  waren.  Aus  den  beigebrachten 
Urkunden  ergab  sich  Wesentliches  für  die  Stiere^,  das  Ichneumon 
von  Letopolis^,  die  Springmaus^,  die  Sphinx*,  die  von  den 
alten  Ägyptern  stets  als  ein  wirklich  in  der  Wüste  hausendes 
Geschöpf  aufgefaßt  worden  ist,  den  AaP,  die  mit  den  Vor- 
stellungen von  Auferstehung  und  Unsterblichkeit  in  Verbindung 
gebrachten  Frosch  und  Kröte.^ 

Der  durch  die  große  Zahl  der  im  Niltale  vorhandenen 
Schlangen  bedingte  und  weit  verbreitete  Kult  dieser  Geschöpfe, 
die  bald  als  schädigende,  bald  als  nutzbringende  Dämonen  an- 


^  Kamal  Fragments  de  monuments  provenant  du  Delta  in  Ann. 
Serv.  Änt.  V.  S.  193 ff.;  Spiegelberg  Varia  §  63  in  Bec.  de  trav. rel.  ä  VEgypt. 
XXVI.     S.  44ff. 

^  Lefebure  Sur  le  nom  du  dieu  de  Letopölis  in  Sphinx  IX.   S.  19  f. 
'  Maspero  Sur  une  figure  de  gerboise  en  bronze  in  Ann.  Serv.  Ant.  V. 
S.  201ff.         ^  Malion  in  Bev.  arch.  V.     S.  169ff. 

^  Daressy  Notes  et  Bemarques  nr.  203  in  Bec.  de  trav.  rel.  ä  VEgypt 
XXVI.     S.  133  f. 

^  0.  Keller  Frosch  und  Kröte  im  Tdassischen  Altertum  in  „Kultur- 
geschichtliches aus  der  Tierwelt"  (Verein  für  Volkskunde  in  Prag).  S.  26ff.; 
A.  Jacoby  Nachschrift  in  Sphinx  VIII.  S.  78  ff.  (Vgl.  dieses  Archiv  VII. 
S.  479.) 


Ägyptische  Religion  (1904—1906)  485 

gesehen  wurden,  wurde  von  Amelineau^  ausführlich  besprochen. 
Nach  ihm  galten  diese  Tiere  in  Ägypten  zunächst  als  Be- 
schützer, dann  als  der  Zufluchtsort  für  die  Seelen  der  ver- 
storbenen Götter,  die  in  dieser  Gestalt  weiterhin  den  Pharao, 
Privatpersonen,  einzelne  Stämme,  Häuser,  Städte  beschützten. 
Die  Bedeutung  der  Schlangen  als  Schutzgottheiten  steht  fest, 
für  die  weitere  Aufstellung,  für  den  Aufenthalt  toter  Götter 
in  diesen  Tieren,  hat  Amelineau  den  Beweis  nicht  beizubringen 
vermocht.  Soweit  wir  durch  die  Texte  wissen,  dachte  man 
sich  die  verstorbenen  Gottheiten  als  in  ihrer  einstigen  Gestalt 
weiter  lebend,  also  anthropomorph,  theriomorph  oder  anders 
gebildet,  je  nachdem  ihre  äußere  Erscheinung  während  ihrer 
I  Lebenszeit  gewesen  war.  Gerade  der  Umstand  ist  für  die 
I  ägyptische  Religion  durchweg  charakteristisch ,  daß  durch  den 
Tod  keine  Neuformung  bedingt  wird,  vielmehr  das  ewige  Leben 
eine  genaue  Fortsetzung  des  endlichen  Daseins  bildet.  Es  wäre 
daher  in  hohem  Grade  auffallend,  wenn  die  Götter  von  dieser 
Regel  eine  Ausnahme  gemacht  hätten.  Für  die  heiligen  Tiere 
verfolgte  jedenfalls  die  Mumifizierung  den  Zweck,  den  Fort- 
bestand ihrer  irdischen  Gestalt  für  alle  Zeiten  zu  verbürgen. 

Aus  diesem  Grunde  kommt  die  Untersuchung  der  Tier- 
nmmien,  welche  in  den  letzten  Jahren  von  Lortet  und  Gaillard^ 
mit  Glück  und  Erfolg  fortgesetzt  worden  ist,  unmittelbar  auch 
dem  Tierkulte,  beziehentlich  den  von  ihm  umfaßten  Tier- 
gattungen zugute.  Man  muß  freilich  bei  der  Verwertung  des 
auf  diese  Weise  festgestellten  Materiales  im  Auge  behalten, 
daß  den  Ägyptern  die  strenge  moderne  zoologische  Arten- 
scheidung fern  lag.     Wenn  auch  der  heilige  Vogel  des  Horus 

^  Du  rdle  des  serpents  dans  les  croyances  religieuses  de  VEgypte  in 
Mev.  Hist.  Bei.  LI.     S.  335  ff.,  LH.     S.  Iff. 

^  La  faune  momifiee  de  Vancienne  Egypte.  2®  Serie.  Lyon.  1905. 
Besonders  interessant  ist  die  von  den  Verfassern  festgestellte  Tatsache, 
daß  sich  in  einer  Holzstatuette  des  Gottes  Bes ,  der  bei  der  Geburt  und 
frühesten  Kindheit  des  Menschen  eine  Rolle  spielt,  mumifizierte  Reste 
eines  menschlichen  Embryo  befanden. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  IX  32 


486  ^-  Wiedemann 

im  allgemeinen  ein  Falke  ist,  so  erscheinen  daneben  mehrere 
Sperber  und  Habichte  in  gleicher  Bedeutung.  Das  heilige  Tier 
der  Götter  Ap-uat  und  Anubis  wird  jetzt  meist  als  Schakal 
bezeichnet,  während  ältere  Forscher^  darin  einen  Wolf,  wieder 
andere  auf  Grund  klassischer  Angaben  einen  Hund  erkennen 
wollten.  Eduard  Meyer ^  hat  neuerdings  vorgeschlagen,  dem 
ersteren  Gotte  den  Wolf,  dem  zweiten  den  Hund  zuzuschreiben. 
Dies  ist  in  zahlreichen  Fällen  zutreffend,  in  anderen  tritt  aber 
das  umgekehrte  Verhältnis  ein  oder  erscheint  auch  der  Schakal 
als  Gotttier.  Offenbar  haben  die  Ägypter  die  drei  Tiergattungen 
als  etwa  gleichwertig  aufgefaßt. 

Weit  seltener  als  des  Tierkultes  wird  der  Verehrung  von 
Bäumen  und  Quellen  gedacht.  Schäfer^  erörterte  diesbezüglich 
den  Zusammenhang  des  Osiriskultes  in  Abydos  mit  Bäumen; 
von  anderer  Seite^  ward  darauf  hingewiesen,  daß  noch  heut- 
zutage die  ägyptischen  Bauern  unter  heiligen  Bäumen  Brot  und 
Wasser  opfern.  Die  ehrwürdigste  derartige  Stelle  bildete  im 
Altertume  ein  Baum  zu  Heliopolis,  an  dessen  Fuß  die  Quelle 
sprudelte,  in  der  der  Sonnengott  sein  Antlitz  wusch.  Die 
Stätte  hat  bis  in  die  Neuzeit  religiöse  Bedeutung  bewahrt. 
Die  Legende  lokalisierte  hier  den  Aufenthalt  Christi  in  Ägypten, 
es  wird  daher  von  den  Pilgern  häufig  von  dem  Marienbaum 
und  der  dortigen  heiligen  Quelle  gesprochen.^ 

*  z.  B.  Paulinus  a.  S,  Bartholomeo  Mumiographia  Musei  Obiciani. 
Padua  1799.     S.  62  ff. 

^  Die  Entwicklung  der  Kulte  von  Abydos  und  die  sogenannten 
Schakalgötter  in  Äg.  Zeitschr.  XL  I  S.  97 ff.;  vgl.  von  Bissing  Zum  Wolfs- 
und Hunde -Gott  in  Rec.  de  trav.  rel.  ä  VEgypt  XXVII.     S.  249  f. 

^  Das  Osirisgrdb  von  Abydos  und  der  Baum  pkr  in  Äg.  Zeitschr. 
XL  I  S.  107  ff. 

*  S,  R(einach)  Le  culte  du  serpent  et  de  l'arbre  en  Egypte  in 
Anthropologie  XIV.     S.  626 f. 

^  Zusammenstellung  der  Quellenangaben  in  der  zu  Erbauungszwecken 
verfaßten  Broschüre  von  P.  M.  JuUien  Der  Muttergottesbaum  in  Matarieh, 
deutsch  von  C.  zur  Haide.  Regensburg.  1906.  Vgl.  Loret  L'arbre  de 
la  Vierge  ä  Matarieh  in  Sphinx  VI.     S.  99  ff. 


Ägyptische  Religion  (1904—1905)  487 

Die  Inscliriftsangabeii  für  die  Bedeutung  der  verschiedenen 

volkstümliclien    Gottheiten     in     den     einzehien    Perioden     der 

j  ägyptischen  Geschichte   werden  ergänzt  durch  die  theophoren 

!  Eigennamen,  die  im  Lande  sehr  beliebt  waren.     Da  der  Name 

!  als    dauernder   Bestandteil    des    menschlichen   Individuums    im 

Diesseits  und  Jenseits   galt  und  stets  große  Bedeutung  besaß, 

so  kann  man   aus   den   in    ihm  auftretenden  Gottheiten  Rück- 

I  Schlüsse  auf  die  Bedeutung   dieser  Gestalten  in  der  fraglichen 

i  Zeit  für  die   einzelnen  Schichten  der  ägyptischen  Bevölkerung 

ziehen.   Einen  ersten  Versuch,  das  hierfür  in  Betracht  kommende 

I  Material   zu   sammeln    und  sinngemäß  zu  gruppieren,   machte 

E.  Levy.^     Eine  Fortführung  dieser  Studien  verspricht  reichen 

und  wertvollen  Ertrag  für  die  Religionsgeschichte. 

Von  Zahlen,  die  eine  gewisse  Heiligkeit  besaßen  und  da- 
her mit  Vorliebe  bei  der  Gruppierung  bestimmter  Götterkreise 
und    als   runde  Zahlen   in  Erzählungen  verwertet  werden,  hat 
I  man  für  Ägypten  neuerdings  wieder  auf  die  Drei^  und  auf  die 
IFünf^  aufmerksam  gemacht. 

Bedeutend  zahlreicher  als  für  die  religionsgeschichtlich 
naturgemäß  in  erster  Reihe  in  Betracht  kommenden  Volkskulte 
I  sind  die  Angaben  der  Denkmäler  für  die  Gottheiten,  denen  eine 
\  offizielle  Verehrung  galt,  denen  die  großen  Tempel  des  Landes 
geweiht  waren.  Für  diese  bringt  eigentlich  jede  Publikation 
[ägyptischer  Bildwerke  und  Texte  neues  Material  bei.  Eine 
I  Aufführung  dieser  Editionen  und  ihres  religiösen  Inhaltes  würde 
'hier  viel  zu  weit  führen,  die  Titel  der  Werke  verzeichnen  die 
obengenannten  Jahresberichte.  Hingewiesen  soll  hier  nur  auf 
die  Fortsetzung  einer  Veröffentlichung  werden,  deren  Beginn 
bereits  im  vorigen  Berichte  über  Ägypten  (Archiv  VII  S.  484) 

^   über  die   theophoren  Personennamen  der  alten  Ägypter  zur  Zeit 
des  Neuen  Eeiches  {Dyn.  18—20).     Teil  I.     Berlin  1905. 

^  von  Bissing   Zu    üseners  Dreiheit  in  Bhein.  Mus.  LIX,     S.  160, 
und  in  diesem  Archiv  VIII.     S.  154  f. 

^  Meinhold  Sahhat  und  Woche  im  Alten  lestament.    Göttingen  1905. 
S.  18f. 

32* 


488  ^-  Wiedemann 

erwälint  ward.  Für  das  Urkundenwerk  Steindorffs  haben  Sethe 
und  Schäfer  eine  längere  Reihe  wichtiger  Inschriften  mit  den 
Originalen  und  Papierabdrücken  verglichen  und  herausgegeben.^ 
Wenn  den  sorgsam  und  zuverlässig  wieder  gegebenen  Texten 
auch  keine  Übersetzung  beigefügt  worden  ist,  so  ermöglichen  doch 
die  über  den  einzelnen  Abschnitten  stehenden  Überschriften 
einen  Einblick  in  deren  allgemeinen  Sinninhalt.  Für  religions- 
geschichtliche Zwecke  kommen  neben  einer  Reihe  von  Grab- 
und  Tempelinschriften  der  18.  Dynastie  (in  IV)  besonders 
die  Stele  von  Pithom  (in  II.  2)  und  die  Stele  des  Königs 
Piänchi  (in  III.  1)  in  Betracht. 

Wichtigere  Einzelstudien  wurden  folgenden  Gottheiten  ge- 
widmet: für  Amon  von  Theben  veröffentlichte  und  übersetzte 
Gardiner^  eine  Sammlung  interessanter  henotheistisch,  bez. 
pantheistisch  gefärbter  Hymnen  aus  einem  Leidener  Papyrus 
der  thebanischen  Zeit.  Wreszinski^  sammelte  die  Namen  und  f 
Titel  der  Oberpriester  des  gleichen  Gottes  und  fügte  jedem  j 
derselben  ein  Verzeichnis  der  von  ihm  erhaltenen  Denkmäler 
und  der  Stellen  bei,  an  denen  er  genannt  wird.  Damit  legte 
er  eine  Grundlage  für  eine  Geschichte  des  Pries tertum es  des- 
jenigen himmlischen  Wesens,  das  in  der  Blütezeit  Ägyptens  bei 
weitem  das  wichtigste  war.  Mit  dem  ägyptischen  Gotte  ver- 
schmolz in  der  Oase  des  Jupiter  Amon  eine  phönikische  Ge- 
stalt; die  Stellen,  denen  zufolge  deren  Kultbild  ein  Stein- 
fetisch war,  führte  Meltzer'*  auf.    BickeP  seinerseits  machte  auf 

^  Urkunden  des  ägyptischen  Altertums,  herausgeg.  von  G.  Steindorflf, 
II.  Heft  2.  Hieroglyphische  Urkunden  der  griechisch-römischen  Zeit 
(Ptolemäus  Philadelphus  und  Euergetes  I) ;  III.  Heft  1.  Urkunden  der 
älteren  Äthiopenkönige ;  IV.  Heft  1  —  6.  Urkunden  der  18.  Dynastie 
(Hyksosvertreiher  bis  Hdtschepsut). 

*  Hymns  to  Amon  from  a  Leiden  Papyrus  in  Äg.  Zeitschr.  XL  II.  S.  12  ff. 

*  Die  Hohenpriester  des  Amon.  Berlin  1904,  Einige  Nachträge 
bei  Wiedemann,  Orient.  Litt.  Zeit.  VII  Sp.  275  f.  Reiches  neues  Material 
wird  sich  aus  dem  großen  Statuenfunde  Legrains  zu  Karnak   ergeben. 

*  Der  Fetisch  im  Heiligtum  des  Zeus  Ammon  in  Philologus  LXIII. 
S.  186 IF.         «  Philologus  LXIV.     S.  149  f. 


Ägyptische  Religion  (1904—1905)  439 

späte  griecliische  Angaben  aufmerksam,  laut  deren  dieser  Gott 
die  wenig  ägyptische  Ansicht  hegte,  die  wertvollste  Gabe,  die 
man  darbringen  könne,  sei  das  fromme  Gebet.  —  Die  am 
Tempel  zu  Esneh  aufgezeichneten  Hymnen  sind  wichtig  für 
die  späteren  pantheistischen  Gedankengänge,  die  sich  an  den 
bereits  in  früher  Zeit  als  Weltschöpfer  auftretenden  Chnum 
(Chnuphis)  anschlössen.  Sie  wurden  von  Daressy^  in  sorgfältiger 
Weise  publiziert,  übersetzt  und  mit  kurzen  Erläuterungen  ver- 
sehen. —  Über  die  besonders  in  später  Zeit  in  Panopolis  verehrte, 
in  griechischen  Texten  öfters  erwähnte  Göttin  Triphis  äußerte  sich 
Gauthier^,  der  in  ihrem  Namen  den  Titel  einer  Isis  wieder 
erkennen  wollte.  —  Den  Gott  Imhotep  von  Memphis,  in  dem 
man  einen  vergöttlichten  alten  Weisen  oder  einen  später  zu 
höheren  Ehren  gekommenen  Sondergott  gesucht  hat^,  er- 
klärte Foucart"*  in  längeren  Ausführungen  für  einen  am  An- 
fange des  Alten  Reiches  herrschenden,  später  vergöttlichten 
König  Ägyptens.  Gegen  diese  Vermutung  spricht  jedoch  einst- 
weilen noch  der  Umstand,  daß  der  Gott  nicht  mit  königlichen 
Jnsignien,  sondern  in  bescheidenerer  Darstellung  als  jugendlicher, 
meist  lesender  Gelehrter  vorgeführt  zu  werden  pflegt.  —  Zu 
dem  von  ihm  entdeckten  Gotte  Uch  von  Cusae  konnte 
Chassinat^  nachtragen,  daß  er  in  Edfu  als  ein  mit  Messern  be-, 
waffiieter  Löwe  dargestellt  wird.  —  Lefebure®  suchte  für  die  er- 
habeneren Gestalten  des  ägyptischen  Pantheons  fremdländischen, 
besonders  semitischen  Ursprung  nachzuweisen;  sie  hätten  dann 

^  Hymne  ä  Khnoum  du  temple  d' Esneh  in  Bec.  de  trav.  rel.  ä  VEgypt. 
XXYII.     S.  82ff.,  187ff. 

^  La  deesse  Triphis  in  Bull  Institut  Frang.  du  Caire  HI.     S.  165  fit'. 

^  Vgl.  dieses  Archiv  VII.  S.  476.  ^  Imhotep  in  Bev.  Eist.  Bei 
XL  VIII.     S.  362  ff. 

"  Sur  une  representation  du  dieu  Oukh  in  Bull  Inst.  Frang.  du  Caire. 
IV.     S.  103f. 

^  Les  noms  d'apparence  Semitique  ou  indigene  dans  le  pantheon 
Egyptien  in  Becueil  de  Memoires  publ  par  l'Ecole  des  Lettres  pow  le  XIV 
Congres  des  Orientalistes  ä  Alger.  1905. 


490  ^-  Wiedemann 

bereits  in  vorhistorischer  Zeit  im  Niltale  eine  Verehrungsstätte 
gefanden.  Dabei  kommt  er  auch  auf  diejenigen  in  Ägypten 
verehrten  semitischen  Gottheiten  zu  sprechen,  deren  Einführung 
in  historischer  Zeit,  während  der  lebhaften  Beziehungen  zi^ 
Asien  im  zweiten  Jahrtausend  v.  Chr.,  erfolgte.  Eine  bish^ 
unbekannte  Stele,  die  der  in  diesen  Kreis  gehörenden  Astai 
geweiht  war,  veröffentlichte  Masden\ 

Der  größte  Teil  der  erhaltenen  ägyptischen  religiösen  Te3 
beschäftigt  sich  mit  der  Unsterblichkeit  des  Menschen 
seiner  Bestandteile.  Ob  dies  daran  liegt,  daß  tatsächlich 
Jenseitsvorstellungen  das  Volk  in  so  ausgedehntem  Maße  be^ 
schäftigten,  ob  nicht  vielmehr  die  Art  der  Überlieferung,  daß 
vor  allem  die  als  Wohnung  des  Toten  angesehenen^  Gräber 
und  deren  Inhalt  erhalten  geblieben  sind,  dabei  mitspricht,  0( 
ob  endlich  beide  Faktoren  dabei  mitspielten,  ist  im  einzelne 
Falle  schwer  zu  entscheiden.  Bei  der  Bestattung  des  Toi 
handelte  es  sich  in  erster  Reihe  darum,  ihm  das  mitzugebe 
was  ihm  den  Fortbestand  sichern,  das  künftige  Leben  angenel 
gestalten  konnte.  Das  waren  vor  allem  magische  Formel 
deren  Aussprache  im  Jenseits  Macht,  Herrschaft,  Speise  un( 
Trank,  die  Befriedigung  aller  Wünsche  und  Bedürfnisse  ver- 
schaffte. Nach  ägyptischer  Ansicht  war  durchweg  in  jeder 
Beziehung  und  zu  jeder  Zeit  die  Magie  und  die  Zauberformel 
das  wichtigste  Mittel,  um  sich  im  Diesseits  und  im  Jenseits  die 
Dämonen  gefügig  zu  machen,  besonders  auch  um  Krankheiten 
zu  verscheuchen,  die  insgesamt  bösen  Geistern  ihren  Ursprung 
verdankten.^ 


^  Zwei  Inschriften  in  Kopenhagen  in  Äg.  Zeitschr.  XL  I.     S.  114 f. 

^  Für  die  Ausgänge  aus  dem  verschlossenen  und  vermauerten  Innern 
der  Gräber,  die  man  dabei  für  die  Seele  des  Toten  anbrachte,  vgl. 
Wiedemann  Zum  Pyramidentempel  des  Rä-en-user  in  Orient.  Lit.  Zeit. 
VII.     Sp.329ff. 

'  Eine  für  weitere  Kreise  bestimmte  Darstellung  des  hierher  ge- 
hörigen Materiales  gab  Wiedemann  Magie  und  Zauberei  im  alten  Ägypten 


Ägyptische  Religion  (1904—1905)  491 

Die  Zahl  der  für  den  Verstorbenen  nutzbringenden  Formeln 
war  so  groß,  daß  sieb  bereits  frühe  Sammlungen  derselben 
als  erforderlich  herausstellten.  Man  zeichnete  diese  dann  mehr 
oder  weniger  vollständig  auf  den  Grabwänden,  Särgen  oder 
Papyris  auf,  um  sie  dem  Toten  zur  dauernden  Verfügung  zu 
stellen.  Für  die  älteste  dieser  Kompilationen,  die  „Pyramiden- 
texte'', ergab  die  Berichtsperiode  wenig  Neues,  wenn  auch  ge- 
legentlich Auszüge  aus  denselben  zutage  traten.^  Weit 
reicher  floß  das  Material  für  die  Formelsammlung  des  Mittleren 
Reiches,  die  sog.  „Ältesten  Texte".  Hier  veröffentlichte  Lacau^ 
eine  längere  Reihe  von  Sarginschriften,  welche  interessante 
Einblicke  in  die  älteren  Entwickelungsformen  der  Osirianischen 
Jenseitslehre  gestatteten  und  die  ungemein  materielle  Art  be- 
stätigten, in  der  der  Ägypter  metaphysische  Dinge  auffaßte. 
So  schildert  u.  a.  ein  von  J.  Baillet^  eingehender  besprochenes 
Kapitel  in  drastischer  Weise,  wie  der  Verstorbene  im  Jenseits 
seine  Angehörigen  wieder  zu  finden  weiß.  Zu  diesem  Zwecke 
braucht  er  nur  die  betreffende  Formel  vorzutragen,  dann  trifft 
er    seine    Verwandten,    Vater,    Mutter,    Kinder,     Geschwister, 


{Der  alte  Orient  VI.  Heft  4).  Leipzig  1905.  —  Unter  den  für  den 
Lebenden  wichtigen  Formelsammlungen  ist  besonders  ein  demotischer 
Papyrus  interessant,  den  Griffith  und  Thompson,  The  Bemoticdl  Magical 
Papyri  of  London  and  Leiden.  2  Bde.  London  1904—1905,  mit  Über- 
setzung und  Kommentar  von  neuem  ediert  haben.  Für  eine  Anubis-  und 
Isis -Legende  in  diesem  Papyrus  vgl.  Reitzenstein  in  diesem  Archiv  VIU. 
S.  167 ff.  —  Über  die  Erwähnungen  von  Träumen,  die  nach  ägyptischen 
Texten  durch  Inkubation  gewonnen  werden  konnten,  äußerte  sich 
Maspero  Le  debut  du  second  conte  de  Satni-  Khämois  in  Melanges 
Nicole.     S.  341  ff. 

^  Barsanti  und  Maspero  Fouilles  autour  de  la  Pyramide  d'Ounas  in 
Ann.  Serv.  Ant.  V.     S.  69 ff.     (Abschrift  von  etwa  450  v.Chr.) 

^  Textes  religieux  in  B,ec.  de  trav.  rel.  ä  l'JEgypt.  XXVI.  S.  59 ff., 
224 ff.;  XXVn.  S.  53 ff.,  217 ff'.;  Ann.  Serv.  Ant.  V.  S.  229 ff'.  -  Über  die 
der  gleichen  Zeit  angehörenden  Texte  vom  Sarge  des  Amamu  handelte 
Turajeff  Zur  Geschichte  des  Totenbuches  in  ZapisJci  ID..   S.  15  ff.  (Russisch). 

^  La  reunion  de  la  famille  dans  les  enfers  egyptiens  in  Journal 
Asiatique  X.  Ser.    IV.     S.  307  ff. 


492  ^-  Wiedemann 

Freunde,  Diener,  seine  geliebte  Konkubine.     Sollten  trotz  seine^ 
festen  Willens    diese  Persönlichkeiten   von   ihm  fern    gehalten 
werden,  dann,  droht  er,  würden  die  Opfer  für  die  Götter  ai 
hören.     Werde  dagegen  sein  Wunsch  erfüllt,  dann  werden 
die  verschiedenen  Opfer   an  den   heiligen  Stätten   des  Land^ 
dargebracht  und  das  Schiff  des  Sonnengottes  von  seinen  Fäl 
leuten    in    richtiger   Weise    bedient    werden.      Somit   wird 
Gottheit    auch    hier    als    von    dem   guten    Willen    des    zaub< 
kundigen  Verstorbenen  abhängig  aufgefaßt  und  muß  demselbe 
in  ihrem  eigenen  Interesse    gehorsam    sein.      Von    irgendeini 
höheren  Auffassung  der  ewigen  Welt  ist  in  diesen  Texten  nicl 
die  Rede. 

Für    die    zeitlich  folgende    Formelsammlung    des    „Tote 
buches"  wurde   die  Übersetzung  der  Fassung  der  thebanischc 
Periode,   die  Renouf  begonnen,  Naville  vollendet  hatte,  und  Sil 
seit  dem  Jahre  1892  allmählich  in  den  Proceedings  der  Society 
of  Biblical  Archaeology  erschienen  war,  als  Buch  herausgegeben^ 
und  dadurch  eine,  wenn  auch  im  einzelnen  häufig  hypothetiscl 
Grundlage    für    die  Durcharbeitung   dieses    Werkes    gewonnei 
Das  eigenartige,  im  einzelnen  schwer  verständliche  Kapitel  17J 
wurde    von    Naville^   monographisch   behandelt.     Dasselbe   bl 
richtet  einen  Heracleopolitanischen  Mythus,  in  dem  von  eine 
Empörung   der  Kinder  der  Göttin  Nut   und  von    einer   große 
Flut  die  Rede  ist,  an  deren  Ende  Osiris  König  von  Heraclee 
polis  magna  wurde.  —    Die  jüngsten,   untereinander   sehr  vei 
schiedenen   Fassungen   des    Totenbuches   fügten   in   dessen 
sprünglich  der   Osirisreligion  geltende  Formeln  zahlreiche  h( 
terogene  Glaubenssätze  in  bunter  Folge  ein.     Von  ihnen  machi 

^  Renouf  and  Naville   The  Egyptian  Book  of  the  Dead.     Londoi 
1904.     Die  gleiche  Übersetzung  soll  auch  als  Vol.  IV  des  Life-  Work 
Peter  Le   Page   Penouf  ausgegeben   werden.     Der   zuletzt   erschienene 
3.  Band  dieses  Sammelwerkes  enthält  u.  a.  eine  Reihe  kleinerer  Studien 
Renoufs  zur  ägyptischen  Religionsgeschichte. 

^  A  mention  of  a  flood  in  the  Book  of  the  Dead  in  Proc.  Soc.  Bihl. 
Arch.  XXVI.     S.  251  ff.,  287 ff.,  300. 


Ägyptische  Religion  (1904—1906)  493 

besonders  Pellegrini^  einige  Exemplare   unter  Beifügung   einer 
Übersetzung  und  eines  kurzen  Kommentares  zugänglich. 

