BINDIMLISTAUG 151923
AROHIV
FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFT
UNTER MITREDAKTION VON
H. OLDENBERGl C. BEZOLD K. TH. PEEUSZ
HERAUSGEGEBEN VON
ALBRECHT DIETERICH
NEUNTER BAND
MIT 3 TAFELN
v-^
1906
DRUCK UND VERLAG VON B. Q. TEUBNER IN LEIPZIG
6jL
K
Inhaltsverzeiclmis
I Abhandlungen g^ite
Rot und Tot Von Friedrich von Duhn in Heidelberg. ... 1
Hermes und die Hermetik Von Th.Zielinskiin Petersburg [Schluß] 25
Der Ragnarökmythus Von B. Kahle in Heidelberg [Schluß] . 61
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter Eine Studie
über den Ursprung des Mariendienstes Von F. C. Conybeare,
M. A., F. B. A. in Oxford Aus dem Englischen übersetzt von
Ottilia C. Deubner [Schluß] 73
Mi^triQ Bruchstücke zur griechischen Religionsgeschichte Von
Hans von Prott 87
Die Schutzgötter von Mainz Von Alfred von Domaszewski in
Heidelberg 149
Die biblischen Schöpfungsberichte Von Friedrich Schwally in
Gießen 159
Die solare Seite ^es alttestamentlichen Gottesbegriffes Von
K. Völlers in Jena 176
Lautes und leises Beten Von Siegfried Sudhaus in Kiel . . 185
Feralis exercitus Von Ludwig Weniger in Weimar 201
Walfischmythen Von L. Radermacher in Münster 248
St. Lucia, auf germanischem Boden Von M. Höfler in Bad Tölz 253
Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam Von L Goldziher
in Budapest 293
Die luppitersäule in Mainz Von Alfred von Domaszewski in
Heidelberg 303
"Atogoi ßLaioOdvarot Par Salomon Reinach ä Paris 312
Jupiter summus exsuperantissimus Par Franz Cumont äBruxelles 323
Der Gottheit lebendiges Kleid Von Marie Gothein in Heidelberg 337
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche Von
Karl Holl in Berlin 365
Leichenbestattung in Unteritalien Von H. Braus in Heidelberg . 385
Orthia Von Anton Thomsen in Kopenhagen 397
Mythologische Fragen Von Richard M. Meyer in Berlin . . . 417
IV Inhaltsverzeichnis
II Berichte g^.,^
1 Religionen der Naturvölker: Allgemeines, Amerika Von
K. Th. Preuß in Berlin 95
2 Religionen der Naturvölker: Indonesien Von Dr. H. H. Juynboll
in Leiden 262. 429
3 Russische Volkskunde Von Ludwig Deubn er in Königsberg 276. 445
4 Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer Reisebericht
von K. Th. Preuß in Berlin 464
5 Ägyptische Religion (1904 — 1905) Von A. Wiedemann in Bonn 481
6 Alte semitische Religion im allgemeinen, israelitische und
jüdische Religion Von Friedrich Schwally in Gießen . . 500
III Mitteilungen und Hinweise
Von W. Spiegelberg (Die Symbolik des Salbens bei denÄpyptem) 143;
(Der Ausdruck „auf die Erde legen" = „gebären" im Ägyptischen)
144; R. Wünsch (Brauch der römischen Kinderstube) 145; H. Hep-
ding (iiaaxccXLGuos) 146; L. Deubner (Orakelvers) 146; (Mithraeum
von Emerita) 146; Albrecht Dieterich {Ovlog ovsLQog) 147.
Von M. P. Nilsson (Totenklage und Tragödie) 286; G. Kazarow (Thra-
kisches) 287; L. Deubner (Zeremonie der Tupi) 289; (Niederlegen
des neugeborenen Kindes auf die Erde) 290; A. Becker (Pestsegen)
290; L. Deubner (Bronzestatuette im Opisthodom des Heraion) 291.
VonW. Spiegelberg (Zur Inschrift von Speos Artemidos) 516; F. Münzer
(Zum Jahvethron) 517; C. Brockelmann (Ein syrischer Regen-
zauber) 518; C. Bezold (Orientalische Studien Th. Nöldeke ge-
widmet) 520; A. Sonny (Rote Farbe im Totenkult) 525; W. Warde
Fowler (A Note on the controversy as to the origin of the Lares)
529; Hans Lietzmann (Blaß über die Textkritik im Neuen Testa-
ment, Clemens Paulus, Bruder über die Anfänge der Kirchen-
verfassung, Michalcescu Neudruck der Monumenta fidei ecclesiae
Orientalis, Loofs' Dogmengeschichte 4. Aufl.) 530; L. Sütterlin
(„Mutter Erde" im Sanskrit) 533; M. v. Waldberg (Arbeiten über
Ahasver) 537; Theodor Zachariae („Sterbende werden auf die
Erde gelegt") 538; Friedrich P fister (Pflugspitzen am Altar
einer Kapelle auf Leukas) 541.
Register Von Otto Weinreich 543
I Abhandlungen
Rot und Tot
Von Friedrich von Duhn in Heidelberg
Zwei Worte, die der Volksmund gern im Gegensatz an-
wendet. „Außen rot, innen tot", „Heute rot, morgen tot";
„Bist Du rot, denk an den Tod"; „van Dage rot morgen dod";
Walter: „diu werlt ist uzen schoene wiz grüen unde rot und
innen swarzer varwe, vinster sam der tot". Der Gegensatz
wird mitunter bitter ironisch: „A wird su rut, wie enne tudte
Leche" (scMesiscli). Oder aber es entwickelt sich aus ihm ein
kausales Verhältnis: „Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum
frühen Tod". Glühendes Abendrot bedeutet im Volksglauben
vielfach, einst mehr als jetzt, Krieg, Unglück, Pestilenz, kurzum
Todbringendes. In diesen Beispielen führt der Gegensatz schon
wieder zu einer Verbindung: das Schwarz steht dem Rot so
gegenüber, daß es wie eine notwendige Folge des Rot erscheint.
Rouge et noir, Glück, Leben einerseits, Schwarz, Tod ander-
seits erscheinen eng verbunden, bilden zusammen gewissermaßen
ein unlösbares Ganzes. Was rot ist, muß schwarz und tot
werden, und was schwarz und tot ist, behält das Sehnen,
wieder rot zu werden. In diesen Zügen des primitiven Denkens
liegt in nuce der Schlüssel zum ganzen Totenritual. Und das
bei den meisten Völkern, namentlich bei den Naturvölkern,
heute noch völlig klar, wenn auch bei den höheren vielfach
nur noch rudimentär und nur durch Zurückgehen auf Früh-
stufen verständlich.
ArcMv f. Eeligionswissenscliaft IX 1
2 Friedrich von Duhn
Dies alles sind eigentlict selbstverständliclie Dinge, aber
notwendige Voraussetzungen zum folgenden. Weit verbreitet,
von mir selbst und anderen oft beobachtet, ist im Mittelmeer-
gebiet die Sitte, das Innere von Behältnissen, in die der Tote
oder seine Reste gebettet wurde, rot auszumalen, und zwar
stets mit einem Zinnober- oder Mennigrot, der Farbe des Blutes
vergleichbar. So sind mir inwendig rot gemalte Bretter von
Holzsärgen bekannt aus Athen, Kyme, Karthago, Cadix; so
gibt es unter den klazomenischen Sarkophagen aus Ton solche,
die im Inneren rot ausgemalt sind; so sind aus Syrakus,
Gela und Akragas inwendig rote Steinsarkophage des 5. Jahr-
hunderts vorhanden; so sind aufgemauerte Steingräber bei
Tanagra rot ausgemalt gefunden; so zeigen die Steinwürfel, in
denen man z. B. in Attika so gut wie in Kampanien (Kyme,
Capua, Suessula) die bronzenen Aschenurnen barg, regelmäßig
hochrote Ausmalung.^ Noch bei spätrömischen Ziegelgräbem,
die ich im Valle Taggiasco (Riviera di ponente) vor einigen
Jahren mit ausgrub, waren die Innenseiten der dachförmig ge-
stellten Ziegel ebenso bemalt. Diese Beispiele, die sich gewiß
beträchtlich vermehren ließen, mögen genügen, um die Sitte
zu erhärten.
Also: wie man überall auf unserer Erde, besonders greif-
bar bei Naturvölkern und in unseren eigenen Frühzeiten, sich
bemüht, dem Toten den Übergang in die andere Welt möglichst
wenig schmerzlich zu gestalten, namentlich dadurch, daß man
ihm durch Form und Inhalt des Grabes die Vorstellung zu er-
wecken bestrebt ist, er sei eigentlich noch in seiner gewohnten
Umgebung, wie man durch regelmäßige Opfer und Spenden
am Grabe dies Gefühl des weiteren zu nähren sucht, so möchte
man diese Illusion dadurch noch weiter führen, daß man mit
der Farbe ja gewissermaßen dem Stoff des Lebens ihm die
1 Vgl. z. B. Böm. Mitt. 1887, 238 und die dort von mir gegebenen
Hinweise; Orsi Not. 1893, 474, XCIY; 1900, 247; Delattre CBÄcad. 1903,
12, 14, 24; Pellegrini Mon. Line. XIII (1903) 280—282.
Rot und Tot 3
Wände seiner engen Behausung anstreicht. Das alles tut man
ursprünglich ja nicht aus frommer Pietät, Mitleid oder sonstiger
den Völkern im Kindheitsalter gewiß fremden Sentimentalität,
sondern weil man alles tun muß, um den Toten für die Leben-
den möglichst unschädlich zu machen, ihn nach Kräften zu-
frieden zu stellen, damit er nicht wiederkommt, nicht andere
Lebende nach sich zieht. Ist doch die Furcht vor möglichem
Wiederkommen des Toten es gewesen, die zuerst zu mechani-
scher Erschwerung solcher Rückkunft geführt hat, indem man
den Toten in ausgestreckter oder zusammengezogener Haltung
kräftig einschnürte und so fesselte, oder ihn selbst stark be-
lastete mit Erdmassen, sogar mit schweren Steinen, oder indem
man ihn einschloß in feste Behälter, in Bauten, vor deren
Eingang man große Steine wälzte; die alsdann den Wunsch
erwecken mußte, den Leib des Toten möglichst rasch un-
geeignet zu machen zur Wiederaufnahme dessen, was man
als „Seele" verstand: so kam man zu mechanischer Zer-
stückelung, Handabschlagung, sogar Verzehrung des Leich-
nams (wobei freilich oft noch eine andere Vorstellung —
Übertragung von Kraft und Leben — mitwirkte), zu jeder
Art von Beförderung seiner raschen Zersetzung, schließlich
— natürlich nicht absolut chronologisch gemeint — zur
Einführung der Verbrennung. Solange die Verwesung keine
vollzogene Tatsache war, behielt nach allgemeiner Vorstellung
unserer — und vieler anderer — Völker der Tote eine Art von
Empfindungsvermögen, sei es immanent, sei es geweckt durch
gewisse Mittel. Der Tote verlangt in dieser Zeit instinktiv
nach dem Leben, nach Blut: daher die Totenopfer mit allen
ihren unendlich abgestuften Ablösungsformen.
Daher auch — wenigstens im letzten Grunde — die rote
Farbe bei der inneren Ausstattung des Grabes. Aber auch bei
der äußeren. Noch um die Grabstelen auf den weißgrundigen
Lekythen des 5. und 4. Jahrhunderts schlingen sich blutrote
Tänien.
1*
4 Friedrich von Duhn
Ja, zur Ausstattung des Toten selbst war vielfacli die rote
Farbe unerläßlich. Varro batte nocb eine ganz klare Vor-
stellung von diesen Dingen: „Yarro dicit, mulieres in exsequiis
ideo solitas ora lacerare, ut sanguine ostenso inferis satisfaciant.
quare etiam institutum est, ut apud sepulcra et victimae cae-
dantur. apud veteres etiam bomines interficiebantur . . . sed quoniam
sumptuosum erat et crudele victimas vel bomines interficere,
sanguinei coloris coepta est vestis mortuis inici" (Serv. lU 67
vgl. Diels, Sibyll. Bl. 72). Das Zwölftafelverbot „mulieres genas
ne radunto" sei nur nebenbei erwähnt. Die Ablösungsfrage
geht uns im Augenblick nichts an, wohl aber die Tatsache
selbst und die Verbindung, in die Varro sie rückt. Ebenso
wird uns für Sparta die rote Decke über dem Toten bezeugt
(Plut. Lyk. 27). Und so heißt es schon bei Homer, daß
Hektors zu Asche verbrannte Gebeine in ein rotes Linnentuch
gewickelt seien (IL 24, 796). So bringen die Athener in einem
Purpurtuch die Gebeine des Rhesos zum Strymon, um durch sie
das neu zu gründende Amphipolis zu sichern (Polyaen. VI 53).
So hüllen die Kabiren das Haupt ihres verstorbenen Bruders
in ein blutrotes Gewand und bestatten es so (Clem. AI. zuletzt
zitiert von Samter, Familienfeste 56). So läßt Vergil (Aen.
VI 221) die Troianer den Leichnam des Misenus auf dem
Scheiterhaufen mit Purpurgewändern bedecken, so ruht die tote
Priscilla (Stat. silv. V, 1, 215, 226) unter einer Purpurdecke.
So werden, um nur ein Beispiel von Naturvölkern an-
zuführen, auf Neuseeland die Gebeine von Häuptlingen in rote
Decken gehüllt, in einen mit roter Farbe eingeriebenen Kasten
getan, in ein rot bemaltes Grab gebracht, in dessen Nähe sich
ein rotes Grabmal erheben muß (Lubbock).
So führt die Freude des Toten am Blut und daher an der
roten Farbe zu mannigfacher Verwendung im Totenkultus.
Wenn Iphigenie in rotem Gewand zum Opfer geführt wird, so
mag man ja mit Diels und Samter das vielleicht aus einem
Lustralritus ableiten; einen solchen jedoch wiederzuerkennen
Rot und Tot 5
z. B. im Braucli der Platäer, deren Archon beim alljährliclien
Totenfest zu Ehren der in der PerserscMaclit Gefallenen in
blutrotem Gewand zu erscheinen hatte, während seine sonstige
Amtstracht weiß war, sind wir m. E. durch keinen zwingenden
Grund genötigt. "E%si yccQ nva ro jtoQcpvQOvv %QG)iia öviiTcdd'Siav 1
TCQog tbv d'dvatov (Artemidor I, 71 p. 70 ff., zitiert von Rohde, i
Psyche I^ 226). So war es noch im Florenz des Quattrocento
üblich, rote Bahrtücher zu verwenden, die Totenkapellen rot aus-
zuschlagen, den Toten in einen roten Mantel zu kleiden, als
Leidtragender in rotem Mantel zu erscheinen; Reste solch roter
Bemalung zeigen noch vielfach die in Marmor ausgeführten
Bahrtücher Florentiner Grabdenkmäler; auch aus Frankreich
ist die Sitte bekannt (s. Burckhardt, Kult. d. Renaiss. P
Exe. ni, zitiert von F. Burger, Gesch. d. Florent. Grabmals 39, 4,
und Burger selbst öfter, z. B. 139, 166). Ein modernes Bei-
spiel : wenn in Livigno (Yaltellina) ein kleines Kind stirbt, muß
es der padrino in die Kirche tragen. Im Totenhause legt er
ein „omamento di circostanza" an, „che e cura speciale delle
donne di preparare: attomo al suo cappello vien messo a guisa
di nastro e assicurato con spilli un fazzoletto per solito di
color rosso-scarlatto e piü volte ripiegato; alla parte posteriore
della falda viene attaccato pel centro un altro fazzoletto uguale,
ma in modo che i quattro lembi sventolino liberamente sulle
spalle dell' uomo. Appena arrivato il prete il padrino si mette
in capo il cappello cosi adornato" usw. Der Leichenzug: „si
compone anzitutto di ragazzi adorni auch' essi di nastri rossi
in modo che hanno una specie di galloni sulle maniche, le
bände lungo i pantaloni e una tracolla intorno al corpo come
se fossero dei soldatini in servizio. Le ragazze invece si
adomano con dei fazzoletti.'^ Stirbt ein fanciullo oder giova-
netto, so ist der Brauch ebenso: er wird getragen auf der
baretta, „dai suoi coetanei che hanno il cappello come il
padrino" (E. Filippini, Archivio per lo studio delle tradiz. popol.
XIX 1900, 466). Wie fest auch nördlich der Alpen derartige
Q Friedricli von Duhn
Dinge sitzen, trotz des Weiß und Schwarz, welches das Christen-
tum im Totenwesen überall bevorzugt, zeigt z. B. der von Roch-
holz ^ aus dem schweizerischen Fricktal noch 1867 berichtete
Wunsch alter Frauen, in ihrem roten Frauenrock begraben zu
werden; und daß das nicht etwa ein einfach gewohnheits-
gemäßes oder sentimentales Festhalten an einem ihnen lieb
gewordenen Kleidungsstück ist, ersieht man daraus, daß solch
roter Frauenrock ganz besondere Kräfte hat, die eben in der
roten Lebensfarbe begründet sind: Fieberkranke werden dort
in einen solchen roten Rock gehüllt, damit sie wieder gesund
werden, und — für die Bedeutung womöglich noch wichtiger
— junge Frauen, die sich einen Knaben wünschen, legen ihn
sich unter. So wird in Indien die Braut auf ein rotes Stierfell
gesetzt u. a. m.
In Indien ist Rot sogar unmittelbar als Farbe des Todes
betrachtet; Todesgott und Riesenweib sind beide rot; es stirbt,
wer im Traum einen roten Kranz auf dem Kopfe trägt; ehe
Barata die Nachricht vom Tode des Dasarata erhält, sieht er
ihn eilig mit rotem Kranz und roter Salbe auf einem mit Eseln
bespannten Wagen nach Süden fahren; rot sind die Kleider
der zum Tode Verurteilten, rot das Pulver, mit dem er bestreut
wurde, und aus roten Blumen bestand der Totenkranz ; rot sind
die Kleider, rot der Schleier der indischen Witwe, rote Blumen
muß die Brahminenfrau in die Hand nehmen; in der Hand
eine Kokosnuß, die rote Farbe enthält, umwandelt die Witwe
den Scheiterhaufen usw.^ Rot bestreichen ihre Haut die
trauernden Maoris auf Neuseeland, die Latuka und Kamma in
Afrika u. a. (s. u.): Brough Smyth, The Aborigines of Victoria I,
^ Deutscher Grlaube und Brauch 11 251 in seinen umfassenden,
wenn auch für unsere heutigen Ansprüche etwas ungenügend geordneten
Sammlungen zum Gebrauch der roten Farbe.
2 Siehe hierüber die Zusammenstellungen von Pischel ZD3IG. XL
116 ff. und Samter Familienfeste 40, 47 ff., sowie Zachariae Z. f. d. Kunde
d. Morgenlandes (Wien) XYII 1903, 211—222; Z.f. Volkskunde XIV 1904,
204, 303, 401).
Rot und Tot 7
122; die Paressi: v. d. Steinen, Unter d. Naturvölkern Zentral-
Brasiliens 434 u. a.
Also: Rot bei äußerer Schmückung des Grabes, bei innerer
Ausmalung, bei Bedeckung des Toten. Da würde ja der Ge-
danke docb sehr nahe liegen, aucb zu versuchen, die fahle, kalte
Farbe des Toten selbst durch belebendes Rot hinwegzutäuschen.
Ich kann es deswegen nicht als eine gleichgültige Beigabe an-
sehen, wenn wir in^so manchen Gräbern, gerade auch Attikas,
den Toten so häufig rote oder rötliche Schminke in kleinen
runden Tonpyxides mitgegeben finden: wie im Leben, so werden
die attischen Frauen wohl schwerlich auf diese beliebte Ver-
schönerung auch im Tode haben verzichten wollen. Aber
ältere religiöse Sitte wird an der Ausdehnung dieses Brauches
über den Tod hinaus doch wohl Anteil haben. Das so viel-
verhandelte rote Pulver in den Glasfläschchen der Katakomben
wird in letzter Linie auch wohl nichts anderes gewesen sein.
Der alte echte Untergrund dieser Dinge dürfte klarer
werden, wenn wir uns weiter rückwärts wenden. Aus Mykene
gibt es einen lebensgroßen Stuckkopf, der auf Wangen, Kinn
und Stirn mit ^ roter Farbe aufgemalte Rosetten zeigt: Malerei
zweifellos, aber wohl keine Tätowierung: diesen Gedanken weist
Wolters mit Recht ab (Hermes 1903, 271). Der sepulkrale
Charakter dieses Kopfes steht nun zwar nicht fest, ist im
Gegenteil unwahrscheinlich, da der Kopf auf der Höhe der
Akropolis zutage kam. Um so fester dagegen ein solcher bei
zwei Köpfen aus Marmor, der eine aus Amorgos, der andere
von einer anderen Kykladeninsel, ersterer jetzt in Athen, der
zweite in Kopenhagen. Es sind Bruchstücke ganzer Figuren,
den Toten zu ihrem Schutze mitgegeben; sie waren strichweise
mit feuer- oder blutroten Streifen verziert, die nur aufgemalt
gedacht werden können (A. M. 1891, 47; Hermes 1903, 270).
Aus los sind auf einer ganzen Figur dieser Art rote Farbspuren
außer auf dem Gesicht auch auf der Brust bezeugt (Ath. Mitt.
1891, 49). Nun sind auch tatsächlich in Gräbern dieser gleichen
g Friedrich von Duhn
Zeit Deckeltöpfchen mit Resten roter (und blauer) Farbe ge-
funden (Hermes a. a. 0. 270). Rote Farbe findet sieb auch
häufig in den neolitbischen Höhlengräbern Liguriens und
Siziliens, teils in besonderen Behältern, teils in Form von festen
Stücken Eisenocker, so gelegt, daß der Tote sie mit seiner
Hand leicht erreichen konnte. Und ebenso in Gräbern Spaniens,
die trotz der Silberfunde ihrem Charakter nach noch neolithisch
sind (Siret, H. u. L. Les premiers äges du metal dans le Sud-
Est de l'Espagne 202), in Portugal (Zeitschr. f. Ethn. 1880 [352]),
auch im Norden z. B. bei Worms (Nachr. über deutsche Alter-
tumsfunde Vn, 62j 69). Daß der Auftrag der roten Farbe wie
im Leben so im Tode mit Hilfe von Tonstempeln erfolgte,
beweisen die Funde solcher „Pintaderas'^ sowohl in Ligurien
wie in Phrygien und Troia.^
Zunächst folgt aus jenen dem Toten auf den Ageischen
Inseln, gelegentlich auch auf dem Festland mitgegebenen rot-
gemalten Schutzdämonen und aus der Mitgabe roter Farbe und
der Färbinstrumente natürlich nur, daß der Tote gewohnt sein
mochte, sich im täglichen Leben rot anzumalen, so wie die
athenischen Frauen sich später rot schminkten; aber schon daß
man solches Gewicht darauf legte, gerade in so frühen Zeiten,
auch noch dem Toten diese Lebensfarbe zu verleihen, dadurch
gewissermaßen den Lebensschein fortzusetzen, ist sehr be-
achtenswert:
„Farben auch, den Leib zu malen
Steckt ihm in die Hand,
Daß er rötlich möge strahlen
In der Seelen Land.*' (Schiller.)
Der Tote ist hilflos und machtlos, wenn das im warmen
roten Blut sich äußernde Leben entwichen ist, wenn er bleich
daliegt. Man erbleicht vor Furcht, wer bleich ist, hat Grund,
* Vgl. die lehrreiche Zusammenstellung Coliuis Mapporti fra Vltdlia
ed altri paesi ßuropei durante Vetä neoUtica 6 — 9 des Sonderdruckes aus
den Ätti d. Soc. rom. di antropol. X 1904.
Rot und Tot 9
sich zu fürcliten (pallere, pallor usw.). Diese natürliche Schluß-
reihe führt zu der Vorstellung, der Tote selbst müsse es ver-
langen, durch den ihm äußerlich verliehenen Schein des Lebens
geschützt zu werden gegen böse Einflüsse, die ihn, den Wehr-
losen, angreifen möchten. So ungefähr muß sich meines Er-
achtens der scheinbare Widerspruch auflösen, daß dieselben,
die sich so scheuen vor dem Gedanken, der Tote könne wieder
zum Leben erwachen, könne seine Ansprüche an die Hinter-
bliebenen geltend machen, durch Blutopfer und deren zahlreiche
Ablösungsformen sowie durch jenes Rotmalen, jenes Vortäuschen
wirklichen Lebens ihn zu befriedigen suchen. Solchen Wider-
sprüchen begegnen wir gerade im Totenkultus von Naturvölkern
noch heutzutage vielfach.
Je früher, um so allgemeiner und intensiver wurde solches
Rotmalen der Leichen geübt, und zwar nicht nur bei unseren
europäischen Völkern, sondern auch ganz anderswo. Gerade
diese Übereinstimmung so vieler und zum Teil voneinander
gänzlich getrennter Völker zwingt uns, die Erklärung dieser
Sitte aus einem möglichst primitiven einfachen Denkprozeß
heraus zu gewinnen.
Im Museo preistorico in Rom ist ein oft besprochenes
neolithisches Grab von Sgurgola im Hernikerland ausgestellt.
Deutliche Reste roter Farbe sind am Skelett sichtbar, auch
mit völliger Treue wiedergegeben auf der farbigen Tafel im
Buü. di pal. XXIV tav. XVI = Colini, Remedello I, wo der ab-
gebildete Schädel Ton und Verteilung der Farbreste vortreff-
lich zeigt. Auch zwei der mitgefundenen Steinpfeilspitzen
ließen vielleicht nur zufällig auf sie geratene Spuren der
gleichen roten Farbe erkennen.
Reste in gleicher Weise rotgefärbter Skeletteile ent-
stammen der Caverna delle Felci auf Capri (Bull, di pal.
XXVIII, 6).
In Sizilien sind rotgefärbte Menschenknochen einigen
neolithischen Grotten in der Nähe von Palermo entnommen
IQ Friedrich von Duhn
(BuU. di pal. VIII, 48, XIX, 48, XXIY, 228, Rendic. dei Lincei
Ser. III, VIII, 155); auch unweit Catania fanden sich solche
(Bull, di pal. XVIII, 81), während das übrige von Orsi so
sorgsam untersuchte Ostsizilien bis jetzt keine weitere Spur
der Sitte aufweist (vgl. Orsi, Bp. XVII, 76).^
Sehr reichliche Beweise haben die Grotten Liguriens
geliefert, namentlich die vielbesprochenen Grotten der Gegend
von Mentone (dort besonders die Balzi rossi), sowie die Grotten
des Finalese (Arene candide, PoUera u. a.). Die Literatur
hierüber hat mit erschöpfender Vollständigkeit Colini zusammen-
gestellt: Bull, di pal. XIX, 248 ff. und XXVIII, 6—20 (Reme-
deUo I, 106 — 107). Issel faßt z. B. die Beobachtung an einem
solchen Schädel in die Worte: „larga zona colorata irregolar-
mente di rosso mattone da una sostanza granosa e polverosa,
cementata da concrezioni calcari. Si tratta sicuramente di
ocra, di cui era tinta la fronte del cadavere all'epoca del
seppellimento."
Die Ausgrabungen der Brüder Siret haben in Spanien
Gleichartiges erwiesen. Im südöstlichen Spanien sind nament-
lich an den drei Grabungsstätten El Argar, l'Oficio, Fuente
Alamo zinnoberrot gefärbte Skelette gefunden : H. und L. Siret,
Les Premiers äges du metal dans le Sud-Est de l'Espagne 156
bis 160. Nach den ungemein sorgsamen Feststellungen der
Brüder Siret waren die Leichen zweifellos ganz bestattet, zu-
mal sich noch Ringe und Armbänder vereinzelt um die Bjiochen
gelegt fanden. In einzelnen Fällen ist es augenscheinlich, daß
die rote Färbung der Knochen hervorgerufen ist durch starke
Anwendung roter Farbe an den Gewändern und Kopfbinden
der Toten, so wenn der pl. XX, I, 2 abgebildete Schädel ein
scharf umschnittenes diademartiges Band um die Stirn gelegt
^ Doch ist zu beachten, daß in einem der Stentinelloperiode an-
gehörigen Sikulergrabe bei S. Cono bei Licodro Cubea der Boden mit
roter Substanz bedeckt war, solche auch an mitgefundenen Basaltsteinen
haftete nach Cafici Bp. XXV 56, 64, 65.
Rot und Tot H
zeigt; die Verfasser erklären richtig: ,,cette peinture . ,. . forme
une bände legerement en relief sur le front, ä la place de la
naissance des cheveux; en cet endroit le cräne, qui c' etait
tourne la face en haut, offrait une surface horizontale oü le
cinabre, apres disparition de la peau et de la toile, s'affaissait
sur place; une mince couche de limon tres fin entrainee par
les eaux jusque dans le tombeau, a forme un enduit au-dessus
de la croüte de cinabre et lui a conserve une forte adherence
au cräne." Auch zinnoberrote Farbe der dem Toten angelegten
Gewänder ist durch rote Fasern erwiesen, sowie durch Knöpfe,
die durch berührende rote Farbe gerötet waren: es mag also
in manchen Fällen die rote Färbung der Skeletteile tatsächlich
verursacht sein durch den Farbstoff der umkleidenden Gewän-
der, der nach Zerfall von Geweben, Haut und Fleisch, selbst
unverändert, sich den Knochen mitgeteilt hat. Doch schließt
diese Erklärung natürlich nicht aus, daß in anderen Fällen
unmittelbare Bemalung der Haut des Toten die Ursache der
Rotfärbung der Knochen geworden ist. So schließt z. B. rote
Färbung der Ansichtsfläche des Gesichtes — wie sie das Skelett
von Sgurgola zeigt — eine Erklärung aus, welche Binden
oder Gewänder als die ursprünglichen Farbträger annimmt:
darin hat Colini völlig recht. ^
Auch Frankreich ist reich an Funden dieser Art, nament-
lich die Dordogne; Mas d'Azil (Ariege) und Hoteaux (Ain)
sind ebenfalls namhafte Fundstätten, schon während der Renn-
tierzeit. Colini a. a. 0. stellt dieselben zusammen.
Im Löß bei Brunn (Mähren) sind ebenfalls rotgefärbte
Skeletteile gefunden; daß auch hier die Färbung durch ihre
unregelmäßige Verteilung auf der Oberfläche als Produkt natür-
licher Filtration nach eingetretener Verwesung angesehen werden
muß, lehrt ein Blick auf Abbildungen, wie z. B. Zeitschr. f.
Ethn. 1898, Taf. HL Vgl. Makowskys Bericht, Mitt. d. Wiener
^ Bull, di pal. XXIV 245, not. 103 = ßemedello I 106—107.
\2 Friedricli von Duhn
anthrop. Ges. XXII (1892) 77; Zeitschr. f. Ethn. 1903, 915.
Auch, aus Böhmen sind gleiche Funde bekannt.
Aus der Uckermark ist ein solcher Fund berichtet:
Zeitschr. f. Ethn. 1902, (275).
Das klassische Land jedoch dafür ist bis jetzt Rußland.
Die Krim, Cherson und Umgegend, Bessarabien, Westrußland,
die Gouvernements Ekatarinoslaw und Orenburg, überhaupt das
ganze alte Skythenland haben solche Funde in Menge geliefert,
und zwar beginnend von ziemlich früher Steinzeit bis zu Kur-
ganen der Bronzezeit. Erst durch die große Zahl der russischen
Entdeckungen und ihre gute Beobachtung ist wissenschaftlich
begründete und glaubhafte Erklärung an Stelle der haltlosen
Vermutungen gekommen.^
Nach den in Rußland auf Grundlage von sehr umfassen-
dem Material und durch eine größere Zahl von Beobachtern
festgestellten Tatsachen ist in den weitaus meisten, ja fast
allen innerhalb Europas zutage getretenen Fällen die rote
Färbung von Skeletten oder Skeletteilen zu erklären als Folge
roten Anstriches der Leiche vor der Beerdigung. Nach der
Zersetzung des Fleisches blieb die an sich unveränderliche
Farbenmaterie, fast in allen untersuchten Fällen Eisenoxyd, am
Platz und teilte sich der Knochenhaut mit. Jene Rotfärbung
mochte sogar schon vor gänzlichem Zerfall von Haut und Ge-
weben begonnen haben, da gewisse intensiv rote Farben die
Eigenschaft haben, selbst durch die Poren der noch lebendigen
Haut zu dringen. Herr Kommerzienrat Dr. Glaser dahier, lange
Direktor der badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigs-
hafen, teilte mir mit, daß starke Rotfärbung der Knochen oft-
mals post mortem oder bei Operationen beobachtet sei bei
^ Neuere uns Westeuropäern zugängliche Literatur: Stiedas Referat
über russische Verhandlungen: Globus 20, 8 (1898); Knauer Zeitschr. f.
Ethn. 1900 (315), Graf Bobrinskoy Eev. archeol. 1904, I, Iff., Kulakowski
Atti del congresso storico, Rom 1904, 673—681; und desselben besondere
Abhandlung, sur la question des squelettes colores, Kiew 1905.
Rot und Tot 13
Arbeitern, die viel mit den roten Anilinfarben zu hantieren
gehabt hätten. Nicht uninteressant wäre für diese Frage die
Feststellung ähnlicher Beobachtungen bei Arbeitern in Eisen-
oder Quecksilberwerken, z. B. auf Elba oder in Spanien, um
die Durchlässigkeit der Haut gerade für Eisenoxyd, den vor-
wiegenden blutfarbenen Farbstoff der Frühzeiten, zu ermitteln.
Jedenfalls ist die mit großer Zähigkeit namentlich vonVirchow
vertretene Theorie von künstlicher Entfleischung der Knochen
und nachträglicher Färbung derselben auf die bisher be-
sprochenen Fälle nicht anwendbar. Es würden ja alsdann die
Skelette nicht mehr in völlig anatomisch richtigem Verbände
in außerordentlich vielen sicher beobachteten Fällen aufgefunden
sein, und zwar fast durchweg als liegende Hocker; namentlich
Kulakowski legt auf diese Tatsache berechtigtes Gewicht; auch
die noch am Platz befindlichen Hals-, Arm- und Fingerringe
in spanischen Gräbern (s. o.) wären dann doch mindestens
auffällig.
Also eine doch nur rituell zu erklärende Rotmalung der
Leichen ist in der europäischen Frühzeit als ziemlich verbreitete
Sitte anzunehmen. Wenn nun auch in griechischen Ländern
bis jetzt keine an Knochen noch erhaltenen Spuren der gleichen
Sitte gefunden worden sind, so legen doch die Auffindung von
Farbstoffen, von Färbungsinstrumenten und von blutrot be-
malten Schutzidolen in den Gräbern der phrygischen, troischen
und Inselkultur die Vermutung einstmaliger gleicher Übung
nahe. Es wäre alsdann nur begreiflich, wenn eine fort-
schreitende Zeit an die Stelle der roten Bemalung des
Körpers selbst seine Einhüllung mit einer roten Decke, wie
in Sparta, gesetzt hätte. Und wie wenn man in einzelnen
hervorragenden Fällen solche rote Decke dann wieder ersetzt
hätte durch etwas Bleibenderes, Edleres: durch rotes Gold?
Ich denke natürlich an die tief herabreichende Verwendung
des Goldes bei der Totenausstattung beginnend mit Mykene
und Kreta.
14 Friedrich von Dulm
Eine spätere Zeit verzichtete mehr und mehr darauf, das
Rot mit dem Toten in unmittelbare Berührung zu bringen.
Die roten Totendecken sind uns ja nur noch durcb vereinzelte
Beispiele und aus vereinzelten Gegenden überliefert; nur die
zu Anfang besprochene rote Ausmalung der Grabkammer oder
des Sarges oder des Behälters für das Aschengefäß blieb nocli
] in etwas allgemeinerer Anwendung als Rudiment bestehen.
Möglicherweise hat das düstere Schwarz als Trauerfarbe sich
mehr durchgesetzt, je mehr die ionischen Vorstellungen vom
) dunklen Totenreich unter der Erde die mehr materialistischen
Hoffnungen auf ein Weiterleben in einem glücklichen elysischen
Jenseits zurückdrängten. Vielleicht hielt sich das Rot in den
letztgenannten Anwendungen länger, weil nunmehr das feurige
Rot als Farbe des Sonnenlichtes geeignet erscheinen mochte,
dem Toten sein finsteres, trauriges Gelaß zu erleuchten: vgl.
Dieterich, Nekyia, 25 — 29; Deubner, de incub. 25. Ich ver-
danke es meinem Kollegen Dieterich, auf diese Erklärungs-
möglichkeit aufmerksam geworden zu sein. Man denke an die
Lampenbeigabe in Gräbern schon mykenischer Zeit!
Als wertvolle Analogie für das Rotmalen der Leichen
innerhalb Europas dienen ähnliche noch lebende Bräuche bei
Naturvölkern.
Der australische Kontinent zeigt uns den Urzustand des
Menschen bekanntlich besonders rein; auch die Totenbräuche
sind dort noch außerordentlich einfach und durchsichtig.
Brough Smyth, der klassische Berichterstatter über die Reste
der dortigen Naturvölker, erzählt (The Aborigines of Victoria
I, ni) über die Narrinyeri folgendermaßen: „the deceased, lying
on a hier, is placed over a slow fire for a day or longer, and
when the skin blisters, it is removed. All the apertures of
the body are sewn up (natürlich um der Seele den Ausweg
oder den bösen Geistern den Eingang zu versperren, gerade wie
noch heute z. B. in manchen griechischen Gegenden), and it is
rubbed with grease and red ochre. Finally it is set up naked
Rot und Tot 15
on a stage^ formed of branclies and boughs of trees, and pro-
tected by a covering of branches. A small fire is lighted
under it, wbicb is kept up by the attendants until it is dry, and
finally it is wrapped up in mats and placed in a wurley" usw.
S. 112 bericbtet er ungefähr dasselbe von einem anderen Stamm,
beschreibt die Trauerversammlung um den rotgemalten aufrecht
sitzenden Toten und erwähnt „ . . . the old men moving their long
wands, on which they have tied bunches of feathers, in order
to paint the body with ochre". Von Encounter Bay in Süd-
Australien berichtet er (S. 113), daß der Leichnam in Hocker-
stellung gefesselt wird: „the tying was to prevent him from
Walking", wurde ihm (S. 119) völlig zutreffend bei den ganz
primitiven Dieyeries von Coopers Creek in Süd -Australien von
diesen selbst bemerkt; dasselbe bedeutet die Fesselung bei den
südamerikanischen Hockern: Preuß, Die Begräbnisarten der
Amerikaner und Nord -Ost -Asiaten 227. Alsdann beginnt eine
langsame Röstung durch zwei Feuer, bis die Haut sich löst:
„after this all the openings of the body are sewn up, and the
whole surface rubbed with grease and red ochre." Alsdann
die nochmalige Röstung und Trocknung; darauf wird der Tote
mehrere Monate lang zu allen Plätzen seines früheren Lebens
herumgeführt, als ob er noch lebend wäre. Erst dann läßt
man ihn in freier Luft verwesen. Ist die Verwesung erfolgt,
so ist es ungefährlich, seinen Namen zu nennen: also bis da-
hin ist das Leben oder der Schein des Lebens da, den zu er-
halten die Verstopfung der Leibesöffinungen dient, sowie die
Rotmalung; bis dahin ist zu erwarten, daß der Tote zurück-
kehren kann, muß alles geschehen, um ihn bei guter Stimmung
zu halten. Daß die rote Farbe, womit der Tote bestrichen
wird, Ersatz für wirkliches, ihm als Lebenssaft nahe gebrachtes
Blut ist, auch bei unseren europäischen Völkern schon nach
den obigen Darlegungen wahrscheinlich, wird durch die von ■■
Brough-Smyth beschriebenen Bräuche für Australien ganz sicher. ^
So erzählt er von West -Australien I, 117, daß, nachdem der zum
IQ Friedrich von Duhn
Grabe getragene Tote niedergelegt ist, Weiber und Männer sich
die Schenkel aufkratzen und aufschlagen: „at the flowing of
the blood they all said: I have brought blood — dies bevor
er ins Grab gelegt wird — , then stamped the foot forcibly
on the ground sprinkling the blood around them; then wiping
the wounds with a visp of leaves, they threw it bloody as it
was on the dead man" usw. Auch aus Victoria berichtet er
(II, 274) von starker gegenseitiger Verletzung der trauernden
Männer über dem ins Grab gelegten Leichnam eines Mannes:
„they bleed copiously over the corpses; these men all bled
freely, and in Submission, tili the grave was covered with
blood". Über ein Ablösungsstadium solchen Blutopfers teilt er
I, 101 mit, daß — anderswo — die nächsten Angehörigen ver-
suchen, sich mit dem Tomahawk des Verstorbenen an der Seite
des Leichnams zu verwunden, aber durch die anderen Hinter-
bliebenen daran gehindert werden.
So haben die Bulineger von Kamerun und aus dem Niger-
Benuegebiet nicht nur im Leben die Gewohnheit, sich mit einer
Art Rotholz anzumalen; auch die Toten werden so bemalt, und
es ist beobachtet, daß diese Farbe sich nachher den Knochen
mitteilt (Zeitschr. f Ethn. 1900, [347] und Tafel V). Die
peruanischen Mumien, z. B. die in den Museen von Hamburg,
Berlin und anderswo so gut zu studierenden Ankonmumien sind,
nachdem sie als sitzende Hocker gefesselt und umwickelt sind,
rot bemalt worden; auch bei ihnen ist die rote Farbe vielfach
durch die Haut hindurch in die Knochenhaut eingedrungen,
wie man namentlich da, wo Hautstücke sich zufällig oder durch
Verletzung abgelöst haben, mit Leichtigkeit beobachten kann.
Selbst Virchow glaubte hier die Mitwirkung eines religiösen
Gedankens annehmen zu müssen (Zeitschr. f. Ethn. 1899
[414]).
Es handelt sich hier also um einen Denkprozeß, der
autochthon auf einer gewissen primitiven Kulturstufe sich über-
all hat bilden können und Sitten hervorrief, die vor höher-
Eot und Tot 17
steigenden Anschauungen zurückweichen mußten und nur noch
wie in Griechenland rudimentäre Spuren ihres einstigen Daseins
zurückließen.
Nahe verwandt ist eine andere Sitte, deren Vermengung
mit der bisher besprochenen mancherlei Verwirrung hervor-
gerufen hat. Ich meine die Rotfärbung der Knochen nach
vorhergegangener auf natürlichem oder künstlichem Wege her-
beigeführter Entfleischung derselben. Brough Smyth bezeugt
als noch heute bei einigen australischen Stämmen üblich Rot-
bemalung männlicher Schädel nach vorausgegangener Mazerie-
rung durch Fäulnis, mitunter auch beschleunigt mit Hilfe
schwachen Feuers (I, XXVII— XXIX und p. 98. Vgl. Zeitschr. f.
Ethn. 1898 [75], [282]-[283]). Auf Matupi (Bismarckarchipel)
sah Finsch 1881, daß nach Jahresfrist die Schädel der Reichen
aus den Gräbern aufgenommen, rot bemalt und festlich aus-
gestellt wurden. Solche Bemalung zeigt z. B. kunstvolle Ein-
fassung der Kieferränder und Augenhöhlen mit roten Streifen,
auch wurden mitunter rote Streifen oberhalb der Augenbrauen
oder sonst im Gesicht bis auf die Höhe des Schädels gezogen
(Zeitschr. f. Ethn. 1901 [383]). Auf den Andamanen trägt die
Witwe den Schädel ihres Mannes zeitlebens an einer Schnur:
dieser Schädel wird mit einer dicken, festanhaftenden, wohl-
riechenden, roten Masse überzogen, mitunter nach vorauf-
gegangener Aufrauhung des Schädels durch ein eingraviertes
Liniennetz (Zeitschr. f. Ethn. 1898 [283]).
Weit verbreitet ist die gleiche Sitte in Amerika. Mit
dankenswerter Ausführlichkeit berichtet v. d. Steinen darüber.
Rot bemalen sich die Menschen, so die Bakairi (v. d. Steinen,
Durch Zentralbrasilien 159), die Suya (ebenda 219) u. a. Dem-
entsprechend denkt sich der Paressi, er werde, wenn er in den
Himmel komme, durch einen Ahnenheros des Volkes dort rot
bemalt. Alsdann, so meint er, lebten sie dort wie auf Erden
(v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens 434).
Hand in Hand mit dieser Vorstellung geht der Glaube, daß die
Archiv f. Keligionswissenschaft IX 2
IQ Friedricli von Duhn
Toten sich in rote Vögel, die schönen Arakas verwandeln. Um
diese Verwandlung herbeizuführen oder zu erleichtern, werden
nun bei allen Indianern Südamerikas von Guyana bis hinab
ins südliche Brasilien nach provisorischer Beerdigung die Toten
exhumiert, sorgsam entfleischt und alsdann die Knochen mit
Uruku rot gefärbt; darauf folgt eine Ausschmückung dieser
Knochen, namentlich des Schädels mit roten Federn. Auch
diese Rotfärbung hängt wohl mit ursprünglicher Blutfärbung
zusammen, da Hinterbliebene und Leidtragende sich über den
Knochen die Haut ritzen und das Blut auf die rot bemalten
oder zu bemalenden Skelettreste tropfen lassen. Auch die Leid-
tragenden färben sich mit Uruku rot.^ Solche in Körbe ge-
sammelt beigesetzten rot bemalten Knochen waren die einzigen
Überreste, die Humboldt noch vorfand vom untergegangenen
Stamm der Aturen (A. v. Humboldt und A. Bonpland, Reisen
in den Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents IV [1823],
541).
Manche Forscher haben dieser Entfleischung der Knochen
auch im Totenritual europäischer Völker einen breiten Raum
zuweisen, aus ihr — so z. B. Virchow — die oben besprochene
Rotfärbung von Skeletten auch in Europa erklären wollen.
Soweit meine Kenntnis reicht, sprechen die Tatsachen gegen
beides. Nur zwei Fälle möchte ich herausheben: Skadowsky
berichtet Anthropol. III (1892) 500, daß bei Bielozerki, Distr
Cherson in Kurganen der Steinzeit gefunden seien des osse-
ments colores probablement apres la decomposition du corps;
als Grund für letztere Annahme gibt er an, daß die Knochen
unregelmäßig verstreut gefunden seien; daß das kein Beweis-
grund sein kann, weiß, wer oftmals Gräber geöffnet hat und
darin, auch bei sonst völlig intaktem Bestand die Skeletteile
verwirrt fand: das Eindringen von Wasser oder von Nagetieren
* Preuß Die BegrähnisaHen der Amerikaner und Nordostasiaten
123, 127; V. d. Steinen Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens
505 — 511.
Rot und Tot 19
gibt in vielen Fällen noch heute erkennbar die Ursache an.
Wichtiger ist die Beobachtung eines so gewiegten und ge-
wissenhaften Forschers wie Piette (Anthropol. VII, 386 ; Zeitschr.
f. Ethn. 1900, [314]), der an zwei Skeletten aus Mas d'Azil,
die rot gefärbt sind, Schabspuren von Feuersteinmessem ge-
funden haben will; auch seien die Knochen außer Zusammen-
hang. Dieser Fall bedarf jedenfalls der Nachprüfung, genügt
aber unter keinen Umständen, um Virchows u. a. Erklärung in
irgend nennenswerter Weise zu stützen.
Zu weiterer Bekräftigung meiner Annahme, daß die rote
Bemalung des Leichnams den Schein des Lebens, ja eines
höheren Lebens darstellen sollte, möchte ich etwas weiter
ausgreifen auf die rituelle Verwendung der roten Farbe über-
haupt.
Wenn afrikanische Fetische heutzutage zeitweilig mit Blut
bestrichen werden, so ist das ein Opferritus; das Kostbarste ist
dem Menschen das Leben; indem er der Gottheit den eigent-
lichen Lebensstoff darbringt, sie selbst damit ausstattet, glaubt
er — do ut des — die Gottheit zu zwingen, auch ihm wieder
sein Leben sicherzustellen. Ob solches Opfer eine Sühn-
handlung, ob eine Danksagung, ob der bloße Ausdruck einer
Bitte ist, beeinflußt die obige einfache Erklärung nicht weiter.
Die Gottheit wird lebens- und tatkräftig eben dadurch, daß sie
mit dem Lebensstoff in unmittelbare Berührung gebracht wird,
sie freut sich, auf solche Weise veranlaßt und in den Stand
gesetzt zu werden, ihre eigene Kraft belebt und anwendbar
gemacht zu sehen. Verwandt, wenn auch nicht mehr identisch
mit diesem Denkprozeß des primitiven Menschen ist ein anderer,
der die Kongoneger, die Bewohner der Nikobaren u. a. ver-
anlaßt, ihre Fetische alljährlich mit roter Sandelholzschminke
über und über rot zu färben. Solche sich regelmäßig wieder-
holende Rotfärbung vermag ich nicht anders zu verstehen, als
die alljährliche Neubehandlung des kapitolinischen luppiter mit
minium (Wissowa, Rel. u. Cult. d. Rom. 36 und 111, Marquardt
2*
l
20 Friedricli von Dulin
Staatsverw. II, 582 ff.). Entsprechend trägt Inno einen pur-
purnen Mantel, und ebenso die Frauen, die ihr opfern. Und
schwerlich anders als beim luppiter ist die rote Färbung auf-
zufassen, die uns entgegentritt auf altitalischen Terrakotten
und Skulpturen aus weichem Stein, auf etruskischen Porträt-
büsten und Wandmalereien (z. B. den TontafeLn von Caere, den
Masken des Phersu [Mond. d. Ist. XI, 25] u. a.), desgleichen auf
altgriechischen Porosbildwerken und (literarisch überliefert) auf
alten Schnitzbildern, an männlichen Gestalten auf polychromen
archaischen Vasen usw. Es soll eben wirklich pulsierendes
kraftvolles Leben zum Ausdruck gebracht werden. Je ur-
sprünglicher die Kunst, um so naiver und unmittelbarer die
Versuche, die Illusion des Lebens zu erwecken. So mußte
auch der Triumphator sich mit dem Menniganstrich des luppiter
o. m. schmücken, um als lebendiger Repräsentant des höchsten
Gottes, dessen Epiphanie seinen Mitbürgern darzustellen er be-
rufen war, von der Jugendkraft desselben eine möglichst augen-
fällige Vorstellung zu geben. Das gleiche bedeutet natürlich
die rote Färbung, mit welcher gerade die kräftigsten Natur-
dämonen, wie Pan, Silene, Satyrn, Priapos, Silvanus u. a., auch
der Phallos selbst, wo er fetischartig auftritt, in typischer Weise
charakterisiert wurden. Und wenn die Indianer Nordamerikas,
so noch heute in Kanada, sobald sie auf den Kriegspfad gehen,
sich durch roten Anstrich ein mehr kriegerisches Ansehen geben,
so ist das schließlich wiederum dasselbe. Ebenso, wenn die
Schamanen ihr Gesicht rot färben. Die natürliche Wahrnehmung
der Rötung des Antlitzes bei jeder durch inneren oder äußeren
Anlaß hervorgerufenen Erregung, bei jeder stärkeren An-
spannung der Kräfte, mußte dazu führen, in derartiger Rötung
den Ausdruck der Energie zu erkennen, die anderen imponiert.
Die Röte ist physiologisch ja die Folge größeren Blutreichtums
der Haut, der bei einigen Völkern stärker, bei anderen schwächer |
ist; besonders stark z. B. bei den Ägyptern. Bei den Indianern
Amerikas dagegen ist die Rötung wesentlich die Folge regel-
Rot und Tot 21
mäßiger Behandlung der Haut mit Ol; starkes Ölen der Haut
bewirkt nach Untersuchungen Virchows, K. Rankes u. a. stärkere
Rötung der Haut^: daher ist es sehr leicht denkbar, daß die
uns oft überraschende stark rote Behandlung der Männerhaut
nicht nur in der ägyptischen, sondern auch in der altgriechi-
schen, etruskischen und römischen Kunst der Natur mehr ent-
sprochen haben mag, als wir es uns gewöhnlich vorstellen,
weil die heute nicht mehr übliche Ölbehandlung der heutigen
Haut des Südländers fehlt, so daß die pigmentarme gelbliche
Hautfarbe an die Stelle getreten ist. Somit ist es sehr wohl
denkbar, daß die Alten sehr viel mehr als wir an stärkere
Rötung der Männerhaut gewöhnt, sie stärker als wir vermißten,
wo sie fehlte, also naturgemäß namentlich beim Toten.
Kehren wir noch einmal zum Rot als Ausdruck von Kraft,
von pulsierender Lebensenergie zurück! Wir sind der Anwendung
von roter Färbung begegnet gerade bei Göttern und dämo-
nischen Wesen, welche besondere Naturkraftwesen waren. Noch
ein paar Beispiele aus Indien: die 5 Pandus, auf den Feldern
aufgereihte Steine, die auch Hüter des Feldes genannt und als
solche verehrt wurden, augenscheinlich eine uralte Feldkultform,
mußten immer rot angestrichen werden: Opferblutersatz, wie
Liebrecht meinte, ursprünglich vielleicht. Aber für diesen Fall
genügt m. E. auch die Erklärung Moores Hindoo Pantheon 6,
wenn er sagt: „The means, by which the Linga, Siva, Mahadeva
are symbolized, are obeliscs, pillars of any shape especially
pyramids, upright stones. The piUar is often of a red colour
as this is supposed to signify the creative power." So ist
der heilige Stier in der Pagode von Surat rot gemalt. Ein
anderes indisches Beispiel ritueller Rotfärbung: (Journ. R. Asiat.
Soc. VII 1843, 20, danach Frazer zu Paus. V, 354) „The
Waralis, a tribe who inhabit the jungles of northem Koukan
in the Bombay Presidency, worship Waghia, the lord of the
* Zeitschr. f. Ethn. 1898, 70. Vgl. übrigens auch Schwalbe Mitt.
d. anthropol. Ges. Wien XXXIV (1904) 332.
22 Friedrich von Duhn
tigers, in tlie form of a shapeless stone smeared with red lead
(Mennig) and clarified botter. They give him chickens and
goats, break cocoanuts on bis bead and pour oil on bim; and
be preserves tbem from tigers, gives tbem good crops, and
keeps disease from tbem." Oder: „At Poona tbere is a sacred
stone wbicb is coloured red and oiled" (Asiatic Researcbes
VII 394).i
Daß solcbe rote Farbe nicbt immer aus mineraliscbem
oder vegetabiliscbem Farbstoff bergestellt war, sondern oft, ur-
sprünglicb gewiß sebr viel bäufiger als später, der originale
Lebensstoff, das Blut selbst nocb die Stelle der künstlicben
Ersatzfarben einnabm, ist selbstverständlicb: „In Madagascar
many stones are anointed witb fat or oil by tbeir worsbippers,
wbo sometimes sprinkle tbem witb tbe blood of a victim (Frazer
a. a. 0.). Hier sind wir ja der letzten Wurzel der ganzen
Vorstellungsreibe unmittelbar nabe, zugleicb wieder dem Aus-
gangspunkt der Blutopfer. Alle cbtboniscben Wesen, cbtboni-
scbe Götter und Dämonen, Heroen und Tote, verlangen nocb
in der Zeit ausgebildeter griecbiscber Religion nacb Blut; für
sie bleibt beim Tieropfer, wie in Urzeiten natürlicb beim
Menscbenopfer, das Blut das eigentlicb und einzig Begebrens-
werte, am Fett, Fleiscb, Knocben liegt ibnen gar nicbts. Denn
Blut gibt Kraft, gibt Leben: bestreicbt man docb deswegen in
Brasilien die Kinder mit dem Blut erschlagener Feinde, damit
sie ebenso stark werden, taucbt in Ozeanien die Lanzen in
feindlicbes Blut, um sie unbezwingbar zu macben (Mougeolle
Rev. de l'antbrop. XIV [1885], 84). Wer denkt nicbt an
Siegfrieds Feiung durcb das Bad im Dracbenblut (Nibelungen
Str. 899—902)!
Diese Sebnsucbt aller Unterirdiscben, mögen sie nun un-
mittelbar als Tote empfunden sein oder zur Gespensterwelt
geboren, Erdkobolde oder Teufel heißen, gebt durcb alle Vor-
^ Viel hierher Gehöriges hat Frazer gesammelt in seinem Pausanias
vol. III p. 20 — 22.
Rot und Tot 23
Stellungen noch des heutigen Volksglaubens durch; mit Blut
verschreibt sich Faust dem Mephisto, in rotem, goldverbrämtem
Kleide tritt noch bei Goethe Mephisto auf, die rote Hahnenfeder
schmückt seinen Hut. Satan ist „der Rote", doch gewiß eher,
weil er der „Unterirdische" ist, wie als Nachfolger des Blitz-
und Donnergottes Donar, der „rot" war, wie der indische
Rudra, weil Rot die Farbe von Licht und Feuer ist. So sind
noch heute in Hinterpommern die Unterirdischen kenntlich an
roten Mützen, die sie regelmäßig tragen (Knoop, Volkssagen,
Erzählungen usw. aus dem östlichen Hinterpommem, 108). So
anderswo die Erdmännchen, Zwerge, Kobolde usw. So werden
noch heute als Rarität in den Wiener Sammlungen (früher in
der Hofburg) zwei Alraune aufbewahrt, die in rote Scharlach-
gewänder gekleidet sind (Rochholz). So haben die Hexen rote
Augen, auch wohl rote Haare. Die Geister des irischen Volks-
glaubens sind rot gekleidet und dabei boshaft und tückisch (ge-
wiß nicht, wie Rochholz meint, weil die in Irland so un-
beliebten englischen Soldaten rot gekleidet seien). Rote Haare
und roter Bart zeigen nach weitverbreitetem Volksglauben
boshafte, tückische Art an.^ Nach aargauischem Glauben steckt
sogar in rotem Schwein eine Hexe. Judas hatte nach der
Ansicht des Volkes rote Haare.
Die Versuchung läge sehr nahe, solche Betrachtungen über
die Bedeutung der roten — und zwar der blutroten — Farbe
noch weiter auszuspinnen, an ihre Bedeutung als Farbe des
Blutes zunächst ihren abwehrenden, apotropäischen Charakter
anzuknüpfen, daran wieder ihre Bedeutung als Glücksfarbe,
Hoheitsfarbe usw. Ein langes und ungemein interessantes,
überall in die Gegenwart hinabführendes Kapitel. Doch würde
mich dessen Verfolgung zu weit abbringen von dem Rahmen,
welchen ich diesen meinen Betrachtungen habe geben wollen,
^ Wackernagel Kleine Schriften I 172 ff., Grimm DWTSl 1296,
Schiller - Lübben Mittelniederdeutsches Wörterb. in 512, Wuttke- Meyer
Völksabergl. 218 u. sonst oft.
24 Friedrich von Duhn Rot und Tot
durch die Übersclirift „R^^ ^^^ Tot". Ich wünschte zu zeigen,
an einem Beispiel, wie sorgsame Sammlung und Untersuchung
von Bräuchen, die nur in der Peripherie der Mittelmeergebiete,
in Spanien und Rußland noch in die Metallzeit hinabreichen,
in den zwischenliegenden Ländern schon in der Steinzeit zu
Ende gehen, aber bei Naturvölkern klärende Parallelen haben,
uns helfen können, um Erscheinungen der klassischen Zeiten,
ja in einigen Ausschwingungen noch unserer Tage als rudimen-
täre Überlebsel primitiven Denkens zu erfassen und so zu
verstehen.
Hermes und die Hermetik
Von Th. Zieliuski in Petersburg
[Schluß]
n
Der Ursprung der Hermetik
23. Im vorhergehenden Abschnitt haben wir dargelegt
daß in der hermetischen Literatur drei dogmatische Schichten
durcheinander gerührt sind; es wird im Interesse der folgenden
Untersuchung angezeigt sein, die hauptsächlichen Dogmen in
knappster Fassung nebeneinander zu stellen:
peripatetische *
Fassung
' platonisierende '
Fassung
' pantlieistische '
Fassung
1) Wer hat die Welt erschaffen?
Die 'hermetische Drei-
faltigkeit': Novs, Novg
driiiLOVQyog ( ='Epfti]s)
und Aoyog.
Bei Novg archetypisch
im Sein, worauf sie die
BovXriaLg &60v Xaßovca
tbv Aoyov in der Er-
scheinung nachbildete.
Gott, indem er aus
sich die Welt als zweites
göttliches Wesen schuf.
2) Wo kommt das Übel her?
Aus der Welt, die ein
TcXrjQcaiiu %ccy,iag ist und
das Gute nicht faßt.
Aus der Erde allein,
während die Welt gut
ist.
Aus der Welt, die wohl
bonorum plenissima ist,
aber als das All auch
die Samen des Übels
enthielt.
3) Wie ist der Mensch gefallen?
Durch Ansteckung der
PI anetengeister , deren
Sphären er im Gottähn-
lichkeitswahn durch-
brechen wollte.
Durch Vermählung
mit der Erscheinung
und seinem Trugbild
darin, zu dem er in
Liebe entbrannte.
Überhaupt nicht.
26
Th. Zielinski
peripatetische'
Fassung
platonisierende '
Passung
'pantheistische'
Fassung
4) Wozu ist der Mensch ins irdische Leben versetzt?
Zur Strafe für den
Sündenfall.
Zur Strafe
Sündenfall.
für den
Als Zuschauer der
Herrlichkeit der Welt.
5) Was ist das riXog^des Lebens?
Die Rückkehr zu Gott Die Rückkehr zu Gott 1 Die Verjüngung der
(ccjtod'icoöLg). {jtalLyysvseia). \ Welt {aravsoGisy
6) Wie wird die Rückkehr zu Gott erreicht?
Durch tugendhaften 1 Durch Abtötung der
Wandel. Sinne.
7) Wie wird das Böse bestraft'
Durch
den
tllKOQOg
Das Mittel der notwen-
digen Fortpflanzung.
Durch Wanderung der
Seele in Tierleiber.
8) Was ist der ^gag?
Als Ursache des To-
des das hauptsächliche
Übel.
Durch sich selbst.
Ein herrliches Myste-
rium.
Das Besitztum weni-
ger, die er zu Gott führt.
Die allgemeine Gabe.
9) Was ist der vovg?
Das Besitztum weni-
ger, die er zu Gott führt.
Wie sich der Leser ferner erinnern wird, ist die ^peripa-
tetische' Fassung die Grundfassung der Hermetik; die plato-
nisierende offenbart sich schon dadurch als ein späterer Ein-
schub, weil in ihr für Hermes schlechterdings kein Platz ist.
In der Tat, wenn wir, dem obigen Grundsatz gemäß (§ 21),
das Mythologem als den Vater des Philosophems ansehen, so
ist Hermes — neben Zeus — der zweite Gott der Hermetik;
er ist somit in der peripatetischen Fassung der Novg ^rjiiiovQyog,
in der pantheistischen der göttliche Kosmos — für die erstere
Annahme enthielt die Koqt} xööiiov die Bestätigung, für die
zweite steht sie noch aus. Anders die platonisierende Fassung:
sie bietet uns keinen Hermes, ist somit in der Hermetik nicht
ursprünglich. Und da sie sich zudem voll und ganz erklären
Hermes und die Hermetik 27
läßt als die Verbindung platonisierender Ideen mit der Hermetik,
so ist es klar, daß die Untersucliung vom Ursprung dieser
letzteren es nur mit zwei Fassungen — der peripatetischen
und der pantheistischen — zu tun hat. Die theologische Formel
der peripatetischen lautet: Hermes ist der schöpferische
Novg] die der pantheistischen : Hermes ist der Kosmos.
Das müssen unsere Leitsterne sein für die Forschung nach
dem Ursprung der Hermetik. Aber wohin sollen wir den Weg
nehmen?
Reitzenstein antwortet: nach Ägypten. Mit welchem Recht,
das wird der Leser schon auf Grund unseres ersten Abschnittes
beurteilen können. Wir haben den gesamten Ideengehalt der
Hermetik aufgerührt; hat er je das Gefühl gehabt, nicht auf
griechischem Boden zu stehen? Der Hauptfehler Reitzensteins
war, daß er den Unterschied zwischen der höheren und
der niederen Hermetik vollkommen verwischt hat. Die
niedere, die Magie und Alchemie vereinigt, deren Literatur
die Zauberpapyri und die Goldmacherrezepte bilden, — sie hat
tatsächlich aus ägyptischen Quellen geschöpft, sie konnte es
auch, da das Vorhandene verwendbar war. Die höhere Hermetik
dagegen — diejenige, mit der wir es hier zu tun haben —
konnte es beim besten WiUen nicht. Was man so „ägyptische
Religionsphilosophie" nennen könnte, mußte dem griechischen
und griechisch gebildeten Geist einfach unverständlich sein;
es sind tatsächlich, wie der hermetische Spötter sagt, g)G}vccC,
nicht Xöyog^ die griechisch überhaupt nicht wiederzugeben sind.
Wir wollen das an dem Resultat feststellen, das Reitzen-
stein selber für das sicherste hält. S. 62 &. wird der ägyptische
Hymnus auf Ptah mitgeteilt. Der Hymnologe unterscheidet
von ihm acht 'Erscheinungsformen', die vierte ist 'Ptah der
Große'. Er ist zugleich der Allgott Atum; Horus ist als das
Herz, Thot als die Zunge des Götterkreises Abbild des Atum;
Thot ist in Atum als Ptah entstanden (das begreife einer!).
Das Bewegen aller Glieder vollzieht sich nach Ptahs Befehl
28 Th. Zielinski
wegen des Wunsches des Herzens, welcher von der Zunge
kommt und die Gesamtheit der Dinge tut. Thot vereinigte
sich mit Ptah, nachdem er alle Dinge hervorgebracht hatte usw.
— Will man den ^ Gedankengehalt' dieses Theologems griechisch
ausdrücken, so erhält man (da Ptah = Hephäst, Horus = Apollon
und Thot = Hermes ist) folgendes: „Auf den Befehl des Hephäst,
den ihm Apollon überbrachte, hat Hermes die Dinge geschaffen
und sich nachher mit Hephäst vereinigt" — wie wenig das
mit der Hermetik zu tun hat, sieht jeder. Anders Reitzenstein
(S. 66): Ptah ... ist als Zunge, als Wort, niedergestiegen, die
diccKoöiirjötg zu vollbringen; aber das Wort ist nur der aus
der Person herausgetretene, gewissermaßen emanierte Gedanke
„Thot und Horus sind unlöslich in Ptah verbunden" (so wird
also zunächst für ^ Zunge' — 'Wort' und für 'Wunsch' —
'Gedanke' substituiert). „Für den Griechen, der solche Lehre
etwa hörte, mußte sich von selbst folgende Abfolge (!) von
göttlichen Wesen bilden: d'sog — drj^iovQyog oder drj^iovQybg
Novg (das soll Ptah sein — mit welchem Recht, mag der Leser
entscheiden) — , endlich Novg und Aoyog (also eine Vier-
faltigkeit). Das trifft in der Hauptsache wunderbar mit der
Grundvorstellung im Poimandres zusammen . . ."