Bereits  im  Mittleren  Reiche  haben  die  Ägypter  versucht, 
sich  die  Topographie  des  Jenseits  in  einer  freilich  nicht  immer 
geschickten  kartographischen  Weise  auszumalen.  Man  zerlegte 
dasselbe  in  zwölf  durch  Türen  oder  Tore  voneinander  ge- 
trennte Räume,  welche  die  Sonne  während  der  zwölf  Nacht- 
stunden durcheilte.  Durch  die  Mitte  des  Jenseits  floß,  wie 
durch  die  Mitte  Ägyptens,  ein  Strom,  auf  dem  sich  die  Sonnen- 
barke hinbewegte,  während  an  den  Ufern  rechts  und  links 
allerhand  Dämonen  hausten  und  u.  a.  auch  die  Belohnung  und 
Bestrafung  der  abgeurteilten  verstorbenen  Menschen  stattfand. 
Im  einzelnen  war  man  sich  über  die  Anordnung  der  Götter 
und  Geister  nicht  einig.  Neben  zahlreichen  unbedeutenderen 
Systemen  entwickelten  sich  besonders  zwei  voneinander  viel- 
fach abweichende  Lehren,  die  im  Buche  von  dem,  was  ist  in 
der  Tiefe  (Am-duat),  und  im  Buche  von  den  Toren  niedergelegt 
wurden.  Wie  in  zahlreichen  anderen  Fällen,  so  haben  sich 
auch  hier  die  Ägypter  nicht  dazu  zu  entschließen  vermocht, 
eines  dieser  Werke  als  kanonisch  anzusehen.  Sie  ließen  die- 
selben als  gleichberechtigt  nebeneinander  bestehen  und  ver- 
zeichneten sie  trotz  ihrer  inneren  Widersprüche  als  angeblich 
authentische  Bilder  der  jenseitigen  Welt  gleichzeitig  in  ihren 
Gräbern.  Unter  Zugrundelegung  vor  allem  der  im  Grabe  und 
auf  dem  Sarkophage  Seti'  I  erhaltenen  Fassungen  und  unter 
Benutzung  der  älteren  Arbeiten  von  Maspero  und  Lefebure 
veröffentlichte,  übersetzte  und  besprach  Budge^  diese  Texte. 
Sein    Werk    bildet     eine    bequeme    Einführung    in    die    ein- 

^  II  libro  della  respirazione  in  Bendiconti  Äcad.  dei  Lincei.  XIII. 
S.  87fi". ;  Due  papiri  funer art  del  Museo  Egizio  di  Firenze  in  Sphinx  VIII. 
S.  216  ff.  —  Einen  weiteren  hierher  gehörigen  Text  (das  Suten  cheft) 
enthalten  die  Monuments  egyptiens  de  Leide.  Livr.  34.  Supplement. 
Leiden.     1905. 

2  The  Egyptian  Heaven  and  Hell  {Boöks  on  Egypt  and  Chaldaea 
Vol.  XX— XXII).     London.     1906.     3  Bde. 


494  ■^-  Wiedemann 

scUägigen  verwickelten  Lehren  und  [ihre  bisher  nicht  überall 
mit  Sicherheit  zu  übersetzenden  Schilderungen. 

Weit  weniger  systematisch  als  in  diesen  beiden  Werken 
sind  die  Jenseitserscheinungen  in  den  sog.  Mythologischen 
Kompositionen  angeordnet.  Es  sind  dies  von  kurzen  Bei- 
schriften begleitete  Bilderreihen,  welche  vor  allem  während  der 
19.  und  20.  Dynastie  beliebt  waren.  In  ihnen  fanden  weit 
umfangreichere  Teile  der  Osirislehren  Aufnahme  als  in  den  eben 
genannten  beiden  großen  Unterweltsschilderungen.  Diese  my- 
thologischen Bildertexte  haben  trotz  ihres  großen  Interesses 
bisher  keine  zusammenfassende  Bearbeitung  gefunden,  doch 
wurde  erfreulicherweise  in  letzter  Zeit  ein  hierher  gehöriges 
Manuskript  von  Chassinat^  veröffentlicht  und  mit  sorgsamen 
Erklärungen  versehen. 

Die  Schicksale  einzelner  Götter,  besonders  die  des  Osiris, 
wurden  im  alten  Ägypten  bei  der  Wiederkehr  bestimmter  Er- 
innerungstage in  dramatischer  Gestaltung  vorgeführt.^  Hierdurch 
sollte  einmal  das  Gedächtnis  an  die  ehrwürdigen  Vorgänge  und 
ihren  Verlauf  wachgehalten  werden.  Dann  aber  wurde  durch 
eine  derartige  Vorführung  die  Tatsache,  welche  das  Ereignis 
seinerzeit  in  das  Leben  gerufen  hatte,  auch  ihrerseits  immer 
wieder  von  neuem  geschaffen  und  erhalten.  So  sicherte  und 
verbürgte  die  Darstellung  des  Sterbens  und  Auferstehens  des 
Osiris  den  Weiterbestand  der  menschlichen  Auferstehung  nach 
dem  Eintritt  des  irdischen  Todes,  Diese  Osirisfeiern  sind  wesent- 
lich durch  die  Angaben  der  klassischen  Autoren  bekannt,  welche 
sich  auf  die  Städte  des  Deltas  bezogen,  doch  zeigen  mehrfache 
Andeutungen  in  den  Texten,  daß  die  gleichen  Feste,  wenn 
auch  mit   einzelnen  Abänderungen,   bereits  in  früher  Zeit  und 


^  Etüde  sur  quelques  textes  funeraires  de^  provenance  Thebaine  in 
Bull.  Inst.  Frang.  du  Caire  III.  S.  129  ff.  Einen  ähnlichen  Text  schilderte 
Wiedemann  Proc.  Soc.  Bibl.  Arcli.  XXII.  S.  155  ff. 

^  Vgl.  Wiedemann  Die  Anfänge  dramatischer  Poesie  im  alten 
Ägypten  in  Melanges  Nicole.     Genf.     1905.     S.  561  ff. 


!    ö 


Ägyptische  Religion  (1904—1906)  495 

im  ganzen  Lande  gefeiert  wurden.  Die  wichtigste  diesbezügliche 
Urkunde  wurde  von  Schäfer^  in  ihrem  Werte  erkannt,  heraus- 
gegeben, übersetzt  und  in  ihren  Einzelheiten  erörtert.  Es  war 
eine  abydenische  Stele  aus  der  Zeit  des  Königs  Usertesen  III 
der  12.  Dynastie,  welche  die  einzelnen  Szenen  der  heiligen 
Handlung  aufführte  und  einen  vortrefflichen  Beitrag  nicht  nur 
zur  Geschichte  der  Osirisreligion ,  sondern  auch  zu  der  des 
ägyptischen  religiösen  Dramas  lieferte. 

Die  Wirkung  der  Aussprache  der  magischen  Formela 
konnte  verstärkt  oder  auch  ersetzt  werden  durch  die  Ver- 
wendung von  magischen  Geräten  von  bestimmter  Gestalt  und 
mit  vorschriftsmäßigen  Inschriften  und  Verzierungen.  Unter 
diesen  waren  besonders  im  Mittleren  Reiche  Wurfhölzer  sehr 
beliebt,  mittelst  deren  man  Schlangen  und  Feinde  vertreiben 
zu  können  hoffte.  Diese  Stücke^  und  die  Amulette  in  Knoten- 
form^  fanden  in  der  Berichtsperiode  eingehendere  Berück- 
sichtigung, während  sonst  die  Amulette  [stark  vernachlässigt 
wurden. 

Neben  der  Formel  kommen  zur  Sicherung  des  Wohles  des 
Toten  das  Opfer  und  die  Beigabe,  die  naturgemäß  auch  im 
Niltale  die  ursprünglichste  Form  der  Totenehrung  gebildet 
hatten,  dauernd  in  Betracht.  Letztere  konnten  in  wirklicher 
Gestalt  oder  in  plastischem  oder  gezeichnetem  Abbild  dar- 
gebracht werden,  und  dann  vermochte  der  Tote  solche  Bild- 
werke vermöge  seiner  Zauberkraft  in  die  wirklichen  Gegen- 
stände umzuwandeln.  Zu  diesem  Zwecke  bediente  er  sich 
meist    bestimmter    Worte,    gelegentlich  aber  erreichte   er  ihn 


^  Die  Mysterien  des  Osiris  in  '  Abydos  unter  König  Sesostris  TR 
{Untersuchungen  zur  Geschichte  Ägyptens,  herausgeg.  von  Sethe.  lY.  2). 
Leipzig.     1904. 

^  Legge  The  Magic  Ivories  of  the  Middle  Empire  in  Proc.  Soc.  Bihl. 
Ärch.  XXVIL  S.  130 ff.,  297 ff.,  XXVIIL  S.  159 ff.;  Margaret  Murray  The 
astrological  character  of  the  Egyptian  Magical  Wands,  1.  e.  XXVm. 
S.  33  ff. 

^  von  Bissing  in  diesem  Archiv  VIIL     Beiheft.     S.  23  ff. 


496  ^'  Wiedemann 

aucli,  wie  ein  von  Walker^  behandelter  Text  vom  Beginne 
des  Neuen  Reiches  zeigt,  durch  Berührung  mit  der  Hand. 
Über  das  Totenopfer  selbst  und  die  bei  demselben  beobachteten 
Zeremonien  in  den  älteren  Zeiten  des  Agyptertumes  handelte 
eingehend  Lefebure^,  der  dabei  zahlreiche  Parallelen  aus  den 
verschiedenartigsten  Religionen  zum  Vergleiche  heranzog.  D^ 
Ersatz  der  wirklichen  Gabe  durch  das  Bild  findet  sich  berei 
unter  den  ersten  Dynastien,  ohne  daß  es  ihm  gelungen  wäi 
jemals  die  Darbringung  der  tatsächlichen  Gegenstände  vol 
ständig  zu  verdrängen.  Foucart^  hat  gezeigt,  daß  ein  T( 
der  Darstellungen  auf  den  Gefäßen  der  Nagada- Periode  d( 
artige  Scheingaben  vorzuführen  bestimmt  ist.  Freilich  dj 
man  aus  diesen  und  ähnlichen  Analogien  zwischen  der  Kuli 
der  Frühzeit  und  der  des  späteren  Agyptertumes  nicht  den  Schli 
ziehen  wollen,  die  gesamte  kulturelle  Entwickelung  des  Niltal^ 
sei  eine  einheitliche  gewesen,  die  Annahme  einer  erobernde 
Einwanderung  während  der  Nagada- Periode  sei  daher  übt 
flüssig.  Ein  einwandernder  Stamm  konnte  naturgemäß  nicl 
die  ganzen  im  Niltal  vorhandenen  Zustände  vernichten, 
mußte  vielmehr,  wie  bereits  oben  angedeutet,  das  Bestehend" 
möglichst  zu  erhalten  und  mit  seinen  eigenen  Vorstellungen 
zu  verknüpfen  suchen!  Bei  manchen  Punkten,  zu  denen  das 
weithin  über  die  Erde  verbreitete  Bildopfer  gehört  haben  wird, 
werden  aber  auch  die  Glaubensanschauungen  der  Bewohner  des 


^  The  Egyptian  doctrine  of  the  transformation  of  fwneral  offerings 
in  Proc.  Soc.  Bibl.  Arch.  XXVI.     S.  70  ff. 

^  La  vertu  du  sacrifice  funer aire  in  Sphinx.  VIII.  S.  1  ff. ;  vgl.  auch 
die  sehr  allgemein  gehaltenen  Ausführungen  von  Kyle  Egyptian  sacrißces 
in  Eec.  de  trav.  rel.  ä  VEgypt.  XXVII.  S.  161  ff.  —  Chassinat  Note  sur  le 
titre  sonou  in  Bull.  Inst  Frang.  du  Caire.  IV.  S.  223 ff.  zeigte,  daß  es 
in  Ägypten  besondere  Beamte  gab,  welche  die  rituelle  Reinheit  der 
Opfertiere  und  ihre  ritusgemäße  Abschlachtung  zu  prüfen  und  zu  beauf- 
sichtigen hatten. 

'  Sur  la  decoration  des  vases  de  la  periode  dite  de  Neggadeh  in 
Comptes  rendus.     Acad.  des  Inscr.     1905.     S.  257  ff. 


Ägyptische  Religion  (1904—1905)  497 

Landes  und  die  der  Einwanderer  annähernd  die  gleichen  gewesen 
sein,  ohne  daß  sich  daraus  ohne  weiteres  eine  einheitliche 
Gresamtlehre  zu  ergeben  brauchte. 

Dem  Zusammenhange  zwischen  ägyptischen  und  ander- 
weitigen Glaubenslehren  wurden  in  der  Berichtsperiode  mehr- 
fach Arbeiten  gewidmet.  Foucart^  und  Schneider^  suchten 
große  Teile  des  griechischen  Dionysoskultes,  Charencey^  solche 
der  Orpheusmythe  aus  Ägypten  abzuleiten.  Die  ägyptischen 
Elemente  in  den  Hermetischen  Schriften  und  bei  Pseudo- Apuleius 
erörterte  in  vortrefflicher  Weise  Reitzenstein*.  Älter  als  diese 
letzteren  religiösen  Beziehungen,  welche  sich  wesentlich  in  den 
Zeiten  des  Hellenismus  abspielten,  waren  diejenigen,  welche 
zwischen  den  semitischen  Stämmen  Palästinas  und  Syriens 
und  Ägypten  während  der  Zeit  der  innigen  politischen,  freund- 
lichen und  feindlichen  Verbindungen  beider  Länder  seit  etwa 
2000  V.  Chr.  stattfanden.  Leider  lassen  sich  hier  die  Ver- 
hältnisse nicht  im  einzelnen  verfolgen,  da  von  allen  in  Betracht 
kommenden  asiatischen  Völkern  nur  die  Israeliten  in  ihrer 
religiösen  Entwickelung  bekannt  sind.  Mit  ihren  Beziehungen  zu 
Ägypten  hat  sich  in  letzter  Zeit  in  umsichtiger  Weise  Spiegelberg^ 
beschäftigt  und  vorsichtige  Schlüsse  aus  den  auf  Israel  bezüglichen 
oder  mit  ihm  in  Verbindung  gebrachten  Denkmälerangaben  ge- 
zogen. Er  kommt  zu  dem  Ergebnisse,  daß  der  Aufenthalt  des 
Volkes  in  Ägypten  in  der  Entwickelung  des  Jahvismus  keinerlei 

^  Le  culte  de  Dionysos  en  Ättique.    Paris.     1904. 

*  über  den  Ursprung  des  DionysosJcultes  in  Wiener  Studien.  XXV. 
S.  147  ff. 

^  Les  origines  du  mythe  d'Orphee  in  Museon.    V.     S.  275  ff. 

*  Hellenistische  Theologie  in  Ägypten  in  Neue  Jah/rh.  Klass.  Philol. 
XIII.  S.  177 ff.;  Zum  Asclepius  des  Pseudo- Apuleius  in  diesem  Archiv. 
VII.  S.  393  ff.  Vgl.  die  Einwürfe  gegen  eine  Reihe  von  Aufstellungen 
Reitzensteins  über  ägyptische  Bestandteile  der  Hermetischen  Literatur 
von  Zielinski  in  diesem  Archiv.     VIII.     S.  321  ff.;    IX.     S.  25 ff. 

°  Der  Aufenthalt  Israels  in  Ägypten  im  Lichte  der  ägyptischen 
Monumente.  Straßburg.  1904;  Ägyptologische  Randglossen  zum  Alten 
Testament.     Straßburg.     1904. 


498  ^'  Wiedemann 

erkennbare  Spuren  hinterlassen  habe,  daß  dagegen  in  späterer 
Zeit  ägyptischer  Kultbrauch  übernommen  sein  könne.  Wenn 
aber  für  die  israelitische  Religion  ein  ägyptischer  Einfluß  kai 
vorliegt,  so  wurde  das  durch  besondere  religionsgeschichtlicl 
Verhältnisse  veranlaßt,  die  man  nicht  ohne  weiteres  für 
übrigen  Stämme  Vorderasiens  voraussetzen  darf.  Bei  letzten 
zeigen  die  „phönizischen"  tJberreste,  wie  stark  der  ägyptiscl 
künstlerische  Einfluß  sein  konnte.  Mehrfach  ist  andererseil 
von  ägyptischen  Tempeln  und  Göttern  in  Syrien  und  Phönizien 
die  Rede.  Es  werden  also  wohl  bei  diesen  Stämmen  auch 
tiefergehende  Beeinflussungen  stattgefunden  haben,  die  den 
babylonischen  Einwirkungen,  die  in  letzter  Zeit  mit  Vorliel 
betont  worden  sind,  die  Wage  hielten.  Genaueres  hierül 
wird  sich  aber  erst  dann  feststellen  lassen,  wenn  man  üb^ 
die  syrischen  Zustände  dieser  Zeit  und  vor  allem  über 
hethitische  Sprache  und  Kultur  zu  abgerundeteren  und 
schließenderen  Ergebnissen  gelangt  sein  wird,  als  dies  bisW 
der  Fall  ist. 

Zum  Schlüsse  [seien  noch  einige  Werke  genannt,    welcl 
in  zusammenfassender  Weise  die  ägyptische  Religion  behandel 
Steindorff^    veröffentlichte  Vorträge    über    dieselbe,   welche 
vor  einem  größeren  Kreise  in  populärer  Form  zu  Frankfurt  a. 
und  in   etwas   ausführlicherer  Gestaltung  in  Amerika  gehalte 
hatte.      Dabei    wurde    ein   Überblick    über    die    verschiedem 
Glaubenslehren  gegeben   und  die  Unsterblichkeitsvorstellunge 
eingehender   erörtert.     Eine   gleichfalls  für  weitere  Kreise  bc 
stimmte  ausführliche  Darstellung  der  ägyptischen  Religion  gal 
Erman.^     Dabei  lehnte  er  von  vornherein  die  Berücksichtigung 
der  Theorien  der  modernen  Religionswissenschaft  ab,  er  wolle 


^  Beligion  und  Kultus  im  alten  Ägypten  im  Jahrb.  des  Freien 
Deutschen  Hochstifts.  1904.  S.  131  ff.;  The  Religion  of  the  Ancient 
JSgyptians.     New  York.     1905  (mit  Literaturangaben  und  Index). 

^  Die  ägyptische  Beligion  (Handbücher  der  Königlichen  Museen  zu 
Berlin).    Berlin.     1905. 


Ägyptische  Religion  (1904—1906)  499 

diese  Dinge  (wie  Animismus,  Fetischismus,  chthonische  Gott- 
heiten, Medizinmann)  nicht  in  eine  Religion  hineintragen,  die 
sich  auch  ohne  sie  verstehen  lasse.  Das  von  zahlreichen  Über- 
setzungen von  Inschrifts-  und  Papyrusstellen  begleitete  und  daher 
als  Materialsammlung  wichtige,  illustrierte  Werk  verfolgt  die 
ägyptische  Religion  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zu  ihrem  Unter- 
gange im  Niltale  selbst.  Es  berücksichtigt  auch  ihre  letzten  Aus- 
läufer im  römischen  Isiskulte  auf  europäischem  Boden  und  in  den 
Lehren  der  Mystiker  bis  in  das  6.  nachchristliche  Jahrhundert 
hinein. 


6  Alte  semitische  Eeligion  im  allgemeinen, 
israelitisclie  und  jüdische  Eeligion 

Von  Friedrieh  Sehwally  in  Gießen 


I 


Von  zusammenfassenden  DarsteUungen  der  Religion  Israels 
ist  in  dem  Zeitraum  1904/05  zuerst  der  große  Artikel 
E.  Kautzschs,  Religion  of  Israel  (Dictionary  of  the  Bible,  ed. 
Hastings,  extra  V  612  —  734),  zu  erwähnen.  Er  vereinigt  große 
Vorsiclit  und  Zurückhaltung  mit  verständnisvollem  Eingehen 
auf  die  neuen  und  neuesten  Resultate  der  Forschung.  Bernhard 
Stade,  Biblische  Theologie  des  Alten  Testaments,  Bd.  I:  Die 
Religion  Israels  und  die  Entstehung  des  Judentums,  Tübingen, 
Mohr  1905  (XII  383  S.),  hält  mit  bewußter  Absicht  an  der 
herkömmlichen  „Biblischen  Theologie"  fest,  aber  was  er  uns 
gibt,  ist  Religionsgeschichte  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes. 
Und  zwar  kommen  hier  die  primitiven  Bräuche  und  Anschauungen 
des  alten  Israel  nicht  minder  zu  ihrem  Rechte,  wie  die  erhabene 
Gedankenwelt  der  Propheten.  Der  Stil  ist  knapp  und  scharf, 
die  Anordnung  klar  und  durchsichtig,  die  Literatur  nach  ihrem 
Werte  berücksichtigt,  aUes  selbständig  durchdacht;  es  gibt  kein 
besseres  Buch  über  den  Gegenstand.  James  Robertson  (Die 
Religion  Israels  nach  der  Bibel  und  nach  den  modernen 
Kritikern,  deutsche  Übersetzung  nach  A.  von  Conrad  von  Orelli, 
Stuttgart,  Steinkopf  1905,  VII  367  S.)  steht  auf  ganz  konser- 
vativem Standpunkte,  dem  aUes  von  Gott  geleitet  und  inspiriert 
ist.  Die  Polemik  gegen  die  Gegner  ist  zuweilen  treffend, 
immer  aber  vornehm  und  sachlich.  Unter  den  Darstellungen 
der  Geschichte  Israels,  die  allgemach  anfingen  gleich  Pilzen  aus 
dem  Boden  zu  schießen,  nimmt  das  Werk  Oettlis  (Calw  und 
Stuttgart,  Vereinsbuchhandlung  1905,  VI   566  S.)   durch  seine 


[^Tiedrich  Schwally    Alte  semitische  Religion  im  allgemeinen  usw.     501 

Objektivität  und  Reichlialtigkeit  eine  hervorragende  Stelle  ein. 
Das  schön  geschriebene  Buch  ist,  wie  der  Verfasser  sagt,  in 
erster  Linie  für  Theologen  und  bibelfreundliche  Laien  bestimmt. 
Die  Zahl  der  Monographien  ist  unübersehbar.  Ich  kann 
hier  nur  über  einen  kleinen  Bruchteil  referieren,  und  zwar  im 
allgemeinen  nur  über  solche  Bücher,  die  als  Rezensionsexemplare 
eingegangen  sind.  Sehr  interessant,  lehrreich  und  fördernd  ist 
die  Studie  von  A.  Bücheier  in  Wien  über  „Das  Schneiden 
des  Haares  als  Strafe  der  Ehebrecher  bei  den  Semiten"  (Wiener 
Zeitschr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes,  Bd.  18,  S.  91  —  138). 
Samuel  Ives  Curtiss  (Some  religious  usages  of  the  Dhiab 
and  Ruala  Arabs  and  their  old  Testament  parallels,  Expositor. 
6  ser.  n.  52,  April  1904  S.  275  —  285)  gibt  wertvolle  Ergänzungen 
zu  seinem  ein  Jahr  vorher  ins  Deutsche  übersetzten  Buche 
.,  Ursemitische  Religion  im  Volksleben  des  heutigen  Orientes". 
Leider  ist  der  amerikanische  Gelehrte,  kurz  nachdem  er  sich 
einen  wissenschaftlichen  Namen  erworben  hatte,  gestorben. 
Der  Vortrag  Bernhard  Duhms  über  „Die  Gottgeweihten  in 
der  alttestamentlichen  Religion"  (Tübingen,  Mohr  1905,  34  S.) 
behandelt  die  Propheten,  Priester  und  Nazaräer,  feinsinnig  und 
jeistvoU,  mit  überlegener  Einsicht  in  das  Seelenleben  und  mit 
ewundernswertem  Instinkte  für  das  Wesen  der  Religion.  Am 
wenigsten  einverstanden  erklären  kann  ich  mich  mit  der  Be- 
hauptung S.  11:  „Das  alte  Israel  war  ein  nüchternes  Bauern- 
volk und  durchaus  nicht  wunder  süchtig,  wie  es  auch  sehr 
wenig  abergläubisch  war."  Diese  merkwürdige  Ansicht  be- 
einträchtigt indessen  den  Zusammenhang  weiter  nicht,  sie 
mußte  eben  erwähnt  werden,  da  die  Arbeit  des  Sohnes  Hans 
Duhm  über  „Die  bösen  Geister  im  Alten  Testament"  (Tübingen, 
Mohr  1904,  68  S.)  ganz  davon  beherrscht  ist.  Dieser  zieht  aus 
dem  Umstände  des  seltenen  Vorkommens  von  verderblichen 
Geistern  in  der  vorexilischen  Literatur  den  Schluß,  daß  im 
Volke  selbst  die  Neigung  zum  Aberglauben  gering  war.  Die 
Prämisse    ist    richtig,    aber    sie    hat    ganz    andere    Ursachen. 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  33 


502  Friedrich  Schwally 

B.  D.  Erdmans  (De  groote  Verzoendag,  Theologiscli  Tijdsclirift, 
Bd.  38  S.  17 — 41)  weist  mit  Recht  darauf  hin,  daß  dem  Yer- 
söhnungstage,  so  jung  auch  die  seine  Feier  regelnden  Gesetze 
sein    mögen,    doch   uralte    Gebräuche    zugrunde    liegen.     Man 
kann  auch  zugeben,   daß  er  einmal  mit  dem  Neujahrstage  zu- 
sammenhing, wenn  man  sich  dabei  nur  die  Tatsache  vor  Augen 
hält,    daß    die    primitivsten    Kulturstufen    nur   Jahreszeiten 
kennen.    M.  Friedlaender,  Griechische  Philosophie  im  Alt 
Testament  (Berlin,   Reimer  1904,  XX  223  S.)   sucht  den  Ei 
fluß   zu   bestimmen,    den  griechische  Philosophie    auf  gewiss^ 
Teile  des   Psalters,    Proverbien,    Hiob,    Koheleth,    Sirach  aus- 
geübt, es  ist  ihm  aber  nicht  gelungen,  das  Problem  befriedigend 
zu   lösen.     Max   Haller,   Religion,   Recht  und    Sitte   in   de 
Genesissagen  (Bern,  Grünau  1905,  159  S.)  scheint,  obgleich 
der  Titel  nicht  verrät,  eine  Doktor-  oder  Lizentiatendissertatioi 
zu  sein.     Sie  ist  anziehend  geschrieben  und  stark  von  Gunkc 
beeinflußt,    bedeutet    aber  keine   Förderung    der  Wissenschai 
J.  Herrmann,    Die    Idee     der    Sühne    im    Alten    Testamei 
(Leipzigs  Hinrichs  1905,  YHI  112  S.)  untersucht  das  biblisch^ 
Material   mit  lobenswerter  Sorgfalt,  ohne  jedoch  über  die  voi 
ihm  kritisierten  Vorgänger  wie  Hofmann,  Ritschi,  Riehm  un^ 
Schmoller    wesentlich    hinaus   zu    kommen.      Denn    er   hat 
ebenso   wie   die   Genannten   versäumt,    der  Untersuchung  ein< 
breite    religions geschichtliche   Unterlage    zu    geben.      Solang^ 
das    nicht   geschieht,    wird    die    Forschung   nicht   vom   Fleckd 
kommen.      B.   Jacob,     Im   Namen   Gottes,    eine    sprach-   un^ 
religionsgeschichtliche    Untersuchung    zum    Alten    und   Neuei 
Testament  (Berlin,  Calvary  1904,  VII  176  S.)  hat  sich    eine 
dankbaren  Stoff  ausgesucht  und  denselben  anziehend  und  lel 
reich  behandelt.   Wenn  er  aber  den  Satz  aufstellt,  daß  dem  Alte 
Testament  und  dem  originalen  Judentum  —  was  ist  originale 
Judentum?  —  die  magische  Auffassung  des  göttlichen  Namei 
fremd  gewesen  sei,  daß  dieselbe  vielmehr  aus  Ägypten  stamme 
so    hat    er    den   Beweis    hierfür    nicht    erbracht,     vgl.  z. 