Mit Yerlaub : alle willkürlichen Interpolationen Reitzensteins
einmal zugegeben, wäre der drj^iovQybg Novg der Ptah; nun
schafft aber im Hymnus nicht Ptah unmittelbar die Dinge, sondern
Thot, im Poimandres dagegen eben der drjiiLovQybg Novg auf Be-
fehl des ersten Novg: wo ist denn da die Ähnlichkeit? Doch weiter:
„Ja, diese Übereinstimmung wird noch stärker, wenn wir
erwägen, daß, wenn Thot nach der dianoöiirjöLg sich wieder
mit Ptah vereinigt, er diese Ordnung von ihm getrennt, also
von ihm entsendet oder emaniert, vollzogen haben muß.^ Der
Verfasser hat die Anschauung, daß das Wort nur der heraus-
^ Hoffentlicli treffen wir damit den Sinn des Ägypters; im allge-
meinen ist es unverzeihlicher Optimismus , zu glauben, daß unsere Logik
auf die ägyptische Theologie anwendbar ist.
Hermes nnd die Hermetik 29
tretende Gedanke ist und beide unlöslich zusammengeliören,
scharf zum Ausdruck gebracht.^ Hierdurch erklärt sich jene
in der griechischen Schrift uns früher unerklärbare Angabe,
daß der Aoyog nach Vollziehung der diccxoö^r^öig zu dem
dr][iiovQybg Novg zurückkehrt und mit ihm zusammen ein ein-
ziges Wesen ausmacht." Diese Angabe haben wir oben (§ 6;
u. S. 37) auf dem Boden der Hermetik selber erklärt; Reitzen-
steins Erklärungsversuch ist keiner, eben weil seine Gleichung
Ptah = iVb'Og drjiiiovQyog reine Willkür ist; will man durchaus
die ägyptische Göttertetras mit der hermetischen Dreifaltigkeit
parallelisieren, so ist Ptah — der Urschöpfer — natürlich der
erste Novg, Horus als der Wunsch, aus dem Reitzenstein den
* Gedanken' macht, der zweite Novg und Thot der Logos —
und da sieht man, daß nichts stimmt.
Und das ist die Methode, die Reitzenstein S. 68 ausrufen
läßt: „Mit ungeahnter Sicherheit hat sich der eine Teil der
Poimandreslehre als ägyptisch nachweisen lassen!" Ich habe
es für meine Pflicht gehalten, sie einmal kritisch zu beleuchten,
nachdem Wessely (Woch. f. kl. Phil. 1904, S. 562) gerade diesen
Teil der Reitzenstein sehen Resultate gebilligt hat; ich fürchte,
die ungesunden Dünste der ägyptischen Theologie können es
auch anderen antun, wenn nicht rechtzeitig für scharfe kritische
Zugluft gesorgt wird. Und da Reitzenstein selber dieses Stück
für das sicherste ausgibt, so glaube ich mit der Erklärung,
daß in der höheren Hermetik, von Äußerlichkeiten
abgesehen^, gar nichts Ägyptisches enthalten ist —
^ So scharf, daß beide Begriffe in ihn erst hineininterpoliert werden
mußten, damit die „Anschauung" herauskomme.
^ Dazu gehören die Namen Ammon, Tat, Isis, Horus, die dazu
dienen, den Offenbarungen den Schein eines fabelhaften Alters zu geben
— so hat ja auch die griechisch -babylonische Astrologie die ägyptischen
Schwindelzahlen sich nutzbar zu machen verstanden. Ferner einige
Kleinigkeiten, die über die niedere Hermetik in die höhere gedrungen
sind , wie die vyQä ä^iiog im loyog hgog HI u. dgl. m. Mit der niederen
Hermetik ist die höhere allerdings durch mancherlei Fäden verbunden;
da behalten die Untersuchungen Reitzensteins ihren Wert.
30 Th. Zielinski
dem gesamten Nebelmeer der ägyptisclieii Theologie den
Rücken keliren zu dürfen.
24. Den nächsten Schritt wird uns ein Denkmal ermög-
lichen, dessen Einreihung in unser Forschungsmaterial gleich-
falls Reitzensteins Verdienst ist — die Straßburger Kosmo-
gonie (herausg. in „Zwei religionsgeschichtliche Fragen",
Straßb. 1901). Es ist ein episches Fragment aus zweimal 45
Zeilen bestehend, beidemal zu Anfang besser, gegen das Ende
schlechter erhalten. Aus der gleichen Zeit und von der gleichen
Handschrift ist ein poetisches Enkomion auf Diokletian und
die Seinen; daraus folgert Reitzenstein, daß auch die Kosmo-
gonie um diese Zeit gedichtet ist. Daß der Schluß gewagt
ist, braucht nicht bewiesen zu werden; doch ist die Zeit des
Gedichtes gleichgültig (nur als Terminus ad quem ist 300 n.Chr.
von Wert), wichtig die Zeit der Lehre; und da werden wir
sehen, daß es sich um ein dem Poimandres vorausliegendes
Glied in der Entwicklung der Hermetik handelt.
Ich führe die entscheidenden Stellen mit Reitzensteins
Ergänzungen an. Wo das Fragment beginnt, handelt es sich
um die Erschaffung des Hermes.
[gJ^e^'üCTag XLva (iolqccv srig TtoXveiöiog «^5«[^g].^
zstvog 07} vsog iörlv ifibg ncctQmog 'EQfiT^g^^
reo (idla TtoXX' iTcetsXXe Tia^stv iteqiY.ccllia %\o6\iov].
^ Dazu Reitzenstein: „Wiewohl die Erwähnung der Kräfte an Philo,
die Betonung der Emanation an die Gnosis erinnern könnte, wird es
besser sein (sie) , an ägyptische priesterliche Formeln und Vorstellungen
zu denken. Von dem Gotte Tun heißt es „dein Auswurf ward zum
Gotte Schu und dein Ausguß zur Göttin Tafnut". — Mit anderen Worten :
„wiewohl uns die besten Analogien auf griechischem Boden zu Gebote
stehen, wird es besser sein, total unähnliche aus der ägyptischen Reli-
gion heranzuziehen." Hat Zeus den Hermes etwa „ausgeworfen"? —
Ist etwa Schu = Hermes? Es ist übrigens auch gar nicht gesagt, daß
das ^l^Qvüa? auf die Erschaffung des Hermes durch Zeus gehe.
^ Hier ist viog unverständlich (anders Eratosth. Hermes fr. 15
Hiller); ich schwanke, ob (im Hinblick auf den Poimandres) JVoog oder.
Hermes und die Hermetik 31
Er gibt ilim daher den schöpferischen goldenen Stab als
Tfdörjg evEQyoLO vorj(iovcc (irjteQa riivrig^
und setzt sich selbst iv jtsQicoTtfj^ um die Werke des Sohnes
zu schauen. Dieser geht an die Arbeit.
Nun ist so viel klar: wenn dem Hermes aufgetragen wird^
die Welt zu schaffen, kann er nicht selbst diese Welt sein:
wir stehen auf dualistischem, nicht auf pantheistischem Boden.
Wenn also fortgefahren wird:
avtaQ 6 'd'S(i7te0Lriv g)OQmv TetQa^vya ^lo^cp^v
10 6(pd-al^ov[g %uii\^v6£ ^6} %\jB8a^o^hrig vnsq ai'ylrjg,
so ist entweder die tstQci^v^ iiOQg)7] nicht die Welt in ihren
vier Elementen, oder g)0Q8(ov kann nicht richtig sein. Nun
ist ersteres unzweifelhaft^; also ist (poQscov zu ändern. In der
mit Verkürzung der Pänultima, dr\vai6s zu schreiben ist. 'Eybog nutQmXog^
'EQiifig ist am natürlichsten aus hermetischen Quellen zu erklären: Äscl. 37
Hermes cuius avitum mihi nömen est. Er ist für den Redner 'jtccTQmog^
wie Zeus für Herakles, Soph. Track. 288.
^ Dazu vergleicht Reitzenstein selbst hymn. Merc. 529 Tcdvrccg
iniTiQalvovecc d'sovg hciav ts v.cd ^gycov und fährt fort: „Die Erfindung
kann also alt sein; doch wirken auf den Dichter sicher (!) jüngere
Zaubervorstellungen mit ein." Und nun wird der Stab des Moses =
Hermes = Thot herangezogen , der Stab der Isis — und so der ägyptische
Einfluß 'bewiesen'.
^ Reitzenstein : „tEtQd^vya bezieht B. Keil auf die vier Elemente^
und hierfür würden Nonnos 12, 119 oXa xstQa^vyi xoeiim und Philo tcsqI
(fvyddcov 562, 23 sprechen. Doch wirkt zugleich wohl auch eine ägyp-
tische Vorstellung mit. Über die Bilder des Thot als Sonnengott (viel-
mehr : einfach des Sonnengottes) vgl. Macr. Sat. 1 19, 10." Da jedoch letztere
Stelle für rsrgd^v^ nichts abwirft, schwebt die „ägyptische Vorstellung"
in der Luft. Entschiedener ist Reitzenstein im Poimandres 115; dort
sagt er, charakteristisch genug, „In dem Gedicht . . . habe ich die ägyp-
tischen Elemente . . . noch zu wenig hervorgehoben. Zu den beiden
Versen avtccQ xtL ist die oben ... erwiesene Vorstellung, daß Hermes
in jedem der vier Himmelsteile eine andere Gestalt hat, und die für
den Sonnengott übliche Formel 'der sich selbst verhüllt in seiner
Pupille und dessen Geist aus seinen Augen hellstrahlend leuchtet' zu
vergleichen." Was der letztangeführte Aberwitz mit unserer Stelle zu
tun hat, sehe ich nicht ein. Die vier Gestalten des Hermes sind: im
32 Th. Zielinski
Tat, warum schließt Hermes die Augen ?^ Die Antwort gibt
öüsSa^o[ievr}g vtisq atyXrjg. Die Elemente sind noch vermischt,
das Feuer durchdringt den ganzen Ball. Kein Auge kann den
unendlichen Glanz aushalten; das verlangt aber nicht cpogscDv,
sondern iq)OQ&v. Vom Schicksal der ^aQuccQvyt] war im
zerstörten Y. 22 die Rede; sie verzieht sich zunächst in die
oberen Regionen und bildet den aiyX7]svta aid-BQa (V. 25),
bis aus ihr die Gestirne werden.
Mit seinem Wort und dem goldenen Stab macht Hermes
dem Widerstreit der Elemente ein Ende; sie gehen auseinander,
einer besseren Vereinigung in der Zukunft gewärtig. Nun
bringt Hermes zunächst den Äther in kreisende Bewegung^, bildet
sodann den Himmel als eine Hohlkugel, schmückt ihn mit
den sieben Zonen, jede von einem Sterngeist beherrscht, deren
Wandel das Schicksal bestimmt.^ In der Mitte der Hohlkugel
befestigt er aber die Erde, deren Achse, von den beiden
Polen begrenzt, sich vom glühenden Süden zum kalten
Norden hinzieht. Auf der Erde sind zwei Weltteile, vom
Ozean umgeben und durch einen langen Golf voneinander ge-
trennt.
Osten der Ibis, im Westen der Pavian, im Norden die Schlange, im
Süden der Wolf; die sollen hier gemeint sein, statt der vier Elemente?
Trotzdem für tstQa^v^ nur diese, nicht jene Bedeutung erwiesen ist? —
Und nun der Schluß: „Man kann das Lied in Wahrheit ebensowohl
ganz ägyptisch nennen." Homer und Hesiod bekanntHch auch — nach
derselben Methode.
^ Auch hier Reitzensteins ägjrptische Phantasien: „ich bin der, der,
wenn er die Augen öffnet, so wird es hell, und wenn er die Augen
schließt, so wird es dunkel." Nun, Hermes schließt die Augen, und es
wird nicht dunkel (Y. 22,25); wozu sollte es auch? Wo bleibt dann
aber die Ähnlichkeit?
* V 26 eher TcaXivSivritov [^r£v|e]; Reitzensteins [avayxrjr] läßt
keine Konstruktion zu.
' Reitzensteins Ergänzung aXri ^'' {yBiQ^a. divBt\ ist astronomisch
falsch: die tbIqbcc sind am Firmament befestigt, dessen Drehung von der
der Planeten unabhängig ist. Anknüpfend an Foim. 9 xal ij dioUrieig
ccvtmv sliiag^^vri ttaXsttcci ist [fiotgav vcpalvsL] oder ähnlich zu schreiben.
Hermes und die Hermetik 33
Hier bricht die eine Hälfte des Fragmentes ab; die zweite
hat es mit der ErschaJBPung des Menschen zu tun.
Noch gab es weder Sonne noch Mond; es herrschte die
taglose Nacht, vom Sternenschimmer erhellt. Da geht Hermes
ans Werk: durch die neblige Luft steigt er zur Erde nieder,
von seinem Sohne Logos begleitet. Er geht auf die Suche
nach einem x&Qog [ivxQrf\rog, um dort eine Stadt zu gründen,
aörv \%aX6jv ccvdiijearov^ o x,ev nsTtoliß^hov eiri
aS,Lo\y ävxl'QcoTtoDv yevejriv svcpsyyia SeyQ'aL^
wie ich ergänzen möchte. Den Norden verwirft er (Y. 15 — 20)
als unfähig, das Menschengeschlecht aufzuziehen; ebenso den
Süden (Y. 21 — 2^): zusammenfassend betont Y. 27 — 30 die
Ungeeignetheit beider großer Weltteile (Y. 21 . , . dvco aatä
Tcoö^ov saöi) zur Aufnahme des Menschensamens; was bleibt
dann aber übrig? Ich denke, wenn die i'JTtsiQOC ausgeschlossen
werden, so bleibt eine Insel, eine vfjöog nach . . . vielleicht die
des Pelops? Sehen wir erst die Bruchstücke der arg beschädigten
Stelle an: Y. 33 . . . dyxsavolOf 34 , . . vo^Cr}div söoötcsv (ßdozsv?).
In diesem Zusammenhang läßt sich kaum etwas anderes ergänzen
als [vv^Kpccigl voiiii^öiv. Das würde stimmen: Nomia ist als
Schwester der Kallisto eine arkadische Nymphe. No^ia heißt
eine arkadische Bergkette mit einem Heiligtum des Pan Nomios
(Paus. X 31, 10; YIII 38, 11). Also war von Bergen die Rede,
die Hermes den Nymphen der Weide schenkte; wenn es weiter
heißt . . . ta)v ds ys iiiööog^ so verstehen wir das am ehesten
von einem Fluß, der mitten aus den Bergen entspringt, viel-
leicht vom Zauberstab des Hermes hervorgerufen. Ist von
Arkadien die Rede, so kann nur Arkadiens Hauptfluß gemeint
sein, der Ladon. Weiter mit Reitzensteins gefälligen Ergänzungen
[lexlaoiäg GyyvyCi] x[ov]v — , also wird die arkadische Erde vom
Flusse befruchtet. Kann die nun coyvyCi] heißen? Allerdings':
^ Reitzenstein legt viel Wert darauf, daß Ägypten bei Steph.
Byz. ayvyicc Meß. Nun ja; es war aber auch 'ÄQ^udla Alyv-rctov noXig,
nach demselben Steph. Byz.
Archiv f. Keligionswissenschaft IX 3
34 Th. Zielinski
Call. I 13 von Parrhasia aXXd i 'PsCrjs ciyvyiov KaXeovöi
Xs%6iov 'A%idavfiB$ (='AQ7tdÖ£g). Das .Weitere ist unverständ-
lich, aber von einer Tochter des Ladon und der Erde weiß
die Sage allerdings zu erzählen: es war Daphne (Sjhel in
Roschers Lex. Myth. s. v.; s. u. § 28).
25. Das ist freilich erst eine Möglichkeit: die Gewißheit
muß anderswoher kommen. Aber so viel ist sicher: von der
ganzen Straßburger Kosmogonie ist auch nicht ein Atom auf
ägyptische und überhaupt außergriechische Einflüsse zurück-
zuführen. — Und nun nehmen wir die einzelnen Punkte durch.
Auch die Straßburger Kosmogonie erkennt eine Dreifaltig-
keit an: Gott der Yater (des Hermes, also Zeus), Hermes
und Logos. Und zwar ist Hermes der Demiurg, Sohn des
obersten Gottes, Logos dagegen Sohn des Hermes. Das stimmt
bis auf einen Punkt genau mit der Poimandrestheologie über-
ein: den Novg ^rjiiLovQyög hatte ja schon die Köqt] xöö^ov durch
Hermes ersetzt, oder vielmehr — da das Mythologem der
Vater des Philosophems ist — statt des jüngeren metaphysischen
den älteren religiösen Begriff bewahrt. Der unterscheidende
Punkt ist aber folgender: in der Straßburger Kosmogonie ist
Logos Sohn des Hermes und somit Enkel des Zeus, im
Poimandres ist er Sohn des obersten Novg und somit Bruder des
Novg ^Tj^iovQyog. Nun fragt es sich: 1) welche Anschauung
ist die ältere? und 2) was ist der Sinn der Änderung?
Den ersten Punkt betreffend wird man schon deshalb
geneigt sein, der Straßburger Kosmogonie den Vorzug zu
geben, weil sie die mythologischere ist; es kommt aber die
entscheidende Stelle Plato Krat. 408 C hinzu, die Reitzenstein
wohl herangezogen, aber nicht verwertet hat; wir kommen
darauf noch zurück, einstweilen nur so viel: Plato rechnet mit
der gegebenen Vorstellung, daß Hermes Vater des Logos ist.
Somit ist die Straßburger Kosmogonie ein Mittelglied zwischen
Plato und dem Poimandres; und wie sie an Plato, so findet
Hermes und die Hermetik 35
der Poimandres seinen AnscMuß an die Logosspekulationen,
die im johanneischen Evangelium gipfeln. Logos ist es, der
die Elemente scheidet und somit den Kosmos zum Kosmos
macht, er ist nicht nur unmittelbar Sohn des obersten Gottes,
sondern auch dessen ältester Sohn; so erst wurde die Welt-
schöpfung durch den Logos möglich. Damit ist auch der
zweite Punkt beantwortet.
Halten wir am Resultat fest: die Straßburger Kosmogonie
ist als Lehre älter als der Poimandres nebst der KÖQrj xöö^ov.
So haben wir die hermetische Theologie rückmythologisiert,
im ersten Novs den Zeus, im Novs ^druiiovQyög seinen Sohn
Hermes erkannt; damit ist auch die Sicherheit gewonnen, daß
auch das dritte Glied der Dreifaltigkeit, Hermes' Sohn Logos,
das metaphysische Substitut einer ursprünglich mythologischen
Potenz ist. Welches ist nun diese mythologische Potenz? —
Die Interpretation der Kosmogonie hatte uns nach Arkadien
geführt und somit nach der alten Heimat des kyllenischen
Hermes; dort ist nun der Sohn des Hermes wohlbekannt —
er heißt Pan. Dürfen wir nun den Pan als das mythologische
Äquivalent des Logos betrachten? Die ganze Beweisführung
zwingt uns dazu; aber wir haben auch ein direktes Zeugnis,
es ist das soeben zitierte platonische. Man vergleiche:
27. 52. Kai tö ys xov Uäva rov ^Eq^ov elvai vlbv dLcpvf}
£%si To £k(5g, G3 BtalQS... Olöd'a^ ort 6 Xöyog rb „:;rai/"
6riiiaCv8i Tcal TiVTcXsl Tcal ,^7CoXsl dsC'\ %aC 86t i dLJtXovg, äXri~
^'Yig xs Tial ijjsvdTJg . . . Ovxovv tb [isv äXrjd'hg avtov Xstov
aal d'slov Tioi avco ohovv hv toig d'sotg^ rö de ipsvdog xdto)
ev tolg :toXXolg tcov dvd'QayTtcov Ttal tQa%v xal tQayLüöv; . . .
dgd'&g ÜQU 6 „^tav" ^rjvvcov ^al „afl TtoXcov^' — ^,näv"
„aiTtöXog" EiTjj dicpvrig 'Eq^ov vlög^ tä ^hv avcod'sv Xslog, tä ds
Ttdtcod'sv tQa%vg xal tQayosidTJg. xal sätiv ijtoi Xöyog rj Xöyov
ddsXcpbg 6 ITav, sotcsq 'Eq^ov vlög k6tiv.
Gerade die letzten Worte beweisen, daß das Mythologem,
„Logos Sohn des Hermes" für Plato ein gegebenes war. —
3*
36 Th. Zielinski
Ob es ihm selbst mit dieser Tbeorie Ernst war, können wir
nicbt entscheiden: sicher ist, 1) daß sie auf die sehr ernst
gemeinte Lehre von den hypostasierten ä^(p(o tk) Xöyco in
der Sophistik, die uns aus Aristophanes geläufig ist, zurück-
geht, und 2) daß sie in der Folgezeit sehr ernst genommen
wurde. Man sehe sich die den Logos betreffenden Verse in
der Kosmogonie an:
. . . 6VV Tc3 ye Aoyog kIsv aylabg vtog^
XccLtljrjQaLg ntSQvysööi %eyM6(isvog^ alsv aAt^-ö'-^g,
ayvriv ccrQSKES66Lv eioav iitl %slXeGL itsi.&co,
TtatQcoov Kd&ccQoto vori(iccrog ayyslog ojKvg.
Ist es nicht eine offenbare Polemik mit der platonischen
Theorie vom Xöyog diJtXovg, ccXrjd-TJg re Tcal ifjsvdtjg? Und daß
die Theorie lange Zeit in den religionsphilosophischen Kreisen
lebendig blieb, das sehen wir daraus, daß der Verfasser der
von Hippolyt V 134 ff. exzerpierten Schrift (Reitzenstein 83 ff.)
sie wiedergibt (160): rbv avrbv dh rovrov (^'Avd'QOTtov näml.
Attis) ol ^Qvyeg ^cc^ZcDc^n/ „c^f:rdAoi^", ov^ on sßoöxsv atyag
oittl tQccyovg, d)g ol tl^vx^^ol övo^d^ovöiv^ äXX oxi eötiv ,,dei-
7t6Xog'\ xovx s6tiv 6 „a£t TtoX&v^' Tcal ötQB(pG)v xccl utSQieXavvcjv
rbv 7i60[iov olov ötQOcpfj.
Also noch einmal: das Mythologem, das mit stufenweiser
metaphysischer Umdeutung in die Lehre der Straßburger
Kosmogonie, von dort in die Poimandreslehre, von dort in
die spätere Hermetik — und daneben in die Lehre der Stoa
und die sonstige Logosspekulation — übergegangen ist,
lautete ursprünglich folgendermaßen: Zeus zeugte den Hermes,
Hermes den Pan. Gewiß ist in dieser Fassung mitnichten die
Tiefe der späteren Spekulation auch nur als Keimanlage ent-
halten; aber ebenso sicher scheint mir zu sein, daß niemand
auf den Einfall gekommen wäre, den Xöyog als Gottheit zu
hypostasieren, wenn sich diese Göttlichkeit nicht von selbst
als philosophische Umdeutung des ursprünglichen Pan-Mytho-
logems ergeben hätte. Und hier ist der Punkt, wo die
Hermes und die Hermetik 37
gesamte Logosforschung einzusetzen hat. Theoretisch geben
alle zu, daß das mythologische Denken dem metaphysischen
vorangegangen ist; praktisch scheut man sich, die Konsequenzen
zu ziehen und die griechische Philosophie aus der griechischen
Religion zu entwickeln.
Hier liegt die Sache deutlich, die Tradition kommt der
Deduktion bestätigend entgegen. Nur eins bleibt unserem
Scharfsinn zu erraten übrig: wie kam es, daß Pan gerade zu
Logos umgedeutet wurde? Die Umdeutung setzt die Gleichung
Hermes == iVb-Og voraus: weil der Gedanke Vater des Wortes
ist, muß der Logos der Sohn des Hermes sein. So kommen
wir denn mit der Gleichung Hermes =iVbvs in eine recht frühe,
jedenfalls vorplatonische Zeit. — Und noch eins: das Mythologem
„Hermes Yater des Pan" ist nur in einer Gegend Griechenlands
heimisch: Pan ist spezifisch arkadischer Gott. So werden wir
denn aber und aber nach Arkadien geführt: es ist nicht anders,
wir müssen eine altarkadische hermetische Kosmogonie
annehmen. Das wird sich uns auch sonst bestätigen.
Daß überhaupt gedeutet wurde, dazu mag die Mißgestalt
des arkadischen Öerdengottes mit die Veranlassung gegeben
haben. Er war ein dicpvTJg] um ihn aufgeklärten Verehrern
genießbar zu machen, mußte man ihn symbolisch erklären.
Wie sich die Pantheisten des Themas bemächtigten, wird noch
zu entwickeln sein (§ 32); hier stehen wir auf dem Boden des
Dualismus. Pan konnte nur der Logos, der wahr -falsche sein.
Einer späteren Zeit genügt auch das nicht mehr: Logos war
der nur -wahre. In Verbindung damit wurde auch die Doppel-
gestalt fallen gelassen, Logos war geflügelt und göttlich. Nur
eine Reminiszenz blieb noch: er mußte dennoch, seiner früheren
Doppelgestalt entsprechend, avcs oixätv iv tolg d'eolg und xdtco
iv tolg jcoXXolg sein. Diese Spur hat sich bis in den Poimandres
erhalten: § 10 iTCTjdrjösv svd'vg ix x&v xatcocpSQ&v ötoixsCaiv
6 Tov d'sov Aöyog sig rö xa-^-a^öv tfjg (pv6Bcog drj^iovQyriiia
xal '^v(b%'ri t^ druiiovQyGi N&' öiioovöiog yaQ ^v.
38 Th. Zielinski
26. „Jeder Leser liat zunächst wohl daran Anstoß genommen,
daß in unserem Gedicht Sonne und Mond erst nach der
Erschaffung des Menschengeschlechtes zu leuchten
beginnen" — so Reitzenstein ^ (S. 61). Es ist indessen nicht
das erstemal, daß uns dieser Zug begegnet — wir hatten ihn
bereits in der Köqt] xoö^ov (oben § 18). Die Schilderung der
sonnenlosen Zeit ist in beiden Kosmogonien nicht unähnlich;
man vergleiche die Straßburger
[o^TToo] Kv%Xog sriv ^TTtsqiovog ovöe %al avrij
[^EllL]7t(^o)ö(ov (srtvDcßöe) ßoG)v EvXrjQcc Usliqvrjy
\vv\^ ÖS öt7jve%E(üg äreQ i]^arog SQQse (lovvrj
ädtQcov XeTcrccXerjöLv vtco axlXßovöcc ßoXrjöi
mit der Köqi] zoöiiov S. 386, 4 TtXovölccv ts vvxtbg ös^vöri^rcc,
eXdxtovL iisv fjXCov ö^el de TtQoöcpOQOv^svrjv (pG)tL Dort werden
S. 389 f. die Seelen geschaffen, S. 391 die Leiber der Menschen;
bevor die Vereinigung vor sich geht, werden S. 393 die
Planeten um ihre Gaben angegangen, worauf Sonne und Mond
erst zu leuchten versprechen; S. 401 f. werden die Seelen ein-
gekörpert und dadurch erst die Menschen geschaffen, und S. 402
erstrahlen Sonne und Mond in ihrem vollen Glanz. Daß sie
hier und in der Straßburger Kosmogonie als Planeten schon
früher vorhanden sind, ist offenbar Vermittelungstheologie: als
die Schöpfung der sieben Sphären aus Plato in die Hermetik
herübergenommen wurde ^, geriet sie in Widerspruch mit dem
^ Wenn er freilicli fortfährt, „weil die Götter, die in ihnen später
wohnen, bei dieser Schöpfung noch selbst eingreifen", so imputiert er
dem Verfasser des Gedichtes seine eigene Idee — daß Hermes sich
später in die Sonne und der Logos, glaube ich, in den Mond verwandelt.
Zum Glück wird diese Idee, wie sofort ersichtlich, durcla die JCo^?]
Koß^ov widerlegt. — Mit Dank soll dagegen das Zugeständnis notiert
werden „in den altägyptischen Mythen kann wenigstens ich diesen Zug
nicht nachweisen".
^ Alt kann dies mehr astronomische als astrologische Element der
Straßburger Kosmogonie nicht sein (astrologisch ist nur das [(loigav
v(pcclvEL], und das habe ich erst ergänzt); in der vorplatonischen Her-
metik war es somit die sternenhelle Nacht, während deren der erste
Mensch bzw. die ersten Menschen geschaffen wurden.
Hermes und die Hermetik 39
Dogma von der späten Erschaffung von Sonne und Mond; dies
wurde eine Zeitlang mit Hilfe der beregten Fiktion festgehalten
und dann — schon im Poimandres — fallen gelassen. Daraus
sehen wir, daß wir es mit einer uralt hermetischen Vorstellung
zu tun haben.
Ich schäme mich fast fortzufahren: von dem, was ich zu
entwickeln habe, gehört der ganze Ruhm der Entdeckung
Reitzenstein, und nur seine unselige Ägyptomanie hat ihn auch
hier gehindert, seinen Fund zu verwerten. Wenn wir nämlich
fragen: „in welcher Kosmogonie gilt der Satz, daß die Menschen
vor Sonne und Mond erschaffen worden sind?" — so gibt es
darauf nur eine Antwort: in der arkadischen. Die Arkader
sind es, die von den übrigen Hellenen als TtQOösXrjvoi verspottet
wurden^; und der Spottname kann vernünftigerweise nur einen
Sinn haben — nämlich den, den ihm ApoUonios beilegt (IV 264) :
AQKccSsg, o*fc Kai TCQoa&s aelrivairig vösovtai,
t^Biv^ (prjybv k'öovteg ev ovqeölv
Der Spott selber beweist, daß das Dogma als singulär empfunden
wurde; tatsächlich ist von keiner anderen Kosmogonie etwas
Ähnliches nachzuweisen.^ Ist nun der arkadische Ursprung der
^ Die Stellen bei Bursian Geogr. GriecJi. II 190 ^ Wie alt der
Spott ist, wird sich schwer feststellen lassen. Aristoteles setzt ihn als
bekannt voraus in der Tsysatöäv xoXltsIcc (schol. Ap. Rh. IV 264 = fr. 591
Rose). Das Zeugnis des Steph. Byz. s. v. 'Agyiccg: "Itctiv? Sh b ""Priytvog
XiystaL jtQ&tog yiciX^aca TtQoösX'^vovg rovg 'ÄQxddag hat an Wert verloren,
seitdem die Zeit dieses Hippys zweifelhaft geworden ist. Noch wert-
voller würde das Zeugnis des „Pindar" sein (fr. 74 b Sehr.) sl't' 'Agtcadia
TCQOGBlavalov IlsXacyov, wenn die Autorschaft Pindars für diese von
Hippolytos gerettete, doch wohl poetische Auseinandersetzung (V 134)
mehr für sich hätte als die Autorität Schneidewins ; Wilamowitz (Hermes
37, 332) geht nach der anderen Seite zu weit.
^ Da ist nun wieder charakteristisch, wie Reitzenstein auch hier
sein Ägypten hineinzubringen weiß. Bei ApoUonios Rh. IV 261 ist von
einer sehr alten Zeit die Rede, als die Sternbilder noch nicht vollzählig
waren (ov7t(o tsigsa TtdvTcc, td t' oiiQavtp eIXlööovtccl . . . rjsv ccxovßai —
also mit Abzug der jüngeren Katasterismen; daß von Sonne und Mond
hier nicht die Rede ist, beweist schon die Anknüpfung 'Agyiddsg, ol ytccl
40 Th. Zielinski
Hermetik gesicliert? Ich sehe von allen anderen Spuren (§ 25
und 26) ab, halte mich nur an folgendes: 1) auf den Namen
Hermes ist die Hermetik getauft; 2) Hermes ist entweder ein
griechischer oder ein ägyptischer Gott; 3) im ersten Fall ist
Arkadien, im zweiten Ägypten die Heimat der Hermetik;
4) das auffälligste Dogma der hermetischen Kosmogonie, die
'Proselenie' des Menschengeschlechtes, ist in Arkadien singulär,
in Ägypten überhaupt nicht nachzuweisen, — ich denke, das
allein entscheidet die Frage.
27. Die dritte Eigentümlichkeit, die uns die Straßburger
Kosmogonie bietet, ist die, daß schon vor Erschaffung des
Menschengeschlechtes für die ütöXig gesorgt wird, die
es aufnehmen soll. Reitzenstein hat sie S. 57 gebührend be-
tont und auch in dankenswerter Weise zugegeben, daß der
Gedanke „auch im Ägyptischen kaum nachweisbar" ist — so
brauchen wir uns denn bei seinem Versuch, ihn doch aus dem
Ägyptischen herzuleiten, nicht unnütz aufzuhalten.
Trotzdem ist uns der Gedanke nicht ganz neu. Der
„Asclepius" redet c. 27 von den künftigen Weltbeherrschern,
d. h. den Menschen; er kennt sie in einer Stadt, deren sämtliche
Indizien auf Kyrene hindeuten (oben § 21). Daß wir sonach
uns dort in Kyrene, hier in Arkadien befinden, ist nicht eine
Widerlegung, sondern eine Bestätigung unserer Ansicht von
dem Ursprung der Hermetik. Kyrene ist eine Kolonie, die
ihren Sagenschatz dem Mutterlande verdankt; auch ohne die
Straßburger Kosmogonie würden wir vermuten müssen, daß die
Sage von der Urstadt aus dem echten Hellas stammt. Ander-
seits ist eine direkte Einwirkung von Arkadien auf Ägypten
nQoaO'E Zslrivcclr}g väsovtcci ^msLv)', da lebten in Griechenland nur die
Arkader, „die ja selbst vor dem Mond gelebt haben sollen", wohl aber
war Ägypten schon berühmt, und von dort durchzog ein Eroberer
(Sesonchosis) die Erde. Dazu Reitzenstein : „Der Vergleich mit den
'Agyiadsg IlQ06ilr\voi zeigt, daß auch Apollonios meint, die Ägypter seien
vor Sonne und Mond entstanden." Es ist wirklich mehr als schlimm.
Hei-mes und die Hermetik 41
undenkbar; auch ohne den „Asclepius" würden wir uns nach
einem verbindenden Gliede umsehen und dabei mit größter
Wahrscheinlichkeit auf Kyrene raten. Wir schließen also: die
Hermetik hat sich von Arkadien über Kyrene nach
Ägypten verbreitet.^
Der erste Teil des Schlusses — die Hermetik von Arkadien
nach Kyrene — hat an sich nichts Befremdliches; die arkadischen
Einflüsse auf Kyrene hat Studniczka, Kyrene 120 f. zusammen-
gestellt. Am lautesten spricht das historische Faktum, daß
sich die Kyrenäer um 550 ihren Gesetzgeber und Schiedsrichter
Damonax aus dem arkadischen Mantinea holten; ob der Kult
des Zeus Lykaios, den außer Arkadien nur noch Kyrene kannte,
gerade damals herübergeführt wurde oder älter war, läßt sich
nicht entscheiden. Auf ältere Beziehungen führt die Tatsache,
daß der Abschließer des epischen Zyklus, der Kyrenäer
Eugammon, die letzten Odysseusmythen in Arkadien lokalisiert
hatte; doch darüber später (§ 29).
Ich füge noch folgendes hinzu.^ In der Sage von den
^AQxddsg TCQoösXrjvob fällt der Zusammenhang auf, in den der
vor mondliche erste Mensch mit den Eichen des öden Arkadiens
gebracht wird. Die Stelle des Apollonios haben wir oben
gebracht; damit ist zu vergleichen Schol. Ar. Wölk. 397 ßsxxe-
öeXrjvs' ävxl xov äQ%ais xal ^(dqb' rovg yaQ ^(OQOvg äQ%aCovg
eTtdXovv (?) aTtb tfig lötoQCag^^ rovg ^AQ'ndöag ocatä rovg ngb
08l7JV7]g xQ^vovg ev xalg SQTJ^oig dtdyetv rj vtco xalg vXaig ix
xcbv dTtoTCiTtxövxcDv KaQTtöv dia^Tiv Wenn nun der von Hippolyt
^ Erst unter dieser Voraussetzung erhält auch die oben (§ 13)
besprochene Entdeckung Reitzensteins , daß die Vision des Urpoimandres
in Arkadien stattfand, ihren vollen Wert, so daß auch sie hier unter
den Beweisen anzuführen ist.
^ Dahin gehört auch der Drache Ladon bei den Hesperiden in
Kyrene, der natürlich mit dem arkadischen Hauptfluß identisch ist;
s. Wilamowitz Herakles 11^ 96.
^ Über diesen grammatischen Terminus s. Hiller Eratosthenis
carm. rell. S.30, wo unser Beispiel nachzutragen ist.
42 Th. Zielinski
exzerpierte Heide auf Pindar (?) fußend von den Libyern,
d. h. Kyrenäern sagt: Aißvsg dh ragcciiavta^ (pa6i jCQGyxoyovov
ccöxiirjQav dvadvvta tceöCov yXvxsCag aTtaQ^aöd'ai ^ibg ßaXdvov,
so erkennen wir liier unschwer einen Ableger der arkadischen
Sage. Das erlaubt uns, das zlibg ßaXdvov nach Arkadien
zurückzuversetzen: es ist die Eiche des Zeus, die Welteiche,
die den ersten Menschen speiste.^ Spielt die kosmische Vor-
stellung vom Weltbaum hinein? Ist der gestirnte Himmel
seine Krone, dessen Sichtbarkeit Sonne und Mond ausschließt?
Ich mag mich nicht hinein vertiefen; folgendes liegt näher. Ist
die Eiche des Zeus in Arkadien heimisch, so sind es auch die
Tauben, die in ihren Zweigen der Kunde der Erde lauschen
— die TiaXeiai oder ütsXeiddsg. Eine von ihnen ist Maia, die Zeus
zur Mutter des kyllenischen Hermes machte ...
Aber wie stimmt das zur Urstadt? Einerseits der Urmensch,
der in wilden Wäldern haust und von Eicheln lebt — ander-
seits die TtoXig als erste Aufnehmerin des Menschengeschlechtes?
— Eben durch ihre Gegensätzlichkeit werden die beiden Vor-
stellungen zusammengehalten; es spiegelt sich darin der alte
^ So Bergk für das überlieferte taQßccvTcc {'Idgßavta Schneidewin),
wohl mit Recht. In seiner Genealogie haben wir die mythologische
Projektion des Zusammenhanges der peloponnesischen (= arkadischen)
und kretischen Bevölkerung von Kyrene, die uns als historische Tat-
sache gegeben ist durch die damonaktische Phyleneinteilung (Hdt. IV 161
©riQccloav ^ikv xal TCSQLOLKOiv iLiav ^otgccv inoiTiaE, äXXriv Sh TlBXonovvriGioiv
Ttal Kgrit&v^ tQLtr]v dh vfiaicoticov 'Ttavtcav). Seine Mutter ist Akakallis,
deren Name (vgl. Akakesion) und Gemahl (Hermes axaxrjra) nach Arka-
dien weist; doch ist sie Tochter des Minos und von Hermes Mutter des
Kydon, von Apollon des Amphithemis = Garamas (Amphithemis „ringsum
herrschend", vgl. IIb. Jb. 1899 I 90 \ Symbol von Kyrene), dessen Ge-
burt in Libyen erfolgt. Kreta muß Zwischenstation gewesen sein von
Arkadien nach Kyrene — wie denn auch Agroitas die Kyrene vjtb 'AnoX-
X(üvo<i stg Kqrixriv 'ao^i6%"fivai, iKstd^sv dh stg Äißvriv läßt (Studniczka
Kyrene 127).
^ Und erzeugte. Das ist der Sinn des homerischen ov yuQ cctco
Sgvog §661, TcaXaLcpdrov t 163 (zu dem parallelen ovd' cctco itirgrig s. u.
§ 32). Vgl. die ersten Phrygier dsvSQOcpvsts avaßXaerdvovtsg in der Vorlage
des Hippolyt V 134.
Hermes und die Hermetik 43
Gegensatz der arkadischen Kultur, die Wildheit der Hirten-
bevölkerung und die städtische Organisation von Mantineia.
Gerade diese letztere Stadt war es ja, die durch ihren Sendling
Damonax die kyrenische Religion beeinflußte.
Und sollte dieser Umstand uns nicht veranlassen, einem
anderen, mehr als ein Jahrhundert späteren Sendling Manti-
neias mit mehr Vertrauen zu begegnen? Wir meinen natürlich
Diotima. Bei Pauly-Wissowa ist sie jetzt glücklich von
Natorp als ^fabelhaft' festgenagelt, obgleich ihre Mission
— ^Ad"rivccCoig TCorh d'vöa^svoig JtQo xov Xoi^ov dexa sttj äva-
ßoXriv hitoCriee trjg voöov — für jeden Kenner der griechischen
Kathartik durchaus glaubhaft erscheinen muß und die nicht
aus Piaton geschöpfte Nachricht des schol. Aristid. TU 468 Dind.,
die sie zur Priesterin des Zeus Lykaios macht, an der oben
erwähnten Kombination Studniczkas bezüglich Kyrenes (S. 41)
eine Stütze findet. Die Hauptsache ist indes folgendes: Be-
kanntlich macht Diotima den Eros zum Sohn des Porös und
der Penia; das gilt nun als eine platonische Allegorie, die man
von der Mythologie und Religionsgeschichte fernhält. Und doch
ist sie bereits für eine selbst dem Damonax vorausliegende
Zeit zu belegen, wenn man aufmerksamer zusieht. Im berühmten
Jungfrauenlied des Alkman lesen wir nach der Schilderung
des Hippokoontidenkampfes die Verse (V. 13 ff.)
ccQ Alöcc Ttavr&v
yeqaixdxoi
idtXog ak%d.
Dazu (zu V. 14) das Scholion: ort xov JJoqov SLQrjxs tbv avtbv
reo v:tb rov ^HöLodov ^siivd'sv^evo) xdsi. So schrieb denn
Blaß und mit ihm die übrigen:
<^KQcct7iae y)> aQ Al6a Ttccvr&v
<3tat TIoQog^y yeQccLxdrot
<l<jLcbv' ccTtyiddog ccXkoc.
Dabei ist es ganz unklar, 1) welche Rolle Porös in der Bezwingung
der Hippokoontiden gespielt haben kann, und 2) wie der Scho-
k
44 Th. Zielinski
Hast dazu kommen konnte, ihn daraufhin mit dem hesiodischen
Chaos zu vergleichen. — Nein, nicht Porös war am Unter-
gänge der Götterfeinde schuld, sondern sein Sohn; es ist
xd) UoQco zu schreiben. Das stimmt in der Tat, und der
Dichter nimmt im folgenden mit V. 17 ^rjdh 7t£iQ7Jt(o yaiifiv
täv ^AcpQodCxav darauf Bezug. Und auch die Notiz des Scholions
wird nun verständlich: ist Porös Vater des Eros, so ist er
allerdings dem hesiodischen Chaos parallel; denn wenn auch
Hesiod nicht direkt den Eros Sohn des Chaos nennt, so ist
das doch eine sehr leichte Weiterentwickelung seines Mytho-
logems (Theog. 116 ff.)^
"jÖTOt [ikv TtQcoTLOrcc Xccog yevBx\ avxccQ srceLtcc
Faf EVQVövsQvog^ itdvroiv eöog äöcpaksg aiel,
r]ö^ "EQog . . .,
wie denn auch tatsächlich die Späteren den ^Kosmogonischen
Eros' zum Sohn des Chaos gemacht haben (Furtwängler bei
Röscher Lex. Myth. I 1345).
Also: bei Alkman haben Aisa und Eros über dem Lose
der Hippokoontiden gewaltet. Das ist der Hermetik gar nicht
so fern: in der Köqtj tcoö^ov sagt Gott zu den Seelen bei
ihrer Einkörperung: "EQog v[i&v, il^v^aC^ ösöjcoöei ical 'Avdyxri
(S. 397f.), — was genau dasselbe ist.
Ich denke demnach, wir haben allen Grund, die Lehre der
Diotima an Mantineia zurückzugeben und damit die arkadische
Hermetik um einen neuen Zug zu bereichern; seitdem wir die
Orphik so weit zurückdatiert haben, dürfen wir solche Speku-
lationen auch in dieser Frühzeit nicht befremdlich finden.
28. „Mercurium", sagt Thrige in seinen fleißigen und
nützlichen Bes Cyrenensium 288 „apud Cyrenenses, qui mer-
caturae in primis opes debuerunt, magno honore esse habitum
^ Wie der Alkmanscholiast, so hat auch der des Apollonios Rh.
III 26 den Hesiod verstanden: 6 Sh 'Hölodog in Xdovg Uysi (ysviöd-at)
tov "Egoata.
Hermes und die Hennetik 45
dubium non est. Yerum tarnen , . . nulluni invenimus culti apud
lianc gentem huius dei vestigium/^ Diese Kulttatsache würde
unser Resultat, den Übergang der Hermetik von Arkadien
nach Kyrene, stark erschüttern, wenn nicht längst nachgewiesen
wäre, daß Hermes in Arkadien mit einem anderen Gott iden-
tifiziert worden ist, der denn auch in Kyrene an seiner Stelle
erscheint: mit Apollon (z. B. Wilamowitz, Herakles II 96).
Es ist in der Tat seltsam, wie überall Apollon als glücklicher
Konkurrent von Hermes erscheint. Akakallis (oben S. 42^) ist
von Hermes Mutter des kretischen Kydon, aber von Apollon
des libyschen Amphithemis = Garamas. Ladons, des arkadischen
Urstromes, Tochter ist Daphne, aber ihr Gemahl ist nicht
Hermes, sondern Apollon; ja, wahrscheinlich hat die Nymphe
des Lorbeers als Ladontochter eine ältere, hermetische Nymphe
ersetzt. Diese wird nun von Apollon vergeblich verfolgt: die
Konkurrenz ist noch nicht siegreich.
Der Leser wird sich des seltsamen Mythologems in der
KoQYj Tcoö^ov erinnern, mit dem die Schöpfung einsetzt: Gott
lächelt, und es entsteht die Physis; sodann haben wir die
Genealogie
Ponos -^ Physis
I
Heuresis -^ Hermes
Sie ist der Erosgenealogie der Diotima sehr ähnlich; ja, man
fühlt sich geradezu versucht, für Ponos — Porös zu konjizieren.
Daß die allegorischen Namen mythologische ersetzt haben, ist
schon oben (§ 21) ausgesprochen worden: das ist ja der Lauf
der ganzen hermetischen Lehre. Aber welchen Zweck hat das
ganze Mythologem? Doch nur den einen: den Ursprung des
Menschengeschlechtes zu erklären; als später die chemische
Entstehung aufkam, wurde die natürliche in den Hintergrund
gedrängt. Wenn demnach dort, wo unser Fragezeichen steht,
46 Th. Zielinski
ursprünglich der Name des ersten Menschen, des Stammvaters
des Menschengeschleclites^ stand, so begreifen wir mit einem
Mal einen äschyleischen Vers, der bisher jeder Erklärung
spottete: den leider isoliert überlieferten Vers aus den 'Psycha-
gogen', der den Anwohnern des stymphalischen Sees in den
Mund gelegt wird: 'Eq^tjv tbv Ttqoyovov xCoiisv yivog ol
%bqI Xliivav. Die arkadische Hermetik betrachtet Hermes als
den Stammvater des Menschengeschlechtes; die Stammutter ist
demnach die Landesnymphe, die Tochter des Landesstromes
und des Landes selbst.
Und nun können wir die Genealogie leicht rekonstruieren,
die der Allegorie der Koqyi xoö^ov zugrunde liegt: es ist keine
andere als die, von der wir ausgingen:
Ladon ^^ Gaia
I
Nymphe ^^^ Hermes
Daß die Gaia zur Physis wurde, begreift sich leicht;
schwerer ist der Übergang Ladon: Ponos zu erklären, leicht
jedoch, wenn wir für letzteren den Porös einsetzen: als Fluß
ist der Ladon selbstverständlich ein TtÖQog, Und nun wird
auch die urweltliche Bedeutung des letzteren klar: die Urflüsse
Ladon, Acheloos und wie sie sonst heißen mögen, sind als
solche dem Okeanos = Ogenos gleich, dem Ursprung des Seins;
die Genealogie Porös — Eros wird mythologisch greifbar, und
die Gleichung Porös = Chaos gewinnt an Berechtigung. Auf
Heuresis kommen wir noch (§ 31): jetzt liegt uns eine andere
Frage näher.
Nämlich die nach dem oder den Namen, die an die Stelle
unserer Fragezeichen zu treten haben. Die Lehre vom
Anthropos, dem Ahnen des Menschengeschlechtes, bildet
einen Kernpunkt der Hermetik; es versteht sich von selbst,
daß auch hier dem Philosophem das Mythologem vorausging . . .
Hermes und die Hermetik 47
Icli werde leiclit Nachsicht finden, wenn ich, statt die ein-
schlägigen Mythenkomplexe eingehend zu behandeln, wozu ein
ganzes Buch nötig wäre, nur die Hauptpunkte kurz hervor-
hebe; die Belege bietet ja das Lex. Myth. Der arkadische
Urmensch, der vormondliche Pelasgos ist Sohn des Zeus und
der Niobe, der Tochter des Phoroneus, welch letzterer jetzt
füglich gleich Phoros = Porös gesetzt werden kann ^ ; hier fehlt
Hermes, der lykäische Zeus ist an seine Stelle getreten —
oder vielmehr, Pelasgos ist eben Hermes, und sein Sohn von
Meliboia oder Kyllene ist der arkadische Stammvater Lykaon. —
Pelasgos ist einerseits mit Pel-ops, anderseits mit Askl-epios
verwandt (Wilamowitz, Isyllos), dieser ist allerdings Sohn des
Apollon und der Koronis, aber den arkadisch -hermetischen
Untergrund spürt man noch in der Sage vom Elatossohn Ischys
als Vater des Asklepios; daß Apollon diesen Ischys tötet, ist
eine ähnliche Äußerung der Konkurrenz des Apollonkultes, wie
wir sie oben bei der Ladontochter konstatiert haben. Koronis
ist aber etymologisch mit Kyrene identisch (Bechtel), somit
auch Asklepios mit Aristaios. Und noch bei ihm begegnen
wir Hermes in rudimentärer Fassung: Kyrene gebiert Aristaios
von Apollon, aber Hermes ist es, der ihm die Unsterblichkeit
verschafft (Pind. P. IX 104).
Es sind wirre, vielfach ineinander geschlungene Grenea-
logien und Mythologeme, die gewiß an sich nichts beweisen
können, sondern erst von auswärts ihr Licht empfangen müssen.
Studniczka war nahe daran, den Namen Kyrene richtig zu
deuten — von KvQrj^=K6Qr}'^ er tat es nicht. Ich denke, wir
dürfen es an seiner Statt um so zuversichtlicher tun. Daß
uns diese KÖQt} nachher in der Hermetik noch einmal
begegnet — als Köqi] tcööhov — , ist gewiß eine erwünschte
Bestätigung.
^ Zur Bildung vgl. Ophioneus, zur Phonetik Porkos=Phorkos, der
möglichei-weise auch etymologisch mit Porös zusammenhängt — ein tcoqos
ist er ja sicher. Auch Adäav.Add'iov.Aato} (Wilamowitz, Herakles 11^ 96).
48 Th. Zielinski
Docli niclit darauf kommt es an: uns lag ob, für den
Satz „die Hermetik ist von Arkadien nach Kyrene gewandert"
den Beweis zu führen, oder vielmehr, zum oben gegebenen
Hauptbeweis die bestätigenden Nebenbeweise zu liefern; dieses
Teiles unserer Aufgabe hätten wir uns hiermit entledigt.
29. Das alles betraf die arkadisch -hermetische Kosmo-
gonie; sie findet aber ihre Ergänzung in der arkadisch -herme-
tischen Eschatologie, auf die wir nun auch einen Blick
werfen wollen. Kosmogonie und Eschatologie bedingen ein-
ander; es sind die beiden Bestandteile einer Religion, die
bereits Lehre sein will und demgemäß die beiden Fragen, die
das erwachende Bewußtsein stellt, zu beantworten unternimmt:
wo kommen wir her? wo gehen wir hin?
Daß Arkadien eine ausgesprochene Eschatologie gehabt
haben muß, dafür bürgen schon die Namen Stymphalos und
Styx: die zahlreichen Katabothren seines * verschlossenen'
Teiles mußten ihrer Entstehung besonders günstig gewesen
sein. Auch die Stellung des Hermes in der Götterwelt, sein
Charakter als Psychopompos spricht dafür: soweit wir die
griechischen Mythen verstehen, bildet die Wiederkehr aus dem
Reiche des Todes die Gewähr für die Glaubhaftigkeit eschato-
logischer Offenbarungen. Solche hat demnach auch die Religion
des Hermes gekannt, und wir können auch sagen, welche: die
Nekyia der Odyssee.
Daß Odysseus ein hermetischer Heros ist, bin ich nicht
der erste zu behaupten; auch sollen hier nur kurz die Punkte
überflogen werden, die das erhärten. Es sind folgende: 1) sein
Schutzverhältnis zu Hermes in der Odyssee (Kirkeabenteuer) ;
2) die arkadischen Sagen von Odysseus als Städtegründer
(Pheneos)^; 3) die Telegonie des Kyrenäers Eugammon, der
^ Damit hängt ßiclier auch der Name von Odysseus' Großvater
zusammen, Arke(i)sios, den schon die von Aristoteles in der ' Id-ccxriöiojv
^oXitEia zitierte Sage (fr. 504) mit "AqTiog zusammenbrachte ; mütterlicher-
Hermes und die Hermetik 49
die letzten Odysseusabenteuer nacli Arkadien versetzt (oben
S. 41); daß es die Auffassung eines Kyrenäers ist, dürfen wir
als besonders wichtig ansehen; 4) die seltsame Sage, nach
welcher Pan Sohn des Hermes und der Penelope ist — hier
ist die Identität von Hermes und Odysseus besonders deutlich;
5) das Entscheidende: Aschylus verlegt die Hadesfahrt
des Odysseus an den stymphalischen See. Der Vers aus
den ^Psychagogen' ist schon angeführt worden; dazu der Scho-
liast (Ar. Frösche 1266) tö dh 'EQ^iäv ^ihv tCo^sv Xsyovöiv ol
'AQxddeg diä tavxa* ev rfj KvXXtjvt^, t] iötvv ^Qog 'AQxaöCag,
itLnäto 6 ^EQfirjg' diä yovv X'^v ^| ä[ivrj^ovsvt(DV xqövcov niiiiv
cDg TCQÖyovog tovxoig idöxst (Verlegenheitsauskunft). g:8ov6i
8h Kai XLvcc l6xoqCav ^vd-^örj (die Arkader oder der Chor der
Tragödie?) Ufivav dh Xeysi X'^v ZixviKpaXCda}
Des Zusammenhanges ist man sich auch späterhin bewußt
geblieben. Dem Wasser des Styx wurde die Kraft zugeschrieben,
alle Metalle aufzulösen, die uns denn Pausanias VHI 18,5 in ihrer
hermetisch-astrologischen Siebenzahl vorführt (vgl. Philol. 64, 14).
Soll man daraus folgern, daß auch die niedere Hermetik in
der Heimat des Hermes ansässig war?
So dürfte denn die Tatsache feststehen: die arkadische
Hermetik hatte ihre ausgebildete Eschatologie, die an die
Gestalt des hermetischen Heros Odysseus anknüpft und mit
der ganzen Hermetik nach Kyrene wanderte. Heißt das, daß
seits hängt Odysseus mit einem anderen hermetischen Heros zusammen,
mit Autolykos. Der Name Arkeisios wurde wiederum für den kyrenäischen
Dichter der Telegonie zur Veranlassung, einen Sohn des Odysseus und
der Penelope Arkesilaos zu fingieren, nach dem in Kyrene erblichen
Königsnamen (Wilamowitz Homerische Untersuchungen 184; über die
Verwendung des anderen Königsnamens, Battos, s.u. §30).
^ In jüngster Zeit ist Drerup {Homer 121 ff.) mit beachtenswerten
Gründen für den kretischen Ursprung der Odyssee eingetreten. Die
Hypothese bedarf noch der Nachprüfung; sollte sie sich bewähren, so
würde das nicht gegen, sondern für die im Texte entwickelte Ansicht
sprechen. Kreta ist Zwischenstation zwischen Arkadien und Kyrene
(oben 8.42^).
Archiv f. ReligionswisseiiBcliaft IX 4
50 Th. Zielinski
auch die im hermetisclien Corpus begegnende Eschatologie
arkadisclien Ursprunges ist? Das braucht an sich nicht der
Fall zu sein: diese späte Hermetik ist in stärkster Weise von
der Philosophie beeinflußt worden. Auf die Frage nach der
Strafe der Bösen gibt sie, wie wir gesehen haben, eine doppelte
Antwort: 1) die Apotheriose und 2) die Strafe durch das
Böse selbst. Beide sind philosophisch, die erste pythagoreisch-
platonisch, die zweite epikureisch, und doch können wir sagen,
daß wenigstens die erste Lösung in der arkadischen Hermetik
zum Teil vorweggenommen war. Es ist das Kirkelied, das
uns den Odysseus ganz besonders als Schützling des Hermes
zeigt: hier ist es, wo er von seinem Schutzgott das Moly
empfängt — das, beiläufig bemerkt, gleichfalls in Arkadien
lokalisiert worden ist. An dasselbe Kirkelied knüpft auch die
Telegonie des Eugammon an: Telegonos ist Sohn des Odysseus
von Kirke, Kirke aber ist deutlich als Todesgöttin charak-
terisiert, und zwar ist ihr Todeswerk die Apotheriose. Nur
eine ganz leise Umbiegung war nötig, um diese Apotheriose
in philosophischem Sinne umzudeuten; auch hier war das
Mythologem der Ursprung des Philosophems.
30. Alles bis jetzt Gesagte sollte den Satz begründen,
daß die Hermetik von Arkadien nach Kyrene gelangt ist. Es
ist nun der zweite Satz ins Auge zu fassen: die Hermetik
von Kyrene nach Alexandria.
Wir nehmen zunächst das hermetische Personal durch,
wie es uns im Corpus sowie in der Koqtj xoö^ov und im
/Asclepius' entgegentritt: Hermes Trismegistus, der Prophet;
Ammon, der König; Asklepios, der Schüler des Propheten;
endlich Tat, sein Sohn. Da ist es nun der letztere, der ganz
entschieden erst in Ägypten, also in Alexandria, hinzugekommen
sein kann; und gerade er wird als lästige Doublette zu Askle-
pios empfunden. Welcher war nun früher da? Der ^Asclepius'
zeigt es uns: ursprünglich auf drei Personen berechnet —
Hermes und die Herrn etik 51
Hermes, Ammon, Asclepius — ist er erst später durch Hinzu-
ziehung des Tat (ius) bereichert worden (oben § 22). Für uns
ist der 'Asclepius' gerade dadurch besonders wertvoll, weil er
die unverkennbare Bezugnahme auf Kyrene bietet (ibid.). —
Hat nun aber Tat den Asclepius verdrängt, so ist anzunehmen,
daß ursprünglich Asklepios als Sohn und Schüler des Hermes
aufgetreten ist; wir haben die Dreizahl Hermes- Asklepios- Am mon.
Nun ist eins sicher: nur in Kyrene konnte sich diese Dreizahl
bilden. Ammon ist als Herr der berühmten Oase Nachbar
von Kyrene und hat seinen Kult hervorragend beeinflußt
(Thrige 294) ; Asklepios hatte einen bedeutenden Kult in Kyrene
selbst (oben § 22).
Aber noch mehr: ist Hermes, wie nach Eliminierung des
Tat wahrscheinlich, Vater des Asklepios, so haben wir die
oben § 28 vermutete Genealogie des arkadischen Anthropos
in ihrer Reinheit da. Hermes hat sich nur im kyrenischen
Kult von ApoUon verdrängen lassen; in den geheimen Lehren
der hermetischen Gemeinden hat er seine Stelle behauptet. So
erklärt es sich, daß Apollon, Kyrenes oberster Gott, in die
Hermetik keinen Eingang gefunden hat: hier ersetzt ihn eben
Hermes. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Artemis und
Hekate-Selene.
Immerhin: Hermes, Ammon, Asklepios sind nur Menschen,
keine Götter mehr; man sieht, der Euhemerismus ist über die
kyrenäische Hermetik gegangen. Das stimmt trefflich zu der
früher allgemein geglaubten Hypothese, Euhemeros wäre ein
Anhänger der kyrenäischen Philosophenschule gewesen. Rohde
hat ihr scharf widersprochen (gr. Roman ^ 241^), indem er sie
ungenügend fundiert fand; jetzt dürften die Stützen hinzu-
gekommen sein.
Noch ein Zeugnis füge ich bei für die kyrenäische Hermetik, —
wie ich meine, ein gewichtiges. Es wurde dem Hermes eine
Reihe naturwissenschaftlicher Bücher beigelegt unter dem Titel
KvQavCdsg'j der Name hat sich auch an die uns erhaltenen
4*
52 Th. Zielinski
byzantiniscli-lateinisclieii Bearbeitungen geheftet. Was er bedeute,
war früher, als man sieb für die Sache interessierte, ein viel
umstrittenes Problem.^ Jetzt dürfte auch dieses Rätsels Lösung
gefunden sein.
Fragt man weiter, auf welchem Wege und durch wen
die Hermetik von Kyrene nach Ägypten gelangt ist, so ist bei
den mannigfachen Beziehungen zwischen den zwei Nachbar-
staaten und dem ständigen Zufluß, den der ägyptische Helle-
nismus aus Kyrene erhielt, die Antwort nicht leicht. Die
zwei bedeutendsten Kyrenäer, die in Alexandria tätig waren —
Kallimachos und Eratosthenes — sind hauptsächlich
darum wichtig, weil sie eine Unzahl anderer paradigmatisch
vertreten. Aber das ist es nicht allein. Inwiefern Kallimachos
die Hermetik direkt beeinflußt haben kann, davon war oben
§ 4 die Rede; von Eratosthenes aber besaßen die Alten ein Epos
* Hermes ', das in eigentümlicher Weise die allgemein mythische
und die hermetisch -kosmogonische Bedeutung des gefeierten
Gottes in eins zu verweben wußte. Man wird Reitzenstein
beipflichten müssen, wenn er (Poimandres 7) den Zusammen-
^ Vgl. Fabricius Bibl Gr. I* 69 ff. Nach Scaliger und Reinesius
vom Arabischen (Koran) ; auf die Einwendung, das Wort wäre vormoham-
medanisch, wird geantwortet: warum sollen nicht auch vor Mohammed
treffliche arabische Schriftsteller gelebt haben? Nach den meisten vom
angeblichen Perserkönig Koiranos (Kyranos, Kiranos). Nach Allatius
von KVQLos^ KVQci. Nach Goar (zu Georgios Synk. 11 S. 314 Dind.) von der
bei Herodot IV 19 genannten libyschen Insel Kyraunis. Auf Kyrene ver-
fiel man nicht, weil man die dorische Form nicht kannte; die hippokra-
tischen Kcaand zitiert Groar selbst. Interessant ist die Notiz in Harpo-
krations Einleitung, wonach das angeblich syrische Original (der ältesten
Kyranis? Cf. E. Meyer Gesch. d. Botan. U 351) von Harpokrations Sklaven
ins Äolische übersetzt worden ist; daraus dürfen wir schließen, daß
die älteste Kyranis in einem Dialekt abgefaßt war, der auf den gemein-
griechischen Leser den Eindruck des äolischen machte, also jedenfalls
in einem Dialekt der A- Gruppe; daraus erklärt sich die Form Kyranis.
Der Verfasser des neuesten Aufsatzes über die Kyranides (Tannery Bev.
d. et. grecques 17, 335 ff.) geht auf die Erklärung des Namens nicht ein;
die evidente Darlegung E. Meyers vom rein griechischen Ursprung der
Kyranides wird auch von ihm gebilligt.
Hermes und die Hermetik 53
hang dieser Diclitung mit der Hermetik annimmt; wie der von
ihm in den 'Zwei religionsgeschichtlichen Fragen' 68 f. durch-
geführte Vergleich lehrt, ist die Verwandtschaft speziell mit
der Straßburger Kosmogonie nicht abzuweisen. Wenn er
freilich (1. c. 64 ^) den kyrenäischen Dichter „ an die alte (ägyp-
tische) Vorstellung von dem Lobgesang der Urgötter beim
Aufsteigen des Sonnengottes" anknüpfen läßt, so muß man
auch diese Phantasie seiner Ägyptomanie zugute halten; die
Fragmente bieten dazu nicht den geringsten Anhalt.^
Sicher ist, daß dieser 'Hermes' den Rinderdiebstahl des
Gottes behandelte; unter diesen Umständen gewinnt ein vielfach
übersehener Umstand nähere Bedeutung. Der Mann, der den
Diebstahl an ApoUon verrät, heißt in der späteren Literatur
(Ovid, Antonin) Battos; nach ihm soll der Fels Bdttov
öKOütid in Arkadien benannt sein. Nun ist der Name Battos
auf Kyrene so gut wie beschränkt, und speziell Bdttov öxoTtid
ein xcdqCov tfjg Aißvrjg- Die Vermutung drängt sich unwillkür-
lich auf, daß wir eine in Kyrene ausgebildete und nach Arkadien
zurückprojizierte Variante der Sage haben (vgl. Arkesilaos als
Sohn des Odysseus bei Eugammon, oben § 29). Dazu kommt
folgendes. In der ältesten Fassung der Sage im Hymnus bleibt
der anonyme Angeber unbehelligt; in der späteren wird er in
den Stein verwandelt, den man den Prüfstein nennt. Das
spielt in die niedere Hermetik hinein: der Stein, der die
Schwindeleien der Goldmacher entlarvt, wird passend mit dem
Manne gleichgesetzt, der den ersten Betrug des Goldmacher-
gottes vereitelte. Unter diesen Umständen ist die Verwandlung
eine ehrenvolle, — und das stimmt zur Verleihung des kyrenä-
ischen Königsnamens.
^ Hier ist auch auf den 'Hermes' des Philetas hinzuweisen, der,
an das Aiolosabenteuer anknüpfend, eine Nekyia gegeben zu haben
scheint. Der Titel dürfte nach dem oben § 29 Gesagten zu erklären sein;
vermutlich trat der Psychopompos als Hadesführer auf.
54 Th. Zielinski
31. Nocli ein Punkt ist zur Sprache zu bringen, bevor
wir diesen Teil unserer Untersuchung abschließen. Ich erinnere
nochmals an die Verse aus der Straßburger Kosmogonie II 5 ff. :
Hermes geht mit dem Gedanken um, die Urstadt zu gründen:
xa g)QOVSCov itolioio öi 'tjEQog eCxl^ev ^Eq^fig
OVK otogj chv TW ye JLoyog aUv ayXccbg vlog
laLijJTjQatg TtreQvyeööL %e%cc(3fiEvog, aiev aAt/O"?]?,
äyvriv arQE%ee66Lv Eyoav im leCleai, utei-d'coy
TtaxQcoov Kad'aQOLO vor^naxog äyysXog wx-ug.
Daß im letzten Verse, ganz im Sinne der späteren Abstrak-
tion, Hermes gleich Novg gesetzt ist, sieht jeder; aber wozu
braucht Hermes bei seinem Werke der Mitwirkung des Logos?
Warum wird vom Logos hervorgehoben, daß er die heilige
Peitho auf den wahrhaften Lippen trägt? Die Antwort kann
nur eine sein: weil er durch die Kraft der Überredung die
eichelfressenden jtQoöekrjvoi veranlassen soll, sich zu einer
Stadt zusammenzutun. Man sieht, die Rolle des Logos ist hier
eine andere als im Poimandres: sie ist ethisch-politisch, nicht
metaphysisch. Und sie erinnert zugleich an jene stoische
Konstruktion des Ursprunges der Kultur, die ihren
greifbarsten und nachhaltigsten Ausdruck gefunden hat in der
einstmals so berühmten Einleitung zu Ciceros de inventione.