A  Ite  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      503 

W.  Staerk,  Namenaberglaube  im  Alten  und  Neuen  Testament, 
Protestant.  Monatshefte/ Sept.  1903,  S.  353—358.  Wenn  auch 
der  absolute  Gebrauch  der  Formel  „Im  Namen  Gottes"  in  der 
uns  bekannten  jüdischen  Liturgie  nicht  vorkommt,  sondern  nur 
in  Briefen  und  schwer  datierbaren  Zaubertäfelchen,  so  scheint 
mir  doch  für  seinen  ehemaligen  Gebrauch  in  der  altisraelitischen 
und  jüdischen  Kultussprache  manches  zu  sprechen.  Das  Ver- 
schwinden der  Formel  im  Judentum  könnte  aus  bewußtem 
Gegensatz  zur  christlichen  Liturgie  hervorgegangen  sein.  Ebenso 
wie  die  Septuaginta  zu  Esther,  wird  von  G.  Jahn  auch  die 
Septuaginta  zu  Ezechiel  (Das  Buch  Ezechiel  auf  Grund  der 
Septuaginta  hergestellt,  übersetzt  und  kritisch  erklärt,  Leipzig, 
Ed.  Pfeiffer  1905,  XX  362  S.)  und  zu  Daniel  (Das  Buch  Daniel 
nach  der  Septuaginta  hergestellt  und  kritisch  erklärt,  mit  einem 
Anhange,  Die  Mesa- Inschrift  aufs  neue  untersucht,  Leipzig, 
Ed.  Pfeiffer  1904,  XXII  138  S.)  für  ursprünglich,  und  der 
masoretische  Text  für  sehr  stark  überarbeitet  gehalten.  Von 
seinen  mit  Scharfsinn  gewonnenen  Resultaten  werden  sich  ge- 
wiß manche  als  richtig  erweisen  und  herkömmliche  Anschauungen 
in  dem  einen  oder  anderen  Punkte  korrigieren.  Auch  wo  er 
irrt  —  denn  seine  Gesamtanschauung  halte  ich  für  falsch  — , 
wirkt  die  selbständige  Art  seiner  Arbeitsweise  erfrischend. 
Von  Paul  Kahles  Schriftchen,  Die  arabischen  Bibelüber- 
setzungen, Texte  mit  Glossar  und  Literaturübersicht  (Leipzig 
1904,  Hinrichs,  XYI  64  S.),  ist  allein  die  gelehrte  und  sach- 
kundige Literaturübersicht  S.  III  —  XYI  von  Wert,  das  übrige  ist 
zu  nichts  nütze.  Vor  der  Verwendung  von  Bibeltexten  zur  Er- 
lernung des  Arabischen  kann  nicht  dringend  genug  gewarnt 
werden.  J.  C.  Matthes,  Zoenoffers,  Tijlers  Theologisch  Tijd- 
schrift,  Haarlem  1904,  II  S.  69—92),  widerlegt  die  noch 
immer,  weitverbreitete  Meinung,  daß  durch  Handauflegung 
dem  Tier  die  menschliche  Sünde  übertragen  werde.  Freilich 
ist  die  von  dem  Verfasser  betonte  Auffassung  des  Sündopfers 
als  einfache  Gabe  an  die  Gottheit  nicht  ausreichend.     Mit  be- 

83* 


504  Friedricli  Schwally 

sonderem  Eifer  tritt  der  emsige  holländische  Gelehrte  auf  den 
Plan,  wenn  es  gilt,  das  Recht  der  historischen  Kritik  zu  ver- 
teidigen oder  die  Maßlosigkeiten  moderner   Überkritik  zurück- 
zuweisen.     In    der    sehr    gehaltvollen   Studie,   Israelitisch  Ge- 
schiedenis  (a.  a.  0.  Bd.  III  S.  482 — 513)  erörtert  er  die  neueren 
Arbeiten  über  Moses,  Joseph,  die  Entstehung  der  Jahvereligion, 
die   mythologische  Natur  der  Patriarchen,    Sauls,  Davids  und 
Jonathans,  die  Simsonsage;  mit  bewundernswerter  Geduld  hört  er 
die  Zeugen  ab.    Friedrich  Maurer,  Volkskundliches  aus  dem 
Alten  Testamente  (Leipzig,  Böhmer  1905,  Y  254  S.)  behandelt  i 
I.  Die   Familie,   ihre    Lebensführung    (S.  11 — 61),    ihren   Kult 
(S.  61—144),   ihr   Recht   (S.  144—187);     IL   Das    öffentliche 
Leben;  III.   Das  geistige  Leben.      Trotz   einzelner  brauchbarer 
Notizen  bedeutet  das  Ganze  keinen  Fortschritt  gegenüber  den 
älteren  Darstellungen   der  Archäologie.     Eduard  Meyer,  Die, 
Mosesagen   und   die  Lewiten,   Sitzungsberichte   der  Kgl.  Preuß.  j 
Akademie  der  Wissenschaften  XXXI,  22.  Juni  1905:  der  Inhalt ; 
wird  vom  Verfasser  selbst  so  skizziert:  „Der  Sinai  ist  ein  Vulkan  ^ 
in  Midian,  Jahwe  ein  Feuergott;  der  feurige  Dornbusch  dagegen  \ 
liegt  bei  Qädesch.     Mose  gehört   nach   Qadesch  und  ist  Ahn- 
herr der  Priesterschaft  des  hier  ansässigen  Stammes  Lewi.    Die 
Priester  üben  anders  als  die  israelitischen  Priester  die  Gerichts- 
barkeit  und    sind    im    Besitze    aller  Rechtssatzungen,    die   die 
Grundlagen  der  späteren   Gesetzbücher  bilden.     Zum  Schlüsse 
werden  die  ägyptischen  Bestandteile  der  israelitischen  Religion 
besprochen."      Wenn   Meyer    der   Ansicht    ist,    daß    Mose   ein 
Priesterrichter    des    südpalästinischen    Qadesch    war    und    gar 
nichts    mit   Ägypten    zu    tun   hat,    so    stimme    ich    dem   bei,  [i 
vgl.  schon  meine  „Semitischen  Kriegsaltertümer",  Leipzig  1901, 
S.  Iff.     Ich  habe   mir  auch  schon  lange  die  Ansicht  gebildet, 
daß   die   prophetische  Schriftstellerei  in  Israel   sehr  stark  von 
Ägypten   her  beeinflußt  ist.     Man  muß  gespannt  sein  auf  das 
in  Aussicht  gestellte  Werk,  in  dem  der  geniale  Historiker  diese  || 
Aufstellungen    eingehend    begründen    wird.      Joh.  Meinhold, 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion     505 

Sabbat  und  Woche  im  Alten  Testament  (Göttingen,  Vandenhoeck 
und  Ruprecbt,  1905,  52  S.  aus  Forschungen  zur  Religion  und 
Literatur  des  Alten  und  Neuen  Testamentes,  herausgegeben 
V  on  W.  Bousset  und  H.  Gunkel,  5.  Heft)  wird  manchem  einen 
Dienst  leisten,  fördert  aber  das  Problem  nicht,  trotz  allen 
ßäsonnements.  Das  bewundernswerte  Buch  von  M.  Merker, 
Hauptmann  der  Schutztruppe  für  Deutsch  -  Ostafrika ,  Die 
Masai,  Ethnographische  Monographie  eines  ostafrikanischen 
Semitenvolkes  (Berlin,  Reimer  1904,  XVI  421  S.  gr.  8«),  ge- 
hört zu  den  hervorragendsten  Erscheinungen  der  ethno- 
graphischen Literatur.  An  dieser  Stelle  kann  ich  leider  nur 
auf  seine  vergleichende  Betrachtung  der  masaitischen  und  israe- 
litischen Traditionen  über  Schöpfung,  Paradies  und  Sündenfall 
hinweisen.  Der  Verfasser  erklärt  sich  die  gemeinsamen  Züge 
so,  daß  dieser  Mythenkreis  ursemitischer  Besitz  war,  daß  die 
Masai  sich  schon  in  der  Urheimat  von  ihren  semitischen  Ver- 
wandten trennten  und  bereits  lange  vor  der  Zeit,  aus  der  wir 
ägyptische  Urkunden  besitzen,  nach  Afrika  einwanderten.  Ich 
halte  diese  Lösung  des  Rätsels  für  falsch,  aus  vielen  Gründen, 
die  hier  nicht  auseinandergesetzt  werden  können.  Beträchtliche 
Teile  der  Masaimythen  haben  mit  dem  semitischen  Sagen- 
kreise gar  nichts  zu  tun.  Auf  dieses  afrikanische  Gut  sind 
m.  E.  Züge  semitischer  Herkunft  aufgepfropft.  Wann  das  ge- 
schehen ist  und  unter  welchen  Umständen,  ist  schwer  zu  sagen. 
Da  es  sich  um  Afrika  handelt,  kommen  in  erster  Linie  Missio- 
nare der  koptischen  oder  abessynischen  Christen,  sowie  der 
abessynischen  Juden  (Falaschen)  in  Betracht.  Und  zwar  erfolgte 
eine  solche  Beeinflussung  wahrscheinlich  nicht  an  den  jetzigen 
Sitzen  der  Masai,  sondern  in  einer  früheren,  mehr  nördlich 
gelegenen  Heimat.  Das  Problem  ist  verwickelt.  Die  wichtigste 
religionsgeschichtliche  Vorarbeit  zu  seiner  Lösung  wäre  eine 
komparative  Darstellung  der  Schöpfungssagen  der  alten  Kultur- 
und  jetzigen  Naturvölker.  Carl  Mommert,  Doktor  der  Theo- 
logie,  Ritter  des  Heiligen   Grabes  und  Pfarrer  zu  Schweinitz, 


506  Friedrich  Schwally 

Menschenopfer  bei  den  alten  Hebräern  (Leipzig,   E.  Haberland 
1905,  Vni  88  S.),  bat  sieb,   wie   es   scheint,  die  Aufgabe  ge- 
stellt, der  bekannten  Tendenzlüge  von  der  Gesetzmäßigkeit  des 
Ritualmordes    bei    den   Juden   für   die    vorchristliche    Zeit    die 
historische    Grundlage   zu   geben.     Auch   die  Kreuzigung  Jesu 
wird   als   Ritualmord   aufgefaßt.     Trotzdem   empfiehlt  der  bei- 
liegende  „Waschzettel"   das    Schriftchen    nicht    nur    Christel 
sondern   auch   Juden   zum    Lesen   bestens.     Ditlef  Nielsen! 
Buch   über  „Die   altarabische  Mondreligion  und  die  mosaisch^ 
Überlieferung"  (mit  42  Abbildungen,  Straßburg,  Trübner  190^ 
IV  221  S.)  verrät  schon  in  dem  Titel,   aus  welcher  Schule 
hervorgegangen  ist.    Die  Gottesauffassung  (vgl.  S.  1 — 48)  wir^ 
von    dem  Verfasser     aus     den    theophoren    Namen    der    süc 
arabischen   Lischriften   herausgeschält.     Diese  Namen   erinnei 
zum   großen  Teil   an   die   aus  Syrien   und   Babylon  bekannte! 
Formen,  bei  welchen  das   allgemeine   Gottesappellativ  el  (ih 
mit  einem  davor  oder  dahinter  stehenden  Verbum  bzw.  Nomei 
verbunden    erscheint.      Das    einzige,   was    nun    aus    derartigei 
Personennamen   mit    Sicherheit    zu    konstatieren    ist,    sind    di^ 
Namen   der   Götter.     Daß   dieselben   in   der  Zeit,   aus   der  di^ 
betreffenden   Inschriften   stammen,   noch   verehrt   worden   sine 
darf  aus  den  Personennamen  allein  nicht  gefolgert  werden,  dj 
solche  Namen  auch  vererbt   und  ohne  Rücksicht  auf  den  darii 
liegenden    Sinn   weiter    gebraucht   wurden.      Anderseits    ist   es 
ganz  unmöglich,   das,   was   in  den  theophoren  Personennamei 
von   den   Gottheiten   ausgesagt   wird,   sicher  und   bestimmt  zi 
deuten.     Eine  allgemeine  wörtliche  Übersetzung,  auch  wo  ihn 
grammatische  Richtigkeit  sicher  stünde,  ist  viel  zu  farblos,  ui 
die   zugrunde   liegenden   religiösen   Ideen   zu   erkennen.     AUei 
dieser   Schwierigkeiten   ist   sich   der  Verfasser   weder   von  dei 
Standpunkte    der    Philologie    noch    von    dem    der    Religions- 
geschichte aus  hinreichend  bewußt  geworden.     Wenn  man  die 
Worte  liest:  „Das  zentrale  Wesen  Gottes  wird  als  die  heilige 
gerechte   Liebe   aufgefaßt,   und  von  dieser  Liebe   aus   wird   ei 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      507 

Bundesgott,  Schutz-,  Heil-  und  Erlösergott"  (S.  13  Z.  7—10), 
'  so  glaubt  man  gar  eine  kirchliclie  Dogmatik  vor  Augen  zu 
haben.  Der  astrale  Charakter  der  südarabischen  Kulte  ist  von 
Nielsen  gut  dargestellt.  Die  wichtigste  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis derselben  zu  Babylon  hat  der  Verfasser  zwar  an- 
geschnitten, aber  nicht  beantwortet.  Nach  meiner  Meinung 
ist  hier  kein  gemeinsamer  ursemitischer  Besitz'  anzuerkennen, 
!  sondern  es  muß  Entlehnung  vorliegen.  Für  Abhängigkeit  der 
südarabischen  Kultur  überhaupt  von  Babylonien  sprechen 
nämlich  gewichtige  Argumente.  In  dem  Abschnitt  „Heilige 
Zeiten"  (S.  49  —  88)  wird  der  Nachweis  versucht,  daß  im 
Mittelpunkt  des  altarabischen  Kultus  der  Mond  gestanden,  daß 
die  Wallfahrt  nach  Mekka  einer  Lunarfeier  gegolten  habe,  und 
daß  babylonisch  schabattu  arabischen  Ursprungs  sei.  Das  ist 
alles  wenig  einleuchtend.  S.  97 — 122  handeln  von  heiligen 
Orten  und  Symbolen.  Nur  dieser  Teil,  der  auch  durch  zahl- 
reiche Abbildungen  illustriert  ist,  wird  einen  Wert  behalten. 
Der  Rest  des  Buches  (S.  125 — 221)  ist  der  mosaischen  Über- 
I  lieferung  gewidmet,  die  unter  lunarische  Beleuchtung  ge- 
rückt wird.  Theodor  Noeldeke,  Sieben  Brunnen  (Archiv 
für  Religionswissenschaft,  Bd.  VII  S.  340 — 344),  stellt  dem  be- 
kannten palästinischen  Ortsnamen  Bersaba  (Siebenbrunn)  aus 
drei  weit  voneinander  entfernten  Sitzen  semitischer  Bevölkerung 
(Mandäer,  Syrer,  Algier)  treffende  Parallelen  an  die  Seite.  Im 
Anschluß  an  diesen  Aufsatz  macht  Jul.  Wellhausen,  Archiv 
für  Religionswissenschaft,  Bd.  VIII  155 f.,  wahrscheinlich,  daß 
die  Bedeutung  der  Zahl  Sieben  im  Namen  Bersaba  „nicht  eigent- 
lich pluralisch,  sondern  sozusagen  superlativisch"  sei,  indem 
in  Bersaba  nur  ein  einziger  Brunnen  gewesen  sei,  wie  auch 
z.  B.  der  Neunbrunn  (Negenborn)  bei  Göttingen  nur  eine  einzige 
starke  Quelle  bilde.  Albrecht  Dieterich  a.'  a.  0.  S.  156 
schließt  sich  unter  Hinweis  auf  den  Enneakrunos  in  Athen 
dieser  Ansicht  an.  Es  wäre  schön,  wenn  diese  Diskussion  die  Ver- 
anlassung zu  Untersuchungen  über  „die  Bedeutung  der  Zahlen 


508 


Friedrich  Schwally 


in   den   Ortsnamen"   geben    würde.      Angeregt    durch   Albrecht 
Dieterichs  Abhandlung  „Mutter   Erde"  (Archiv  für  Religions- 
wissenschaft, Bd.  YIII  Iff.)  sucht  Theodor  Noeldeke  (a.  a. 
S.  161  ff.)  Spuren  der  Mutter  Erde -Vorstellungen  bei  den  Semite 
nachzuweisen.    Es  ist  in  der  Tat  sehr  einleuchtend,  daß  Gen.  2, 
wo  Gott  den  Menschen  aus  Erde  schafft,  nur  eine  monotheistiscl 
Umwandlung  der  alten  Auffassung  ist.     Dagegen  könnten  dei 
übrigen  alttestamentlichen  Stellen  (Gen.  3, 19,  Hiob  10,  9;  34,  li 
Kohel.  3,  20;  12,  7,  Ps.  103,  14;    104,  29)  lediglich  theologisch^ 
philosophische  Reflexionen  zugrunde  liegen.     Ist  dies  wirklicl 
der  FaU  —  ich  wage  keine  Entscheidung  — ,  dann  wird  sogs 
Sirach.  40,  1  unsicher,  obwohl  an  dieser  Stelle  die  Erde  als 
Mutter  alles  Lebenden  bezeichnet  wird.    Wenn  in  der  schied 
überlieferten  Stelle  Ps.  139,  15   der  Inhalt  nicht  zu   sehr  ent 
stellt  ist,   könnte   hier   allerdings   ein   von   Gen.  1,  2   total   al 
weichender  Mythus   über  die  Entstehung  des  Menschen  zu  ei 
kennen  sein.    Die  äthiopische  Bezeichnung  des  „Menschen" 
„Kind  der  Mutter  des    Lebenden"  kann  in  letzter   Linie   ai 
die    Bibel  zurückgehen,  da    Gen.  3, 20    von    Eva  gesagt  wirc 
daß  sie  die  Mutter  alles  Lebenden  sei.     Die  äthiopische  Bibel 
Übersetzung    müßte    in    diesem  Falle  auf  Kreise   zurückgehei 
in    denen    die    Menschen    dem   jüdischen    Gebrauche    entgegei 
nicht  „Adams-Kinder",  sondern  „Eva-Kinder"  hießen.    Solang« 
wir  aber  hierüber  nichts  Bestimmtes  wissen,  ist   die  Möglich-j 
keit  einzuräumen,  daß  der  Mensch  in  dieser  Phrase  als  „So] 
der  Mutter  Erde"  gilt,  mag  nun  diese  Vorstellung  aus  gemei 
semitischem   Besitze   stammen,    oder   von   afrikanischen   Nachi 
barn  entlehnt  sein.  —  H.  Oort,  Het  israelitische  Pinksterfesi 
(Theologische    Tijdschrift    1904,    S.  481—510),   verfolgt   d? 
israelitische  Pfingstfest  durch  alle  Stadien  seiner  Entwickelung^ 
Leider  fließen  die  Nachrichten  darüber  sehr  dünn,  die  wichtigstei 
Fragen  nach   dem   ursprünglichen   Sinn   des   Festes    —   Ernte 
oder  Sonnenwende?   —  und  nach  der  eigentlichen  Bedeutun| 
des  Namens  „Wochenfest"  sind  noch  immer  dunkel.  —  AdolJ 


I 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      509 

Posnanski,  Schilo,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Messiaslehre, 
i  erster  Teil,   Die  Auslegung   von  Genesis   49,  10   im   Altertum 
bis    Ende    des    Mittelalters    (Leipzig,    Hinrichs     1904,    XXIII 
512,   LXXYI  S.):    diese    ebenso    umfangreiche    wie    sorgfältige 
und   fleißige    Arbeit,    die    sehr  an  Pusey- Neubauer,    The    LIII 
chapter  of  Isaiah  according  to   the  Jewish  interpreters  18 76 f. 
erinnert,  zeigt,  daß  wir  für  das  Verständnis  der  Stelle  aus  der 
alten  Exegese  nichts  lernen  können.     Schade  für  die  Zeit  und 
Kraft,   die   an   ein   so   nutzloses   Thema   verschwendet   worden 
ist.     Bei  der  großen  Bedeutung,   welche   der   Gestimkult   zeit- 
weise für  das   religiöse  Leben  Israels  gehabt  hat,  ist  es  wert- 
voll,  daß   „die   Astronomie   im  Alten  Testament"  einmal  von 
:  einem   so   bedeutenden   Kenner   wie   Giovanni   Schiaparelli 
!  dargestellt  worden  ist  (übersetzt  von  Willy  Lüdtke,  mit  6  Ab- 
bildungen im  Text,  Gießen,  Alfr.  Töpelmann  1904,  YIII  137  S.). 
Von  einschneidender  Bedeutung  ist  die  Studie  von  Jul.Well- 
bausen   „Zwei    Rechtsriten    bei    den   Hebräern"    (Archiv   für 
Religionswissenschaft  Bd.  VII  33 — 41),  in  denen  er  die  Riten 
des  Salbens  und  des   Mantelüberwerfens  (Ruth  3,  9,  Ez.  16,  8) 
erörtert.     Gewohnt,  den  Dingen  auf  den  Grund  zu  gehen  und 
sich  nicht  mit  Gemeinplätzen  und  hergebrachten  Redensarten 
zu  begnügen,   stellt    er   u.  a.  fest,    daß    der    Sinn    der   Königs- 
salbung noch  von  niemand  verstanden  worden  und  auch  mit 
den  Mitteln   der  jüdischen   und  arabischen  Antiquitäten   nicht 
zu   begreifen    ist.     Vielleicht,    sagt    er,    ist    darüber   von   der 
;  Ägyptologie   Aufklärung  zu  erwarten.     In  der  Tat,  ließe   sich 
!  nachweisen,  daß  die  Salbung  des  Königs  mit  Öl  in  Babylonien 
oder  Ägypten  gebräuchlich  gewesen  ist,  so  wäre  ihre  Entlehnung 
l !  daher  wahrscheinlich.     Während  sich   alsdann  die  israelitische 
I  Archäologie   bei  diesem   Resultat  beruhigen   könnte,   muß   die 
I  ethnologische   Forschung   nach    den    letzten    Gründen    fragen. 
ii  Leider  hat  J.  G.  Frazer  in  seinen  kürzlich  erschienenen  Lectures 
'<  I  on  the   early   history    of  the  kingship  (London   1905)    diesen 
Punkt   nicht   berührt.      Nach    meiner   Kenntnis    des    Materials 


510  Friedrich  Schwally 

kann  die  Salbung  ursprünglicli  nur  den  Zweck  gehabt  haben, 
den  König  tabu  zu  machen,  ich  kann  aber  jetzt  nicht  näher 
darauf  eingeben.  K.  Völlers  hat  die  von  Wellhausen  ge- 
stellte Frage  aufgegriffen  („Die  Symbolik  des  Mash  in  den 
semitischen  Sprachen",  Archiv  für  Religionswissenscbaft  Bd.VIIl 
97  ff.).  Ohne  Zutrauen  zu  dem  gebrecblicben  Rohr  der  ägyn- 
tiscben  Hilfe,  zieht  er  sich  auf  die  arabischen  Antiquitäten,  a^H 
denen  er  reiche  und  interessante  Einzelheiten  sammelt,  zurück 
und  verweist  für  die  rätselhafte  Verwendung  des  Öles  auf  das 
„Lebensöl"  der  Babylonier.  H.  Zimmern  (Zeitschr.  Deutsche 
Morgenl.  GeseUscb.  1904,  S.  199—202)  stellt  auf  Grund  eines 
von  Pinches  neu  edierten  Textes  fest,  daß  babylonisch  sapattu 
den  15.  Tag  des  SOtägigen  babylonischen  Monats,  also  den 
Neumondstag  bezeichne.  Die  Etymologie  des  Wortes  dagegen, 
sowie  sein  Verhältnis  zum  israelitischen  Sabbat  ist  ihm  noch 
immer  dunkel. 

Den  Ertrag  der  Ausgrabungen  im  Orient  für  die  Kenntnis 
der  Entwickelung  der  Religion  Israels  führt  E.  S ellin  in  einem 
Vortrage  (Leipzig  1905,  A.  Deichert,  44  S.)  vor  Augen,  mit 
Berücksichtigung  der  Funde  in  Ägypten,  Babylonien,  Cypem, 
besonders  in  Palästina,  wo  er  selbst  mit  Erfolg  gegraben  hat. 
Die  Ausführungen  über  Bauopfer  (S.  31)  gehen  von  der  An- 
nahme aus,  daß  ein  Opfer  wie  eine  Leiche  bestattet  werden 
kann.  Dafür  kenne  ich  aus  der  Religionsgeschichte  kein  ein- 
ziges Beispiel.  Dagegen  ist  es  ein  weitverbreiteter  alter  Brauch, 
die  Toten  der  Familie  im  Hause  oder  dicht  dabei  zu  begraben. 

Die  für  die  israelitische  Gesetzgebung  so  wichtige  Inschrift 
des  babylonischen  Königs  Hammurabi  ist  jetzt  von  Kohler 
und  P eis  er  bearbeitet  worden  (Hammurabis  Gesetz,  Bd.  I, 
Übersetzung,  juristische  Wiedergabe,  Erläuterung,  Leipzig  1904, 
Ed.  Pfeiffer,  146  S.,  gr.  S«).  Die  Mitarbeit  eines  Juristen,  der 
als  bester  Kenner  der  vergleichenden  Rechtsgeschichte  gilt,  ist 
natürlich  bei  einem  solchen  Texte  von  großem  Werte.  Leider 
spotten  noch  viele  Stellen  aller  philologischen  Kunst. 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      511 

Von  den  Ägyptologen  hat  W.  Spiegelberg  zwei  frucht- 
bare Beiträge  geliefert.  Aus  den  „Ägyptischen  Randglossen 
zum  Alten  Testament"  (Straßburg,  Schlesier  u.  Schweikhardt 
1904,  VI  48  S.)    hebe    ich   hervor  die  im  Anschluß  an  Exod. 

1,  16  geführte  Untersuchung  über  den  Gebärstuhl  bei  den 
alten  Ägyptern.  Auch  die  andere  Studie  „Der  Aufenthalt 
Israels  in  Ägypten  im  Lichte  der  ägyptischen  Monumente" 
(Straßburg,  Schlesier  u.  Schweikhardt  1904,  55  S.)  zeichnet 
sich  durch  Besonnenheit  und  vollendete  Sachkenntnis  aus,  nur 
scheint  mir  die  Rücksichtnahme  auf  die  Exegeten  etwas  zu 
weit  zu  gehen.  Das  Licht  der  Monumente  ist  leider  sehr  trübe. 
Und  wenn  auch  gewiß  in  der  biblischen  Sage  ein  historischer 
Kern  steckt,  so  ist  doch  bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der 
Forschung  niemand  verwehrt,  sich  einen  ganz  beliebigen  Kern 
herauszuschälen  und  diesen  für  den  richtigen  zu  halten. 
Übrigens  hat  die  Frage  eine  viel  geringere  Bedeutung,  als 
gewöhnlich  zugegeben  wird.  Denn  die  Einwirkung  ägyptischer 
Kultur  ist  nicht  nur  in  Palästina,  sondern  in  ganz  Vorder- 
asien zu  spüren  und  hat  ebensowenig  eine  jüdische  Ein- 
wanderung zur  Voraussetzung  wie  die  Babyionisierung 
Palästinas  das  Exil.  Daniel  Völter,  Ägypten  und  die  Bibel, 
die  Urgeschichte  Israels  im  Lichte  der  ägyptischen  Mythologie, 

2.  Aufl.,  Leyden,  Brill  1904,  116  S.,  erklärt  die  Vätersagen  als 
Sonnenmythen.  Da  er  weder  zur  Beurteilung  israelitischer 
noch  ägyptischer  Antiquitäten  ausreichende  Kenntnisse  besitzt, 
ist  das  Büchlein  völlig  wertlos.  Trotzdem  hat  es  nach  knapp 
einem  Jahre  die  zweite  Auflage  erlebt. 