Ich will die wichtigsten Stellen ausschreiben (I 2): Äc si
volumus huius rei, quae vocatur eloquentia . . . considerare prin-
cipium, reperiemus id . . . ah optimis rationihus profectum. Nam
fiiit quoddam tempus cum in agris homines passim hestiarum
modo vagahantur et sibi victii fero vitam propagahant etc., der
bekannte ro:rog, den man immerhin mit Ovid fast. II 289 ff.
vergleichen mag, weil dieser direkt an das Wormondliche'
Arkadien anknüpft. Quo tempore quidam magmis videlicet vir
et sapiens cognovit, quae materia et quanta ad maximas res
opportunitas in animis inesset hominum, si quis eam posset elicere
et praecipiendo meliorem reddere; qui dispersos Jiomines in agros et
in tectis silvestrihus äbditos ratione qua dam compulit unum in
Hermes und die Hermetik 55
loeum . . . et eos . . . primo propter insolentiam reclamanteSj deinde
propter rationem atque orationem studiosius audientes ex
feris et immanihus mites reddidit et mansuetos. Äc mihi quidem
videtur Jioc nee taeita nee inops dicendi sapientia per-
ficere potuisse, ut Jiomines a consuetudine subito Converter et et
ad diversas rationes vitae traduceret. Also daher ä^a x(p ye
(Novg; sapientia) A6y og xCsv äyXabg vlog; das Nähere kann
man sich nach der Parodie in den 'Vögeln' des Aristophanes
ausmalen, die nicht umsonst in der Parabase auch eine parodische
Kosmogonie enthalten.
Ich denke, der Gedankenkreis, in den dieser Teil der
Straßburger Kosmogonie gehört, ist damit richtig gefunden.
Der Logos hat den Urerschaffenen aus einem Tier zu einem
Menschen gemacht, eben darum trägt er als Pan den Prozeß
der Yermenschlichung anschaulich an sich. Der Übergang
des ethisch -politischen Logos in den metaphysischen erfolgt
von der Straßburger Kosmogonie zur Poimandreslehre; daß
ihn eben die Stoiker gemacht haben, weiß jeder. Damit ist
aber auch — das lehrt die Stellung unseres Mythos in der
Schrift de inventione — eine Art Yermetaphysierung der
Rhetorik gegeben; die größte Apologie dieser vielfach angefein-
deten, von den Stoikern eifrig geschützten und gepflegten
Wissenschaft besteht darin, daß sie schon bei der Weltschöpfung
tätig gewesen ist. Und wer die Stoiker kennt, der weiß auch,
daß sie dabei nicht stehen geblieben sein konnten. Ist die
Rhetorik im ganzen kosmogonisch, so ist sie es auch in ihren
Teilen — und deren sind es bekanntlich drei: svQSöig^ td^ig,
Xs^ig (dies die peripatetisch- stoische Doktrin, vgl. Volkmann 29,
die uns am nächsten steht) ... Es ist nun ein Hirngespinst,
was ich weiter sagen will, aber ein stoisches: der Dreiheit
entspricht die kosmogonische Dreiheit Zeus — Hermes — Logos.
Also: Zeus schafft die evQSdig, Hermes die td^ig, Logos die
Xs^Lg. Nun, wie Zeus (=d's6g) die svQSdig schafft, lehrt die
KoQtj Tcoö^ov (oben § 19; 28); wie Hermes (= Novg drjiiiovQyog)
56 Th. Zielinski
die rd^tg ausführt, der Poimandres ; wie der Aoyog die Xi^ig
erweckt, die Straßburger Kosmogonie.
Docli das ist eine wilde Ranke, die auch abgeschnitten
werden kann; jedenfalls stellt sich die Entwickelung des dua-
listischen Zweiges der Hermetik also dar:
Göttertrias Urmensch
Pelasgos
Asklepiosu.i
I. Arkadische Hermetik } 1. Zeus 2. Hermes 3. Pan
n. Hermetik der Straß
. , 1. Zeus 2. Hermes 3. Logos
burger Kosmogonie J
UI. Hermetik der Koqti ) ^ ^ / ^ tt « . '
, ^ } 1. @sog 2. Hermes 3. — '\\)v%ai
V,06[L0V J
IV. Hermetik des 1 . ,r ~ 2. Nov? „ ^, „^ _
T^ . , } 1. Novg _ ,3. Aoyog Avd'QiOTCOg
roimandres J ornitovQyos
Eine stufenweise Verflüchtigung der mythologischen Ge-
stalten zu metaphysischen Begriffen, die in sich selbst die Gewähr
des Wahrscheinlichen trägt und unser Hauptprinzip: „das Philo-
sophem aus demMythologem entstanden" aufs trefflichste illustriert.
32. Bei alledem ist das erst der eine Zweig der Hermetik,
der dualistische, dessen Wahrzeichen ^ Hermes =iVb'Dg dr^iiLovQyog^
ist. Der andere war der pantheistische und hatte zum
Wahrzeichen die Gleichung ' Hermes = Kosmos'. Dieser Kosmos
ist der zweite Gott und das zweite Wesen; das erste Wesen
ist Gott der Schöpfer, das dritte der Mensch.
Daß dieser andere Zweig der Hermetik gleichfaUs über
Kyrene nach Ägypten gekommen ist, lehrt der 'Asclepius',
der die pantheistische Auffassung am voUständigsten wieder-
gibt und dabei die Erinnerungen an Kyrene treu bewahrt hat.
Auf Arkadien aber ist er nicht zurückzuführen — schon weil
ihm der dritte, aus Pan entwickelte Gott mangelt.^ Wir
* Den Pan hat man nachträgUcli doch hineingebracht, — sein Name
war für die 'Pan'theisten zu verführerisch. So erkenne ich ihn denn
im Ascl. 2 wieder: Nee immerito ipse (mundus) dictus est omnia {=ndv),
cuius membra sunt omnia. Aber man sieht, daß er hier nur Doppel-
gänger des Hermes = Kosmos ist.
Hermes und die Hermetik 57
werden uns also an die zweite große Yölkerwelle halten, die
in Kyrene gestrandet ist, an die minyerisclie — nnd diese führt
uns nach Böotien. Und hier erhält unsere Konstruktion
eine abermalige, geradezu verblüffende Bestätigung: Böotien
ist in der Tat die zweite Heimat des Hermes, und zwar wurde
er hier und in den von ihm beeinflußten Mysterien als
Kadmos = Kadmilos verehrt. Kadmos aber (auch Kasmos) ist
etymologisch mit zwingender Evidenz gleich Kosmos zu setzen,
wie denn derselbe Wortstamm dem Verbum icha^iiai und dem
Substantiv Tcoö^og zugrunde liegt, und das Appellativ xcidiiog
bei den Kretern in der Bedeutung 'Bewaffaung' vorkommt
(Hes.; vgl. Curtius GE^ 138). Hier ist demnach eine klipp
und klare, allseitig gestützte Etymologie^; kann man von den
Konkurrenzetymologien (von y~da^ u. ä.) auch nur annähernd
dasselbe sagen? Und wenn nun gar dieser Kadmos = Kosmos
Gatte der Harmonia heißt, so sehe ich nicht ein, wie man dem
Zwang dieser doppelten Übereinstimmung entgehen will; offen-
bar hat die apriorische Voreingenommenheit gegen alle kosmo-
gonische Spekulation in den alten Mythen den Widerspruch
hervorgerufen. Von dieser Voreingenommenheit darf jetzt nicht
mehr die Rede sein; schon in alter, sehr alter Zeit trug das
Mythologem das Philosophem in sich. Wer zuerst den Welt-
* Auf zwei neue Stützen will ich hier aufmerksam machen. Im
'Phädon' antwortet Sokrates auf die Einwendungen seiner beiden
thebanischen Schüler, Simmias und Kebes,, die beide die Sterblich-
keit der Seele verfechten; der eine hatte sich dabei des Gleichnisses von
der Leier und ihrer Harmonie, der andere vom Weber und seinem
Gewand bedient. Wie nun Sokrates mit der Harmonie fertig ist und
zum Gewand übergeht, drückt er den Übergang also aus (c. 44): ta
lihv 'AqiiovIccs ri^lv xfig @r\§a'Cy.fig iXsd nag . . . tL dh dr} tä Kccd^iov^ TCöbg
Ua(y<Jft£'9'a , und weiterhin nennt Kebes die Rede vom Gewand geradezu
rov tov Kdd^ov Xoyov. Also war für Plato jedenfalls Xad/xo? = xo()/Lto?;
er wird gewußt haben, warum. — Dasselbe will die berühmte Verball-
hornung des Euhemeros sagen: der sidonische Koch Kadmos entführt
die Flötenspielerin Harmonia. Er wird an die bekannten Wendungen
dstTtvov, doQTCov xT^ ytoöiistv gedacht haben.
k
58 Th. Zielinski
bildner Hermes als Kosmos auffaßte und ihm die Harmonia
zur Frau gab, der war sich der kosmogonischen Bedeutung
des Mythos voll und ganz bewußt.
Kadmos kämpft mit dem Urweltdrachen: wohl, auch der
Hermetiker sieht in der Urwelt ein äTcorog cpoßsQov xs xal
dtvyvov^ dxoXtcbg söTtsiQa^svov , cog siocddcci, ^e <^ÖQcc7covtiy, wie
Reitzenstein hübsch ergänzt (I 4). Er erringt im Kampf die
Harmonia; das mag anfangs als die Harmonie, die Ordnung
des Weltalls gefaßt worden sein, aber der Hermetiker hat
daraus passend die ccq^ovIcc der Sphären gemacht, die das
Verhängnis bestimmt — wir werden sehen, was sich daraus
noch ergeben hat. Er sät die Zähne des Drachen, woraus die
Menschen erwachsen — das ist der Ursprung des Menschen-
geschlechtes aus den Steinen der Erde, d:tb jcetQag, dem
arkadisch -hermetischen Ursprung von der Eiche, ccTtb ÖQvog,
parallel (oben § 27). Die Menschen geraten sofort in Krieg
miteinander — so tun's auch die eingekörperten Seelen nach
der KoQr] jcoöfiov — , bis sich die Übrigbleibenden dank
Kadmos vertragen, der somit auch in der Menschengesellschaft
den Kosmos stiftet.
Dieser polyphyletische Ursprung des Menschengeschlechtes
hat sich, wie gesagt, noch in der KÖQt} xoö^ov erhalten; da-
neben aber auch der monophyletische, der arkadischen Hermetik
entsprechend. Nach der oft zitierten poetischen Quelle des
Hippolyt wird u. a. zur Wahl gestellt, suts Boicotolg 'AXaXxo-
lisvBvg VTtBQ XC^vrig KrjcpiöCdog dve6%E 7tQG)Xog äv%'QG)nG)v\ und
auch die arkadische Stammutter Niobe, die Tochter des Phoro-
neus und Mutter des Pelasgos (oben § 28), finden wir in Theben
wieder als Gattin des ^Wanderers' Amphion, des Erfinders
der Leier und Gründers der Urstadt, also wohl = Hermes. —
Doch nein: zur Stammutter ist sie nicht geworden, denn ihre
Kinder hat Apollo getötet . . . auch hier dieselbe siegreiche
Konkurrenz der Apolloreligion, wie in Arkadien. Immerhin:
zu diesen Kindern gehört auch Alalkomeneus, und so mag denn
Hermes und die Hennetik 59
in der vorapoUinisclien Zeit die Nachkommenscliaft der Niobe
die Urstadt bevölkert haben. Es waren Söhne und Töchter:
die Zahl schwankt, doch hat sich allmählich die Siebenzahl
festgesetzt, den Toren der Urstadt entsprechend. Sieben Söhne
und sieben Töchter hat die Stammutter geboren . . . dazu der
Hermetiker: ovk ävsfisvsv ii 0v6tg aXX Bvd"vg äjcsTcvrjösv iittä
ävd'Q^TCovs ccQQSvod'TJXeag (I 16), die trjg TtSQiodov TtSTcXriQG)-
^evrjg in sieben Männer und sieben Frauen auseinanderfallen
ix ßovXrjg d'sov (I 18).
Nach dem Hermetiker ist freilich die ccQ^ovCa daran
schuld, deren sieben Unheilsgaben am Urmenschen haften
(oben § 5); die astrologische Erklärung lag in seiner Zeit
nahe genug. Der Mythus wußte von anderen Unheilsgaben
der Harmonia zu berichten. Auch ihm war sie eine TCoXvdcoQogf —
was er in beliebter Weise durch den Namen ihres Sohnes aus-
drückt; aber ihre Gabe war das Gold, das Fluchgold, aus dem
das * Geschmeide der Harmonia' besteht . . . Die tiefsinnige
Idee des Fluchgoldes ist jetzt durch R. Wagner wieder Eigen-
tum aller Gebildeten geworden; in der antiken Mythologie ist
sie noch zu wenig verfolgt. Und doch haben wir sie mythisch
in den Sagen vom Halsband der Harmonia, vom goldenen
Vlies, vom goldenen Lamm des Atreus — sämtlich Gaben
des Hermes — , kosmogonisch in der Lehre von den Weltaltem,
der auri sacra fames. Uns geht hier nur das erste an. Wir
sehen, wie das Fluchgold, von Harmonia fortgeerbt, jeden
Träger zum — wir gebrauchen den hermetischen Ausdruck —
ivdQ^oviog dovXog macht: Laios, Oidipus, Polyneikes, Amphi-
araos, Eriphyle, Alkmeon. Ein bedeutungsvoller Eingang zum
Liede vom Gold, dem Geschenk des Hermes, — und hier ist
es, wo die Lehre vom Gold, die niedere Hermetik, an die
höhere anknüpft.
33. Diese hat nun in Ägypten ihre Ausbildung erhalten;
das soll nicht geleugnet werden. Aber der Goldarbeiter des
60 Th. Zielinsti Hermes und die Hermetik
Philippos wußte wohl, warum er seine Werkzeuge dem
Kyllenier Hermes weihte (Anth. Pal. VI, 92); auch hier
waren die Ausgangspunkte griechisch, wie denn die hellenistische
Alchemie üher eine fast rein griechische Terminologie verfügt.
Doch freilich: viele Rezepte mögen Nationalgut der ägyptischen
Goldfälscher gewesen sein, und vor allem — der ganze magische
Spuk, der das Werden der Alchemie umspinnt.
Das alles ist niedere Hermetik. Die höhere dagegen ist
ganz griechisch, — das hoffe ich im vorhergehenden bewiesen
zu haben. Und indem ich die Feder niederlege, drängt es
mich hier nochmals dem Gelehrten zu danken, gegen den ich
am öftesten habe polemisieren müssen, und ohne den ich
meine Erkenntnis doch nicht gewonnen haben würde. Meine
Arbeit ist gering gewesen im Vergleich mit der seinigen; aber
das ist es nicht allein. Er ist folgerecht und unerschrocken
den Weg des Irrtums gegangen; und indem er es tat, hat er
deutlich bewiesen, daß es einer war. Nun wissen wir, was
wir von der Ägyptologie zu erwarten haben: für die niedere
Hermetik — sehr viele wertvolle Aufschlüsse, für die höhere —
so gut wie nichts.
{
Der Kagnarökmythus
Yon B. Kahle in Heidelberg -Neuenlieiin
[Schluß]
Wir kommen zum Nachspiel des Dramas, zur Geschleclits-
erneuerung. 1) Ein Mensclienpaar überlebt den Fimbulwinter,
von ihm stammen neue Geschlechter (Yafthrudnismal). 2) Die
Sonne gebiert eine Tochter, bevor der Wolf sie verschluckt,
sie soU, wenn die Götter sterben, ihrer Mutter Wege reiten
(Vafthrudnismal). 3) Vidarr und Yali bewohnen die Heilig-
tümer der Götter, wenn Surts Lohe erlischt (Yafthrudnismal);
die Söhne zweier Brüder werden den weiten Himmel bewohnen
(Yöluspa). Olrik macht es wahrscheinlich, daß unter diesen
beiden Brüdern Odin und der rätselhafte Lodurr zu verstehen
ist, da kurz vorher der dritte der Trias, Hönir, genannt wird.^
Den Sohn des Odinn kennen wir, es ist Yidarr, der als Rächer
seines Yaters sicher eine hervorragende Stelle im neuen Götter-
staat einnehmen wird, wahrscheinlich, als Erbe des Yaters,
die des Götterkönigs. Den Sohn des Lodurr kennen wir nicht,
aber da der Dichter ihn nicht nennt,. wird er ihn bei seinen
Hörern als bekannt vorausgesetzt haben. Femer sollen Modi
und Magni (Mut und Kraft, die Söhne Thors) nach Thors
^ Dazn vgl. die abweichende Ansicht Ranischs a, a. 0. S. 461
Anm. 1, der Hönir und Lodurr für die beiden Brüder hält, und die
ziemlich unwahrscheinliche Boers , Zeitschr. f. d. phil. 36, 343, der Hödr
und Baldr in ihnen sieht.
62 B- Kahle
Tode den Hammer Miöllnir haben. Es sind lauter junge
Götter, die den Untergang der alten überleben, ein zweites
Gescbleclit. Wie die Erneuerung des Menschengescbleclites,
wie die der Sonne eine vollständige ist, so auch die der Götter.
In dieser ganzen Gescblecbtserneuerung baben wir einen Nieder-
schlag der nordischen Lehre von der Seelenwanderung zu
sehen, wie es G. Storm schön nachgewiesen hat.^ Nicht
die alten Götter leben auf, aber in ihren Nachkommen
lebt ihre Seele weiter. Bei den Kelten ist diese Seelen-
wanderungslehre noch stärker entwickelt, auch die Perser
kennen sie. Wir haben es hier mit einem Wandermotiv zu
tun, zu dem die Nordleute nichts Wesentliches hinzugefügt
haben.
Es werden nun doch noch ein paar von den alten Göttern
genannt, die den Kampf überleben. Nach Vafthrudnismal soll
Njördr, der Vater des Freyr, den in Vanaheim weise Mächte
schufen, und der zu den Äsen als Geisel kam, am Weltenende
wieder zu den weisen Yanen zurückkehren. Hier ist vieles
dunkel. Kehrt Njördr vor dem Götterkampf zurück? Hat er
also in der Stunde der Gefahr die Äsen verlassen? Oder
aber macht er den Kampf mit, und warum ist ' er dann,
wenigstens nach diesem Gedicht, der einzige Überlebende der
alten Götter? Und eine andere Frage könnte man diesen von
Olrik erhobenen noch hinzufügen: sind denn die Vanen, soWeit
sie nicht bei den Äsen aufgenommen waren, mitsamt ihrem
Wohnsitz vom Untergang verschont geblieben? Warum kehren
denn nicht auch Freyr und Frejya zurück zu ihnen? Auch
die Wiederkunft des Hönir, der nach der Völuspa den Loszweig
kiesen soll, ist rätselhaft wie der ganze Gott. Mit Odinn hat er
einst an der Schöpfung der Menschen teilgenommen, und erst
hier tritt er wieder auf. Snorri läßt ihn von den Äsen an die
^ ArUv for nordisk Filölogi 9, 221 f. Ranisch leugnet a. a. 0. S. 461,
wie ich glaube zu Unrecht, den Zusammenhang mit dem Seelen-
wanderungsglauben.
Der Ragnarökmythus 63
Vanen vergeiselt werden. Man könnte fragen, wird er deshalb
verscliont?
Ferner läßt die Völuspa Baldr und seinen Mörder Hödr
wiederkommen. ^Ungesät werden die Äcker wachsen, alles
Üble schwindet, Baldr kommt; Hödr und Baldr werden Odins
Kampfgefilde bewohnen.' Leider streift Olrik die Frage des
Wiedererscheinens der beiden Götter nur flüchtig. Er hält
den Gedanken für mehr volkstümlich als den vom Wieder-
kommen der anderen alten Götter, es sei gewissermaßen die
Ergänzung zu dem Zug, daß die ganze Natur weint, um
Baldr aus dem Reich der Hei zu erlösen, es sei die natürliche
Erfüllung dieses Wunsches. Baldr hat nicht teilgenommen
am Kampfe, zum Feinde der Götter konnte er nicht werden
und auf ihre Seite konnte er als Toter nicht treten. So ist
er wie die jungen Götter übriggeblieben und wird wieder-
geboren. Die Frage nach dem christlichen Einfluß auf seine
Gestalt und seinen Mythus, die ja besonders von Bugge bejaht
und eingehend zu begründen versucht worden ist, berührt er
gar nicht weiter, sondern setzt nur am Schluß seiner Abhandlung,
wo er die einzelnen Motive nach ihrer Herkunft zusammen-
stellt, das von Baldrs Erscheinen zwar unter die christlichen,
versieht es aber mit zwei Fragezeichen. Aber so leicht läßt
sich die Sache nicht abtun, der Baldrmythus verlangt dringend
trotz oder vielleicht gerade wegen der neuen umfangreichen
Behandlung, die ihm Kauffmann gewidmet^, eine erneute Unter-
suchung.^
In einem Schlußabschnitt untersucht nun noch Olrik die
Behandlung des Mythus durch die Völuspa. Er stellt die
Übereinstimmungen mit den anderen Quellen zusammen, hebt
die Besonderheiten hervor, die die anderen Quellen nicht
kennen, und zeigt schließlich, was im Widerspruch mit diesen
^ Balder, Mythus und Sage, Straßburg 1902.
* Vgl. Heuslers Anzeige Deutsche Literatwz. 1903, Sp. 488 ff.
04 B- Kahle
stellt. Ferner sucht er festzustellen, was nur dichterische Aus-
malung, also Eigentum des Dichters ist.
Ich beschränke mich darauf, aus diesem Abschnitt nur
noch folgendes herauszuheben.
Die Darstellung der letzten Zeit der Menschheit, die Ver-
knüpfang von schlimmen Jahren mit verderblichen Kriegen
und sittlichem Zusammenbruch ist Sonderheit der Yöluspa.
Man hat hier Einfluß der Beschreibung der Evangelien vom
Weltende angenommen. Es verdient aber hervorgehoben zu
werden, daß man auch in der neueren europäischen Volks-
überlieferung ähnliche Schilderungen findet, und zwar zum
Teil in einer Form, die kaum auf christliche Vorbilder zu-
rückgeht.
Der Zug, daß Heimdallr beim Herannahen der feindlichen
Scharen ins Giallarhorn (das gellende Hörn) bläst, scheint auf
die Völuspa beschränkt. Wahrscheinlich jedoch ist die Szene
auf einem Grabstein der Insel Man, den man in die zweite
Hälfte des 11. Jahrhunderts setzt, dargestellt, eine Darstellung,
die auf der Völuspa beruhen kann, deren Entstehung man ja
allgemein dem 10. Jahrhundert zuschreibt. Wir treffen diesen
Zug weder bei Kelten noch bei Persern an. Dagegen spielt
das Blasen einer Posaune in dem jüdisch -christlich -mohamme-
danischen Vorstellungskreis vom letzten Gericht eine große Rolle.
Auch im ahd. Gedicht Muspilli ergellt das himmlische Hörn,
und auch Cynewulfs Crist kennt das Blasen. Nach Olrik kann
nun Heimdalls Auftreten im Eagnarök aus seiner allgemeinen
Stellung als Wächter der Götter nicht erklärt werden. Nach
der Völuspa hat er nicht nur die Rolle, die Götter zum
Kampf herauszurufen, wenn die Feinde sich nähern, sondern
sein Blasen wird ausdrücklich als der feierliche Beginn des
Weltunterganges bezeichnet. Ich kann aber hierin absolut
keinen Widerspruch sehen: der aufmerksame Wächter sieht
die Feinde sich nähern^ er stößt ins Hom. Das tut er nur
ein einziges Mal in seinem Leben, nur ein einziges Mal in der
Der Ragnarökmythus 65
Weltgeschichte ziehen von allen Seiten die Feinde heran. Jeder
der Götter weiß es, wenn das Hörn ergellt, dann ist der letzte
Kampf da. Wenn der Wächter das Zeichen gibt, bricht der
Untergang herein. Wo ist da ein Widerspruch zwischen der
Rolle, die er sonst spielt, und der, die ihm hier zugeteilt
wird? Doch will ich damit nicht leugnen, daß die christliche
Vorstellung vom Blasen der Posaune eingewirkt haben kann.*
An sich wäre es ja auch möglich, daß der Wächter auch auf
andere Weise das Zeichen gegeben hätte, daß er z. B. mächtig
seine Stimme erhoben, den Ruf zu den Waffen hätte ertönen
lassen. Das Gerüfte spielt ja in unseren deutschen Rechts-
altertümern eine große Rolle.
Als des Dichters eigenes Werk wird man vielleicht die
schöne Schilderung vom Zustand der neuen Welt ansehen
dürfen, die jedoch zum Teil auf Volksüberlieferung beruhen
mag, eine Wiederholung der ersten glücklichen Zeit in der
Welt, das weitverbreitete Goldaltermotiv. Rein menschliche
und dichterische Auffassung ist es aber, wenn die Sonne ins
Meer sinkt, denn die nordischen Mythen lassen sie vom Wolf
verschluckt werden, und der Dichter der Völuspa selbst kennt
diesen Mythus.
Sicher aber fremden Ursprungs — und hier bin ich ganz
einig mit Olrik — ist der Schluß: ^Nun kommt der Mächtige
zum Königreich, der Gewaltige von oben, der über alles
herrscht'. Das Wort aber, das Olrik hier mit Königreich
zu übersetzen geneigt ist, regindömr, indem er dömr als zum
Suffix herabgesunken wie in 'konung-dömr * König -tum' auffaßt,
bedeutet doch wohl zunächst, worauf er selbst hinweist,
^gewaltiges Gericht'.^ Ist dem so, dann kann, sagt er, und
auch darin stimme ich mit ihm überein, gar kein Zweifel
^ Auch Kauffmann hat seine Zweifel an dieser Herleitung vom
Erzengel Michael, S. 406, ebenso wie Ranisch a. a. 0. S. 462 überein-
stimmend mit dem obigen urteilt.
* So versteht auch Boer Zeitschr. f. d. phü. 36, 315 das Wort.
Archiv f. Eeligions-wissenschaft IX 5
QQ B. Kahle
melir sein, daß es die christliche Vorstellung vom letzten
Gericht ist, die hier mit dem Weltende verquickt ist. Auf
diesen Worten beruhen denn wohl auch, was Olrik nicht weiter
erwähnt, die Verse der kurzen Völuspa, die ja von der eigent-
lichen in hohem Maße abhängig ist: 'da (nämlich nach Odins
Tode) kommt der andere, der Mächtigere, doch wage ich
nicht, ihn zu nennen.' Wegen dieses Abhängigkeitsverhält-
nisses haben wir uns aber nur an die Verse der Völuspa zu
halten. Als ein fremdes Element empfindet der Dichter dieser
Verse, worauf Olrik mit Recht hinweist, diesen Gewaltigen
selbst, wenn er ihn von oben her kommen läßt, also aus einer
anderen Welt, aus unbekannten Femen, die noch über Asgard
liegen. Sein Erscheinen ist von großer dramatischer Wirkung,
aber episch gänzlich überflüssig. Das junge Göttergeschlecht
hat die neue Welt bereits selbst geordnet, für den Unbekannten
ist keine Stelle mehr.
Ein paar Bemerkungen seien hier noch hinzugefügt.
MüUenhoff hatte gemeint, und Kauffmann hat ihm zugestimmt,
der unbekannte Gott habe möglicherweise schon zuvor im
Hintergrunde neben und über den alten Göttern existiert. Er
kommt, um als Hüter des Rechtes seine Herrschaft auszuüben.
Recht wie keiner zu pflegen. Heilige Ordnungen setzt er
fest, die bleiben sollen. Er wird den Frieden ewig aufrecht-
erhalten. Das Gemälde, das MüUenhoff hier entwirft, ist
dichterisch schön, kann aber, wie ich glaube, der Kritik nicht
standhalten. Professor A. Heusler, mit dem ich über diese
Dinge in Briefwechsel gestanden, verweist darauf, daß die
neuen Götter ausdrücklich als * Schlachtgötter' (valUvar) be-
zeichnet werden, ein Ausdruck, an dem man mit Unrecht An-
stand genommen hat. „Ein unkriegerischer Gott wäre für den
Nordmann etwas Verächtliches gewesen, ein ragr (d. h. ein
weibischer), in dessen dröU (Gefolgschaft) er sich nun und
nimmer hineingewünscht hätte. Baldr muß man sich etwa wie
Gunnar von Hlidarendi (einen isländischen edlen Helden des
Der Ragnarökmythus 67
10. Jahrhunderts) denken, göär (^der Gute', ein Beiwort Baldrs)
ist Hacker, edel', niclit * gut = lammfromm. ' Trägt ja doch
auch der christliche König Hakon, der sein väterliches Reich
sich erkämpfte, und der später im Kampfe fiel, den der
Dichter nach ValhöU als willkommenen Beistand für die Götter
im letzten Kampf versetzt, den Beinamen ^der Gute'. Die oft
berufene Friedenssehnsucht der Nordländer im 10. Jahrhundert
halte ich für ein Phantom. Die ganze Sagaliteratur zeigt,
mit welcher Einseitigkeit der Krieg, die Waffentüchtigkeit als
Gehalt und Würze des Lehens empfunden wurde." Ich kann
diesen Ausführungen nur zustimmen.
Ich pflichte also Olrik hei, daß wir hier die christliche
Vorstellung vom Richter haben. Wie läßt sich diese aber mit
dem durchaus heidnischen Grundcharakter des Gedichtes, auf
den Olrik ja im Eingang seiner Arbeit so nachdrücklich ver-
wiesen hat, vereinigen? Darüber schweigt er. Und doch ist
diese Frage von außerordentlicher Wichtigkeit! Ist es doch
hauptsächlich diese Halbstrophe, die so manchen Gelehrten,
darunter zuletzt Bj. M. Olsen, veranlaßt hat, das ganze Gedicht
für die Dichtung eines Christen zu halten. Aber keiner von
allen, die dieser Ansicht huldigten, hat es erklärt, wie ein
Christ dazu kommen konnte, in der neuen Welt unter Christus
oder Gottvater eine Anzahl heidnischer Götter wirken zu
lassen. Das ist doch ein Unding, wie man es sich stärker
nicht denken kann.
Also statt des Monotheismus, resp. der Trinität, eine Viel-
götterei! Bj. M. Olsen hat das wohl gefühlt und deshalb
läßt er seinen christlichen Dichter, von tiefer Ehrfurcht zwar
gegen die alten Götter erfüllt, doch an den Sieg des Christen-
tums glauben und verweist auf den oft wunderlich gemischten
Glauben der ersten nordischen Christen in jener Übergangs-
zeit. Aber auch hier ein nicht zu lösender Widerspruch: wenn
der Dichter an den endgültigen Sieg des Christentums über
das Heidentum glaubt, wie konnte er dann eine Anzahl heid-
5*
ß3 B- Kahle
nischer Götter in das neue Reicli herübernehmen? Nein, der
Sieg mußte ein vollständiger sein, die alten heidnischen Götter
sind bezwungen: soweit sie nicht tot sind, sind sie bÖse
Dämonen. Das wäre konsequente Durchführung des Gedankens
vom Sieg gewesen. Die Kirche leugnete ja keineswegs die
Existenz der Heidengötter, aber es waren böse Teufel. War
der Dichter aber ein im Glauben Gemischter, wie jener Helge
der Magere, der, wiewohl getauft, gelegentlich auch Thorr an-
rief, so war ihm eben Christus nichts mehr denn ein neuer
Gott, der neben die alten trat. Vielleicht auch, wie Heusler
will^, fürchtete er doch immer noch die Macht des alten Gottes
und hielt es für gut, sich auch an diesen zu wenden, um
seinen Zorn nicht herauszufordern. Trifft das erste das Richtige,
dann würde man eine ähnliche Auffassung von Christus voraus-
setzen dürfen, wie bei jenen schwedischen Priestern, die dem
Volke sagten, wenn sie durchaus noch einen neuen Gott haben
wollten, so hätten die Götter beschlossen, den verstorbenen König
Erich in ihre Mitte aufzunehmen. Sie glaubten also, es handle
sich bei Christus nur um einen Gott mehr, da dieser aber ein
fremder war, wollten sie ihn durch einen heimischen ersetzen.
Nimmer aber würde dieser Halbchrist Helge Christus eine
solche Rolle angewiesen haben, wie sie hier der Geheimnisvolle
spielt, der Mächtige, der von oben zum gewaltigen Gericht
kommt. Welche Rolle hätten die Heidengötter neben dem
allgewaltigen Richter spielen sollen? Nein, dieser verträgt
keine anderen Götter neben sich, er allein ist der Herr.^
Wie nun den Widerspruch lösen? Ich habe schon lange den
Gedanken gehegt und mündlich wie schriftlich erörtert, daß wir
es hier mit einem nicht ursprünglichen Stück unseres Gedichtes
zu tun haben. Aus der Sprache der Halbstrophe können wir
keinen Aufschluß gewinnen über ihre Entstehungszeit. Nichts
hindert uns, diese später anzusetzen als das eigentliche Gedicht.
* Zeitschr. des Ver. f. Volksk. 12, 238.
* Ähnlich Heusler Zeitschr. d. Ver. f. Volksh. 12, 288.
Der Ragnarökmyfclaus 69
Daß die Völuspa ein in weiten Kreisen bekanntes Gedicht war,
wird durch mannigfache Zeugnisse erhärtet. Ich halte es nun
nicht für unwahrscheinlich — beweisen läßt sich so etwas ja
schwer — , daß in später Zeit, als das Christentum feste Wurzeln
gefaßt hatte, ein Christ Anstoß daran nahm, daß in der neuen
Welt Heidengötter ihres Amtes walten sollten. Vielleicht
merzte er die ganzen Strophen, in denen von dem Wieder-
erscheinen der überlebenden Äsen die Rede ist, aus (in
Bugges Ausgabe 60 — 63). Diese Strophen folgten auf jene,
in der das Wiederauftauchen der Erde geschildert wird. Die
64. Strophe ließ er stehen. Sie lautete: '^ Einen Saal sehe ich
stehen, schöner denn die Sonne, mit Gold bedeckt in Gimle;
da sollen *die wackeren Heerscharen' (dyggvar dröttir) wohnen
und ewiglich der Wonne genießen'. So übersetzt Heusler
treffend (brieflich) die dyggvar dröttir und sieht in der ganzen
Strophe die Erneuerung der alten Yalhöllherrlichkeit in noch
prächtiger ausgestattetem Saale.^ Die Bedenken, die Olrik da-
gegen äußert, daß man in dem goldgedeckten Saal ein ver-
klärtes Gegenstück zu VälhöU sieht, indem er fragt, wer denn
darin habe wohnen' sollen, da in der neuen Welt — weil
^ alles Schlechte schwindet', wie es in Strophe 62 heißt — die
Menschen dem Tod nicht unterworfen gewesen wären, es also
auch hier keine neuen Einherier gegeben hätte, halte ich für
unbegründet. Nirgends ist ausgedrückt, daß die neuen Menschen
unsterblich sein werden, und oben ist schon hervorgehoben,
daß diese kriegsfrohen Geschlechter sich ohne Kampf auch
die neue Welt nicht gedacht haben können. Wo aber Kampf,
da ist auch Tod, es wird also auch neue Einherier geben.
Diese trotzigen Kämpfer empfanden den Tod gar nicht als
etwas Übles, als einen Schaden, so wenig wie der für den
Glauben fallende Muselmann mit der Gewißheit unend-
licher Glückseligkeit vor Augen. Die Worte, auf die sich
* Vgl. jetzt Heuslers Ausführungen über die dyggvar dröttir: Gott,
gel. Anz. 1903, S. 702.
70 B. Kahle
Olrik bezieht, heißen gar niclit, daß alles Böse schwindet,
sondern alles Unglück wird besser werden (hols mun alls hatna)^
hol bedeutet * Schaden, Unglück', und man wird dabei an die
schrecklichen Winter zu denken haben, an die sittliche Ver-
wilderung, die dem Untergang vorausgingen. All der Schaden,
der dadurch angerichtet ist, wird in der neuen Weltordnung
besser werden. Das hindert' nun aber nicht, daß der Verfasser
der Strophe vom mächtigen Richter, ebenso wie der Christ
Snorri Sturluson die dyggvar dröttir als gute und rechtschaffene
Menschen ansah, und in dieser Strophe alsdann eine Belohnung
nach christlicher Art zu finden meinte, wie Detter bemerkt^,
während er in der merkwürdigen Schlußstrophe von dem
Drachen, der übers Gefilde fliegt und die Toten trägt, mißver-
ständlich eine Bestrafung der Bösen sah. So ergab sich ihm
ungezwungen der Gedanke, daß auch der Richter erwähnt werden
müsse, der die Strafen verhängt und die Belohnungen austeilt,
und er dichtete jene Halbstrophe und schob sie zwischen die
beiden anderen ein. Er. muß ein Mann von nicht ungewöhn-
licher poetischer Begabung gewesen sein, denn die Verse sind
kraftvoll und schön. Wer aber darauf besteht, in dem gold-
gedeckten Saal Gimle, wie man es getan hat, einen Wider-
schein des himmlischen Jerusalem und in den dyggvar dröttir
fromme, rechtschaffene Menschen zu sehen, der mag auch diese
Strophe jenem christlichen Dichter zuschreiben. Es ist aber
hervorzuheben, daß die Richterstrophe der Haupthandschrift,
dem Codex Regius, fehlt und nur in der Hauksbok sich findet,
während die andere beiden Handschriften eignet. Auch dieser
Umstand spricht für die Unechtheit der einen, für die Echtheit
der anderen Strophe.^ Man kann sich nun vielleicht die Sache
^ Die Völuspa, Wien 1899. (Sitzungsber d. Wiener Akadem.
phil.-hist. GL, Bd. CXI.)
* Vgl. jetzt auch Detter und Heinzel Saemundar Edda II, S. 81,
die die Sachlage ähnlich auffassen. Auch Boer, a. a. 0. S. 316 hält diese
Strophe für das Werk eines jüngeren Dichters mit christlichen Ten-
denzen, dem er noch einige andere Strophen zuspricht.
Der Ragnarökmythus 71
so denken, daß das Gedicht in späterer Zeit mit zwiefachem
Schluß im Umlauf war, dem heidnischen ursprünglichen und
dem späteren christlichen, und daß dann vielleicht ein Schreiber,
dem das rechte Verständnis für die sich daraus ergebenden
Widersprüche fehlte, es versuchte, beide Schlüsse zusammen-
zustöppeln.^
Zum Schluß seiner Abhandlung stellt Olrik eine Anzahl
Züge des Mythus der Völuspa zusammen, die das Gedicht
allein unter den nordischen Quellen hat, und in denen es mit
dem christlichen Mythus vom jüngsten Gericht übereinstimmt.
Einzeln, führt er aus, wären sie nicht beweisend für den
christlichen Einfluß auf das Gedicht, wohl aber in ihrer
Gesamtheit. Als solche Züge sieht er an: die sittliche Auf-
lösung, das Blasen des Hornes, den Weltbrand, das neue Jeru-
salem (= der Saal Gimle) und die Wiederkehr des Mächtigen
zum Gericht.
Den letzten Zug habe ich als ursprünglich dem Gedicht
fremd zu erweisen gesucht. Auch die Beziehung des Saales
Gimle zu dem edelsteingedeckten Saale des neuen himmlischen
Jerusalems scheint mir keineswegs sicher zu sein.^ Wir haben
ferner gesehen, daß wir es auch in der Völuspa nicht mit
einem Weltbrand, sondern nur mit einem Brande des Himmels,
also der Götterwohnungen, zu tun haben. Auch die Be-
ziehung von dem hornblasenden Heimdall zum posaunen-
blasenden Erzengel Michael erschien zum mindesten bedenklich.
1 Heusler Zeitschr. d. Ver. f. VolJcsJc. 12, 238 äußert sich: ist der
Vers ursprünglicli , muß der Dichter an einen heidnischen Gott gedacht
haben, ist sie christliche Zutat, so kann nur ein Schreiber des 13. Jahr-
hunderts der Verfasser sein, 'dem der religiöse Gegensatz nicht mehr
lebendig war, und der das Unvereinbare wenigstens auf dem Pergament
glaubte vereinigen zu können'. Diese zweite Alternative steht also
meiner oben vorgetragenen Ansicht nahe.
* Auch Detter und Heinzel haben Saemundar Edda II 79 f. ihre
Bedenken gegen die Auffassung von Gimle als dem edelsteingedeckten
Hause des neuen Jerusalems ebenso wie Ranisch a. a. 0. S. 463.
72
B. Kahle Der Ragnarökmythns
Bleibt noch, die sittliche Auflösung. Aber war nicht der
Gedanke, daß bei einer so großen Umwälzung aller Dinge
auch die sittlichen Bande sich lösen mußten, ein so natür-
licher, daß er ungezwungen, ohne fremde Beeinflussung, auch
auf nordischem Boden erwachsen konnte?
Wenn ich somit das Ergebnis der schönen Untersuchung
Olriks annehme, das dieser in den Worten zusammenfaßt, daß
das Gedicht in seiner Gesamtheit heidnisch sei, so weiche ich
doch darin von ihm ab, daß mir die christliche Beeinflussung
desselben keineswegs in dem Maße ausgemacht erscheint,
wie ihm.
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche
Mutter
Eine Studie über den Ursprung des Mariendienstes
Von F. C. Conybeare, M. A., F. B. A. in Oxford
Aus dem Englischen übersetzt von Ottilia C. Deubner
[Schluß]
In dem Hermae Pastor ist die Kirche nicht nur als eine
Jungfrau allegorisiert, sondern als himmlischer, mit Christus
gleichaltriger Aon gefaßt. *Der Herr der Heerscharen', so
lesen wir in Vis. I 3, 4, ^erschuf durch eigne Weisheit und
Vorsehung seine heilige Kirche, die er auch segnete.'
*Die Älteste', die der Hirt mit der Sibylle verwechselt
hatte, war gleichfalls in Wahrheit die Kirche; und sie war die
Älteste, weil sie zuerst erschaffen war', vor anderen Geschöpfen,
und ^für sie wurde der Kosmos geschaffen und in Stand ge-
setzt' (Vis. n 4, 1). In der Form (morphe) der Kirche offen-
barte der heilige Geist, der Sohn Gottes, dem Hirten den
ersten Teil seiner Vision (Sim. IX 1, 1).
Dieselbe Hypostase der Kirche tritt uns in einem anderen
frühen Buch entgegen, dem sogenannten zweiten Brief des
Clemens, welcher behauptet (Kap. XIV), daß ^diejenigen, die
den Willen Gottes unseres Vaters tun, Teilhaber an der ersten,
der geistlichen (pneumatikes) Kirche sein sollen, die vor
Sonne und Mond erschaffen war. Und derselbe Autor fügt in
der Nachschrift hinzu, daß wenn wir von Gott lesen, er habe
den Menschen erschaffen, Mann und Weib, wir Christus als
den Mann und die Kirche als das Weib aufzufassen haben.
74 F. C. Conybeare
Denn die lebende Kirclie sei der Leib Christi; und wie sowohl
Bibel als Apostel bezeugen, ist die Kirche nichts Neues,
sondern von oben herabgekommen. ^Denn sie war geistlich,
gleichwie unser Jesus, aber sie wurde in diesen letzten Tagen
geoffenbart, damit sie uns erlöse'.
Ähnlich nennt Clemens von Alexandria (Protrept. 9, S. 69)
die Kirche prötotokos oder Erstgeborene Gottes und verkündet,
daß die irdische Kirche ihr Abbild sei.
In dem Briefe der Kirche von Vienne und Lugdunum in
Gallien, betreffs der etwa 177 n. Chr. erduldeten Verfolgung
bei Eusebius H. E. V, 1, sect. 207, finden wir ein Zeugnis für
das der hypostasierten Kirche zugeschriebene persönliche Leben
und ihr Literesse an den Gläubigen. Einige, die abtrünnig
gewesen waren, bestätigten aufs Neue ihren Glauben. ^Dann',
so sagt der Brief, * empfand die jungfräuliche Mutter tiefe
Freude, weil sie lebendig diejenigen zurückerhielt, die sie vor-
zeitig geboren hatte, als seien sie tot.'
TertuUian bezeugt für das zweite Jahrhundert die Ge-
wohnheit, Gebete an die Kirche zu richten; denn in den letzten
Worten seiner Enzyklika über die Taufe Kap. 20 ermahnt er
die Gläubigen, daß sie, wenn sie aus dem hochheiligen Tauf-
becken aufsteigen, ihren Platz bei ihren Brüdern einnehmen
sollen, und ihr erstes Gebet in der Gegenwart ihrer Mutter, ^der
Kirche', aussprechen. 'Cum de illo sanctissimo lavacro novi
natalis ascenditis et primas manus apud matrem cum fratribus
aperitis, petite de patre, petite de domino peculia gratiae.'
Li seiner Schrift 'ad Martyras' spricht TertuUian ebenfalls
von der domina mater ecdesia, die die Gläubigen an ihrer
Brust nährt.
Hegesippus, bei Eusebius, H. E. 111 32, 127, sagte, daß
die Kirche bis zu den Zeiten Trajans rein und unberührt
blieb, in dem Sinne, daß bis dahin unter ihren Lehrern keine
Abkehr von dem gesunden Standpunkt der Lehre des Erlösers
vorgekommen sei. IV 22 ^ 182 sagt derselbe Autor, er habe
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter 75
verkündet, daß bis dahin die Kirche Jungfrau genannt worden
sei, weil sie noch nicht durch leere Gerüchte heflecld war.
So wurde auch Marcion beschuldigt, eine Jungfrau verführt zu
haben, indem mit der Jungfrau, wie Schmiedel bemerkt (im
Art. Evangelien [Gospels] der Encycl. Biblica, col. 1778), die
Kirche gemeint ist.
Der Gleichsetzung der Kirche mit Eva, die ich aus dem
zweiten Clemens herangezogen habe, begegnen wir auch in
dem Brief ad Diognetum XII 8, der Justin dem Märtyrer zu-
geschrieben wird und sicher aus seiner Zeit stammt. Darin
lesen wir, daß die Kirche eine Eva ist, die, weit entfernt,
verdorben zu sein, für eine Jungfrau gehalten und ausge-
geben wird.^
Diese Parallele zwischen der Kirche und Eva ist eine der
beliebtesten. Wie Christus zweiter Adam, so ist die Kirche
eine zweite Eva, 'aus der Rippe Christi erschaffen, wie Eva
aus der des Adam, jedoch ohne Fleck noch Makel'. So lesen
wir in den Acta Petri et Pauli (ed. Lipsius 1891), Kap. 29,
S. 192; und derselbe Gedanke kehrt in armenischen und
anderen Quellen oft wieder und wurde gern auf die Jungfrau
Maria übertragen. Irenaeus bezeugt, daß die Valentinianer
ihn adoptierten. *De Logo autem et zoe emissum secundum
eonjugationem Hominem et Ecclesiam, et esse hanc primo-
genitam Octonationem'. 'Aus dem Wort und dem Leben
wurden durch Syzygie der Mann und die Kirche projiziert
(oder emaniert) und auf diese Weise die Ogdoade der Urzeugung
vollendet' (Iren. I 1, 1). Dieses war nach der vielleicht
richtigen Aussage der Valentinianer die Vereinigung innerhalb
des pleroma, deren großes Mysterium Paulus (Eph. V 32) ver-
kündete (Iren. I 1, 17).
Es ist also augenscheinlich, daß alle Schulen christlicher
Spekulation, ob gnostisch oder orthodox, im zweiten Jahr-
^ OvSh E^cc (pQ'SiQBXui, akXa jtccgd'ivog Jtiötsvstai.
76 F. C. Conybeare
hundert übereinstimmten in der Auffassung der Kirche als der
Hypostase eines himmlischen Wesens, gleichaltrig mit Christus
und auf einer Stufe mit der Weisheit und dem Wort Gottes.
In den Akten des Thomas jedoch, einem Apokryphenwerk des
zweiten Jahrhunderts, das, vielleicht ursprünglich syrisch ge-
schriehen, aber in den lateinischen, griechischen, armenischen,
georgischen und aethiopischen Versionen nicht minder yer-
breitet war, finden wir die jungfräuliche Kirche öffentlich in
Hymnen angerufen, als ^die jungfräuliche Tochter des Lichts',
in der der Glanz der Könige gegründet ruht. ^Frohlocken
eignet ihr, und ihr Anblick erregt Freude. Sie blendet mit
strahlender Schönheit. Ihre Gewänder sind wie Frühlings-
blumen und ein Duft geht von ihnen aus und verbreitet sich.
Und auf ihrem Haupt ist der König gepflanzt und nährt die
da auf ihm ruhen mit eigenem Ambrosia. Auf ihrem Haupt
liegt Wahrheit gebettet und Freude offenbart sie mit ihren
Füßen. Deren Mund tut sich auf wie es ihr geziemet. Dreißig
und zwei ist die Zahl derer, die sie in Hymnen preisen. . . .
Aber es sind die Diener ihres Bräutigams, die ihre Leib-
wache bilden, sieben an der Zahl, die sie selbst erwählt. Ihre
Brautjungfern aber sind sieben Jungfrauen, die vor ihr tanzen.
Und zwölf an der Zahl sind diejenigen, die vor ihr dienen
und ihr Untertan sind, Blick und Auge auf den Bräutigam ge-
richtet, um durch seinen Anblick erleuchtet zu sein und in
alle Ewigkeit bei ihm zu sein in ewiger Freude und Sitze zu
haben für jene Hochzeit, bei der die Mächtigen sitzen, und
königliche Gewänder anzuziehen und in strahlende Stolen ge-
kleidet zu sein. Und beide Teile werden sein voll Freude
und Belustigung und werden lobpreisen den Vater aller Dinge,
dessen frohes Licht sie empfangen haben, und sind erleuchtet
worden durch den Anblick ihres Herrn, dessen Ambrosia sie
empfangen haben, das da nimmer versagt, und von dessen
Weine sie getrunken haben, der keinen Durst in ihnen erregt,
noch Begierde nach dem Fleisch. Und sie haben zusammen
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter 77
iobgesungen und gepriesen mit dem lebendigen Geiste, dem
Vater der Wahrheit und der Mutter der Weisheit' (Kap. 6,7).
Und noch deutlicher wird die Ecclesia vom Apostel an-
gerufen, wenn er das heilige Siegel der Ölung auf den König
Gundaphor und Gad setzt, im 26. Kap.
Komm, heiliger Name Christi, der du über allen Namen bist.
Komm, Macht des Höchsten und größte Gnade.
Komm, Spender des Segens, des höchsten.
Komm, Mutter, gnadenvolle.
Komm, Ökonomie des Männlichen.
Komm, Frau, die du die verborgenen Mysterien aufdeckst.
Komm, Mutter der sieben Wohnstätten, daß Ruhe für dich sei
in der achten Stätte. . . .
Die letzten vier Anrufungen sind an die Kirche gerichtet,
die in dem Sinne die Ökonomie des Männlichen darstellte, daß
sie sein Körper war, in dem es auf Erden Fleisch geworden
war, ein Gedanke, der auch bei Methodius allgemein ist.
Und in denselben Akten wird nachher, Kap. 46, die
Kirche wieder vom Apostel angerufen, wenn er seinen neuen
Bekehrten mit Handauflegung das Siegel gegeben hat und
ihnen das Brot des Segens oder der eulogia mitzuteilen beginnt.
Und er hub an und sprach:
Komm, größte Gnade.
Komm, Gattin (buchstäblich: Gemeinschaft) des Männlichen.
Komm, Frau, die du weißt das Mysterium des Erwählten.
Komm, Frau, die du teilnimmst an allen Kämpfen des edlen Athleten.
Komm, Schweigen, das die großen Geheimnisse des Allerhöchsten
kund tut.
Komm, Frau, die du die verborgnen Dinge zeigest und die
unsagbaren Dinge offenbarst, heilige Taube, die du die
Zwillingsnestvögel hervorbringst.
Komm, geheime Mutter.
Komm, Frau, die du offenbar bist in deinen Taten und Freude
und Ruhe bringest allen, die an dich gebunden sind.
Komm und nimm teil mit uns an dieser Eucharistie, die wir
in deinem Namen vollziehen und in der Liebe (agape),
mit der wir auf deinen Ruf zusammengebracht sind.
78 F. C. Conybeare
Die Beschreibung der Kirche als ^heilige Taube, die die
Zwillingsnestvögel zur Welt bringt', erklärt sich durch den
Glauben, der sich in diesem populärsten aller frühen Apo-
kryphen offenbart, daß Jesus und Thomas Zwillinge seien.
Wie sie durch leibliche Geburt Zwillinge waren, so werden
sie an dieser Stelle als Zwillinge durch geistige Geburt ange-
sehen, in welcher die Mutter Kirche Söhne Gottes gebiert.
In der klassischen Inschrift des Abercius, des Bischofs von
Hierapolis, c. 160 n. Chr., ist die Kirche als ^heilige Jungfrau'
dargestellt, die den großen Fisch, Christus, aus dem Brunnen zieht.
Hiermit sind die Beziehungen auf die Jungfrau Kirche
im zweiten Jahrhundert nicht erschöpft; und es ist lehrreich zu
beobachten, daß sie hauptsächlich in Syrien, von wo der erste
Same des Christentums nach Armenien getragen wurde, als
eine Göttin oder ein göttlicher Aon angesehen wurde, den man
im Gebet anrufen und in Hymnen lobpreisen sollte.
An nächster Stelle wollen wir das Attribut der Kirche
als Mutter Christi, ja als TheotoJcos betrachten.
In der Offenbarung Kap. XII 1 — 6 ist die Kirche die
Mutter, die in ihren Armen das Kindlein Jesus hält und den
Drachen flieht, und es ist möglich, daß dieser Gedanke das
schöne frühe Gemälde in der römischen Katakombe der heiligen
Priscilla beseelt. Jedoch gibt es dort keinen Drachen und
keine Flucht. Statt dessen sehen wir das ruhevolle Glück der
Mutter in der Gegenwart des Propheten, der neben ihr steht,
und über ihrem Haupt ist ein Stern erkennbar. Christliche
Archäologen haben angenommen, es sei Maria.
Was den Verfasser der Offenbarung dazu brachte, die
Kirche in dieser Rolle darzustellen, können wir nicht sagen.
Es mag der ebionitische Lehrsatz über Christi geistige
Wiedergeburt in der Taufe, mit- der Kirche als seiner Mutter,
gewesen sein, der ihn dazu bewegte; doch haben wir keine
Belege für diesen Punkt, die uns erlauben würden, es bestimmt
zu behaupten.
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter 79
Auch wissen wir nicht genau, wieviel TertuUian damit
meinte, wenn er in seinem Buch De Oratione, Kap. 2 die
Kirche als Mutter darstellt. An dieser Stelle legt Tertullian
Nachdruck auf die Vaterschaft Gottes; und wenn wir an ihn
glauben, gestattet uns Christus, uns Söhne Gottes zu nennen
(Joh. I 12). Darauf bemerkt er: ^Auch im Vater wird der Sohn
angerufen; denn letzterer sagte: Ich und der Vater sind eins.
Auch ist die Mutter Kirche nicht ausgelassen; da du wahrlich,
wenn du einen Vater und einen Sohn anerkennst, damit auch
eine Mutter anerkennst, die im Namen Vater wie im Namen
Sohn einbegriffen ist.'
Vor allem bringt Tertullian vor, daß, indem wir unseren
Vater im Himmel anrufen, wir auch Sohn und Mutter still-
schweigend mit einbeziehen, und die Mutter ist die Kirche.
Analogie und strenge Logik könnten zweifellos von uns ver-
langen, die Kirche als Mutter Christi, wie auch anderer Söhne
Gottes, anzusehen. Doch das spricht Tertullian kaum aus.
Auch hat er vielleicht beabsichtigt mehr zu sagen als Cyprian
in seiner Abhandlung De Unitate Ecclesiae, S. 467, ed. Baluz:
^Derjenige kann Gott nicht zum Vater haben, der nicht die
Kirche zur Mutter hat.'
Der heilige Zeno geht nicht so weit, zu behaupten, daß
die Kirche die Mutter Christi sei, wenn er ihr auch jene
Eigenschaften der schmerzlosen Geburt und der Jungfräulich-
keit, die ewig trotz Mutterschaft erhalten bleibt, zuschreibt,
die in leiblichem Sinne klassische Attribute der Mutter Christi
geworden sind. Ich füge Beispiele aus den Werken dieses
Bischofs von Verona (362 — 380) hinzu.
S. Zeno, Lib. II Tr. XXX, p. 240 (Migne P. Lat. 11,
476), schreibt in der Invitatio ad Fontem: lam vos sempiterni
fontis calor salutaris invitat. lam mater nostra adoptat, ut
pariat: sed non ea lege, qua vos matres vestrae pepererunt,
quae et ipsae partus dolore gementes et vos plorantes sordidos,
pannis sordidis alligatos, huic mundo dediticios intulerunt.
gQ F. C. Conybeare
Auch Tr. XXXII: Eia quid statis, fratres? Vestram
,quos per fidem genitalis unda concepit, per sacramenta
iam parturit, ad desiderata (seil. Eucharistiam) quantocius
festinate.
Auch Tr. XXXIII: Quid statis genere, aetate, sexu, con-
ditione diversi, mox unum futuri? Fontanum semper virginis
matris dulcem ad. uterum convolate ... 0 admirabilis et
vere divina sacrosancta dignatio! in qua quae parturit, non
gemit; qui renascitur, plorare non novit. Haec renovatio,
haec resurrectio, haec vita aeterna, haec est mater omnium,
quae nos adunatos, ex omni gente et natione collectos, unum
postmodum efficit corpus.
Wenn Tertullian die Ecclesia wirklich als die geistige
Mutter Christi ansah, im Gegensatz zu Maria, seiner leiblichen
Mutter, von der er sagt, sie sei ein Typus der ungläubigen
Synagoge gewesen, so nimmt er eine ganz ähnliche Stellung
ein wie Clemens von Alexandrien an einer Stelle des Päda-
gogus (Sylb. ed. p. 102). Darin behauptet er, daß Christus,
die Leibesfrucht der Maria, die Brust menschlicher Mütter ver-
schmähte. Und er erklärt eiligst, wen er als die jungfräuliche
Mutter Christi ansieht. Es ist die allumfassende Kirche, eine,
wie der Yater aller einer ist, wie das Wort aller eines ist,
wie der heilige Geist überall ein und derselbe ist. ^Sie die
Kirche zu nennen ist meine Freude. Sie ist die einzige
Mutter, die niemals Milch hatte, denn sie allein war kein Weib.
Dennoch ist sie zugleich Jungfrau und Mutter. Makellos wie
eine Jungfrau und dennoch liebend wie eine Mutter.' Im
allgemeinen fanden es die Väter des dritten Jahrhunderts und
später schwierig, das von der Mutter Kirche in der Offen-
barung gegebene Bild in orthodoxer Weise zu erklären; und
Hippolytus gibt eine Erklärung der Vision in der Offenbarung
Xn 1 — 17, welche, wie wir sehen werden, auch Methodius an-
nimmt. Sie steht im 61. Kapitel seines Werkes ^Über den
Antichrist' (S. 41 der Ausgabe von H. Achelis).
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter gl
^Mit "der sonnenbekleideten Frau" bezeiclinet er klärlich
die mit dem Logos des Vaters, der da heller scheint als die
Sonne, bekleidete Ecclesia. Wenn er aber von dem "Mond
unter ihren Füßen" spricht, meint er, daß sie mit himmlischem
Glänze geschmückt war, gleichwie der Mond. Und die Aus-
sage, daß "über ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen
war", ist ein klarer Hinweis auf die zwölf Apostel, durch die
die Kirche auf einem Untergrund gegründet worden ist. Und
die Worte "und sie war schwanger und schrie und war in
Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt" bedeuten,
daß die Kirche niemals aufhört aus ihrem Herzen das Wort
zu gebären, obgleich sie in der Welt von den Ungläubigen
verfolgt wird.
'"Und sie gebar", sagt er, "einen Sohn, ein Knäblein,
der die Völker sollte weiden", nämlich den männlichen und
vollkommenen Christus, Kind Gottes, Gottes und des Menschen,
den die Propheten verkündeten, den die Ecclesia immerdar
trägt und allen Völkern lehrt.'
'Aber die Worte "Ihr Kind ward entrückt zu Gott und
zu seinem Stuhl" stehen da, weil der Sohn, der ewiglich von
ihr hervorgebracht wird, ein himmlischer König ist, kein
Bürger der Erde.'
Der Fehler in der Exegese des Hippolytus liegt darin,
daß er die Worte der Offenbarung 'ein Knäblein, der die
Völker sollte weiden' in einem unnatürlichen Sinn auffaßt.
Sie können sich allein auf den Messias beziehen. Hippolytus
jedoch gibt vor, daß sie die Gefolgschaft Christi im einzelnen
Gläubigen bedeuten. Dieselbe schwankende Erklärung wird
in größerer Ausführlichkeit in dem Convivium, Oratio VHI
Kap. 8 des Methodius gegeben: 'Ich halte dafür, daß es hier
die Ecclesia ist, von der gesagt wird, sie gebäre das Knäblein . . .,
so daß in jedem von uns Christus in einem mystischen Sinne
{vorix&g) hervorgebracht wird.' Und das ist der Grund,
warum die Kirche schwanger ist und in Kindesnöten, bis der
Archiv f. Religionswissenschaft IX g
82 F- C. Conybeare
Christus, der in uns ist, Form gewinnt und hervorgebracht
wird, damit jeder Heilige durch Teilhabung an Christus als
Christus hervorgebracht werden möge, welches der Sinn einer
Stelle der Schrift ist: ^Tastet meine Gesalbten (christos) nicht
an und tut meinen Propheten kein Leid' (Ps. CV, 15).
Dieser Verfasser legt auch in den Mund der Thekla, einer
seiner personae dramatis, einen beredten Hymnus, in dem
die heilige Hochzeit Christi mit seiner Jungfrau gefeiert wird,
und der wahrscheinlich im dritten Jahrhundert liturgisch ver-
wandt wurde. Es wird angenommen, daß ihn die zehn Jung-
frauen singen, die in dem Gleichnis ausgehen, die Braut und
den Bräutigam zu empfangen, und dies ist der Refrain: 'Ich
bewahre mich keusch und komme, Lampen haltend, die weit-
hin leuchten, um dir entgegenzugehen, o Bräutigam.'
Eine an die Kirche gerichtete Stanze lautet wie folgt:
'Mit Hymnen, gesegnete Braut Gottes, preisen nun wir, deine
Dienerinnen, dich, du unberührte Jungfrau Ecclesia, schneeigen
Leibes, mit dunkelblauen Zöpfen, keusch, untadelig, liebenswert.'
In den Stellen aus Methodius haben wir also nicht nur
die in Hymnen angeredete Kirche, sondern wir erkennen auch
den größten Teil der in den armenischen Hymnen auf sie an-
gewandten Bildersprache aus dem Hohen Lied, aus dem
Testament und aus anderen Quellen wieder. 'Sie ist', so spricht
er in Or. VIII, Kap. 5, 'wenn man sie genau betrachtet, unsere
Mutter, da sie eine Macht (dynamis) ist, anders geartet als
ihre Kinder.' Mit anderen Worten: sie ist eine transzendentale
Macht oder ein Äon. 'Die Propheten', so fährt er fort, 'haben
sie manchmal Jerusalem genannt, manchmal die Braut, manch-
mal Berg Zion, manchmal auch Tempel und Heiligtum Gottes.'
An anderer Stelle schreibt er, daß 'die Juden unsere
Wahrheiten vorhergesagt haben, gerade wie wir die Wahrheiten
des Himmels im voraus verkünden. Denn das Tabernakel war
ein Symbol der Kirche, gerade wie die Kirche ein Symbol des
Himmels ist'. Und in dem Anhang erklärt er, wie die ver-
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter 83
schiedenen materiellen Bestandteile des jüdischen Tabernakels
I die Orden der Witwen und Jungfrauen in der Kirche symboli-
I sieren (Or. V Kap. 8). An einer weiteren Stelle Or. VII Kap. I
erschöpft er die Bildersprache des Hohen Liedes im Dienst der
Kirche. Sie ist 'unberührbar und rein von Berührung, gleich-
wie ein versiegeltes Paradies, in dem alle Wohlgerüche des
Himmels wachsen, auf daß Christus allein kommen möge und
sie genießen, denn sie sind aus körperlosem Samen erstanden'.
An einer anderen Stelle (Or. VIH Kap. 8), die anmutet, als
ob sie ein Vorbild dessen sein könnte, was Gregor von Arsharuni
geschrieben hat (siehe oben Bd. VHI S. 380f.), interpretiert
Methodius die Braut des Hohen Liedes als ^den unbefleckten
Leib' des Herrn, ^um dessentwillen er den Vater verließ und
hier herabkam und landete, darin Mensch geworden. Dieser
Leib, in dem Liede metaphorisch die Taube genannt, wurde
unter allem Fleisch als allein von Flecken und Verwesung frei
erfunden und über alle Menschen erhaben an peinlicher Ge-
rechtigkeit und an Schönheit, so daß keiner unter denen, die
Gott ganz befriedigt hatten, was moralische Vorzüglichkeit an-
belangt, in seine Nähe oder auf eine Stufe mit ihm gesetzt
werden konnte. Aus diesem Grund wurde er für wert gehalten,
Teilhaber des Reiches des monogenes zu werden, durch An-
passung und Vereinigung mit ihm'.
Folglich erklärt Methodius die Königin, welche allein unter
vielen, nach Ps. XLIV 10, 15, 16, zur Rechten Gottes steht,
in einen goldenen Zierat der Vortrefflichkeit gekleidet, als
*jenes unbefleckte und gebenedeite Fleisch, welches das Wort
selbst hinauftrug in den Himmel, mit goldenen Gewändern ge-
schmückt'. Abercius bezieht sich auf dieselbe Königin.
In Arsharimi ist es die Kirche, zu der Christus von oben
herabsteigt, die er zu seiner Braut erwählt und mit sich hin-
aufnimmt in den Himmel. An der obigen Stelle des Methodius
ist es das Fleisch. Doch bringt die übliche Gleichung der
Kirche mit dem Leib Christi die beiden Auffassungen in Ein-
84 F- C. Conybeare
!
klang, und es ist bemerkenswert, daß in dem Papyrusfragment
des Pastor Hermae, das von Grenfell und Hunt kürzlich ent-
deckt und in den Oxyrhynclius Papyri I S. 8 publiziert worden
ist, 'der Körper des Fleisches Jesu Christi, der durch Maria
mit Menschlichkeit vermischt wurde', identifiziert wird mit dem
'Prophetischen Orden', oder vielleicht — der Text ist zwei-
deutig — mit 'der Essenz oder dem inneren Körper' {pandtsiov)
jenes Ordens. Hier wird also der transzendentale oder himm-
lische, leibliche Körper Christi mit dem Prophetenorden identifi-
ziert, der, als der Pastor geschrieben wurde, den vitalen Kern-
punkt der Kirche bildete. Methodius ahmt an der zitierten
Stelle in Ton und Phraseologie den Pastor nach, von dem er
einen unverdorbenen Text besessen haben mag.