Die  moderne  palästinische  Volkskunde  ist  besonders 
durch  Leonhard  Bauer  gefördert  worden,  dessen  „Volks- 
leben im  Lande  der  Bibel"  (Leipzig,  H.  G.  WaUmann  1903, 
III  312  S.)  eine  ganz  hervorragende  Leistung  ist.  Es  be- 
handelt folgende  Gegenstände:  Bevölkerungsstatistik,  Volks- 
charakter, Bau  und  Einrichtung  der  Häuser,  Kleidung  und 
Schmuck,    Geburt,    Name,    Kinderspiele    und    Kinderarbeiten, 


512  Friedrich  Schwally 

Schulwesen,  Berufsarten,  Verlobung  und  Hoclizeit,  Stellung 
der  Frau,  Arbeiten  der  Fellacbinnen,  Kreislauf  des  Jahres, 
Ackerbau,  Ol-  und  Weinbau,  Gemüsebau,  Früchte-  und  Gemüse- 
kalender,  Rindvieh-'  und  Bienenzucht,  Steuerverhältnisse,  Kauf 
und  Verkauf,  gesellschaftlichen  Verkehr,  Nahrungsmittel  und 
Speisen,  Nationalgerichte  und  Nationalgebäck,  Mahlzeiten  und 
Gastfreundschaft,  Brunnen,  alte  Kultus  statten,  Synkretismus, 
Geisteskranke,  Klima,  Krankheiten,  Heilmittel,  Tod,  Leichen- 
klagen, Grab,  Gesten,  Sprichwörter  und  Rätsel,  'Poesie  und 
Musik,  Reisebuchblätter,  Jerusalem  im  19.  Jahrhundert.  Das 
Buch  ist  zwar  schon  1903  erschienen,  mir  aber  erst  nach 
Abschluß  des  letzten  Jahresberichtes  zugänglich  geworden. 
Der  Verfasser,  Lehrer  an  einer  Missionsschule,  kennt  das 
Heilige  Land  aus  langjährigem  Aufenthalte.  Er  besitzt  nicht 
nur  eine  vorzügliche  Beobachtungsgabe,  sondern  auch  liebe- 
volles Literesse  für  das  Leben  der  Eingeborenen,  eine  Eigen- 
schaft, welche  den  in  der  Fremde  weilenden  Europäern 
gewöhnlich  rasch  verloren  geht.  Trotzdem  scheint  das  Werk 
ziemlich  unbekannt  geblieben  zu  sein,  es  war  z.  B.  bis  vor  einem 
Jahre  in  einer  der  größten  Bibliotheken  Deutschlands  nicht 
vorhanden.  A.  Haffner,  Erinnerungen  aus  dem  Oriente 
(Wiener  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes,  Bd.  18,  S.  169 
bis  184),  bespricht  Bauernregeln,  Verwünschungen  und  Spiele. 
In  das  Judentum  des  neutestamentlichen  Zeitalters  führen 
hinein  Paul  Fiebigs  „Altjüdische  Gleichnisse  und  die  Gleich- 
nisse Jesu"  (Tübingen  und  Leipzig  1904,  VI  167  S.).  Er 
übersetzt  darin  die  Gleichnisse  der  Mechiltha,  eines  alten 
rabbinischen  Kommentars  zu  Exodus,  und  setzt  sich  mit 
Jülichers  bedeutendem  Werke  über  die  Gleichnisse  Jesu  aus- 
einander. Das  Resultat,  daß  sich  Jesus  bei  seinen  Gleichnissen 
einer  seiner  Zeit  geläufigen  Kunstform  bediente,  ist  nicht  neu, 
aber  die  Vorlegung  dieses  Materials  wird  für  die  Exegese  von 
Nutzen  sein.  Walter  Köhlers  frische  und  energische  Unter- 
suchung (Archiv  für  Religionswissenschaft  VIII  S.  214 — 243) 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      513 

erklärt  „die  Schlüssel  des  Petrus^'  Mtth.  16,  19  einwandfrei  aus 
der  griechiscli- römischen  Antike,  doch  haben  allein  seine 
mythologischen  Belege  Beweiskraft.  Hierdurch  hat  er  sich 
verleiten  lassen,  die  an  derselben  Stelle  des  Matthäusevangeliums 
vorkommende  Phrase  „binden  und  lösen"  im  Sinne  von  „ver 
bieten  und  erlauben'^,  aus  der  Sprache  der  [klassisch-] antiken 
Mantik  zu  erklären.  Das  halte  ich  für  falsch.  Denn  der  dieser 
Phrase  zugrunde  liegende  Knotehzauber  ist  so  weit  über  die 
ganze  Welt  verbreitet,  daß  wir  denselben  auch  für  das  alte 
Israel  voraussetzen  müssen,  obschon  er  noch  nicht  nachgewiesen 
ist.  A.  Buecheler  beschreibt  auf  Grund  talmudischer  Stellen 
„Das  Ausgießen  von  Öl  und  Wein  als  Zeichen  der  Ehrung  bei 
den  Juden  Palästinas"  (Monatsschr.  f.  Geschichte  u.  Wissenschaft 
des  Judentums,  Jahrg.  49,  S.  12 — 40).  M.  Friedlaender,  Die 
religiösen  Bewegungen  innerhalb  des  Judentums  im  Zeitalter 
Jesu  (Berlin  1905,  Reimer,  XXX,  380  S.),  erwähnt  die  Apo- 
Ivalyptik,  die  religiöse  Stimmung  des  Landvolkes,  den  Essenismus, 
Minäismus,  das  hellenische  Judentum,  die  sibyllinische  Weis- 
heit, Jesus  und  Paulus.  Der  wertvollste  Teil  des  Buches 
ist  m.  E.  das  Kapitel  über  die  religiösen  Bewegungen 
unter  der  Landbevölkerung,  deren  Anteil  an  dem  Empor- 
kommen der  christlichen  Verkündigung  gewöhnlich  zu  gering 
eingeschätzt  wird.  Während  die  neueren  jüdischen  Gelehrten 
im  allgemeinen  für  den  Hellenismus  sehr  wenig  Verständnis 
haben,  überschätzt  Friedlaender  denselben.  Die  Ausführungen 
über  Jesus  und  Paulus  gehören  zu  dem  Schönsten  und  Un- 
befangensten, was  je  von  einem  jüdischen  Autor  gesagt  worden 
ist.  Seine  heftige  Polemik  gegen  die  Rabbiner  und  Seminar- 
theologen ist  begreiflich,  aber  nur  zum  Teil  begründet.  Denn 
darin  hat  die  jüdische  Orthodoxie  unzweifelhaft  recht,  daß 
allein  durch  Festhalten  am  überlieferten  Ritus  der  Väter  das 
Judentum  als  Rasse  wie  als  Religion  vom  Untergang  bewahrt 
werden  kann.  Die  Beteiligten  haben  sich  also  die  Frage  vor- 
zulegen, ob  sie  ihr  Volkstum  und  ihre  Religion  für  wert  halten, 


514  Friedricli  Scliwally 

auch  weiter  konserviert  zu  werden.  Leidens cliaftlicli  verneint 
wird  dieselbe  von  J.  Fromer,  Das  Wesen  des  Judentums 
(aus  „Kulturprobleme  der  Gegenwart'^,  herausgegeben  von  Leo 
Berg,  2.  Serie,  Bd.  1,  Berlin  —  Leipzig  —  Paris,  Hüpeden 
u.  Merzyn  1905,  VII  183  S.).  Der  Verfasser,  selbst  Jude, 
russisch -polnischer  Abstammung,  hat  sich  eine  umfassende, 
moderne  Bildung  angeeignet.  Scharf,  unerbittlich  und  rücksichts- 
los wird  von  ihm  dem  Wesen  des  modernen  Judentums  und  den 
Gründen  seiner  Leidensgeschichte  und  seiner  Zurücksetzung  im 
Staatswesen  nachgespürt.  Das  Judentum,  sagt  er,  muß  sich  auf- 
lösen, da  seine  treibenden  religiösen  Ideen  überlebt  sind,  und  da 
ein  Volk  ohne  Land  nicht  für  sich  existieren  kann.  Es  muß 
sich  nicht  nur  geistig,  kulturell  und  religiös  den  Wirtsvölkern 
assimilieren,  sondern  auch  physisch.  Infolge  des  Widerwillens 
der  Wirtsvölker  gegen  die  physische  Vermischung  wird  die- 
selbe jedoch  auf  unübersehbare  Zeit  unmöglich  sein.  Dagegen 
sind  die  schönen  Vorträge  von  Caesar  Seligmann  (Juden- 
tum und  moderne  Weltanschauung,  Frankfurt  a.  M.,  J.  Kauff- 
mann  1905,  117  S.)  hervorgegangen  aus  dem  inneren  Drange 
des  Verfassers,  die  Versöhnung,  die  er  selbst  in  heißem  Ringen 
zwischen  Judentum  und  moderner  Kultur  gefunden  hat,  den 
Gebildeten  und  Suchenden  in  seiner  Gemeinde  nicht  vor- 
zuenthalten. 

Mit  einem  wertvollen  Stücke  der  Geschichte  und  Kultur 
des  mittelalterlichen  Judentums  in  aller  Herren  Länder  machen 
uns  bekannt  die  Schilderungen  des  berühmten  jüdischen 
Reisenden  des  12.  Jahrhunderts,  Benjamin  von  Tudela.  Von 
dem  schwer  zugänglich  gewordenen  Werke  eine  Neuausgabe 
und  Übersetzung  veranstaltet  zu  haben,  ist  das  Verdienst  des 
rührigen  Verlages  von  J.  Kauffmann  in  Frankfurt  a.  M.  (I.  Teil 
hebräischer  Text,  164  S.;  IL  Teil,  Einleitung,  Übersetzung  und 
Register,  102  S.     1903/04,  gedruckt  in  Jerusalem). 

Zur  Förderung  der  jüdischen  Volkskunde  hat  sich 
schon  vor  mehreren,  etwa  drei  oder  vier  Jahren,  in  Hamburg 


Alte  semit.  Religion  im  allgem.,  israelitische  u.  jüdische  Religion      515 

eine  Gesellschaft  gebildet,  welche  auch  eine  Zeitschrift  heraus- 
gibt („Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  jüdische  Volkskunde", 
herausgegeben  von  M.  Grunwald,  Hamburg,  Selbstverlag  der 
GeseUschaft).  Mir  liegt  das  13.  Heft  vor  (Jahrg.  1904,  Nr.  1, 
72  S.),  in  dem  unter  anderem  ein  mittelalterliches  Purim- 
festspiel  ediert  ist. 

Über  die  Rasse  der  Juden  ist  schon  sehr  viel  ge- 
schrieben worden.  Aber  es  fehlte  bis  jetzt  an  einer  zusammen- 
fassenden, kritischen  Darstellung.  Diesem  Mangel  ist  durch 
das  Werk  von  J.  M.  Judt,  Die  Juden  als  Rasse,  eine  Analyse 
aus  dem  Gebiete  der  Anthropologie  (deutsche  Ausgabe  —  die 
andere  Ausgabe  ist  wohl  polnisch  —  Berlin,  Jüdischer  Verlag, 
ohne  Jahr,  IV  243  S.),  jetzt  einigermaßen  abgeholfei^^.  Und 
zwar  hat  der  Verfasser  die  Judenheit  der  ganzen  Welt  berück- 
sichtigt und  der  physiko-anthropologischen  wie  der  historischen 
Seite  gleichmäßig  Rechnung  getragen.  Er  kommt  zu  dem 
m.  E.  richtigen  Resultate,  daß  die  Juden  in  der  Zer- 
streuung im  allgemeinen  keiner  Rassenkreuzung  mit  der 
eingeborenen  Bevölkerung  erlegen  sind.  Maurice  Fishberg 
dagegen  (Materials  for  the  physical  anthropology  of  eastem 
European  Jews,  Memoirs  of  the  American  Anthropological 
and  Ethnological  Society,  Vol.  I,  part  1,  Lancaster.  New  Era 
printing  Company  1905,  146  S.),  schließt  seine  streng  metho- 
dischen Untersuchungen  mit  den  Worten:  „We  conclude  that 
the  bulk  of  the  modern  Jews,  who  live  at  present  in  eastem 
Europe  and  who  constitute  more  than  80  percent  of  all  the 
Jews,  are  physically  more  akin  to  the  races  among  which 
they  have  lived  in  eastern  Europe  than  to  the  so  called  Semites." 


in  Mitteilungen  und  Hinweise 


Diese  verschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesern  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  besonders 
neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke  und  Nach- 
weise oder  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den  ver- 
schiedenen religionsgeschichtlichen  Forschern  hier  u.  E.  entwickeln  können, 
wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung  widmen  würden.* 


In  der  Inschrift  von  Speos  Artemidos^  Z.  9  — 10  sagt 
die  Königin  Hatschepsowet  (um  1500  v.  Chr.)  in  bezug  auf 
ihren  himmlischen  Vater  Amon 

Ich  machte  die  Wahrheit  groß  (?)'',  die  er  (sc.  Amon)  liebte, 

(Denn)  ich  wußte,  daß  er  von  ihr  lebt, 

Mein  Brot  ist  sie. 

Ich  trinke  ihren  Tau 

Deshalb  bin  ich  eines  Leibes  (Acw  wc)  mit  ihm. 

Also  dadurch,  daß  die  Königin  dieselbe  Wahrheitsspeise  genießt 
wie  ihr  Vater  Amon,  wird  sie  mit  ihm  eines  Leibes.  Die  Wahr- 
heit ist  hier  also  ganz  materiell,  konkret  gedacht,  als  eine  Art 
Nektar  und  Ambrosia.  Ich  glaube  nun,  daß  im  Lichte  dieser 
Stelle,  wo  diese  Anschauung  ganz  evident  ist,  auch  andere  Stellen 
ähnlich  konkret  zu  deuten  sind.  So  ist  es  mir  sehr  wahrscheinlich, 
daß  überall,  wo  es  von  dem  König  heißt  (besonders  oft  von  dem 
Ketzerkönig  Chinaton),  er  „lebt  von  Wahrheit",  tatsächlich  ein 
körperliches  Genießen  der  Götterspeise  gemeint  ist,  und  dasselbe 
gilt  von  den  Verstorbenen,  die  häufig  als  „die,  welche  von  Wahr- 
heit leben",  bezeichnet  werden.  Die  „Wahrheit"  ist  hier  die 
Speise    der    Götter    oder    eines    Gottes,    durch    deren    Genuß    der 

^  Sog.  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig  enthalten  als 
sie  „Berichte''  ersetzen  soll.  Über  die  Zeitschriftenschau,  die  dem  Archiv 
besonders  beigegeben  werden  kann,  siehe  die  Mitteilung  Band  VIT,  S.  280. 

2  Set  he   Urkunden  IV,  383  ff. 

'  Die  Ergänzung  der  zerstörten  Gruppe  s<^3(j)-nj  ist  nicht  sicher. 


Mitteilungen  und  Hinweise  517 

Mensch  mit  dem  Gott  wesensgleich  wird.^  Das  ist  wohl  auch  der 
eigentliche  Sinn  der  bekannten  Wendung  des  Totengebetes,  in 
welchem  man  dem  Verstorbenen  unter  anderem  „alle  schönen  und 
reinen  Dinge,  von  denen  der  Gott^  (d.h.  wohl  Osiris)  lebt",  wünscht. 
Wer  diese  Osirisspeise  genoß,  der  wurde  nach  den  Worten  des 
obigen  Textes  „eines  Leibes"  mit  Osiris,  er  wurde  selbst  zum 
Osiris^  und  teilte  so  das  selige  Schicksal  dieses  Gottes.'* 

W,  Spiegelberg 

Zum  Jahvethron 

M.  Dibelius  (Die  Lade  Jahves.  Göttingen  1906  [Forschungen 
zur  Religion  und  Literatur  des  Alten  und  Neuen  Testaments 
lierausgeg.  von  Bousset  und  Gunkel  VII])  hat  neuerdings  die 
zuerst  von  meinem  unvergeßlichen  Freunde  Wolfgang  Reichel  auf- 
gestellte Ansicht,  daß  die  „Bundeslade"  ein  Thronsitz  gewesen  sei, 
in  gründlicher  Erörterung  wieder  aufgenommen.  Er  hat  die 
Geschichte  der  Lade  nur  bis  zur  Zerstörung  Jerusalems  durch 
Nebukadnezar  (586  v.  Chr.)  verfolgt  und  betrachtet  sie  damit  als 
abgeschlossen.  Wie  seine  Vorgänger,  hat  auch  er  die  Notiz  des 
Tacitus  bist.  V  9  nicht  beachtet:  Romanorum  primus  Cn.  Pompeius 
(63  V.  Chr.)  Judaeos  domuit  templumque  iure  victoriae  ingressus  est: 
inde  vulgatum  nulla  intus  deum  effigie  vacuam  sedem  et  inania 
arcana.  Reichel  schrieb  mir  auf  die  Mitteilung  dieser  Stelle  im 
März  1899:  „Für  mi>ch  ist  die  vacua  sedes  eine  gute  Bestätigung 
der  Bundeslade  als  Thron.  Sie  übersehen  nur,  daß  die  Bundeslade 
bei  der  Eroberung  durch  die  Babylonier  zugrunde  ging  und  nach 
dem  Exil  nicht  mehr  existierte.  Der  leere  Thron  kann  also  eine 
Erinnerung  an  sie  sein  sollen  —  nicht  mehr!  Aber  auch  so  .  .  . 
freue  ich  mich  über  die  Notiz  und  betrachte  sie  als  gutes  Zeugnis." 
Als  0.  Benndorf  Reicheis  zweiten  Aufsatz  über  den  Jahvethron 
weiteren  Kreisen  bekannt  machte ,  sandte  ich  ihm  meine  Beobachtung 
mit  Reicheis  Erwiderung  zu;  seine  eigene  Antwort  vom  Januar 
1902  lautete:  „Auch  mir  scheint  in  den  Worten  des  Tacitus  eine 
Bestätigung  vorzuliegen,  ja  das  Zeugnis  für  eine  Wiederherstellung 
der   Bundeslade   vorzuliegen,   wie   dies  ja   durchaus   alter  Kultsitte 

^  Da  der  Pharao  nach  ägyptischer  Anschauung  ein  Gott  auf  Erden 
ist,  so  lebt  er  auch  wie  die  Götter  von  der  Götterspeise  Wahrheit.  — 
Weitere  Beispiele  bei  Wiedemann  Die  Toten  und  ihre  Reiche  im 
-Glauben  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient  II  2)  S.  18  ff.  Zu  der  ganzen 
Anschauung  vgl.  A.  Dieterich  Mne  Mithrasliturgie  S.  100 ff.,  der  mich 
freundlichst  auf  diese  Stellen  hinwies. 

^  Spätere  Variante  „die  Götter". 

8  Der  Tote  heißt  seit  alter  Zeit  stets  „Osiris  N.  N.". 

^  Vgl.  dazu  Erman  Die  ägyptische  Beligion  S.  96  ff. 

Archiv  f.  Religionawissenschaft  IX  34 


513  Mitteilungen  und  Hinweise 

entsprechen  würde.  Wäre  gar  Nichts  vorhanden  gewesen,  so 
erschiene  die  wortreiche  Umschreibung  dieses  Nichts  bei  Tacitus 
zumal  denn  doch  befremdlich."  Der  liebenswürdigen  Aufforderung 
Benndorfs,  der  ganzen  Sache  weiter  nachzugehen,  habe  ich  in  all  den 
letzten  Jahren  nicht  folgen  können;  jetzt  ist  die  Frage  des 
„Jahvethrons"  durch  Dibelius  von  neuem  behandelt  worden,  und 
jetzt  bietet  das  „Archiv"  auch  für  die  anspruchslosesten  „Mit- 
teilungen und  Hinweise"  einen  Raum;  so  wage  ich  es  denn,  ohne 
weitere  eigene  Bemerkungen  die  Taciteische  Notiz  der  Aufmerksam- 
keit derer  zu  empfehlen,  die  Reicheis  Spuren  folgen. 

F.  Münzer 


Ein  syrischer  Regenzauher 

Die  syrische  Literatur  gestattet  uns  bei  ihrem  starr  theolo- 
gischen Charakter  nur  selten  Einblicke  in  die  religiösen  Anschau- 
ungen des  Volkes.  In  den  Märtyrerakten  treten  gelegentlich  ältere 
Festbräuche  zutage,  und  die  Kanones  des  Jakob  von  Edessa 
machen  uns  mit  allerlei  abergläubischen  Praktiken,  die  sie  verur- 
teilen, bekannt. 

Nun  aber  gibt  es  ein  Gebiet,  auf  dem  keine  organisierte  Reli- 
gion hat  umhin  können,  sich  volkstümlichen  Vorstellungen  anzu- 
passen. Wenn  anhaltende  Dürre  den  Landmann  um  die  Früchte 
seiner  Arbeit  zu  bringen  droht,  so  erwacht  immer  aufs  neue  in 
ihm  die  Erinnerung  an  die  Bräuche,  mit  denen  seine  Vorfahren 
dem  Übel  zu  steuern  suchten,  und  er  vollzieht  sie,  auch  wenn  ihm 
ihr  ursprünglicher  Sinn  längst  entschwunden  ist.  Die  Geistlichkeit 
ist  dabei  von  jeher  und  überall  bemüht  gewesen,  solche  Riten,  die 
sie  nicht  unterdrücken  konnte,  aufzunehmen  und  ihnen,  so  gut  es 
ging,  dem  eigenen  religiösen  Gedankenkreise  entsprechende  Vor- 
stellungen unterzuschieben.  Wie  der  Islam  sich  zu  solchem  Regen- 
zauber verhielt,  haben  kürzlich  Goldziher  in  den  Orientalischen 
Studien,  Th.  Nöldeke  gewidmet,  I  308 ff.  und  speziell  für  Nord- 
afrika A.  Bei  im  Recueil  de  memoires  et  de  textes  public  en 
l'honneur  du  XlVe  congr.  des  Orient.,  Alger  1905,  S.  49  ff.  und 
E.  Doutte,  Merräkech  I  383 ff.  gezeigt.^     Auch  die  syrische  Kirche 


^  Zu  den  von  Goldziher  angeführten  Beispielen  von  Heiligen ,  durch 
die  man  Regen  erbittet,  vgl.  noch  den  Vers  des  Farazdaq:  „den  Kalifen 
Gottes,  durch  den  man  Regen  erbittet",  Biwän  413,  1,  cit.  Ibn  Qotaiba, 
lib.  poes.  298,  10.  Der  durch  einen  Vers  des  Umaija  ibn  abi  '1  Salt 
bezeugte  heidnische  Regenzauber  (Schultheß,  Or.  Stud.  I,  83)  findet  sich 
auch  bei  Baihaqi  ed.  Schwally  441,  15  und  Sujäti,  sarh  saw.  Mugni 
106,  1  —  6  (nach  'iso  el  Askarl),  aber  für  qälau  wird  das  in  syrischer 
Schrift  recht  nahe  liegende  metrau  „seine  Regengüsse"  zu  lesen  sein. 


Mitteilungen  und  Hinweise  519 

hat  diesem  dringenden  Bedürfnis  sich  fügen  müssen,  unter  den 
Werken  des  Ephraem  Syrus  (ed.  Lamy  IIl  1  —  126)  stehen  neun 
Bittpredigten,  die  sich  z.  T.  auch  in  Bedjans  Ausgabe  des  Brevi- 
arium  Chaldaicum  (Leipzig  1886)  finden.  Alle  diese  Reden  beziehen 
sich  hauptsächlich  auf  die  Dürre  als  eine  von  Gott  zur  Besserung 
der  sündigen  Menschheit  gesandte  Kalamität.  Obwohl  es  nun  Ephraem 
im  allgemeinen  vorzüglich  gelungen  ist,  die  für  die  Situation  charak- 
teristischen Gedanken  in  der  Flut  seiner  biblischen  Bildersprache 
zu  ertränken,  schlägt  er  doch  in  der  siebenten  Rede  einmal  Töne 
an,  die  weniger  einem  christlichen  Prediger  als  einem  altheidnischen 
Regenmacher  anstehen.  Nachdem  er  wieder  des  breiteren  durch 
Vorführung  biblischer  Beispiele  zur  Buße  gemahnt,  und  nachdem 
er  die  Sünden  der  Welt  für  die  Dürre  verantwortlich  gemacht  hat, 
fahrt  er  fort  (S.  97,  10) 

„Laßt  uns  Trauer  anlegen,  damit  der  Himmel 

sich  bedecke  zum  Regen. 
Wir  wollen  dumpfes  Geschrei  erschallen  lassen, 

damit  der  Donner  in  den  Wolken  ertöne. 
Die  Stimmen  des  Gebetes  sollen  fliegen, 

damit  Blitze  zum  Regen  gesandt  werden. 
Die  Erde  möge  mit  Tränen  genetzt  werden, 

damit  sie  auch  vom  Regen  benetzt  werde. 
Wir  wollen  die  Schleusen  der  Augen  zum  Weinen  öffnen, 

damit  auch  die  Wolken  geöffnet  werden. 
Die  Stimme  unseres  Bittens  wird  zwingen 

den  Höchsten,  unsere  Stimme  zu  erhören. 
Weil  unsere 'Stimme  nicht  bei  ihm  gehört  ward, 

hörte  auch  seine  Stimme  auf  bei  uns  zu  tönen, 

und  der  Donner  seiner  Wolken  schwieg. 
Weil  die  Tränen  unseres  Weinens  versiegten, 

versiegten  seine  Stimmen  von  unseren  Ackern.  * 

Denn  er  dürstet  sehr  nach  unserem  Worte, 

so  wie  das  Feld  nach  seinen  Güssen. 
Er  wünscht  nicht,  daß  wir  fallen, 

da  er  durch  Tränen  die  Schuldscheine  löscht. 
Wir  wollen  den  Leib  im  Gebet  schwitzen  lassen, 

damit  die  Wolke  Regen  ergieße. 
Wir  wollen  ein  wenig  dürsten, 

damit  die  Saat  vom  Regen  gesättigt  werde. 
Wir  wollen  ein  wenig  fasten. 

damit  die  Sättigung  durch  die  Wolke  groß  werde." 

Ephraem  begnügt  sich  an  dieser  Stelle  nicht  mehr  damit,  rein 
geistliche  Mittel  zur  Abwehr  der  Kalamität  zu  empfehlen,  sondern 
er  verweist,  wie  es  ein  heidnischer  Priester  im  gleichen  Falle  ge- 
tan hätte,  auf  die  bewährten  Prozeduren  des  Analogiezaubers  (vgl. 
u.  a.  A.  Lang,  Myth,  ritual  and  religion  I  82 ff.).  Den  durchaus 
in  diesen  Zusammenhang  passenden  Gedanken,  daß  Gott  durch 
nachdrückliches    Bitten    auch    gegen    seinen  Willen    zur    Erhörung 

34* 


520 


Mitteilungen  und  Hinweise 


gezwungen  werden  könne  (vgl.  dazu  Goldzihers  Ausfühi'ungen  über 
das  ilhäh,  a.  a.  0.  313)  mildert  Ephraem  allerdings  alsbald  durch 
einige  geistliche  Gemeinplätze.  C.  Brockelmann 


Orientalische  Studien 

betitelt  sich  eine  Festschrift,  die  Theodor  Nöldeke  in  diesei 
Frühjahr  von  86  Gelehrten  als  ein  Tribut  ihrer  Dankbarkeit  un^ 
Verehrung  dargebracht  wurde. -^  In  dem  Inhalt  der  beiden  Bänc 
spiegelt  sich  der  gegenwärtige  Stand  der  orientalistischen  Studieij 
ziemlich  getreu  wider,  und  schon  ein  flüchtiger  Blick  auf  di 
einzelnen  Beiträge  zeigt,  welch  hervorragende  Rolle  der  Religionj 
Wissenschaft  dabei  zukommt.  Dieser  Umstand  wird  es  vielleicht 
rechtfertigen,  wenn  im  folgenden  den  regelmäßigen  Jahresberichte! 
des  Archivs  vorgegriffen  wird,  um  seinen  Lesern  die  für  sie 
achtenswerten  Teile  der  Studien  tunlichst  bald  zu  vermitteln. 

Wie  zu  erwarten,  ist  die  Arabistik  besonders  stark  Vertreter 
M.  J.  de  Goeje  bespricht  die  bekannte  „Berufung"  Muhammedg 
der  eine  männliche  Gestalt  in  betender  Haltung  am  Horizont  ei 
blickte  und  eine  Stimme  rufen  hörte:  „0  Muhammed,  du  bist  de 
Gesandte  Gottes,  und  ich  bin  Gabriel";  er  erklärt  sie  als  ein^ 
von  Muhammed  ungeahnte,  optische  Täuschung,  analog  dem  „Brockei 
gespenst".  —  A.  Fischer  sucht  nachzuweisen,  daß  zwei  Verse  dej 
101.  Sure  des  Qorän  als  Interpolation  zu  erklären  sind,  eine  fi 
die  wichtige  Frage  nach  der  Echtheit  des  Qorän  grundlegenc 
Untersuchung,  die  mittlerweile  die  Zustimmung  Völlers  (ZDM( 
60^  373)  gefunden  hat.  —  Auf  die  dämonische  Natur  gewisse 
Tiere  und  die  Auffassung  ihrer  Handlungen  als  durch  Dschinnei 
verursachte  Phänomene  macht  R.  Geyer  gelegentlich  der  Erklärunj 
eines  altarabischen  Dichterverses  aufmerksam.  —  Fried r.  Schulthesi 
prüft  die  von  Umajja  b.  Abi  1-Salt,  einem  Zeitgenossen  Muhammeds 
erhaltenen  „religiösen"  Gedichte  auf  ihre  Echtheit  und  gibt  voi 
den  unverdächtigen  Stücken  eine  kurze  Inhaltsübersicht  über  di(] 
darin  verwerteten  biblischen  Themata,  die  Erzählungen  aus  de 
arabischen  Legende,  die  Beschreibung  einer  Art  von  Regenzaubei 
die  kosmologischen  Vorstellungen  und  die  theologischen  Gedankel 
des  Dichters  über  Gott,  die  Engel,  den  Tod  und  „unsere  Mutter* 
Erde;  als  Bezugsquelle  dieser  Vorstellungen  wird  Jemen  angenommei 
—     Von    der    bekannten    Fabelsammlung    Kaiila    wa-Dimna    weis 

^  Orientalische  Studien  Theodor  Nöldeke  zum  siebzigsten  Gebui 
tag  (2.  März   1906)  gewidmet  von  Freunden  und  Schülern  und  in  ihrei 
Auftrag  herausgegeben  von  Carl  Bezold.    Mit  dem  Bildnis  Th.  Nöldeke' 
einer  Tafel  und  zwölf  Abbildungen.    Zwei  Bände.  Gießen,  Töpelmanu,  190( 


Mitteilungen  und  Hinweise  521 

M.  Th.  Houtsma  die  Existenz  einer  metrischen  Bearbeitung  in 
arabischer  Sprache  nach,  die  1900  in  Bombay  in  einer  litho- 
graphischen Ausgabe  erschien.  —  Eine  Untersuchung  über  den 
Aufbau  der  berühmten  Religionsgeschichte  „Milal  wa  1-Nihal" 
des  spanischen  Zähiriten  Ihr  Hazm  (994  — 1064)  führt  I.  Fried- 
länder zu  dem  Resultat,  daß  das  Buch  „zunächst  als  ein  vor- 
nehmlich dogmatisches  Werk  gedacht  war,  das  die  gesamte  Dogmatik 
des  Islam  vom  spezifischen  Standpunkt  der  Zähiriten  beleuchten 
sollte".  —  T.  J.  de  Boer  teilt  eine  kurze  Inhaltsangabe  einer 
philosophisch -theologischen  Streitschrift  über  die  Personen  der 
Trinität  mit,  die  er  dem  bekannten  Kufenser  Philosophen  und 
Astrologen  Al-Kindi  (in  der  ersten  Hälfte  des  9.  Jahrb.)  zuschreibt. 
—  Auf  christliches  Gebiet  führt  ein  von  L.  Cheikho  heraus- 
gegebener und  übersetzter  Traktat  des  nestorianischen  Mediziners 
und  Theologen  Hunain  b.  Ishäq  (809  —  873):  „über  die  Art  und 
Weise,  wie  man  die  Wahrheit  der  Religion  erreicht,"  der  sich  in 
dem  großen  Werke  „Kitäb  usul  al-din"  des  Ihn  ^Assäl  erhalten 
hat.  —  S.  Fraenkels  Ausführungen  über  das  Schutzrecht  beleuchten 
eine  an  Zeremonien  und  volkstümlichen  Gebräuchen  reiche  Seite 
des  altarabischen  Lebens.  —  Besondere  Beachtung  verdienen  die 
umfangreichen  Sammlungen  I.  Goldzihers  über  Zauberelemente  im 
islamischen  Gebet,  und  zwar  hauptsächlich  solche  Elemente,  die 
sich  als  „volkstümlich  fortlebende  Reste  aus  den  Anschauungen 
der  heidnischen  Zeit"  erweisen.  Unter  diesen  werden  behandelt: 
Gottesbeschwörungen'  und  - bedrohungen ,  zumal  seitens  besonders 
frommer,  heiliger  Personen;  die  Regenrogation ;  das  stürmisch  ein- 
dringliche und  anspruchsvolle  und  das  schmeichlerische  Gebet, 
dem  besondere  Wirkung  zukommt;  die  Benützung  bestimmter 
Bittformeln,  besonders  unter  Anwendung  gewisser,  zum  Teil 
fremden  Kreisen  entlehnter,  zum  Teil  mystisch  klingender  Gottes- 
namen; endlich  eine  Reihe  von  Gesten:  der  Gebrauch  des  Zeige - 
oder  Fluchfingers,  das  Emporheben  und  Ausbreiten  der  Hände  bei 
bestimmten  Gebetsarten  und  das  Streichen  des  Antlitzes  mit  den  Händen 
nach  Beendigung  eines  Bittgebets.  —  Zweck  und  Wesen  des 
Mimbar  im  alten  Islam  bespricht  C.  H.  Becker.  Danach  war  das 
Mimbar  in  der  ältesten  erreichbaren  Zeit  ein  (tragbarer?)  Sitz  auf 
zwei  Stufen  für  das  jeweilige  Oberhaupt  der  Gemeinde,  den 
Sprecher  oder  Friedensrichter,  dem  als  notwendiges  Zubehör  ein 
Stab  beigegeben  wurde.  Stuhl  und  Stock  (Thron  und  Szepter) 
galten  unter  Muhammed  und  seinen  ersten  Nachfolgern  als  (von 
Gott  verliehene)  Symbole  der  Herrscherwürde:  ersterer  wurde 
mit  der  Ausbildung  des  islamischen  Kultus  zur  Kanzel,  letzterer 
zum  Stab  des  göttlichen  Sprechers.  —  Eine  Spur  ehemaliger 
Gruppenehe  erkennt  Th.  W.  Juynboll  in  der  allgemeinen  Bedeutung 


522  Mitteilungen  und  Hinweise 

des  arabischen  Wortes  ^amm^  das  nach  ihm  nicht  nur  den  Bruder 
des  Vaters  (patruus),  sondern,  wie  im  Hebräischen,  jeden  Agnaten, 
der  zu  der  Generation  des  Vaters  gehörte,  oder  im  allgemeinen 
jeden  „Verwandten  der  älteren  Generation"  bezeichnet.  —  Daß 
die  von  A.  S.  Yahuda  gesammelten  und  erklärten  bagdadischen 
Sprichwörter  auch  für  die  Religionsgeschichte  versprengtes  Material 
enthalten,  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden.  —  Fr.  Schwallys 
Beiträge  zur  Volkskunde  des  heutigen  Ägyptens  bringen  Mitteilungen 
über  die  Zwei -Ehe,  über  Hochzeitszeremonien  und  die  mechanische 
Defloration,  über  Votivgegen stände  bei  der  Cairiner  Mu'ajjad- 
Moschee  und  wundertätige  Steinsäulen,  über  die  Ehrfurcht  vor 
Objekten,  die  mit  dem  Gottesnamen  beschrieben  sind,  und  über 
allerhand  Haus-Aberglauben.  —  Reiche  Ausbeute  verspricht  auch 
der  Artikel  W.  Mar9ais'  über  Euphemismus  und  Antiphrase  im 
heutigen  Algerien,  wozu  gelegentlich  altarabische  Parallelen  an- 
geführt werden.  Die  bekannte  Scheu  vor  dem  Gebrauch  ominöser 
Wörter  und  deren  Ersatz  durch  solche  mit  glückverheißendem 
Sinn  wird  hier  durch  eine  Anzahl  treif lieber,  meist  neuer  Beispiele 
aus  Tlemcen  und  Oran  illustriert. 

Eine  Mitteilung  H.  Grimmes  über  den  Logos  oder  Amr  in 
Südarabien,  den  er  auf  sabäischen  Inschriften  nachzuweisen  ver- 
sucht und  für  die  Quelle  von  Muhammeds  „Amr -Logos -Lehre" 
erachtet,  bildet  den  Übergang  zu  den  Beiträgen  auf  dem  Gebiete 
der  aramäischen  Literaturen.  0.  Braun  bespricht  syrische  Texte 
über  die  erste  allgemeine  Synode  von  Konstantin opel.  —  Der  von 
einem  sonst  unbekannten,  von  Ebedjeschu  als  „Interpres  Turcarum" 
bezeichneten  Nestorianer  verfaßte  „Wonnegarten",  ein  syrischer 
Bibelkommentar  im  Anschluß  an  den  liturgischen  Jahreszyklus 
nach  dem  Ritus  des  Klosters  „Mär  Gabriel  und  Mär  Abraham", 
wird  von  J.-B.  Chabot  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  darin 
genannten  Quellenschriftsteller  untersucht.  —  K.  V.  Zettersteen 
teilt  ein  volkstümliches  nestorianisches  Wechsellied  zwischen  „dem 
Teufel  und  der  Sünderin"  im  Felllhi- Dialekt  mit.  —  Über  die 
Textgestalt  des  Targums  zu  den  Klageliedern  gibt  S.  Landauer 
auf  Grund  seiner  handschriftlichen  Studien  eingehende  Aufschlüsse, 
wonach  Lagardes  Ausgabe  zu  verbessern  ist.  —  Auch  die  Beiträge 
M.  Gasters  zur  samaritanischen  Masora  stützen  sich  auf  un- 
gedrucktes Material,  sowie  auf  mündliche  Mitteilungen  eines  ge- 
lehrten Priesters,  Ishak  b.  Anoran  aus  Nablus.  —  Zwei  schwierige 
Termini  der  Nomenklatur  in  der  emanistischen  Lehre  der  Mandäer 
bespricht  M.  Lidzbarski:  Uthrä  und  Malakhä.  Als  Grundbedeutung 
des  ersteren  Wortes,  das  in  den  mandäischen  Schriften  allgemein 
für  die  Engel,  die  Boten  der  Götter  und  Beschützer  der  Menschen, 
gebraucht  ist,   wird  „Überfülle"   angenommen.     Auch   die  Malakhe 


Mitteilungen  und  Hinweise  523 

^^erden  in  den  ältesten  (magischen)  Texten  regelmäßig  als  gute 
Schutzgeister  erwähnt,  wurden  aber  späterhin  als  fremde  Engel, 
böse  Dämonen  astraler  Natur,  aufgefaßt  und  als  solche  in  apotro- 
päischem  Sinne  angerufen,  bis  sie  in  der  jüngsten  Zeit  zu  himm- 
lischen Wesen  allgemeinster  Natur  verblaßten. 

Im  Bereiche  der  hebräischen  Literatur  sind  dem  Texte  des 
Sirachbuches  zwei  Aufsätze  gewidmet:  ein  Specimen  criticum  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Rhythmik  von  J.  W.  Rothstein 
und  eine  Anzahl  Randglossen  unter  Verwendung  der  parallelen 
rabbinisch- talmudischen  Literatur  von  L.  Ginzberg.  —  Der  Ein- 
fluß von  E.  Sievers'  metrischen  Studien  auf  die  biblische  Exegese 
macht  sich  bemerkbar  in  einem  Beitrag  von  B.  Stade  über  die 
poetische  Form  von  Psalm  40  und  einer  Studie  W.  Nowacks 
über  „Metrum  und  Textkritik".  —  Anmerkungen  zu  einzelnen 
Psalmenstellen  steuert  T.  W.  Da  vi  es  bei.  —  B.  D.  Eerdmans 
nimmt  für  den  Ursprung  des  Mazzoth- Festes,  das  er  streng  vom 
Passah  getrennt  wissen  will,  ein  Erntefest  in  Anspruch  und  erklärt 
die  drei  charakteristischen  Punkte  des  Festes  aus  animistischen 
Vorstellungen,  zu  denen  er  analoge  Erscheinungen  bei  den  Bataks 
auf  Sumatra  anführt.  —  Eine  Skizze  über  die  Ereignisse  der 
letzten  Zeit  nach  dem  Alten  Testament  entwirft  K.  Marti.  — 
Über  den  Ursprung  und  die  Entwicklung  des  israelitischen  Ephod 
handelt  E.  Seilin:  der  Lendenschurz,  die  Tracht  der  ersten 
Menschen  bei  Ägyptern  und  Arabern,  wurde  in  Israel  bei  fort- 
schreitender Kultur  zur  heiligen  Tracht,  zum  gold-  und  silber- 
verzierten Purpurgewand,  in  dem  sich  der  Priester  Gott  in  seinem 
Heiligtum  zur  Empfangnahme  von  Entscheidungen  und  Losorakeln 
nahte.  Der  Losbehälter  wurde  zum  unzertrennlichen  Attribut  des 
Ephod,  dieses  selbst  ward  in  den  Hauptheiligtümem  deponiert  und 
durfte  von  dem  Priester  nur  auf  heiligen  Pfaden  mitgeführt  werden, 
bis  es  später  mit  dem  Verfall  der  Orakeleinholung  außer  Gebrauch 
kam  und  zur  dekorativen  Insignie  herabsank.  —  Den  Ausdruck 
seßä'  hassämajim,  unter  dem  im  Alten  Testament  teils  die  Sterne, 
teils  belebte  Wesen  verstanden  werden,  deutet  G.  Westphal  als 
Ausfluß  einer  genuin  hebräischen  alten  Märchenwelt,  die  neben 
der  Jahwereligion  bestand,  und  versteht  darunter  ein  „Heer,  das 
oben  am  Himmel  die  Schlachten  mitkämpfte,  die  Israel  auf  Erden 
ausfocht";  meteorologischer  Ursprung  dieser  mythologischen  Vor- 
stellung wird  als  wahrscheinlich  angenommen,  —  Reiches  Material 
über  die  Erscheinungsformen,  Attribute  und  Mythen  des  phöni- 
zischen  Gottes  Esmun  =  Asklepios  legt  W.  W.  Graf  Baudissin 
vor.  Die  Identifizierung  beider  Gottheiten  wird  darauf  zurückgeführt, 
daß  von  beiden  heilende  Wirkungen  als  ausgehend  gedacht  wurden, 
was   die  richtige   Deutung   eines   von  Damascius   erzählten  Mythos 


524  Mitteilungen  und  Hinweise 

bestätigt.  Auch  für  Esmun  ist  wahrscheinlich  als  heiliges  Tier 
die  Schlange,  das  chthonische,  auf  die  Mantik  zurückführende  Tier 
anzunehmen.  Hinweise  auf  Analogien  in  der  Ausgestaltung  der 
christlichen  Heilandslehre  beschließen  die  Studie,  zu  der  des  Ver- 
fassers Artikel  „Der  phönizische  Gott  Esmun"  in  der  ZDMG  59, 
459  ff.  zu  vergleichen  ist.  —  Die  Etymologie  des  hebr.  herlth 
„(Gottes-) Bund"  usw.  bespricht  C.  F.  Seybold.  —  Über  die  in 
jüngster  Zeit  mehrfach  untersuchte  Rolle  der  Leber  als  Teil  des 
Opfertieres  und  den  „lobus  caudatus"  handelt  G.  F.  Moore.  —  End- 
lich ist  in  diesem  Zusammenhange  noch  der  Aufsatz  C.  H.  Toys 
über  den  Ausdruck  der  Idee  eines  absoluten,  natürlichen  „Gesetzes" 
bei  Israeliten  und  Arabern  zu  erwähnen. 

Einen  verhältnismäßig  geringeren  Raum  der  Festschrift  nehmen 
die  Beiträge  aus  der  abessinischen  Literatur  und  die  assyrio- 
logi sehen  Artikel  ein.  Die  äthiopische  Übersetzung  der  fünften 
„Demonstration"  des  persischen  Weisen  Aphraates  aus  dem  um 
340  verfaßten  syrischen  Original,  eine  Homilie  des  Bischofs  Jacob 
über  die  Ankunft  des  Perserkönigs  in  seinem  Bistum  Nisibis,  ver- 
öffentlicht Fr.  M.  E.Pereira.  —  C.Bezold  teilt  die  arabisch- 
äthiopischen Texte  des  sog.  „Testamentum  Adami"  mit,  dessen 
Stundentafel  vielleicht  auf  Stunden -Namen  zu  reduzieren  und  dann 
in  letzter  Linie  auf  babylonische  Vorstellungen  zurückzuführen  ist. 

—  E.  Littmann  gibt  die  wörtliche  Übersetzung  einer  Anzahl 
moderner  semitischer  Stammessagen  aus  der  Tigre- Sprache. 

Eine  Studie  von  H.  Zimmern  über  die  babylonisch -assyrischen 
kultischen  Termini  pi^  pi  „Mundöffnung"  (zur  Darreichung  heiliger 
Speise)  und  mis  pi  „Mundwaschung"  und  ihren  vermutlichen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Pethä  und  MambüJiä  der  Mandäer  eröffnet  die 
Beiträge  auf  dem  Gebiete  der  Keilschriftforschung.  —  M.  Jastrow  jun. 
findet  in  dem  babylonischen  Weltschöpfungsbericht  deutliche  Spuren 
zweier  verschiedener,  aus  Eridu  bzw.  Nippur  stammender  Episoden 
des  Gedichtes,  die  in  einer  in  Babylon  vorgenommenen  Redaktion 
kombiniert  wurden.  —  Für  die  Beurteilung  von  P.  Jensens  Unter- 
suchungen über  „den  babylonischen  Sintfluthelden  und  sein  Schiff 
in  der  israelitischen  Gilgamesch-Sage"  wünscht  der  Autor  selbst 
eine  vorhergängige  Kenntnisnahme  von  Band  I  seines  demnächst 
erscheinenden  Werkes  „Das  Gilgamesch-Epos  in  der  Weltliteratur". 

—  C.  F.  Lehmann-Haupt  sucht  Brjhravctg  bei  Ktesias  mit  baby- 
lonischem Bel-Etana  zu  identifizieren,  während  er  für  BeXrjtdQag  bei 
Bion  und  Alexander  Polyhistor  den  babylonischen  Namen  Bel-etir 
in  Anspruch  nimmt,  und  zwar  als  Beiname  Sargons  I.  von  Akkad. 

Es  entspricht  dem  weiten  Umfang  der  Studien  des  Gelehrten, 
dem  die  hier  angezeigte  Festschrift  gewidmet  wurde,  daß  in  ihr 
nicht  nur   die   semitische  Philologie   vertreten   ist.     Auch    die  per- 


Mitteilungen  und  Hinweise  525 

sische,  türkische  und  altägyptische  Literatur,  die  griechische 
Mythologie,  römische  Epigraphik  und  Geschichte,  alte  Kirchen- 
geschichte und  Kritik  des  Neuen  Testaments  sind  zu  Worte  ge- 
kommen, wovon  hier  zum  Schluß  die  Aufmerksamkeit  der  Leser 
dieses  Archivs  auf  die  folgenden  Beiträge  gelenkt  werden  darf: 
eine  vollständige  Darstellung  der  hochpoetischen  Schilderungen  der 
Sonnen-  und  Mond-  Auf-  und  Untergänge,  des  Tagesanbruchs, 
Mittags,  Abends  und  der  Nacht  im  Schähnähme  von  P.  Hörn; 
eine  kritische  Sichtung  des  ägyptischen  Sprachguts  in  den  aus 
Ägypten  stammenden  aramäischen  Urkunden  der  Perserzeit  mit 
zahlreichen  theophoren  Namen  von  W.  Spiegelberg;  J.  Oestrups 
Erklärung  des  in  der  Ilias  von  Chryses  angerufenen  Smintheus  als 
des  Feldm  äuse  -  oder  Pestgottes  orientalischen  Ursprungs ;  der  Nach- 
weis einer  karthagischen  Göttertrias  in  Vergils  Aen.  4,  58  durch 
A.  von  Domaszewski  und  eine  Untersuchung  über  die  Häufigkeit 
des  in  der  Familie  Jesu  vorkommenden  Namens  Panthera  von 
A.  Deißmann.  Die  Petrusanekdoten  und  Petruslegenden  in  der 
Apostelgeschichte  stellt  W.  Soltau  zusanamen.  Endlich  entwirft 
K.  J.  Neumann  ein  anschauliches  Bild  von  den  aus  den  pseudo- 
clementinischen  Briefen  „De  virginitate"  bekannten  „Enthaltsamen", 
d.  h.  den  Jungfräulichen  beiderlei  Geschlechts,  einer  Wurzel  des 
späteren  Mönchtums,  die  zur  raschen  Ausbreitung  des  Christentums 
beitrug  und  seine  planmäßige  Unterdrückung  durch  Decius  mit- 
veranlaßte. 

Es  war  durch  den  engen  Bahmen  dieser  „Mitteilung"  geboten, 
nur  solche  Beiträge  zur  Nöldeke- Festschrift  ausdrücklich  zu  nennen, 
die  in  unmittelbarer  Beziehung  zur  Religionsgeschichte  stehen  oder 
sich  doch  augenscheinlich  nahe  mit  ihr  berühren.  Damit  soll  nicht 
gesagt  sein,  daß  nicht  auch  in  anderen  Teilen  des  Werkes  für  den 
Keligionshistoriker  brauchbare  Einzelheiten  zu  finden  seien.  Das 
alphabetisch  geordnete  Autorenverzeichnis  am  Anfang  und  vielleicht 
auch  der  Eigennamenindex  am  Schluß  des  Ganzen  mögen  dem 
Suchenden  behilflich  sein.  In  welch  ausgedehntem  Maße  Th.  Nöldeke 
selbst  sich  an  der  Lösung  der  Probleme  beteiligt  hat,  die  im  vor- 
stehenden angedeutet  sind,  geht  aus  der  Übersicht  seiner  Schriften 
hervor,  die  E.  Kuhn,  sachlich  geordnet,  an  der  Spitze  des  Werkes 
veröffentlicht  hat.  C.  Bezold 


Rote  Farbe  im  Totenknlt 

In  seinem  lehrreichen  Aufsatze  „Rot  und  Tot"  Arch.  IX 
1  —  24  hat  V.  Duhn  überzeugend  nachgewiesen,  daß  die  roten 
Farbstoffe,  welche  so  häufig  in  Hockergräbern  der  Stein-  und 
frühen    Bronzezeit     und     gelegentlich    auch    anderwärts    gefunden 


I 


526  Mitteilungen  und  Hinweise 

werden,  rituelle  Bedeutung  haben  und  Ersatz  für  Blut  darstellen. 
Ich  stimme  um  so  lieber  bei,  als  ich  selbst  diese  Ansicht  aus- 
gesprochen und  vor  3  Jahren  —  am  18.  Mai  1903  —  in  einem 
"Vortrage  in  der  St.  Nestorgesellschaft  für  Geschichtsforschung  zu 
Kiew  ausführlich  zu  begründen  versucht  habe.-^  Ich  stützte  mich 
bei  meinen  Ausführungen  im  wesentlichen  auf  dieselben  antiken 
und  folkloristischen  Parallelen  und  zum  Teil  auf  dasselbe  archäo- 
logische Material,  wie  v.  Duhn.  Indem  ich  meiner  Freude  über 
dieses  Zusammentreffen  Ausdruck  gebe,  erlaube  ich  mir  in  einem, 
wie  mir  scheint,  nicht  unwesentlichen  Punkte  eine  abweichende 
Auffassung  vorzubringen  und  bei  der  Gelegenheit  auch  einige 
Nachträge  zu  liefern. 

Wiederholt  spricht  v.  Duhn  von  „Rotmalung  der  Leichen" 
(S.  13,  14,  15),  von  „rotem  Anstrich  der  Leichen  vor  der  Be- 
erdigung" (S.  12)  und  meint,  daß  diese  „rote  Bemalung  des 
Leichnams  den  Schein  des  Lebens,  ja  eines  höheren  Lebens  dar- 
stellen sollte"  (S.  19).  Letztere  Ansicht  ist  gekünstelt  und  wider- 
spricht, streng  genommen,  der  wohlbegründeten  Auffassung  des 
roten  Farbstoffes  als  einer  Ablösungsform  für  Blut.  Wo  gibt  es  denn 
auch  nur  eine  Spur  davon,  daß  irgendwann  irgendwo  der  Brauch 
bestanden,  Leichname  mit  Blut  „anzustreichen".  Die  Fundumstände 
steinzeitlicher  Hockergräber,  wie  sie  in  unzähligen  Fällen  bei 
Ausgrabungen  in  Südrußland  beobachtet  worden  sind^,  sprechen 
entschieden  gegen  eine  Annahme  beabsichtigter  Rotmalung  der 
Leichen.  Niemals  ist  eine  gleichmäßige  dünne,  den  ganzen  Körper 
bedeckende  Farbschicht  gefunden  worden,  wie  sie  jene  Annahme 
voraussetzen  läßt.  Vielmehr  nehmen  die  Farbstoffe  immer  einen 
verhältnismäßig  geringen  Raum  ein,  sind  dafür  aber  um  so 
konzentrierter:  meist  bilden  sie  in  ihrem  jetzigen  Zustande  ganze 
Stücke  und  Klumpen.  Gewöhnlich  finden  sie  sich  am  Schädel 
oder  nahe  von  ihm;  seltener  an  den  oberen  Brust-  und  Arm- 
knochen, ganz  vereinzelt  auch  an  den  unteren  Extremitäten.  Es 
kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  Farbe  in  verdünntem 
Zustande  über  den  Leichnam  ausgeschüttet  wurde,  nachdem  er 
bereits  im  Grabe  gebettet  war.  Einen  in  dieser  Hinsicht  überaus 
lehrreichen  Fall  teilt  mir  mein  Kollege  J.  A.  Kulakowski  aus 
seinen  Ausgrabungen  in  der  Krim  mit.     Ein  von  ihm   aufgedecktes 

*  Vgl.  die  Mitteilungen  (Ctenija)  der  St.  Nestorgesellschaft  XVII 
S.  121.  Ausführlichere  Berichte  brachten  die  Tageszeitungen,  z  B.  die 
Kijewskaja  Gazeta  N.  139  vom  21.  Mai  1903. 

^  Zu  der  „neueren  uns  Westeuropäern  zugänglichen  Literatur" 
(v.  Duhn  S.  12  Anm.  1)  war  hinzuzufügen  das  ausführliche  Referat 
Stiedas  im  Archiv  f.  Anthropologie  N.  F.  II  (1904)  S.  66  —  72  über  den 
zusammenfassenden  Aufsatz  von  A.  Spicyn  {Schriften  d.  K.  Russischen 
Archäol.  Gesellschaft  XI,  1899). 


Mitteilungen  und  Hinweise  527 

Hockergrab  enthielt  zwei  Leichen;,  über  beide  lief,  beim  Kopfe 
der  einen  beginnend,  dann  auf  die  Schulterknochen  der  anderen 
hinübergehend,  weiter  die  Brustknochen  beider  berührend,  ein 
zickzackförmiger  Streifen  roter  Farbe.  Ein  derartiger  Guß  kann 
natürlich  nicht  zum  Rotmalen  gedient  haben,  sondern  muß  eine 
Opferspende  gewesen  sein.  Nach  dem,  was  v.  Duhn  selbst  an- 
führt (namentlich  S.  4  und  S.  15),  ist  es  nicht  zweifelhaft,  daß 
die  rote  Farbe  ein  Ersatz  für  Blut  ist.  In  einer  noch  früheren, 
jenen  Hockergräbern  vorausliegenden  Zeit  wurde  offenbar  das  Blut 
des  Opfertieres  auf  den  im  Grabe  liegenden  Leichnam  ausgegossen, 
natürlich  womöglich  in  und  auf  den  Mund  —  denn  trinken  sollte 
ja  der  Verstorbene  die  Spende.  Diese  Art  der  Darbringung  wurde 
beibehalten,  als  an  Stelle  des  Blutes  in  Wasser  aufgelöster  Eisen- 
ocker oder  Mennig  getreten  war.  Da  diese  Flüssigkeit  in  reich- 
lichem Maße  auf  einen  beschränkten  Raum  ausgegossen  wurde, 
bildeten  sich  jene  Ocker-  resp  Mennigstücke  und  -klumpen, 
welche  bei  den  Ausgrabungen  sich  meist  in  nächster  Nähe  des 
Kopfes  der  Leiche  finden.  Gelegentlich  wurde  außer  der  un- 
mittelbar ausgeschütteten  Flüssigkeit  ein  weiterer  Vorrat  derselben 
in  einem  Gefäß,  leicht  erreichbar  für  den  Toten,  in  das  Grab 
gestellt.  So  erklärt  es  sich,  daß  bisweilen  der  rote  Farbstoff  auch 
in  rohen,  höchst  primitiv  ohne  Hilfe  der  Drehscheibe  gearbeiteten 
Töpfen  und  Schüsseln  gefunden  wird. 

Diese  durch  die  Fundumstände  in  den  südrussischen  Kurganen 
nahegelegte  Auffassuilg  der  roten  Farbstoffe  als  Opferspenden  wird 
durch  eine  wichtige  Beobachtung  bestätigt,  die  E.  Riviere  an  einem 
der  berühmten  steinzeitlichen  ^  Hockergräber  in  den  Höhlen  der 
Balzi  Rossi  bei  Mentone  gemacht  hat.  Er  berichtet  in  seinem 
Buche  De  Tantiquite  de  l'homme  dans  les  Alpes -Maritimes,  Paris 
1887  p.  131  folgendes:  au-devant  de  la  bouche  et  des  fosses  nasales 
a  six  centimetres  environ  de  ces  ouvertures  etait  creuse  un  sillon 
parfaitement  regulier,  sillon  in tentionnel,  long  de  dix-huit  centimetres, 
large  de  quatre  centimetres  et  profond  de  trente-cinq  millimetres. 
Ce  sillon  etait  rempli  de  fer  oligiste  en  poudre.  Den  Zweck 
dieser  Furche  weiß  Riviere  nicht  zu  erklären.  Offenbar  sollte  sie 
dazu  dienen,  die  das  Blut  imitierende  Ockerfarbe  unmittelbar  in 
den  Mund  des  Beigesetzten  zu  leiten. 

Daß  aus  der  Gepflogenheit,  dem  Toten  einen  Guß  roter  Farbe 
als    Ersatz    für    das    kostspielige   Blutopfer    mit    in    das   Grab    zu 

^  Sie  scheinen  einer  älteren  Periode  anzugehören,  als  die  süd- 
russischen Hocker.  Nach  Lissauer  Zeitschr.  f.  Ethnol.  XXXII  1900,  Ver- 
handlungen S.  402,  stammen  die  Gräber  von  Balzi  Rossi  aus  einer 
Übergangszeit  von  der  paläolithischen  zur  neolithischen  Periode,  in 
welcher  der  Mensch  noch  keine  Töpferei  kannte. 


528  Mitteilungen  und  Hinweise 

geben,  sich  mit  der  Zeit  die  Sitte  entwickelt  habe,  den  Leichnam 
rot  anzustreichen  und  auch  die  vorher  entfleischten  Knochen  rot 
zu  malen,  ist  ja  sehr  wohl  möglich  und  wird  durch  die  von 
V.  Duhn  angeführten  ethnographischen  Parallelen  wahrscheinlich. 
Es  schien  mir  aber  von  Wichtigkeit,  die  ursprüngliche  Grundlage 
dieses  Gebrauches  schärfer  hervorzuheben,  und  ich  meine,  wir 
haben  dadurch  ein  wertvolles  Zeugnis  für  das  Fühlen  und  Denken 
des  primitiven,  auf  der  untersten  Kulturstufe  stehenden  Menschen 
gewonnen. 