Der Gedanke, daß die Kirche, als erwählte Braut Christi,
mit ihm wieder zum Himmel emporstieg, begegnet in anderen
Autoren, z. B. in der Expositio in Cantica Canticorum, Migne
P. L. Tom. 70, col. 1100, dem Cassiodor zugeschrieben. Denn
als Kommentar zu Kap. 8, 2: apprehendam te et ducam te in
domum matris meae, ibi me docebis, erklärt der Autor, daß
die 'mater ecclesiae' hier jenes himmlische Jerusalem sei, von
dem Paulus Gal. IV 2Q spricht, und er erläutert den Text des
Liedes also: id est prosequar te revertentem in coelum, post
actum incamationis tuae, et passionis mysterium . . . cum
(inquit) coelo receptus fueris et me quoque in coelum tecum
assumpseris, ibi me docebis et in omnem veritatem induces.
Es muß beachtet werden, daß derselbe Autor, obgleich
sein Kommentar durch den Geist des Mariendienstes stark ge-
färbt ist, den 'geschlossenen Garten' und den 'versiegelten
Brunnen' des zwölften Kapitels auf die Kirche, nicht auf die
Mutter Christi, bezieht. In armenischen und anderen an die
Mutter Christi gerichteten Hymnen kommen die Ausdrücke
immer wieder vor, doch kann es keinem Zweifel unterliegen,
daß die früheste Exegese des Gesanges sie auf die Kirche
bezog.
Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter 85
Wir haben oben die Frage aufgeworfen, zu welcher Zeit
wohl die Bildersprache der jüdischen Lade und des Taber-
nakels, die in den armenischen Hymnen auf die Kirche an-
gewandt wird, auf die Jungfrau Maria übertragen wurde. Unter
den Methodius zugeschriebenen Werken (Migne P. gr. t. 18, col.
347) befindet sich eine Rede für das Fest der Hypapante, die
sich in ihren ersten Zeilen als ein Werk von dem Autor des
Convivium ausgibt. Seine Authentizität wird von einigen
modernen Kritikern geleugnet, die jedoch nicht genügend er-
klärt haben, warum denn der Verfasser einer im Ton so naiven
und in dogmatischer Tendenz so neutralen Homilie in den
Text, wenn auch nicht den Namen, so doch eine indirekte
Anspielung auf Methodius^ sollte hineingearbeitet haben.
Wir finden darin bereits viele Attribute der Kirche, in-
sonderheit das des Thrones schon auf die Jungfrau Maria
übertragen.
So in col. 352, c. 2: 'Siehe da, einem Throne gleich, hoch
und zu Ehren dessen, der ihn erschaffen hat, aufgerichtet, ist
die Jungfrau Mutter sichtbarlich bereitet für den König, den
Herrn Zebaoth . . . auf diesem jungfräulichen Thron, sage ich,
mußt du ihn anrufen, der diese neue Reise für dich bestimmt
hat, wovon in vielen Hymnen gesungen wird.'
Und weiter unten c. 3: 'Tanze du vor dem Antlitz des
jungfräulichen Thrones, wie David dazumal vor der Bundeslade.'
In c. 4, col. 356 dieses Traktats wird die Jungfrau Maria
genannt die 'Lade Gottes, die auf den Hügeln Zions ruhte und
in ihren makellosen Schoß, wie auf einen Thron, hoch und
über menschliche Natur erhaben, den König aller aufnahm'.
Li c. 5, col. 357 redet der Verfasser Maria auf folgende
Weise an : ' 0 Mutter Jungfrau und geistiger Thron, geehrt und
Gottes würdig.'^ In c. 7, col. 364 wird sie verkündet als 'der
^ ^dXccL iycav&g, mg olovre, Slcc ßgaxsojv tä Ttsgl TtagO'svias iv tolg
mQi ayvsiccg ßvfiTtoöioig 'aarsetQajuotoav rjii&Vy gti^bqov ktX.
"^ MfjrsQ ^agd'Bvs xccl vorith d'Qovs, SsSo^uö^levs ical &sov ind^LS.
86 F. C. Conybeare Die jnngfrätiliche Kirclie u. die jungfräuliche Mutter
unbefleckte und ganz makellose Altar, durch den die leben-
spendende und unaussprechlich glühende Kohle Fleisch wurde'
aus Jesaias VI 6.
In c. 9, col. 369 ist sie ^der unberührte Busch, der un-
verbrannt Gott trug, als es ihm gefiel, von dem Propheten
gesehen zu werden'. Und weiter unten ist sie Mie Lade, die Be-
hälter war für das Gesetz, und beschattet von den Cherubim
im Verein'. Und als letztes c. 14, col. 381, ist sie ^der lebende
Altar des Brotes des Lebens, Schatzhaus der Liebe Gottes,
Urquell der Freundlichkeit des Sohnes und beschatteter Berg
des heiligen Geistes' (Heb. III 3).
Diese Rede also, die, selbst wenn sie nicht das Werk des
Methodius ist, kaum später gesetzt werden kann als in das
vierte Jahrhundert, vertritt ein späteres Stadium in der Ent-
wicklung des Kultus der leiblichen Mutter Jesu als die
armenischen Hymnen an die Kirche. Es ermutigt uns auch
in der Annahme, daß es zu einer bestimmten Zeit im Griechi-
schen und Lateinischen nicht wenige Hymnen gegeben haben
wird, die die Kirche anriefen und priesen, und die nachher in
Hymnen an die Jungfrau Maria verwandelt wurden. Von
dieser verlorenen Hymnologie haben wir Anklänge, vielleicht
sogar Fassungen, in den armenischen Gesängen, die ich
mitgeteilt habe. Außerdem glaube ich, daß viele der Hymnen
des Ephrem Syrus, besonders die, welche die Jungfrau Maria
nicht nur als Mutter, sondern auch als Braut Christi anrufen,
gleichen Ursprungs sind. Wenn wir diese Hymnen unter-
suchen, finden wir einen Ausdruck nach dem anderen, der
wie das Wort Braut sich eher auf die jungfräuliche Kirche
beziehen läßt als auf die Jungfrau Maria; und dieselbe Be-
merkung hat Gültigkeit für die äthiopischen Hymnen auf Maria.
MHTHP
Bruchstücke zur griechisclieii Religionsgescliiclite
Yon Hans von Prott
Die nachfolgenden Bruchstücke zur griechischen Religions-
geschichte hat Hans von Prott kurz vor seinem allzufrühen Tode
niedergeschrieben, mehr um die Fülle der auf ihn einstürmenden,
ihn vernichtenden Ideen zu bändigen, als um sie der Nachwelt zu
überliefern. Die tragische Verknüpfung dieser Einsichten und
Ahnungen mit dem erschütternden Ende des Forschers sucht ein
den Athenischen Mitteilungen 1903 vorangestellter Nachruf ver-
ständlich zu machen. Es schien uns das Richtige, Protts Gedanken
über den Kult der MrjtrjQ selbst in dieser keimhaften Form, die
er niemals der Öffentlichkeit dargeboten hätte, bekannt zu geben,
in der sicheren Hoffnung, daß sich für den einsichtigen Leser von
selbst das Unreife und Einseitige von dem Tiefen und Förder-
lichen scheiden werde.
Athen, Mai 1905. H. Schrader.
Das organische Wachstum der griechischen Religion.
Meter- Phallos- Kult entsprechend dem Mutterrecht und der
Gruppenehe. Dann die große Reinigung dieses Zynismus
durch zwei Dinge: durchgängige Verbindung der Vorstellung
von der Muttergöttin mit Agrarischem und svcpri^Ca. Die
Akropolis-Athena ist Meter, ihr Opfertier eine trächtige Sau.
Pandrosos, Aglauros, Herse sind = Athena. Alle drei sind
zuerst nicht agrarisch, sondern sexuell. Das Fest sind
aQQTjtotpÖQLcc, die auch d'sd^oq)6QLa genannt werden. Das ver-
steht man nun. Die ccQQrjtcc Isqcc, die immer im Demeterkult
vorkommen, sind durch die ccv6vv^og ^SQicog des Herondas
88 Hans von Prott
begreiflicli. Es ist das Tragen des Phallos. Die drei Mäd-
chen geraten in (sexuellen) Wahnsinn über die Ciste mit den
äQQfjta IsQcc: Erechtheus-Phallos. Dann kommt das Agrarische
hinein und nun werden Pandrosos usw. die schönen, reinen
Tauschwestern.
Die Labdakiden. Laios (wie Protolaos) Phallos: Volks-
mann und Steinmann, der aus Stein entstandene Phallos, wie
Deukalion und Pyrrha die Steine hinter sich warfen und so
die Menschen entstehen lassen, gleich den Daktylen. Odipus
„ Schwellfuß ^' ist ein Daktylos. Das bedeutet ^tovg, denn im
Kultliede der elischen Frauen a^LS tavQS^ reo ßoso) Jtodl d-vov
ist ßösLog Ttovg der Stierphallos. d-ueiv also ist ursprünglich
immer sexuelles Rasen: Eileithyia, Kallithyia, Dann versteht
ein Dichter den Ausdruck absichtlich falsch und aus dem
„Schwellfuß" wird der Mann, dem die Füße durchstochen sind.
Die alte Bedeutung zeigt sich deutlich in dem Incest dieser
und anderer Sagen, der sonst gar nicht erklärbar wäre. So
wird aus Hephaistos KvlloTtodCav durch absichtliches Miß-
verständnis der „Klumpfüßige". Das ist die Bedeutung der
si)(prjiiCa in griechischer Religion. So ist die Heldensage zu
dem großen Purgatorium geworden, durch das sich die Griechen
von den qualvollen Vorstellungen der Meter- Religion und der
Gruppenehe erlöst haben. i
Dann der Thronkult des Licht- und Himmelsgottes Zevg ■
"HXLog. Es war der ausgebildete Geschlechterstaat mit Vater-
recht, der diese Vorstellung schuf. Und die griechische Re-
ligion ist nun wie die deutsche (Lamprecht) die Überwindung
der Religion der Meter durch die des Pater. Niemand hat
das mehr begriffen als Aischylos. Die Danaiden = den
Thespiaden, 50 Frauen. Sie sträuben sich gegen die Verwandten-
ehe, die in der Zeit des Mutterrechtes nichts Anstößiges hat.
50 Männer und 50 Frauen eine Hundertschaft in Gruppenehe.
Die titanisch -daktylisch wilde Brautnacht. Endlich das neue
Gesetz: iga ^hv äyvbg ovqavhg tQ&öai ^d'öva^ SQCog de yalav
MHTHP
laußdvsi ydiiov tv%Blv usw. Das ist Zeus TaXsxCtag auf dem
„Sonnenberge" und Auxesia-Damia- Demeter am Fuße des
Berges in Bryseai, und so in allen griechisclien Landschaften.
Die Götter haben die große ethische Bewegung selbst mit
durchgemacht. Demeter ©eö^ocpÖQog kann nicht die Göttin
sein, die die Satzungen der Ehe bringt, sondern die den
Phallus trägt. Das beweisen d^söiiofpdQia = äQQrjtocpÖQia
(ApoUon ©sQ^iog = ©iöiiiog). Später hat man umgedeutet
und so wurde D. Ehegöttin. (a^Qt^tov iQovQyCai „wovon man
nicht spricht". Herondas V 45 xiiv av^vv^iov tcsqkov.)
©'ÖG) zuerst sexuelles Rasen, wie bei den Naturvölkern
richtige Thesmophorien gefeiert werden zur Einweihung eines
Mädchens. KalUd^via ursprünglich „die am besten den Bauch-
tanz tanzt", so wie er bei den Negervölkern geübt wird.
Thyiaden. Bakchischer Schwärm.
Die burleske Auffassung der Heldensage auf den boiotischen
Gefäßen hat vielleicht tiefere Gründe.
ccQQYixofpÖQia, 'H^sQai QYixaC Hesych. Lat. dies nefastus,
fastus. — —
Euphemie. Absichtliche Änderung der Namen. Schön
von Kaibel für die Orphiker nachgewiesen. Aber dies dehnt
sich viel weiter aus, ist ein Grundelement griechischer Mytho-
logie. Als einem der Kerkopen die Ehre widerfuhr erster
König von Athen zu werden, nannte man ihn nicht mehr
KsqzcotJ;, sondern Ksxqoijj. Aber der Schlangenschwanz blieb.
Die Daktylen sind autochthon geboren. Also sind alle
Autochthonen ursprünglich Daktylen. Das besagt der Begriff
avxöj(^d'G)v. Kekrops, Erechtheus.
90 Hans von Prott
Zur Veredelung der alten Begriffe trug außer der Ver-
bindung mit Agrariscliem viel bei die Beziehung auf den
Mond, das schöne Gestirn. Dadurch wurde aus der Meter-
Eileithyia eine KaXXövTj, KaXXiötd) usw. und der Begriff des
Schönen war plötzlich eingeführt in die Mythologie. Man er-
hielt so zugleich den Gegensatz von Mond und Sonne.
Wie die Meter als Mond zur KaXXCdtr] wurde, so um-
gekehrt der Daktyl zum Urbild des Häßlichen, Mißgestalten
durch ümdeutungen wie die vom durchstochenen Fuß. KvX-
XoTCodlcov, Wieland der Schmied, Ödipus, Gänsefüße der
Zwerge usw.
Im Griechischen tritt mehr das Sinnliche hervor, im
Deutschen mehr das Gutmütige, Harmlose: Zwerge.
Der größte Fortschritt der Menschheit ist der von Gruppen-
ehe zu Einehe. Polygamie und Polyandrie sind Ausnahme-
zustände. Der Geschlechterstaat verlangt, daß die Frau aus
einer anderen gens ist. Denn man hatte die schlimme Wir-
kung der Inzucht der Gruppenehe bemerkt. Dieser größte
Fortschritt muß auch die tiefsten Spuren im Glauben der
Völker hinterlassen haben.
Aischylos' Orestie. Die Sage hat den Zwiespalt nicht
lösen können dieses Triumphes des Vaterrechtes, weil in-
zwischen auf Grund des Vaterrechtes eine höhere Moral ent-
standen war. Die Sage hat den Fortschritt festgehalten, daß
der Vater mehr gilt. Da Aischylos der Sage folgte, mußte
der Ausgang des Stückes unerträglich werden. Die Lösung
konnte nur gefunden werden im tragischen Ausgang — Hamlet.
Ahnlich Kriemhild, die den Mann rächt an ihren nächsten
Blutsverwandten. Ähnlich Labdakiden, Lykurgos usw. Der
Widerstreit zweier Religions- und Sozialepochen.
MHTHP 91
Die Alten sagen, jedem Gott würde immer das seinem
Geschlecht entsprechende Tier geopfert. Das ist richtig, man
muß nur nicht schematisieren. Bei Homer erhält Athene eine
unfruchtbare Kuh; auf dem Akropolisrelief eine trächtige
Sau — dort ist sie TCaQd-evog, hier fit^triQ. Nun hatte ein
Komiker gesagt: svd'v TCÖXscog sl^r d"vöaL yccQ ^s del XQtbv
XXÖTU ^TJ^rjtQi (bei Geburt eines Sohnes?). Das war so auf-
fallend, daß Philochoros anmerkte, der Demeter Chloe würde
XQtbg ^cil &7]X6La geopfert. Für Demeter Achaia bezeugt das-
selbe der Kalender der Tetrapolis. In Kos Zfd^atQV 8tg tsXsiog
xal teXea Ttvdoda. Also war Demeter zugleich Mann und
Weib. Daraus darf man dann weiter schließen, daß immer,
wo ein Opfertier ivÖQXVS verlangt wird, der Gott daktylisch
ist. Poseidon 0vMog (= (pvtdX^Log?) in Mykonos. Dionysos.
Aber wie erklärt es sich, daß Köre, Despoina usw. immer
männliche Tiere bekommen? Auch das stammt aus der Zeit
des Mutterrechtes, in der das Weib nur als Mutter etwas gilt.
Damals muß man das Mädchen als etwas Männliches angesehen
haben — TCaQd-svog ößQi^OTcdtQrj. Daher auch Athena vom
Manne geboren: das' ist symbolisch.
Die erste Dienerin oder Priesterin der Göttin ist immer
die Göttin selbst. Woher? Weil die Meter immer wieder
sich selbst erzeugt: Leto- Artemis -Eileithyia.
Charakteristisch für die Meter ist, daß ihre Namen so
wechseln. Apollon— Apellon, Artemis— Artamis sind gar keine
Schwankungen. Aber 'EXsvd'6 — 'EXsvd'Cco — EXsvöCa —EiXeC%'via
— 'IXCd'ia usw. ! Es war eben überall dieselbe Göttin — das
fühlte man, aber die Namen zum Teil verschieden, so daß
man sie gewaltsam anähneln mußte. Besonders deutlich:
Aij^a — Av^r^öCcc - ^AlB6Ca — lä^r^öCa — Av^i]6Ca. Zwei ganz ver-
schiedene Stämme, zu denen dann IJbergangsbildungen ge-
92 Hans von Prott
schaffen wurden, wie das gar nicht griechische Av^r^öCa.
Sind die d'sol ^At,66ioi die beiden Daktylen wie in der sparta-
nischen Gruppe?
Die Meter zuerst allein ävÖQÖyvvov, Dann wird das be-
zeichnet durch zwei tcccqsöqol, die untrennbar mit ihr verbunden
wie in der spartanischen Gruppe. Dann luxtaposition: Helena
und die Dioskuren.
Die Meter hat nie einen Gatten neben sich, sondern nur
einen Sohn oder sonstigen TCaQSÖQog. Denn der Begriff des
Gatten, wie ihn das Vaterrecht kennt, existiert nicht in der
Zeit der Gruppenehe. Dieser Gatte kommt immer erst später
dazu, daher auch nie im Kult, sondern nur in der Sage, und
es ist überall der Himmelsgott, also Zeus. Die Göttin (De-
meter, Hera, Leto, Leda, Danae, Kallisto usw.) ist immer
mehr oder weniger die Erde, also zugleich Personifikation des
Landes. Dadurch wird dann das Historische in die Mythologie
eingeführt.
Es war unrichtig, wenn Wissowa die di nixi immer ge-
leugnet hat. Diese Erscheinung gehört in den großen Zu-
sammenhang der Vertauschung der Rollen der Geschlechter bei
manchen Zeremonien, was immer auf Meter- Phalloskult hin-
deutet: so in Kos (Herakles des Diomedes?). Herakles und
Omphale. Verkleidung in die Tracht des anderen Geschlechts.
Denn die Meter war dvÖQÖyvvov. Karl v. d. Steinen: Geburt
als Ausbrütung eines Eies. Wochenbett des Mannes. Bärtige
Aphrodite auf Kypros. Hermaphrodit.
Die alten Dreivereine von Göttern enthalten entweder
Meter mit zwei Daktylen oder Meter mit einem Daktylen und
zweiter Meter resp. Köre. So Apoll Leto Artemis — Artemis
ist erst später Jungfrau, in alter Sage Eileithyia ihrer Mutter
bei der Geburt des Apoll, also zweite Meter. Apoll sicher
MHTHP 93
daktylisch, denn gerade der ^AXs^Cxaxog^ der ^Ayvievg ist ein
einfacher Kegel, Pluton Demeter Köre. Die Sagen entstehen
nun oft so, daß eine neue Verbindung zwischen dem männ-
lichen und der weiblichen TCccQSÖQog angenommen wird (Raub
der Köre); daher die vielen blutschänderischen Verbindungen
in griechischer Sage. Zur Zeit des Mutterrechtes gibt es diesen
Begriff noch nicht.
Hephaistos — Athena — Prometheus: Meter und zwei Dak-
tylen. Die Feuergötter, wie die Daktylen als chthonische Mächte
eben Schmiede sind.
Der Kult hat den Philosophen ungeheuer vorgearbeitet:
sQcog als Weltprinzip. Orphiker.
Es hat einmal eine Zeit gegeben, wo ApoUon der 'AXs^Cxaxog,
ein Daktyl war neben der Meter Leto und der Meter Artemis.
Aber so sehr wirkt das Organische sogar in der Mythologie,
daß er seinem Vater, als dieser Gatte der Leto wurde, nach-
geartet und selbst 'Lichtgott geworden ist.
Die Daktylen sind Bergbauer wie die Zwerge und Heil-
götter. Woher das? Kaibel ist der Zusammenhang nicht auf-
gegangen zwischen phallisch- chthonisch — äXs^CTcaxog. Die
Naturkraft wirkt aus der Tiefe der Erde und jede Kraft ist
ein ccXs^Ctcutiov. Der Zusammenhang von Phallischem und
Agrarischem war daher direkt vorgebildet. Pluton — Plutos.
Da die daktylischen Wesen meist auch chthonisch sind,
erklärt sich die Verbindung von Herakles mit Demeter. Die
Einweihung des Herakles in die Mysterien ist von dem idäischen
Daktylen Herakles sofort zu verstehen. Da alle daktylischen
Wesen auch ccXe^Cxcacoi sind, erklärt sich, warum Asklepios
(chthonios — sicher einmal Daktyl) mit Demeter und den
94 Hans von Prott MHTHP
Mysterien so nah verbunden war. Quintessenz im Eleusinion
am Taygetos: dort heilt Asklepios den Herakles im Demeter-
heiligtum.
Ein Daktylos auch Triptolemos? Denn weshalb wird erj
immer als Knabe dargestellt?
In Rom hat jeder Mann seinen Genius, jede Frau ihre
Juno. Das ist Daktylos und Meter. Beide sind ^Als^xaKOL • —
für die Frau besonders in ihrer schweren Stunde. Sind also
nicht die Inselidole Mr]t8Qsg, die man ins Grab mitgab? Und
die Phallen der phrygischen Gräber Genii?
näv: nd(ov {0d(ov) = 'EQ^iäv: ^Eq^ccov.
Poseidon ist phallisch -chthonisch als cpvtdXfiiog. Auf
einer Klippe standen 3 oYaKsg, vom Wasser nie berührt (Her-
mann, Gottesdienstl. Altertümer^ § 18 Anm. 15), ganz wie die
drei kleinen dydX^ata bei Brasiai. Ist dies der Sinn vom
Aufstellen des Ruders durch Odysseus- Poseidon?
Leda == Leto? Bei beiden Zwillingsgeburt. Daß Leto
als Meter kultlich dargestellt wurde, genau so, wie auf der
spartanischen Gruppe, folgt daraus, daß der IsQog Xöyog immer
die Kniegeburt erwähnt am Palmbaum.
II Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in 8 Heften
von 2 Jahrgängen schließen. Mit diesem Band IX (1906) beginnt
die neue Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen
der Zeit seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß
des betr. neuen Berichts referiert werden.
1 Keligionen der Naturyölker
Yen K. Th. Preuß
Allgemeines 1904/05
Es ist unabweisliche Pflicht des Religionsforscliers zu der
Frage Stellung zu nebmen, in welchem Verhältnis die Zauberei
zur Religion steht, weil je nachdem selbst die speziellsten Unter-
suchungen ein anderes Ergebnis zeitigen können. Dem jetzt
mehrfach ausgesprochenen Gedanken, daß jeder Kult im letzten
Grunde Zauberei sei, stehen entgegengesetzte Anschauungen
gegenüber, daß Zauberei und Religion nichts miteinander zu
tun haben. Die nächste Frage ist natürlich, wie ist beides
entstanden, und auch das ist für Einzeluntersuchungen von
hoher Bedeutung.
96 K. Th. Prenß
In der esquisse d'une theorie generale de la magie
kommen Henri Hubert und Marcel Mauss^ ganz folge-
richtig zu ihrer „explication de la magie". Vor aller Er-
fahrung bestehe der Glaube an eine Zauberkraft, die überall
existiert und eine materielle und zugleich geistige Substanz ist.
Sie ist a priori gegeben und wird durch Erregungszustände,
den sehnsüchtigen Wunsch, die Erwartung ausgelöst. Die
Hauptsache bei der Wirksamkeit der Zauberei seien nicht die
manuellen und sprachlichen Akte, die gewissermaßen eine
Wissenschaft für sich bilden, sondern die magische Kraft des
Ausübenden, die in dem orenda der Irokesen, dem manitu der
Odschibway, dem naualli der Mexikaner, dem mana der Mela-
nesier, dem Zauber des Geheimnisvollen bei allen magischen
Handlungen liegt. — Mit glücklichem Griff ist hier das Wesen
der Zauberei erfaßt, und es ist ein nicht zu unterschätzendes
Verdienst der Verfasser, auf die Idee einer Zauberkraft bei
den verschiedensten Völkern nachdrücklich hingewiesen zu
haben. Ein historischer Standpunkt freilich wird ein allmähliches
Entstehen auch der Idee einer Zauberkraft ins Auge fassen
müssen. Ist z. B. der deutsche Volksglaube, daß man durch
Bestreichen mit Schlangenfett den Körper beliebig zusammen-
rollen könne (Wuttke) nicht ebensosehr durch die Betrachtung
der Schlangenbewegungen und der Wirkung von Fetten über-
haupt, d. h. durch die praktische Erfahrung wie durch den
Glauben an die eigene Fähigkeit entstanden? Ursprünglich ist
daher wohl die Idee der Zauberkraft und die der Fähigkeit
überhaupt identisch gewesen und beide haben sich erst all-
mählich voneinander getrennt, so daß die Zauberkraft auch
von diesem Standpunkt aus gewissermaßen als etwas a priori
Gegebenes angesehen werden kann, nämlich insofern sie von
dem Augenblick an bestand, wo der Mensch sich selbst und
seiner Umgebung Kräfte zuerkannte. Diese Entwickelung
Ännee sociologique VII 1902/03. Paris 1904. S. 1—146.
Religionen der Naturvölker 97
spiegelt sich z. B. aucli in dem erwälmteii mexikanischen Wort
für Zauberer naualli wider. Denn es heißt eigentlich die Ver-
kleidung und bezieht sich ursprünglich auf die Idee, daß man
durch Überziehen des Felles eines Tieres oder durch Annahme
der Äußerlichkeiten eines Gegenstandes die Eigenschaften des
Objektes von sich aus ausüben kann. — Das wichtigste Kapitel
des vorliegenden Werkes führt den Titel les elements de la
magie und bietet einen guten und umfassenden Überblick über
die Zauberhandlungen an der Hand der Einteilung „Der Zauberer,
die Handlungen, die Ideen ^^ Die gelehrten Verfasser haben
hier ebenso aus Kulturvölkern, wie von den Primitiven ihre
Schilderung genommen, leider freiUch ohne genauere Quellen-
angabe für die angezogenen Beispiele. — Bezüglich des Ver-
hältnisses von Religion und Zauberei glauben die Verfasser
mit der Unterscheidung auszukommen, daß die eine öffentlich
und erlaubt, die andere geheim und verboten sei. Doch läßt
sich der Unterschied wohl nur für höhere Kulturstufen geltend
machen.
Auch R. R. Marett leitet einen Aufsatz „from spell to
prayer"^ mit Betrachtungen über die Entstehung der Zauberei
ein. Sie ist ihm zwar auch wie den oben genannten Gelehrten
etwas 'Mysteriöses, Unnatürliches, aber die Zauberkraft ist seiner
Meinung nach nicht, wie diese annehmen, a priori gegeben,
sondern er glaubt, ähnlich wie einige deutschen Ethnographen,
z. B. H. Schurtz^, ihre Entstehung aus Gefühlserregungen her-
leiten zu können. Aus der Wut gegen einen Feind können
sinnlose Zerstörungshandlungen gegenüber seinem Bilde oder
den ihm zugehörigen Gegenständen entstehen. Das wirkt auf
den Täter wohltuend. Er weiß zwar, daß es nicht das Wirk-
liche ist, was er möchte, aber er findet, daß es ihm gut tut es
zu glauben, und so will er es glauben. Das sei der Anfang
des sogenannten Sympathie- und Analogiezaubers jeder Art.
* Folklore XV 1904 S. 132—165. ^ Kulturgesch. S. 601.
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 7
98 K- Th. Preuß
Es ist der Wille, die Zauberkraft, das Wirkende und nicht
eine mechanisclie Handlung, die auf falscher Kausalverknüpfung
beruht. — In dieser Erklärung ist meines Erachtens die Betonung
des Willens in den Zauberakten der richtige Kern. In der Tat
muß der Mensch den Willen haben, sich selbst und seiner
Umgebung besondere Fähigkeiten zuzuschreiben, und den Willen
hat er, sobald sein Verstand ihn befähigt, eine über den In-
stinkt hinausgehende Fürsorge für sich zu zeigen. Solange ihn
der Instinkt allein leitet, können Zauberhandlungen nicht ent-
stehen. Dagegen ist es meines Erachtens nicht richtig, den Zauber
erst auf einer gewissen Kulturhöhe, wo man z. B. schon Bilder
hatte, beginnen zu lassen, und wo man bereits unterschied,
daß der Zauber im bewußten Gegensatz zu realen Wirkungen
steht. — Marett ist es besonders deshalb um etwas von vorn-
herein Geheimnisvolles in der Zauberei zu tun, weil er diese
in dieselbe Sphäre wie die Religion stellen möchte und das als
Grundbedingung für seine Entwickelung des Gebets aus dem
Zauberspruch ansieht. Er polemisiert dabei gegen Frazer, der
bekanntlich Zauberei und Religion scharf trennt und erstere
aus falscher Kausalverknüpfung, letztere aber aus der Erkenntnis
des mit der Zauberei verbundenen Irrtums, also rein negativ,
ableitet. Marett sagt: Die Zauberhandlung wird gewöhnlich
von dem Zauberspruch begleitet, der magischen Willensäußerung,
die wesentlich für das Gelingen ist. Oft werden die beim Zauber
notwendigen Materialien als Träger des mana, der Zauberkraft,
direkt angeredet: „Tue das, gib uns das usw." Damit beginnt
der Übergang zum Gebet. Das mana der zaubernden Person
vereint sich mit dem mana der Dinge. Gießt man einem Toten
Wasser über den Körper und sagt dazu „gib uns Regen" (Ruß-
land), so tritt die Zauberkraft des Menschen zu der des toten
Körpers. Anderseits kämpft mana gegen mana, wenn in Timor-
laut das Krankheitsboot ins Wasser gestoßen wird mit dem
Schrei „0 Krankheit, gehe fort." — Wir werden diese Methode
der Beweisführung anerkennen müssen, obwohl nur wenig
Religionen der Naturvölker 99
Belege angeführt sind. Das besondere Relief aber würde die
Ableitung des Gebets von dem Zauberspruch erhalten, wenn
die Ausdrucksmittel des Kultus: Opfer, Blutlassen, Fasten, ge-
schlechtliche Akte, Haarschneiden, dramatische Szenen u. a.
als bestehend nachgewiesen werden könnten, bevor es Geister
oder Götter gab. Einen kleinen Anfang dazu hat Marett
früher selbst gemacht.^
Ein paar Worte seien noch dem Kapitel „Kultus '^ und
anderen Stellen in dem Buche von F. Beck „Die Nachahmung"^
gewidmet. Denn obwohl hier das Wesen der Religion in
größter Einseitigkeit und ohne genügende Kenntnisse erörtert
wird, so ist eine ähnliche Auffassung, im allgemeinen gesprochen,
in ethnographischen Kreisen noch immer sehr verbreitet. —
Das Grundgesetz der Biologie ist die Verwirklichung des
Zweckvollen. Wir finden es auch in der Entwickelung der
menschlichen Gesellschaft. Da aber noch heute die meisten
Handlungen bloße Nachahmungshandlungen sind und diese
desto mehr zunehmen, je weiter wir zurückgehen, so ist das
Zweckvolle in sozialen Einrichtungen u. dgl. m. nicht durch
Nachdenken, sondern nach biologischen Gesetzen zustande ge-
kommen. Das Zwecklose dagegen kann immer nur als Neben-
produkt oder Überrest des zweckmäßigen Geschehens aufgefaßt
werden. Alle abergläubischen oder religiösen Handlungen sind
daher im unmittelbaren Anschluß an bestimmte Phasen zweck-
voller menschlicher Tätigkeiten und Einrichtungen zu erklären
und nicht aus falscher Denktätigkeit, d. h. aus der menschlichen
„Dummheit". Wenn z. B. den Toten alles Eigentum mit-
i gegeben wird, so kommt das zunächst aus dem physischen
j Empfinden, daß Schmuck, Kleidung und Waffen integrierende
: Teile, gewissermaßen eine verlängerte Existenz des Körpers
I sind. Die Primitiven denken also nicht falsch, sondern sie
i denken zu wenig. Wenn bei vielen Völkern der Schwieger-
^ Preanimistic Religion, Folklore XI 1900 S. 16.
2 Leipzig 1904 S. 103—144.
100 K. Th. Preuß
söhn die Schwiegermutter nicht sehen darf, so stammt das aus
der Zeit, wo die Frau aus feindlichem Stamm gerauht wurde.
Die semitischen Opfer (die Rohertson Smith so schön, wenn
auch nicht einwandfrei nach Analogie des Blutbundes zwischen
zwei Menschen als Bund mit der Gottheit entwickelt) leitet
Beck an der Hand dieses Forschers von dem ursprünglich so
seltenen Schlachten und gemeinsamen Essen eines Tieres der
Herde zu Nahrungszwecken ab, das gleich dem menschlichen
Mitgliede des Clans als gleichwertiger Genosse gegolten habe.
Diese Theorie, die man im wesentlichen kurz mit dem
Worte „das Alte wird heilig" bezeichnen kann, hat von jeher
viele vom Studium der primitiven religiösen Anschauungen
abgehalten. Denn diese erscheinen so als nebensächlich, und
wenn man ihnen nachgehen wollte, so wären zuvörderst und
hauptsächlich nur die realen Lebensverhältnisse zu ergründen.
Dazu kommt bei Beck die einfache Übertragung unseres so-
genannten physischen Empfindens auf die Urzeit, womit
absoluter Willkür Tür und Tor geöffiiet werden, so daß man
es niemand übelnehmen kann, wenn er die Hand von den
religiösen Dingen läßt, deren Einzelheiten ihn ja doch zu nichts
führen, sondern nur eine Summe von abstrusen Einfällen dar-
stellen. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint die Theorie
„das Alte wird heiligt' richtig, denn nicht nur bedeutet der
Kult, also die tatsächlichen Handlungen, den Urgrund der
Religion, sondern die Beharrung in allen kultischen Gebräuchen
und überhaupt in allen Gewohnheiten ist das Zeichen der
primitiven Menschheit. Abweichungen würden Unheil bringen.
Bei näherer Untersuchung ergibt sich aber stets, daß ein solch
allgemeiner Satz zu fruchtbaren zauberisch -religiösen Ideen
nicht führt. Im Gegenteil: sind erst gewöhnliche Verrichtungen
aus dem Zauberbann des Aberglaubens heraus, so kommen sie
auch nicht wieder hinein. Das heißt: aller Zauberglaube ist
ganz früh anzusetzen. Ich will dafür ein Beispiel von den
Hupa anführen. Bei ihnen müssen die erlegten Hirsche ganz
Religionen der Naturvölker 101
1 vorschriftsmäßig zubereitet, serviert und gegessen werden, sonst
I laufen sie dem Jäger niclit mekr in den Weg.^ Das ist durchaus
I nicht eine aus Küchen- und Eßgewohnheiten gewordene Idee.
Sie würde nie existieren, wenn nicht von vornherein allenthalben
I der Glauben bestände, daß die Reste bzw. Teile der erlegten
! Tiere das Wild anziehen. Becks Anschauung besagt also nur,
daß z. B. das Erlegen bzw. Schlachten von Tieren vorausgehen
muß, um irgendwelche positiven Zauberideen daran zu knüpfen.
I Daß der Gang umgekehrt ist, hat aber noch niemand be-
hauptet. Primär wirkt z. B. auch die Zauberidee der Couvade,
I des Mänuerkindbettes. Es wird niemand einfallen, dieses etwa
aus der sozialen Zweckmäßigkeit zu erklären, daß sich der
Mann zur Zeit der Geburt nicht herumtreiben dürfe, woran
sich dann die Idee angeschlossen habe, das Verhalten des
Vaters beeinflusse den Zustand des Kindes.
Diesem Begriff des primären Zaubers und seinen Wirkungen
hat der Berichterstatter selbst eine Arbeit gewidmet, „der
Ursprung der Religion und Kunst"^, die als „vorläufige
MitteiÄing" gedacht und bezeichnet ist, weil die darin for-
mulierte Auffassung' nicht Selbstzweck ist, sondern in erster
Linie die Wege bezeichnen soll, auf denen zahlreiche bisher
wenig beachtete Tatsachen für die religiöse Forschung ver-
wertet werden können. Den Beweis, daß der Ursprung so
gewesen ist, will ich erst später an der Hand des übrigen
Materials erbringen. Der Grundzug der religiösen Auffassung
ist, daß mit der Menschwerdung jede noch so alltägliche
Tätigkeit und jedes dem Bewußtsein sich aufdrängende Objekt,
und zwar die nächstliegendsten und am meisten gebrauchten
zuerst, einen Zaubergehalt aufwies, der von realer Tätigkeit
und den wirklichen Eigenschaften des Objektes nicht getrennt
^ Goddard The Hupa, University of California Puhlications, Ämer.
Archaeol. and JEthnol I S. 22 f. 78.
2 Globus LXXXYI S. 321—327, 355 — 363, 375 — 379, 388 — 392,
LXXXVn S. 333 — 337, 347—350, 380 — 384, 394 — 400, 413—419.
102 K. Th. Preuß
werden konnte. Der warme Haucli des Mundes und der Nase,
der ausgestoßene Laut, die Speisen, die man aß, alle Exkremente,
die zufälligen, bei jeder Tätigkeit entstehenden Geräusche und
Bewegungen — allem wurde eine Wirkung zugeschrieben, eine
Zauberkraft, die aber als etwas Natürliches, nicht als etwas
Mystisches aufgefaßt wurde. Die Vermischung des Hauches
und Speichels hatte z. B. wie der Blutbund die Fähigkeit,
einander geneigt zu machen. Daher stammt die Sitte des
Mundkusses und Nasengrußes. Der Hauch von Mund zu Mund
scheint ferner zum Erzeugen eines lebendigen Kindes not-
wendig gewesen zu sein. Hauch und Speichel heilen, ver-
treiben tödliche Einflüsse und fördern Unternehmungen. Der
Hauch kann töten. Mit all dem steht das Ausschlagen von
Schneidezähnen vor der Heirat oder bei der Pubertät in Zu-
sammenhang. Auch der Schmuck an den Öffnungen des
Körpers, z. B. Nasen-, Lippen- und Ohrschmuck, ist zunächst
zur Unterstützung dieser Zauberwirkungen, dann aber auch
zum Schutze gegen das Eindringen zauberischer Substanzen
angebracht worden. Ein anderer Gesichtspunkt ist ^ie Be-
deutung bildlicher Darstellung. Ein Bild gibt das Original in
die Gewalt des Besitzers der Darstellung, es befähigt ihn auch,
die Zauberkräfte des Originals auszuüben. Aus demselben
Grunde werden Tiere nachgeahmt, einmal als Jagdzauber und
dann, um ihre Zaubergaben auszuüben. Die Entstehung der
bildenden Kunst und der Tiertänze ist allein auf diese Ideen
zurückzuführen. Nachahmungen von irgendwelchen erwünschten
Vorgängen machen diese wirklich. Ebenso ist die Sprache
nicht aus dem Streben nach Mitteilung entstanden, sondern
um durch Nachahmung des einer Substanz zukommenden Ge-
räusches dieses in seine Gewalt zu bekommen. Nicht anders
ist es ursprünglich mit dem Aussprechen ganzer Sätze: das
Gesagte wird dadurch Wirklichkeit. Da jede Substanz in jedem
ihm in Form, Farbe, Geruch, Gefühl usw. ähnlichen Gegen-
stande wirken kann, so ist das die folgenschwerste Eigenschaft
Eeligionen der Naturvölker 1()3
der Götter, denn diese sind zunächst wirkende Substanzen,
Naturobjekte in weiterem Sinne. Kleine wirkende Substanzen
i können sich in größeren befinden. Es entstellt so z. B. der
i Glaube an Seelen im Menschen, die zunächst nichts Abstraktes
sind. Götter zaubern vielfach auf dieselbe Weise, wie es früher
alle Menschen, später nur besonders befähigte vermochten.
Aus zaubernden Tieren und Menschen werden Götter ebenso
wie aus allen wirkenden Substanzen, sofern die Entwickelung
ihnen günstig ist. Nachahmungen von Göttern, d. h. von
wirkenden Substanzen, erlauben den betreffenden Menschen,
ähnlich wie bei den Tiertänzen die Zauberkraft der Götter
[ selbst auszuüben. Die menschliche Zauberkraft wird in vollem
' Umfang oft erst bei der Pubertät, und zwar nicht durch die
natürliche Entwickelung, sondern durch Zeremonien mitgeteilt,
wie es überhaupt eine Menge Mittel gibt, um die Zauberkraft
I des Menschen zu erhöhen. Zum Teil bestehen diese Mittel in
i gewaltsamen Eingriffen in den Körper. Der Gang der Unter-
suchung wird am besten durch die Kapitelüberschriften dar-
getan: 1. der Zaubergesang der Tiere, 2. der Zauber der
Defäkation, 3. der Kohabitation, 4. des Hauches, 5. der Tier-
tänze, 6. des Tanzes, 7. der Analogiezauber und der Geister-
I glaube, 8. der Zauber der Sprache und des Gesanges, 9. die
Erhöhung der menschlichen Zauberkraft.
Wenn wir uns bisher im wesentlichen mit Arbeiten be-
schäftigt haben, die den Einfluß der nächsten Umgebung auf
die Religion beleuchten, wollen wir uns nun der himmlischen
Sphäre zuwenden, wo ein Mensch, ein Tier, ein Objekt nicht
nur das ist, was unsere Sinne direkt damit verbinden, sondern
die Sonne oder irgendeinen anderen himmlischen Gegenstand
vorstellen. Leo Frobenius in seinem Buche „Das Zeitalter
des Sonnengottes"^ hat ganz recht, wenn er die Gestirne
nicht zu den ersten religiös wirksamen Dingen rechnet. Nur
^ Band I, Berlin 1904. XII und 420 Seiten.
104 K. Th. Preuß
hätte er nicht den „Animalismus" d. h. die Verehrung von
Tieren, und den „Manismus", den Kult der Verstorbenen, dem
„Solarismus" vorausgehen lassen sollen. Denn wir wissen, daß
nicht nur Tiere, sondern überhaupt nahe Objekte von früh an
der Sitz von Zauberkräften waren. Mit der Bedeutung der
Sonne hatten sie ihre Rolle durchaus nicht ausgespielt, sondern
wurden als ihre Abbilder mit ihr eventuell, identifiziert oder
zu ihr in Beziehung gesetzt. Und vollends ist die Seelenlehre
so enge mit dem Schicksal der Sonne und ihrem Verschwinden
in dem Dunkel der Unterwelt verbunden, daß die Ausbildung
der Seelenidee wohl bereits in den „Solarismus" hineinfällt.
Doch wollen wir uns durch diese teils ganz schemenhaften,
teils zeitlich nicht richtig abgegrenzten Bestimmungen^ die
Freude an den, wenn auch nur vorläufigen, mythologischen
Resultaten nicht schmälern lassen. Die Bedeutung des Buches
beruht nämlich auf der Vergleichung vieler Gestirnmythen
über die ganze Erde, wodurch die einzelnen Züge vieler Er-
zählungen oft sehr deutlich ihrem Ursprünge nach hervortreten.
Auch seine absurde Anschauung, daß diese Mythen nicht an
vielen oder gar nur an zwei Orten entstanden, sondern über
die ganze Erde gewandert sind, will ich nur deswegen streifen,
weil sich in der Tat merkwürdige Übereinstimmungen der
Ideenfolge und scheinbar unwichtiger Einzelheiten zwischen
weit entfernten Ländern finden, die zur Untersuchung der
Frage der Übertragung anregen müssen. Aber selbst da würde
zunächst immer die Vorfrage zu studieren sein: sind diese
mythischen Einzelheiten und die ganze Erzählungsfolge wirklich
zufällig oder den zum Mythus anregenden Naturverhältnissen
nach zwingend. Denn wie jedes mythische Detail geworden
ist, ist trotz dieses Buches natürlich noch lange nicht gelöst.
Fast die Hälfte der aufgezeichneten Mythenkomplexe
bezieht sich auf das Verschlungenwerden des Sonnenhelden
1 Vgl. meine Besprechung im Globus Bd. 87 S. 353.
Religionen der Naturvölker 105
bzw. der ganzen Menschheit durch einen Fisch, Drachen oder
sonstiges Ungeheuer, die Irrfahrt in seinem Leibe von Westen
nach Osten und endlich die Befreiung durch Aufschneiden des
Körpers. Dieser Sonnenuntergangs- und -Aufgangsmythus ist
nun auch in den Anfang der Dinge projiziert und zur Ent-
stehung der Welt verwendet. Aus dem Fischleib, aus dem die
Sonne hervorgeht, werden Himmel und Erde gebildet. Erwähnt
seien aus den vielen Zügen dieses Abschnittes noch die
Sonnenwendmythen, nach denen die Sonne gefangen oder der
Sonnenvogel erbeutet oder der Sonnenheld von einer Schlange
gebissen wird usw., so daß er ermattet und nur langsam fort-
kommt. Es folgen in dem Abschnitte „Göttinnen" zunächst
die Mythen von der conceptio Immaculata, wo eine Jungfrau
durch Verschlucken der Äquivalente des Sonnenballs und ähn-
liches den Sonnenhelden zur Welt bringt. Er wird ausgesetzt,
treibt auf dem dunkeln Wasser, bis er aus seinem Gefängnis
heraus kann. Mit Recht werden hier nun wieder die Ursprungs-
versionen der Welt der Geburt des Sonnenhelden an die Seite
gestellt. Wie aus dem aufgeschnittenen Fisch die Sonne
hervorkommt, wie der Held in seinem Gefängnis auf dem
Wasser schwimmt, so schwimmt die Erde auf dem Wasser
oder das Urei, aus dem der Sonnenvogel emporfliegt, während
aus den Schalen Himmel und Erde werden — oder das Rohr,
dem die ersten Menschen entsteigen. Wiederum spielt das
Wasser eine große Rolle, wenn der Held durch einen Angel-
haken, eine Harpune oder einen Pfeil (die Sonnenstrahlen)
sich eine Geliebte herausholt, die in einigen Fällen Beziehungen
zum Monde zu haben scheint. Auf die Sterne des Himmels
scheinen auch die bekannten Schwanenjungfrauen zu deuten,
die sich nach Ablegen ihrer Gewänder im Wasser baden, und
von denen dann eine geraubt wird. Statt der Schwäne sind
es an anderen Stellen der Erde Gänse, Papageien, Tauben,
Fische und Seehunde. Ganz kurz werden dann die Mond-
mythen und die Plejadenmythen behandelt: z. B. die Mond-
106 K. Th. Prenß
gottheit als Frau des Sonnengottes, als Todes- und ScL.icksals-
göttin, als Wasser- und Webegöttin. Zum Schluß kommt das
interessante Kapitel von den menschenfressenden Riesen, die
sterben müssen, wenn die Sonne sie bescbeint, oder sonstwie
durch Feuer zugrunde gehen. Sie leben in Höhlen, stehen
meist in naher Beziehung zum Wasser und haben viele Köpfe
oder ein Auge. Diese Riesen sind die Sternbilder und ein-
zelnen Sterne. Dem Sonnenhelden, der sie besiegt, steht hilf-
reich zur Seite eine Alte, der Mond.
Ein jeder wird hier auf Bekanntes stoßen. Auch die
Deutungen sind zum größten Teile bereits von den einzelnen
Philologien ausgesprochen. Frobenius' Verdienst ist aber die
Ausbreitung über die Erde, so daß man viel sicherer schließen
und nordische, griechische, semitische und andere Mythen der
Kulturvölker durch afrikanische, ozeanische oder amerikanische
erläutert und ergänzt sehen kann. Nur Tylor in „Primitive
Culture" hat einen ähnlichen, wenn auch nur kurzen Anlauf
in die allgemeine Mythologie unternommen.
Mythus und Kultus sind ursprünglich insofern eng mit-
einander verbunden, als beides zum Teil Naturvorgänge wieder-
gibt, der eine erzählend, der andere zum Zweck zauberischer
Beeinflussung der Ereignisse. Sie stammen aus der gleichen
Wurzel, und so wird das Verständnis des einen wesentlich
durch das andere gefördert. Ja, es ist schwer, nur mit der
Betrachtung des einen von beiden zu entscheidenden Ergeb-
nissen zu kommen. Diesen Mangel bemerkt man auch vielfach
an dem Buche von Frobenius. Dagegen konnte ich, mich auf
beide Krücken stützend, die amerikanischen Flutsagen und
damit zusammenhängende Probleme bis zu einem Grade von
Sicherheit erklären, daß meines Erachtens auch den Flutsagen
überhaupt, da in ihnen die gleichen Züge wiederkehren, im
ganzen dieselbe Entstehung zuzuschreiben ist. Ich füge den
Bericht über die Arbeit „Einfluß der Natur auf die
Religion in Mexiko und den Vereinigten Staaten" des-
Religionen der Naturvölker 107
halb in diesen allgemeinen Teil ein^ und bemerke zugleich,
daß sich hier wesentliche Übereinstimmungen mit Useners
Forschungen über die griechisch- westasiatischen Flutsagen er-
geben.^ Die alten Mexikaner und nördlichen Indianer fassen
Morgen- und Abendröte als Wasser oder als Wasser und Feuer
bzw. heißes Wasser auf. Yon dort stammt der Regen, und
alle Gewässer der Erde sind Abbilder davon. Da die Sonne
beim Aufgang hindurch muß, so gebietet sie über den Regen,
über Donner und Blitz. Mit dem Wasser der Morgenröte be-
siegt sie die Sterne. Deshalb besitzt das Wasser überhaupt
Zauberkraft. Anderseits verfolgen die Sterne die untergehende
Sonne mit der Abendröte, mit Wasser und Feuer, kochen sie
im heißen Wasser usw. Altmexikanische Bilder zeigen den
Sonnenball inmitten der Morgenröte, und daneben die getöteten
Sterne. Andere Darstellungen geben an, daß sich das Wasser
von der Morgen- zur Abendröte durch die ganze Unterwelt
fortsetzt, und diesen Wasserweg muß die Sonne täglich wandern.
Darauf beruhen die Flutmythen. In ihnen wird von der
Rettung eines oder mehrerer Menschen mit Hilfe eines ünter-
weltstieres erzählt, das das Sonnenfeuer bzw. den Sonnengeleiter
in der Unterwelt ^ repräsentiert. Auch wird manchmal das
Feuer mitgenommen. Die Rettung geschieht oft in einem
engen, allseitig verschlossenen Behälter, z. B. einem hohlen
Rohr, wie es der Wasserfahrt entspricht, oder einem aus-
gehöhlten Baumstamm, dem Urtypus der Arche. Die Landung
geschieht auf einem Berge, dem Gegensatz der Erde zur Unter-
welt, der sowohl im Osten wie im Westen durch einen jäh
abfallenden Berg gekennzeichnet ist. Besondere Züge erhält
die Flut dadurch, daß sie im Frühling besonders groß ist.
Dann kommt die neue Sonne herauf und tötet in gewaltigem
Kampf die Sterne des Winters, die Widersacher der Sonne,
^ Zeitschr. d. Ges. für Erdkunde zu Berlin 1905, S. 361—380,
431—460.
2 H. Usener Die Sintßutmythen , Bonn 1899. Besonders S. 234 ff.
108 K. Th. Preuß
die Übeltäter und Sünder, der mitgebraclite Same wird aus-
gestreut, die geretteten Tiere entsteigen der Arche, und die
Natur erneut sich so. Die mitgenommenen Vögel, die öfters
zur Untersuchung der Wasserfläche fliegen gelassen werden,
sind eigentlich Abbilder der Sonne. Sie bringen nach dem
Glauben der Indianer durch ihren Gesang oder ihre Farbe
oder andere Eigenschaften das Sonnenfeuer hervor und sorgen
ursprünglich mit ihren Schnäbeln und Flügeln dafür, daß das
gewaltige Wasser der Morgenröte abläuft, gleichwie das im
Mythus vom Sonnengott geschildert wird. Dieselbe Tätigkeit
üben sie auch schon in der gleichartigen Urschöpfung der
Erde aus dem Wasser aus. Überhaupt ist diese Urschöpfung
nur die Darstellung der Neuschöpfung der Erde nach der Flut
und also jene von dieser abzuleiten. Desgleichen ist die
Wasserumgebung der Erde, die sich bezeichnenderweise auch
bei vielen Binnenlandstämmen findet, nur von der ursprüng-
lichen Auffassung der Morgen- und Abendröte entstanden. Wie
ferner die Sonne inmitten einer Flut aus der Erde kommt,
oder ihr analog der in der Flut gerettete Mensch, so lassen
die Ursprungserzählungen der Indianer ihren Stamm häufig in
einem Wasser aus der Erde heraufgelangen. Es wird so z. B.
die Tradition vom Ursprung der Tolteken, des berühmten
zentralamerikanischen Kulturstammes, als ein solcher Sonnen-
mythus erwiesen.
Eine allgemeineres Interesse bietende Arbeit trotz ihres
speziellen Titels ist auch Paul Ehrenreichs Schrift: Die
Mythen und Legenden der Südamerikanischen Ur-
völker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas
und der alten Welt.^ Wenn auch die Quellen über die
südamerikanischen Mythen und Sagen nicht reichlich fließen,
so hat der Verfasser doch den Versuch gemacht, außer ihrer
Aufzählung nach Gruppen (Weltschöpfung; Kataklysmen, Flut
^ Supplement zur Zeitschrift fw Ethnologie 1905 107 S.
Religionen der Naturvölker 109
und Sinbrand; Himmel und Erde, Entstehung der Lebewesen;
Sonne und Mond; Sterne und Sternbilder; Ahnherren und
Heroen) auch Erklärungen über die Entstehung bzw. Bedeu-
tung zu geben, Sagenkreise in Südamerika aufzustellen und
den Zusammenhang mit nordamerikanischen und asiatischen
Sagenelementen zu verfolgen. Dadurch wird ihm Gelegenheit
gegeben, seine Ideen über Entstehung von Mythen und über
Mythenwanderungen zu äußern. Sein Standpunkt darin ist
der eines verständigen Eklektizismus ohne Aufstellung durch-
greifender Grundzüge. Den Naturmythen räumt er einen ziem-
lich großen Spielraum ein, in dem Sinne, daß sie lediglich eine
Wiedergabe des Geschauten und Erfahrenen in der Natur sind,
aber nichts Allegorisches. Die Objekte spielen ihre Rolle in
der Gestalt von Menschen und Tieren. Ehrenreich hat aber
keine auch nur einigermaßen bestimmte Grenze der Natur-
mythen, sondern unter dem Titel der explanatorischen Mythen
läßt er wunderbare, die menschlichen Verhältnisse übersteigende
Vorgänge einfach als Erklärung von Sitten, von politischen
Zuständen eventuell auch von geschichtlichen Ereignissen oder
als Übertreibung von wirklichen elementaren Vorfällen gelten,
so daß diese Erzählungen sich nicht von den Naturmythen
unterscheiden. So seien die Amazonensagen trotz ihrer wunder-
baren Einzelheiten einfach als eine Art Rechtfertigung der
Männerbünde entstanden. Taldurchbrüche oder das Auffinden
von marinen Muscheln im Binnenlande usw. hätten die Sint-
flutmythen hervorgerufen, Kampbrände die Erzählungen von
Weltbränden, fossile Tierknochen zum Teil die Sagen von
Riesen, usf. Man darf sich aber nicht verhehlen, daß Erklärungen,
die nicht alle Einzelheiten eines Mythus aufdecken, nicht als
solche, sondern nur als Einfälle gelten können, die zwar
unserem Empfinden entsprechen, aber nicht den ursprünglichen
Gedanken der Eingeborenen angemessen zu sein brauchen.
Eingehende Untersuchungen lassen sich da keinesfalls ent-
behren: hie Rhodus, hie salta. Das macht indessen seine
110 K. Th. Preuß
Ausführungen in keiner Weise geringwertiger, denn ihm kommt
es in erster Linie auf eine kurze Einführung in die Natur
und die literarischen Quellen der südamerikanischen Mythen
an, die nur ganz kurz angedeutet und mit einem Wort der
Erklärung hegleitet werden. Soweit an anderen Stellen der
Erde genauere Untersuchungen vorliegen, enthalten sie auch
vieles Richtige, namentlich in der Deutung als Mondmythen.
Doch werden diese anderseits auch zuweilen einseitig heran-
gezogen. Der Zerstückelte ist z. B. in Griechenland und Nord-
amerika zuweilen auch die Sonne. ^
Während alle wunderbaren Geschichten an der Hand des
Zauberglauhens, d. h. des Kultus erklärt werden müssen, ist
es möglich, ohne Rücksicht auf die Entstehung dieselben Züge
auf bestimmten geographischen Gebieten zu verfolgen und räum-
liche Zusammenhänge zu konstruieren, sobald die Aufeinander-
folge derselben Einzelheiten oder die Häufung von überein-
stimmenden Zügen bei verschiedenen Völkern auftritt. Für
Südamerika stellt Ehrenreich besonders den Sagenkreis der Tupi-
Guarani, den arowakischen und den karaibischen auf, sowie Ak-
kulturationsgebiete, in denen Einflüsse von verschiedenen Seiten
vorkommen. Eine Tabelle der Mythenelemente bei den einzebien
Stämmen würde hier sehr nützlich gewesen sein. Sehr vor-
sichtig wägt Ehrenreich schließlich ab, inwieweit Sagenelemente,
die in Nord- und Südamerika und zugleich in Asien vorkommen,
auf selbständiger Entstehung oder auf Übertragung beruhen,
und kommt zu dem Schluß, daß eine ganze Reihe von Mythen
längs der pazifischen Küste von Nord- nach Südamerika ge-
wandert sind, z. B. die Geschichte des Austausches von Exkre-
menten, oder das Motiv der Trugheilung. Die Verbindung
zwischen Ostasien, Nord- und Südamerika wird besonders an
dem interessanten Motiv der magischen Flucht erörtert, das
auch in Polynesien und Europa vorkommt. Alles in allem
^ Vgl. meine in Hbergs Jahrbüchern erscheinende Arbeit „Der
dämonische Ursprung des griechischen Dramas". (Im Druck.)
Religionen der Naturvölker Hl
erscheint aucli in den meisten der angeführten Fälle ein end-
gültiges Urteil ohne die Erledigung der Entstehungsfrage nicht
möglich, obwohl eine Wanderung immerhin wahrscheinlich ist.
Den Ausspruch, daß die Göttermythen des aztekischen Pantheons
Produkte priesterlicher Spekulation sind, wie der Verfasser be-
merkt, möchte ich hier noch zurückweisen: sie beruhen, wie die
Grundzüge der mythologischen Bilderschriften, durchaus auf
volkstümlichen Anschauungen und müssen von hier aus erklärt
werden. Alles in allem genommen ist die Schrift als erster
Anfang freudig zu begrüßen.
Hieran sei es mir gestattet, einige Bemerkungen zu
Albrecht Dieterichs bedeutsamem Buche Mutter Erde,
ein Versuch über Volksreligion^ anzuschließen, obwohl
es die Naturvölker nicht anders als zu Parallelen verwendet
und neben deutschen und europäischen Volksbräuchen im
wesentlichen bei den Griechen und Römern verweilt. Wo aber
sollte die Idee des Ganzen anders gewürdigt werden können als
auf der Basis der Völkerkunde? Bezeichnet doch der Verfasser
selbst den Tatbestand des religiösen Denkens der Naturvölker
als „die sicherste, oft die einzige zuverlässige Grundlage, auf
der einstweilen gebaut und der erstorbene Glaube in zäh fest-
gehaltenen Volksbräuchen leibhaftig geschaut werden kann".
Das Thema des Buches wendet sich offensichtlich wie in den
! beiden vorher besprochenen Arbeiten von Frobenius und mir
I dem „Zeitalter des Sonnengottes" zu, wo die Erde schon als
Ganzes erfaßt wurde, wo der auf- und untergehende Sonnen-
' ball sie zu einer Einheit stempelte, wo nicht mehr Erde als
i Erde einen Zauber ausübte, sondern als Teil der großen Mutter,
! die die Gestirne, die Pflanzen und alles Lebendige aus ihrem
! Schöße gebiert. Heute existiert wohl sicherlich kein Volk,
i das nicht bis zu dieser Stufe emporgestiegen ist. Der Wechsel
I von Tag und Nacht, das Leben im Lichte und das unter-
^ Leipzig und Berlin 1905, VI und 123 S.
112 ^- Th. Preuß
irdisclie Totenreicli im AnscKluß an den Sonnenlauf: das sind
verhältnismäßig frühe Kombinationen des menschlichen Denkens,
so daß viele selbständigen, an besondere Objekte geknüpften
Zauberideen von dieser großen Anschauung absorbiert werden
konnten. Der Verfasser durfte daher aus dem vollen schöpfen.
Es sind natürlich vornehmlich die Gebräuche, die sich an
Geburt, Hochzeit und Tod, also an Werden und Vergehen
knüpfen. Das neu geborene Kind wie der Sterbende werden
auf die Erde gelegt. Das eine kommt aus der Erde heraus,
der andere geht zur Wiedergeburt hinab. Kleine Kinder werden
nicht verbrannt, sondern begraben, wahrscheinlich zur Er-
leichterung der Wiedergeburt. Erde verleiht dem Kind Kraft
und Fähigkeiten, macht den Kranken gesund, erleichtert dem
Sterbenden sein Leiden. Die angeführten zahlreichen Belege für
die Anschauung, daß die Kinder aus Bächen, Teichen, Brunnen
und Sümpfen kommen, von wo sie zum Teil der Storch bringt,
scheint mir zweifellos eine Analogie des Sonnenaufgangs in
dem See oder Sumpf der Morgenröte, wie die Indianer sie
auffassen, gleichwie amerikanische Völker vielfach inmitten
eines Wassers aus der Erde auf diese Welt kommen (vgl. die
vorletzte Besprechung). Ebenso gelangt die Sonne auf ihrer
ünterweltwasserfahrt von der Abend- zur Morgenröte in einem
hohlen Rohr oder hohlen Baumstamme: das Kind wird im
hohlen Baum zur Welt* gebracht, gleichwie die Sonnensöhne
bei den Hupa in Kalifornien vielfach im hohlen Baume geboren
werden.^ Endlich bedeutet der Fels oder Stein, aus dem die
Kinder kommen, wohl den jäh zur Unterwelt abfallenden Berg
im Osten, auf dem die Sonne geboren und der Sonnenheld
bei der Sintflut gerettet wird. Es mag die Eigenschaft des
Steines, den Funken zu erzeugen, hier mitgewirkt haben. Der
Funken ist das Abbild der Sonne. Als Feuergarbe steigt der
peruanische Viracocha, die Sonne, aus dem Felsen am Titicaca-
^ Goddard The Hupa university of California Publications , Amer.
Archeol. and Eihnol. I, S. 160, 284.
Religionen der Naturvölker 113
See, dem Wasser der Morgenröte, aus dem auch die Sonnen-
söhne der Jnca stammen.^ Diese Herkunft der Kinder gleich
der Sonne aus der Unterwelt entspricht ganz dem Umstände,
daß auch die Toten der untergehenden Sonne folgen, und daß
selbst die Vegetationsgeister die Schicksale der Sonne teilen,
ihr Eingehen in die Unterwelt im Winter und ihr Hervor-
kommen im Frühling.^ Auch die Hockstellung der Toten gleich
der Lage des Embryo auf die Wiedergeburt zu beziehen,
erscheint mir in dieser Verbindung sehr der Beachtung wert.
Dieterich führt sie übrigens nur in einer Anmerkung an, um
alles Zweifelhafte möglichst auszuschalten. Man braucht dabei
aber nicht bloß an eine Auferstehung als Mensch zu denken,
sondern an den Zustand der Toten, die vielfach als Sterne
von der Erde geboren werden oder im Frühling mit der neu-
geborenen Sonne auf die Oberwelt kommen, wie in Griechen-
land am Fest der Anthesterien u. dgl. m.
Sehr fruchtbar ist auch des Verfassers Beziehung phallischer
Zeremonien und Symbole auf die Mutter Erde. Durch phalli-
schen Analogiezauber wird sie zur Fruchtbarkeit gezwungen, ihr
Leib mit einem als Phallus gestalteten Pfluge aufgerissen. Ein
anderer treffender Gedanke Dieterichs geht dahin, daß der Phallus
selbst der Gott ist, der Wachstum verursacht, ein Augenblicks-
gott, wie Usener sagt, oder, wenn man will, eine zaubernde
Substanz. Ich möchte sogar weitergehen und annehmen, daß
zur Wirkung des Phallus zunächst gar nicht der Gedanke an
die Mutter Erde lebendig zu sein braucht. Das bezeugen
meines Erachtens die zahlreichen phallischen Dämonen, die
Nachkommen von zauberkräftigen Menschen, Tieren und anderen
^ S. Bandelier im American Anthropologist 1904 und meine Be-
sprecliung im folgenden amerikanischen Bericht. Daß die europäischen
und antiken Ideen ebenfalls Unterweltwasserfahrten der Sonnendämonen
gleich den amerikanischen aufweisen, habe ich in llbergs Jahrbüchern
in einem Aufsatz „Der dämonische Ursprung des griechischen Dramas"
(im Druck) kurz berührt. ^ A. a. 0.
ArchiT f. Religionswissenschaft IX 8
114 K. Th. Preuß «
Objekten. Der Zauberakt wirkt unmittelbar, weil erfahrungs-
gemäß durch die Tätigkeit des Phallus Frucht erzeugt wird.
(Vgl. Globus 85, S. 358 ff.)
Amerika
Nordamerika
Indianer der Nordwestküste. Obwohl der Seiisch-
stamm der Siciatl an der Küste von Britisch- Columbia seit zwei
Generationen seine heidnischen Gebräuche aufgegeben hat, hat
Charles Hill Tout während eines Aufenthaltes von fast einem
Monat im Jahre 1902 außer einigen Mythen noch manches
von ihren alten Bräuchen in Erfahrung bringen können: Report
on the Ethnologie of the Siciatl.^) Wie bei den Seiisch-
stämmen weiter im Inneren glaubte man alle, die sich als
Jäger, Fischer, Krieger, Läufer oder sonst auszeichneten
und besonders die Schamanen im Besitz übernatürlicher Helfer
(sulia), die man durch körperliche Übungen und langes
Fasten erwarb. Einige von den Kindern, aus denen man
große Jäger machen wollte, wurden in kastenähnlichen Ver-
schlagen abgesondert, und nie durfte ihnen das Haar ge-
schnitten werden. Eine Umdeutung hat meines Erachtens bereits
das frühere teilweise Fasten der Knaben und Mädchen während
zehn Tagen bei der Pubertät erfahren, das in einem Räume über
dem Familienbette stattfand: der Knabe sollte sich auf die Ent-
behrungen des Jägerlebens vorbereiten und Anlagen zu wol-
lüstigem Leben vertreiben. Das Mädchen aber sollte auf diese Weise
dazu erzogen werden, daß es seinem zukünftigen Manne nicht
die besten Bissen wegnehme. Merkwürdigerweise war hier von
den vielen geheimen Gesellschaften der benachbarten Kwakiutl
nichts zu merken, obwohl zwei von den vier Unter-
abteilungen der Siciatl von den Kwakiutl stammen sollten.