Die  Hypothese  von  einer  (nicht  rituellen)  Rotmalung  der 
Leichen  ist  von  Prähistorikern  aufgebracht,  welche  weder  die 
funerale  Bedeutung  des  Blutes  noch  seine  bereits  von  Varro  er- 
kannte Ablösung  durch  rote  Farbmittel  kannten.  Colinis  Aufsatz, 
auf  den  sich  v.  Duhn  S.  8  beruft,  ist  mir  unzugänglich,  und  ich 
weiß  nicht,  was  es  mit  seinen  „Pintaderas"  für  eine  Bewandtnis 
hat.  Ein  anderer  Prähistoriker,  der  öfters  zitiert  wird  und 
angeblich  bewiesen  haben  soll,  daß  die  rote  Farbe  in  den  Hocker- 
gräbern zur  Bemalung  der  Haut  gedient  habe,  ist  R.  Forrer, 
Über  Steinzeit -Hockergräber  zu  Achraim,  Nagada  etc.  in  Ober- 
ägypten und  über  europäische  Parallelfunde,  Straßburg  1901. 
Auf  S.  34  findet  man  dort  folgende  Beweisführung:  den  ägyptischen 
Hockern  sind  regelmäßig  dünne  Schieferplatten  beigegeben,  welche 
als  Paletten  zum  Anreiben  von  Farben  gedeutet  werden;  ähnliche 
„Paletten"  sind  auch  in  Pfahlbauniederlassungen  der  Schweiz 
gefunden  worden;  daraus  folge,  daß  die  Farbenreste  in  den  euro- 
päischen Hockergräbern  zur  Bemalung  der  Haut  bestimmt  gewesen 
seien.  Diese  Argumentation  hat  vor  allem  die  klaffende  Lücke, 
daß  bis  jetzt,  soviel  ich  weiß,  nie  rote  Farbe  und  „Paletten" 
zusammen  gefunden  worden  sind:  in  den  ägyptischen  Gräbern 
fehlt  die  Farbe,  in  den  europäischen  fehlen  die  „Paletten". 

Zu  den  Belegstellen  auf  S.  4  für  den  Gebrauch  roter  Tücher 
als  Blutersatz  beim  römischen  funus  füge  hinzu:  Stat.  silv.  H  1,  159 
quod  tibi  purpureo  tristis  rogus  aggere  crevit  und  Theb.  VI  62  Tyrioque 
attollitur  ostro  molle  supercilium.  Auch  die  bei  Cic.  de  legg.  II 
§  59  leider  korrupt  überlieferte  Vorschrift  der  XII  Tafeln  (extenuato 
igitur  sumptu  tribus  reciniis  et  *vincla  purpurae  et  decem  tibicinibus 
tollit  etiam  luctum)  gehört  wohl  hierher.  Ein  interessanter  Nach- 
klang dieses  Gebrauches  hat  sich  bis  auf  unsere  Zeit  bei  der  Be- 
stattung der  Päpste  erhalten.  Bevor  der  Sarg  Leos  XI IL  nach 
Beendigung  der  solennen  Leichenfeier  für  immer  geschlossen  wurde, 
um  in  einer  Nebenkapelle  von  St.  Peter  seiner  Überführung  nach 
dem  Lateran  entgegenzuharren ,  wurde  über  die  Leiche  eine  leichte 
Decke  aus  hochroter  Florettseide  gebreitet.  Der  Sarg  selbst 
war   im  Innern    mit   karmoisinrotem  Sammet  ausgeschlagen   — 


Mitteilungen  und  Hinweise  529 

alles  nach  altüberliefertem  Herkommen.^  Hier  haben  wir  ein  her- 
vorragendes Beispiel  dafür,  wie  Anschauungen  und  Sitten  der 
primitivsten  Urzeit  bis  auf  unsere  Tage  nachwirken. 

A.  Sonny 

A  Note  on  the  controversy  as  to  the  origin  of  the  Lares 

In  the  Archiv  for  1904  p  42  foll,  Wissowa  replied  to 
criticisms  of  his  view  that  the  origin  of  the  Lar  familiaris  is 
to  be  found  in  the  compita  and  not  in  the  house,  and  that  on  that 
account  the  Lares  cannot  have  been  the  spirits  of  dead  ancestors, 
as  De  Marchi  and  E.  Samter  still  maintain.  With  this  view  of 
Wissowa's  I  entirely  agree,  and  his  answer  to  his  critics  appears 
to  me  convincing;  but  there  is  one  difficulty  which  in  the  article 
in  question  he  does  not  entirely  clear  up.  How  did  the  Lar  come 
to  be  transferred  to  the  house  from  the  compitum? 

On  p.  56  he  writes:  Mit  dem  Übergange  ländlicher  Ver- 
hältnisse in  städtische  hat  sich  allmählich  der  Lar  familiaris, 
d.  h.  der  Lar  des  Grundstückes,  ohne  daß  darum  der  gemeine  Dienst 
an  den  Compita  aufhörte,  ins  Haus  gezogen  und  dort  mit  Vesta 
und  den  Penaten  zu  einer  Gruppe  von  Herdgottheiten  vereinigt 
usw.  To  me  it  seems  that  the  Lar  must  have  gained  an  entrance 
into  the  house  hefore  the  change  from  rural  to  urban  life ,  and  I  think 
we  have  some  means  of  conjecturing  how  it  was  effected.  I  believe 
that  he  gained  admittance  through  the  slaves  of  the  farm ,  as  these 
increased  in  number  and  importance,  and  as  yet  were  not  drawn  from 
distant  regions,  but  were  prisoners  taken  from  neighbouring  cities, 
or  debtors  condemned  to  slavery. 

These  slaves  could  of  course  have  had  no  share  in  the  worship 
of  Vesta  and  the  Penates;  the  hearth  was  the  peculiar  careofthe 
daughters  of  the  family,  and  the  penus  of  the  materfamilias  and  the 
children;  nor  is  there  any  trace  in  the  cult  of  Vesta  and  the 
Penates  as  embodied  later  in  the  State  worship  of  a  share  taken 
by  any  stränge  or  unfree  person.  But  this  is  not  the  case  with 
the  cult  of  the  Lar;  we  know  that  slaves  took  part  in  the  Com- 
pitalia,  where  the  Lares  of  the  com^pita  were  the  objects  of  worship, 
as  well  as  in  other  festivals  which  were  clearly  descended  from 
the  religion  of  the  farm,  the  Paganalia  and  probably  the  Satumalia. 
As  to  the  Compitalia,  Dionysius  teils  us  that  (IV.  13.  2)  a  Servius 
Tullius  included  the  slaves  in  the  actual  ritual,  because  the  Lares 
were  glad  to  have  their  Service:  a  passage  which  we  cannot  trace 


^)  Vgl.  die  Berichte  der  Tagespresse,  z.  B.  Berliner  Tageblatt  vom 
27.  Juli  1903. 


530  Mitteilungen  und  Hinweise 

to  any  source  except  the  practice  itself ,  but  which  is  quite  borne 
out  by  wbat  we  learn  from  Cato  about  the  relations  between  the 
slaves  and  the  Lar.  In  R.  R.  5  (quoted  by  Wissowa  on  p.  50) 
we  find  that  the  vilicus  must  not  ^facere  rem  divinam  nisi  Compi- 
talibus  in  compito  aut  in  foco',  —  a  passage  which  seems  to  me 
to  indicate  that  he  might  sacrifice  for  his  fellow  slaves  to  the  Lar 
at  the  compitum,  or  to  the  Lar  in  the  house,  if  the  Lar  tvere  already 
transferred  from  the  compitum  to  the  house.  So  too  the  vilica 
might  and  should  adorn  the  focus  with  a  Corona  on  calends  nones 
and  ides,  and  on  the  days  of  the  lustratio  agri  she  might  'supplicare' 
to  the  Lar  familiaris  pro  copia;  representing  the  female  slaves  of 
the  house,  she  thus  had  a  modest  share  in  the  worship  of  the 
Lar,  but  not  in  that  of  any  other  deity.  (Cato  R.  R.  143.)  In 
all  other  family  rites  the  paterfamilias  sacrificed  for  the  whole 
familia,  including  the  slaves,  except  when  he  deputed  this  duty 
to  his  vilicus,  as  might  often  happen  in  the  frequent  absence  of 
the  latter  at  Rome  or  in  the  army,  just  as  the  duties  of  the  Anglo- 
Saxon  manor  were  undertaken  by  the  Gerefa,  usually  a  villanus 
or  serf,  in  the  place  of  the  absentee  landlord.  It  seems  clear 
then  that  the  worship  of  the  Lar  at  the  compitum  or  in  the  house 
came  more  and  more  distinctly  to  be  the  right  of  the  vilicus  and  vilica, 
and  through  them  of  the  slaves  of  the  familia,  perhaps  even  without 
the  necessity  of  obtaining  leave  or  receiving  Orders  to  that  effect 
from  the  master;  and  thus  the  Lar  came  to  be  called  by  the  epithet 
familiaris,  which  plainly  signified  that  in  his  cult  the  slaves  were 
included.  Now  we  know  that  it  was  the  old  custom  for  the  slaves 
to  sit  at  the  meals  of  the  family  on  subsellia  (Marquardt 
Privatalt.  I.  171);  what  then  more  natural  than  that  they  should 
be  recognised  as  having  a  claim  to  see  and  worship  there  the  only 
deity  of  the  farm  to  which  they  were  closely  attached?  What 
more  natural  than  that  they  should  bring  the  Lar  with  them  from 
the  compitum  to  the  house,  especially  in  the  frequent  absence  of 
the  master?  In  other  words,  as  the  slaves  came  to  be  more  and 
more  distinctly  recognised  as  members  of  the  economical  Community 
of  which  the  house  was  the  centre,  the  one  deity  whom  they  had 
always  worshipped  on  the  land  followed  them  into  the  house. 

"W.  "Warde  Fowler 


F.  Blaß  hat  auf  der  theologischen  Konferenz  in  Eisenach  einen 
Vortrag  über  die  Textkritik  im  Neuen  Testament  gehalten^, 
der   nicht   nur   eine   höchst   populäre   Einführung   in    die  Probleme 

^  F.  Blaß  Über  die  Textkritik  im  Neuen  Testament.  Leipzig,  Deichert 
1904.     0.80  M. 


Mitteilungen  und  Hinweise  531 

bietet,  sondern  vor  allem  eine  beredte  Apologie  der  „völligen 
Harmlosigkeit"  der  von  Blaß  geübten  Methode  darstellt.  Dies  für 
die  echte  Kritik  geradezu  typische  Prädikat  der  „Harmlosigkeit" 
geht  ihr  eben  nur  dann  ab,  wenn  Leute  wie  Harnack  und  andere 
Vertreter  der  „Pseudo Wissenschaft",  in  „dogmatischen  Vorurteilen" 
befangen  und  den  Kopf  angefüllt  mit  „eigenen  oder  fremden 
Phantasien",  sie  zu  handhaben  versuchen.  „Wir  Philologen"  — 
meint  B.  —  „pflegen  allerdings  auch  manches  für  interpoliert  zu 
erklären  und  wenn  wir  eine  Stelle  für  unverständlich  halten,  so 
konjizieren  wir":  ja  er  gibt  den  Rat,  Konjekturen  „zunächst  einmal 
zu  machen,  und  dann  sich  umzusehen,  ob  nicht  doch  irgendwo 
Zeugen  dafür  sind";  aber  auf  diese  Weise  entstehen  doch  nie 
„seelengefährliche  Irrtümer".  —  Kurz  —  man  lese  das  Büchlein, 
um  zu  sehen,  wohin  theologischer  Eifer  einen  ernsthaften  Philologen 
führen  kann,  sowohl  hinsichtlich  der  Achtung  vor  ehrlicher  Arbeit 
anderer  Leute,  wie  hinsichtlich  der  Willkür  in  der  Behandlung 
eines  in  seinen  historischen  Voraussetzungen  nur  halbverstandenen 
Textes. 

Ein  zweibändiges  Werk  über  Paulus  verdanken  wir  dem 
emsigen  Fleiß  C.  Clemens.^  Der  erste  Band  enthält  die  „Unter- 
suchung" der  Vorfragen:  Echtheit  der  Paulinischen  Briefe  resp. 
einzelner  Teile  in  ihnen,  Quellen  und  Glaubwürdigkeit  der  Apostel- 
geschichte, sowohl  der  kanonischen  wie  der  apokryphen,  Chronologie 
des  Lebens  und  der  Schriften  des  Paulus.  Der  zweite  Band  gibt 
eine  lebendig  geschriebene  Darstellung  des  Lebens  und  Wirkens 
des  Apostels,  in  welche  die  Grundzüge  seiner  Theologie,  sowie 
Inhaltsübersichten  seiner  Briefe  geschickt  verflochten  sind.  Der 
Wert  des  Werkes  beruht  in  der  überaus  sorgfältigen  Zusammen- 
stellung und  vorsichtigen  Beurteilung  des  bisher  Erarbeiteten, 
nicht  im  Erschließen  neuer  Bahnen  für  künftige  Forschung.  Ins- 
besondere verdient  die  eingehende  Berücksichtigung  der  englischen 
und  amerikanischen  Literatur,  in  der  C.  wie  nur  wenige  deutsche 
Gelehrte  zu  Hause  ist,  unseren  Dank,  während  demgegenüber  die 
neuere  deutsche  „religionsgeschichtliche"  Forschung  entschieden  zu 
kurz  kommt.  Die  Verlagsbuchhandlung  würde  deshalb  nicht  nur 
sich  selbst,  sondern  auch  der  Wissenschaft  einen  großen  Dienst 
erweisen,  wenn  sie  den  Verfasser  veranlaßte,  noch  nachträglich  ein 
genaues  Inhaltsverzeichnis  oder  Sachregister  anzufertigen,  und 
wenn  sie  dies  den  Besitzern  nachlieferte:  in  seiner  jetzigen  Form 
ist  dies  doch  gerade  als  Nachschlagebuch  überaus  wertvolle  Werk 
einfach   unbenutzbar   für  jeden,   der  es  nicht  von  A  bis  Z  gelesen 


1  C.  Clemens  Paulus,  sein  Leben  und  Wirken.     Gießen,  Rickert 
1904.     2  Bde. 


532  Mitteilungen  und  Hinweise 

und  sich  selbst  ein  Register  angefertigt  hat:  und  das  kann  man 
nicht  von  jedem  —  z,  B.  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  —  ver- 
langen ! 

Die  Anfänge  der  Kirchenverfassung  erörtert  allein  auf 
Grund  der  Quellen  „in  streng  methodischer  Weise"  „ohne  jede 
andere  Voraussetzung,  als  daß  wir  es  mit  wahren  geschichtlichen 
Zeugnissen  zu  tun  haben  "^  in  einem  ziemlich  umfangreichen  Buch 
der  Jesuit  H.  Bruder.^  Durch  geschickte  Kombination  später 
und  früher  Zeugnisse,  Einfügung  der  erforderlichen  Zwischen- 
gedanken an  geeigneten  Punkten  mit  reichlicher  Phantasie  und 
völliges  Ignorieren  der  Literatur  und  damit  auch  der  vorhandenen 
Schwierigkeiten  gelingt  es  ihm,  in  scholastisch  logischem  Beweis- 
gang den  monarchischen  Episkopat  als  ein  bereits  in  apostolischer 
Zeit  vorhandenes  und  keineswegs  bloß  auf  „Ordnen  und  Vorstehen" 
beschränktes  Amt  nachzuweisen.  Da  dies  Resultat  vom  katholischen 
Dogma  vorgeschrieben  wird,  so  ist  gegen  seine  Erreichung  an  sich 
nichts  einzuwenden:  nur  hätte  der  Weg  nicht  so  primitiv  zu  sein 
brauchen,  daß  für  den  historisch  denkenden  Leser  auch  nicht  das 
geringste  Brauchbare  abfällt! 

Einen  nützlichen  Neudruck  der  von  Kimmel  und  Weißenborn 
(1850)  besorgten  „Monumenta  fidei  ecclesiae  orientalis" 
liefert  Michalcescu.^  Er  gibt  den  Kimmeischen  Text  wieder  und 
schickt  den  einzelnen  „Bekenntnisschriften"  kurze  historische  Ein- 
leitungen voraus.  Zugefügt  sind  dogmatische  Synodalbeschlüsse  in 
sehr  kärglicher  Auswahl,  sowie  die  Chrysostomusliturgie,  die  Basi- 
lianischen  Mönchsregeln  und  liturgische  Gebete  und  Lieder. 

Ein  völlig  neues  Werk  stellt  die  vierte  Auflage  der  Loofs- 
schen  Dogmengeschichte^  dar:  aus  dem  bewährten  Studentenbuch 
ist  jetzt  ein  —  oder  vielmehr  „das"  —  bis  ins  kleinste  Detail  die 
Probleme  erörterndes  Lehr-  und  Nachschlagewerk  geworden,  das 
unter  beständigem  Verweis  auf  die  Quellen  und  diejenige  Literatur, 
aus  der  etwas  zu  lernen  ist,  über  die  gegenwärtige  Kenntnis  der 
Pogmengeschichte  erschöpfenden  Aufschluß  gibt.  Die  bereits  in 
den  früheren  Auflagen  befolgte  Methode,  die  Anschauung  des  betr. 
Schriftstellers  durch  ein  Mosaik  von  Originalzitaten,  die  durch 
deutsche  Zwischensätze  verbunden  werden,  zum  Vortrag  zu  bringen, 

^  H.  Bruder  d.  J.  Die  Verfassungen  der  Kirche  von  den  ersten 
Jahrzehnten  der  apostolischen  Wirksamkeit  an  his  zum  Jahre  175  n.  Chr. 
=  Forschungen  z.  christl.  Literatur  u.  JDogmengesch.  IV  1.  2.  Mainz, 
Kirchheim  1904. 

^  OriöavQos  r?Js  ögd'odo^Lag  Die  Bekenntnisse  und  die  wichtigsten 
Glaubenszeugnisse  der  griechisch -orientalischen  Kirche  von  Jon  Michal- 
cescu.    Eingeführt  von  Prof.  D.  Albert  Hauck.    Leipzig,  Hinrichs  1904. 

*  F.  Loofs  Leitfaden  zum  Studium  der  Bogmengeschichte,  4.  völlig 
umgearbeitete  Auflage.     Halle,  Niemejer  1906. 


Mitteilungen  und  Hinweise  533 

hat  L.  hier  zur  Meisterschaft  ausgebildet  und  zugleich  durch  ge- 
schicktere typographische  Anordnung  das  in  den  früheren  Auflagen 
Störende  beseitigt.  Die  bisher  erschienene  erste  Hälfte  reicht  bis 
zu  Thomas  v.  Aquin  und  enthält  somit  die  für  die  Leser  dieser 
Zeitschrift  wichtio^ste  Partie.  Hans  Lietzmann 


„Mutter  Erde"  im  Sanskrit 

Die  volkstümliche  Anschauung  von  der  „Mutter  Erde",  die 
uns  A.  Dieterich  kürzlich  näher  gerückt  hat,  und  die  Sitte,  die  Frau 
umgekehrt  auch  wieder  als  ein  Saatfeld  aufzufassen,  ist  auch  dem 
indischen  Altertum  eigen  und  tritt  uns  da  mehrfach  in  sicheren 
Spuren  entgegen,  und  zwar  großenteils  schon  in  den  Veden. 

a)  Zunächst  werden  Himmel  und  Erde  ausdrücklich  als  ein 
Ehepaar  hingestellt,  mit  der  Dualform  matara  (wörtlich  „die  beiden 
Mütter")  als  „die  beiden  Eltern"  bezeichnet  und  von  den  Sängern 
angerufen,  daß  sie  ihre  Kinder,  die  Menschen,  beschützen,  nähren 
und  fördern  sollen.  So  heißt  es  im  Rigveda  (nach  Graßmann): 
1,   159,  2.   3   (an  Himmel  und  Erde): 

„Und  mit  Gebeten  denk'  ich  an  des  Vaters  Geist, 
Des  gütigen,  und  an  der  Mutter  große  Macht; 
Die  samenreichen  Eltern  schufen  alles  Sein, 
Unsterblichkeit  den  Söhnen  weit  im  weiten  Raum. 
Und  diese  Söhne,  reich  an  Kunst  und  Wunderkraft, 
Gestalteten  sogleich  das  große  Elternpaar; 
Im  Umfang  dessen,  was  da  geht  und  steht,  beschützt 
Den  festen  Ort  des  Sohnes  ihr,  der  nimmer  täuscht." 

10,   64,   14  (an  alle   Götter): 

„Denn  Erd'  und  Himmel,  sie  die  großen  Göttinnen, 
Die  hehren  Mütter,  kommen  mit  der  Götter  Stamm, 
Mit  Nahrung  nährend  beide  beiderlei  Geschlecht, 
Und  strömen  durch  die  Väter  vielen  Samen  aus." 

9,  85,  12: 

„Gandharva  hat  des  Himmels  Höh'  erstiegen, 

Mit  hellem  Lichte  hat  sein  Glanz  gestrahlet, 
Die  Welteneltern  hat  erhellt  der  lichte." 

1,  89,  4  (an  die  Maruts): 

„Dies  Labemittel  wehe  uns  der  Wind  herbei, 
Die  Mutter  Erde  und  der  Vater  Himmel  dies, 
Die  Steine  dies,  die  somapressenden,  zum  Heil; 
Vernehmet  dies,  o  gabenreiche  Ritter,  ihr." 

6,  51,  5: 

„0  Vater  Himmel,  treue  Mutter  Erde, 
0  Bruder  Agni,  seid  uns  hold,  ihr  guten!" 

Archiv  f.  Eeligionswissenschaft  IX  35 


534  Mitteilnngen  und  Hinweise 

6,  70,   6:        ' 

„Die  Erd',  der  Himmel  mögen  stärken  unsre  Kraft, 
Als  Mutter,  Vater,  alles  schenkend,  tatenreich ! " 

6,  72,  2  (an  Indra-Soma); 

„Das  Morgenrot  erhellt  ihr,  Indra-Soma, 
Und  führt  herauf  mit  ihrem  Licht  die  Sonne, 
Den  Himmel  stütztet  ihr  mit  fester  Stütze 
Und  dehntet  weithin  aus  die  Mutter  Erde." 

Ein  Lied  (l,  160)  preist  beide  sogar  in  einem  merkwürdigen, 
echt  altindischen  Vergleich,  den  Himmel  als  „den  samenreichen 
Stier",  die  Erde  als  „bunte  Kuh". 

Noch  öfter  aber  wird  einfach  nur  die  „Mutter  Erde"  für 
sich  erwähnt;  so  z.  B.:  10,  62,  3  (an  die  Angiras): 

„Die  fromm  die  Sonne  setzten  hoch  am  Himmelszelt, 
Und  die  die  Mutter  Erde  weithin  breiteten, 
0  Angiras,  euch  werde  reicher  Enkel  Schar!" 

3,  8,  1   (an  die  Opfersäule,  den  „Waldesherrn"): 

„Es  salben  dich  beim  Fest  die  frommen  Männer, 
0  Waldesherr,  mit  süßer  Götterspeise; 
Verleih  uns  Schätze,  wenn  du  aufrecht  dastehst, 
Und  wenn  du  ruhst  im  Schöße  dieser  Mutter!" 

5,  42,  16: 

„Die  Erde,  Luft,  die  Bäume  und  die  Kräuter  alle 
Erreiche  dieses  Loblied,  Reichtum  schaffend; 
Ein  jeder  Gott  erhöre  recht  mein  Rufen, 
Nicht  geb'  uns  hin  der  Ungunst  Mutter  Erde." 

Ähnlich  drücken  sich  spätere  Schriften  aus,  am  deutlichsten 
noch  Manus  Gesetzbuch  (Sacred  Books  of  the  East  XXV,  nach 
Bühlers  englischer  Übersetzung)  2,  225  f.: 

„The  teacher,  the  father,  the  mother  and  an  eider  brother  must  not 
be  treated  with  disrespect,  especially  by  a  Brähmana,  though  one  be 
grievously  offended  (by  them);  [226:]  The  teacher  is  the  image  of 
Brahman,  the  father  the  image  of  Prajäpati  (*the  lord  of  created  beings'), 
the  mother  the  image  of  the  earth." 

Etwas   verschleierter   heißt   es    im  Satapathabrahmana  (Sacred 
Books  XLI  nach  J.  Eggelings  Übersetzung)  5,  2,  1,  18: 

„Thereupon,  while  looking  down  upon  this  (earth),  he  mutters: 
'Homage  be  to  the  mother  Earth!  Homage  be  to  the  mother  Earth!' 
For,  when  Brhaspati  had  been  consecrated,  the  earth  was  afraid  of 
him;  —  Hence  he  entered  into  a  friendly  relation  with  her;  for  a  mother 
does  not  hurt  her  son,  nor  does  a  son  hurt  his  mother." 

5,  4,  3,  20:  „Looking  down  on  this  (earth),  he  then  mutters:  0 
mother  Earth,  injure  me  not,  nor  I  thee!    For  the  earth  was  once  afraid 


J 


Mitteilungen  und  Hinweise  535 

of  Varuna.  —  —  Hence  by  that  (formula)  he  entered  into  a  friendly 
relation  with  her;  for  a  mother  does  not  injure  her  son,  nor  does  a 
son  injure  his  mother." 

In  Boehtlingks  Sammlung  Indischer  Sprüche  femer  steht 
(12163,  24786): 

„0  Mutter,  Erde,  Vater  Luft,  Freund  Feuer,  lieber  Schwager 
Wasser,  Bruder  Äther,  zum  letzten  Male  lege  ich  jetzt  ehrfurchtsvoll 
die  Hände  zusammen." 

Endlich  erklären  Wörterbücher  den  Ausdruck  „Mutter" 
(mätar-)  geradezu  mit  „Erde"  (prtJiwi). 

b)  Die  umgekehrte  Anschauung  dagegen,  daß  die  Frau  ein 
Ackerboden,  ein  Saatfeld  sei,  knüpft  sich,  soweit  ich  das  jetzt 
ohne  weitere  Nachforschung  übersehen  kann,  an  zwei  auch  in  ihrem 
gegenseitigen  Verhältnis  bemerkenswerte  Ausdrücke  an:  der  eine 
(hija-m  n.),  eine  Bezeichnung  für  den  „Samen",  wird  ohne  Unter- 
schied von  Pflanzen,  Tieren  und  dem  Manne  gebraucht;  der  andere 
(Ksetra-m  n.),  von  Hause  aus  die  Benennung  lür  eine  „Nieder- 
lassung" und  etymologisch  im  Stamm  dem  griech.  KtiGig  ent- 
sprechend, gibt  ursprünglich  die  Begriffe  „Grundbesitz,  Grundstück, 
Feld"  wieder,  dann  aber  übertragen  auch  die  Begriffe:  „der  frucht- 
bare Mutterleib;  das  als  Feld  gedachte  Eheweib,  welches  der 
Ehemann  selbst  bestellt  oder  durch  einen  anderen  bestellen  läßt"; 
indische  Wörterbücher  (Amarakosa,  Hemacandras  beide  Sammlungen, 
der  Medinikosa)  erklären  diesen  zweiten  Ausdruck  darum  auch 
kurzweg  durch  Wörter,  die  „weibliche  Scham"  (hJidga-)  oder 
„Schoß,  Mutterleib,  vulva"  (yöni-  mf.)  oder  „Gattin"  Qjätm  f.) 
bedeuten.  Ableitungen  von  diesem  Worte  sind  auch  häufig  ge- 
braucht: paraksetra-m  n.  „eines  Fremden  Acker,  eines  anderen 
Weib,"  besonders  aber  ksetraja-s  „feldgeboren",  d.  h.  „ein  mit  der 
Frau  eines  kinderlosen  Mannes  durch  einen  anderen  rechtmäßig 
erzeugter  Sohn". 

Wir  verzeichnen  die  wichtigsten  der  uns  zu  Gebote  stehenden 
Belege. 

Das  Wort  für  „Same"  kommt  in  der  hier  betrachteten  sinn- 
lichen Verwendung  mit  Bezug  auf  ein  Weib  schon  im  ßigveda  vor, 
freilich  in  einem  der  spätesten  Teile  und  auch  noch  in  einem  ein- 
geflickten Verse,  nämlich  10,  85,  37  (und  entsprechend  Atharvaveda 
3,  23,  4);  hier  heißt  es  (nach  Graßmanns  Wortlaut,  mit  dem 
übrigens  Ludwig  im  wesentlichen  übereinstimmt): 

„(Schaffe  uns,  0  Pusan,  diese  heilbringendste  herbei,) 
In  die  die  Menschen  ihren  Samen  streuen." 

Viel  häufiger,  dafür  aber  auch  erst  viel  später  ist  der  Aus- 
druck „Saatfeld"   im  Sinne   von  „Mutterleib"   belegt;   er   gehört 

35* 


536  Mitteilungen  nnd  Hinweise 

der  Rechtsspraclie  an  und  begegnet  darum  auch  in  allen  Rechts- 
büchern.  Diese  Rechtsbücber  setzen  die  Vorstellung  von  der  Mutter 
Erde  ohne  weiteres  voraus  und  brauchen  nicht  nur  die  uns  hier 
angehende  Wortsitte,  sondern  verdeutlichen  auch  das  Eherecht 
(Beischlaf  mit  der  Schwägerin,  Ehebruch  u.  dgl.)  und  das  Erbrecht 
fortwährend  durch  Vergleiche  aus  dem  Pflanzenleben. 

Bei  Manu  heißt  es  (wieder  nach  Bühlers  englischer  Über- 
setzung in  Sacred  Books  of  the  East  XXV)  9,  33: 

„By  the  sacred  tradition  the  wo  man  is  declared  to  be  the  seil, 
the  man  is  declared  to  be  the  seed;  the  production  of  all  corporal 
beings  (takes  place)  through  the  union  of  the  soil  with  the  seed." 

9,  37:  „This  earth  indeed  is  called  the  primeval  womb  of  created 
beings,  but  the  seed  develops  not  in  its  development  any  properties  of 
the  womb." 

9,  166:  „Him,  whom  a  man  begets  on  his  own  wedded  wife 
(wörtlich:  'im  eigenen  Saatfeld  bei  der  rechtmäßigen  Gattin'),  let  him 
know  to  be  a  legitimate  son  of  the  body,  the  first  in  rank." 

3,  175:  „But  those  two  creatures,  who  are  born  of  wives  of  other 
men  (wörtlich:  'im  Fremdacker')." 

9,  51:  „Thus  men,  who  have  no  marital  property  in  women,  but 
sow  their  seed  in  the  soil  of  others,  benefit  the  owner  of  the  woman; 
but  the  giver  of  the  seed  reaps  no  advantage;"  usw. 

Närada  (Sacred  Books  XXIII,  übersetzt  von  J.  JoUy)  sagt 
12,  55: 

„When  seed  is  strewn  on  a  field  without  the  knowledge  of  the 
owner ,  the  giver  of  the  seed  has  no  share  in  it ;  the  fruit  belongs  abso- 
lutely  to  the  owner  of  the  field." 

12,  59:  „Grrain  cannot  be  produced  without  a  field  nor  can  it  be 
produced  without  seed;  therefore  ofFspring  belongs  by  right  to  both, 
the  father  as  well  as  the.  mother." 

Närada  in  Day.  82: 

„Wessen  Samen  auf  einem  von  dem  Ehemann  abgetretenen  Saat- 
feld ausgegossen  wird,  dessen  Nachkommenschaft  gilt  als  herrührend 
von  zwei  erzeugenden  Ehemännern." 

Yajnavalkya  2,  127: 

„Ein  Sohn  durch  einen  Kinderlosen  auf  Geheiß  erzeugt  in  einem 
fremden  Saatfeld." 

Endlich  steht  auch  im  Mahabharata  z.B.  (l,  4661): 

„Wie  auch  ich  in  des  Vaters  Saatfeld  erzeugt  durch  einen  großen 
Sangesheiligen  (großen  Rischi)." 

Zwei  vedische  Stellen  sind  leider  zweifelhaft;  die  eine, 
Rigveda  1,  119,  7,  nach  Graßmanns  Fassung: 

„Ihr  Helfer  habt  den  altersschwachen  Vandana, 
Wie  künstlich  einen  Wagen,  neu  zurecht  gemacht. 
Gezeugt  den  Sänger  aus  dem  Boden  wundersam; 
Dem  Frommen  hier  sei  hilfreich  eure  Wundermacht!" 


Mitteilungen  und  Hinweise  537 

deutet  ein  alter  Erklärer,  Säyana,  in  unserem  Sinne;  in  der 
anderen,  Atharvaveda  11,  1,  28,  wäre  dagegen  nach  V.  Henrys 
Auffassung  „Saatfeld"  im  eigentlichen,  nicht  in  dem  übertragenen 
Sinne  gebraucht;  darum  übersetzt  er:  „Le  (fruit)  mür  de  mon  champ, 
c'est  ma  (vache),  qui  se  laisse  traire  a  souhait." 

L.  Sütterlin 


In  zwei  fast  gleichzeitig  erschienenen  neuen  Arbeiten  „Die 
Sage  vom  ewigen  Juden  in  der  neueren  deutschen 
Literatur"  von  Dr.  Johann  Prost,  Leipzig  1906  (Georg  Wigand) 
und  „Ahasver-Dichtungen  seit  Goethe"  von  Albert  Soergel 
(Probefahrten.  Erstlingsarbeiten  an  dem  Deutschen  Seminar  in  Leipzig. 
Herausgegeben  von  Albert  Köster.  Sechster  Band.  Leipzig  1905. 
R.  Yoigtländer)  wirci  wieder  einmal  die  künstlerische  Entwickelungs- 
geschichte  eines  Stoffes  verfolgt,  der  neben  der  Faustsage  vielleicht 
am  nachhaltigsten  die  Einbildungskraft  der  Dichter  und  des  Publi- 
kums angeregt  und  gereizt  hat,  ohne  allerdings  wie  die  letztere  durch 
eine  geniale  Konzeption  zu  einem  äußeren  Abschluß  in  seiner  Gestaltung 
gelangt  zu  sein.  Für  die  Religionswissenschaft  wäre  die  Ahasversage 
kein  ungeeignetes  Versuchsobjekt,  um  den  Prozeß  der  Legenden-  und 
Sagenbildung  zu  verfolgen,  soweit  er  in  heller  historischer  Zeit  durch 
die  literarische  Formung  beeinflußt  wird.  Wie  kümmerlich  sind  die 
Wurzeln  der  Ahasverlegende ,  und  wie  ist  sie  allmählich  zu  einem 
weitverzweigten  Stainme  legend  arischer  und  sagenhafter  Motive  an- 
gewachsen, an  dem,  von  allen  Seiten  sich  entwickelnde  Überlieferungen 
apologetische  und  zeitgeschichtliche  Tendenzen,  immer  neue  Jahres- 
ringe bilden.  Diesen  Problemen  gehen  selbstverständlich  beide  der 
obengenannten  Arbeiten  nicht  nach,  aber  die  zweite  von  Soergel, 
die  in  jeder  Beziehung  —  wissenschaftlich  und  formal  —  der  von 
Prost  weit  überlegen  ist,  geht  ihnen  wenigstens  nicht  ganz  aus 
dem  Wege,  streift  sie  in  den  ersten  Kapiteln  „Die  Sage",  und 
„Ahasver  in  der  Volksdichtung"  und  verliert  sie  auch  im  Laufe 
der  Darstellung  nicht  völlig  aus  den  Augen.  —  Die  unmittelbaren 
kirchengeschichtlichen  und  theologischen  Beziehungen  zu  „Goethes 
Fragmenten  vom  ewigen  Juden  und  vom  wiederkehrenden  Heiland" 
hat  schon  vorher  Jakob  Minor  (Stuttgart  1904)  dargestellt,  der 
in  drei  Kapiteln  die  Vorgeschichte,  die  Goetheschen  Fragmente 
und  die  Nachgeschichte  dieser  Bruchstücke  behandelt  und  zur  Er- 
klärung die  theologischen  Zeitfragen  heranzieht.  Eine  Reihe  von 
Einwänden  und  Bedenken  gegen  Minors  Darstellung  hat  Ernst 
Traumann  in  seiner  ausführlichen  Rezension  dieses  Buches  (Lite- 
raturblatt für  germanische  und  romanische  Philologie  1905  Nr.  7) 
veröffentlicht.     Immerhin    ist    durch    alle    diese  Publikationen    das 


538  Mitteilungen  und  Hinweise 

wissenschaftliche  Interesse  an  der  Legende  wieder  geweckt  worden, 

vielleicht    zieht  daraus    auch    die     Religionswissenschaft     einigen 
Nutzen.  M.  v.  Waldberg 


Sterbende  werden  auf  die  Erde  gelegt 

Über  diese  alte  Sitte  haben  in  der  letzten  Zeit  K.  Weinhold 
(Ztschr.  des  Ver.  für  Volkskunde  11,  221),  W.  Caland  und 
E.  Samter  gehandelt  (s.  die  Literatur  bei  A.  Dieterich,  Mutter 
Erde,  1905,  S.  26  f.).  Ich  vermisse  bei  den  genannten  Autoren 
einen  Hinweis  auf  die  Ausführungen  von  R.  Cruel  in  seiner 
Geschichte  der  deutschen  Predigt  im  Mittelalter,  Detmold  1879. 
An  zwei  Stellen  spricht  Cruel  von  der  alten  Sitte.  Auf  S.  239 
sagt  er:  „Wenn  des  Kranken  letzte  Stunde  nahe  schien,  so  wurde 
er  vom  Bette  aufgehoben  und  auf  einer  ausgebreiteten  Decke  auf 
die  Erde  gelegt,  um  hier  zu  sterben.  Bei  Laien  war  es  zugleich 
Sitte,  ihm  eine  geweihte  Kerze  in  die  Hand  zu  drücken^,  was  in 
einzelnen  katholischen  Gegenden  noch  heute  geschieht.  Auf  der 
Erde  zu  sterben  galt  als  gleich  notwendig  für  Hohe  und  Niedere, 
Weltliche  und  Geistliche;  und  wenn  die  Anwesenden  nicht  dafür 
sorgten,  befahl  es  der  Kranke  oft  selber.  Rührend  lautet  es  daher 
in  den  einfachen  Klostergeschichten  des  Cäsarius  von  Heisterbach, 
wenn  der  sterbende  Bruder  im  Infirmitorium  seine  Pfleger  mahnt: 
Sternite  mattam  et  pulsate  tabulam!  breitet  die  Decke  aus  und 
schlagt  die  Tafel!  Letztere  diente  statt  der  Glocke^,  um  den 
Konvent  zusammenzurufen,  der  dann  am  Sterbelager  Gebete  las 
und  Psalmen  sang,  bis  der  Tod  eingetreten  war.  Ebenso  heißt 
es  von  der  Königin  Mathilde  (f  968):  Als  aber  die  neunte  Stunde 
kam,  befahl  sie,  ein  grobes  Tuch  auf  den  Boden  zu  breiten  und 
ihren  sterbenden  Körper  darauf  zu  legen,  indem  sie  mit  eigener 
Hand  sich  Asche  auf  das  Haupt  streute.  'Denn  ein  Christ',  sprach 
sie,  ^darf  nicht  anders  als  in  Sack  und  Asche  sterben'.  Äbte  und 
Bischöfe  ließen  sich  vor  dem  Tode  gern  in  die  Kirche  tragen  und 

^  Cruel  hat  wohl  Stellen  im  Auge  wie  Caesarius  Heisterbacensis 

Bialogus  miraculorum  VII,  22:  Nobilis  vir  Otto febre  invales- 

cente  desperatus,  et  depositus,  candela  more  saecularium  manui 
eius  impressa,  omnibus  qui  aderant  visus  est  exspirasse;  VIII,  74: 
cum  ....  quasi  iam  morituro  data  fuisset  candela  in  manu. 
Sonst  vgl.  zu  der  „Sterbekerze"  z.  B.  Rochholz  Deutscher  Glaube  iind 
Brauch  1,  167:  Samter  in  den  Neuen  Jahrbb.  f.  d.  klass.  Altertum  1905, 
I,  S.  34 ff. 

*  Zu  der  von  Cäsarius  oft  erwähnten  Sterbe-  oder  Totentafel 
(tabula  morientium  s.  detunctorum)  vgl.  Ducange  s.  v.  4.  Tabula  und 
Jac.  Grimms  Kleinere  Schriften  4,  345;  auch  Martene  De  antiquis 
monachorum  ritibus  V.,  c.  IX,  §  24. 


Mitteilungen  und  Hinweise  539 

vor    dem    Altare    niederlegen,    uni    dort    ihre    Auflösung    zu    er- 
warten." 

Hierzu  gestatte  ich  mir  einige  Bemerkungen  und  Ergänzungen, 
da  Cruels  Zitate  aus  der  herangezogenen  Literatur,  wie  oft,  so 
auch  hier,  „spärlich  und  wenig  präzis"  sind^.  Die  Stelle,  die 
Cruel  aus  den  Klostergeschichten  d.h.  dem  Dialogus  miraculorum 
des  Cäsarius  von  Heisterbach  zitiert,  steht  daselbst  XI,  19,  wo 
der  Mönch  Allard  zu  seinem  Pfleger  Adam  spricht:  Stemite  mihi 
mattam,  et  pulsate  tabulam,  quia  Dominus  vocat  me.  Oder  Cruel 
meint  Dial.  XI,  5,  wo  ein  sterbender  junger  Laie  fast  dieselben 
Worte  spricht.  Sonst  vgl.  VII,  51,  Schluß.  XI,  6  (der  Laien- 
bruder Obertus  liegt,  wie  es  Brauch  ist,  auf  der  Decke  und 
haucht  seinen  Geist  aus.  Plötzlich  kehrt  er  ins  Leben  zurück  und 
wird,  auf  Befehl  des  Abtes,  wieder  ins  Bett  gebracht  —  repositus 
est  in  lectum  suum.  Ein  ganz  ähnlicher  Vorgang  wird  z.  B. 
auch  VII,  22  erzählt).  XI,  9.  16.  17.  25  (strata  matta,  se  in 
ea  reposuit,  et  per  tabulam  conventum  advocari  fecit).  XI,  36. 
Das  Niederlegen  eines  Sterbenden  auf  den  Boden  (deponere  ad 
oder  in  terram)  erwähnt  Cäsarius  im  Dialogus  VII,  22.  VIII, 
30.  XI[,  5.  Vgl.  auch  Ducange  s.  v.  Deponi  ad  terram  und 
E.  Martene,  De  antiquis  monachorum  ritibus,  Lugduni  1690,  lib.  V. 
c.  IX.  §  4.  7  —  9.  17.  31  (Etsi  nonnuUos  legamus  extremum  in 
lecto  spiritum  reddidisse,  [notandum]  communem  tamen  monas- 
teriorum  usum  habuisse,  ut  ad  terram  in  cinere  et  cilicio  depositi 
morerentur;  quam  jiraxim  plurimis  exemplis  confirmare  possumus). 

Was  Cruel  von  dem  Ende  der  Königin  Mathilde  erzählt, 
steht,  wie  er  selbst  angibt,  bei  Pertz,  Monumenta  VI  (Scriptorum 
tomus  IV.),  p.  301.  Die  Worte:  Non  decet  Christianum  nisi  in 
cilicio  et  cinere  mori  werden  auch  sonst  Sterbenden  in  den  Mund 
gelegt;  vgl.  die  Stellen  bei  Martene  a.  a.  0.,  §  31  und  bei 
Alteserra,  Origines  rei  monasticae  lib.  V.  c.  22  (Monachorum  mors 
in  cinere  et  cilicio),  in  Glücks  Ausgabe,  Halle  1782,  S.  503  ff. 

Daß  sich  Äbte  und  Bischöfe  beim  Herannahen  des  Todes  in 
die  Kirche  tragen  und  vor  dem  Altar  niederlegen  ließen,  wird 
oft  berichtet.  Cruel  selbst  erzählt  es  z.  B,  von  dem  Bischof 
Mein  werk  von  Paderborn  (f  1036)  auf  S.  94  seines  Buches. 
Andere  Beispiele  von  solchen,  „qui  supremum  in  ecclesia  spii'itum 
ad  aras  exhalare  voluerunt,"  bei  Martene  a.  a.  0.,  §  32  —  33. 

Auf  die  uns  beschäftigende  Sitte  kommt  Cruel  noch  einmal 
zurück.     Nachdem   er   aus    einer   Predigt   Gottschalk   Hollens^ 

^  Edward  Schröder  im  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  VII,   173. 

*  Hollen  starb  nach  1481.  Crane  bezeichnet  HoUens  Predigten  als 
„a  perfect  mine  for  the  study  of  mediaeval  superstitions '^  und  weist  u.  a. 
auch  gerade  auf  die  von  Cruel  exzerpierte  Predigt  I  Nr.  47  besonders 


540  Mitteilungen  und  Hinweise 

einen  die  mittelalterliche  Volksmedizin  betreflFenden  Auszug  ge- 
geben hat,  bemerkt  er  auf  S.  619:  „Interessant  ist  es  hier  zu 
beobachten,  wie  frühere  kirchlich  geheiligte  Sitten  allmählich  aus 
der  Öffentlichkeit  verschwinden,  dagegen  heimlich  im  Dienste  von 
Magie  und  Aberglauben  noch  fortleben.  So  haben  wir  gesehen, 
daß  es  in  der  ersten  Periode  [600  — 1200]  allgemein  frommer 
Brauch  war,  die  Sterbenden  vom  Bette  zu  heben  und  auf  dem 
Boden  liegend  ihre  Seele  aushauchen  zu  lassen.  Im  14.  Jahr- 
hundert wurde  dies  nach  und  nach  als  rohe  Grausamkeit  erkannt 
und  aufgegeben,  erscheint  aber  im  15.  Jahrhundert  unter  den 
Superstitionen.  Denn  wenn  ein  Kranker  nicht  sterben  kann,  heißt 
es  in  obiger  Predigt,  so  decken  abergläubische  Leute  das  Dach 
über  ihm  ab^  und  heben  ihn  aus  dem  Bette,  weil  sie  sagen,  daß 
die  Feder  irgendeines  Vogels  darin  sei,  die  ihn  zu  sterben  ver- 
hindere, aber  infolge  davon  töten  sie  ihn." 

Die  Worte  stammen,  wie  Cruel  S.  618  angibt,  aus  den 
Sermones  dominicales  super  Epistolas  Pauli  (Pars  I.  s.  hyemalis, 
Nr.  47)  des  Gottschalk  Hollen  oder  Holen.  Bemerkenswert  und 
in  der  Literatur  hier  vielleicht  zum  erstenmal  vorkommend  ist 
der  Glaube^,  daß  die  im  Bett  befindlichen  Federn  den  Kranken 
nicht  sterben  lassen.  Wie  dieser  Glaube  entstanden  ist,  zeigt 
Rochholz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch  1,  169:  „Aus  dem 
Heidenbrauche,  im  Verscheiden  auf  der  nackten  Erde  oder  auf  einem 
Bund  Stroh  liegen  zu  sollen,  hat  sich  die  Volksmedizin  ihre  weit- 
verbreitete Satzung  gebildet,  daß  man  auf  Federn  liegend 
nicht  sterben  könne.  Diese  Lehre  findet  sich  schon  in  den 
medizinischen  Schriften  des  16.  Jahrhunderts  und  hat  in  Ländern 
ohne  Salubritätsaufsicht  ihre  ausnahmslose  Geltung.  Wende  und 
Serbe  pflegt  jeden  Sterbenden  aus  dem  Bette  zu  nehmen  und  auf 
Stroh  zu  legen.^  Bei  Letten  und  Esten  wird  er  auf  die  Erde 
gelegt,    damit   man    ihm    so    'zum  Tode    verhelfe'.     Kruse ^   mußte 

hin.  {The  Exempla  of  Jacques  de  Vitry  ed.  by  Th.  Fr.  Crane,  London 
1890,  p.  LXVIII.) 

^  Schwerlich  richtig.  Im  Original  lautet  die  Stelle  nach  dem 
Hagenauer  Druck  von  1519:  (Item)  cum  infirmus  non  potest  mori  coope- 
riunt  tectum  super  eum,  leuant  eum  de  illo  lecto:  dicentes  quod 
ibi  est  penna  alicuius  auis  que  non  permittit  eum  mori:  sed  per  conse- 
quens  occidunt  eum. 

^  Vgl.  sonst  Wuttke  §  723.  Weinhold  Ztschr.  d.  Vereins  für  VolJcs- 
Jcunde  11,  221.  Drechsler  Sitte,  Brauch  und  Volksglaube  in  Schlesien 
1,  290.  Irischer  Glaube  bei  Dieterich  Mutter  Erde  S.  27.  Grohmann 
Aberglauben  und  Gebräuche  aus  Böhmen  und  Mähren  1  Nr.  1317:  Auf 
Vogelfedern  stirbt  der  Mensch  sehr  schwer. 

^  Haupt- Schmaler  Wendische  Volkslieder  2,  251. 

*  Friedrich  Kruse  Urgeschichte  des  estnischen  Volksstammes,  Moskau 
1846,  S.  133. 


Mitteilungen  und  Hinweise  541 

dies  zu  Dorpat  an  seinem  eigenen ,  Diener  mitansehen,  der  krank 
von  dessen  Frau  aus  dem  Bette  gerissen  und  so  dem  Tode  tiber- 
liefert wurde." 

Nur  hätte  Eochholz  hinzufügen  sollen:  die  alte  Sitte  des 
„levare  de  lecto"  und  des  „deponere  ad  terram"  lebt  fort  in  der 
Sitte,  dem  Sterbenden  das  Kopfkissen  wegzuziehen,  um 
ihm  das  Sterben  zu  erleichtern.  Rochholz  selbst  erwähnt  die  Sitte 
S.  170  (mit  einer  wenig  einleuchtenden  Erklärung).  Sonst  z.  B. 
zu  vergleichen:  P.  Drechsler,  Sitte,  Brauch  und  Volksglaube  in 
Schlesien  1,  290.  E.  H.  Mejer,  Badisches  Volksleben  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  581:  Die  noch  hie  und  da  z.  B.  in  Köndringeu 
übliche  rohe  Gewohnheit,  dem  Kranken  das  Sterben  durch  plötz- 
liches Wegreißen  des  Kopfkissens  zu  erleichtern,  bekämpft  schon 
das  Mildheimer  Noth-  und  Hülfsbüchlein.^  Würzburg,  1790.  — 
Grohmann,  Aberglauben  und  Gebräuche  aus  Böhmen  und  Mähren 
I  Nr.  1316:  Wenn  man  auf  einem  Kissen  von  Hühnerfedern  liegt, 
kann  man  nicht  eher  sterben,  als  bis  das  Kissen  beiseite  geschafft 
ist.  —  Bei  den  Tscheremissen  wird  der  Federpfühl  beim  Eintritt 
des  Todeskampfes  unter  dem  Sterbenden  weggerissen  und  ihm 
Stroh  untergelegt,  weil  das  Wegwerfen  eines  Federpfühls  zu  kost- 
spielig sei  (Dieterich,  Mutter  Erde  S.  27;  nach  Caland).  Wenn 
Wuttke  §  723  sagt,  daß  man  mit  dem  Fortreißen  des  Kopfkissens 
vielleicht  die  Fäden  zu  durchreißen  meine,  die  den  Sterbenden 
noch  an  das  Diesseits  fesseln,  so  gilt  von  dieser  Erklärung  das- 
selbe, was  B.  Kahie  gegenüber  der  Erklärung  eines  anderen 
Brauches  sehr  richtig  bemerkt  hat:  Diese  Erklärung  ist  viel  zu 
abstrakt,  so  denkt  das  Volk  nicht  (Ztschr.  des  Vereins  für  Volks- 
kunde  11,  434,  Anm.).  Theodor  Zachariae 


Im  südlichen  Teile  der  Insel  Leukas,  etwa  eine  Stunde  nord- 
östlich von  Vasiliki,  liegt  auf  einer  Anhöhe  dieKapelle  des  heiligen 
Joannis  Rodakis,  die  auf  den  Fundamenten  eines  alt -dorischen 
Tempels  errichtet  ist,  den  Dörpfeld  bei  der  diesjährigen  Ausgrabungs- 
kampagne im  Juni  näher  untersuchte.  Bauern  hatten  ihm  von  den 
antiken  Überresten  Kunde  gebracht  und  zugleich  sie  als  von  einem 
Demetertempel   herrührend    bezeichnet;    auf  was   sich   letztere  Mit- 

^  In  der  mir  vorliegenden  Ausgabe  (Gotha  1825)  lautet  die  an- 
gezogene Stelle  auf  S.  18:  Damit  man  in  der  Zeit,  bis  die  sicheren 
Zeichen  des  Todes  kommen,  die  Kranken  nicht  etwa  aus  Unvorsichtig- 
keit ums  Leben  bringe:  so  muß  man  ihnen,  wenn  es  scheint,  als  wollten 
sie  sterben,  ja  nicht  das  Kopfkissen  wegziehen.  Dieses  ist  eine  sehr 
schlimme  Gewohnheit  usw. 


542  Mitteilungen  und  Hinweise 

teilung  stützte,  konnte  nicht  festgestellt  werden;  Inschriften  fanden 
sich  nicht.  Der  „heilige  Tisch"  der  Kapelle  besteht  aus  einem 
dorischen  Kapitell,  das  auf  einer  Säulenbasis  ruht,  beide  antiken 
Ursprungs.  In  der  Kapelle  werden  zwei  Pflugspitzen  aufbewahrt, 
von  der  Form,  wie  sie  heute  noch  dort  bei  den  Bauern  im  Ge- 
brauche sind,  jedoch  viel  kleiner  (die  größere  ca.  15  cm),  also 
Modelle;  möglich,  daß  sie  noch  von  den  Weihgeschenken  des  antiken 
Heiligtums  herrühren.  (Vgl.  die  beigegebene  Abbildung,  Tafel  III 
unten,  die  ich  der  Freundlichkeit  Dörpfelds  verdanke.)  Die  Bauern 
erzählten  uns,  daß  die  Weiber  nach  der  Geburt  eines  Mädchens  mit 
nackten  Füßen  über  diese  Pflugspitzen  schritten,  wobei  der  Papas 
ein  Gebet  spreche.  Dadurch  bewirke  man,  daß  das  nächste  Kind 
ein  Knabe  werde.^  Friedrieh  Pfister 


^  S.  Dieterich  Mutter  Erde  47,  78,  109.  Es  kommt  aber  in  diesem 
Brauch  noch  der  Glaube  hinzu,  daß  der  Pflug  =  Phallos  die  Erzeugung 
eines  männlichen  Kindes  in  den  Weibern  bewirkt,  die  über  ihn  treten. 


[AbgescMosson  am  23.  Oktober  1906.] 


blösung    von    Menschen- 
opfern 4;  397  ff. 

Abendröte  1;  107  f.;  112 

l^bortio  315  f. 

^dam,  androgyn  172  ff. ; 
Adam  u.  Ih^a  75;  169  ff. 

Ä^derlaß  254 

idonisfest  u.  Verwandtes 
459  f. 

S^gyptisches  27 ff.;  143 ff.; 
318,5;  481  ff. 

Ä.hrenbeschwörung  461 

A-equitas  304  ff. 

Ä-frikanisches  6;  16;  19; 
211,1;  250;  505 

A-grarisches  in  griecb.  Re- 
ligion 87  ff. 

Ahnenkult  431 

Kidotcc  apotropäisch  264 

Mchemie  59  f. 

Ä-lexander  von  Abonotei- 
chos  146 

Ä-lexandria  u.  Hermetik  50ff. 
MXs^Uaxog  93  f. 
lAlgonkinindianer  121  ff. 
TAlkman  43f.;  397 
iiTseelen  387 
ites    wird    heilig"     als 
j  heorie  100  f. 
i  1  estamentliches     159  ff. ; 
176 ff.;  500 ff. 

A  merikanisches  15 ;  1 7  ff. ; 
'6ff'.;108ff.;114ff.;289f. 
.mon  29,1;  50  f. 

Amulette  439 

Au  alogiezauber  9  7  f. 

Androgyne  Gottheiten  91  f.; 
—  Wesen  172  ff. 

Aiiimismus  263;  430  ff. 

moooL  312 ff. ;  —  auf  Su- 
matra 431 

Aphrodite  Tpid-vgos  189;  195 


Eegister 

Von  Otto  "Weinreich 

Apokalypsen  313  ff. 

Apollo  28;  45;  47;  89;  92; 
151;  156 f.;  232 ff.;  288 f.; 
304 ff.;  319;  —  in  Arka- 
dien 45 

Apotheriose  50 

ara  genesis  147;  —  Pacis 
309,6;  311 

Arapohoindianer  123  ff. 

Ares  304  ff. 

Arkadien  33 ff.;  39 ff. 

Armenisches  75;  78;  84ff. ; 
^  368  f. 

ccQQTitcc  IsQoi  87  ff. 

Artemis  91  f.;  289;  304 ff.; 
—  Orthia  397;  399;  407 

Asklepios  47;  50 f.;  93 f. 

'asr  293  ff. 

Astrale  Elemente  in  der  alt- 
arabischen Religion  506  f. 

Astrologie  29,  2;  38,  i; 
185 ff.;  328 ff. 

Athene  87;  91;  304  ff. 

Atum  27 

Augenkrankheit  geheilt  253 

Augustus  303 ff.;  310 

Australisches  14  ff. 

avrox^ojv  89 

Av^o)  u  Verwandtes  91  f. 

a^LS  tavQE  yixX.  88 


Ba'al  sämün  326  ff. 

Babel  u.  Bibel  165;  167 f.; 

173 
Babylonisches  507 
Baldr  63 f.;  66 f. 
Baumgeister     435;     -gott- 

heiten  407 ff.;  -kult  266; 

407 ff.;  446 f.;  486;  -seele 

266;  s.  Seele 
Beerdigung  3;    118;   385  ff. 


Beischlaf,  rituell  122;  128 

Berührung ,  segenbringend 
145 

Bestattungsbräuche,  italie- 
nische 385  ff. 

Beten,  lautes  u.  leises 
185  ff. 

ßiaiod'dvcctOL  312  ff. 

Bild  im  Zauber  102;  495 

Bilderwand  in  der  grie- 
chisch-orthodoxen Kirche 
365  ff. ;  — :  Proskenion  des 
antiken  Theaters  382  f. 

Bildopfer  495  f. 

Blasen  von  Hörnern,  Po- 
saunen u.  ä.  beim  Welt- 
untergang 64 f.;  71 

Blasphemische  Gebete  195ff. 