Dadurch wird Boas Ansicht bestätigt, daß die Kwakiutl diese
1 Journal of the Änthrop. Inst, of Ch'eat Brit XXXIV (1904) S. 20—91.
Religionen der Naturvölker j^j^5
•
Einrichtungen erst in späterer Zeit bekommen haben. Von
I den Mythen ist eine, „die Sonnenmythe" von den Thompson-
! indianern des Inneren herübergewandert.
Kalifornische Indianer. Sehr tatkräftig wird nun auch
j die Erforschung der kalifornischen Stämme in Angriff genommen,
I besonders nachdem sich die Universität von Kalifornien in
Berkeley dieser Studien angenommen hat. Aus dieser Tätigkeit
ist das aus zwei Teilen bestehende Buch über den Athabasken-
stamm der HupavonPliny Earle Goddard, Life and Culture
of the Hupa und Hupa Texts^ hervorgegangen. Der Ver-
fasser hat sich über drei Jahre 1897—1900 in der Hupatal-
Reservation aufgehalten und auch später einige Reisen dorthin
unternommen. Das zur Religion zu rechnende Material wird
hauptsächlich unter den Abschnitten Diseases and their Cures,
Burial Customs und Religion vorgetragen. In gedrängter
Kürze reiht der Verfasser eine Menge eigentümlicher Sitten
und Anschauungen auf, die durchsichtig genug sind, um keinen
Zweifel über die Entstehung aufkommen zu lassen. Der Schmerz
ist eine Substanz, und das bemerkbare Ergebnis einer Krank-
heit ist zugleich das - Objekt, mit dem das betreffende Glied
kämpft. Ist z. B. ein Fuß geschwollen, so heißt es, etwas
kämpft mit dem Fuße. An allerhand Orten wohnen Substanzen,
die sich zum Teil bewegen können oder kleinen Menschen
ähneln, und diese verursachen bestimmte Krankheiten. Der
tanzende Schamane stellt die Krankheit und ihre Ursache fest,
der „saugende'^ beseitigt sie. Vielfach werden Medizinen ge-
braucht, wobei aber das Aussprechen von Zauberformeln, die
auf die erste Heilung Bezug haben, das Wichtigste ist. Haupt-
mittel zur Vertreibung von Krankheiten sind bestimmte Tänze,
zu deren Ausführung wiederum eine Zauberformel gehört. Wer
sie kennt, führt den Tanz der übrigen an. Bei den Begräbnissen
ist^esonders die Reinigung des nächsten Verwandten interessant,
^ University of California PuNications. American Archaeology and
Ethnology I Berkeley 1903—1904. 378 S.
IIQ K. Th. Preuß
der den Leiclinain besorgt und das Grab gräbt. Ein Priester
sagt den Reinigungszauber über einem Korbe Medizin her. Die
Formel erzählt von dem ersten Tod und Begräbnis, von der
Furcht des Volkes vor dem Vater, der sein Kind begraben hat
und von des Vaters Suchen nach einer Medizin, um den Körper
wieder herzustellen. Wenn nachher der Priester die Medizin
auf den Verunreinigten anwendet, sagt er: „dieses wird deinen
Körper neu machen, du wirst wieder Glück auf der Jagd, beim
Fischfang und beim Spiel haben." Kurz, aus diesem und allen
anderen Reinigungsgebräuchen der Hupa geht die Uranschauung
von dem Einfluß des Leichnams auf die Angehörigen und der
Ursprung der Trauergebräuche als Abwehrmaßregel gegen
diesen Einfluß klar hervor.
Über die Gottheiten erzählt Goddard nur einiges aus-
zugsweise, was nachher im zweiten Teil unter den Mythen
folgt. Man sieht so recht, wie wenig die praktische Religion,
der Kult, mit diesen Gottheiten zu tun hat. Es sei nur er-
wähnt, daß die weniger heilbringenden Gestalten viele Sonnen-i
Schicksale aufweisen, z. B. die Geburt im hohlen Baum, dag
schnelle Heranwachsen usw. Auch eine Flut zur Vertilgung der
schlechten Menschen — d. h. also der Sterne beim Aufgehen dei
Frühlingssonne — fehlt nicht. Sehr bemerkenswert ist die
Anschauung, daß Rauch auf den Bergen erschien, zur Zeit aL
der Held oder die Indianer auf die Welt kamen. Ich glaube, mar
muß auch dieses der Sonnengeburt im Wasser oder im Wassei
und Feuer der Morgenröte an die Seite stellen, welch ersteref
beim Heraufkommen der Völker auf die Erde gleichfalls auf
tritt. Bevor das Feuer (der Sonne) erscheint, muß zuerst de]
Rauch sichtbar sein. Und daß alte Menschen früher durcl
ein Schwitzbad wieder die Jugend erhielten, entspricht de]
Erzählung von dem im heißen Wasser — d. h. dem heißer
Wasser der Morgenröte — gekochten Sonnenhelden in Amerika
wodurch sie sich erst als Soimensöhne erweisen und zugleicl
von allen Gebrechen frei werden.
j Religionen der Naturvölker 117
Die Kapitel über Feste und Tänze rechnet Goddard mit
liecht ohne weiteres der Religion zu. Die ersteren haben den
Zweck, für Lebensmittel an Tieren und Früchten, für warmen
Regen und Wind, für das Aufhören des Frostes oder un-
günstigen Regens u. dgl. m. zu sorgen, die Tänze sollen unter
inderem Krankheit und Unheil abwenden. Obwohl die Feiern
aicht mehr in voller Kraft bestehen, hat der Verfasser doch
manche Einzelheiten über den Verlauf beibringen können, die
zum Teil in den Texten des zweiten Teiles durch die ausführliche
Niederschrift der Zauberformeln weitere Beleuchtung erfahren,
[m Frühling z. B. wird, bevor überhaupt Lachse gefangen sind,
mit dem ersten Lachs eine „Medizin" vorgenommen, um Über-
fluß an gutem Lachs und so Nahrung jeder Art zu erlangen
und diesen zu weihen, damit Menschen und Tiere mit geringer
Menge gesättigt würden. Eine lange Zauberformel wird über
dem Lachs ausgesprochen, die von der Schaffung des ersten
Lachses, seiner Reise vom Fluß in den Ozean und zurück,
dem Töten, Kochen und Essen desselben erzählt und alle Ge-
setze erwähnt, die mit Fischen und Lachsen in Zusammenhang
stehen. Man sieht, wie hier die mythische Zeit und die Götter
wie bei fast allen Formeln der Art hineingezogen werden, ob-
wohl die Zauberwirkung eigentlich in der bloßen Aufzählung
ider Tatsache des früheren Entstehens, Fangens, Zerlegens,
Kochens, Essens usw. des Lachses liegt.^
Von den Texten, die im Original mit Literlinear- und
freier Übersetzung gegeben sind, behandelt der kleinere Teil
fvon etwa 100 Seiten Mythen, in denen die Gestalten der
i Götter vorkommen, und Erzählungen, der größere aber von
160 Seiten bezieht sich auf die Tänze und Feste und bildet
so ein ungemein wichtiges Material zum Verständnis des Kultus.
iDie zahlreichen Zaubersprüche darunter beziehen sich nicht
^ Ygl. auch zur Erklärung das über die Behandlung der Hirsche
bei den Hupa Gesagte (vorher bei der Besprechung von Beck, die Nach-
: ahmung).
118 K. Th. Preuß
nur auf die Heilung von Krankheiten, auf Feste und Tänze,
sondern es gibt solche für die Mutter bei der Geburt, für das
Kind, für das Überscbreiten eines Flusses bei Hochwasser, für
Jagd und Fischfang, für das Korbflechten, für alle Arten von
Spielen, für Liebeszauber usf. zur Abwehr jedes Übels und zur
Erlangung jedes Erfolges.
Dem Goddardschen Buche an Bedeutung völlig an die
Seite zu stellen ist die umfangreiche Arbeit von Roland B.
Dixon „The Northern Maidu"^, wo das Wesentliche über
die Religion in dem ebenso betitelten Abschnitt (S. 259 — 333)
und unter „Mythology^' (S. 333 — 346) erwähnt ist. Außerdem
sind die eigentümlichen Beschränkungen für Mann und Frau
bei der Schwangerschaft und Geburt des Kindes bemerkenswert
(vgl. Couvade); ferner die umständlichen Pubertätszeremonien
der Mädchen (Fasten, Tänze, Singen, Ohrdurchbohren, Bemalen
der Wangen, Bad usw.), während die Bjiaben nichts derart
durchmachen, und die Totengebräuche, insbesondere die Un-
reinheit der Angehörigen, die die Leiche zubereitet haben, und
die jährliche Yerbrennungszeremonie im Herbst, wobei ei
Unmenge wertvollen Eigentums als Gabe für den Toten v "
brannt wird, und zwar während mehrerer aufeinanderfolgender
Jahre. Die nordwestlichen Maidu dagegen veranstalten die
Feier nur für die einzelne Person ein oder zwei Jahre nach
ihrem Tode. Manchmal wird der Tote dabei durch eine Puppe
dargestellt, wenn er Mitglied der Geheimgesellschaft oder —
bei einer Frau — wenn sie reich war. Beerdigung ist übrigens
vorherrschend, nur bei den nordwestlichen Maidu kommt da-
neben auch Verbrennung vor. Die Hütte des Verstorbenen
wird verbrannt. — Die Seele besucht vor ihrer Abreise
nach dem Totenland alle Plätze, auf die der Lebende gespuckt
hat, und wiederholt mit großer Geschwindigkeit alle Taten
ihres Lebens (Sacramentotal). Bei den nordwestlichen Maidu
^ Bulletin of the American Mus. of Nat. History XVII, S. 119—346.
New York 1905.
Religionen der Naturvölker 119
geht sie nacli Osten zum himmlisclien Tal, die Milchstraße ist
der Totenweg. Der am Nachmittag Sterbende folgt der Sonne
durch die Unterwelt nach Osten. Die Welt schwimmt auf
dem Wasser, ist aber an fünf Seilen verankert, augenscheinlich
damit die Sonne auf ihrer unterirdischen Wasserfahrt von
Westen nach Osten ungehindert hindurch kann. — Eine Ur-
Sintflutsage berichtet von dem Kampf des Schöpfers (meines
Erachtens die Sonne) mit dem Coyote, seinem Mitschöpfer
(meines Erachtens das unterirdische Feuer, die Sterne^). Der
Schöpfer sucht ihn vergeblich durch eine Flut (die Morgen-
röte) zu vernichten, wobei sich ersterer selbst und die Seinen
auf einem steinernen Kanu rettet. — Es folgt der Abschnitt
über den Schamanismus. Es gibt an den westlichen Abhängen
der Sierra Nevada (foot hill tribe) heilende (durch Aus-
saugen usw.) und träumende Schamanen, die im Traume mit
Greistern verkehren. Die „Träumer" halten Winterversamm-
lungen im Tanzhaus, früher auch einen jährlichen Tanz, ab,
bei dem einer den anderen durch Zaubertanz zu überwinden
suchte. Sie schleuderten (unsichtbare) Gifte mit den Händen
und vermittelst starken Atmens. Bei den nordöstlichen Maidu
muß der Sohn nach dem Tode seines Vaters, falls er Schamane
gewesen ist, ebenfalls Schamane werden, denn ihn besuchen in
den Träumen fortwährend die Geister, von denen schon seine
Vorfahren träumten, und würden ihn töten, wenn er sich
ihnen nicht freundlich erwiese und sich mit ihnen einließe.
Die Vorbereitungen, um Schamane zu werden, bestehen in
rastlosem Tanzen, um die Geister zu gewinnen, in dem Durch-
bohren der Ohren, worauf der Novize auf die Berge träumen
geht, u. dgl. m. — Sehr wichtig sind die Tänze. Tiertänze,
bei denen die Tiere in Bewegung und Lauten nachgeahmt
werden, kommen besonders bei den nordwestlichen Maidu vor.
Die Tänzer tragen die Haut des Tieres oder Schmuck, die es
^ Vgl. Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde, Berlin 1905, S. 384 ff., und
meine Besprechung vorher.
120 K. Th. Preuß
charakterisieren. Einige Tänze, wie der Hirsch-, Enten- und
Schildkrötentanz, sollen zur Yermelirung der betreffenden Tiere
beitragen. Auch Anrufungen der Tiere, sieb zu vermehren,
scheinen dabei vorzukommen. Der Bärtanz soll das Tier an-
geblich besänftigen und von Angriffen auf die Jäger abhalten.
Der ä'ki-Tanz im Sacramentotal, obwohl kein Tiertanz, dürfte,
wie der Verf. meint, denselben Zweck, Nahrungsfülle zu er-
langen, haben. Bei diesem wird nämlich in derselben Weise
an den Hauptpfosten der Hütte geklopft, wie die Zweige der
Eichen beim Einsammeln der Eicheln im Herbst. Weiter
treten allerhand mythologische Wesen bei den Tänzen auf und
werden in der Tat als gegenwärtig dabei gedacht. Die Tänze
finden nur im Winter statt. In der Sacramentotal- Region
besteht z. B. eine regelmäßige Tanzsaison, die von Oktober bis
April oder Mai dauert. Eine sehr merkwürdige Persönlichkeit
bei den Tänzen ist der Clown, der die Worte und Bewegungen
des Leiters wiederholt und trotz seiner steten Bemühungen,
die Zuschauer zum Lachen zu bringen, sehr wichtig für die
religiöse Bedeutung der Tänze ist. Sogar in dem Schöpfungs-
mythus spielt er eine, wenn auch geringere Rolle. Seine
charakteristische Beschäftigung ist fortwährendes Essen. Leider
hat Dixon die Tänze selbst nicht mehr studieren können, da
sie nicht mehr ausgeführt werden, sondern mußte sich mit
den Beschreibungen begnügen, die er möglichst ausführlich
wiedergibt.
Im Sacramentotal und bei den foot-hill-Maidu besteht eine
sehr wichtige geheime Gesellschaft, in die Knaben etwa im
Alter von 15 Jahren unter Fasten und Zeremonien aufgenommen
wurden. Dabei erhielten sie zugleich einen neuen Namen.
Jetzt ist die Institution freilich zum größten Teil zerfallen.
Die Führer der Gesellschaften waren auch die Führer jedes
Ortes und wurden vom Leiter der Wahl, dem bedeutendsten
Schamanen, durch Träumen festgestellt. Er hatte den Platz
zu wählen, wo Eicheln gesammelt werden soUten, nahm den
Religionen der Naturvölker 121
hervorragendsten Anteil in den Kriegen, hatte Regen zu machen,
für gute Ernte an Eicheln und reichen Lachsfang zu sorgen,
böse Geister und Krankheit abzuwehren und durch Zauber
Krankheit und Tod in die Dörfer der Feinde zu schaffen usw.
Die Religion der Kalifornier, besonders im Mythus, be-
rührt auch A. L. Kroeber in der Arbeit „Types of Indian
Culture in California^'.^ Da der Verf. in seinen früheren
Schriften Originalmaterial von einer Reihe verschiedener nord-
amerikanischer Stämme gesammelt und herausgegeben und sich
zuletzt besonders mit den Kaliforniern beschäftigt hat, so ist
er besonders dazu befähigt, die charakteristischen Unterschiede
der Stämme zu erfassen und so die Eigentümlichkeiten der
Kalifornier herauszuheben, z. B. die allgemeine Anwendung der
Zauberformeln, die einfach den gewünschten Vorgang aus
mythischer Zeit herzählen, das Fehlen von Geheimgesellschaften
und Jünglingsweihen, bestimmte mythische Züge u. dgl. m.
Freilich sind die Unterschiede nur äußerlich gehalten, wie es
ohne allseitiges Verständnis der Entwickelung, das noch nicht
vorliegt, nicht anders sein kann.
Algonkinstämme. Mary Alicia Owens Buch „Folk-
lore of the Musquakie Indians (d. h. der See and Fox)
of North Amerika"^ enthält besonders in dem Kapitel VI
„Die Tänze" manches Neue. Aber auch die Schöpfungs- und
Sintflutsagen (in I und V), die Kapitel über Geburt und Kind-
heit (VII), Pubertät (VIII), Tod, Begräbnis und Geistforttragen (X)
geben der Religionswissenschaft gutes Material. Auch hier ist
aber alles der letzte Rest dessen, was sich aus früherer Zeit
erhalten hat. Der „Religionstanz", der wichtigste, aber angeb-
lich der jüngste Tanz, soll u. a. die Erinnerung an die Rück-
kehr der Vorfahren von der katholischen Religion zu dem
^ Universüy of California Puhlications, Ämer. Arch. and Ethnol. II
S. 81—103.
^ Publications of the Folklore Society LI, London 1904. IX und
147 Seiten.
122 K- Th. Preuß
alten Grlauben der Väter darstellen und zugleich den Übergang
von der Verehrung der Tiere als Hauptprinzip zu der An-
betung Geecbee Manitoabs, des Sonnengottes. Es mögen in
der Tat vielleicbt christliche Einflüsse zu dem schärferen
Hervortreten monotheistischer Ideen geführt haben. Doch
kann dieses 4, 7 oder 21 Tage währende Fest, an dem ein
weißer Hund, in Nordamerika vielfach das Abbild des Feuers,
unter Zeremonien getötet und verzehrt wird, sehr wohl in
hohes Altertum zurückreichen. Es scheint immer im Hoch-
sommer stattgefunden zu haben — die Angabe ist nicht genau.
Die übrigen Tänze zeigen jedenfalls unverfälschten Urglauben.
Vor dem Pflanzen des Maiskorns z. B. tanzt man durch die
Felder, und ein junges Mädchen pflanzt ein paar Körner eines
vollkommenen Maiskolbens. Diesem Mädchen wurde früher
ein Gatte mit ins Feld gegeben, und Kinder, die neun Monate
nach diesem zeremoniellen Kornpflanzen geboren wurden, galten
als große Propheten. Heute ist der Tag eine beliebte Zeit für
Hochzeitsfeiern. Wie der „Tanz des Kornpflanzens" zur Be-
förderung des Wachstums der Felder ausgeführt wird, so war
der Bärtanz der jungen Leute verbunden mit der Bärenjagd,
die die Jagd auf alles größere Wild einleitete, ein Mittel, um
auch die anderen Jagdtiere tödlich zu treffen. Denn der Bär
war eine mächtige Medizin. Er wurde bis auf den Skalp voll-
ständig verbrannt. Der Büffeltanz im Herbst zog desgleichen
die Büffel an. Diese wurden durch Zaubergesänge eingeladen
zu erscheinen und sich töten zu lassen. Die Verf. zählt noch
eine ganze Reihe anderer Tänze auf, doch sind sie zum größten
Teil unverständlich geworden, dürften aber durch Vergleichung
mit den Tänzen anderer Stämme wichtig werden. Die um-
ständlichen Pubertätsgebräuche erzählen von neuntägigem
Fasten und Träumen des Kandidaten in den Wäldern, um eine
gute Medizin zu erlangen, von früher geübtem Auspeitschen
durch die Häuptlinge, von der Zauberbärenjagd und dem
Bärentanz, aber auch von bloßen Geschicklichkeitsproben u. dgl.
Religionen der Naturvölker 123
Das Fest scMießt mit dem „R^ligi^nstanz", nach dessen Schluß
um Mitternacht sie schlafen, um als Männer zu erwachen. Das
Geistaustragen nach einem Todesfall besteht darin, daß einer
die Rolle des Verstorbenen spielt und schließlich, begleitet
von einer Schar junger Leute, einige Meilen westwärts reitet.
Er behält den Eltern des Verstorbenen gegenüber den Namen
ihres Sohnes und ist ihnen zur Hilfeleistung verpflichtet. —
Auch unter den am Schlüsse des Werkes beschriebenen Ge-
räten sind manche für Zauberei und Religion von Wichtigkeit.
Schon zu den Präriestämmen führt uns Alfred L.Kroebers
Abhandlung „The Arapaho: III Social Organisation"^,
die sehr interessantes Material über die religiösen Gesellschaften
bringt, wie es in solcher Ausführlichkeit von keinem der
Präriestämme existiert und wohl auch kaum noch zu erlangen
sein wird. Der Verf. selbst hat die Zeremonien nicht mehr
gesehen, da sie seit dem Jahre 1898 nicht weiter vorgenommen
wurden, sondern gibt seinen Bericht nach den Erkundungen
bei den Indianern und den noch vorhandenen Abzeichen bei
den Tänzen. Die Hauptzeremonien zerfallen in den Sonnen-
tanz, der hier ganz kurz erwähnt ist, und den wir noch aus
dem ausführlichen Buche von Dorsey weiter unten näher
kennen lernen werden, und in die Reihe der von den Alters-
genossenschaften aufgeführten Tänze, an denen nur die Mit-
glieder teilnehmen dürfen. Diese sind nicht durch bestimmte
Weihen, durch gemeinsame Träume oder den Besitz eines be-
stimmten Geistes, kurz durch mystische oder religiöse Ein-
sichten ausgezeichnet, sondern es ist eine Stammesorganisation
dem Alter nach, der wir nichtsdestoweniger einen Ursprung
aus zauberischen Motiven werden zuschreiben müssen. Denn
es geht meines Erachtens klar aus den Einzelheiten hervor,
daß die Mitglieder durch die Zeremonien besondere Zauber-
^ Bulletin of the Ämer. Mus. of Nat History, New York XVIII,
S. 151—230. 1904. Die ersten beiden Teile (a. a. 0. S. 1—150. 1902)
führen die Titel General Description und Decorative Art and Symholism.
124 K. Th. Preuß
kräfte erlangen wollen, wenn auch die Organisation mehrfach
praktische Zwecke angenommen hat und innerhalb jeder Ge-
nossenschaft besondere Rangstufen für wenige ausgezeichnete
Mitglieder existieren, nicht nur als Auszeichnung für Helden-
taten, sondern als Verpflichtung zu neuen. So dürfen die drei
höchsten Rangstufen der Hundegesellschaft selbst bei der
drohendsten Gefahr nur unter bestimmten Bedingungen fliehen.
Die beiden jüngsten Klassen der Knaben und Jünglinge
(der kit fox men und stars) haben wenig Bedeutung. Außer
ihnen gibt es sechs Genossenschaften bzw. Tänze oder lodges
(nach dem Ort der Zeremonien) der Männer und eine der
Frauen. Davon sind die Männer der dritten Gruppe, der fool
lodge, etwa 40 Jahre alt, die der vierten oder dog lodge 50,
die der sechsten umfassen die ältesten Jahrgänge, in denen
sich das Heiligste des ganzen Stammes verkörpert, die den
anderen lodges Anweisungen geben und während ihrer eigenen
viertägigen Zeremonien nicht tanzen, sondern in ihrer großen
Schwitzhütte unter Fasten singen und schwitzen.
Die Zeremonien können nur auf folgende Weise in Gang
gebracht werden. Wenn ein Mitglied einer Gesellschaft krank
oder in Gefahr ist, so kann er geloben, einen Tanz der nächst
älteren Genossenschaft abzuhalten, falls er das entsprechende
Alter hat. Ist er wieder gesund, so verkündet er sein Gelübde,
und es wird eine Sache seiner Gesellschaft. Die Tänzer wählen
ältere Leute als „Großväter", die ihnen unter Aufzählung einer
Heldentat ihre vorschriftsmäßige Tanzausrüstung geben, sie
bemalen und ihnen bei den Zeremonien assistieren. Der Tanz
der ersten lodge (tomahawk- lodge) hat Beziehung zu den
Büffeln. Die Tomahawks in ihrer Hand stellen zugleich
Waffen und Büffel dar, und ebenso bezieht sich ihre Körper-
bemalung darauf. Der zweite Tanz symbolisiert den Donner.
So soll z. B. die schläfrige und dann wieder wilde Art des
Tänzers vom höchsten Range darauf hinzielen. Die Schnitzerei
auf seiner Keule stellt den Donnervogel dar. Die langen
Religionen der Naturvölker 125
Adlerschwungfedern, die am Ende angeknüpft sind, bedeuten
den Blitz. Der Regen, der dem Aufwärtsrichten der Keule
folgt, wird als Ergebnis des erzürnten Donners angesehen usw.-
Die dritte Gresellschaft der crazy lodge führen einen Tanz mit
bloßen Füßen durch das Feuer auf, gelten darauf als Verrückte
und benehmen sich so närrisch wie möglich. Eine Wurzel,
die sie an einen ihrer Pfeile und an Stellen ihrer Kleidung
gebunden haben, macht sie angeblich sehr behende und gibt
ihnen die Macht, Menschen und Tiere zu lähmen. Ihre Narr-
heit ist von dem Tragen eines Kopfbandes aus Eulenfedern
abhängig, mit denen auch ein angeblich Gelähmter durch
Reiben wieder geheilt werden kann. Der Inhaber des höchsten
Ranges in dieser lodge, der „weiße Narr", betete zu seinen
Abzeichen, als er sie verkaufte, und sagte, sie möchten daran
denken, daß er sie nicht nur des Geldes wegen verkaufe,
sondern weil sie an einem besseren Orte aufbewahrt würden.
Ihr Schatten werde in seinem Zelte bleiben, und ihre Lehren
in seinem Herzen. Dafür bat er sie, daß er und seine Ver-
wandten gesund bleiben und Glück haben möchten. Die vierte
lodge, die Hundegesellschaft, hat als obersten den „zottigen
Hund". Dieser muß immer jemand haben, der ihn zu allem
durch Schläge wie einen Hund antreibt. Die zweite Rangstufe
trägt unter anderem eine Schärpe, an deren Seite in regel-
mäßigen Abständen Adlerfedern befestigt sind. Sie bedeuten
Hundehaar und machen den Träger im Kampfe leicht und
schnell. Die fünfte Gesellschaft, zu denen also alte Männer
gehören, hopsen im Kreise und ahmen Präriehühner nach und
schreien wie diese. Ihr Gesang bezieht sich auf diese Tiere.
Wenn die Sonne aufgeht, verlassen sie die Wohnung nach
allen Richtungen und schütteln ihre Decken, ganz wie die
Vögel am Morgen mit den Flügehi schlagen.
Es ist klar, daß in allen diesen Fällen die Kräfte gewisser
zauberkräftiger Substanzen — von Tieren und anderem — auf
die Menschen übertragen werden, und es ist Sache der Ver-
126 K. Th. Preuß
gleicliung, die Vernunft in jedem einzelnen dieser wunderliclien
Angaben herauszufinden oder wenigstens zu ahnen. Nun fügt
es sich sehr günstig, daß gleichzeitig sehr umfangreiches
authentisches Material über die Anschauungen der Arapaho in
dem Buche von George A. Dorsey „The Arapaho Sun
Dance: the Ceremony of the Offerings Lodge"^ ver-
öffentlicht ist. Der berühmte Sonnentanz der Präriestämme
mit seinen zu Ehren der Sonne, aber zu eigenem Vorteil unter-
nommenen schrecklichen Martern ist seit den anschaulichen
Berichten des Prinzen von Wied und Catlins öfters kurz be-
schrieben worden, ohne daß man jedoch ein erschöpfendes
Bild der Zeremonie erhielt, das ein tieferes Eindringen in die
einzelnen Bestandteile und in das Werden des Festes gestattete.
Das vorliegende Buch ist das erste, das jede Phase der Feier, ^
jeden dabei verwendeten Gegenstand, jede Dekoration, jedes
Gebet, ja, ich möchte sagen, jedes Wort und jede Bewegung
der Beteiligten mit photographischer Treue wiederzugeben
versucht, soweit das möglich ist. Es ist Dorsey sogar ge-
lungen, die verschiedenen Anschauungen über die Bedeutung
der zahllosen „Symbole" in Handlung und Darstellung neben-
einander zu stellen. Kurz, das Werk ist eine wahre Fund-
grube für das Studium der primitiven Zauberreligionen, in der
man nicht nur ursprüngliche Zeremonien, sondern meines
Erachtens auch noch manche ganz ursprüngliche Deutungen
in leichter Verschleierung entdeckt. Das ist nur möglich, weil
wunderbarerweise noch in den Beobachtungsjahren 1901 und
1902 ein tiefes religiöses Gefühl, unbeeinflußt von der an-
drängenden Umgebung, bei den Arapaho der Reservation
Oklahoma lebendig war. Dazu scheint Dorsey unumschränkt
über den Stamm verfügt zu haben, da man ihn direkt auf-
forderte, einer heiligen Bestattungszeremonie, die ohne jeden
Zuschauer stattfand, beizuwohnen (S. 174). Auch nahm er den
^ Field Columhian Museum. Änthropologicdl Series IV 228 S. und
187 Tafeln. Chicago 1903.
Religionen der Naturvölker 127
Leiter der Zeremonien unmittelbar danach mit nach Chicago
und ging mit ihm besonders den Symbolismus durch. Schade
nur, daß der Verfasser dem Anschein nach nur durch einen
Dolmetscher mit den Arapaho verkehren konnte.
Im ganzen gleicht der Sonnentanz des hier behandelten
Algonkinstammes der Arapaho dem der Siouxstämme sehr.
Nur der komplizierte Altar der Opferhütte (Offerings-Lodge)
scheint sonst, soweit es die kurzen Schilderungen erkennen
lassen, erheblich einfacher zu sein. Die Zeremonie findet meist
im Sommer statt, auf Grund eines Gelübdes, das jemand wegen
Krankheit oder in einer gefährlichen Lage auf sich genommen
hat. Es ist jedoch ein Fest der ganzen Nation. Die Feier
dauert acht Tage: zunächst die Vorbereitung in dem „Kaninchen-
zelt" (rabbit tent), dann der Aufbau der Offerings-Lodge unter
beständiger Beobachtung von Riten und der viertägige Tanz
unter Enthaltung von Nahrung und Wasser und mit ver-
schiedenartiger Bemalung des nackten Körpers. Die Teilnehmer
sind meist junge Leute, doch können auch Männer jeden Alters
dabei sein. Manche beteiligen sich auch an mehreren Sonnen-
tänzen. Die Leiter der Zeremonie sind dagegen ganz alte Leute,
die die siebente und höchste Altersklasse, die „Schwitzhütten-
gesellschaft" (sweat lodge society) erreicht haben. Einer von
ihnen spielt beim Sonnentanz die Rolle der Sonne. Martern
finden jetzt nicht mehr statt. Sie sind seit etwa 20 Jahren
von der Regierung verboten. Sie sollen früher nur darin be-
standen haben, daß dem Kandidaten zwei Holzpflöcke durch
das Brustfleisch gesteckt und mit dem Mittelpfahl der Hütte
j verbunden wurden. Beim Tanze mußte dann das Fleisch aus-
j reißen. Diese Befestigung geht wiederum auf die Sonne, zu
I der der Mittelpfahl besondere symbolische Beziehungen hat.
; Doch sind die Martern und die anderen Zeremonien meines
; Erachtens sicher nicht von vornherein durch Sonnenverehrung
entstanden, sondern nur dadurch vereinigt. Peinigungen sind
ursprünglich Mittel, besondere (Zauber-) Kräfte zu erlangen,
128 K. Th. Preuß
um Erfolge zu haben und Gefahren zu entgehen. Im übrigen
stellt sich das Fest als eine zauberische Erneuerung der Natur,
der Vegetation, der Menschen und der Jagdtiere dar, wodurch
überall Segen und Überfluß verbreitet und Krankheit gebannt
wird. Unzweifelhaft deutet unter anderem darauf auch die
frühere geschlechtliche Vermischung des ganzen Lagers in der
einen Nacht hin und der jetzt abgeschwächte Ritus des Bei-
schlafes zwischen dem „Großvater" des Lodgemakers (der das
Gelübde, die Offerings-Lodge zu errichten, getan hat) und
dessen Weib, ein Akt, der jetzt verschiedene mythische Aus-
legungen gefunden hat. Bezeichnend für das frühere Stadium
des Sonnentanzes ist auch die sogenannte Goldammerbemalung
eines Teiles der Tänzer, da diesem Vogel die Macht über das
Feuer zugeschrieben wird. Auch die Nachahmung des Fluges
und der Laute der wilden Gänse bei verschiedenen Zeremonien
deutet auf die zauberische Beeinflussung dieser Tiere hin, die
nach dem Prinzen von Wied durch ihren Frühlings - und Herbst-
flug Vertreter der Maisgöttin, der „Alten, die nie stirbt", bei
den Mandan ist.
Kadostämme. Vor allem haben von diesen die Pani
mit ihrem eigentümlichen Sternkult die Aufmerksamkeit der
Forscher auf sich gezogen. Alice C. Fletcher, die uns die
ersten Angaben darüber gemacht hat, verdanken wir nun auch
die erste ausführliche Beschreibung einer großen Zeremonie
dieses Volkes: „The Hako: a Pawnee Ceremony"^, in der frei-
lich die früher berichteten Anschauungen über die religiöse
Bedeutung der Sterne keine Rolle spielen. Das Buch stellt
insofern ein* Novum dar, als der 70 Jahre alte indianische
Leiter der Zeremonien, ein durchaus vom Glauben der Väter
erfülltes Mitglied der Chani- Bande, selbst die Vorgänge ge-
schildert und erklärt hat, derart, daß die Verfasserin ihn stets
als Redenden einführen kann und nur im zweiten Teile ihrerseits
^ 22 d Annudl Beport of the Bureau of American Ethnology Part II
872 S., Washington 1904.
Religionen der Naturvölker 129
die einzelnen Phasen kurz rekapituliert. Natürlich darf man
deshalb aber nicht erwarten, daß wir die Vorgänge in ihrem
Ursprung verstehen: die Angaben sind vielmehr lediglich als
wichtiges Material zu betrachten.
Hako bezeichnet die Geräte, die zur Zeremonie gehören,
zunächst die Trommel. Die Gegenstände galten als die gegen-
wärtigen Mächte, die dem Stamme helfen sollten. So war
ein Maiskolben die Kornmutter, eine an einen Stock gebundene
weiße Adlerdaunenfeder waren die hohen weißen Wolken,
zwei bemalte, mit Yogelteilen und mancherlei anderem Behang
ausgestattete Stäbe, deren Mark wie bei einem Pfeifenrohr
ausgebrannt war, galten als direkte Glückbringer, und den
Federn z. B. wurden die besonderen Kräfte der betreffenden
Vögel zuerkannt. Ein Wildkatzenfell diente zur Umhüllung
der heiligen Geräte und war dazu gewählt, weil man diesem
Tiere die ruhige Beharrlichkeit in der Erlangung der Beute
zuschrieb, die bei der Erreichung des Zieles der ganzen Zere-
monie — nämlich Kinder, langes Leben und Überfluß — not-
wendig war. Die Zeit der Feier ist nicht bestimmt. Sie kann,
abgesehen vom Winter, zu allen Jahreszeiten stattfinden. In
der Tat zwingt keine der vorkommenden Einzelheiten, etwa
für frühere Zeiten einen bestimmteren Termin anzunehmen,
wie es z. B. beim Sonnentanz die Zeit der heraufkommenden
Sonne ist. Alle die zahlreichen zauberischen Symbole beziehen
sich nur auf das pulsierende Leben im allgemeinen, wie es
auch uns gerade im Frühling, Sommer und Herbst erscheint.
Und wie diese farblose Allgemeinheit, aus der ein merkwürdig
j lebhaftes, ich möchte sagen, modernes Naturgefühl dicht neben
den zauberischen Praktiken herausschaut, von der ursprüng-
lichen Prägnanz der indianischen Feste abweicht, so ist auch
die Idee des Ganzen neu. Männer einer Dorfgemeinschaft
bereiten und weihen die heiligen Geräte auf die Initiative eines
Häuptlings oder hervorragenden Mannes, der der Vater genannt
wird, während alle seine Gefolgsleute die Partei der Väter
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 9
130 K. Th. Preuß
heißen. Sie wählen aus einem anderen Clan oder sogar Stamm
entsprechend einen Sohn, und begeben sich, nachdem dieser
die zugedachte Ehrung angenommen hat, 20 bis 100 Mann
stark unter Führung der Kommutter, d. h. des Maiskolbens,
auf die Suche nach dem Sohn. Es folgt nach einer Reise von
einigen bis 200 und mehr Kilometern der Einzug in die Hütte
des Sohnes, die Weihe derselben und die Vertreibung alles
Unheils daraus, die Bekleidung des Sohnes und endlich eine
fünftägige zeremonielle Festfeier sowohl bei Tage wie bei Nacht.
Die neugeborene Morgenröte und der Morgenstern, die Sonne
und das Tageslicht werden angerufen und mit Gesängen begrüßt.
Nach dem männlichen wird das weibliche Prinzip, die Erde,
ebenso gefeiert. Dazwischen werden die Träume herbeigerufen.
Der „Gesang der Vögel" schildert schließlich das Zusammen-
strömen der alten Vögel mit den schon erwachsenen Jungen.
Das ist sozusagen der allgemeine Teil, der das erwachende
und erstarkende Leben auf das Gedeihen der „Kinder" an-
wendet. Im speziellen nimmt man dann unzählige Zauber-
handlungen mit einem jungen Kinde des „Sohnes" vor, die
wiederum wie bei der ganzen vorhergehenden Zeremonie so
recht zeigen, daß jeder Gegenstand ein wirkungsvolles Abbild
einer höheren in der Natur vorkommenden Substanz ist, oder
daß ein Analogiezauber den gewünschten Erfolg der Vermehrung
und Erstarkung bringen soU. Obszönes kommt übrigens gar
nicht dabei vor, was möglicherweise mit der Zeit der fort-
schreitenden Zivilisation verloren gegangen ist. Über dem
Ganzen schwebt der Name von Tirawa, des Vaters aller Dinge,
von dem jeder Segen ausgeht. Bemerkenswert ist noch die
Kraft, die bei den Zeremonien dem Wasser zugeschrieben wird.
Für die Einkleidung der ganzen Zeremonie in die Idee
der Sohnesschaft eines Clans gegenüber dem anderen, die in der
Überreichung von Geschenken und in den Gefühlen eines be-
sonderen Verbundenseins zum Ausdruck kommt, möchte ich
trotzdem nicht einen sozialen Gedanken, sondern einen mythi-
Religionen der Naturvölker 131
sehen, d. h. einen Naturmythus als Ursprung setzen. Dafür
bürgt die Führerschaft der Kornmutter bei der Suche nach
dem Sohn. Vater und Sohn sind die Träger eines Mythus,
aber welches ist er?
Pueblostämme. Die * Reihe der Hopi- Zeremonien ist
durch ein bisher noch nie beschriebenes neuntägiges Fest im
Dorfe Oräibi bereichert worden, das wir wiederum dem Hopi-
kenner H. R. Voth verdanken: „The Oräibi Oäqöl Cere-
mony.'^^ Voth beschränkt sich auf die Darstellung der Auf-
einanderfolge der einzelnen Handlungen, ohne ein Wort der
Bedeutung des Zusammenhangs hinzuzufügen. Ich will daher
nur einzelne Züge hervorheben, die besonders charakteristisch
zu sein scheinen. Das Fest findet alle zwei Jahre Ende
Oktober, Anfang November statt und wird von einer der drei
in Oräibi bestehenden Schwesterschaften, nämlich der Oäqöl-
Gesellschaft, veranstaltet. Natürlich wird auch in diesem Falle
wie bei fast allen Hopifesten mehrfach kundgetan, daß man
Regen und Wachstum dadurch herbeiführen wolle. In der
Mitte des Altars, der am ersten Festtag erbaut wird, ist die
Gestalt des unterirdischen Wachstum- und Feuergottes Müyingwa
mit einer grünenden Maisstaude in der Hand gemalt. Am
fünften Tage um 2 Uhr nachts führte Müyingwa und Nayän-
I gaptümsi, die Göttin aller Arten von Samen, hinter dem Altar
'hervorkommend, einen Tanz auf. Ersterer hielt einen netz-
1 artig überzogenen Ring in der Hand, mit einem Loch in der
j Mitte. Dieser wird „Wassersieb" genannt, weil die Wolken-
jgottheiten durch solche Siebe den Regen herabfallen lassen.
iDazu ist zu bemerken, daß auch bei dieser Feier morgens bei
(Sonnenaufgang der Morgenröte Mehl entgegengeworfen und
die Sonne um Regen angefleht wird, was mit der Auffassung
der Morgenröte als Wasser zusammenhängt. Noch früher, und
zwar am zweiten bis fünften und am achten Tage wurden
^ Field Columhian Museum. Fublication 84. Anthropol Series VI,
Chicago 1903. 46 Seiten u. 28 Tafeln.
132 K. Th. Preuß
Gesänge an die Morgenröte angestimmt. Auch auf den Tanz
von Müyingwa und Nayängaptümsi folgte ein Gesang an die
Morgenröte unter Schwingen der Geräte und Figuren des
Altars, und dann die Anrufung der jungen und ausgewachsenen
Komstauden, ihre Gaben zu bringen. In einem weiteren
Gesänge wurden die Kornähren des Altars als Mütter an-
geredet und aufgefordert, nach dem Sipapu zu gehen, der Erd-
öffnung, aus der die Katschina -Wachstumsdämonen und die
Menschen auf die Erde gekommen sind. Am neunten Tage
ging man nach Gesängen und Gebeten an die Morgenröte die
Mesa herab nach Südosten und Osten, ein Y2 ^ tiefes Loch
mit daranschließendem Graben von einigen Zentimeter Tiefe
wurde gegraben, und dann nach Osten gewendet gesungen:
„Die weiße Morgenröte hat sich erhoben,
Die gelbe Morgenröte hat sich erhoben,
Daß ich Licht ergreifen soll."
Dabei wurde mit der rechten Hand die Gebärde des Greifens
gemacht und schließlich nach Westen gewendet gesungen:
„Der Sipapu hat sich erhoben (ist sichtbar geworden),
Der Sipapu hat sich erhoben (ist sichtbar geworden),
Daß ich Licht ergreifen soll."
Man kann daher mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf schließen,
daß dieses Fest zu denen der Wintersonnenwende gehört, die
das Heraufkommen des Feuers und der Wachstumsdämonen
aus der Unterwelt fördern sollen. Der Sipapu wird in der
Erdmitte gedacht unter den Füßen der Lebenden. Er ist aber
im Grunde mit dem Orte des Sonnenaufgangs identisch. Von
Osten kommen ja auch die Katschina mit der Wintersonnenwende
in die Dörfer. Der Graben aus dem Loch nach Osten bedeutet wohl
den Weg der Wanderung aus der Unterwelt. — Es folgte schließ-
lich das Wettrennen, das Werfen der Oäqölmänas mit den
Pfeilen nach den rollenden genetzten Ringen, das Schleudern der
flachen, runden Körbe (tray) unter die Menge, die sich um sie
Religionen der Naturvölker 133
balgte, und so fort, alles wichtige Momente, über die sich
aber ohne genaueres Material nichts Bestimmtes sagen läßt.
Jesse Walter Fewkes, der verdienstvolle Hopiforscher,
ist auf die gute Idee gekommen, sich von den Hopi alle Ge-
stalten ihrer religiösen Feste farbig zeichnen zu lassen, und
hat sie nun, mit Text versehen, in zahlreichen Tafeln unter
dem Titel „Hopi Kateinas" ^ veröffentlicht. Das gibt eine
treffliche Ergänzung zu seiner Beschreibung der Katschina im
Internationalen Archiv. Auch kommen in der neuen Publi-
kation manche Figuren vor, die in den Kulten nicht mehr
auftreten. Der Text gibt zunächst eine sehr übersichtliche
Darstellung sämtlicher Feste der Hopi, so daß man sich leicht
über alle Figuren orientieren kann.
Die Besprechung von Ole Solbergs schöner Abhandlung
über die Bahos der Hopi im Archiv für Anthropologie 1905
muß ich mir für den nächsten Bericht aufsparen.
Mexiko und Zentralamerika.
E. Seier hat uns wiederum mit einem auf Kosten des
Herzogs von Loubat^ gedruckten Kommentar zu einer mexi-
kanischen Bilderschrift erfreut, und zwar zu den ersten
28 Blättern des Codex Borgia^, der in derselben Weise be-
handelt ist wie seine früheren Kommentare. Da weitaus die
i meisten Blätter bereits als Parallelstellen in den anderen
i Codices vorkommen, so haben wir es im wesentlichen mit
I Wiederholungen früherer Beschreibungen der Figuren zu tun.
Eine etwas andere Auffassung hat hier Seier z. B. bezüglich der
j Figuren über den fünfgliedrigen Säulen des Tonalamatls. Er
I meint, daß sie in ihrer Bedeutung mehr die Anfangszeichen
ider Säule zum Ausdruck bringen. Doch lassen sich fast stets,
iwenn man danach sucht, irgendwelche Beziehungen mexi-
kanischer Figuren zu Tageszeichen aufweisen. Die Unterwelts-
i * 21 8t Annual Beport of the Bureau of American Ethnology,
; Washington 1903, S. 1—126. * Berlin 1904. IV u, 363 Seiten.
134 K. Th. Preuß
göttin Itzpapalotl will er mit den Ciuateteo und mit der Erd-
göttin Ilamatecutli identifizieren, für deren Jahresfest Tititl er
einiges neues Material aus Sahaguns noch unveröffentlicliten
aztekischen Originalmanuskripten beibringt. Die Verwandt-
scbaft zwischen diesen Gottheiten ist sehr wohl möglich, nur
liegt sie nicht in ihrer Eigenschaft als Prototyp der Ge-
opferten, sondern in ihrer Natur als Sterne, die des Morgens
von der Sonne verschlungen werden. Der Verf. macht auch
einen richtigen Anlauf in der Erklärung Xolotls, der als
Hund gestaltet die Sonne in die Unterwelt trägt, wie der
Hund überhaupt die Toten über den neunfachen Strom der
Unterwelt führt. Die Identifizierung des mißgestalteten Xolotl
mit dem Sonnengott Nanauatzin, dem „armen Syphilis-
kranken^', ist zwar nicht angängig, da die Krankheit der
beiden ganz verschiedenartig ist, aber dadurch, daß sie sich
ins Feuer (der Morgenröte) stürzen und zur Sonne empor-
steigen, ist ihre Ideenverwandtschaft gegeben. Xolotl ist
meines Erachtens einfach die in der Unterwelt als mißgestaltet
angesehene Sonne, wie z. B. der Sonnensohn der Tschiroki die
Skrofeln hat. Erst wenn er wie Xolotl im Kochtopf gekocht
ist, d. h. durch das Meer der Morgenröte hindurchgegangen ist,
verliert er sie und wird zur strahlenden Sonne. Noch nicht
beschrieben ist bisher Blatt 17: Tageszeichen und Körperteile,
Blatt 18 — 21: die sechs Weltgegenden, Blatt 22 — 24: eine andere
Reihe von 20 Gottheiten, und die Blätter 26 und 28. Die
Reihe der 20 Gottheiten vergleicht der Verf. den zweimal auf
den Blättern 46 — 50 der Dresdner Mayahandschrift links zur
Anschauung gebrachten 20 Hieroglyphen von Gottheiten und
glaubt Analogien zwischen einzelnen in der Reihe entsprechen-
den zu finden.
Eine Abhandlung „Über Steinkisten, Tepetlacalli,
mit Opferdarstellungen und andere ähnliche Monu-
mente"^ widmet Seier der Stütze seiner Theorie, daß die
1 Zeitschr. f. Ethnologie XXXVI, 1904, S. 244—290.
Religionen der Naturvölker 135
Mexikaner die Anschauung gehabt hätten, die Geopferten gehen
zur Sonne und haben ein ganz anderes Schicksal als die Toten.
Auf diesen Steinkisten sind besonders häufig die vier Seiten
mit Reliefs versehen, die man ihrem Inhalte nach den vier
Himmelsrichtungen zuweisen kann. Und dann ergibt sich,
daß eine Darstellung mit dem charakteristischen Totenschmuck
häufig auf der Ostseite angebracht ist. Seier meint nun, der
Totenschmuck gebühre nur den geopferten Kriegern oder den
Königen, stellt sich aber damit in Widerspruch mit der direkten
Angabe des Codex Magliabecchiano XIII, 3 S. 71, 2 zu dem Bilde
eines Mumienbündels und mit der Darstellung des Schmuckes im
Codex Borbonicus S. 10, während nur eine einzige Abbildung
des Schmuckes sich auf den toten Krieger bezieht. Die „Stern-
gesichtsbemalung" kommt aber ebensogut den Toten schlechtweg
zu, weil diese nach ihrem Tode zu Sternen werden, indem sie
durch die Unterwelt nach Osten gehen und dort des Abends
als Sterne emporsteigen. Als Sterne werden sie dann täglich
von der Sonne geopfert, wenn sie sie mit ihrem strahlenden
Lichte verschlingt. So ist es verständlich, daß derselbe Toten-
schmuck und die „Sterngesichtsbemalung" sowohl bei den ge-
opferten Kriegern wie bei den Toten zu finden ist, und daß
die Reliefdarstellung des Schmuckes auf den Kisten und auf
einigen anderen Monumenten dem Osten, dem Geburtsort der
Sterne, und der Stätte ihres Todes zugewiesen wird. Auf die
Gleichheit des Schicksals der Toten und der geopferten Krieger
hätte den Verf. auch schon der dem betreffenden Schmuck
beigegebene Hund führen müssen, von dem bekannt ist, daß
er die Toten — und also auch die geopferten Krieger — über
den neunfachen Strom der Unterwelt (chiconauhapan) führt.
In einer weiteren Abhandlung „Die holzgeschnitzte
Pauke von Malinalco und das Zeichen atl-tlächinolli^'^
geht Sei er wiederum auf den Opfertod der Krieger und das
^ Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien XXXIV,
1904, S. 222—274.
136 K. Th. Preuß
Zeichen des Krieges atl tlachinolli ein, indem er zugleich eine
Pauke (ueuetl) im Museum von Toluca beschreibt, die neben
der Hieroglyphe der Sonne naui olin, den Darstellungen der
geopferten Krieger als Adler und Jaguar und dem Gotte der
Musik Macuilxochitl auch die Hieroglyphe des Krieges mehr-
fach in schöner Reliefschnitzerei aufweist. Hier ist es zunächst
mit Freude zu begrüßen, daß Seier von seiner rein sprach-
lichen Erklärung der Hieroglyphe atl tlachinolli, nämlich des
atl „Wasser", als Ableitung („das Schießende") von einem nicht
nachzuweisenden Verbum „a, schießen" und des tlachinolli
(des Verbrannten) als Verbrennens der Felder zurückgekommen
ist. Hoffentlich wird nach diesem gescheiterten Versuche der
phonetischen Deutung einer Hieroglyphe in den mythologischen
Bilderschriften überhaupt anerkannt werden, daß wir es hier
nur mit ideellen Zeichen zu tun haben, in denen der Sinn
genau mit dem dargestellten Objekt übereinstimmt. Der Verf.
sieht denn jetzt unter anderem in den Darstellungen von atl
tlachinolli das Zeichen cuitlatl „Exkremente" und sagt ganz
richtig, daß es Exkremente des Feuergottes sind, die seine
feurige Waffe bilden. Das ist auch meine Meinung (vgl.
meinen Hinweis darauf Globus LXXXVI, 1904, S. 115, 118).
Nur ist es ihm nicht gelungen, zu erklären, weshalb der Kot
zugleich Sünde bedeutet (vgl. darüber meine Abhandlung
Globus LXXXVII, S. 356) und weshalb das atl (Wasser) in
der Phrase und Hieroglyphe vorkommt. Er denkt an atl
tepetl (= Wasser Berg) für „Dorf" und meint, daß atl allein
als „Dorf" gelten könne, so daß atl tlachinolli das verbrannte
Dorf bedeuten müßte.
Angesichts von Seiers nochmaliger langer Erörterung aller
mit dem Zeichen atl tlachinolli in Verbindung stehenden
Dinge, die uns einen entscheidenden Portschritt nicht bringen,
ist es wirklich zu bedauern, daß ihm das Hineinragen himm-
lischer Anschauungen in den Kult, in alle religiösen Auf-
fassungen und in die Bilderschriften so fern gelegen hat. Die
Religionen der Naturvölker 137
Kenntnis der mexikanischen Idee, die Morgenröte als Wasser
und Feuer aufzufassen, hätte ihm viel Mühe erspart. Mit
Wasser und Feuer vernichtet die Sonne des Morgens die
Sterne, sie opfert und verschlingt sie. Daher werden auch die
menschlichen Opfer als Speise der Sonne aufgefaßt, und da
besonders die gefangenen Krieger den Opfertod erleiden, so
werden sie in besondere Beziehungen zur Sonne gesetzt. Seier
dreht nun den Sachverhalt vollkommen um und sucht von der
Tatsache aus, daß manchmal die Gefangenen ins Feuer geopfert
wurden, den Feuergott Xocotl selbst und sein Fest Xocotluetzi,
an dem das auch geschieht, als Seele der geopferten Krieger
bzw. als Kriegerseelenfest zu erklären, indem er so die Natur-
bedeutung des kurz nach der Sommersonnenwende gefeierten
Festes ganz ignoriert. Daß dieses „ins Feuer opfern" be-
kanntlich eben nur den Feuergöttem gegenüber statthat, daß
Sahagun das Fest Xocotluetzi dem alten Feuergott Xiuhtecutli
gewidmet sein läßt und Xocotl von der zuverlässigen Historia
de los Mexicanos por sus pinturas (Codex 10) als „das Feuer"
bezeichnet wird, stört ihn nicht im geringsten. In Wahrheit
bedeutet das betreffende Fest der Sommersonnenwende die
Verwandlung der Feuergötter und der Seelen der Verstorbenen,
die während des Sommers als allerhand „Sonnentiere" auf der
Erde weilten, in das Licht der Sterne. Als solche werden sie
I täglich von der Sonne geopfert, und darauf bezieht sich das
jLied Otontecutli-Xocotls, das dementsprechend in den ent-
i scheidenden Versen vom Verfasser nicht richtig übersetzt
jwird.
j Die notwendige Grundlage für diese Anschauungen, die
jin allen Kulten, Mythen und Bilderschriften der Mexikaner
ieine wichtige Rolle spielen, habe ich in meiner kleinen Schrift
niedergelegt: „Der Kampf der Sonne mit den Sternen in
I Mexiko."^ Hier wird namentlich der Nachweis aus den
* ^lohus LXXXVII, 1995, S. 136—140.
138 K. Th. Preuß
Mythen und Bilderscliriften erbracht, daß die Morgenröte als
Wasser oder als Wasser und Feuer, als Federschlange
(Quetzalcouatl) oder als Federfeuerschlange (Quetzalziuhcoatl)
aufgefaßt wird, daß die Sonne die Sterne beim Aufgehen tötet
und opfert, und daß die Toten und Götter zugleich die Sterne
sind. Diese Ideen werden dann kurz auf das Frühlingsfest
Tlacaxipeualiztli, auf das Fest der Sommersonnenwende
Xocotluetzi und das Fest der Wintersonnenwende Tititl an-
gewandt. Die Bedeutung des Frühlingsfestes und der Morgen-
röte im Frühling habe ich in der schon im allgemeinen Teil
besprochenen Arbeit „Der Einfluß der Natur auf die
Religion in Mexiko und den Vereinigten Staaten"
weiter ausgeführt und auf die Flutsagen und verwandte Er-
scheinungen ausgedehnt.
Die Idee, daß die Sonne die Sterne opfert, könnte be-
sonders für das Frühjahrsfest, wo die Sterne des Winters
überwunden werden, Menschenopfer als Analogiezauber für den
himmlischen Vorgang ins Leben gerufen haben. Die Menschen
sterben dann als Sterne. Ahnliches könnte mehr oder weniger
auch sonst der FaU sein, wenn bei Abschnitten des Jahres
oder Perioden der Vegetation Menschen in Vertretung von
Naturobjekten, d. h. von Göttern, geopfert werden. In Mexiko
ist nun tatsächlich das Menschenopfer stets ein Opfer der
Gottheit, und selbst in den wenigen Fällen, wo es nicht strikt
nachgewiesen werden kann, ist derartiges anzunehmen. Immer-
hin findet das Menschenopfer durchaus nicht auf diese Weise
allein seine Erklärung. Durch die Tötung werden Zauber-
wirkungen hervorgerufen, ebenso wie durch bloßes Blutlassen,
die je nach dem zu tötenden Objekt, Mensch oder Tier, und
nach dem zu erzielenden Ergebnis sehr verschieden sein können.
Der einen Wurzel habe ich in der Arbeit „Der Ursprung
der Menschenopfer in Mexiko"^ nachzugehen versucht.
1 Globus LXXXVI, 1904, S. 108—119.
Religionen der Naturvölker 139
Zunächst stelle ich fest, daß bei gewissen Jahresabschnitten,
z. B. im Mai beim Zenitstand der Sonne (Fest toxcatl usw.),
am Xocotluetzi-Fest bei der Sommersonnenwende, bei der
Herbstgleiche (Fest quecholli), im Januar am Fest izcalli usf.,
die Sonnen- und Feuergötter selbst geopfert werden, was bisher
noch nie von den Mexikanisten beachtet worden ist, so nahe
es auch lag. Der Schluß bietet sich von selbst, daß durch
den Tod eine Art Erneuung oder Wiedergeburt gemäß der
Auffassung des Naturvorganges beabsichtigt sei. Dasselbe ist
der Fall mit der Tötung von Menschen als Regen- und Vege-
tationsgottheiten, nur sind besonders die Regenfeste, obwohl
zu bestimmten Zeiten des Jahres gefeiert, nicht gut direkt als
Erneuungen von Natur Objekten aufzufassen. Die übergeordnete
Idee sowohl für die Regendämonen wie für die Sonnen- und
Feuergötter muß daher sein, daß ursprünglich der Gott nicht
als Abbild des Naturdinges geopfert ist, sondern daß die Vor-
fahren der mexikanischen Gottheiten, allerhand Tiere des
Feldes, die Fähigkeit besaßen. Wind, Regen, Sonnenschein usw.
hervorzubringen, und daß ihre Tötung diese Eigenschaften
durch Öffnung des ^Körpers in erhöhtem Maße frei werden
ließ. Ein erheblicher Teil der Arbeit ist daher dem Nachweis
gewidmet, welche Tiere als Vorläufer der mexikanischen Gott-
heiten anzusehen sind, inwiefern sie mit ihnen identifiziert
werden und wie die Tötung der betreffenden Tiere noch später
dem Menschenopfer parallel geht. Allgemeiner ist dann die
Idee in Kapitel 1 meiner oben besprochenen Arbeit „Ursprung
der Religion und Kunst" ausgeführt. — Freilich wie überall
so ist auch hier gerade die Grenze schwer zu ziehen, wie weit
der ursprünglich an die naheliegenden Objekte geknüpfte
Zauberglaube und wie weit die himmlische Bezugnahme sich
erstreckt. Das ist sowohl im Kult wie im Mythus oft schwer
zu unterscheiden.
Ich habe nun noch Eduard Seiers „Gesammelte Ab-
handlungen zur amerikanischen Sprach- und Alter-
140 K. Th. Preuß
tum s künde, Bd. III" ^, zu erwälmeii, der ein reiches Material
für unsere Zwecke enthält. Der Band ist in die Gruppen:
1. Zur Geschichte und Volkskunde Mexikos, 2. Reisewege und
Ruinen, 3. Archäologisches aus Mexiko, 4. die religiösen Ge-
sänge der alten Mexikaner gegliedert. Aber nur Nr. 4 davon
ist neu. Diese äußerst wichtigen, aus den aztekischen Sahagun-
manuskripten stammenden Lieder sind hier zum erstenmal im
Zusammenhang übersetzt, und die Übersetzung ist durch Noten
gerechtfertigt. Wir sind dadurch ein erhebliches Stück vor-
wärts gekommen, da nun jedem das Eindringen erleichtert ist.
Freilich ist nicht zu verlangen, daß selbst eine mit allem
Rüstzeug unternommene wortgetreue Übersetzung in aUen
Fällen Irrtümer und zusammenhanglose Sätze vermeidet, und
sellbstverständlich kommen auch größere oder geringere Ge-
waltsamkeiten vor, um einen Sinn hineinzubringen. Nur Schritt
für Schritt kann mit dem wachsenden Verständnis festes Land
gewonnen werden. Ich führe nur die Gesänge Xiuhtecutlis,
Teteoinnans, Otontecutlis, des Atamalqualiztli- Festes, Xipes,
Chicomecoatls und der Totochtin an, in denen ich anderer
Übersetzung und Auffassung nachgegangen bin. Seiers Ver-
dienste werden dadurch natürlich in keiner Weise geschmälert.
Südamerika.
Die Ausbeute ist natürlich wie immer gering. Ehren-
reichs „Mythen und Legenden der südamerikanischen
Urvölker", ein weißer Rabe unter den völkerkundlichen Ab-
handlungen Südamerikas, habe ich schon im allgemeinen Teil
erwähnt. Hier möchte ich nun noch eine Arbeit von Adolph
F. Bandelier, „Aboriginal Myths and Traditions Con-
cerning the Island of Titicaca, Bolivien"^ berühren.
Der Verf bringt zuerst ein paar Mitteilungen von seiten der
heutigen Bewohner der Insel, die er bei seinem dortigen Auf-
1 Berlin 1904. XXXVI und 1107 Seiten.
* The American Anthropologist N. S. 1904, S. 197—239.
Religionen der Naturvölker 141
enthalt gesammelt hat, und schließt daran Auszüge aus den
peruanischen Quellen, über die er besonnene Urteile abgibt.
Den Inhalt beutet er freilich nur in historischer Hinsicht aus,
während meines Erachtens nicht der geringste historische Kern
darin steckt, sondern alles als reine Naturanschauung zu er-
klären ist. Ich skizziere nur weniges. — Noch heute wird
auf der Titicaca- Insel erzählt: die Sonne stieg zuerst vom
heiligen Fels oder Titi-kala in Gestalt einer starken Flamme
auf. Sie wurde von einer Frau Mana-OzUia geboren, die auch
die Mutter Manco Capacs, des ersten Inkaherrschers, war. In
alten Zeiten wurde die Insel von Herren bewohnt, ähnlich den
Viracochas, ein Name, den die heutigen Bewohner den Weißen
geben (die Weißen sind die Sterne). Sie hatten Verkehr mit
Weibern. Die Kinder, die daraus hervorgingen, wurden in
Höhlen untergebracht. Sie wurden die Inka, vertrieben die
Herren und behielten die Insel in ihrem Besitz (die Inka sind
die Vertreter der Sonne und zugleich die Söhne der Weißen,
der Sterne, aus denen sie sich im Frühjahr, aus dem Erd-
innern hervorkommend, in die Sonne umwandeln und die
Sterne besiegen, vgl. meinen Aufsatz in Ilbergs Jahrbüchern).
— Juan de Betanzos berichtet: Als alles Nacht im Lande
war, kam aus einer Lagune in Peru, wo heute in der Nähe
ein Dorf Tiaguanaco (am Titicacasee) steht, ein Häuptling mit
einigen Leuten, den sie Con Tici Viracocha (die Sonne) nannten.
Er machte die Sonne und den Tag, die Sterne und den Mond.
Vorher schon hatte er Himmel und Erde und ein Volk er-
schaffen, das er in Dunkelheit zurückließ (die Sterne). Diese
erzürnten ihn (wie stets die Sterne die Sonne erzürnen, um
ihre Vernichtung durch diese zu erklären). Er kam wieder
heraus und verwandelte sie in Steine. Viracocha machte nun
Menschen aus Steinen, die er mit dem und dem Volksnamen
benannte und in die betreffenden Provinzen verstreuen ließ.
Einige sollten aus Quellen, andere aus Flüssen, Höhlen imd
Anhöhen kommen (analog dem Heraufkommen der Sonne aus
142 K- Th. Preuß Religionen der Naturvölker
der Erde — die Quellen und Flüsse entsprechen dem Wasser
der Morgenröte). Bei Paucaritambo kamen aus einer Höhle
vier Männer mit ihren Frauen. Einer von ihnen hieß Ayar
Mango, nachher Manco Capac. Er ließ sich bei Cuzco nieder
und wurde der Stammvater der Inka. — Nach Cieza de Leon
kam einer der bedeutendsten Häuptlinge der Kolla (die Sonne)
nach der Lagune von Titicaca (dem Wasser der Morgenröte)
und traf auf der Hauptinsel weiße Menschen (Sterne) mit
Barten (Strahlen) an. Er kämpfte mit ihnen und tötete sie
alle. Dieser Autor sagt auch: die Sonne kam von der Insel
Titicaca (aus dem Meer der Morgenröte) in großer Pracht. —
Zaräte berichtet, die Indianer von Peru hatten Häuptlinge,
aber keine Häuptlinge für das ganze Land, bis aus der Rich-
tung der Kolla von der Lagune Titicaca (dem Meer der
Morgenröte) ein kriegerisches Volk, die Inka (die Sonne)
kamen. Der oberste von ihnen hieß Zapalla Inka, „der einzige
Häuptling". Einige sagen, daß er Viracocha (wie der Sonnen-
gott) hieß. Das bedeutet „Schaum oder Fett der See". Denn
da man nicht wußte, von welchem Lande er kam, so bildete
man sich ein, daß er seinen Ursprung in der Lagune (dem
Meer der Morgenröte) habe. Diese Inka gründeten die Stadt
Cuzco.
Man sieht, daß die Inka nicht historisch mit dem Titicaca-
see zu tun haben, sondern lediglich als Abkömmlinge der
Sonne, die aus diesem im Osten gelegenen See als dem Wasser
der Morgenröte herauskam.
III Mitteilungen und Hinweise
Diese verschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesern hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und besonders
neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke und Nach-
weise oder auch anregender Fragen würde sich zwischen den ver-
schiedenen religionsgeschichtlichen Forschern hier u. E. entwickeln können,
wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung widmen würden. ^
Die Symbolik des Salbens bei den Ägyptern. Wellhausen
hat im 7. Bande dieser Zeitschrift (S. 33 ff.) die Frage nach dem
Sinn der hebräischen Königssalbung angeregt und insbesondere
danach geforscht, welche Bedeutung das Öl bei dieser Handlung
gehabt habe. Wellhausens Schlußfolgerung, daß die Symbolik
des Öls bei der Königssalbung aus semitischen Anschauungen nicht
'ZU erklären sei, scheint mir auch durch die letzten Ausführungen
von Völlers (Archiv VIII, S. 97 ff.) nicht erschüttert zu sein, und
daher darf man nach wie vor mit Wellhausen an die Weisheit
Ägyptens appellieren.
Eine endgültige Lösung der Frage enthalten auch die folgenden
Ausführungen nicht. Dazu sind sie zu unvollständig. Aber ich glaube,
Idaß dieser erste Versuch, der Frage nachzugehen, nicht ohne
I Nutzen ist, und hoffe vor allen Dingen, daß ich damit andere
lAgyptologen zu weiterem Eingehen auf diesen Streitpunkt anregen
werde.
Soviel ich weiß, gibt es keine Stelle^, welche für das alte
Ägypten die Königssalbung beweist. Aber daraus möchte ich
^ Sog. Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig enthalten als
sie „Berichte" ersetzen soll. Über die Zeitschriftenschau, die dem Archiv
besonders beigegeben werden kann, siehe die Mitteilung Band VIT, S. 280.
* Die Darstellung in den bislang bekannt gewordenen Fragmenten
4es Sd- Festes im Abusir (Äg. Zeitschrift 37 Tafel I Nr. 1) ist leider in-
sofern unklar, als nicht zu entscheiden ist, ob eine Waschung oder eine
i Ölung des Fußes dargestellt ist.
144 Mitteilungen und Hinweise
nicht den Schluß ziehen, daß diese Zeremonie der Königsweihe in
Ägypten unbekannt war. Entweder fehlen uns zufällig die be-
treffenden Texte oder — was mir sehr viel wahrscheinlicher ist — wir
verstehen die term. technici nicht, aus denen der Brauch erschlossen
werden könnte.