Blut,  den  Toten  vergossen 
4;    16;    18;    22;     527ff.; 

—  ersetzt     durch    rote 
Farbe    4;    15 ff.;    526 ff.; 

—  im   Opfer  398 ff.;    — 
im  Sakrament  403  f. 

Blutbund  100;  102 
Blutschande  88;  93 
Boiotien  u.  Hermetik  57 
Borneo  262  ff. 

Braut  Christi  s.  Kirche;  — 
des  Maien  s.  Maibräuche 
Buchstabenzauber  290 f. 
Bulineger  16 
Bundeslade  als  Thron  517  f. 


Canabae  153  ff. 
Canabarii  153 ff.;  303 f. 
Celebes  433  ff. 
Chaldaei  185 ff.;  330 f. 
XSLQOvgylcci  s.  Onanie;   ein 

Gott  jjst^ovpyog  318 
XSQOvßiccicbs  viivo?  378  ff. 


544 


Register. 


Christliches  6;  63 ff.;  73 ff.; 

121  f.;  253 ff.;  302;  314 ff.; 

450 ff.;   466;    486;    538 ff. 
Christus  67 f.;  —  u.  Kirche 

73 ff.;    —   und    Thomas: 

Zwillinge  78 
Chthonie  338 f.;  342;  346 
Chthonisch  -  phallisch :  äls- 

^LTtccKog  93 
Clown  in  religiösen  Tänzen 

120 
collegia  iuventutis  157 
coloni  154  f. 

Commodus  323;  326;  335 
conceptio  immaculata   105 
Confraternitä    in    Neapel 

392  ff. 
Copia:  Tvxri  310 
Coraindianer  464  ff. 

Dadophorios  233  ff. 
Dämonen  vertrieben  439 
Dämonismus  435;  437  f. 
Daktylen  88  ff. 
Dankgebet,  antikes   189,  i 
Delphisches  231  ff. 
Demeter     87;     89;     91  ff.; 
304 ff.;    —  androgyn  91; 

—  Chthonia  339 
Despoina  91 
dicc[La6riy(06Lis  397  ff. 
Diana  150;  152 

di  nixi  92 

Dionysos   91;    231  ff.;   287; 

304 ff.;  403 f.;  407 
Dioskuren304ff.;  323;  327f. 
Diotima  43  ff. 
däiös-Ku  d-sol  309 
Dogmen  der  Hermetik  25  f. ; 

—  der  Karo-Batak  430 
Donar  23 

Doppelbeil  288 
Drachen  58;  78;  250  ff. 
Dreiheit  26;  29;   34 f.;  51; 

551;    92f.;    304ff.;    323; 

327;  331;  vgl.  Trinität 
SQmnEva  234 ff.;  494 
Dualismus ,      hermetischer 

25  ff.;     —     in     Religion 

412;  463 


Eier  im  Frühlingsritus 
456  ff. ;  —  im  Reinigungs- 
ritus 457 f.;  —  im  Zauber 
(Indonesien)  268 


Eileithyia  88;  90  f. 

Eißodot  im  antiken  Drama 
383;    —    in    griechisch- 
orthodoxer  Liturgie 
365 ff.;  375 ff. 

Ekstase  461  f. 

Embryo,  mumifizierter  beim 
Gotte  Bes  485,2 

Engel  300 

Entfleischung ,  künstliche 
13;   17ff. 

'EcpsöLcc  yga^iiata  197  f. 

Eratosthenes  52 f. 

Erde,  aufgeschlossen  449 

Erdmutter,  bei  Coraindia- 
nern467f.;470;473f.;476 

Erechtheus  88  f. 

"Egag  43 f.;  93 

Erschaffung  des  Menschen 
(im  Alten  Testament) 
160 ff.;  (in  der  Herme- 
tik) 31  ff.;  —  des  Para- 
dieses 159 ff.;  —  der  Welt 
(im  Alten  Testament) 
159 ff.;  (in  der  Hermetik) 
31  ff. 

Eschatologie,  arkadisch  her- 
metische 48  ff. 

Esel,  Symbol  der  Zeugungs- 
kraft 289 

Ethisches  316  ff. 

Eugammon,  Telegonie  41; 
48  ff. 

Euhemeros  51 ;  57,  2 

Euphemie  in  Algerien  522; 
—  in  griechischer  Reli- 
gion 88 f.;  —  bei  Yergil 
314 

exercitus  antiquus  220 

Exhumierung  der  Leichen 
18;  385  ff. 

Exkremente  102;  136;  146 

Exsuperatorius  mensis  324 ; 
326 

Färbung,  rituell  1  ff. ;  240  ff. ; 

473;  479;  526ff. 
Farben    bei  Coraindianern 

465  ff. 
Fasten  114;  118;  124 
Fastenspeise  258 
Fastnachtsreis  408 
Federn  (bei  Coraindianern) 

465 ff.;    —    hindern    den 

daraufliegenden  Kranken 

am  Sterben  540  f. 


Fell   eines   Tieres   verleiht 
dessen  Kraft. 9 7 

Fernwirkungen,    magisclid 
461  f.  I 

Fetisch  mit  Blut  bestrichen 
rot  gefärbt  19  ff. 

Fetischdienst  211,  i 

Fimbulwinter  61 

Finnisches  250 

Fisch,    gegessen,    verleihij 
Sprache     269;     —    ver^ 
schlingt  Menschen    105 
248  ff.  . 

Flötenblasen  bei  Coraindia- 
nern 475  f.  ' 

Fluchgold  59 

Flurumgang  460  f. 

Fortuna  151;  155 f.;  304 ff 

Frauenrock,  roter,  zauber 
kräftig  6 

Frau  Perchta  254 f.;  261 

Fruchtbarkeitszauber  6 ; 
117;  120;  122;  127ff. 
131;    458 ff.;    473 f.;    54! 

Frühlingsbräuche  280  ff. 
4450".;  -lieder  277  ff. 
445  ff-. 

gälä  u.  Verwandtes  1761 
Gastmahl  der  Heiligen  45« 
rfj  338  f. 
Gebet  s.  Beten ;  —  u.Zauber 

wort  97 ff.;  285 
Gebetszeiten  293  ff. 
Gebildbrote    258 f.;    282 f. 

472 
Geburt  verhindert  199 
Geburtszauber     6;      186  f. 

198 f.;  439;  542 
Geißelung  122;  405;  s.  Sux 

ILaGxiyaGig 
Geistaustragen  123 
Geister,   böse  263 ff.;   271 

436;  442;  —  gute  263 f. 

266 ;  270 ;  —  vertrieben  25- 
Genius  151;    153;    155; 

Augusti   304  ff. ;    —   un« 

Natura  353 ff.;  361  ff. 
Genossenschaften,  religiös 

114;    118;    120f.;    123fl 
St.  Georg  449;  451;  456 
Gericht  Gottes   zur  Nach 

mittagszeit  300  f. 
Germanien,  römisches  149fl 
Germanisches     61  ff.;     96 

201  ff.:  253 ff. 


Register. 


545 


espensterheer    202  ;    205 ; 
215  f. 

cstirnmythen    104;    251; 

440;  469;  476;  479 

ewänder,  bilder- 

gesclimückte    in    Poesie 

341;  345  ff. 

imle  (Saal)  69  ff. 

ips  223 ff.;  232 ff. 
ilaube  —  Aberglaube  414 
llaukos  3 60 f. 
Inostisches  30,  i ;  75 
lötterkampf  62  f. 
iöttertetras    28 f. 
irottesbegriff,  alttestament- 

licber  176  ff. 
Irannus  151  f.;  156 
Ti-uppenehe  87 f.;  90 


laar,    lockiges    147 f.;    — 

rotes  23 
laarschneidung  430 
ladesscbilderungeii   312  ff. 
lahn,  schwarzer  in  Reini- 
gungsriten 453;  457 
larier  201  ff. 

armonia  57  ff. 
Hauch,  zauberkräftig  102; 

145 

Heidengötter:  böse  Dämo- 
nen 68 
Heilgötter  151  f. 
Heilige    Handlung    234 ff.; 

494 
Heilzauber  6;    115;    117 f.; 

268;     272 ff.;    432;    435; 

439;    443;    461  f.;    466 f.; 

477;  479 
Heimdallr  64 f.;  71 
Helios  304  ff. 
Helle  214  f. 

Hephaistos  88;   93;    304 ff. 
Hera  92;  304  ff. 
Heraion  291 
Herakles  92 f.;  304 ff. 
Hermes  25 ff.;    216 f.;   289; 

318;     —     aymviog     153; 

157;  —  Trismegistos  50 
Hermetik     25  ff.;     332,    2; 

336 
Heros  ipid'VQog  189 
Hexe  23;  251  f. 
Himmelfahrt     der    Kirche 

83  f. 


Himmelskult  328;  333 

IgxoqIcc,  grammatischer  Ter- 
minus 41,  3 

Hockerstellung  der  Leichen 
13;  15f.;  113;  527 

Höhlen  der  Coraindianer 
465;  470 

Hörner,    apotropäisch   271 

Honos  304  ff. 

Horus  27 ff.;  483;  485 

Hund,  als  Totenführer  135; 
—  weißer,  geopfert  122 

Hupa  lOOf.;  112;  115ff. 


lason  250  f. 

Ikonostasis    s.    Bilderwand 

Indianer    18;     20  f.;    96  ff.; 

112;    114ff.;   147 f.;  405; 

464  ff. 
Indisches  6;  21  f.;  446 f. 
Indonesisches  262 ff.;  429 ff. 
Inselidole:  Mrixigsg  94 
Iphigeneia    4;     397;     406; 

410  f. 
Irisches  23 
Islamitisches  293 ff. 
Italienisches  5;  385  ff. 


Jagdzauber  100  f.;  102; 
117;  122 

Jahwae,  Sonnen-,  Wetter- 
gott 181  ff. 

Janustempel,  offen  219 

Jenseitsvorste]lungen,ägyp- 
tische  490 ff.;  —  auf  Ma- 
lakka 438;  —  auf  Su- 
matra 431;  —  der  Pa- 
ressi  17 

Jerusalem,  das  himmlische 
70f.;  84 

Jisrä'el  meteorisch  184 

Jüdisches  187  f.;  497  f.; 
500  ff. 

Julbier  259 

Jungfrau  von  Guadalupe 
467;  469;  474 

Juno  20;  150 

Juppiter  19  f.;  153  ff.;  — : 
Baal  326  ff. ;  —  und  Dios- 
kuren  323;  327 f.;  —  Do- 
lichenus  325 ff.;  —  opti- 
mus  maximus  153  ff.; 
310;  322;  —  summus 
exsuperantissimus  323  ff. 


Kadmos:  Kosmos  57  f. 

Kadosstämme  128  ff. 

Kaiserkult ,    römischer 
309  f. 

Kallimachos  52 

KaXXovT]  u.  Verwandtes  90 

kebhodh  Jahwae  u.  Ver- 
wandtes 176  ff. 

Ks^Qiödg  u.  ä.  288 

KsQxoiip:  Ks-Kgaip  89 

Ktylig  8.  Bilderwand 

Kind  und  Korn  122 

Kinder  kommen  aus  Bäu- 
men, Felsen  u.  ä.  42,2; 
58;   112;  116;  141 

Kirche:  Äon  73;  82;  — : 
Braut  Christi  7 6 ff.;  — 
Jungfrau  73ff. ;  —  Mutter 
73  ff. 

Kirke,  Todesgöttin  50 

Kleid   der   Gottheit   337  ff. 

Knotenzauber  513 

Köpfe,  sepulkrale,  rot  be- 
malt 7 

Körper,  geschwärzt  203 ff.; 
—  geweißt  223  ff. 

Körperöffnungen  des  Toten 
verstopft  14  f. 

Kopfkissen,  dem  Sterben- 
den weggezogen  541 

Köre  91;  93;  339  ff. 

K6q7]  KOöiiov  26;  34 f.;  38; 
44  ff 

Kornmutter  129;  131  f. 

Kosmogonie,     arkadisch- 
hermetische 30  ff. 

Krankheit  430  ff. 

Krankheitsboot  98 

Krankheitsdämonen  271  f. ; 
438 ;  —  ausgetrieben  254 ; 
435;  s.  Heilzauber 

Kreuze,  apotropäisch  255; 
290  f. 

Krieger,  geopfert  (Mexiko) 
135  ff. 

Kronos  schlangenumwon- 
den  146  f. 

Kuhtod  ausgetrieben  452  f. 

Kultus  99  ff.;  106;  110; 
284;  412 f.;  420 f. 

Kuß,  zauberkräftig  142; 
vgl.  102 

KvlXonodiüiv  88;  90 

KvQccvidsg  51  f. 

KvQriVT]  40  ff . ;  —  von  Kvqti  : 
Koqri  47 


546 


Eegister. 


Labdakiden  59;  88;  90 

Lade,    heilige   85 f.;    51 7 f. 

Ladon  33 f.;  45 f.;  47,  i 

Lagerterritoriuiii,römisclies 
153  If. 

Lampen  in  Gräbern  14 

Lar  304  ff. 

Larenkult,  seine  Anfänge 
529  f. 

Lazarus  imRegenzauber450 

Lebensrute  407  ff. 

Leber  178 ff.;  524;  —  Sitz 
der  Seele  178  f. 

Leberschau  180 

Leda  92;  —:  Leto  94 

Legen  auf  Erde:  gebären 
144 f.;  —  von  Neugebore- 
nen 112;  290;  —  von 
Sterbenden    112;    538  ff. 

Leichenkeller  391  f. 

Lesen,  lautes  und  leises 
190,1 

Liebeszauber  440 

Lied  277 ff.;  463 

Liturgie,  griechisch  -  ortho- 
doxe 365 f.;  375 ff. 

Livländisches  250 

lodges  124  ff. 

Logos,  hermetischer  25 ff.; 
34  ff. 

St.  Lucia  253  ff. 

Lugier  201  ff. 

Lustration  s.  Reinigung 

Liizon  443  ff. 

Lygos  406  ff. 


Männerkindbett  92;  101 
magus  185  ff. 
Maia  304;  307;  310 
Maibaum  u.  ä.    445  ff. ;    — 

brauche    445;     448;    — 

braut  u.  ä.  448  f. 
Maiduindianer  11 8  ff. 
Maiskuchen,prophylaktisch 

260 
Malakka  436  ff. 
Maria  75  ff. 
Marienbaum  486 
Martern  (rituell)  127 
ficcöxcchöfiög  146;  vgl.  3 
Maske  240  f. 
Massilia  305  ff. 
Medien  271  f. 
Menschenopfer  138 ;  397  ff. ; 

—  periodische  400  f. 


Menschgott  462 
Mephisto  23 

Mercuriusl52f.;  204ff.;  216 
Messiasvorstellung  auf  Lu- 

zon  443 
MrjTTiQ  87  ff. 
Methodologische  Fragen  in 

Religionswissenschaft 

277;  417  ff. 
Mexikanisches  96 f.;  106 ff.; 

133 ff.;  464 ff. 
Michael,  Erzengel  65,  i;  71 
Minerva  3 04  ff. 
Mithrasmysterien  326; 

331,  3 
Mitote  (bei  Coraindianern) 

467  ff. 
Mohammed  233  ff. 
Monatsnamen  324 
Mond   in  griechischer  Re- 
ligion 90;  244  f. 
Mondmythen  105  f.;  110 
Morgenröte  1 ;  107  f. ;  1 12  f. ; 

116;    131  f.;    134;    137  f.; 

142;  469;  475;  479 
Morgenstern     469  f. ;     474 ; 

476;  479 
Mumifizierung  388 ff.;  485 
Mutter    Erde    Ulf.;    508; 

533  ff. 
Mutterrecht  87  ff. 
Mysterien  93  f. 
Mythenwanderung  104; 

109  ff. 
Mythologie  u.  Philosophie 

34ff.;  93 
Mythus  106;  109  f.;  420  f. 


Jfachahmung  99 f.;  102 f. 

Nacht,  längste  253 ff. 

Nachtzeitzum  Kampf  201ff. ; 
224  ff. 

Nacktheit  203 f.;  473;  475; 
479 ;  —  apotropäisch  452 

Name  487;  502 f.;  ihn  aus- 
zusprechen gefährlich  15 ; 
—  verboten  270 

Namenwechsel  120;  289 

Nantosvelta  150  ff. 

Narrheit,  rituelle  125 

Natura  342 ff.;  —  vicaria 
Gottes  348 ;  351;  353 ;  355f 

Naturmythen  109  f.;  131 

Naturobjekte  zauberkräftig 
102 f.;  474  f 


Naturvölker  4;    6f ;   14 ff. 

89;  95 ff.;  262 ff.;  429 ff 

464  ff.' 
Nekyia  Vergils  312  ff. 
Neugriechisches  14 
Neujahrstagsbräuche  255  ff 
Neuseeländisches  4;  6 
St.  Nikolaus  257 
Novg  25 ff.;   —    dri^iovQvoq 

25ff.;  34f. 


Odinn  61  f;  423 

Odysseus  48 f.;  94 

Öl  zur  Salbung  143  f;  5091 

Oidipus  59 ;  88 ;  90 

Onanie  316  ff. 

Optativus ,  indogermani- 
scher 426 

Orakeltiere  266 f;  270;  443 

Orgiasmus  404 

Orgien,  dionysische  231; 
234  ff. 

Orphisches  312 ff.;  337 ff. 

Orthia  397  ff. 

Osiris486;491f;494f;517 

Ossuarien  390  f 

Osterbräuche  450 ;  452 ;  -eier 
8.  Eier;  -fest  476 

OvXog  ovEiQog  147  f. 


Päderastie,  im  Mittelalter 

343;  345;  350;  355;  362 
Pan     35ff.;     56;    318;     — : 

ndcov  94 ;  — :  Silvanus  150 
Pantheismus ,  hermetischer 

25  ff. 
TtavvTtiQtccrog  335 
TtdgsdQOL  92 
Parnasses  223  ff. 
Pax  304  ff. 
Pelasgos  47;  56;  58 
Peripatetische  Hermetik 

25  ff. 
Persephone  304  ff. 
Personennamen,  theophore 

487;  506 
Pestsegen  290  f 
Petrusapokalypse  314f ;  321 
Pfeile   (bei  Coraindianern) 

465  ff. 
Pfingstbräuche  445  f. 
Pflanzenseele  264;  266 
Pflügen,  erstes  458 f. 


Register. 


547 


iii^spitzen ,  zauberkräftig 

vi  2 
^':  Phallos  542,1 

Jlen:  Genii  94 
1  allisches  21;  87 ff.;  113; 
289; 404;  410;  435; 542, l 
iiP02J  (Alkman  frg.  23; 
61 B.*)  397  f. 
lokeer  223  ff. 
],ysis  342  ff". 

]ato  u.  Piatonismus  34 ff.; 
38;  318;  330;  342;  344 
iaton:  Plutos  93 
iimandres  2 8  ff. 
»Iiiisches  283;  449;  453 
»lynesisches      110;      168; 
170;  248  f. 

)ljtheismus      im      Alten 
Testament  165;  169 
)ros  43  ff. 

)seidon  304 ff.;  —  ^tJxtog 
91;  —  q}VTccXy.iog  91;  94 
)seidonios  329;  332 
)vg:  cpdXlog  88 
•oselenie    des   Menschen- 
geschlechts 38  ff', 
•oserpina  340 
ah,  Hymnus  auf  27 ff, 
abertät"  102  f.;   114;    118; 
122  f. 

iieblostämme  131  ff. 
appe,    als    Tod  453;    — 
statt  des  Menschen  401; 

—  statt  des  Toten   118 
ythagoreisches    50;    313; 

317 f.;  319,1 

|uellenverehrung  486 

agnarökmythus  61  ff. 
ationalisierung  religiöser 

Gebräuche  399  ff. 
egenbogen    als    Schlange 

440  f. 
!.egenzauber  98;  117;  121; 

125;     131;     450  f.;     471; 

479;  518  ff. 
Bgindömr  65 
einigungsriten  115  f.; 

425  ff. 

eligion,  über  ihr  Wesen 

411  ff. ;  —  u.  Kunst  101; 

—  u.  Zauberei  95;   97  f. 
aitus  278 ff.;  420 f. 
Röstung  des  Toten  14  f. 


Rollen  mit  Zauberformeln 
187;  198 

Rosenfest  446;  465 

Rosmerta  304  ff. 

Rot:  Farbe  der  Unterirdi- 
schen 23;  —  im  Toten- 
wesen Iff.;  525  ff.;  — : 
Leben  u.  Kraft  19 ff.;  526 

Rote  Erde  439 

Rudra  23 

Rückkehr  des  Toten  ver- 
hindert 3;  9;  15;  214 

Russisches  98;  252;  276 ff  ; 
409;  445  ff. 


Saat  u.  Zeugung  122 

Saatzauber  459  f. 

ZaßamQ'  334 

Sabazios  328,  3 

Sakrament  403  f. 

Salbung  s.  Öl 

Salus  151;  156  f. 

Sarg,  rot  bemalt  2;  —  mit 
rotem  Tuch  ausgeschla- 
gen 528 

Schamanen  20;  114f.;  119; 
271  f.;  433;  437 ff. 

Schicksalsfrauen  259  f. 

Schlaf:  Krankheit  480 

Schlag  mit  Gerte :  reinigend 
458;  —  mit  Lebensrute 
407  ff. 

Schlangenfett ,  zauberkräf- 
tig 96 

Schlangenkult  484  f. 

Schmachostern  408 

Schöpferwort  Gottes  und 
Zauberformel  165 

Schöpfungsberichte,  baby- 
lonische 168;  —  biblische 
159 ff.;  —  der  Fidschi- 
insulaner 170;  —  der 
Masai  505;  —  indone- 
sische 433;  440  ff. 

Schutzdämonen ,  rote  im 
Grab  8;  13 

Schwarze  Farbe  1;  —  im 
Totenwesen  6;  14;  201  ff. 

Schwarzer  Hahn  s.  Hahn 

Schwarzes  Heer  201  ff. ; 
222 

Schwedisches  254 ff.;  283 

Schweizer  Volkskunde  6 ; 
23 

Schwur  zur  'aar  Zeit  297 ff. 


Seelen  als  Gespenster  213  ff.; 

—  als  Tiere  212;   264  f. 

—  angelockt  268 f.;  431; 
434;  443;  —  gespeist 
255  ff. ;  —  im  Sturm  216  ff. ; 

—  von  Bäumen,  Tieren 
u.  a.  430 ff.;  —  vorzeitig 
geborener  Kinder  im  Ha- 
des 312 ff.;  —  zwei  im 
Menschen  264;  429  f. 

Seelenglaube  118;  211  ff.; 
4290". 

Seelenkult  255  ff. 

Seelenvogel  432;  438 

Seelenwanderung,    ein 
Wandermotiv  62 

Selbstmord  316  f. 

Selene  304  ff. 

Semitisches  100;  159  ff.; 
176ff.;187f.;  326ff.;482; 
489  f. 

Serbisches  283;  448 f.;  456 

Sieben  Metalle  49 ;  —  Vo- 
kale 146 

Siebente  Stunde  302 

Sintflutsagen  106  ff.;  119; 
121;  441;  443 

Sirona:  Salus  151f. ;  156 

Skeletteile,  rotgefärbt  9ff.; 
16  ff. 

Solarismus  103ff.;  176ff. 

Sol  invictus  3 25  f. 

Sonne,  aufgehende  bringt 
Frühling  283;  —  im 
Kampf  mit  Sternen  107; 
135;137f.;142f.;469;479 

Sonnenmythen  65;  104 ff.; 
115  f.;  134  f.;  137  ff.; 
141  f.;  251;  453;  469 

Sonnentanz  123  ff. 

Sonnenwende  132;  137  ff.; 
280  f. 

Speichel  102;  145 

Spendetag  256  ff. 

Sprache :  Resultat  des  Zau- 
berglaubens 102;  424ff. 

Statuen,  gesalbt  144 

Stäupung  der  Braut  409 

Steinfetisch  488 

Sterbende  auf  Erde  gelegt 
538 f.;  —  in  Kirche  ge- 
bracht 539 

Sterndämonen  479 

Sternmythen  104  ff.;  134  f.; 
137 ff.;  Ulf. 

Stierfell,  zauberkräftig  6 


548 


Register. 


Stoisches  54f.;  SHf.;  321; 
329 

Stundentafel  301 

Styxwasser,  zauberkräftig 
49 

Sucaelus  153  ff. 

Sucellus:  Silvanus  150  ff. 

Sueben  201;  205 

Sühngebräuche ,  indonesi- 
sche 266 

Sünde,  orphisch  318 f. 

Sünder  264 

Sumatra  429  ff. 

Supranaturalismus  165 

Symbolik  des  Vogels  283  f. 

Sympathiezauber  97  f. 


Tabu  267;  317 ff.;  510 
Tanz  im  Zauber  102 f.;  115; 

117;    119ff.;     274;     424; 

467  f. 
Tat  (Gott)  50  f. 
Tehöm:  Tiämat  167  ff. 
Telliaden    245  ff.;     Tellias 

223  ff. 
Testamentum  Adami  301  f. 

tSTQoi^V^   31,  2 

Teufel  ausgetrieben  452  f. 
Teufelskatze  258  f. 
Theater,  antikes  282 ff. 
Theistische    Vorstellungen 

auf  Malakka  441  f. 
Theotokos  78  f. 
Q'BG^ocpoQia  87  ff. 
Thessaler  223  ff. 
Thomasakten  76 ff. 
Thot  27  f. 
Thron:  Attribut  der  Kirche 

und  Mariae  85 ;  —  Jahves 

517  f. 
^vuv :  sexuelles  Rasen  88  f. 
Thyiaden  89;  234 ff. 
Tierkult,  ägyptischer  482  ff. 
Tieropfer  91;  139 


Tierseele  s.  Seele 

Titanen  232;  238 ff. 

TLTccvog  242  f. 

Tithor(e)a  227  ff. 

Tohu  va-Bohu  167;  169 

Totaustragen  453  f. 

Toter:  als  Vogel  18;  — 
gespeist  und  getränkt 
255  ff.;  455;  477;  — 
zauberkräftig  495  f. 

Totenklage  286 f.;  —  mahl 
454f.;  —  maske  435;  — 
Opfer  2  f.;  212  f.;  434; 
495 f.;  —  reich  214 f. 

Tragödie  und  Totenklage 
286  f. 

Traum :  Wanderung  der 
tendi  430 

Trinität  331 ;  s.  Dreiheit 


Umzüge  im  Frühlingsritus 
448  ff. ;  —  im  Reinigungs- 
ritus   452 f.;    456 f.;    461 

Ungarisches  251;  260f. 

Ussin:  St.  Georsr  456 


Vafthrudnismal  61  ff. 
Verbote    267;    270;    317  ff. 
Verbrennung  118 
Verkleidung  92 
Verlöbnis    mit   Kriegsgott 

210 
Vertauschung    der   Rollen 

der  Geschlechter  92 
Victoria  152 f.;  158;  304 ff. 
Vieh,  lustriert  456  ff. 
Viergöttersteine  158 
Virtus  304  ff. 
virtus,  theologisch  335 
Völuspa  61  ff.;  66 
Vogel     im     Frühlingsritus 

282 f.;  448;  450 f. 
Vollmondnacht  225ff. ;  244 f. 


Wahnsinn  406 
Wahrheit:  Götterspeij 

516f. 
Weib:  Saatfeld  535 f. 
Weiß    223 ff.;     —    weiW 

Heer    223 ff.;    —    Kleid 

230;  241;  447 
Weltei  168 
Welteiche  42 
Weltende  62  ff. 
Weltgericht  65  ff. 
Wetterzauber  439 
Wilde  Jagd  259;  217  ff. 
Wochentage  216 
Wodan  216  ff. 
Worte    bei    Coraindianern 

471 
Wütendes  Heer  217  ff. 
Wurfhölzer  495 

'TTtSQCCLQav  324;  335  zu 
334,6 

Zahlen,  heilige  487 

Zauber,  Begriff  und  Wesen 
95 ff.;  417 ff.;  —  sakra- 
mentaler 407  ff. 

Zauberformeln  495 ;  —  dem 
Toten  mitgegeben  490 f.; 
495 

Zaubergebet,    leises   197 f. 

Zauberkraft  96 ff. 

Z  aub  erspruch  1 1 5  ff . ;  — 
und  Gebet  9 7 ff.;  —  und 
Schöpferwort  Gottes  165 

zelä':  Rippe  od.  Seite?  175 

Zeus  30,  i;  42;  88f.;  92; 
304  ff.;  338;  349;  - 
Hochzeit  mit  Chthonie 
339;  —  vipiötog  334;  — 
Lykaios  41;  43;  47 

Zwei  Seelen  im  Menschen 
und  gewissen  Tieren  264; 
429  f. 

Zwölf  Götter  s.  Smdsxa 


Druck  von  B.  G.  Toubner  in  Dresden. 


Tafel  III 


Friedr.  Pf  ist  er,  Altar  der  Kapelle  des  h.  loannis  Rodakis. 


Archiv  für  Religionswissenschaft  IX.     3/4. 


BL 

A8 

Bd. 9 


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