Dieser wird nun aber in den Amamabriefen erwähnt (Nr. 37
ed. Winckler), wo der Pharao einen palästinensischen Kleinfürsten
einsetzt, indem er „Öl auf sein Haupt gießt" \ und weiter ist
mehrfach^ in ägyptischen Texten „für jemanden ein Amt salben"
der Ausdruck für die Einsetzung in ein Amt. So sagt ein hoher
Beamter des mittleren Reiches (um 1800 v. Chr.), der Ämter zu
vergeben hatte, „ich war es, der die Ämter salbte (tvrh) im
Hause des Fürsten" (Stele Florenz 1774).
Nun haben im Ägyptischen die Wörter für „ölen, salben"
(hok, shoh, nd, ^nd) die übertragene Bedeutung „schützen". Daraus
darf man mit großer Wahrscheinlichkeit, was die Symbolik des
Öls anlangt, den Schluß ziehen, daß nach ägyptischer Anschauung
das Öl ein Schutzmittel sein sollte. Es sollte den so Gesalbten
gegen Gefahren schützen, mochten sie ihm von Menschen oder
Dämonen drohen.^ Die Königssalbung war also von ägyptischem
Standpunkt aus eine Zeremonie, die den König sakrosankt machte.
Ob durch das Bestreichen mit Öl auch der Zustand des Tabu
geschaffen wurde, darüber läßt sich zurzeit nichts sagen.
Noch möchte ich kurz den Kultbrauch des Salbens von
Statuen erwähnen.* Man könnte daran denken, daß auch hier
das öl die Statuen schützen soll, aber es ist ebensowohl möglich,
daß in diesem Fall die Salbung zur Toilette des Gottes gehört.^
W. Spiegelberg
Der Ausdruck „auf die Erde legen" = „gebären" im
Ägyptischen. Der Ausdruck „auf die Erde legen "^ ist auch
^ Es wäre freilich denkbar, daß der Pharao dabei einen syrischen
Brauch übernommen hätte, aber die folgenden Ausführungen sprechen
stark zugunsten der obigen Ansicht.
^ Vgl. dazu und zum folgenden einem demnächst im Becueil de
travaux relatifs ä la phil. egypt. .1906 (Varia) erscheinenden Aufsatz über
„Die Symbolik des Salbens im Ägyptischen".
* Auch in der Magie spielte das Öl eine Rolle. Vgl. Erman Be-
ligion der Ägypter S. 156.
* Sphinx VI, 28; Ägypt. Urkunden 11, 47. — Noch in römischer Zeit
Erman Beligion S. 222.
^ Vgl. Moret Bituel du culte divin S. 190 flF.
^ dj.i e t5 wörtlich „auf die Erde geben". Daß so zu übersetzen
ist, nicht etwa „auf die Welt bringen" (Brugsch), ergibt sich mit Sicher-
heit aus der entsprechenden Wendung Urk. IV 9, 6.
Mitteilungen und Hinweise 145
ägyptisch aus dem hieratisch -demotischen Papyrus Rhind II, 1, 9\
im Sinne von „gebären" zu belegen. Der demotische Text, welcher
den in klassischer Sprache gehaltenen hieratischen meist vulgär
übersetzt, überträgt den obigen Ausdruck durch ms „gebären",
stellt also den Sinn der Wendung „auf die Erde legen" außer
Zweifel.2
Ich möchte im Anschluß daran noch darauf hinweisen, daß
in Ägypten die Niederkunft sich so vollzog, daß die Gebärende
auf zwei Ziegelsteinen, also fast auf der Erde saß.^
W, Spiegelberg
In seiner zweiten Satire Von der rechten Art zu beten' schildert
Persius v. 31 ff. einen Brauch der römischen Kinderstube:
Ecce avia aut metuens divum matertera cunis
exemit puerum, frontemque atque uda lahella
infami digito et lustralihus ante salivis
expiat, urentis oculos inhibere perita.
tunc manihus quatit et spem macram suppUce voto 35 •
nunc Licini in campos, nunc Crassi mittit in aedis:
'hunc optet generum rex et regina, puellae
hunc rapiant; quidquid cdlcaverit hie, rosa fiat\
Die römische Kinderstube und ihr volkstümliches Wesen ist
uns in neuester Zeit nahegebracht worden durch einen Aufsatz von
W. Heraeus (Arch. f. lat.Lexikogr. und Gram. XIII, 1903/4 S.149ff.);
wenn F. Buecheler im Kolleg die Stelle behandelt, gibt er zahl-
reiche Belege für die Sprache des Volkes, die aus dem Wunsche
der Großmutter oder Tante zu uns redet. Hier sei es gestattet,
zu dem Brauche, den die Frauen ausüben, eine merkwürdige
Parallele beizubringen. In seinen wichtigen Abhandlungen zum
'Ursprung der Religion und Kunst' berichtet K. Th. Preuß nach
Theophil Hahn (Globus XII S. 278) von folgender Gewohnheit der
Hottentottenmütter (Globus 1904 S. 377): 'Diese singen, während
sie ihr Baby auf dem Schöße halten, ein improvisiertes Lied, das
die künftigen Heldentaten ihres Sprößlings behandelt, und dabei
streicheln und küssen sie die Gliedmaßen, die für die Ausführung
der Leistungen in Frage kommen. Nur die Geschlechtsteile werden
nicht geküßt, sondern nur die Finger, mit denen sie berührt
werden. Der Kuß ist also an die Stelle des Anpustens oder An-
spuckens getreten, wodurch der betreffenden Person oder dem
Gliede Gedeihen mitgeteilt werden soll. Auch das dabei gesungene
^ Aus der Zeit des Kaiser Augustus.
^ Weitere Beispiele bei Brngsch Wörterbuch IV, 1610.
^ Siehe dazu Spiegelberg Ägyptölog. Bandglossen zum alten Testa-
ment S. 19 ff.
Archiv f. Keligionswissenschaft IX 10
146 Mitteilungen und Hinweise
Lied (abgedruckt Globus 1905 S. 397) müssen wir als ein Zauber-
lied auffassen.'
Über den Zusammenhang mit dem Glauben an die Zauberkraft
der Exkremente — der uns manches verständlich macht, was Epi-
phanius von gnostischen Riten berichtet — muß man sich bei Preuß
selbst unterrichten. Der römische Brauch ist bereits abgeblaßt,
und rationalistisch umgedeutet (urentis oculos inhibere perita). Daß
die Berührung den einzelnen Gliedern Segen bringen solle, hat
aber noch der Scholiast gewußt, der anführt, u. a. solle dadurch
eloquium erzielt werden: das ist auf das Bestreichen der lahella
V. 32 zu beziehen. Das Berühren der Stirn soll offenbar Verstand
verleihen. R. "Wünsch
In seinem Moq 'EIXtjvo^vi^^cdv 11 (1905), S. 180 — 186 ver-
öffentlicht Sp. L ambro s zwei Partien aus Berichten über den Be-
such des Kaisers Manuel Palaiologos im Peloponnes 1415/16. Es
werden darin die barbarischen Sitten der Mainoten geschildert,
deren Grausamkeiten durch diese Reise des Kaisers ein Ende ge-
macht worden sei. Ein Fortleben des antiken ^aaiaXiö^iog sieht
der Herausgeber in einem scheußlichen Brauch, der in beiden Berichten
erwähnt wird: In dem Brief des Mönchs Isidor tü5 ßaöiXet kvq
MccvovrjX (Cod. Vatic. Graec. 914) heißt es: ovö^ exi ^sta zriv
öcpayr^v öccKtvXov t) ^slog sreQOv cc7fo%6tpag rov %eLfievov, xovxo tcocq^c
tbv Ttorov ty kvXlkl ßccTtrcov TtQOTtlvEL Totg (piloig^ xovxo 6r} xh
SKSLvoig TtdXccL cptXov %al avvrjd'eg. Joannes Argyropulos schreibt in
der UvyKQLöLg itaXaL&v aQiovxcov %al veov, xov vvv ccvxoKQccxoQog
(Cod. Paris. 817): xb 6e ^ei^ov %al o ^ride naQccßdXXsöd-ccL xoig
TtQOXEQOLg av övvaixo^ 6}g ßqayvxaxa ^SQrj xexeXsvxrjKoxav ccvaxs(i6vxeg
Cco(iccxcov, %ca xccQL%ev6avxeg^ ecpSQOv kccI itoxotg rj otpOLg ßccTtxovxsg
TtQOXEQOv, TteQL xcc 6v^it6(5La %al xccg Evcopccg rjöscog TtQayficcxevofisvot
ÖLaxsXovöLv. Doch vgl. Wuttke, Volksaberglaube ^ § 190.
H. Hepding, Pergamon
Perdrizet veröffentlicht in den Comptes rendus de Tacad. des
inscr. 1903 p. 62 — 66 das Inschriftfragment einer kleinen Marmor-
basis aus Antiochien, enthaltend den Schluß eines Orakelverses
des Alexander von Abonoteichos und die 7 Vokale: [0otßog
aTiEQGexo^rjg Xol^^ov vsjcpEXrjv ccTtSQVKSL. AGHIOYQ. Vgl. Lukian
Alex. 36 und denselben Vers bei Mart. Cap. I 18.
L. Deubner
In den Comptes rendus de Tacad. des inscr. 1905, 14&ff.
veröffentlicht Cumont eine aus dem Mithraeum von Emerita
(Spanien) stammende Statue des schlangenumwundenen Kronos.
Mitteilungen und Hinweise 147
Kopf und Arme fehlen, das Löwenhaupt ist durch eine Löwenmaske
auf der Brust ersetzt, wie auf einem Eelief in Modena. Aus dem-
selben Heiligtum stammt eine Inschrift, in der unter anderem eine
ara genesis erwähnt wird: dies eine bemerkenswerte Neuheit.
[Man lese den Anfang der Mithrasliturgie rivsacg 7tq6tri trjg ififig
ysviöeoagy s. meine Mithraslit, S. 2. A. D.] L, Deubner
OvXog ovsLQog. Über die Schwierigkeit, die in den Hias-
stellen 5 6, 8, 22 die Übersetzung „ünglückstraum", „verderb-
licher" oder auch „täuschender Traum" macht, namentlich in der
Anrede des Zeus an den "OvsLQog v. 8:
ßdöx tO'ij Ovis övsLQS, d-o6cs inl vriccg 'A%ai&v,
kommt man trotz aller Erläuterungs versuche nicht hinweg. Zwar
ist dieser ''OvBLqog nicht der Traumgott, der selbst über gute und
böse Träume verfügt, er ist aber göttlicher Bote des Zeus (v. 26
Jiog de toi, ayyslog eI^l^ v. 56 &eiog oveiQog), Zeus sendet ihn
und trägt ihm auf, was er will (A 63 %ccl yaQ t ovaq i% Aiog
iavLv). Daß er den Boten, der nach der Vorstellung im B stets
in seiner Umgebung zur Verfügung ist, anrede „verderblicher
Traum", weil er ihm dann aufträgt, dem Agamemnon etwas zu
sagen, was diesem' Verderben bringt, ist ebenso unmöglich als die
Vorstellung, daß die verschiedenen Träume, die glückbringenden
und die verderbenbringenden, als ayyeloi zur Verfügung des Zeus
stünden, aus denen er hier einen oder den „verderbenbringenden"
herbeirufe.^ Mit dem orphischen Hymnus 86, der beginnt
xtxX^öxo) (Je, fiaxap, tavvöi'jttSQE, ovXs "Ovslqs,
äyysXs ^eIXovtov, d'vrirotg %Qri6^a> 8h /x^ytörs,
I konnte man nur fertig werden, wenn man von „verständnisloser"
Anlehnung an Homer sprach. Verbanden die Dichter und die
Hörer gar keinen Sinn mit o'uAg? „Verderblich" wäre hier jedenfalls
ganz unsinnig.
So sicher ovlog an anderen Stellen diese Bedeutung hat
((P 536, E 717), so ausgeschlossen ist sie hier. Mir scheint von
den Bedeutungen, die ovlog haben kann (s. Brugmann Indo-
j ^ Brugmann will den in der Tat anstößigen Hiat olXs ovslqs da-
durch beseitigen, daß er o^Xl övslqb in diesen Vers einsetzt. Das ist
I schon darum unwahrscheinlich, weil davor und danach das formelhafte
I o^Xov övsiQoVf ovXog övsiQog steht. Auf diese Weise ist der Hiat nicht zu
I beseitigen; man müßte zu der Auskunft Wackernagels {Bezzenh. Beitr.
i IV 281) greifen ovXog Övsiqs (wie qjiXog w MsviXas).
]^48 Mitteilungen und Hinweise
germanische Forschungen XI 1900, 266 ff. )^, bleibt nur eine mög-
lich „kraus, lockig". Man weiß, wie die Bewohner des Lichtlandes,
des Sonnenlandes, des Götterlandes, die Seligen, typisch den
Strahlenkranz und auch lockiges Haar haben (Nekyia 3 8 ff.). Noch
die Seligen der Petrusapokalypse haben es (v. 10) tj te yccQ Tio^ri
ccvTc5v ovIt] 7]v. Kennzeichen idealer Schönheit ist es auch bei
Homer ^ 229 ff. %aö 8e %dq'\]xog ovlag rjoie %6^ag (Athene dem
Odysseus, als sie ihm besondere Schönheit verleiht). Die Boten
der Götter bei Traumerscheinungen haben ihre charakteristische
Typik, sie sind als „idealschön" und Boten des Lichtlandes auf-
gefaßt (s. die Zusammenstellungen bei Deubner De incubaüone 12f.).^
Die Vorstellung, die nach Odyssee w 11 f.:
TtocQ 8' l'ßccv 'Sl-Ksavov TS Qocc? xul AsvTidda tcstqtiv
rjdh Ttag r]eXloLo TtvXccg kccI Sri^ov övelqojv
i]L6av
vorhanden war, macht, scheint mir, ovlog „lockig" vom Traum„engel"
besser verständlich. Es ist neben den sonst vorhandenen, so gan«
anderen Vorstellungen von den Träumen (s. r 360 ff. Mutter Erde 60f.)
geradeso möglich, wie der oveiQog bei Zeus im B überhaupt da-
neben möglich ist. Nicht nur als Bewohner des Lichtlandes itaq
rjeUoLO nvlccg, auch als himmlischer Bote und himmlische Er-
scheinung von Zeus ist der „lockige Traumgott" gedacht: eine
offenbar festgewordene Wendung, die sich nur im Anfang des
zweiten Buches der Ilias für uns erhalten hat, dort gleich drei-
mal hintereinander. Albreoht Dieterich
^ Lukian lupp. trag. 40 (Zevg) i^anata xov 'AycciiEfivova övslqov
Ttva ipsvdri iTtiTtEfixpccg beweist nicht einmal, daß Lukian olXov = ipsvdri
verstanden habe. Er erzählt ganz einfach, was Ilias B im Anfang
geschieht, wie es jeder erzählt, ob er nun ovXog so oder so erklärt.
Fick (Die hom. Ilias 79) hat durch eine neue Etymologie (mit lit. pri-
vilti „betrügen") die Bedeutung „täuschend" erlangt, die ja nach der
üblichen Etymologie gar nicht ohne weiteres möglich wäre.
^ Der Hesperos ist bei Kallimachos Hymn. auf Delos 302 ovXog
id'slQccig. Da wirken natürlich auch die Strahlen der Sterne auf die
Vorstellung ein
[Abgeschlossen am 27. Januar 1906.J
I Abhandlungen
Die Schutzgötter Yon Mainz
Von Alfred von Domaszewski in Heidelberg
Von der Religion des römischen Germanien sprechen nur
die Denkmäler. Schwer gelingt es, in diesen rohgestalteten
und in eintöniger Wiederholung fast inhaltslosen Reihen die
scheinbare Einheit, welche die Kultur der Gallier, Germanen
und Römer gewonnen hatte, nach der Eigenart jener Völker
zu scheiden. Die Vorstellung des gleichen religiösen Denkens
wird hervorgerufen durch den gleichmäßigen Ausdruck, den
die Göttergestalten in Wort und Bild gefunden haben. Denn
diese Gestalten hattei allen drei Völkern der ewig in anschau-
lichen Formen schaffende Geist der Griechen gebildet. Nur
wenn es gelingt, den Schleier, den griechische Phantasie um
den fremden Inhalt gewoben hat, zu durchdringen, wird der
Blick in die Tiefe historischen Geschehens eindringen. Bei
richtiger Betrachtung gewährt auch das unscheinbare Denkmal,
dessen Sinn im folgenden enträtselt werden soll, diesen Blick
in den Wandel religiösen Denkens.
Der würfelförmige Stein wurde im Dezember des Jahres
1889 in Mainz bei Kanalarbeiten gefunden. Seine erhaltene
Höhe beträgt 49 cm, wovon 9 cm auf das Gesimse entfallen.
Unten ist der Stein verstümmelt. Breite und Tiefe mißt
35 cm.^
^ Zuerst publiziert und beschrieben von Haug, Westd. Korr.-Bl.
1890, 134 ff. Dann von Gardoz Bev. archeolog. 1890, 1 S. 66 und Taf. 6. 7.
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 11
150 Alfred von Domaszewski
Auf jeder der vier Seiten ist ein göttliclies Paar gebildet,
ein Gott und eine Göttin, die durch die Art, wie die Frau
dem Manne sich zuneigt, innig verbunden erscheinen. Keine
der vier Seiten ist bei der schweren Beschädigung des Denk-
males äußerlich vor den übrigen hervorgehoben. Aber die
Analyse des Gedankens wird lehren, daß die Hauptseite jene
ist, auf welcher Diana neben dem Gotte mit dem Hammer-
szepter steht. Das Verständnis dieser schwierigen Gruppe
dankt man Michaelis.^ Er hat gezeigt, daß dieser gallische
Gott im römischen Germanien den Namen Silvanus führte.
Nach seinem Wesen war er nicht ein Gott der dunkeln, wild-
reichen Jagdgründe, sondern ein Gott des Himmels, dessen
Hammer, wie der des Thor, Blitz und Donner erregte. Die selt-
same römische Gleichung ist nur eine Übersetzung aus dem
Griechischen.^ Silvanus ist an Stelle des Pan getreten, mit
dessen Namen die Massalioten den im Walde an der Ehone
herrschenden Gott der Gallier bezeichneten. Den wahren Namen
des Gottes mit dem Hammer hat uns erst ein Altar aus Saar-
burg kennen gelehrt.^ Er hieß Sucellus und die Göttin, die
ihn begleitet, Nantosvelta. Die Göttin des Saarburger Reliefs
zeigt die Bildung der Himmelskönigin Juno, nur daß das
Szepter eigenartig ein Tempelchen krönt. Deshalb muß es
im hohen Grade befremden, die Göttin auf dem Mainzer Denk-
male und auch sonst neben Sucellus als Diana gebildet zu
sehen. Und doch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß
Nantosvelta den Römern Diana hieß. Auf dem Bruchstück
eines Reliefs, das Nantosvelta darstellt, ist von römischer
Hand auf das Tempelchen des Szepters geschrieben: dea Diana.*
So ist die Deutung des Mainzer Reliefs völlig gesichert. Die
^ Jahrb. der Gesellsch. für lothr. Gesch. und AlteHumskunde 7, 1895
128 — 163.
2 Vgl. meine Untersuchung Phüologus 61 (1902), p. 21flf.
3 C. XIII 4542.
^ C. XIII 4469 aus Kirchnaumen, nahe der Grenze der Mediomatrici
und Treveri, in der Richtung von Metz nach Saarbrücken gefunden.
Die Schutzgötter von Mainz 151
Grottheiten sind, mit ihrem gallisclieii Namen benannt, Sucellus
und Nantosvelta.
Einfach aus dem römischen Gedankenkreise ist das Götter-
paar der rechten Nebenseite erwachsen. Wir sehen rechts den
Genius in seiner typischen, römischen Gestalt das FüUhorn
im linken Arm haltend, mit der Rechten eine Weinspende in
die Flammen eines Altars gießend. Sein Haupt ziert eine
Mauerkrone. Durch dieses Attribut ist er als numen castrorum
bezeichnet.^ Viele der Leben schaffenden Geister des Heeres
tragen diese Symbole und nur die Analyse des Gedankens wird
wieder lehren, daß der Lebensgeist des ganzen Lagers, der Genius
castrorum, dargestellt ist. Die Göttin an seiner Seite ist durch /
Füllhorn und Steuerruder als Fortuna bezeichnet. '
Durch weitgehende Zerstörung ist die Gruppe an der
Eückseite verstümmelt. Der Gott ist an seiner Haltung als
Apollo kenntlich. Ausruhend hat er das rechte Bein über-
geschlagen. Den Kopf stützt er in die Hand des zurück-
gelegten rechten Armes. Das wallende Haupthaar ist von
einer flatternden Tänie zusammengehalten. Die linke Hand
ruhte auf einer, jetzt weggebrochenen, auf dem Boden stehenden
Leier. Die Göttin trägt mit der ausgestreckten linken Hand
ein bauchiges Gefäß, aus ihrer geschlossenen Rechten schlüpft
eine Schlange hervor, deren Kopf über dem Deckel des Ge-
fäßes sichtbar wird. Die Göttin ist Salus. Die Verbindung
des Apollo mit Salus hebt gerade jene Bedeutung des Gottes
hervor, die dem, Apollo benannten, gallischen Gotte zukam.^
Sein gallischer Name ist Grannus; die ihn begleitende Göttin
heißt gallisch Sirona.^ Die Schwierigkeit, gallische Gottheiten
^ Domaszewski Die Beligion des röm. Heeres. S. 95,
* Caesar B. G. 6, 17, 2 Apollinem morbos depellere.
" Zangemeister bemerkt zu C. XIII 5315 Apollini Granno Mogouno
aram — Apollinem Grannum , multis titulis notum (praeter hoc vol. vide in
vol. III. VI. VII), 'salutarem sive medicinalem' aquarum deum faisse inde
patet, quod sociatur Hygiae (III 5873), Nymphis (III 5861), Sironae
(III 5588. VI 36).
11*
152 Alfred von Domaszewski
durch die interpretatio Latina in Wort und Bild wiederzugeben,
zeigt sicli bei Sirona besonders deutlich. Denn auch sie wurde
von den Römern mit Diana geglichen. So wurde an den
Heilquellen von Wiesbaden (Aquae Mattiacae) Sirona verehrt ^,
welche die Römer Diana Mattiaca nannten.^ Ebenso heißt die
Göttin des Bades von Badenweiler im Schwarzwald Diana
Abnoba^, während sonst Abnoba die Göttin des Schwarzwaldes
selbst ist. Als Salus erscheint die Sirona auch an der Heil-
quelle in Faimingen C. III 5873 Apollini Granno et Sanctae
Hygiae.* Wie im Worte, so wird auch im Bilde die Inter-
pretatio nicht festgehalten. Auf einem Steine aus Bittburg ^
trägt sie einen Zweig in der Linken, auf einem anderen aus
Baumburg ^ in der Rechten Ähren, in der Linken eine Traube.
Bei all diesem Schwanken ist es doch nicht zu bezweifeln, daß
das Mainzer Relief Grannus und Sirona, als Apollo und Salus
gebildet, darstellt.
Auf der rechten Nebenseite erscheint ein Gott von jugend-
lich kräftigen Formen, der in der Rechten einen Lorbeerzweig
hält. Auch die Linke hielt, nach der Verstümmelung zu
schließen, ein längliches schmales Attribut. Trotz der argen
Zerstörung des Kopfes erkennt man an der rechten Schläfe
einen dreieckigen, oben leicht gewölbten Fortsatz. Es ist der
Flügel des Petasos, und der Gott ist Mercurius, der in der
Linken das Kerykeion hielt. Der Lorbeerzweig in seiner Rechten
ist der Zweig des Siegers im Kampfspiel. Deshalb krönt ihn
Victoria, die in der Linken die Palme, in der Rechten den
^ C. XIII 7570 Sironae C. lulius Restitutus c(urator) templi d(e)
s(uo) p(osnit).
2 C. XIII 7565 Antonia M . . ia T. Porci Ruf[ia]ni [leg(ati?)]
[l]eg(ionis) XXII pr(iinigeniae) p(iae) fidelis [pro sa]l(ute) Porciae
Rufianae filiae su[ae D]ianae M[a]t[ti]acae voto Signum po8ii[it].
8 C. XIII 5334.
* Zeile 2 ist zu ergänzen [7]at(icimo) deorum ipsorum. Vgl. C. III
S. 1854. ^ C. XIII 4129 (= Hettner cat. n. 48).
ö C. III 5588 (= Hefner Bas röm. Bayern Taf. 3, 15).
Die Schutzgötter von Mainz 153
iKranz mit flatternden Tänien hält. Mercurius ist dargestellt
als 'EQ^TJg dyavLog^, als Schutzgott der Palästra.
Die höhere Einheit, welche die vier Gruppen im Gedanken
verbindet, kann nur aus den historischen Bedingungen be-
griffen werden, die zur Bildung dieser Kulte auf dem Boden
!des römischen Mainz geführt haben. Solche Voraussetzungen
können wir noch gewinnen aus den Inschriften des römischen
'Mainz. Für die eigenartige Organisation des Lagerterritoriums
ist folgender Altar am lehrreichsten. C. XIII 6730 I(ovi)
o(ptimo) m(aximo) Sucaelo et Gen(io) loci pro salute
C(ai) Calpurni Seppiani p(rimi) p(ili) leg(ionis) XXII
pr(imigeniae) p(iae) (fidelis) Trophimus actor [et] Canabari(i)
ex voto. Als Mommsen seine berühmte Abhandlung über die
römischen Lagerstädte schrieb^, war diese Inschrift, sowie
andere Zeugnisse, die über einen Wandel in der Organisation
der Legionsterritorien zur Zeit des Septimius Severus belehrten,
noch unbekannt.^ Nach der ältesten Ordnung durften im
Umkreis des Lagers keine festen Gebäude stehen.* Nur
hölzerne Buden (= canabae) erbauten die Kaufleute, Händler,
Wirte, und unter ihneÄ wohnten auch die Veteranen der Truppe,
die am Orte ihrer langen Dienstzeit den Abend ihres Lebens
verbrachten. Diese Cives Romani ad Canabas consistentes
oder auch Canabenses, Canabarii genannt, besaßen eine halb-
städtische Organisation mit einem Dekurionenrat.^ Die an
der Rückseite des Lagers, an der porta decumana liegenden
^ Preller -Robert Griech. Myth. 1, 415.
2 Mommsen Hermes 7, 1873, 299—326.
^ In Brambach 956=C.XIII 7222 las Mommsen selbst später L.Senilius
Decmanus q(uae8tor), c(urator) c(iviiim) R(omanorum) m(anticnlariorum)
neg(otiatoram) Mog(ontiacensium) nach Analogie von C. XIII 6797, wo
Cives Romani manticulari negotiatores ausgeschrieben ßteht.
* Domaszewski Die Beligion des rö'm. Heeres. S. 100.
^ In Mainz C. XIII n. 6769 ordo civium Romanorum (a. 222—235)
6733 d(ecurio) c(ivium) R(omanorum) (a. 276).
]^54 Alfred von Domaszewski
I
canabae wurden so geradezu als vicus bezeichnet.^ Der Altar
des Sucaelus, gesetzt von dem actor und den Canabarii^
erhält sein volles Licht erst durch neue Funde aus
Camuntum. In einem Räume des Legionslagers wurden
dort zwei Altäre aufgedeckt C. III 14356^*. Libero patri
et Liberae Dionysius actor Brittici Crescentis p(rimi) p(ili)
v(otum) s(olvit). 14356^^ Libero Liberae Fortunae Mercurio
lustro Ansi Proculi p(rimi) p(ili) Ansius Archelaus ex voto
pos(uit). Da der Primus pilus das Lustrum, den Schlußakt
der Schätzung abhält, so hat er die censorischen Geschäfte im
Territorium legionis geleitet, wie der Duumvir quinquennalis
der Municipien. Sein Geschäftsführer ist der actor. Er weiht
Liber und Libera den großen Göttern des Landes, wie Fortuna
und Mercurius, den römischen Schutzgöttern materiellen Ge-
deihens, einen Altar in dem Geschäftszimmer^ dieses Zweiges
der militärischen Verwaltung des Lagers. Ebenso hat in Mainz
der actor Trophimus des primus pilus Calpurnius Seppianus
— so ist zu erklären — dem keltischen Himmelsgott Sucaelus
den Altar zum Heile des Territorium Legionis geweiht. Sucaelus
erscheint als dem römischen Himmelsgott luppiter optimus
maximus wesensgleich.^ Der militärische Charakter der Ver-
waltung tritt noch stärker hervor in der Verpachtung nutzbarer
Flächen des Territoriums an Soldaten CHI 14356 3*. I(ovi)
o(ptimo) m(aximo) sacr(um) pro sal(ute) Aug(ustorum) C(aius)
lulius CatuUinus mil(es) leg(ionis) XIV g(eminae) M(artiae)
V(ictricis) cond(uctor) prat(i) Fur(iani) lustr(o) Nert(i) Celerini
p(rimi) p(ili) a. 205. Dieser Conductor ist ein Großpächter,
der zugleich die Aufsicht übt über die Leistungen der coloni,
^ So in Straßburg C. XIII 6967 [GJenii vici Ca[n]abar(um) et
vi[ca]nor(um) Canabensium.
- Nicbt in der Kantine, wie man wunderlich genug ange-
nommen hat, indem mau den Liber als römischen Weingott (sie) inter-
pretierte.
2 FMlologus 61 (1902), p. 22.
Die Schutzgötter von Mainz 155
wie dies analog in den kaiserlichen Domänen sich findet.^
Diese Umgestaltung der Verwaltung der Territoria Legionis
hat Septimius Severus durchgeführt.^ Neben die Cives Romani,
die sich nach freier Wahl zur Führung ihrer Privatgeschäfte
in dem Gebiete des Legionslagers aufhalten, sind coloni ge-
treten, die unter dem Zwange einer kaiserlichen Domänen-
verwaltung an den Boden gefesselt sind. Die Coloni erhielten
nicht das Bürgerrecht durch die constitutio Antoniniana.^ Des-
halb dauert die Sonderstellung der cives Romani im Territorium
legionis fort: C. XIII 6733 in h(onorem) d(omus) d(ivinae)
D(e)ae Lun(a)e MarceUinius Placidinus d(ecurio) c(ivium)
R(omanorum) Mog(ontiaci) — a. 276 n. Chr. — 6769 T. Florius
Saturninus vet(eranus) ex sig(nifero) leg(ionis) XXII pr(imi-
geniae) p(iae) f(idelis) Alexandrianae m(issus) h(onesta) m(issione)
aUectus in ordi[n]em c(ivium) R(omanorum) et.^ Mog[ont(ia-
censium)]. Auch der Glaube der canabarii hat sich völlig
gewandelt. An Stelle des luppiter optimus maximus, des
Schirmherrn der Römer, ist mit der Renationalisierung^ des
Reiches sein keltischer Vetter Sucaelus getreten.
Nach Sucaelus 'ist auf dem Altar des exactors der Genius
loci genannt. Er erscheint auf unserem Denkmal auf der
rechten Seite als Genius castrorum in seiner Individualität
durch das Bild näher bestimmt. Ihm ist Fortuna zugesellt.
Auch sie ist eine Gottheit des Ortes. Vor der Front des
Lagers auf dem Abhang nach dem Rheine hatten sich in
Jahrhunderten ungestörten Friedens römische Kaufleute nieder-
gelassen. Diese Ansiedlung war ursprünglich ein Teil der
Canabae, aber allmählich durch ihre abgesonderte Lage zu einer
^ Mommsen Hermes 18, 404. Ramsay Cities and Bishoprics of
Fhrygia I 1, 2 passim; Rostowzew Österr. Jahresh. 4. Beibl. S. 37 ff.
Premerstein Wiener Studien 24, 141 ff.
2 C. III 14509 (Viminacium) Neubau der Canabae. In Mainz sind
die Canabae noch im Jahre 255 nachweisbar C. XIII 6780.
^ Vgl. Dittenberger. Olympia V n. 110.
^ So zeigt der Abklatsch. ^ Philologus 61, 1902, 27.
156 Alfred von Domaszewski
eigenen Gemeinde herangewachsen, hieß sie vicus novus.^ Im
Gebiete dieses ^ Neudorfs' fand sich noch an seinem ursprüng-
lichen Platze, an dem Wege, der von der porta praetoria nach
der Rheinbrücke führte, der Altar C. XIII 6676 Fortunae
Aug(ustae) sacr(um) Nemonius Senecio c(urator) v(ici) et
T. Tertius Felix q(uaestor) et C. Atius Yerecundus act(or) d(e)
s(uo) p(osuerunt). Es sind die Beamten des vicus novus, die
der Fortuna den Altar setzen. Schon in der Zeit des Severus,
der den Soldaten gestattete, mit ihren Frauen zusammen zu
leben ^, werden die Legionare in dem wohlgebauten^ vicus novus
gewohnt haben. Als gegen das Ende des dritten Jahrhunderts
mit dem gänzlichen Schwinden der militärischen Kraft das
weitgedehnte Lager nicht mehr gehalten werden konnte, be-
hauptete man wenigstens den Steilrand und umschloß die
Praetentura, sowie den vicus novus mit einer neuen gemein-
samen Mauer.*
Auch für das Relief der Rückseite ist eine Beziehung auf
eine bestimmte Ortlichkeit des römischen Mainz leicht zu er-
kennen. Denn wir wissen, daß zwei Gemeinwesen, die in der
Nähe des Lagers sich befanden, nach den Göttern Apollo und
Salus benannt waren. Es lehren dies zwei Inschriften C. XIII
6688 Genio collegii iuventutis vici Apollinesis — 6723 I(ovi)
o(ptimo) m(aximo) et lunoni Reginae vicani salutares. Der
Vicus der Salus hat sicher schon im ersten Jahrhundert^ be-
standen. Aber eben in dieser Zeit kleidet sich der gallische
Glaube in das römische Gewand. Grannus und Sirona, die
Schutzgötter der gallischen Niederlassung, die an der Mündung
des Main in den Rhein lange bestanden hatte, ehe die Römer
1 C. XIII S. 303.
2 Mommsen C. III p. 2011 ; P. Meyer Archiv f. Papyrusforschung III 68.
^ C. XIII 6786 [ob immunitatem a vijcanis [vi(ci) n(ovi) sibi c]on-
cess[ain memor ben]efici [viam p(assuum)] DCCC [sua pecunia stravjit.
Die Distanz bezeichnet die Länge der Straße von der porta praetoria
des Lagers bis an die römische Rheinbrücke.
* C. XIII S. 302, 2. ^ Vgl. Zangemeister zur Inschrift.
Die Schutzgötter von Mainz 157
ihr Lager erbauten, sie nennen sicli unter römischer Herrschaft
Apollo und Salus.
Das Gegenstück zu dem Genius castrorum des Reliefs der
rechten Seite bildet der ^EQ^7}g ocymviog des Reliefs der linken
Seite. Diese Gottheiten hat der bildende Künstler in tieferer
Absicht einander gegenübergestellt. Durch seine durchgreifenden
Änderungen hatte Septimius Severus auch dem Heere des
Abendlandes den orientalischen Charakter aufgedrückt. In
seinem Heere sind es nach Aegyptens Vorbild die Lagerkinder,
aus denen die Legionen sich ergänzen. So wird in dieser Zeit
auch in der bürgerlichen Niederlassung die Jungmannschaft
zu festen Verbänden, collegia iuventutis, zusammengeschlossen,
sowohl am Limes ^ als im Inneren des Reiches, wo sie in der
Mitte des dritten Jahrhunderts den Wachdienst auf den Reichs-
straßen leisten.^ Es entspricht dieser Entwickelung, daß auch
in Mainz zwei solche Verbände sich finden, das coUegium
iuventutis vici ApoUinensis ^ und die iuventus Vobergensis.*
Das zur bloßen Miliz herabgesunkene Heer des Severus^ ver-
legte die Ausbildung, die der Dienst selbst dem Soldaten nicht
mehr gab, in die Vorstufe des Kriegsdienstes, die Übungen
der Iuventus. Die Siegeskraft der Iuventus stellt das Bild der
1 C. Xin 6468, 6549 (a. 222). 7424 (a. 242). In diesen Dörfern am
Limes kann nun gar um die Mitte des dritten Jahrhunderts das coUe-
gium iuventutis kein Turnverein nach Art der griechischen vioi, ge-
wesen sein.
^ C. 4131 Num(inibus) Aug(ustorum) fara[to]rem exaedificaverunt
suo in[p]endio iuniores vici hie co(n)sistentes loco sibi concesso et donato
|a vikanis Bedensibus a. 245 p. Chr. farator ist nach Buechelers Er-
iklärung turris speculatoria. Vgl. n. 3632.
» C. XIII 6688 vgl. oben.
* C. XIII 6689. Es sind germanische Colonen. Die Auflösung
der Reichswehr durch die Ansiedlung germanischer Dediticii im Limes-
gebiet tritt schon unter Severus Alexander ein. Westd. Zeitschr. 1902, 206.
^ Selbst die Chargen der Principales werden erblich, so daß der
Sohn eines bucinators schon mit 6 Jahren bucinator ist. Vgl. meine Be-
merkungen bei Hofmann Supplement der österr. Jahresh. Y 80.
158 Alfred von Domaszewski Die Schutzgötter von Mainz
linken Seite dar, auf dem Mercurius von Victoria als Sieger
bekränzt wird.
Mit Recht hat Hang das Mainzer Denkmal in eine Reihe
gestellt mit den sog. Viergöttersteinen, die als Basen luppiter-
säulen trugen. Dies war zweifellos die Bestimmung des
Mainzer Denkmals, aber es unterscheidet sich von den anderen
Basen durch den Reichtum des figürlichen Schmuckes und die
Feinheit der Erfindung. Das Vorbild der uns erhaltenen
dürftigen Wiederholung muß ein Denkmal von ganz anderer
Bedeutung gewesen sein, ein Gegenstück zu jenem großartigen
Denkmale aus neronischer Zeit, das eben durch die Kunst
und die Umsicht der Mainzer Museums Verwaltung seiner Auf-
erstehung entgegengeht.^ Die Gegenüberstellung der beiden
Denkmäler soll später versucht werden.
^ Vgl. den vorläufigen Bericht Koerbers Westd.Korr.-Bl. 1905, 98 ff.
A. v.Doinaszewski, Die Schutzgötter von Mainz.
li-^
Altar aus Mainz.
Archiv für Keligionswissenschaft IX. 2.
Die biblischen Schöpf ungsberichte'
Von Friedrich Schwally in Gießen
Der Hergang bei der Schöpfung der Welt wird von der
Bibel in doppelter Gestalt überliefert. Die eine, I. Mos. Kap. 1,
1 — 2,3; beginnt mit den bekannten Worten: „Im Anfang
schuf Gott Himmel und Erde" und schließt mit der Einsetzung
des Sabbats als Ruhetag.^ Hierauf folgt unmittelbar die zweite
Gestalt des Mythus Y. 5: „Ehe noch Gesträuch des Feldes
vorhanden noch Kraut des Feldes gesproßt war . . .,^ (Y. 7) da
^ Diese Ausführungen sind die wesentlichen Teile eines Vortrages,
den ich am 19. Dezember 1904 in einer Sitzung der Orts-
gruppe Gießen des hessischen Vereins für Volkskunde
I gehalten habe. Da ich nicht vor Fachgenossen sprach und jetzt auch
j nicht in erster Linie für sie schreibe, war hier und da eine größere
* Breite der Darstellung unerläßlich.
* Die Einzelheiten sind sehr verworren, da die Verse 2, 1—3 nicht
j nur sehr verschieden an Alter und Herkunft , sondern auch durch Glossen
j entstellt sind. Die Wendung „sein Werk, welches er gemacht hatte"
i (n^s? im inax^Ts) kommt in den paar Zeilen nicht weniger als dreimal vor,
zuletzt in der Form der stilistischen Monstrosität nibs'b i<nn nrx, welche
kein Geringerer als H. Ewald den Nachfahren mundgerecht gemacht
hat (Hehr. Gramm. 7. A. § 285a). Der Terminus bärä „schaffen" findet sich
übrigens innerhalb des ersten Schöpfungsberichtes nur an zwei Stellen,
V. 21. 27 (sonst überall 'äsäh), außerdem nur in den Überschriften
1, 1; 2, 4. — Über V. 4a „Dies ist die Geburtsgeschichte des Himmels
|und der Erde" ist mit Bestimmtheit nur so viel zu sagen, daß er der Form
jnach eine Überschrift ist; gehört dieselbe zum Vorhergehenden, so ist
Isie an falsche Stelle geraten, gehört sie zum Folgenden, so bleibt un-
I erklärlich, wie der Bericht von der Schöpfung des Paradieses zu einem
jso hochtrabenden Titel gekommen ist.
^ Der durch Punkte angedeutete Text scheint stark durch Glossen
erweitert zu sein. Und von dem einzigen Satz, welcher mit Sicherheit
der ältesten Quelle angehört, V. 6a „und Flut stieg herauf von der Erde"
j7"i5<n i^a nbsJi "ixi, ist nicht klar, wie er syntaktisch mit dem Umstehenden
{zu verbinden ist. Ich vermute, daß hinter "ix ein cnü ausgefallen ist.
i\
IßO Friedrich Schwally
bildete Jahve den Mensclien aus Erde^ und blies Lebensodem
in seine Nase, so ward der Mensch zu einem lebendigen Wesen/'
Hierauf wird das Paradies eingerichtet mit seinen Flüssen,
Bäumen und Tieren und der Adam hineingesetzt. Zu aller-
letzt entsteht das Weib. Der Unterschied der beiden Rezen-
sionen ist ungeheuer. Hier dramatische Handlung, dort pedan-
tische Aufzählung; hier dreht sich alles um den Menschen, der
Anfang und Ende des Aktes ist, dort ist der Mensch nur
Schlußstein des Baues und eine Nummer im Kataloge; hier
ist die sagenhafte Gestalt des Paradieses der Schauplatz, dort
die wirkliche Welt. Im Grunde ist es deshalb verkehrt, von
zwei Rezensionen zu reden, denn allein Gen. 1 handelt von
der Erschaffung der gegenwärtigen Welt, während Gen. 2 sich
ausschließlich auf das Paradies bezieht. Über diese und
andere Seiten des Verhältnisses zwischen Gen. 1 und 2 ist
schon unglaublich viel verhandelt worden. Im folgenden will
ich versuchen, einige Probleme, welche bisher noch gar nicht
oder nicht genügend erkannt worden sind, zu stellen und zu
lösen.
Wenn man sich die Schöpfungsprodukte der sechs Tage
vergegenwärtigt, wie sie Gen. 1 beschreibt, so findet man, daß
an drei Tagen, nämlich an dem ersten, zweiten und vierten
Tage^, immer nur je ein Werk oder eine Gruppe gleichartiger
Werke entsteht, während der dritte und sechste Tag mit zwei
verschiedenartigen Werken bedacht sind. Denn am dritten
Tag erschafft Gott einerseits Festland und Meer, anderseits die
Pflanzenwelt, am fünften Tage nicht nur die Wassertiere, sondern
auch die Vögel, am sechsten Tage aber außer den großen
Tieren noch das erste Menschenpaar.
^ min hä'adämä ist wohl Glosse, die vielleicht dem Verfasser von
Cohel. 3, 20. 12, 7 noch nicht vorlag. Sonst vgl. zum Verständnis der
Stelle Th. Noeldeke's Bemerkungen in dieser Zeitschrift Bd. VIII S.161.
* Am ersten Tage schuf Gott das Licht, am zweiten das Himmels-
gewölbe, am vierten die Himmelskörper.
Die biblischen Schöpfungsberichte 161
Diese Disposition ist nicht in der Natur der Sache be-
gründet, sondern künstlich zurecht gemacht. Die Einpressung
der Schöpfungswerke in das Gefache von sechs Tagen kann
schwerlich etwas anderes bezwecken, als die Einsetzung der
strengen Sabbatruhe in die Urzeit zurückzuführen. Diese
Tendenz liegt offen zutage, auch wenn sie nicht durch Kap. 2, 4
so uuverhüUt ausgesprochen wäre: „Und Elohim segnete den
siebenten Tag und heiligte ihn, denn an ihm ruhte er von
seinem ganzen Werke aus." Die Sabbatfeier im Sinne des
puritanischen Sonntag ist aber erst im Exile aufgekommen.
Aus Kap. II V. 2 ist aber vielleicht die Spur einer älteren
literarischen Stufe zu erkennen, nach der das Schöpfungswerk
auf sieben Tage verteilt war. Denn wenn es heißt „Und Gott
vollendete am siebenten Tage sein Werk", so scheint daraus
hervorzugehen, daß er an diesem Tage noch tätig gewesen ist.
Indessen wäre auch bei dieser Anordnung ohne künstliche
Zusammenlegung verschiedenartiger Werke nicht auszukommen
gewesen. Wir dürfen deshalb noch ältere Rezensionen er-
schließen, welche das Schöpfungswerk auf acht oder neun Tage,
m. a. W. auf ebensoviel Tage verteilten, als Werke vorhanden
waren, oder welche überhaupt von jeder Tageseinteilung ab-
sahen. In der Tat erscheinen die die Tagzählung markierenden
Worte: „Da ward es Abend, da ward es Morgen, erster usw.
Tag" nicht organisch mit dem übrigen verbunden, sondern
lose angehängt.
Auch sonst ist der Text von Gen. I keineswegs aus einem
Gusse. Das ist meines Wissens früher noch nicht ^ beobachtet
worden. Kein Wunder, denn der Wortlaut macht zunächst den
Eindruck einer großen Einförmigkeit und Gleichmäßigkeit. In
der Tat ist, trotz mancher Verschiedenheiten, überall ein
^ Nur Bernhard Stade ist in seiner Biblischen Theologie I 349
(Tübingen, Mohr 1905) zu ganz ähnlichen Resultaten hinsichtlich der
Komposition von Gen. I gekommen. Wir sind aber vollkommen un-
abhängig voneinander.
162 Friedricli Schwally
gemeinsaines Schema durchgefülirt, das sich aus den folgenden
Wendungen zusammensetzt:
und Gott sprach: es werde
und es geschah so
und Gott machte
und Gott sah, daß es gut war
da ward es Abend, da ward es Morgen, . . .ter Tag.
Dieses Formular ist einheitlich genug durchgeführt, um die
Annahme nahe zu legen, daß z. B. die Phrase „und es geschah
so", welche nur einmal, beim fünften Tage fehlt, sowie die
Phrase „und Gott sah, daß es gut war", die nur beim zweiten
Tag vermißt wird, lediglich durch das Versehen eines Ab-
schreibers in Wegfall gekommen sind. Die alte griechische
Übersetzung der Septuaginta hat sie noch bewahrt. Daß Gott
dem Erschaffenen Namen gegeben habe, ist nur bei den drei
ersten Tagewerken gesagt. Die Ursache dieser Ungleichmäßig-
keit ist aber nicht klar.
Dagegen trete ich den Beweis dafür an, daß innerhalb jenes
gleichmäßig durchgeführten Schemas diametral verschiedene, mit-
einander nicht zu vereinbarende, Anschauungen vorhanden sind.
Beim sechsten Tage heißt es: „Und Elohim sprach: Die
Erde lasse hervorgehen lebendige Wesen nach ihrer Art, Vieh,
Gewürm und Wild des Feldes nach seiner Art, und es geschah
so." Wenn Gott der Erde befiehlt, lebendige Wesen hervor-
zubringen, so beabsichtigt er nicht, selbst als Bildner der
Tiere aufzutreten, er beschränkt sich vielmehr darauf, der
Materie durch sein Machtwort den Anstoß zu geben, die Materie
bringt hierauf die Werke aus sich allein hervor. Die Worte
„und es geschah so" können dann nichts anderes ausdrücken als
den Gedanken, daß der Befehl der Gottheit sich alsogleich
verwirklichte, sie konstatieren mit anderen Worten, daß das
Resultat der gewollten Absicht entsprach. Wenn aber der Text
fortfährt: „Und Elohim machte das Wild des Feldes nach seiner
Art und das Vieh nach seiner Art, und alles Gewürm auf dem
Die biblischen Schöpfungsberichte 163
Boden nach seiner Art" so steht dieses eigenhändige Schaffen
Gottes nicht nur mit der abschließenden Wendung „und es
geschah so", sondern auch mit dem Inhalt des göttlichen Be-
fehlswortes in einem schneidenden Widerspruche.
Diese, widerspruchsvolle Komposition ist nun durch den
ganzen Schöpfungsbericht hindurch nachzuweisen. Die Texte,
welche den zweiten, vierten und fünften Tag behandeln, sind
der eben besprochenen Stelle analog, mit dem einzigen Unter-
schiede, daß die Phrase „und es geschah so" zweimal auf die
andere „und Gott machte" folgt (V. 7. 22 LXX). Die übrigen
Texte bedürfen einer besonderen Analyse.
Am ersten Tage sprach Elohim: „Es werde Licht!" Die
Wendung „und es geschah so" fehlt hier, aber sie ist sinn-
gemäß umschrieben durch die Worte „und es ward Licht".
Davon, daß Gott das Licht gemacht habe, ist keine Silbe zu
lesen. Nur wird nachher gesagt, daß Gott zwischen Licht und
Finsternis geschieden habe. Aber auch diese Behauptung
stimmt schlecht zu der vorher vertretenen Anschauung von dem
göttlichen Wirken allein durchs Wort. Richtiger wird beim
zweiten Tag die beabsichtigte Scheidung zwischen den Wassern
unter und über der Feste bereits in den göttlichen Befehl hinein-
genommen, indem Elohim spricht: „Es werde eine Feste zwischen
den Wassern und sie scheide zwischen Wasser und Wasser."
Der Abschnitt von der Erschaffung des Menschen ist der
einzige innerhalb des ganzen Kapitels, in dem von einem
I Befehlsworte Gottes nichts zu lesen ist. Vielmehr heißt es
j V. 26: „Und Elohim sprach: Lasset uns Menschen machen",^
j worauf V. 27 folgerichtig fortfährt: „Und Elohim schuft den
^ Hinter fiiUSJa „wir wollen machen" erwartet man „und er machte"
j bzw. „und sie machten" vajja'as(ü)\ das jetzt dastehende «■"a»'] scheint
auf Korrektur zu beruhen, da der Ausdruck feärä in Gen. I außer der
redaktionellen Überschrift nur noch beim fünften Tage gebraucht wird.
An der Stelle V. 21 ist sein Auftreten noch viel rätselhafter, während der
I Bericht von der Erschaffung des Menschen auch in anderer Beziehung
i ans dem Rahmen der übrigen Werke herausfällt.
Iß4 Friedrich Schwally
4
Menschen." Trotzdem steht am Schlüsse V. 30 ganz sinnlos
„und es geschah so".
Ein völlig harmonisches Schema hat sich allein beim
dritten Tage erhalten: „Und Elohim sprach: es sammle sich
das Wasser unter dem Himmel an einem Ort, daß das Trockne
sichtbar werde; und es geschah so ... . Und Elohim sprach:
die Erde lasse junges Grün hervorsprossen . . . und es ge-
schah so." Hierauf folgen jetzt allerdings die Worte „und
die Erde sproßte hervor" usw., aber diese redaktionelle Er-
weiterung verstößt wenigstens nicht gegen den Sinn des Zu-
sammenhangs, so überflüssig sie auch ist.
Da das Schema: „und Elohim sprach, es werde" samt
dem dazu gehörigen Komplemente „und es geschah so" mit
dem anderen Schema „und Gott machte" schlechterdings nicht
zu vereinbaren ist, so müssen wir daraus den Schluß ziehen,
daß diese Schemata verschiedener Herkunft sind. Und zwar
dürfte die große Vollständigkeit, in der sich jedes Schema
noch jetzt aus Gen. I herausschälen läßt, sowie sein fester
und gleichmäßiger Stil meines Erachtens darauf hindeuten,
daß sich nicht etwa das eine Schema als eine Schicht von
Glossen auf das andere gelegt hat, sondern daß beide Rezen-
sionen ursprünglich einmal selbständig für sich vorhanden waren
und später harmon istisch ineinander gearbeitet wurden.
Unter den vielen schwierigen Fragen, welche sich hieran
knüpfen lassen, will ich nur diejenige nach dem Alter dieser
Rezensionen und der Tendenz ihrer redaktionellen Vereinigung
untersuchen. Hierbei muß die jetzige Einleitung des Schöpfungs-
berichtes V. 2 einstweilen unberücksichtigt bleiben, da nicht
festzustellen ist, welcher von beiden Rezensionen sie ursprüng-
lich angehörte.
Das hohe Alter des Schemas „Und Gott machte" leuchtet
am deutlichsten hervor aus den Worten, mit denen V. 2Q die
Menschenschöpfung eingeleitet wird: „Und Elohim sprach,
lasset uns Menschen machen!" Hier kann nämlich nicht der
I
Die biblischen Schöpfungsberichte 165
aus anderen Sprachen bekannte Majestätsplural vorliegen, da
derselbe dem Hebräischen fremd ist. Von Gott gebraucht
üadet sich dieser Plural nur noch an einer einzigen Stelle der
jüdischen Bibel, Gen. XI, 7: „Wohlan, wir wollen herabsteigen
und ihre Sprache verwirren", in der Sage vom Turmbau, deren
babylonische Herkunft auf der Hand liegt. In der Parallele
zu Gen. I, 2ßj nämlich Gen. II, 18, spricht Elohim zwar nach
dem hebräischen Text: „ich will ihm eine Gehilfin machen", aber
die Septuaginta haben noch den Pluralis „wir woUen ....
machen" in ihrer Vorlage gehabt. In allen diesen Stellen
wendet sich eine Gottheit an andere, um gemeinsam mit ihnen
etwas zu unternehmen, wir befinden uns also in einem poly-
theistischen Kulturkreis.
Was das andere Schema anbelangt, so sieht die ältere
Exegese in dem Schaffen Gottes allein durchs Wort ein klas-
sisches Zeugnis des Supranaturalismus, der die Gottheit aus
jeder organischen Verflechtung mit der Natur loslösen will.
Wenn dieses Schema wirklich aus solchen Gedanken hervor-
gegangen wäre, so müßte es sehr jung sein. Es gibt aber
auch einen primitiven Supranaturalismus, der auf den niedersten
tufen der Kultur zu Hause ist und sich nicht einmal auf die
jötter oder Geister beschränkt. Die Wirkungskraft der Formelu
les Zauberers ist von den Zauberworten eines Schöpfer -Gottes
jQur graduell verschieden. Es ist deshalb zu erwägen, ob das
ifragliche Schema nicht heidnischen Ursprunges ist.^ Das ist
in der Tat wahrscheinlich, da, wie wir später noch sehen
iverden, die. biblische Kosmogonie überhaupt auf uralter Tra-
iition beruht.
Die Zusammenschweißung der zwei Rezensionen zu einer
nnheitlichen Erzählung läßt sich so erklären, daß das Schema
,Und Gott sprach, es werde . . . und es geschah so" von dem
liedaktor im Sinne des höheren Supranaturalismus des Juden-
* "Vgl. auch Richard Reitzenstein Poimandres S. 5, n. 3. 63f.
Archiv f. Keligionswissenscliaft IX 12
166 Friedrich Schwally
tums verstanden wurde. Auf der anderen Seite aber konnte
ein Erzähler, der die Selbstherrlichkeit Gottes gegenüber der
Welt wahren wollte, der Meinung sein, daß diese Tendenz
gerade durch das andere Schema „Und Gott machte" am zu-
treffendsten zum Ausdruck käme. Denn wenn auch bei der
ersten Betrachtungsweise alles allein durch das göttliche
Wort hervorgebracht wird, so ist doch dabei der Materie ein
nicht unbedenklicher, selbständiger Anteil an der Entstehung
eingeräumt, welcher leicht auf unabhängig von der Gottheit in
der Materie liegende keimhafte Anlagen zurückgeführt, mit
anderen Worten in evolutionistischem Sinne gedeutet werden kann.
Angesichts dieser Unsicherheit gewinnt vielleicht eine dritte
Vermutung an Wahrscheinlichkeit, daß bei der Ineinander-
arbeitung der beiden Schemata überhaupt keine Tendenz maß-
gebend war, daß wir es vielmehr mit einem literarisch -tech-
nischen Kunststück zu tun haben, indem ein belletristischer
oder erbaulicher Schriftsteller, der seinen Lesern etwas Neues
bieten wollte, zwei der beliebtesten Rezensionen des Schöpfungs-
mythus unter strenger Wahrung ihres Kolorits, zu einer Ein-
heit verband.
Wie ich schon vorhin hervorgehoben habe, kann das Ver-
hältnis der beiden Quellen von Gen. I zu der Einleitung V. 1 . 2
nicht mehr festgestellt werden. Das ist um so bedauerlicher,
als gerade von diesen Versen aus, infolge der Fülle von mytho-
logischen Vorstellungen, die in ihnen zusammengedrängt sind,
auf Wesen und Entstehung des ganzen Mythus mehr als ein
bedeutsames Licht fällt.
Vor allen Dingen erfahren wir aus ihnen, daß die Materie,
welche Elohim zu der jetzigen sichtbaren Welt umgestaltete,
nicht von ihm erschaffen, sondern von Anfang an und unab-
hängig von der Gottheit vorhanden war. Die Erzählung von
der Schöpfung beginnt erst V. 3 mit dem Lichte. Allerdings
wird V. 1: „Im Anfang schuf Elohim den Himmel und die
Erde" von vielen Auslegern auf die Urmaterie bezogen. Aber
Die biblischeii Schöpfungsberichte 167
diese Auffassung verstößt gegen den hebräischen Sprachgebrauch.
Und wenn ein Redaktor durch Einschiebung der Worte „schuf
Elohim den Himmel und die Erde", oder anders syntaktisch
konstruiert „als Elohim . . . schuf", etwa beabsichtigt haben
sollte, die Vorstellung von der Urmaterie zu beseitigen oder
zu verhüllen, so hat er seinen Zweck nicht erreicht.
„Und die Erde war wüste und leer, und es war finster
auf der Tiefe und der Geist Grottes schwebte auf dem Wasser."
Um eine Anschauung von dem Chaos zu gewinnen, dürfen wir uns
freilich nicht bei der Lutherschen Übersetzung beruhigen. An
Stelle von „wüste und leer" stehen im hebräischen Text zwei
Substantive, die auch in den Jargon übergegangenen Toliü und
Bohü. Die Etymologie der gewiß uralten Worte ist völlig
dunkel, sicher ist nur, daß Bohu nirgends „Leere" bedeutet,
sondern ebenso wie Tohu von wüsten und zerstörten Plätzen
gebraucht wird. Der jetzige Text, nach dem diese Aussage
nur von der Erde und nicht auch von dem Himmel gemacht
ist, geht vielleicht auf einen älteren zurück, in dem es einfach
hieß: „Im Anfang war ein Tohu und Bohu.'^
„Und Finsternis' lagerte auf der Oberfläche Tehoms."
TeJiöni heißt ^ niemals Tiefe, wie Luther übersetzt, sondern be-
zeichnet, was andere Stellen des Alten Testaments (Gen. 8, 2.
Jes. 51, 10. Arnos 7, 4) deutlich erkennen lassen, den großen
Weltenozean, der die gegenwärtige Erde trägt. Tehom ist
laber kein Gattungswort, sondern ein Eigenname, da es nicht
Inur hier, sondern auch überall sonst im Alten Testament (19 mal)
ausnahmslos ohne Artikel erscheint, und zwar ist es ein weib-
j lieber Name, da es regelmäßig als Femininum konstruiert wird.
jDie naheliegende Vermutung, daß hier eine mythologische
Personifikation vorliegt, wird durch das babylonische Welt-
^ Die Etymologie ist in völliges Dunkel gehüllt. Alle bisherigen
Versuche, dasselbe zu lüften, sind wertlos. Die Vorstellung, daß die
lErde auf Säulen ruhe, die anscheinend in *^^;^^, I. Sam. 2, 8, vorliegt,
[steht ganz für sich allein.
12»
168 Friedrich Schwally
schöpfungsepos bestätigt. In diesem wird der Urzustand durch ,
zwei Personen dargestellt, eine männliclie, Apsu, und eine
weibliche, Tiämat mit Namen, die ihre Wasser zusammen
mischten. Die letztere ist aber, wie schon andere gesehen
haben, mit hebr. Tehöm identisch. Als erstes Schöpfungswerk
entstehen nach dem babylonischen Epos die Götter, und zwar
in drei aufeinander folgenden Generationen. Wie und wodurch
diese Theogonie zustande kommt, wird verschwiegen, doch
muß Tiämat einen hervorragenden Anteil daran haben, da sie
gelegentlich „Göttermutter" genannt wird. Tiämat zieht nun
eines Tages einen Teil der neuerstandenen Götter auf ihre
Seite, um die anderen zu bekämpfen. Sie unterliegt aber, der
Gott Marduk zerstückt ihren Leichnam in zwei Teile und
bildet aus dem einen den Himmel, aus dem anderen — der
Text ist hier schlecht erhalten — vielleicht die Erde. Von
diesem ganzen Drama hat sich in Gen. I nichts erhalten als
der Name der wichtigsten Person, der Tiämat.
In dem Schlüsse des zweiten Verses von Gen. I wird noch
eine andere mythologische Person auf die Bühne gebracht,
nämlich der Geist Elohims, der auf den Wassern brütet. Der
Ausdruck „brüten" scheint darauf hinzuweisen, daß die Gott-
heit als ein Vogelweibchen vorgestellt war, das die Welt durch
Bebrüten der chaotischen Wasser hervorbrachte. Ist das richtig,
so müssen die Worte „Geist Elohims" eine tendenziöse Kor-
rektur sein, um diese den Späteren anstößig gewordene Vor-
stellung zu beseitigen. Aus babylonischer Mythologie kann
dieser merkwürdige Zug der hebräischen Sage bis jetzt nicht
erklärt werden. Man hat deshalb die bei Phöniziern, Ägyptern,
Indern und Polynesiern^ verbreitete Vorstellung von einem
Welt ei zum Vergleich herangezogen. Unter diesen könnten die
Phönizier und Ägypter zu der israelitischen Sage historische
^ Vgl. Waitz-Gerland Anthropologie der Naturvölker Bd. VI
S. 234, 237, 665. — Adolf Bastian Die heilige Sage der Polynesier
S. 12, 229, 240, übrigens ein nur mit großer Vorsicht zu benutzendes Buch.
I
Die biblischen Schöpfungsbericbte 169
j Beziehungen haben. Aber bei dem gegenwärtigen Stande der
' Forschung läßt sich nichts darüber sagen.
Ist Mitte und Schluß von Vers 2 mythologisch, so dürfen
wir dasselbe auch vom Anfange vermuten. Da Tehom sicher
mit Tiämat identisch ist, könnte in Tohu va-Bohu eine dem
I babylonischen Apsu entsprechende männliche Personifikation
I enthalten sein. Weitere Aufklärung ist indessen nur von neuen
inschriftlichen Funden zu erwarten.
Der zweite Yers von Gen. I ist, wie wir gesehen haben,
1 eine wahre mythologische Schatzkammer, schade, daß dieselbe
I nur elende Trümmer enthält. Die jetzige Fortsetzung dazu atmet
einen ganz anderen Geist: 1. sie erzählt keine dramatische
Handlung, sondern ist ein schematischer Katalog; 2. keines
ihrer beiden Schemata ist mit der Tatsache, daß eine Gottheit
I das chaotische Wasser bebrütet, in Einklang zu bringen; 3. sie
1 entbehrt jeden mythologischen Zuges. Einzig und allein der
xlbschnitt von der Erschaffung des ersten Menschen hat
polytheistische Färbung.
Dieser (Gen. I, 26 — 30) birgt auch sonst interessante
Probleme, die um so mehr ins Auge springen, wenn wir
I sie mit dem parallelen Bericht in Gen, II vergleichen.
Die Darstellung von Gen. II ist nicht nur die ausführlichste,
sondern auch die klarste, obwohl der innere Zusammenhang
i des Dramas noch von niemand begriffen worden ist: Jahve
bildete (Jäzar) den ersten Mann, den Adam, aus Erde und blies
Lebensodem in seine Nase. Dann richtete er den Paradieses-
I garten ein und gab ihn dem Adam zur Wohnung. Als nun
''- Jahve den Mann so mutterseelenallein sieht, jammert es ihn
seiner Einsamkeit, und er beschließt, ihm eine Gehilfin^ zu machen,
^ Hebr. ^ezer ("itr) beißt überall „Hilfe". Die hier voranszusetzende
i Übertragung ist denkbar, aber nicht besonders einleuchtend. Es ist
' deshalb zu erwägen, ob nicht eine andere noch unbekannte Spezial-
bedeutung vorliegt, oder ein mißverstandenes babylonisches Lehnwort,
, wenn nicht gar eine tendenziöse Korrektur, um ein anstößiges Wort
j sexueller Bedeutung zu beseitigen.
j^70 Friedrich Schwally
die um ihn sei. Jalive maclit sich auch sogleich ans Werk,
aber er bringt nur Tiere und Yögel zustande. Und er führt
jedes einzelne Stück, sobald es fertiggestellt ist, dem Adam
vor, damit er es auf seine Zugehörigkeit zu sich prüfe.
Doch dieser weist alles ohne Ausnahme zurück. Und selbst
nachdem die ganze Mannigfaltigkeit der Tierwelt entstanden
war, fand sich kein Wesen darunter, das Adam durch den
Namen Männin als zu sich passend anerkennen konnte. Wie
diese lange Kette von mißlungenen Versuchen zeigt, fiel Jahve
die Erschaffung des Weibes außerordentlich schwer. Und die
Tierwelt des Paradieses tritt nicht durch einen selbstständigen
Schöpfungsakt ins Dasein, sondern erscheint nur als gelegent-
liches, rein zufälliges Nebenprodukt bei der Erschaffung der
Eva. Die Tiere sind mit anderen Worten als mißlungene
Fräuleins vorgestellt. Hat Jahve bei diesen Versuchen bisher
als Material Lehm benutzt, so sieht er sich jetzt durch seine
Mißerfolge genötigt, ein neues Verfahren einzuschlagen, näm-
lich das Weib nicht, wie den Adam und die Tiere, aus Erde,
sondern aus einem Teile des Adamleibes zu bilden. So läßt
denn Jahve den Adam in einen tiefen Schlaf fallen, nimmt
eine seiner Rippen heraus und baut diese zu einem Wesen
um, das von Adam als „Männin" begrüßt wird. Das schließ-
liche Gelingen des Werkes quittiert der Ungeduldige seinem
Gott mit den Worten: Endlich (wörtlich: „dieses Mal") Bein
von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!
Erst lange, nachdem ich diesen Sinn des Zusammenhanges
von Gen. II, 18 ff. erschlossen hatte, ist mir aus einem weit
entfernten Kulturkreis, dem polynesischen , eine Parallele be-
kannt geworden. Nach einer Sage der Fidschi -Insulaner
gingen der Entstehung des ersten Menschenpaares mehrere
mißglückte Versuche voraus; und das Weib gelang sogar erst,
nachdem Ndengei noch einen anderen Gott zur Mitarbeit heran-
gezogen hatte.^
^ Waitz-Gerland a. a. 0. S. 664f.
Die biblischen Schöpfungsberichte 171
Der biblische Text verzeiclmet nur die massiven Tatsachen
des Dramas, während die verknüpfenden Motive vollständig
fehlen. Ob diese merkwürdige Kürze und Rätselhaftigkeit des Stiles
ein Zeichen von Altertümlichkeit ist, oder auf Überarbeitung
beruht, darüber läßt sich streiten. Sind aber jene Verbindungs-
linien, wie ich für wahrscheinlich halte, wirklich wegen ihrer
allzu naturalistischen Auffassung von der Gottheit ausgemerzt
worden, so muß man anerkennen, daß dem Überarbeiter seine
Absicht nicht schlecht gelungen ist, indem bis auf den heutigen
Tag noch kein Kommentar den Sinn des Zusammenhanges be-
griffen hat. Nichtsdestoweniger hat man die Schwierigkeit der
logischen "Verbindung von Vers 18 und 19 schon in altjüdischer
Zeit empfunden und deshalb in Vers 19 hinter 'elöhlm das
Wörtchen ^öd = „ferner, weiter" eingeschoben (Septuaginta,
Samaritaner). Obwohl im Grunde hierdurch gar nichts ge-
bessert wird, haben sich doch moderne Ausleger in ihrer Rat-
losigkeit dazu verleiten lassen, diese Lesart in den hebräischen
Text aufzunehmen.
Fast noch schlimmer steht es mit dem herkömmlichen Ver-
ständnis des anderen .Berichtes von der Menschenschöpfung.
I, 26: „Und Elohim sprach: Lasset uns Menschen (ädäm)
machen, nach unserem Bilde, in unserer x4hnlichkeit ^, und sie
soUen herrschen über die Fische des Meeres und die Vögel
des Himmels und über alle Tiere." Das Verbum „und sie
sollen herrschen" läßt keinen Zweifel darüber, daß unter ädäm
ganz allgemein das Menschengeschlecht gemeint ist. Falls
aber diese Worte (= V. 26b), wie wahrscheinlich ist, ein nach
V. 28b gearbeiteter Zusatz sein sollten, hätten wir freie Hand,
adäm speziell auf den ersten Mann, den Adam zu beziehen,
I da für denselben im Hebräischen nicht nur der Ausdruck M-
ädäm (vgl. n, 7), sondern auch ädäm allein und ohne Artikel
vorkommt (Gen. 4, 25. 5, 1. 3).
^ zelem und demüth sind hier nicht synonym, sonst wäre die Ver-
schiedenheit der Präpositionen vor beiden Wörtern nicht zu erklären.
112 Friedricli Schwally
Wie man aber auch hierüber urteilen möge, in der Fort-
setzung V. 27 ff. ist lediglich von der Erschaffung des ersten
Menschenpaares die Rede: Und Elohim schuf den Adam {M-
ädäm) nach seinem Bilde, nach dem Bilde Elohims schuf er
ihn." Wenn unter M-ädäm das Menschengeschlecht gemeint
wäre, müßte es hernach heißen: nach dem Bilde Elohims
schuf er sie (hebr. orx, nicht ir^s, wie wirklich im Texte steht).
Die zweite Hälfte des Verses — nach Luthers Übersetzung
„und er schuf sie, ein Männlein und Fräulein" — hat nach
der Auffassung fast aller Ausleger Adam und Eva im Auge.
Aber die Ausdrucksweise ist mehr als merkwürdig: 1. Daß
der erste Mann, der Adam, geschaffen worden, ist ja bereits
zweimal mit Emphase betont (Y. 27 a, b) worden, und man ver-
steht schlechterdings nicht, zu welchem Zwecke das noch ein
drittes Mal gesagt wird, während das Weib nur ganz beiläufig er-
wähnt ist. 2. Desgleichen macht in syntaktischer Beziehung das
pronominale Objekt öthäm = „eos, sie" unüberwindliche Schwierig-
keiten. Auf hä'ädäm im Anfang des Verses kann es nicht gehen,
da hä-ädäm eben den Adam bezeichnet. Wiese es auf die vorher
genannten Objekte Männlein und Fräulein zurück, so wären diese
dadurch mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, und man müßte
übersetzen: „ein Männlein und Fräulein, sie schuf er." Solcher
Redeweise ist aber im Zusammenhange kein Sinn abzugewinnen.
Alle diese Schwierigkeiten verschwinden sofort, wenn wir
mit einer sehr leisen Korrektür an Stelle des unerklärlichen
öthäm „eos" den Singular dthö^ „eum" lesen. So ergibt sich
folgende Übersetzung: „Und Elohim schuf den Menschen
nach seinem Bilde .... männlich und weiblich^ schuf er
^ Der Konsonantentext der hebräischen Formen dnj< und ir5< unter-
scheidet sich, wie man sieht, kaum.
^ Die "Worte des Originales, die Luther durch „ein Männlein und
Fräulein" wiedergegeben hat, zakär, neqebä sind reine Geschlechts-
bezeichnungen, die auch von Tieren gebraucht werden und substan-
tivisch (Männchen, Weibchen) oder adjektivisch, wie oben geschehen,
übersetzt werden können.
Die biblischen Schöpfungsberichte 173
ihn." Wir erfahren aus diesem Texte die überraschende Tat-
sache, daß Adam ein doppeltgescUechtiges Wesen war.
So grotesk diese Vorstellung auch manchem erscheinen
mag, liegt sie doch ganz auf dem Boden antiker Mythologie.
Nach dem Bundehische^ wuchsen die Ureltem des
I Menschenojeschlechts zuerst zusammen auf unter der Gestalt
der Schößlinge einer sich verschlingenden Rivaspflanze und
nahmen erst später die unabhängigen Gestalten von Mann und
Frau an.
Plato, in einer dem Aristophanes in den Mund gelegten
Rede des Symposion^, erklärt die Entstehung der Liebessehnsucht
(sQCJs) in folgender Weise. Im Anfange gab es drei Arten von
Menschen, Doppelmänner, Doppelweiber und Mannweiber. Um
den Übermut dieser Ungeheuer zu bändigen, teilte Zeus jedes
in zwei Teile, drehte die Gesichter nach der Schnittseite und
ließ durch Apollo Haut über die Wunde ziehen. Die ge-
trennten Hälften suchten sich nun, gingen aber größtenteils
zugrunde, da sie ihre Sehnsucht nicht stillen konnten. Da
erbarmte sich Zeus der Überlebenden und versetzte auch ihre
aldola nach vorne. Diese Darstellung ist selbstverständlich
Resultat philosophischer Spekulation, derselben liegt aber ohne
Frage altes mythologisches Material zugrunde.
Angesichts der deutlichen Abhängigkeit anderer Züge der
biblischen Kosmogonie von Babylon — siehe oben S. 168 —
ist es von besonderer Wichtigkeit, daß auch die babylonische
Sage fabelhafte, zweigeschlechtige Urmenschen kennt, wie
aus den bei Eusebius^ erhaltenen Mitteilungen des Berosos
1 (ca. 275 v.Chr.) erhellt: avd-Q^Ttov^ yäg diJttsQOvg yevvri%'fivaij
livCovg de aal tsxQatsQOvg ocal 8i7CQ06(D7Covg' zal ö&^a ^hv
\6ji^ovtag £v, x£(paXäg dh ovo, ävdQsCav rs Tcal yvvaiTcelav, xal
laWola dh öiööd, ccqqsv zal d'TjXv.
^ Jackson im Grundriß der iranischen Philologie II 673 f.
2 189 D, 190 A.
^ Chronic, lib. prior ed. Schoene S. 14 f.
174 Friedrich Schwally
Innerhalb des Judentums ist das richtige Verständnis von
Gen. I, 27 niemals ganz erloschen. Denn Talmud und Midrasch,
sowie die davon abhängige exegetische Tradition — ich nenne
nur Raschi^ — wissen von dem doppelgesichtigen Adam, durch
dessen Auseinanderspaltung Eva entstanden ist. Neuere Aus-
leger machen diese Überlieferung als jüdische Geschmacklosig-
keit lächerlich, von anderen wird sie vornehm ignoriert; sie
alle verraten aber damit nur einen bedauerlichen Mangel an
religionsgeschichtlichem Verständnis.
Hinter V. 21 muß einst gesagt gewesen sein, wie aus dem
androgynen Urmenschen zwei besondere Personen verschiedenen
Geschlechtes hervorgingen. An Stelle davon lesen wir jetzt,
daß Elohim sie (eos) segnete, zur Fortpflanzung ermunterte
und zur Herrschaft über die Erde^ bestimmte. Diese Fort-
setzung war aber erst möglich, nachdem im V. 27 ötM
„eum" in ötliäm „eos" geändert und auf diese Weise der
ursprüngliche Sinn verwischt war. Im übrigen weisen Inhalt
und Form dieses Verses darauf hin, daß ein ausführlicherer
Text gewaltsam gekürzt worden ist, indem das erste und
zweite Glied nicht allein ganz parallel sind, sondern noch
dazu so gut wie völlig gleichen Wortlaut haben, während das
dritte Glied einen neuen Gedanken hinzufügt.
Da das dritte Glied von V. 27 dadurch aus dem Rahmen
des Parallelismus herausfällt, liegt die Vermutung nicht ferne,
daß dasselbe interpoliert sei. Hiergegen sprechen aber zwei
gewichtige Gründe: 1. Man würde nicht begreifen, wie ein
Späterer, der die in seiner Vorlage vermißte Erwähnung der
^ ipbn ",-inNi riDi^rxi nx'i^a o'^Eiij'ns ^'."c ix'nn^ n^iis di'nia
^ V. 29 sieht nicht wie eine Fortsetzung aus, sondern wie ein
Nachtrag zu V. 28. In demselben Verhältnis steht V. 30 zu V. 29,
— Die Worte Ci'Tibx cnb V. 28 sind zu beanstanden, da unmittelbar
hinter ninbx crs< "^-in^l die Wiederholung von Subjekt und Objekt un-
erträglich ist, da "i^5< gewöhnlich mit bx konstruiert wird, uud da Dn:
verdächtig ist, eine Dublette zu CTi'-x zu sein.
Die biblischen Schöpfangsbericlite 175
Eva naclitragen wollte, sich dazu der seltsamen Ausdrucksweise
des jetzigen Textes bediente. 2. Wenn aber die von mir vor-
geschlagene Korrektur richtig ist und V. 27 auf den andro-
gynen Urmenschen geht, so kann das dritte Glied erst recht
nicht sekundär sein, sondern muß aus alter Quelle stammen.^
Gen. II, 21 läßt das erste Weib aus einer Rippe Adams
gebildet werden. Dieser Zug der Sage ist in völliges Dunkel
gehüllt, obgleich die Kommentare behaupten, daß, wenn einmal
ein Teil des Mannes herausgenommen werden sollte, eine
Rippe am nächsten läge. Die Entstehung Evas aus einem
Teil des Adamleibes bekommt vielmehr erst dann einen hand-
greiflichen Sinn, wenn dieser Adam als eine Art androgynes
Wesen vorgestellt wird. Diese Auffassung würde noch mehr
in die Augen springen, wenn hebr. zeW hier nicht Rippe,
1 sondern Seite^ bedeuten würde. Wir haben aber gar keine
1 Gewähr dafür, daß der Passus in ursprünglicher Gestalt auf
ans gekommen ist.
I Immerhin ist der gegenwärtige Text lehrreich genug. Wie
I er erst verständlich wird durch die Beleuchtung, die von
Gen. I, 28 auf ihn fällt, so gibt er anderseits für die Richtig-
keit der Interpretation dieser Stelle eine willkommene Be-
stätigung.
^ Das dritte Glied würde sich trefflich zum ersten fügen
inx j<^n nnp:i "na:
Das zweite Glied könnte dazwischen geraten sein, nachdem inx in ni^k
korrigiert war. In jedem Falle sehen aber die Worte &<'nn D"'nbx D^:j3
Tit nicht redaktionell ans, sondern wie alt überliefertes Gut.
^ "jh"! wird im Hebräischen z. B. gebraucht von der Seite eines
j Berges, Zeltes, Altares, von Seitengemach und Seitenbau. Vgl. lat. costa
\ und seine Entsprechungen in den romanischen Sprachen.
Die solare Seite des alttestamentlichen Gottesbegriff^
Von K, Völlers in Jena
Daß man trotz der relativ jungen und oft überarbeiteten
Berichte des Alten Testamentes ein solares Element in dem
Gottesbegriff dieser Literatur erblicken müsse, war mir wegen
der nicht seltenen Verwendung der Ausdrücke gälä, gillä,
niglä in Erzählungen von Theophanien und Offenbarungen und
später in paränetischen Stellen längst sehr wahrscheinlich.
Indessen drängte ich den Gedanken mehr als einmal zurück,
weil die häufige Bezeichnung des Wesens Gottes als kebhodh
Jahwae, ri do^a rov %vqCov, Gloria Dei, in Verbindung teils
mit den Derivaten von gälä, teils mit synonymen Ausdrücken
außerhalb jener Gedankenreihe zu liegen schien. Erst den
merkwürdigen Ausführungen des schwedischen Gelehrten
C. V. L. Charlier (Lund) über die astronomische Grundlage des
biblischen Versöhnungstages ^ verdanke ich die Anregung, den
Ausdruck * kebhodh Jahwae' auf die Möglichkeit einer solaren
Fassung hin eingehend zu untersuchen. Da das Ergebnis
dieser Prüfung mir nicht ganz unbefriedigend zu sein scheint,
lege ich es hier zur wohlwollenden Beurteilung anderer vor.
Wenn man sich auf das Alte Testament beschränkt, so
kann allerdings weder das Verbum galä, noch das Nomen
käbhodh die solare Auffassung des Gottesbegriffes nahelegen.
Auch die Exegese des Qoräns würde uns hier nicht weiter
führen, da der streng monotheistische und abstrakte Gottes-
begriff des Islams jede Kombination dieser Art ausschloß. Aber
die auch aus anderen Quellen genährte reiche arabische Philo-
Zeitschr. der Deutschen Morgenl. Ges. 58 (1904), 386 ff.
I
K. Völlers Die solare Seite des alttestamentlichen Gottesbegriffes 177
logie hat wolil erkannt, daß eine der ursprünglichsten, wenn
nicht die erste Fassung der Wurzel galä darin liegt, daß die
Sonne, sei es von Gewölk, sei es von Verfinsterung durch den
Mond befreit wird und in ihrem vollen Glänze wieder hervor-
tritt. Man beachte, daß der verbale Ausdruck nicht vom
Sonnenaufgang gebraucht wird; auf den Mondschein deutet der
Ausdruck 'laila galwä', eine klare Nacht.^ Als direkte Über-
tragung sehe ich es an, wenn nun galä von der ersten Ent-
hüllung der Braut oder jungen Frau vor ihrem Gatten am
Tage der Hochzeit unmittelbar vor dem Vollzug der ehelichen
Verbindung gebraucht wird.^ Nur eine geringe logisch -syntak-
tische Verschiebung liegt zugrunde, wenn nicht die Sonne,
sondern der durch ihr Licht entstehende Tag Subjekt wird;
so Qorän 92,2 oder aktivisch 91,3. Von der Sonne und dem
Tage wird tagallä 7, 139 auf die an Exod. 33, 20 ff. angelehnte
Theophanie übertragen, wo aber die Erklärer dieses Zusammen-
hanges mit keinem Worte gedenken, sondern den entscheidenden
Ausdruck mit den matten Synonymen * sichtbar werden und sich
hinwenden' paraphrasieren. Eine gewisse Inkorrektheit liegt
schon darin, wenn man sagt: tangalizzulmatu, die Finsternis
wird durch das Licht zum Schwinden gebracht.
An den ursprünglichsten Gebrauch des Wortes erinnert es,
wenn im Alten Testament niglä mit der Gottheit als Subjekt
verbunden wird, z. Bsp. Gen. 35,7 (Gott), 1. Sam. 2,27; 3,21
(Jahwae) und in einem jungen Texte mit ^kebhodh Jahwae*
(Jes. 40,5).^ Aber in denselben Texten und anderen wird der
Ausdruck vom optischen auf das akustische Gebiet übertragen;
^ Die mehrmals auftretende Deutung des Mannesnamens Ibn Galä
(Aglä) als 'Mond* oder 'Tagesanbruch* scheint mir ein wenig gezwungen
zu sein.
^ Ob und wie die anderen Bedeutungen der Wurzel galw hiermit
zusammenhängen, ist nicht sicher, kommt auch für unsere Untersuchung
nicht in Betracht.
' Ob der Name des Riesen Goliat eine solare Deutung zuläßt,
soll hier nicht untersucht werden.
178 K. Völlers
nicht mehr erscheint die Gottheit, sondern ihr Wort dringt
in das Ohr des Empfängers, so 1. Sam. 3, 7, Dan. 10, 1 vgl.
Jes. 22, 14, Hiob 36, 10, Prov. 18, 2. Aber häufig finden wir in
theophanischen Berichten das schwächere ^Sichtbar werden',
Yon Gott oder seinem Sendboten (Engel); daß das Wesen gerade
des Jahwae in solchen Fällen gern mit ^käbhodh' umschrieben
wird, habe ich schon oben erwähnt. Man pflegt den Ausdruck
als ^Herrlichkeit' zu fassen und etymologisch als 'Gewicht'
zu erklären. Das ist an sich zulässig und erinnert an lat.
gravitas und arab. waqär. Aber es muß doch auffallen, daß
dies mit käbhodh ausgedrückte göttliche Wesen nicht empfunden,
sondern — soweit es nicht schon ganz phraseologisch ver-
flüchtigt ist — geschaut wird (Ex. 24,17; 33,18, Lev. 9,23,
Num. 16,35, Deut. 5,21 und in den Visionen des Ezechiel).
Halten wir hiermit das schon oben bei gälä gefundene Ergebnis
zusammen, so liegt es wohl nahe zu fragen, ob nicht käbhodh
ursprünglich auch ein den Augen wahrnehmbares Objekt be-
zeichnet.
Da die -dem hebräischen käbhodh entsprechende Urform
kabäd den semitischen Schwestersprachen fehlt ^, müssen wir
die in allen Sprachen verbreitete Form dieser Wurzel prüfen,
nämlich kabid (kabd, kibd), die die Leber zugleich physisch
und als Sitz seelischer Regungen bezeichnet.^ Wir haben um
so mehr das Recht dazu, als käbhodh, abgesehen von seinen
übrigen Bedeutungen, auch die Seele, Mas Gemüt' bezeichnet^,
also einen Begriff, der sich nur aus dem der Leber entwickelt
hat. Von den Affekten, als deren Sitz die Leber betrachtet
* Es sei denn, daß man den nicht zum vollen Nomen erhobenen
arabischen Infinitiv kibäd, Widerstandsvermögen, damit vergleichen
will, was immerhin zulässig ist.
^ Auch bei den Indogermanen wird die 'Leber' als ccqxt] r^s rpvxfig
bezeichnet und Galen sagt: ro d' iniSri^Tinyiov iv ^ticctl vgl. E. Windisch:
Über den Sitz der denkenden Seele besonders bei den Indem und
Oriechen: Ber. d. K. Sachs. Ges. d. Wissensch. 1891. S. 177 und 181.
* Gen. 496. und häufig in den Psalmen.
Die solare Seite des alttestanientlichen Gottesbegriffes 179
wurde, tritt bei Arabern und Aramäern der Zorn hervor; die
Araber erklären dies aus der Blutfülle der Leber und der
dadurch erzeugten Hitze (Lisän 4,380,3). Ahnlich sagt der
Talmud: Mie Leber ist der Sitz des Verdrusses und Zornes'.^
Der arabische Dichter al A'sä nennt daher die Feinde *süd al
akbäd', Leute mit schwarzer Leber. Der Sinaibeduine, der
J. Euting und mich im Jahre 1889 begleitete, sagte bei Auf-
wallungen: kebdi (kebdak usw.) za^läne.^ Bei den Assyrern ist
merkwürdigerweise der Grundbegriff der 'Leber' untergegangen,
hingegen die abgeleitete Bedeutung 'Inneres, Gemüt, Seele'
herrschend geworden.^
Man könnte versucht sein, vom Begriff der Leber aus-
zugehen und danach käbhodh, das, wie wir sahen, auch einmal
^ Leber' bezeichnet haben muß, direkt als 'Sonnenscheibe' zu
deuten. Denn wie man die aufgehende Sonne mit dem 'Wirtel
einer Spindel' oder einer 'Spindel' selbst (ghazäla)"^ und die
untergehende Sonne bald als ' Brotfladen '^, bald als 'schwarzen
Topf^ bezeichnete, so konnte man den Sonnendiskus auch als
^ Leberlappen' benennen. Umgekehrt wird der älteste Name
der 'Sonne' auf runde Schmucksachen übertragen."^ Lidessen
veranlaßt mich der weitverzweigte Gebrauch des Ausdruckes
für 'Leber' bei den Arabern, erst durch gewisse Mittel-
begriffe hindurch zu der Auffassung der 'Sonnenscheibe' zu
gelangen.
^ Berakboth 61b (Levy Wörterbuch, 2,286b).
^ Ich gebe noch einige dahin zielende Stellen : Scholion zur Mu'allaqa
des 'Amr v. 13 (Arnold); Wellhausen Vakidi 374; 'Umar Ibn Abi Rebi'a
3,11; C. Reinhardt 'Oman § 144 (unten); Nöldeke, Delectus 9,6; Jacut
Wörterluch 3, 49, 14; Beidhawi 2,202, 8. Hariri's Durra 111,11.
^ Aus der sekundären Form der Wurzel im Assyrischen (kabtu usw.)
erklärt sich äthiop. kabata, verhehlen, wie arab. admara von damir,
asarra von sirr.
* Diese Deutung ist mir die wahrscheinlichste.
^ Qurs. Auch die Mondscheibe wird so genannt. ® Gauna (guna).
' Samsa, wie auch qurs. Ebenso der Neumond bei Arabern (hiläl)
und Hebräern (saharon).
i
180 K. Völlers
Wenn nicht alles trügt, sind sämtliclie in der Wurzel
Kbd liegenden Bedeutungen auf die ^Leber' zurückzuführen.
Von der psychischen Bedeutung des Ausdruckes wurde schon
gesprochen.^ Damit hängt auch die ^ Leberschau' zusammen,
die Ezech. 21,26 als babylonische Sitte^, und in Midrasch
(Levy 2,287 a) als arabischer Brauch erwähnt wird.^ Als dicke,
schwere Masse führte die Leber bei Hebräern, Assyrern und
Athiopen zu dem Begriffe ^schwer, gewichtig' im eigentlichen
und übertragenen Sinne (^ ehren'). Daher auch arab. kabda, ein
Klumpen Erde, der Verbalstamm takabbada, gerinnen, und
auch wohl der Stamm käbada, ertragen, aushalten, und das
nicht ganz klare kabad (Qorän 90,4). Ferner wurde der Aus-
druck kabid auf den ganzen Unterleib übertragen, so bei
Arabern (Lisän 4,377,21; 378,4Tarafa 11,6) und bei Athiopen
und Aramäem. Daher erklären sich die Übertragungen auf
^Fettwanst, schwerfällig, langsam'; so war 'kabid' Spottname
eines Traditionariers.* Der Begriff des 'Leibes' wurde ver-
allgemeinert zu 'Hauptteil, Mitte, Oberfläche; Inneres'. Die
mineralischen Schätze sind im 'Leib' der Erde verborgen
(Lisän 4, 378, 13 ff.); am Bogen bezeichnete 'kabid' die Mitte
der Wölbung des Holzes, wo die Pfeilspitze ruht. Eine Über-
tragung vom 'Bogen' auf das 'Himmelsgewölbe' scheint mir
vorzuliegen, wenn kabid (auch kabad, kubaidä, kubaidät) den
'Scheitelpunkt' des Himmels bedeutet.^
^ Ich verzichte hier auf Heranziehung der zahlreichen Parallelen
aus dem Gebiete der indogermanischen Sprachen.
^ Eine im British Museum aufbewahrte 'Wahrsagungs- Leber' mit
Einteilung und Orakeln ist abgebildet bei H. Win ekler, die Euphrat-
länder und das Mittelmeer (Alter Orient VII, 2, 1905). S. 17.
3 Vgl. Eb. Schrader, K AT» S. 605 Anm. 6. Auch die durch
schlechtes Wasser verursachte Erkrankung der Leber, wohl der Leber-,
abszeß, war den Arabern als kubäd bekannt.
* Tag al 'Arus 2,481,23 vgl. Z. 26, wo ein Dichter 'Kabid al
hasät' heißt.
^ In der südarabischen Epigraphik erscheint die Wurzel nna (nach
den gütigen Nachweisen Ed. Glasers) mehrmals, nämlich Glaser 1150,2
I
Die solare Seite des alttestamentlichen GottesbegriflFes 181
Außer diesem kabid mit seiner reichen Begriffsentfaltung
kommt noch kabad in Betracht, das die Atmosphäre, den
zwischen Erde und, dem vermeintlichen Himmelsgewölbe befind-
lichen Luftkreis bezeichnet. Aber es muß erwähnt werden,
daß die Begriffssphären von kabid und kabad ineinander über-
gehen, indem kabad auch den ^Leib' und den ^ Hauptteil'
eines Gegenstandes und den * Scheitelpunkt ' des Himmels-
gewölbes bezeichnet.^
Blicken wir nun auf hebr. käbhodh zurück und erinnern
noch einmal daran, daß es einst die ^ Leber' bezeichnet haben
muß, so dürfen wir die Möglichkeit der oben dargelegten
Begriffserweiterung des arabischen Ausdruckes auch für das
hebräische Wort zulassen und diesen Gedanken für die Erklärung
der Verbindung ^niglä kebhödh Jahwae' und ihrer Variationen
j verwerten. Mir scheint es nicht übermäßig kühn zu sein, wenn
man die genannte Verbindung, wie sie noch Jes. 40, 5 vorkommt,
deutet: 'es wird sichtbar (durch Verschwinden der Wolken oder
Aufhören der Verfinsterung) die volle Sonnenscheibe' oder 'die
Sonne am Höhepunkt des Firmamentes'. Wenn diese Deutung
zulässig ist, so werden wir folgerichtig dazu gedrängt, auch
in nin"^ 'Jahwae' die Personifikation sei es der Sonne, sei es
des bald segenspendenden und erfreuenden, bald vernichtenden
und schreckenerregenden Himmels zu erblicken. Ich denke
Inicht daran, dies lediglich auf sprachvergleichendem Wege
jgewonnene Ergebnis mit den Worten des Alten Testamentes
zu erhärten. Von der Zeit und der Kulturstufe, auf der jene
von mir gewonnenen Vorstellungen lebendig waren, bis zu
dem primitivsten Gottesbegriff der Hebräer ist ein weiter Weg;
!
j(Halevy 192, 9 [2J); Gl. 1155,1 (H. 535,1 [6]); Gl. 1155,2 (H. 535, 2 [9]);
Gl. 1083, 3 (H. 187, 3 [7]), und zwar wahrscheinlich im Sinne gewisser
Tempelabgaben, so daß die Bedeutung an das 'ehren' des Hebräischen
und Assyrischen erinnert.
^ Lisän 4,379,6 Tag 2,281,36 — 39. Auch sukäk, das Synonymen
von kabid (kabad), bezeichnet zugleich 'Atmosphäre' und den höchsten
Punkt des Bogens.
Archiv f. Eeligions-wissenschaft IX 13
1
lg2 K. Völlers
um wie viel weiter bis zu dem siegesfreudigen und affektvollen
Gott der Eroberer Palästinas, zu dem männlichen, ernsten
Richter der Propheten und dem alternden, ängstlich auf sein
Zeremoniell bedachten Gott des Priestertums. Aber es darf
daran erinnert werden, daß Jahwae nicht zum kleinsten Ti
auch Wettergott ist, der das fruchtbare Naß spendet und
Gewitter erkennbar ist. Herr von Gall, der den Begriff 'käbhö
als Theologe untersucht hat^, weist mit Recht auf die engen
Beziehungen des 'kebhodh Jahwae' zum Gewitter hin, so am
Sinai und in den Visionen Ezechiels. Bekanntlich ist die Deutung
des Namens ^Jahwae' mit seiner Auffassung als ^Himmel'
recht wohl vereinbar; die vollkommen gesicherte Namensform
bezeichnet gerade nach der zwanglosesten Erklärung den, der
* niedersendet', was sich sowohl auf Blitze, als auf meteorische
Niederschläge beziehen kann.^ Eine gewisse Parallele der Ent-
wickelung liegt darin, daß derselbe arabische Ausdruck ^nazala,
niederkommen', der seit der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart
vom Regentropfen usw. gebraucht wird, von Mohammad auf die
Vermittelung seiner Offenbarungen angewendet wurde. Was aber
die spezielle solare Seite des Ausdruckes ^käbhodh' anbelangt,
die oben nur sprachgeschichtlich erschlossen wurde, so gewinnen
aucL gewisse Stellen der Urkunden bei dieser Beleuchtung
eine größere Faßlichkeit als bei der üblichen unklaren Deutung
der ^Herrlichkeit des Herrn'. Ich rechne dahin vor allem den
schon bei der sinaitischen Theophanie ausgesprochenen und
auf allen Stufen der Weiterentwiclelung festgehaltenen Gedanken,
daß Gott nicht gesehen werden kann, oder genauer, daß dem
Menschen sein Antlitz unschaubar ist, und daß nur noch beim
Entweichen der Erscheinung ein Blick von ihm erhascht werden
kann (Exod. 33,20 ff.).^ In diesem Sinne heißt es noch
1 Die Herrlichkeit Gottes, 1900.
^ Über Jahwae als Feuerdämon, Gewittergott usw. spricht Ed. Meyer:
Sitz. Ber. d. Berl. Ak. 1905, 22. Juni, S. 642.
' In Ex. 33, 23 kann achoräi in diesem Zusammenhang auf den
Westen als die Stätte des Sonnenunterganges bezogen werden.
Die solare Seite des alttestamentlichen Gottesbegriffes 183
1. Tim. 6, 16 g)a)g oIxg)v cc^QÖöLtov, bv . . . ovdslg ccv^Q^Ttcov
idslv dvvatuL An vielen Stellen kann man nocli erkennen,
daß und wie die natürliche Grundlage des Begriffes verlassen
und durch eine metaphysische Auffassung ersetzt ist, so
Exod. 24, 9 f., wo begünstigte Propheten der vollen Erscheinung
Gottes teilhaftig werden, wo aber das eigentliche Wesen der
Erscheinung nicht beschrieben, sondern nur gesagt wird, daß
der Schemel seiner Füße dem im vollsten Glänze erstrahlenden
Himmel glich. Damit ist Jes. 24, 23 zu vergleichen, wo nur
den * Ältesten' der ^käbhodh' sichtbar wird, dessen Glanz aber
Sonne und Mond überstrahlt. An die alte physische Grund-
lage erinnert noch das Micha 1,3^ gebrauchte Bild: 'Jahwae
tritt aus seiner Stätte hervor, steigt nieder und setzt seinen
Fuß auf die Bergspitzen des Landes', vgl. Amos 4,13. Ein
solches Bild ist zunächst nicht von den bescheidenen Höhen
Palästinas zu verstehen, sondern von den alpinen Regionen
des Sinai oder gewisser Teile Arabiens. Aus den Visionen
Ezechiels am Kebhär bei Niffar hebe ich nur die Stelle hervor
(43, 2 vgl. 43, 1; 10,19; 11,23), wo gesagt wird, daß der gött-
liche 'käbhodh' von' Osten her kommt; hiermit vergleiche
man Jes. 59,19; 60,1, wo derselbe Gedanke schon rhetorisch
verflüchtigt ist. Num. 14,21 sagt Jahwae von sich selbst, daß
sein ^käbhodh' die ganze Erde füUt.^ Aber im Widerspruch
damit wird der ^käbhodh' in den engen Tempel gebannt, und
sein Licht überstrahlt und ersetzt das der Sonne und des
Mondes (Jes. 60,19; 24,23). Welchen Zwecken der im Tempel
wohnende 'käbhodh' gedient haben mag, wird von Charlier
^ Zur Michastelle sei darauf hingewiesen, daß das entsprechende
assyr. asü vom Sonnenaufgang gebraucht wird. Wenn wir, wie mir
immer wahrscheinlicher wird, Ibn Gala von der Sonne verstehen dürfen,
so bietet der in dem bekannten Verse (Tabari 2, 864, 2) danebenstehende
; Ausdruck 'tallä at-tanäjä', Erkletterer der Bergpfade, auch eine Parallele
zu den Worten des Micha. Ferner verweise ich noch auf n"iT Deut. 33,2
und auf die häufige Wendung, daß Gott sein Antlitz nicht verbergen möge.
- Zu den Eigennamen, die hier in Betracht kommen, gehört laai"«
fJökhebhedh, der Name der Mutter Mosis.
13*
184 K. Völlers Die solare Seite des alttestamentliclieii Gottesbegriffes
a. a. 0. 393 untersuclit. Wie icli sclioii liervorgeliobeii habe, gedenke
ich nicht aus den oben angeführten Stellen den solaren Charakter
des althebräischen Gottesbegriffes zu beweisen, noch auch zu
behaupten, daß sie bei ihrer Niederschrift vom Schreiber und
seinen ersten Lesern in dem Sinne aufgefaßt seien, sondern nur
darauf hinzuweisen, daß, nachdem die Beziehungen von nhs
niglä und "'"iSd 'käbhodh' auf die Sonne wahrscheinlich gemacht
sind, in jenen Stellen ein letzter schwacher Nachhall dieser
Auffassung vernommen werden darf. "Von den Übersetzern
des Alten Testamentes scheinen der Alexandriner mit 'dö|ß'
und Luther mit ^Herrlichkeit'^ das Rechte getroffen zu haben,
insofern diese Bezeichnungen den Eindruck des überwältigenden
Glanzes wiedergeben.
Endlich mag noch darauf hingewiesen werden, daß auch
der Name Jisrä'el eine meteorische Bedeutung haben kann.
Weit besser als die herrschende Auffassung des Ausdruckes als
'Gott streitet' ist die Ableitung von hebr. särä = arab. sariya
(sarä) begründet; da der arabische Ausdruck vom Zucken und
Flackern der Blitze beim Wetterleuchten gebraucht wird
(Lisän 19,157.17 — 19), so würde Jisrä'el zu deuten sein als
'Gott (El) leuchtet'. Wahrscheinlich hatte diese Deutung ein
Analogon in dem bekannten Namen des Gottes, der in Süd-
westarabien als Dhussärä, bei den Nabatäern Dhü-särä, in der
Auranitis als JOYHAPHH u. ähnl. bekannt ist.^ Femer würden
hierher gehören die Männemamen Seräjä und Seräjähü, der
Name Sirjon, mit dem die Sidonier den Hermon wegen des
flimmernden Schnees benannten (Deut. 3,9 Ps. 29,6), endlich
auch der ältere Name der Frau Abrahams, Sarai 'Glanz', wenn
man ihn etymologisch von Särä, 'Herrin', trennen will.
^ Von 'hehr', vornehm, prächtig, mit bloßer Nebenbeziehung
auf 'Herr'.
2 Vgl. über ihn außer J. H. Mordtmann, Ed. Meyer, J. Wellhausen
zuletzt R. Dussaud: Eevue Numismatique ^ Paris 1904. S. 160 — 173.
Lautes und leises Beten^
Von Siegfried Sudhaus in Kiel
Properz entwirft in der ersten Elegie des letzten Buches
(71 — 150) ein lebendiges Bild von dem Treiben und Gebaren
der Magier und Chaldäer. Ganz plötzlich taucht die Gestalt
j eines solchen Genethliacus vor dem erregten Dichter auf.
Er preist in selbstgefälliger Geschwätzigkeit seine Kunst und
sein Wissen und gibt so eine unfreiwillige Selbstcharakteristik.
Sieht man einmal von der Intention des Dichters einen Augen-
blick ab, so tritt deutlich hervor, wie sehr diese Selbst-
schilderung nach dem Leben, die der Dichter mit Humor^ würzt,
^ Die folgenden Zeilen, die ursprünglich für eine philologische
Zeitschrift niedergeschrieben waren, sind der Hauptsache nach nur
etwas ausgeführtere Randbemerkungen zu einer Properzstelle , deren
Emendation sie stützen sollen. Wenn sie infolge der Aufforderung des
Herausgebers dieser Zeitschrift hier erscheinen, so muß die Bemerkung
vorausgeschickt werden, daß es keineswegs beabsichtigt war, das Problem
erschöpfend zu behandeln. Das ist in Form eines Aufsatzes kaum mög-
lich und erfordert eingehende Studien auf dem Gebiete der orientalischen
Religionen und der christlichen Literatur, die nur ganz gelegentlich
herangezogen ist. Immerhin kann eine Behandlung im engeren Rahmen,
gleichsam ein kleiner Ausschnitt, vielleicht von einigem Nutzen sein,
zumal gewisse Züge immer wiederkehren und eine allgemeine Orien-
tierung gestatten.
^ Ein hübsches Beispiel ist der Schlußsatz der Rede, der meines
Wissens noch nicht überzeugend erklärt ist. Der magus endet mit der
Mahnung octipedis cancri terga sinistra cave. Damit zielt Properz auf die
aselli genannten Sterne, die vor der Krippe stehen. Manilius erwähnt sie
Y 174 unter dem Namen lugulae: nunc cancro vicina canam, cui parte
sinistra consurgunt Jugulae. Die Mahnung des Sterndeuters besagt also
'Hüte dich vor den Eseln*, und wir sind überzeugt, daß Properz von
der Warnung den denkbar unverzüglichsten Gebrauch machen wird.
Komplizierter ist die scharfsinnige Erklärung von BoU in dem für die
Erläuterung und das Verständnis dieses Gedichtes grundlegenden Auf-
satze von A. Dieterich Bh. Mus. 1900, vgl. bes. S. 208 ff.
i
136 Siegfried Sudhaus
den biologisclien Szenen etwa des Herondas verwandt ist, denn
wie getreu die Schilderung ist, bemerkt man bald, wenn
man andere astrologische Literatur heranzieht. Es wäre eine
lohnende Aufgabe, das Punkt für Punkt zu illustrieren.
Nach dem Leben ist es denn auch geschildert, wenn sich
der Sterndeuter, um seine Glaubhaftigkeit zu beweisen, auf
frühere Yoraussagungen beruft, die der Verlauf der Dinge be-
stätigt hat.i Der eine Fall (89—98) betrifft Zwillinge, mit
denen sich die Astrologie so angelegentlich beschäftigte, ein
viel behandeltes Thema, das auch ernstere Leute wie Posidonius
interessierte. Dann folgt ein zweites Zeugnis für die fides des
Chaldäers, das so überliefert ist:
99 idem ego cum Cinarae traheret Lucina dolores
et facerent uteri pondera lenta moram,
lunonis facite votum impetrabile dixi:
illa parit, libris est data palma meis.
Die gewöhnliche Heilung des metrischen Fehlers in
Vers 101
„lunonis votum facite impetrabile" dixi
hält näherem Nachdenken nicht stand. Denn was soll der Rat
„ein wirksames Gebet an Juno zu richten"? Das wußte ja
jede Wöchnerin, daß man Juno Lucina anzurufen habe,
und der Rat, ein votum impetrabile zu tun, ist doch gar zu
billig und einfältig. Er muß doch selber das Gebet angeben.
Es bedarf irgendeiner speziellen Anweisung, um die Kunst des
^ Ein Magier, der sich auf eingetroffene Prophezeiungen beruft,
in Jamblichs Roman, c. 10 fin. Erotici Script, p. 518, 29. Im übrigen
ist das alter Gemeinplatz. Schon der prophezeiende Prometheus (824)
hebt so an:
OTKog ^' ocv sidrj [ir] (idti^v ocXvovaä [lov,
a tiqIv }ioXstv dsvg' ^x/xsfio^^rjxev tpQd6(0f
tsu^'^QLOv tovt' ccvvb Sovg ybvQ'av i^&v.
vgl. dazu 842 f. Die Worte der Kassandra Agam. 1193 ^iiuqtov tj rrjew
TL to^orrig xig coff; erinnern anv. 122 mentior? an patriae tangitur ora tuae?
und wieder an Prom. 835 t&vds jtQOöaalvsi öe rt; köstlich ist Petron. 76.
Lautes und leises Beten 137
Magiers zu bewähren. Es bedarf einer Begründung, wenn es
in folgendem Verse heißt:
illa parit: 11 bris est data palma meis.
Wir fordern, da ja seinen Rollen die Palme zuteil wird, daß
diese Rollen, denen offenbar das Verdienst gebührt, die Geburt
zu beschleunigen, und die seiner Weisheit Quelle sind, vor
unseren Augen in Aktion treten, wenn anders sie die Palme
verdienen sollen.
Das geschieht, wenn wir folgende, wie es scheint, not-
wendige und fast unmerkliche Änderung vornehmen, die auch
gestattet, die überlieferte Wortstellung zu erhalten:
lunonis tacite votum impetrabile dixi.
Der Magier hat aus den Rollen, die ein ständiges Attribut
aller Propheten und Astrologen sind, ein Gebet aufgesagt,
und zwar leise, was ebenfalls für die magische Praxis
charakteristisch ist, wie wir sehen werden. Die Wirkung des
still gesprochenen Gebets ist eine starke und unmittelbare,^ und
den kostbaren Rollen wird die gebührende Palme zuerkannt.
Ein leises Beten^ wie es hier geschildert wird, finden wir
bei den Alten nicht gerade selten erwähnt, aber es bildet
doch immer die Ausnahme. Es gilt das in erster Linie von dem
öffentlichen Gebet, bei dem der laute Vortrag selbstverständ-
lich erscheint, aber auch das private Gebet, von dem im
folgenden fast ausschließlich die Rede ist, wird nicht ohne
besondere Gründe leise gesprochen. Auch bei den Juden war
das nicht anders. Ganz besonders charakteristisch ist die Er-
I Zählung von Hanna im Anfang des 1. Buches Samuelis. —
I Hanna betet zu Jahwe und wir erfahren auch den Inhalt ihres
! Gebetes. Dann heißt es: „Während sie nun so lange vor Jahwe
I betete, wobei Eli ihren Mund beobachtete — Hanna redete
! .. . .
1 nämlich leise, nur ihre Lippen bewegten sich, aber ihre Stimme
i ^ Vgl. die Gebete der Magier bei Diog. Laert. I 6 mit dem Zusatz
; w? ccvrovg iiovovg äxovoiiBvovs.
I
138 Siegfried Sudhaus
hörte man niclit — , kam Eli auf den Gedanken, sie sei tränke;
Offenbar soll eine ganz besondere Inbrunst des Gebetes^ da"
gestellt werden, da die Flehende nach ihrem eigenen Aus-
drucke ihr Herz vor Jahwe ausschüttet, aber die Form, in der
sie es tut, erscheint dem Beobachter äußerst merkwürdig und
befremdend. In der Tat würde man aus psychologischen
Erwägungen viel eher erwarten, daß die dringende Bitte laut
von den Lippen erklingt. Sehr anschaulich schildert das
Juvenal 10, 289, wenn er eine Mutter, die einen Yenustempel
sieht, Schönheit für ihre Kinder erbitten läßt. Für die Knaben
bittet sie modico murmure, aber für die Mädchen, für die die
Gabe der Schönheit so viel wertvoller ist, klingt ihr Flehen
lauter und eindringlicher:
formam optat modico pueris, maiore puellis
murmure, cum Veneris fanum videt anxia mater
usque ad delicias votorum.
Es ist ja verständlich genug, daß man Kraft und Wirksamkeit
des Gebetes mit der Energie des Vortrages in Wechselwirkung
dachte, und im Grunde ist es dieselbe naive Vorstellung, wenn
die Helden der llias von dem iisydXa sv^s^^ccl^ einen be-
sonderen Erfolg erwarten, und wenn Augustin^ bei Gelegenheit
eines besonders leidenschaftlichen und unter Jammern und
Tränen hervorgestoßenen Gebetes ausruft: Bomine, quas tuorum
preces exaudis, si has non exaudis?^
Es versteht sich nun von selbst, und die bei den Lateinern
sehr gebräuchliche Bezeichnung murmur würde darauf führen,
daß wir zwischen lautlosem und lautem Beten allerhand
Zwischenstufen ansetzen müssen. Die Vortragsweise wird nach
den Umständen sehr verschieden sein, die Person des Betenden
^ Anders erklärt Cyprian de domin. orat. 5 die Stelle (tacite et
modeste).
2 ^ 450 r 275 — Z 301; vgl. Könige I 18, 26—29, Apul Met. XL 24:
■und XI 1. Herod. VII 191 — Meister Griech. Bial. II 222, zu ccQa Ruf,
Bitte. 2 de civ. dei 22, 8. * vgl. Z 301, Q 364 der llias.
Lautes und leises Beten 139
selbst und sein Verhältnis zu seinem Gotte spielen naturgemäß
eine Rolle dabei. Der naive Mensch wird anders beten als der
reflektierende. Anders wird ein gewohnheitsmäßig gesprochenes,
formelhaftes Gebet klingen, anders ein ^Schreien aus tiefer Not'
und anders wieder ein Dankgebet, das den Lippen unauf-
haltsam^ entströmt. Das Ritualgebet und ein privates An-
liegen werden sich in der Vortragsart stark unterscheiden.
Zeit und Stunde, Ort und Umgebung, Sitte und Brauch,
Stimmung und Temperament werden mitwirken, und eine bunte,
wechselreiche Stufenfolge führt vom stummen Gebet zum
leidenschaftlichen Erguß unter Tränen und Zuckungen, führt
vom flüchtigen, halblauten Gruß beim Passieren des Tempels
oder dem kurzen Stoßseufzer zu langen, in einförmigem Tonfall
wiederholten Litaneien, mit denen man nach römischem Aus-
drucke die Götter meinte mürbe beten zu können.
Der Kult hat sehr verschiedene und zum Teil sehr sonder-
bare Formen des Gebetsvortrages ausgebildet. Der Aphrodite
ipCd'VQOs^ raunte man leise Gebete ins Ohr wie dem Heros
^jjCd'VQog von Lindos, dem Flüsterer, dessen Wesen Usener kürz-
lich gedeutet hat.^ An Ödipus' Grabe darf nicht gesprochen
werden.^ Zum Pan durfte man nicht schweigend ziehen.*
Die römischen Arvalbrüder, die sich im Tempel der dea dia
einschließen lassen, tragen hoch geschürzt, mit den Gebetsrollen
* Stengel meint, herzliche Dankesworte kenne das antike Gebet
nicht (Die griech. Kultusaltertümer ^ 72). Im ganzen ist das gewiß zu-
treffend, aber in der menschlichsten Zeit hellenischer Kultur findet
sich doch ein bemerkenswertes Zeugnis, ich meine Terenz Heauton
timor. 879 ff., also ein MsvdvdgsLov, das man kaum anders als im an-
gegebenen Sinne deuten kann. Eine Mutter kann sich im Dank an die
Götter nicht genug tun, da sie ihre Tochter wiedergefunden hat. Da sagt der
; Mann: Ohe, desiste inquam deos, uxor gratulando oMundere, tuam esse
' inventam gnatam: nisi illos ex tuo ingenio iudicas, ut nil credas
\ intellegere, nisi idem dictumst centies. Das ist für Mann und Frau
I gleich charakteristisch. Vgl. Ov. Trist. I 3, 39 {pluribus uxor).
2 Bh. Mus. 1904, 623 f. » Oed. Col. 1762.
* Menander fr. 134 K (Schol. zu Arist. Lys. 2).
]^90 Siegfried Sudhaus
in der Hand, ilir altes Enos Lases iuvate im Dreitakte
Aber in all dieser Mannigfaltigkeit unterscheidet man docl
den lauten Vortrag als das Normale, den lautlosen als Aus-
nahme, dazwischen eine Mittelstufe, die die Römer als murmiir
oder gelegentlich als susurrus kennzeichnen.
Daß die laute Vortragsweise des Gebetes überall die
ursprünglichste und auch für die Antike noch die selbst-
verständlichste ist, bedarf kaum des Beweises. Es entspricht
der primitiven sinnlichen Göttervorstellung, daß der Betende
seine Bitte laut und deutlich vortrage, damit sie dem Ohre des
Gottes vernehmlich werde. Am zweckmäßigsten wird man sie
im Heiligtum des Gottes selbst sprechen, aber von Anfang an
finden wir die Vorstellung verbreitet, daß der Gott auch aus
weitester Ferne das Gebet vernehmen könne. Thetis hört Achill
aus der Tiefe des Meeres, und der Betende beruft sich gerne
auf die Fähigkeit des Gottes, alles zu sehen und zu hören.^
Diese Sitte, mit lauter Stimme zu beten, geht durch das
ganze Altertum hindurch. Sie wird überall vorausgesetzt, und
weil sie selbstverständlich erscheint, geschieht ihrer nur selten
und in besonderen Fällen Erwähnung.^ Besonders deutlich
^ 0 515 dvvcceccL Ss 6V navToa a^ovsiv (ähnlich noch der Ausdruck
Joh. 11,42 iyoj dh tjöbiv, ort Ttdvrook ^lov Scnoveis), Hesiod. Erg. 9 yiXvd'i
Idav älcav ts, Aesch. HiJc. 79 xX-usr sv tb dUccLov idovteg — Odysseus
(« 444) kann im Meeressturm nur ov xcctcc d'v^ov beten, aber der Fluß-
gott versteht ihn. So sagt Apollo Tial acocpov evvlri^i y.al ov cpoivevvTOs
&7cov(o Herod. I 47. Vgl. Nägelsbach Homer. Theol.^ 197.
2 Es ist damit wie mit der Sitte des lauten Lesens. Norden
macht darauf in der Einleitung zu seiner antiken Kunstprosa S. 6 auf-
merksam unter Verweisung auf Augustins Konfessionen 6, 3 : cum legebat
(Ambrosius) oculi ducebantur per paginas . . . vox autem et lingua
quiescebant. Saepe cum adessemus, ... sie eum legentem vidimus et
aliter nunquam. — Aber auch der Anschlag des Akontios in Kallimachos'
Kydippe setzt die Sitte, laut zu lesen, voraus. Er läßt einen Apfel vor
die Füße der Geliebten rollen, auf dem zu lesen stand 'Bei der Artemis,
ich schwöre Akontios zu heiraten'. Diese Worte las sie, wie er be-
rechnet hatte, laut, und so ward der Eid verbindlich, elTtsv 7} Tials,
äif^KOEv "Aqtsuls sagt Aristainetos , der den Vorgang nach Kallimachos'
I
Lautes und leises Beten X91
reden solclie Stellen, wo von Ohrenzeugen eines Gebetes die
Rede ist wie in Xenophons Gastmahl 4, 55: xal jCQoirjv iym öov
i^xovov 6'dxoiisvov Ttgbg rovg d'sovg ojtov äv '^g öidovcci tcuqtcov
}isv cc(pd'ovCav, cpQSv&v dh ätpogCav.
berühmter Elegie erzählt. So beginnt denn der 20. Brief des Ovid, der
den Namen der Kydippe trägt:
pertimui scriptumque tuum sine murmure legi,
iuraret ne quos inscia lingna deos.
Unzweideutig sind auch die Worte Lucians in der Schrift IIqos tov
&xaldsvtov 2: av dh ccvsay^isvo ig ^hv rotg öcpQ'ccXiJLotg ogäg zä ßißXlu vrj
Jla xurayiSgag y.al ccvccyiyvooöytEig ^vlu itdvv iitiXQixoiv cpd'avovrog toü
6(pd'aX^ov tb 6t 6 iL a. Andere Stellen dieser Schrift ergeben wegen
der Doppelbedeutung von avayiyvm6yiBLv weniger Sicheres. Nach solchen
Stellen haben wir etwa Aristoph. Frösche 52, Plato frgm. 173 Kock zu
beurteilen. — Aus Augustins Bekenntnissen kann man auch noch 8, 6
hierhinziehen, die Erzählung von der Bekehrung zweier Soldaten zu
Trier, von denen einer auf eine Lebensbeschreibung des h. Antonius
gestoßen war7(quam legere coepit unus eorum). Das Lesen war ein lautes
Lesen, ein Vorlesen, wie stillschweigend vorausgesetzt wird. Denn noch
während der Lektüre bekehren sich beide. Auch die Schilderung seiner
Psalmenlektüre (9, 4), bei der er die Manichäer anwesend gewünscht
hätte, setzt lautes Lesen voraus. Wenn er dagegen in einer ent-
scheidenden Stunde seines Lebens, in der äußersten Spannung seines
Wesens von einem lautlösen Lesen spricht: arripui (sc. codicem apostoli),
aperai et legi in silentio capitulum, quo coniecti sunt oculi mei, so ist
j der ausdrückliche Zusatz in silentio um so sprechender, als wir es hier
I mit einem Ausnahmezustand zu tun haben. Auch das lautlose Lesen
eines Briefes, das Antiphanes' Rätsel (^^Ä. 451a, fr. 169 K.) voraussetzt,
i erklärt das Wesen des ygtcpog und die diskrete Natur des Briefes.
; Vgl. Heliodor X 13, Chariton IV 5. Und so brauchen wir auch die
Worte des Horaz
ad quartam iaceo: post hanc vagor aut ego lecto
aut scripto quod me tacitum iuvet {sat. 1, 6, 122)
j nicht anders zu interpretieren , als etwa der bezeichnende Ausdruck des
j Dracontius {Bomul. 7, 139, vgl. Manu. 5, 336) murmurat os tacitum an
j die Hand gibt, den dieser von seiner dichterischen Produktion ge-
I braucht. Daß man Verse oder rhythmische Prosa laut las, verstand
j sich eigentlich von selbst, sie wenden sich ja ans Ohr. Aber von
I Augustins leidenschaftlicher Rezitation bis zu jenem tacitum murmur,
\ mit dem gelassenere Menschen ihre Lektüre begleiten, ist auch hier
j eine lange Skala. — Bemerkenswert sind auch die Äußerungen bei
; Sueton Oct. 39, Horaz s. I 3, 64: II 5, 68.
;[92 Siegfried Sudhaus
Im Rudens des Plautus (258) hört die Priesterin, wie
Leute mit vernelimliclier Stimme ein Gebet an Yenus richten:
qui sunt qui a patrona preces mea expetessunt?
nam vox me precantum huc foras excitavit.^
Im Romane des Chariton III 8 ist von einem lauten Qj
bete an Aphrodite die Rede, das ein gewisser Dionysios spricl
und von dem kTtsvcpruiBiv des Volkes. Da aber die schöi
Kallirhoe zu derselben Göttin zu beten verlangt, müssen
die Kapelle verlassen. Die Vorstellung, daß sie ja etwa leii(
beten könne, kommt dem Autor gar nicht.^
Bei Xenophon von Ephesus wird eine Ev%ri geschildert,
ein Vater bei der Abfahrt seiner Kinder spricht. Er ruft
laut, daß die Scheidenden, die schon vom Ufer abgestoß^
sind, noch deutlich jedes Wort vernehmen, das der Zurüc|
bleibende spricht.^
Valerius Flaccus II 256 ff. schildert, wie das Echo ei]
Gebetes von den Wänden des Tempels zurückklingt.
Nicht undeutlich redet auch eine Stelle des zweite
Alkibiades (148c): AaTcsdai^ovioi . . . idCa xal drj^oöCa stckötote
TtaQajtXrjöCav S'b%'riv Bv%ovxai^ tä zaXä i^l tolg dyad'otg tovg
* Vgl. auch 1343. Ovid {F. .1, 631) ist nicht minder deutlich, aber
vom öffentlichen rituellen Gebet gesagt, für das sich der laute Vortrag
von selbst versteht:
si quis amas veteres ritus, adsiste precanti:
nomina percipies non tibi nota prius.
Dagegen betrifft die Anekdote bei Porphyr, zu Horaz s. I 3, 21 ein
Privatgebet: Hie (scurra Maenius) cum post Patrimonium adrosum Kalen-
dis Januariis in Capitolio clara voce optaret, ut quadringenta nummorum
aeris alieni haheret, quaerente quodam, quid sibi vellet^ quod tarn sollemni
die aes alienum habere optaret, ^noli mirari', inquit, 'octingenta debeo'.
^ Vgl. auch weiterhin hi ßovXo^ivriv Xeysiv insöx^ ^^ SdxQva, genau
wie bei Ovid Trist. I 3, 39 Hac prece adoravi superos ego, pluribus uxor,
singultu medios impediente sonos.
^ 1, 10 6 dh Msycc^'^Sris cpidlriv Xaßoav xat iTCiCTc'tvdoiv ri^^sro mg
i^axovötov SLVccL totg iv rjj vriL' co itccldsg . , . svtvxotrs xvX.
I
Lautes und leises Beten 193
dsovg ÖLÖövca xsXBvovtag av 6(pCöiv avtolg, tcXbIov d' oi)d£lg
oiv ixsCvcov sv^a^svcov azovöSLS,^
Aber auch in christliclier Zeit, wo häufiger von stillem
Beten die Rede ist, wird zunächst doch das laute Gebet als
Regel betrachtet. Augustin bezeichnet in dem oben angeführten
Kapitel (De civ. dei 22j 8) das stumme Gebet als einen Not-
behelf: ego tarnen prorsus orare non poteram: hoc tantum modo
hreviter in corde meo dixi} Origines bemerkt in der Schrift
ccsqI Bvxfjg (13) ausdrücklich, daß Jesus* intimes Gebet
Ev. Joh. 17, für die Jünger hörbar vorgetragen, von Johannes
aufgezeichnet sei, 6 öh ^Icsawi^g sv%'^v a'bxov ccvayQdfpsi. Selbst
das Gebot, im stillen Kämmerlein zu beten, und das Verbot
des ßattoXoyslv setzen noch lange kein stummes Beten voraus.
Der Trieb, zum Behufe ungestörten Betens abseits zu gehen
von den Gefährten, spricht im Gegenteil für das Bedürfnis,
laut zu beten (Marcus 1, 35; vgl. Od. XII 233^ B. I 35).
Wie in den angeführten klassischen Stellen dringt auch
in der Apostelgeschichte (26, 25) der Ton lauten Gebetes an die
Ohren der umgebenden Menschen.* Und so ließe sich noch
mancherlei anführen.
Nun können es aber rein äußerliche Umstände so fügen,
daß ein lautes Beten für den Beter unmöglich wird.^ In
^ Auch sonst verrät gelegentlich die Wortwahl die Vortragsweise
I eines Gebetes, so Verg. Äen. III 438 lunoni cane vota libens.
\ ^ Ganz ähnlich Valer. Flacc. IV 372 conantemque preces inclusaque
Ipectore verha.
3 Od. 12, 333
di] ZOT* iyatv avä vfi6ov äni6ti%ov, öcpga d'sotaiv
sv^ai^riv, s'i! rlg yboi bdov cpxjVEis vhseO'ui.
äXX ots St] dicc vjJGov loav ijXv^cc italQOvg,
X^tQug vL'^d^svog, o-S*' iTtl cni-Tcag riv ävhybOiOf
TlQm^TlV TcdvTSööL d'sotg — ,
^ acta apost. 26, 25 Ttarä dh xo ^iseovvTiTLOv IlavXog kccI ZLXccg
; ngoGsv^oiisvoL v^vovv tov d'sov ijtri'XQO&VTO dh wbt&v ol dkaybioi.
I ^ In dem Roman des Achilles Tatius 3, 10 ist es Rücksichtnahme
; auf die anwesende Geliebte, die den Liebhaber veranlaßt, die Stimme
' zu verhalten: xoxb . . . xXdsiv riQ%ov xriv AevTilTtTtriv . . . xaTcvßccg iv xfj
J_94 Siegfried Sudhaus
Euripides' Electra (808) ist Orest durcli die Gegenwart d^
Ägistli gezwungen, sein Gebet leise für sich, zu sprechen, wie d^
Bote berichtet: , , , ,
ösöTtotrjg S i^og
xavavri ^^jj^x ov ysymvCiS'KCDv Xoyovg
Xccßstv TtatQaa öcaiiara.
Selbst staatliche offizielle Gebete werden nicht immer laj
vorgetragen. Zu den zahlreichen Gebeten in umbrischem Diale]
die auf den Iguvinischen Tafeln erhalten sind, lesen wir öfters
den Zusatz tases persnimu sevom, Hacitus precamino totum'. Denn
es besteht die Gefahr, daß Feinde und Widersacher das Gebet
erfahren, das der Stadt Segen und Wohlfahrt gewährleistet.
Sie könnten seine Wirkung durch einen stärkeren Zauber
brechen.^ Diese Vorstellung spiegelt sich denn auch besonde
kenntlich in den oft zitierten Worten des Aias H 194:
rocpo" v^stg sv'/^eöd'e /iu Kqovmvi avaKXv
GLyrj icp {)(jL£tcov, Lva (ir} TQ&ig ys %v9-covxai^
oder — so heißt es in einem Zusatz, vielleicht späterer Zeit^
oder auch laut, da wir niemand fürchten.
o/jv;^^ ßv&iov, tG> öh v& TtXhipag tov jcoaxvroi) tov ipocpov. 'Sl d'sol
äaiiiovEg ktX. — rovto ^ihv o^v id'Q'^vovv riGvxy- — Judith verbietet il
Lage, laut zu beten; so trat sie denn „vor das Bette und betete heim-
lich mit Tränen" (13, 5). — Anders wieder Liban. 30, 52. Man darf
nicht mehr zu den alten Göttern beten nXrjv ?) ety^ v.cd Xavd-dvoav.
* Vgl. Porphyrius bei Augustin De civ. dei X 9: Conqueritur,
inquit, vir in Chaldaea bonus purgandae animae magno in molimine
frustratos sibi esse successus, cum vir ad eadem potens tactus invidia
adiuratas sacris precibus potentias alligasset, ne postulata concederent. —
Horaz, epod. 5, 71 solutus ambulat veneficae scientioris carmine.
^ Dazu mag man Statins' Thehais YI 632, ein Gebet vor dem
Wettkampf, vergleichen: mox numina supplex adfatu tacito iuvenis
Tegeaeus adorat, auch Stat. Ach. I 815 und Valer. Flacc. IV 257. Aus-
feld, De Graecorum precationibus quaest. (Jb. Supplem. 28, 514) verweist
auf ein Scholion zu A 35 ccTtdvavd's yiLoov: lvcc ^tj ccxovgcoölv ol itoX^iLioi.
Bemerkenswert ist auch die Erklärung zu diesem ersten Gebet des Chryses
in dem Scholion zu v. 450: ors dh TtccxriQäto, '^ßvxy rj'i;;^«TO" in oXtd'QO)
yciQ ccvd'QmTtcav r] ccltriGis (s. Ausfeld a. a. 0.).
^ V. Wilamowitz Hom. Unters. 244.
Lautes und leises Beten 195
In einen anderen Vorstellungskreis führt uns eine Stelle
des TibuU, die sich in der Forni an die Worte der Ilias an-
lehnt. II 1 83 fordert der Dichter zu einem lauten und weiter
zu einem verstohlenen Gebet an Eros auf:
Vos celebrem cantate deum pecorique vocate
voce: palam pecori, clam sibi quisque vocet:^
aut etiam sibi quisque palam; nam turba iocosa
obstrepit et Phrygio tibia curva sono.
Nicht ernste Besorgnis oder Furcht bewirkt es, daß die
Gebete an Amor oder Yenus oft tacita vota bleiben, sondern
die aiö6g. Eine Aphrodite psithyros ist darum besonders ver-
ständlich. Das Gebet der Ariadne bei CatuU 64, 104 dringt
nicht über die Lippen der Jungfrau, tacito suscepit vota lahello.
Dasselbe schildert Aristainetos von einem zierlichen und zärt-
lichen Knaben, der affektiert schildert, wie sich ein Stoßseufzer
der Liebe nicht über die Lippen wagte.^
Neben diese harmlosen stummen Gebete der Liebenden
treten nun andere tacitae preces, die ebenfalls von der ald6g
in das Innere zurückgedrängt werden, aber minder harmlos
sind. Epikur^ äußerf einmal, wenn Gott alle Wünsche und
Gebete erfüllen wollte, so würden die Menschen bald vom Erd-
bodenverschwunden sein: so viel Schlimmes und Böses wünschen
sie einander ohne Unterlaß an. Solche blasphemischen und
gottlosen Gebete muten uns besonders seltsam an. Es wäre
vielleicht Überhebung, wenn wir uns vorspiegeln wollten, die
moderne Menschheit stünde in moralischer Beziehung auf einer
höheren Stufe als der Durchschnitt der Menschen im Altertum.
Aber daran kann man gar nicht zweifeln, daß das Gebet durch
Läuterung und Vertiefung der Gottesidee reiner geworden
i«t. Manch antikes Gebet würde dem modernen Empfinden
' Vgl. IV 5 20.
^ Aristaen. 16 tcXtiv ov TE9'dQQTf]y,a xov Ttod'ov ^xqprj^'a^, ivTog dh
Iti'OUg r&v x^lI&v vTtoötivco- „öv toIvvv, co "EqcoS) Svvccaav y&Q, ccvtriv
TcccQuöxsvccöov ^QoatTiv c(Lt7]acci^' * Useuer EpicK/rea 388, S. 259.
196 Siegfried Sudhaus
und Verstehen als heller Walinsinn erscheinen. Die ziemlich
einstimmigen Äußerungen antiker Moralisten und kirchlicher
Schriftsteller wie Lactantius (Inst. Y 19, 31) zeigen, wie naiver
Egoismus, Gewinn- und Rachsucht dazu führten, den göttlichen
Ohren sehr starke Dinge und nach unseren Begriffen unerhörte
Bitten vorzutragen. Die bleiernen Verfluchungstafeln bestätigen
und illustrieren ihre Angaben. Derartige schamlose Anliegen
schildern Horaz und Persius, sie vergessen aber auch nicht
hinzuzufügen, daß solche Bitten tacitej verstohlen vorgetragen
werden.
Eine der bekanntesten Stellen ist Horaz' Außeru]
epist. I 16, 59:
^lane pater' clare, clare cum dixit * Apollo',
labra movet metuens audiri: ^pulchra Lavema,
da mihi fallere, da iusto sanetoque videri,
noctem peccatis et fraudibus obice nubem.'
Noch stärkere Farben trägt Persius in der Imitation dies(
Stelle zu Anfang der zweiten Satire auf.^ Auch Seneca äußei
sich ganz ähnlich im 10. Briefe. Er habe bei Athenodor
Stelle gelesen: „Dann darfst du überzeugt sein, daß du voj
allen Begierden befreit bist, wenn du es so weit gebracl
hast, daß du nichts von Gott erbittest, als was du offen v(
jedermann erbitten kannst." Aber welche Verblendung beherrscl
jetzt die Menschen. Sie flüstern den Göttern die schmählichste
Gebete ins Ohr.^ Wenn jemand hinhört, verstummen sie, unj
was kein Mensch wissen darf, tragen sie Gott vor. Sprich mj
Gott so, als ob die Menschen es hörten.
^ non tu prece poscis emaci,
quae nisi seductis nequeas committere divis.
5 At bona pars procerum tacita libabit acerra.
Haudcuivispromptumestmurmurque humilesque susurr<
tollere de templis et aperto vivere voto.
'Mens bona, fama, fides' — haec clare et ut audiat hospes,
illa sibi introrsum et sub lingua murmurat: 'o si
10 ebullit patrui praeclarum funus"* etc.
- * turpissima vota dis insusurrant.
Lautes und leises Beten 197
Derartige Ausfülirungen sind dann zum fÖrmliclien Gemein-
platz geworden. Man schrieb schon dem alten Pythagoras die
Vorschrift zu [istä (pcovrig zu beten ^, und auch in der christlichen
Literatur finden wir die nämliche Forderung.^
Nun gibt es aber ein großes Gebiet, in dem die Sitte,
leise zu beten, am weitesten verbreitet und geradezu typisch
ist, das ist die Sphäre des Zaubers und speziell der Magie,
und damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkte zurück.
Der Magier wird an dem leisen Beten geradezu erkannt. Dafür
ist besonders bezeichnend eine Stelle aus Apuleius' Apologie (54),
wo ein vorschneller, aber vielsagender Schluß aus einem leise
gesprochenen Gebete gezogen wird: tacitas preces in templo dis
allegasti: igitur magus es. Bemerkenswert ist auch Lucan VI 429
Assyria scrutetur sidera mra aut si quid tacitum, sed fas erat.
Dabei ist hervorzuheben, daß tacitus keineswegs immer als
lautlos aufzufassen ist. Lucan selbst redet von einem tacitus
susurrus (V 104) und die magischen tacitae commercia linguae
mit den Manes bei der Totenbeschwörung VI 700 sind natürlich
halblaut gedacht, nicht lautlos.^ Am deutlichsten ist vielleicht
für den Gebrauch Apuleius Metam. IX 25: tacite suasi ac
denique persuasi, secederet. — In diesen Zusammenhang gehört
denn auch die Aufforderung in Dieterichs Mithrasliturgie (17),
zu beten ätovG) cpd'oyyo), lvcc ^lii ccxovdy.^ Die Zauberin
Medea beschwört den Drachen bei Valerius Flaccus (VII 464)
sepieno murmure. Nachher (488) aber heißt es: tacitis nam
cantibus illum flexerat^ Auch die 'E(ps6La yga^^ata lassen die
* Clemens Alex. Strom. IV 26, vgl. Ausfeld a. a. 0. 514.
^ Besonders charakteristisch Orig. Ttsgl svxr]g 10.
' Vgl. Horaz Sat. 1 8, 40, der ein solches commercium sogar als
triste et acutum bezeichnet. — Eine ähnliche Vorstellung begegnet schon
'bei Jesaias 8, 19 * Befragt doch die Totengeister und die Wahrsagegeister,
die da flüstern und murmeln*. (Kautzsch.)
* Dazu Maaß Tagesgötter S. 245 ff.
^ Ähnlich Dracont. JRomul. X 14.
Archiv f. KeligionswisBenscliaft IX 14
198 Siegfried Sudhans
Magier die Besessenen ^für sich' hersagen.^ In Quintilians
10. Deklamation heißt es: ore squalido harbarum murmur
intonat (sc. magus), dem man etwa die Ausdrücke snCxQoiov
ti Tcal aöacphg s^d'syysto . . . rrjv e:t(pdriv exsCvrjv v:totovd'OQv6ag . .
in Lucians Menippos (7) zur Seite stellen kann.^ Besonders a^HJ
schaulich ist die Szene hei Achilles Tatius II 7, die ich zum Schlüsse ' ■
noch erwähnen will.^ Denn die Häufung der mir zu Gebote
stehenden Beispiele bringt weiter keinen neuen Zug in das Bild.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf die Stelle,
von der wir ausgingen, so zeigt sich, daß der Magier
Propertius gewisse preces commmdaticiae^ zu besitzen vorgil
die seine Rolle enthält. Solche RoUen hatten für das Publiki
eine große Anziehungskraft^, sie erbten wie die Kunst ^
Chaldaei vom Yater auf den Sohn. Je älter und verbrauchter
sie aussahen, um so ehrwürdiger und vertrauenerweckender
erschienen sie der Menge.' Yon den wirksamen Sprüchen,
den Vota und carniina exordbilia gehörten die, die Geburtsnöte
beschwichtigten, vielleicht mit zu den begehrtesten. Hatten
doch selbst die Hebammen solche iTtadaC, die sie bei ihi
hrfll
e. MI
* ol jxayot rovg danLOVi^o^iivovg y.eXsvov6L rä 'EtptöLcc ygcifi^
ytQog avTovg Tiataltysiv Kai ovofta^str, Plut. conv. quaest. YII 5, 706 e.
' Vgl. auch Pseudom. 13 u. Dieterich zur MithrasUt S. 34.
' Es handelt sich um Besprechung eines Bienenstiches auf der
Lippe des Liebhabers: tj Sh TtQOö'qXd-t rs xai aviO'ri'icBv mg inaeovecc tb
6t6^cc Kcci ti iipi^d'VQV^EV iTtiTtoXfig ipavovöa ftov t&v %iiXioiv' v,ctyoi
7iatEq)lXovv 6L0)7cy 'nXiTCtav r&v (piXrniccToav rbv ipocpov 7} Sh avoiyovea
ycoil kXsIovgcc t&v %Bi,Xitav tr]v ev^ißoXijv tS) Tfjg incadfig ipvd'VQLöiiati
cpiXi^liccta iTtOLSL trjv iTCaöi^v.
* Nach einem Ausdruck des Amobius (VII 62) magi spondent
commendaticias habere se preces etc.
^ Augustin Conf. IV 3, VII 6. « Diodor II 29.
' Lucian Philops. 12: iTteLTtav lEgcctttid rivcc in ßißXov TtccXcciag ovöybata
kTtrd. Vgl. auch Juvenal VI 553, 574, Plin. N. H. 29, 9. — Schon bei
Isocrates 19, 5 erbt jemand ähnliche Rollen rag ts ßlßXovg rag nsgl rf}S
iiavTLyi'Qg avta KatiXins. Das Geschriebene wirkte eben wie bei uns das
Gedruckte, es hatte seine Gewähr in sich, Xaßk to ßißXlov sagt der
Mantis in Aristophanes' Vögeln 974 ff. — Vgl. auch Horaz epod. 17, 4;
Plato 364 E.
Lautes und leises Beten 199
IqjccQiiccxa hersagten, um die Wehen zu beschleunigen und zu
mildern, Geburt oder Abortus einzuleiten. Auch zurückhalten
konnten jene die Geburt, wie Nectanebo zweimal die Geburt
des Alexander retardiert haben sollte. Daß nun unser magus
seine vota taciie vorgetragen hat, wird man nach dem Gesagten
nicht anders erwarten, mag man sich darunter ein lento
murmure susurrare^ vorstellen oder an Persius' Schilderung
jdes jüdischen Gebetes denken (labra moves tacitus 5, 184) oder
|ein i^tiXs'ysLv cpcoväg ßaQßaQixdg^, (pd'syysöd'ai (pcovdg nvag
Idörjfiovg^ annehmen. Schwerlich aber waren diese tacitae preces,
[um einen Ausdruck des Martial (XII 77) zu gebrauchen, mutae
Ipreces; denn das hätte keinen Effekt gemacht.
Alles in allem weicht die antike Art und Weise des
iGebetsvortrages von der modernen sehr stark ab. Sie begegnen
ifiich in der niedrigsten Sphäre, bei der Besprechung und Be-
ischwörung, im Hersagen von Zauberformeln, denen das Murmeln,
ein halblauter Vortrag wohl stets angehaftet hat. Ein lautes
Anrufen eines Heiligen kann man in Italien auch heute noch
bei einzelnen Betern hören, die unbekümmert um etwaige
Zuhörer ihr persönliches Anliegen vortragen. Aber eine stille
Schar Betender, wie sie sich in Andacht versunken etwa um
den Sarkophag des Santo zu Padua gruppiert, kann man sich
für das Altertum kaum vorstellen. Nur die äußerste Not oder
zufällige Zwangslage, Scham oder schlechtes Gewissen und
(Menschenfurcht kann den einzelnen Beter zu leisem Beten ver-
anlassen. Aber auch da ist die Sitte und altüberlieferte Gewohn-
heit so stark, daß wir überall eher an ein Sinken der Stimme
ials an ein vollkommenes Verstummen zu denken haben. Das
laperto vivere voto ist eine Forderung der Moral und des
Anstandes zugleich.^ Von einer Neigung, leise zu beten, spricht
^ Firm. Mat. De err. prof. rell. XXII 1.
^ Xenopli. Eph. I 5. ' ^ Luc. Pseudom. 13.
1 * Das illustriert eine Stelle des Herondas (YII 74), die sich sehr
Inahe mit den oben zitierten Versen des Horaz epist. I 16, 59 berührt:
14*
200 Siegfried Sndhaus Lautes und leises Beten
meines Wissens zuerst Seneca (De benef. II 1, 4) in folgendem
Zusammenhange. Den Menschen falle es im allgemeinen schwer,
'bitte' zu sagen, und die Wohltat, die um diesen Preis ge-
wonnen wird, verliere in ihren Augen an Wert . . . nulla
res carius constat quam quae precihus empta est. Vota homines
parcius facerent, si palam facienda essent: adeo etiam deos,
quibus honestissime supplicamus, tacite malumus et intra nosmä
ipsos precari. Die Stelle ist um so bemerkenswerter, als hier
ganz unverkennbar eine allgemeine Neigung, still für sich zu
bitten, anerkannt wird. Wenn es angängig ist, wird man die
Vota nicht vor Zeugen ablegen, selbst wenn sie ganz unver-
fänglich sind. Der Grund ist nach Seneca das Zartgefühl des
Menschen, der selbst den Göttern gegenüber nicht gerne als
Bittsteller auftritt. Allein der Ausdruck, den er wählt: de
tacite malumus et intra nosmet ipsos precari scheint doch au(
ein anderes, dem modernen ganz verwandtes Empfinden
verraten, das sich gegen das Eindringen einer dritten Pers(
in den persönlichen Verkehr mit der Gottheit auflehnt.^
^Egfii) TS itegdicov v-al ev, negdlri ÜBid'ot,
ms ijv XI 117] vvv riiiiv ig ßöXov 7ivq6t[j,
ovy, ol3' oxojg &iislvov 7} xvd'gr} tcq-^^sl. —
Tl tov&OQv^Big v.O'h'K iXEvd'igifj yXdöGjj
xov rt^LOV Sang iöxlv i^sdlcpriöag;
Die £i)xri ^Eg^f} xs nsgdioav xxX. erinnert an das kurze von Robert (Bi
und Lied S. 81 ff.) behandelte Stoßgebet, das so recht aus dem Leben
gegriffen ist (Isocrat. II 47): m Zev TCccTsg^ al'd'e nXovCLog yivoi{^av).
^ In derselben Zeit fordert ApoUonius von Tyana ein lautloses
Beten. Vgl. Euseb. praep. ev. IV 13, eine Stelle, auf die mich H. Schmidt
in Kiel aufmerksam macht: ^lövco dk xgarto ngog avxov (sc. Q'bÖv) ccbI tSj
-Kghlxxovi Xoym, Xsyco 3h xa> ^i] diä Gxoiiaxog iovxi, Ttagä dk xov -aaXXlcxov
x&v ovxav diä xov KaXXißxov x&v iv Tjiitv aixoiri xccyccd'd' vovg Si iativ
ovxog ogydvov ftrj dsofisvog. Der Gedanke findet dann in der neu-
pythagoreischen und neuplatonischen Literatur weitere Verbreitung, wie
das Dieterich in seiner Mithrasliturgie S. 42 f. ausgeführt hat.
Feralis exercitus
Von Ludwig Weniger in Weimar
A. Das schwarze Heer der Harier
I
Tacitus behandelt im zweiten Teile der Germania die
deutschen Völker und ihre Sitten. Sämtliche Germanen teilt
er in Sueben und Nichtsueben und beginnt die Darstellung
jmit den nichtsuebischen Völkerschaften. Und zwar nimmt er,
da er vom Rhein ausgeht, zunächst die westlichen vor, darauf
die nordwestlichen. Eine Betrachtung über die dem römischen
Reiche von den Deutschen drohende Gefahr schließt den
Abschnitt. Hierauf geht er zu den Sueben über, die den
größten Teil von Germanien innehaben. Er bespricht zuerst
die Suebenvölker im 'Inneren des Landes bis hinab zur Eib-
mündung und zur kimbrischen Halbinsel, dann weiter südlich
auf die Donau zu, darauf im Osten und Nordosten. In jenen
Gegenden teilt ein zusammenhängendes Gebirge das Sueben-
gebiet in zwei Teile. Jenseits der Berge wohnt die suebische
Völkerschaft der Lugier; endlich folgen die Gotonen. Die
Lugier zerfallen in mehrere Stämme, als deren bedeutendste
die Harier, Helvaeonen, Manimer, Elisier und Nahanarvaler
angeführt werden. Die Harier sind es, die uns im folgenden
beschäftigen sollen.
„Die Harier übertreffen", so erzählt Tacitus, „die eben
aufgezählten Völker nicht nur an Macht, sondern sie steigern
diese noch durch ihre grimme Art. Ihrer natürlichen Wild-
heit kommen sie durch künstliche Mittel und die Zeit zu
Hilfe: schwarze Schilde, gefärbte Leiber; schwarze
202 Ludwig Weniger
Nächte wählen sie zu den Kämpfen, und eben durch
das Grausige und Schattenhafte flößen sie den Schrecken eines
Gespensterheeres ein, wie denn keiner der Feinde den
unbegreiflichen und gleichsam dem Totenreich entsteigenden
Anblick aushält. Denn zuerst in allen Kämpfen sind es die
Augen, die unterliegen" (G. 43). Ceterum Harii, super vires,
quibus enumeratos paulo ante populos antecedunt, truceSj insitae
feritati arte ac tempore lenocinantur : nigra scuta, tincta corpora;
atras ad proelia noctes legunt ipsaque formidine atque umbra
ferdlis exercitus terrorem inferunt nullo hostium sustinente novum
et velut infernum aspectum. Nam primi in omnibus proeUis
oculi vincwntur}
Tacitus hat die Germania im Jahre 98 n. Chr. abgefaßt (3tH|
Man wird annehmen dürfen, daß das von den Hariern Be- '■
richtete in das erste nachchristliche Jahrhundert gehört und
damals noch geübt wurde. In dem Bergzuge, jenseits dessen
das große Volk der Lugier^ wohnt, von dem die Harier einen
Bestandteil bilden, ist der fortlaufende Kamm vom Isergebirge
bis zum Gesenke zu erkennen. Das Volk saß also im heutigen
Schlesien, am oberen Laufe der Oder und weiterhin nach
Osten. Der Name „Harier" scheint aus dem gotischen harjis,
ahd. hari, heri, nhd. Heer, vornehmlich Kriegsheer, erklärbar;
also „Heermänner". Das entspräche der Sitte germanischer
Völker, die sich gern nach kriegerischen Beziehungen nannten,
wie z. B. Cherusker und Sachsen nach dem Schwerte, Franken
nach der Lanze. Wenn es heißt, daß die Harier „die eben
aufgezählten" Völker an Macht übertreffen, so werden darunter
nicht bloß die Marsigner, Cotiner, Oser und Burer zu ver-
stehen sein, von denen Tacitus am Anfange des Kapitels
sprach, und von denen Marsigner und Burer nach Sprache und ;
1 F. Zöchbaner Zwr Germania des Tacitus, Wien 1899, faßt
feralis exercitus als Nominativ nnd Apposition zu dem in inferunt
enthaltenen Subjekt Harii.
2 jxtya ^^vos nennt sie Strabon 7, 290. Vgl. Ptol. 2, 11, 10.
Feralis exercitus 203
Sitte zu den Sueben gehörten, die Cotiner aber Kelten und
die Oser Pannonen waren, sondern man wird aucb die übrigen
Lugier, d. i. die Helvaeonen, Manimer, Elisier und Nabanarvaler,
dazu rechnen dürfen. Unter der Macht — vires — ist zunächst
Kriegerzahl zu verstehen; die Kriegstüchtigkeit tritt dann dazu,
um das Ansehen der Harier weithin bei den Grenznachbarn
zu heben.
Der grimmen Art, die ihnen eigen ist, kamen sie nun
noch durch künstliche Mittel und absichtsvoll gewählte Zeit
zu Hilfe. Während sonst die Germanen ihre Schilde mit den
ausgesuchtesten Farben hervorstechend machten^, führten die
Harier schwarze. Von der Kleidung ist nichts gesagt, da sie
j kaum von Bedeutung war. Die Tracht der Germanen bestand
I damals bei allen in einem einfachen Mantel, saguniy einem
I viereckigen Stücke groben Tuches, das ihnen, gleich der
hellenischen Chlamys, über die Schulter hing. Manche trugen
auch Pelzwerk, die Reicheren anliegendes Gewand.^ Doch
gingen die meisten nackt oder halbnackt in den Kämpft, und
bei einer solchen Gelegenheit, wie der hier erwähnten, wo
das Dunkel der Scham zu Hilfe kam und alles, was ihre Be-
weglichkeit hemmte, beseitigt werden mußte, werden sie wohl
unbekleidet gewesen sein, wie die Vorkämpfer der Kelten.
Dadurch gewinnt das Färben der Leiber an Bedeutung. Schwarz
war sicherlich auch die Farbe, der sie sich dazu bedienten.
Das besagt tincta corpora an sich ja nicht. Man könnte sich
I irgendwelche andere, wenn auch dunkle, Farbe vorstellen,
aber es ergibt sich aus dem Beispiele der Schilde und aus
^ G. 6 scuta tantum lectissimis coloribus distingunt Vgl. Plut.
3Iar. 25 die weißen Schilde der Kimbern, nnten S. 205, Anm. 1.
2 über die Tracht G. 17. Pomp. Mela 3, 3. Auf der Marcussäule
tragen die Germanen Hosen; daraus ist aber nicht auf allgemeine Sitte
zu schließen.
^ Tac. Hist. 2, 22: cohortes Germanorum cantu truci et more patrio
nudis corporibus super umeros scuta quatientium. G 6: nudi aut sagulo
leves. Vgl. Caes. B. G. 4, 1, 10. 6, 21, 5.
204 Ludwig Weniger
dem Zwecke, den sie erreichen wollten. Der Ruß des Herdes
ist schnell zur Hand und zu solchen Zwecken volkstümlich,
auch rasch wieder abzuwaschen. Mit ihm beschmiert sich noch
heute der bayrische Dorfbursch, wenn er zum Haberfeld treiben
eilt. Das gleiche tun Schmuggler, die ebenfalls ihr dunkles
Handwerk zur Nachtzeit treiben, nämlich Waren einschwärzen,
und andere ihresgleichen. Auch von anderen Völkern der
damaligen Zeit wird berichtet, daß sie ihre Leiber färbten.
Von den Briten erzählt Caesar, daß sie sich alle mit Waid e:
rieben und dadurch eine dunkelblaue Farbe erzielten, d
die sie im Kampf einen schrecklicheren Anblick gewährte:
Nach Caesars Darstellung deutet das auf eine stehende Si
man muß annehmen, daß die Briten immer so gingen, auch
wenn Friede war, und daß der Anblick schreckenerregend mehr
auf Fremde, wie z. B. die Römer, wirkte, als auf die Volks-
genossen, die daran gewöhnt waren. Daß auch die Harier
immer schwarz gingen, läßt sich aus dem Wortlaute
Tacitus nicht entnehmen. Da vorausgeht, daß sie der
geborenen Wildheit durch Kunst und Zeit zu Hilfe kam
und da sie die schwarze Nacht als Kampfeszeit wählten, also
besondere Fälle im Auge haben, so muß man vielmehr voraus-
setzen, daß sie sich nur zu diesen bestimmten, aber nach den
Verhältnissen in ähnlicher Form immer einmal wiederkehrenden
Gelegenheiten schwärzten, um dadurch mit dem Grausen der
Nacht zusammenzuwirken. Wie sie dies taten, ob sie sich
mit Ruß einrieben oder mit einem Farbstoffe bemalten, ist
gleichgültig. Nur darauf kommt es an, daß nicht ausgedrückt
^ Caes. B. G. 5, 14: omnes vero se Britanni vitro inficiunt, quod
caeruleum efficit eolorem, atque hoc horridiores sunt m pugna aspectu.
Pomp. Mela 3, 6: (Britanni) incertum ob decorem^ an quid aliud, vitro
Corpora infecti. Plin. N. H. 22, 2: Similis plantagini glastum in Gallia
vocatur. Britannorum coniuges nurusque toto corpore ohlitae quibusdam
in sacris nudae incedunt Äethiopum eolorem imitantes. Von den Pikten
ist bei Isidorus Hisp. orig. 19, 23, 27 Tätowierung bezeugt. Vgl. Schrader,
Beallexikon d. Indogerm. Altertumskunde unter „Tätowierung''.
rier ,
1
Feralis exercitns 205
ist, sie seien für gewöhnlich, auch bei Tag und im Frieden,
wie die Briten, so entstellt einhergegangen. . — Arte ac tempore
gehören zusammen: es war eine Yermummung zu bewußtem
Zwecke, und zwar nicht so sehr, um unerkannt zu bleiben,
wie es Diebe machen, oder wie es der verwundete Arminius
tat, der nach der Schlacht von Idistaviso sein Gesicht mit dem
eigenen Blute bestrich, um so zu entkommen (Ä. 2, 17), sondern
sie taten es, um die Feinde in Angst zu jagen und danach
leichter zu besiegen.
Von jeher haben es deutsche Krieger geliebt, sich durch
Aufputz und Vermummung ein besonderes Ansehen zu geben,
um das Gemüt der Feinde zu schrecken. Von den Sueben
überhaupt, denen ja die Harier angehören, berichtet Tacitus
(G. 38) als Volkssitte, daß sie ihr Haar gegen den Strich
kämmten und in einen Knoten banden. „So unterschieden
sich die Sueben von den anderen Germanen, so die freien
Sueben von den Knechten. Bei anderen Völkerschaften kam
es, sei es durch Verwandtschaft mit den Sueben oder, wie so
oft, aus Nachahmungssucht, in seltenen Fällen vor und blieb
auf junge Leute beschränkt. Bei den Sueben aber kämmte
man das struppige Haar bis ins graue Alter nach hinten und
band es oft gerade über dem Scheitel zusammen. Die Vor-
nehmen trugen es auch schöner hergerichtet. Darein setzten
sie ihre Eitelkeit, eine recht unschuldige. Denn nicht um
Liebschaften anzuregen oder zu finden, sondern zur Erhöhung
der Gestalt und zum Schrecken trugen sie, für die Augen der
Feinde geputzt solchen Schmuck." So der Römer. Die Reiter
der Kimbern hatten Kopfbedeckungen in Gestalt des Rachens
wilder Tiere und phantastischer Tiergesichter, dazu Feder-
büsche, und erhöhten so ihre Gestalt.^ Auch bei anderen
^ Plut. Mar. 25 : ol dh iTtTests . . . i^'^Xccaav layLTtgol, xgccvr] iihv sl-naöiiiva
i d^Qioav (foßsQ&v xäcybccGi xccl Tcgotoiiccts läLOiiogcpoig %ovr8S, ag tJtaiQo^Evot
XotpoLs TCtsQcaroTg stg v'xpog 'i:(pcclvovto nsi^ovg, d'mQcc^v Sh xsxoöiisvoL 6iSriQotg^
; 9'VQSoTg dh Xsvnolg ötiXßovtsg.
206 Ludwig Weniger
m
iclie^H
Germanenstämmen dienten Eberbilder und Eberköpfe, Draclie]
bäupter, Adlerflügel und anderes dergleicben dem nämlicben
Zwecke, die Menscbengestalt ungebeuerlicb zu macben und
den Gegnern Angst einzujagen.^ Die Leute des Ariovist
kämpften barbäuptig. So siebt man Germanen aucb a
römiscben Denkmälern; Helme begegnen zu Tacitus' Zeit ni
vereinzelt.^ Dagegen wurden die Bilder wilder Tiere als Fei
zeicben aus den beiligen Hainen bervorgebolt, ebenso die Ai
zeicben der Götter (G. 7. K 4, 22). Von Tieren war der Widdi
dem Tiu, Scblange und Wolf dem Wodan, der Eber d
Freyr, Bär und Bock dem Tbunar gebeiligt; unter den A
zeicben der Götter aber wird man solcbe, wie den Speer d
Wodan, das Scbwert des Tiu, den Hammer des Tbunar,
versteben baben. Aucb der Barditus, Scblacbtgesang
ScblacbtgebrüU, das in dem Augenblick erboben wurde, we
die Heere bandgemein wurden, gebort bierber, als Mittel,
eigene Zuversiebt zu erböben und durcb den sinnlicben E:
druck auf die Seele der Feinde zu wirken. Die Hunnen,
manches mit den Germanen gemein batten, bedienten si
äbnlicber Künste. Als sie unter König Sigebert in Gallie'
einfielen, erfocbten sie den Sieg dadurcb, daß sie, in Zauber-
dingen wobl erfabren, allerlei Spukgestalten erscbeinen ließen.^
Vieles derart läßt sieb aucb von anderen Völkern aller Zeiten
anfübren; die Sitte, sieb scbreckbaft berzustellen, ist überall,
wo kriegeriscbe Männer gebaust baben, üblicb gewesen und
ist es nocb beute. Bei den Germanen war sie von Anfang an
beliebt und wurde vielseitig ausgebildet. Ibr entsprach das
Tun der Harier.
^ Lindenschmit Handb. d. deutsch. Altertumskunde S. 256. 259.
^ Cassius Dio 38, 50. Barhäuptig sind Germanen auch auf der
Marcussäule. Tacitus G. 6.
^ Gregor. Tur.: Hist. Franc. 4, 29 Cumque confligere deherent, isti
magicis artibus instructi, diversas eis fantasias ostendunt et eos valde
superant.
Fei-alis exercitus 207
Wen die Harier, als sie die seltsame Vermummung er-
sannen, unter den Feinden sich vorstellen mochten, ergibt
sich aus der Darstellung. Es sind zunächst die umwohnenden
Völker nichtsuebischen Stammes — obgleich es auch an
Streit mit den Stammesgenossen nicht gefehlt hat^ — , also
Quaden, Markomannen, Cotiner, Oser, gelegentlich auch wohl
die Römer und deren germanische Hilfstruppen. Daß die
Harier von vornherein bestimmte Feinde im Auge hatten, ist
nicht anzunehmen. Man dachte an Fremde; je weniger die
Gregner der Harier eigentümliche Sitte kannten, desto größere
Wirkung war zu erhoffen.
Die Wahl der Nachtzeit weicht besonders vom Herkommen
ab. Es handelt sich, das geht aus der Darstellung hervor,
um Überfälle, bei denen es auf Überraschung abgesehen war.^
Denn Zeit und Gelegenheit zum Kampfe zu wählen, liegt sonst
selten in der Hand der Kriegführenden. Insbesondere für
Raubzüge eignete sich Vermummung und- nachtschlafende Zeit.
Bedeutet der Name der Kimbern soviel als „Räuber"^, so ist
auch sonst bekannt {G. 14), daß von den Häuptlingen die
Mittel, um Milde zu üben, durch Kriege und räuberische
Überfälle beschafft wurden. Das war damals allgemeiner
Brauch, wie bei den Hellenen der Urzeit; kein Germane fand
^ Lugier im Kampfe mit Sueben: Dio Cassius 67, 5, 2. Die Lugier
gehören zum Reiche Marbods, Strabon 7, 290.
^ Vgl. die anschanhche Schilderung Tac. Hist. 5, 22; da waren es
Tenkterer oder Brukterer, die den Überfall machten, im übiergebiet
zwischen Novaesium und Yetera: Insidias composuere — electa nox atra
nuhibus et prono amne rapti nullo prohibente Valium ineunt. prima caedes
astu adiuta: incisis tdbernaculorum funibus suismet tentoriis coopertos
trucidabant. aliud agmen turbare classem, inicere vincla, traJiere puppis,
utque ad fallendum silentio, ita eoepta caede, quo plus terrcyris adderent^
cuncta clamoribus miscebant. Momani volneribus exciti quaerunt arma,
ruunt per vias, pauci ornatu militari, plerique circum brachia torta veste
et strictis mucronibus. dux semisomnus ac prope intectus errwe hostium
servatur.
» Strab. 7, 293. Diod. 5, 32. Plut. Mar. 11. Festus p. 43 M.
208 Ludwig Weniger
etwas Unanständiges darin — ; wenn die edlen Chaukc
sicli dessen enthielten, so wird es von Tacitus^ als etwas B(
sonderes hervorgehoben. Die Lugier, denen unsere Hari(
angehören, fanden sich im Jahre 50 n. Chr. im Gebiete d(
Suebenkönigs Yannius ein, weil sie durch das Gerücht vo^
der reichen Herrschaft, die Vannius während eines Menschei
alters durch Beutezüge und auferlegte Tribute begründet hati
angelockt wurden. Sie kamen, um den Raub teilen zu helfe^
(Ä. 12, 29). Solche Tatsachen dienen zur Erläuterung.
Die schwarzen Nächte, welche die Harier wählen, sii
solche bei bedecktem Himmel, in finsterer Jahreszeit und wei
der Mond nicht scheint. Denn vielleicht wirkte ein Abei
glaube mit: die Neumondzeit galt für heilig und segenbringei
(G. 11). Non esse fas Germanos superare, si ante novm
lunam contenderenty sagen die weisen Frauen dem Ariovij
bei Caesar {BG 1, 50). Der Einwand, daß bei stockfinstere
Nacht keine Schatten zu sehen wären, kann nicht in Betracl
kommen. Im Freien ist die Nacht nie völlig schwarz;
erkennt Gestalten, die schattenhaft in unbestimmten Umrisse
einherhuschen und desto fürchterlicher wirken. Die Nacht n
keines Menschen Freund; in ihr treiben Bösewichte und
heimliche Mächte ihr Wesen. Vom Schlaf aufgestört, sind d^
Menschen ohne Fassung, und auch wer wach bleibt,
schreckhaft. Der Sinn des Gesichts versagt seinen Dienst;
seiner Stelle erwacht die Phantasie und schafft haltlose, meis
grausige Bilder. Der Aberglaube kommt hinzu und steigert
den Wahn.
Diese Tatsache ist es, die der trutzige Germanenstamm
sich zunutze macht und dadurch die Feinde schon besiegt,
ehe es zum Einhauen kommt. „Denn keiner hielt den Anblick
aus", sagt Tacitus, „war es doch, als sei ein Totenheer im
Anzüge." Das bedeutet feralis exercitus^ eine Geisterschar,
* 6r. 35; anders indes A. 11, 18. Zur Sache Pomp. Mela 3. Caes.
B. G. 6, 23; danach Mela 3, 3.
Feralis exercitus 209
gespenstiscli, unheimlicli, wie aus dem Totenreiclie, ex inferis,
der Grabestiefe, entstiegen.^ Eben darauf weist auch der
Ausdruck novum et velut infernum aspectum. Ein „höllischer^'
Anblick, wie manche übersetzen, bezeichnet nach heutigem
Sprachgebrauch etwas anderes; man denkt dabei an Teufel und
feurigen Pfuhl der Kirche des Mittelalters, nicht an Grabes-
tiefe und Unterwelt, wie hier es gemeint ist. Wie Geister
Verstorbener, die aus ihren Grüften emporgestiegen sind und
nachts umgehen, so wollten die Harier erscheinen und er-
reichten oiBfenbar ihre Absicht.
In der Darstellung des Geschichtschreibers ist weder
gesagt, noch angedeutet, ob die Angriffe der Harier zu Roß
oder zu Fuß oder untermischt, wie es auch üblich war (6)
erfolgten. Reiten steigert das Furchtbare und Überraschende.
Einer Windsbraut gleich, wie Sturm und Wetter, so stürzt die
reisige Schar auf den Feind. Benutzung der Pferde braucht
nach dem Wortlaute nicht ausgeschlossen zu sein. Immerhin
ist sie zunächst nicht vorauszusetzen; auch zogen die Germanen
bei Unternehmungen von zweifelhaftem Erfolg oder wichtiger
Entscheidung den Kampf zu Fuße vor. Sind es Kämpfer zu
Fuße, so wirkt der Eindruck aus Gräbern entstiegener Toter
unmittelbarer und eindringlicher.
Hält man fest, daß es sich nicht um einen einzelnen
Fall, nicht um eine Kriegslist, die irgend einmal angewandt
worden ist und sich so bald nicht wiederholt hat, handelt,
sondern um einen kriegerischen Brauch dieses Germanen-
stammes zu Beginn unserer Zeitrechnung, so liegt ein folgen-
reicher Schluß nahe. Ein solcher Brauch setzt eine, sei es
freiwillig oder auf Befehl eines Oberen, getroffene Verein-
barung voraus, die irgend einmal für kommende Fälle fest-
gemacht sein muß. Es pflegt aber dergleichen, wenn es in so
wundersamer Form auftritt, einen, näher oder femer liegenden,
^ feralis bei Tacitus Ä. 1, 62. 2, 31. 75. 3, 1. 4, 64. H. 1, 37. 6, 25;
überall in ähnlicliem Sinne.
210 Ludwig Weniger
religiösen Hintergrund zu haben. Die Vermummung hätte balc
ihre Wirkung eingebüßt, wenn ihr nicht bei den Feinde
Aberglaube und göttliche Scheu zu Hilfe kam. Dem muß b(
den Unternehmern selbst eine gewisse Überzeugung entspreche!
haben, das zu sein, was sie vorstellen wollten. Also ei
Art Verpflichtung, ein Verlöbnis, untereinander sowohl, wi
gegenüber den Mächten der Geisterwelt, deren Rolle
spielten, und die sich schwerlich von andern, als ihren eigene!
Leuten, ungestraft hätten nachahmen lassen. Gelegenheitei
einen solchen Bund zu schließen oder sich in ihn aufnehme
zu lassen, gab es genug. Man denke an die Belehnung de
jungen Kriegers mit Schild und Lanze in der Versammlui
der Mannen durch Anführer, Vater oder Verwandte (13), oder
die Begründung der Genossenschaft eines Häuptlings (13. 14]
Auch stünde ein derartiges Verlöbnis nicht vereinzelt da. Vo^
den Chatten erzählt Tacitus, daß sie sich verpflichteten, Ha£
und Bart wachsen zu lassen und einen eisernen Ring um d<
Arm zu tragen, bis sie den ersten Feind erlegt hätten (31]
Die Genossenschaft der also gebundenen struppigen Geselle
von wildem Aussehen kämpfte für sich, stand im Vordei
treffen und machte den Anfang der Schlacht. Daheim lebte^j
sie sorglos ohne Haus und Hof, Verlobte des Kriegsgotte
Solchen etwa ließe sich das schwarze Heer der Hari(
vergleichen.
n
Aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, in de
die Harier ihre Rolle spielen, ist etwas Ähnliches nicht be
richtet. Um weiter in den Sinn des Überlieferten einzudringen,
ist daher die Forschung auf Rückschlüsse aus späteren Er-
scheinungen angewiesen. Glaube und Sitte der heidnischen
Germanen sind anders gestaltet zur Zeit des Caesar und Tacitus,
anders um die Zeit der Ausbreitung des Christentums. Dazu
kommt, daß deutsche Stämme schon damals und mehr noch
in der eigentlichen Wanderzeit des fünften Jahrhunderts weil
Feralis exercitus 211
umhergetrieben wurden. Anders auch erscheinen Glaube und
Sitte bei den Germanen des Nordens, wie im eigentlichen
Deutschland. Dennoch wird man Überlieferungen der späteren
Jahrhunderte, selbst solche, welche der christlichen Zeit an-
gehören, und solche sogar, die noch heute nicht erstorben
sind, nicht von der Hand weisen, wenn sie als gemeingermanisch
oder auch indogermanisch zu erweisen sind. Finden sich
gleiche Anschauungen durch eine Reihe von nahezu tausend
Jahren bis in die neuere Zeit hineinreichend vor, so ist der
Schluß berechtigt, daß ihre Wurzeln sich auch weiter zurück
bis in die Anfänge deutschen Volkstums hinauf verzweigen, es
sei denn, daß besondere Umstände eine spätere Entstehung
begründet hätten. Auch liegt es im Wesen der Religionen,
daß ihre Gebilde sich erstaunlich lange lebendig erhalten.
Selbst durch Lücken im Zusammenhange darf man sich nicht
ohne weiteres beirren lassen. Es ist Tatsache, daß religiöse
Vorstellungen zeitweise schlummern, dann aber, durch irgend-
welche Umstände veranlaßt, wieder aufwachen und Einöuß ge-
winnen.^ Und ist es ein und dasselbe Volk, von dem berichtet
wird, so bekundet dies Volk auch auf dem Gebiete des
Glaubens seine Zusammengehörigkeit ebenso, wie auf dem der
Sprache, der Einrichtungen und der Sitten. Dazu kommt das
gemeinsame Heimatland und die gemeinsamen Erlebnisse, die
das bilden, was wir seine Geschichte nennen.
In uralte Zeiten, noch über Tacitus und die Kimbernkriege
zurück, reichen bei den Germanen die Anfänge des Seelen-
glaubens, erwachsen aus dem Bedürfnisse des Menschengeistes,
das Rätsel des Todes zu lösen. Leib und Seele sind im Wesen
verschieden, aber aneinander gebunden. Der Leib ist die Be-
^ Vgl. E. Rohdes Nachweis vom Schlummern des Seelenknltes im
i Zeitalter Homers, Psyche S. 277. So ist neuerdings in der christlichen
i Negerbevölkerung auf Haiti der aus Afrika mitgebrachte Fetischdienst
! des Wo du nach langem Schlummer wiedererwacht und bedeutend ge-
worden.
212 Ludwig Weniger
hausung, in der die Seele wohnt, solange er lebt. Das ist
alte Vorstellung. Die bekannte Sage, welche Paulus Diakonus
(Ende des achten Jahrhunderts) von König Guntram erzählt,
ist hierfür bezeichnend. Von der Jagd ermüdet, hatte sich der
König im Freien schlafen gelegt. Da sah sein Diener, daß
dem Munde des Schlummernden ein kleines Tier entschlüpfte
und über ein vorbeifließendes Wässerlein zu kommen bemüht
war. Der Diener legte sein Schwert über das Wasser; darauf
lief das Tier hinüber und verschwand in einem Loche des nahen
Berges. Nach einer Weile kam es zurück und fuhr wieder
in den Mund des Königs. Guntram erwacht und erzählt, ihm
habe geträumt, er sei auf einer eisernen Brücke über einen
Fluß gegangen und in die Höhle eines Berges gekommen, wo
große Massen Goldes aufgehäuft lagen. Da sagte der Gefährte,
was er beobachtet hatte ; man grub nach und fand einen Schal
Nicht immer freilich ist die Seele in Gestalt eines Tieres, s^
es einer Maus oder einer Schlange, eines Vogels, einer Kröi
eines Wiesels oder anderswie sinnlich wahrnehmbar. Imm(
aber galt sie als vorhanden. Stirbt der Mensch, so entfliel
sie aus seinem Leibe, unsichtbar und doch wirklich, einem Haue!
vergleichbar. Als solcher fährt sie in die Luft und lebt ali
Gespenst weiter oder wohnt bei dem Leichnam in der Tiefe
des Grabes. Die Anschauung, daß die Toten in unterirdischer
Wohnung ein Scheinleben weiterführten, wird auch bei den
Germanen, welche, wie die Hellenen, von der uralten Sitte des
Begrabens erst allmählich zum Leichenbrand übergegangen
waren, durch die Form der Bestattung des Toten oder seiner
Asche bezeugt. Wenn Waffen und Roß dem gestorbenen Ej-ieger,
Frauen und Knechte, Speise und Trank, Handwerkszeug, Schmuck-
sachen, Würfel, Trinkhömer, Spielzeug, den Toten überhaupt, je
nachdem auch Weibern und Kindern, ins Grab mitgegeben werden^,
^ Tacitus G. 27, dazu Müllenhoff Deutsche Altertumskunde IT,
1. S. 382, 313. Bei den Herulem erdrosselte sich die Witwe auf dem
Grabe des Mannes, Procop. B. Got. 2, 14 S. 200.
Feralis exercitus 213
so konnte dabei nur der Gedanke leiten, daß sie sich
auch weiter ihrer bedienen. Ein Fortleben setzen auch die
Totenopfer voraus, welche die Knochen- und Kohlenreste an
den Gräbern oder die Steine mit Vertiefungen auf den Grab-
hügeln bezeugen. Im Indiculus siiperstitionum am Schlüsse des
Capitulare Karlomanni von 743 handelt Stück 1 de sacrilegio
ad sepulchra mortuorum, 2 de sacrilegio super defunäos id est
dädsisaSj 25 de eo quod ihi sanctos fingunt quoslihet mortuos}
Bei Burchard von Worms, f 1025, heißt es interrogatio 19, 5
{p. 195 b): comedisti aliquid de idolothito, i. e, de dblationihuSy
qiiae in quihusdam locis ad sepulchra mortuorum fiunt?^ Auch
die Pflicht der Blutrache, auf die Tacitus Germania 21 deutet^,
setzt einen Anspruch voraus, den der Tote erhebt. Und wenn
(las Blut des Erschlagenen zu fließen beginnt, sobald der Mörder
naht, wird ein Fortleben und Anteilnehmen des Toten gedacht.
Darauf beruht das Bahrrecht, das aus dem Nibelungenliede (984 ff.)
bekannt ist.^
Die Seele kann Menschengestalt annehmen und als Gespenst
erscheinen. Zahlreiche Sagen aller deutschen Stämme bezeugen
diesen Glauben, von dem das Volk noch heute nicht frei ist.
Der Tote geht um und sucht als Geist die Lebenden heim,
liattenhaft, sei es in weißer, grauer oder schwarzer Gestalt,
und meist des Nachts. „Wie den Lebenden der Tag, so gehört
den Toten die Nacht", belehrt die Äbtissin Brigida ihren Neffen
^ Abgedruckt bei J. Grimm Deutsche Myth. 3, 403. Vgl. E. H. Meyer
Germ. Myth. S. 71. Mogk Mythologie, in Pauls Grundriß I S. 1001. Däd-
sisas sind carmina didbolica quae supra mortuum noctwnis horis cantantur
(Burchard von Worms in der Sammlung der Dekrete Colon, 1548); däd
= d6d, sisu naenia, 0. Schade Wörterh. s. v.
2 Burchard a. 0. bei J. Grimm Deutsche Myth. 3, 404 f. 407; ido-
lotUtum ist sidmXod'VTOv', Ygl. Äpostelgesch. 15, 29. 21, 25. 1 Kor. 8, 1. 4.
10, 19. 28.
^ suscipere tam inimicitias seu patris seu propinqui quam amicitias
necesse est. nee implacaMles durant; luitur enim etiam homicidium certo
itrmentorum ac pecorum numero recipitque satisfactionem universa domus.
^ ius feretrii; s. J. Grimm Deutsche JRechtsdltertümer II, 930.
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 15
214 Ludwig Weniger
I
Thietmar von Merseburg (f 1018), dem sie von der Erscheinung
Toter bei nächtlicliem Gottesdienst erzählt.^ Große Ver-
scbuldung, scbwere Heimsuchung, hinterlassenes Geld, Liebe
und Haß, alles, was den Lebenden in starke Erregung versetzen
mußte, treibt den Toten aus der Grabesruhe hervor, um als
Gespenst die Menschen zu beunruhigen. Einer solchen Er-
scheinung gegenüber wird der Stärkste von Furcht übermannt
und wehrlos. Der erscheinende Geist ist unverletzbar und ver-
fügt über zauberische Mittel. Darum tut man gut, den Toten
ihren Willen zu lassen, besser noch, ihr Erscheinen zu hindern.
Manche Gebräuche dienen dem Zwecke, der Wiederkehr der
Verstorbenen zu begegnen.
Aus der Erwägung, daß so viele Tote unter der Erde
hausen, ist die Vorstellung eines Totenreiches in der Tiefe
entstanden. Dem hellenischen adrjg entspricht die germanische
Helle (halja), schon bei Ulfilas. Die Helle ist der Aufenthalt
der abgeschiedenen Seelen, das Reich der Schatten, unterschied-
los, gefallener Helden oder anders Gestorbener finstere Behausung.
So heißt es noch bei Widukind von Corvey um die Mitte des
zehnten Jahrhunderts (1, 23) tanta caede Francos mulctaü
sunt, ut a mimis declamaretur, uhi tantus ille infernus esset,
qui tantam muUitudinem caesorum capere posset. Der Begrifi
der Qual und Peinigung haftete vor dem zehnten Jahrhunderte
der Helle nicht an. Erst christlicher Einfluß hat dies geändert
und auch den Teufel zum Höllenwirt gemacht. An die alte
Auffassung anknüpfend gab sie ihm dann folgerichtig auch
die schwarze 'Farbe.^
Wenn man die Vorstellung eines Totenreiches im schwarzen
Dunkel nächtlicher Tiefe bereits im ersten Jahrhunderte n. Chr.
^ Thietmar Chron. 1, 7: ut dies vivis, sie nox est concessa defunctis;
wie es scheint, ein aufgelöster Hexameter, Zitat aus einer Dichtung.
^ JSelant 31, 24 heißt er mirki, d.i. tenebrosus. Der hellewirt, der
ist swarz Parz. 119, 26. Der hellemor Walther 33, 7. Diabolus in effigie
hominis nigerrimi Caes. Heisterb. 7, 17. Nach J. Gnmm Deutsche Myth.
946, wo noch andere Beispiele angeführt sind.
Feralis exercitus 215
voraussetzen darf, so ist der Scliluß berechtigt, daß die schwarz- t
vermummten Krieger der Harier sich als Bewohner eben dieses
Totenreiches aufspielen wollten, daß das Grausige und Schatten- ,
hafte eines Totenheeres ihrer heimischen, nicht bloß griechisch-
römischer Anschauung, entsprach und aus rein germanischer
Berichterstattung in die Darstellung des römischen Geschicht-
schreibers geflossen ist.^ Als Nibelunge, Nebelsöhne, der Helle ent-
stiegen, dem alten Niflheim oder Niflhel der Edda, vom Grauen des
Todes umgeben, so stürzten sie sich über die ahnungslosen
Feinde, wie um andere mit sich hinabzuziehen in ihre finstere
Behausung. Daher denn keiner der Feinde den unerhörten,
der Helle entsprechenden (velut infernum) Anblick auszuhalten
vermochte und sich verloren gab, ehe er Widerstand versuchte;
wer durfte daran denken, es mit Geistern aufzunehmen? In
der Schilderung der Pest, die 565 n. Chr. Italien heimgesucht
hat, schreibt Paulus Diakonus: „Zu jeder Stunde des Tages
und der Nacht klang das Schmettern von Ejriegsdrommeten in
die Ohren. Die meisten glaubten, ein Dröhnen wie von einem
Kriegsheere zu hören. Zwar zeigte sich nirgend der Fußtritt
wandelnder Menschen, niemand, der getötet hätte, aber die
Leichname der Gefallenen redeten stärker, als das Sehen der
eigenen Augen." ^ Offenbar wähnte man, ein unsichtbares
Geisterheer habe die nichts ahnende Menschheit nach Krieger-
art überfallen und so fürchterlich unter den Lebenden ge-
wütet. Paulus schrieb sein Buch 700 Jahre später als Tacitus,
I und er war Christ. Ist es da von der Hand zu weisen, daß
I heidnischen Zeitgenossen des Römers, Germanen, gleichwie
I der Langobarde, eine derartige Vorstellung vor Augen
I schwebte?
! ^ Wie weit römisclie Anschanung den Bericht des Tacitus be-
einflußt haben kann, bleibt späterer Erörterung vorbehalten.
^ 2, 4: Nocturnis seu diurnis horis personahat tuba tellantium, au-
1 diehatur apluribus quasi murmur exercitus. NuXla erant vestigia comme-
j antium, nullus cernebatur percussor, et tarnen visum oculorum superabant
i ^adavera mortuorum.
15*
21^ Ludwig Weniger
Zu der Auffassung, es handle sicli um Grestalten der Grabes-
tiefe, konnte bereits im ersten Jahrhundert ein weiter entwickelter
Gedanke hinzukommen, der durch den Ausdruck exercitus ebenso,
wie durch den Namen der Harier, wenn er Heeresgenossen be-
deutet, nahegelegt wird. Die Vorstellung der aus dem Leibe
Verstorbener entwichenen Seelen als eines Lufthauches führte
zu dem Gedanken, daß bei starkem Winde Seelen in Scharen
vereint durch die Luft fuhren. Ursprünglich ohne Leitung.
Aber durch einen einfachen Schluß brachte man sie schon früh
zu göttlichen Wesen in Beziehung, deren Walten das Volk in
Wind und Sturm wahrzunehmen geglaubt hat. So übernahm
die riesenhafte Gottheit ihre Führung, die in dem Elemente
der Luft verkörpert schien, und die zu Tacitus' Zeit bereits als
Wodan Verehrung fand. Wenn es in der Germania (9) heißt,
deorum maxime Mercurkim cölimtj so ist damit kein anderer
als Wodan gemeint. Dies bezeugt der Name des vierten Wochen-
tags; dies Mercurii ist Wödonesdag. Die siebentägige römische
Woche kam in Deutschland um das Ende des dritten, spätestens
zu Anfange des vierten Jahrhunderts auf, und dabei wurden
die Namen der Tage in das Deutsche übertragen, nicht auf
dem Wege gelehrter Arbeit, sondern durch den gemeinen Mann
im Verkehre des täglichen Lebens. Man vergleiche Jonas von
Bobbio in der Vita S. Columbani, kurz nach 620 geschrieben:
alii aiunt deo suo Vodano, quem Mercurium vocant alii. Paulus
Diakonus 1,9: Wodan sane, quem adjeda litera Gwodan dixerunt,
ipse est, qui apud Bomanos Merciirius didtur} Daß Hermes-
Mercurius bei den Hellenen und Römern im wesentlichen Wind-
gott war, scheint sicher.^ Ist nun auch Wodans Verehrung
als Oberster der Götter, wie sie Tacitus in der oben angeführten
Stelle (G. 9) bezeugt, vielleicht ausschließlich den West germanen
zuzuschreiben, und muß man annehmen, daß die Harier viel-
1 Müllenhoff D. Ä. 4, 1, 213. 644f , vgl. 31. Mogk a. 0. S. 1067ff.
2 Röscher Hermes d. Windgott. In römischen Inschriften der ersten
Jahrhunderte n.Chr. ist Mercnrins auch Totengott; Mogk a. 0. 1070.
I
Feralis exercitus 217
mehr an dem alten Dienste der Nahanarvaler, ihrer lugischen
Stammesgenossen, beteiligt waren, in deren heiligem Haine das
jugendliche Brüderpaar der Älciy denen Tacitus Castor und
Pollux gleichstellt, verehrt wurde, so ist doch die Auffassung
des Wodan in dem besonderen Sinn als des Herrn der Winde
und Führers der Seelen über die ganze germanische Welt ver-
breitet und uralt. Diesem Wodan gehören die im Kampfe
Gefallenen an. In dem Kriege, der zwischen Chatten und
i Hermunduren um die heiligen Salzquellen entbrannt war, opferten
die siegreichen Hermunduren, es war 58 n. Chr., das ganze be-
siegte feindliche Herr, so Menschen wie Pferde, dem Mars und
dem Mercurius, d. i. Tiu und Wodan (Tac. Ä. 13, 57). Acht
, Jahre vorher waren Lugier und Hermunduren in das Gebiet
I des Yannius eingedrungen. Man sieht, daß beide Völkerschaften
iu Berührung standen (Tac. Ä. 12, 30).
Als Windgott ist Wodan gerade so, wie Hermes -Mercurius,
auch Totengott. Wenn in finsteren Nächten zu winterlicher
Zeit der Sturmwind tobte, so glaubte man, daß Wodan als
Herzog der Seelen unter Waffengetöse, Rossewiehern und Huf-
schlag einherfahre. Üie unheimliche Art der elementaren Er-
scheinung in Wald und Feld kam diesem Glauben zu Hilfe.
Das Rasen des Windes, der die Wolken vor sich her scheucht,
Dächer einreißt, Bäume entwurzelt, Stämme und Äste zerbricht,
der heult und pfeift und singt, der Gegenstände auf dem Erd-
boden fängt und hoch emporwirft, alles das bot Veranlassung
zur Ausgestaltung des Mythos.
Bekanntlich hat dieser Glaube sich in zwei, nicht immer
auseinander gehaltenen Formen der Volkssage niedergeschlagen,
nämlich in der Gestalt einer Heerfahrt und in der eines
iJagdzuges. Beide laufen auf die eine Grundanschauung im
[Sturmwind einherfahrender Seelenscharen hinaus und werden
(durch Einzelzüge, insofern es sich um Kampf mit feindlichen
I Mächten oder um Erlegen einer Jagdbeute handelt, unter-
schieden. So hat sich die, in unzähligen Beispielen belegte,
218 Ludwig Weniger
I
Sage vom Wütenden Heer und von der Wilden Jagd aus-
gebildet. Tote Krieger und andere Verstorbene bilden des
Führers gespenstisches Gefolge. Das Heidnische blickt überall
durch, wenn der Sage auch christliche Anschauungen bei-
gemengt sind. Der Gott ist zu einer teuflischen Gestalt, seine
Gefährten sind zu Gespenstern geworden. Infernalis venator heißt
der wilde Jäger bei Caesarius von Heisterbach, f 1240 (12, 20).
Er erscheint weiß, auf einem Schimmel reitend, wie Wodan,
oder grau, in riesenhafter Gestalt, auch ohne Kopf und auf
schwarzem Pferde. Mit laut tosendem Ruf, unter Hundegebell
und Peitschenknall, fährt die Wilde Jagd nächtlings durch die
Lüfte. Eber, Kühe, Hirsche, auch Weiber, sind Gegenstand ihrer
Verfolgung. Wir lassen die Einzelheiten auf sich beruhen
und wenden uns derjenigen Seite des Mythos zu, die für das
Tun der Harier in Betracht kommt und von der Erscheinung
eines Heereszuges handelt.
Die Vorstellung vom Wutes - oder Wütenden Heere findet
sich allenthalben, wo Germanen eingesessen sind. Offenbar
hängt die Bezeichnung mit dem Namen des führenden Gottes
zusammen. Wodan, id est furor, hella gerit hominique ministrat
virtutem contra inimicos sagt Adam von Bremen, f 1076 (4, 2ß).
Der Sturm in den Lüften ist ein Bild des Kampfes auf der
Erde, wie es der sprachliche Ausdruck festhält; denn Sturm
bedeutet Kampf. Begriff und Wort lassen sich weit zurück
verfolgen. Im Rolandslied (204, 16) heißt Pharaos vom Meere
verschlungenes Heer ^sin wotiges her'. In Konrads von Heimes-
furt Urstende aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
werden die Juden, die den Heiland überfallen, das Vuetunde
her' genannt. In Strickers Karl (6810) steht 'daz wüetende her'.
Michel Beheim im Buche von den Wienern aus der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts redet (176, 5) von ^schreien und
wufen als ob es wer daz wütend her'. Im Gedichte von Heinrich
dem Löwen nach der Handschrift von 1474 heißt es: ^da quam
er under daz woden her, da die bösen geiste ir wonung
i Feralis exercitas 219
lian'.^ Man erkennt die Vorstellung, daß das Wütende Heer ein
(jeisterlieer sei. Vom Wütenden Heere glaubt das Volk in gleicher
i Weise, wie von der Wilden Jagd, daß es nachts in der Luft
bei großem Sturm einherfahre. „Wenns Muotas^ in Ober-
schwaben durch die Luft saust, kommt hinterher immer ein
heftiger Sturm." ^ Wenn es bestimmte Wege innehält, die
Heer -Mutesheer -Frongasse, an einem bestimmten Baume
vorüberbraust, durch ein bestimmtes Haus fährt, ein solches
namentlich, dessen Türen einander gegenüberliegen, so zeigt
sich das Wesen der heftig bewegten Luft, die wie ein Strom
durch die Öffnungen braust. Das Heer zieht hindurch, und,
unbewußt alte Anschauung festhaltend, sagen wir noch heute:
„es zieht". „In dem Dorfe Baiersbronn im Murgtale liegt ein
sehr alter Hof, der Martishof. Im unteren Stocke des Hauses
befindet sich ein Gewölbe, durch welches um Weihnachten
regelmäßig das Mutesheer mit gewaltigem Getöse zu ziehen
pflegte. Sobald der Hausknecht es kommen hörte, mußte er
nur schnell die Tür und Klappe des Gewölbes öffnen; dann
fuhr es sausend hindurch."^ „Zu Neubrunn (im Würzburgischen)
zog das wütende Heer immer durch drei Häuser, in welchen
drei Türen gerade hintereinander waren, vornen die Haustür,
mitten die Küchentür, hinten die Hoftür, und wo sich drei
Türen in gerader Richtung finden, da zieht, es mag sein, wo
es will, das Wütende Heer hindurch."^ Wir haben gerade
diese Beispiele aus der Menge hervorgehoben, weil sie vor
j anderen bezeichnend sind. Es ist die nämliche Erscheinung,
! welche das Öffnen des römischen Janus begründet hat, nämlich,
j daß die Geister des Krieges, die in He er es form zusammen-
! '
I ^ Die Beispiele nach J. Grimm D. M. 2, 766. Mogk a. 0. 1002.
\ Golther Hdb. d. Germ. Myth. 284, 1.
^ Mutesheer oder bloß Mutes findet sich neben Wutes.
' E. Meyer Schioäbische Sagen S. 127. Weitere Beispiele bei J. W,
i Wolf, Beitr. z. d. Myth. 2, 161.
* E. Meyer Schwab. S. S. 135.
^ J. Grimm D. M. 2, 779. J. W. Wolf Beitr. 2, 131 f. 160.
220 Ludwig Weniger
geschart unsiclitbar auf der Fahrt sind, freien Durchzug find(
Bei den Grermanen zieht Wodan, der alte Heervater der Edc
mit dem Wütenden Heer in den Krieg; die Geister gefallei
Helden sind seine Gefährten^ und erneuern den Kampf, d(
sie hei Lebzeiten geführt haben. Dieser ursprünglich heidnische
Zug wurde in der christlichen Zeit so umgedeutet, daß allerlei
Totenvolk, Gefangene, Selbstmörder, Grenzsteinverrücker, Säufer
und anderes Gesindel, sogar Scharen ungetaufter Kinder, zum
Wütenden Heere kamen. „Also redt der gemeine Man von
dem Wütischen Heer, daß die, die vor den Zeiten sterben, ee
denn daß inen Got hat uffgesetzet, als die, die in die Reis
laufen und erstochen vrerden, oder gehenkt und ertrenkt
werden, die müssen also lang nach irem todt laufen, bis das
zil kumpt, das inen Got gesetzet hat und dann so würkt Gl
mit ihnen, was sein götlicher Wil ist."^ Wo ein Heer i^
fehlt es auch an Kämpfen nicht. Das Waffengetös streiten(
Heere hört man besonders an Stätten blutiger Kriege,
alten Schlachtfeldern, wo die Leichen ungezählter Streiter vc
scharrt liegen. Zur Nachtzeit steigen die Geister aus d^
Gräbern hervor und erneuern den alten Kampf. Die Zahl dj
überlieferten Einzelsagen ist groß und kann übergangen werd(
"VV^er sie begehrt, findet bei Grimm in der Mythologie und
Wolfs Beiträgen reichliche Fülle zusammengetragen. In viel<
Fällen wäre der Ausdruck feralis exercitus durchaus an de
Stelle. Bemerkenswert ist auch die Bezeichnung exercitus
antiquus in der spanischen Sage, wie denn die romanische über-
haupt auch ihrerseits denselben Volksglauben durch zahlreiche
Beispiele bezeugt.^ Prüft man aber die Gaue unseres Yater-
^ animae militum interfectorum , Chron. Ursher g. a. 1223, Mon.
Germ. 8, 251; Mogk a. 0. 1005.
2 Geiler von Kaisersberg, S. 36 nach J.W. Wolf Beitr. 2, 153.
' Guilielm Alvernus, f 1248, S. 1037: De equüihus vero nocturnis,
qui vulgari Gallicano Hellequin et vulgari Hispanico exercitus antiquus
vocantur, nondum tibi satisfeci etc. — S. 1073: nee te removeataut conturbet
ullatenus vulgaris illa Hispanorum nominatio, qua malignos spiritus, qi^
Feralis exercitus 221
landes, in denen Sagen vom Wütenden Heere vorkommen, so
ergibt sich, daß sie über das ganze germanische Gebiet ver-
teilt sind. Am reichlichsten treten sie im deutschen Süden,
Schwaben und Franken, ferner am Niederrhein, in Hessen und
in Thüringen auf. In denselben Gegenden fehlen auch Sagen
von der Wilden Jagd nicht, doch zeigen sie sich in größerer
Menge da, wo das Wütende Heer zurücktritt, besonders im
nördlichen Deutschland. Daß der Osten nicht leer ausgeht,
bekunden Beispiele aus der Lausitz, Böhmen und Schlesien;^
ist er im ganzen weniger beteiligt, so erklärt sich das aus der
slawischen Einwanderung, die jahrhundertelang einst die
germanischen Gaue besetzt gehalten hat.
Der Nachweis, daß dieser so tief eingewurzelte Volks-
glauben in gleicher Gestalt bereits in den Gedanken der
Deutschen zu Tacitus' Zeit lebte und auch die Harier in
ihrem Tun geleitet habe, läßt sich allerdings nicht führen.
Ebensowenig aber läßt sich begründen, daß er damals
noch nicht bestanden habe. Die Tatsache, daß er bis in
das elfte Jahrhundert zurück verfolgt werden kann, daß er
auf gemeingermanischem Seelenglauben ruht, ja daß er auch
im Keltischen, Romanischen und Slawischen begegnet und mit
ähnlichen Anschauungen bei Hellenen und Römern in viel
älterer Zeit übereinstimmt, erhebt die Wahrscheinlichkeit fast
zur Gewißheit, daß solche Vorstellungen bereits den Germanen
des ersten nachchristlichen Jahrhunderts nicht fremd gewesen
sind. Einzelzüge dessen, was von den Hariern berichtet wird,
stimmen mit solchen des Wütenden Heeres auffallend überein.
jZwar wird hier schwarze Farbe der Heeresgenossen nicht be-
sonders hervorgehoben. Sonst aber paßt vieles: die gewählte
(Zeit der Nacht in dunkler Jahreszeit, das Grausige und Schatten-
jm armis ludere ac pugnare videri consueverunt , exercitum antiquum
Inominant. J. Grimm D. M. 785.
^ J. Grimm D. M. 782, 1. J.W.Wolf Beitr. 2, 155. E. H. Meyer.
frerm. Myth. 241. 256. Zusammenstellung bei Mogk 1071. Golther 285, 1.
222 Ludwig Weniger
hafte, der Eindruck eines feralis exercitus, d. i. eines Heeres
von Geistern Verstorbener, der novus et velut infernus aspedus,
den das Wütende Heer auf solche, die es gesehen haben, ge-
macht hat. So viel darf man festhalten: die Harier spielen die
Rolle von Toten in bewußter Nachahmung der Hellenbewohner
und ihrer Erscheinung in nächtlich einherfahrendem Sturmes-
heer. Darauf beruht der Eindruck, den ihr unvermutetes Er-
scheinen auf die Feinde macht. Denn die Feinde, denen der
Überfall gilt, teilen den Glauben der Angreifenden. Wenn die
wilden Gesellen zu nachtschlafender Zeit schwarz und schatten-
haft die nichts Ahnenden überfielen, so schienen Gräber sich
aufgetan zu haben und die Geister verstorbener Krieger auf-
erstanden zu sein. Man konnte wähnen, das Wodansheer
breche ein, von dem Gotte geführt oder ausgesandt, dem Heer
vater, dem Walter über Stürme und Schlachten. Die H
selber mochten in einer Art priesterlicher Devotion sich
Gottheit geweiht haben.
Wie sehr die Yermummung des alten Germanenstam:
kriegerischer Art entspricht, zeigt sich in ähnlichen Yorgängen
des späten Mittelalters und der Neuzeit. Ein schwarzes Heer des
Königs Matthias Corvinus von Ungarn wird um 1474 erwähnt.
„Zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges gab es bayrische Reiter,
die unüberwindlich genannt wurden, mit schwarzen Pferden,
schwarzer Kleidung und am Helm einen schwarzen Totenkopf.
Friedrich der Große hatte ein Regiment Totenkopf husaren."^
Unbewußt lebt im Chor der Rache und in der Lützowschen
Freischar das uralte Denken wieder auf.
„Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützows wilde verwegene Jagd!",
singt Theodor Kömer. Denn die Dichtung läßt sich der--
gleichen eindrucksvoll abenteuerliche Erscheinungen nicht ent-
gehen. Bürgers „Lenore" und Zedlitz' „Nächtliche Heerschau ''
leer-
^ J. Grimm D. M. 3, 284.
Feralis exercitus 223
zeugen davon, wie aus der Zeit des großen Kampfes, den das
deutsche Volk vor einem Menschenalter führen mußte, Geroks
schönes Gedicht „Die Geister der alten Helden". Der sagen-
bildende Trieb schläft nicht. Es steht zu erwarten, daß aus
den Schlachtfeldern auf französischer Erde früher oder später
die Geister der Gefallenen wieder aufsteigen und nicht bloß in
der Kunstdichtung zu neuem Leben erwachen werden.
B. Das weiße Heer der Phoker
I
Zwischen den griechischen Völkern der Thessaler und der
Phoker bestand im sechsten Jahrhunderte v. Chr. ein bitterer
Haß, der zu heftigen Kämpfen geführt hat und noch in den
Tagen der Perserkriege sich kundgab. Die Thessaler hatten
eine Zeitlang die Oberhand gewonnen und Archonten und
Tyrannen in den phokischen Städten eingesetzt, bis die Phoker
sich erhoben und an einem Tag ihre Zwingherren sämtlich
erschlugen. Die Thessaler rächten sich, indem sie 250 phokische
Geiseln ums Leben brachten. Es kam zu einem mit großer
Erbitterung geführten Kriege. Bei Kleonai im Gebiete von
Hyampolis erlitten die Thessaler eine schwere Niederlage. Führer
der Phoker war der gefeierte Yolksheld Daiphantes. Nicht
viele Jahre vor dem Feldzuge des Xerxes unternahmen die
Thessaler einen neuen Kriegszug gegen die Phoker. Dabei
trug sich eine merkwürdige Geschichte zu, die sich bei Herodot
und Polyaen, sowie bei Pausanias, überliefert findet.
„Die Thessaler samt ihren Verbündeten hatten", so be-
richtet Herodot, „mit ihrer ganzen Heeresmacht einen Ein-
fall in das Gebiet der Phoker unternommen, nicht viele Jahre
jvor dem Kriegszuge des Xerxes, waren aber den Phokern unter-
! legen und übel zugerichtet worden. Da nämlich die Phoker
auf dem Parnassos eingeschlossen waren, ersann der elische
i Seher Tellias, den sie bei sich hatten, ihnen folgende List.
Erließ 600 der tapfersten Phoker sich mit Gips bestreichen,
1
224 Ludwig Weniger
sicli selbst und ihre Rüstung, und stürzte sich zur Nachi
zeit auf die Thessaler, nachdem er vorher Befehl gegebc
hatte, wenn sie einen sähen, der nicht weiß gefärbt sei, diese
niederzuhauen. Als nun die Vorposten der Thessaler diese Manne
erblickten, gerieten sie in Furcht, denn sie meinten, ein
Wunder vor sich zu haben, und nach den Vorposten auch
das Heer selbst, in dem Grade, daß die Phoker 4000 Tote
und Schilde in ihre Gewalt bekamen, von deren letzteren
die eine Hälfte nach Abai, die andere nach Delphi weihte
Als Zehnter der Beute aus dieser Schlacht wurden die große
Standbilder um den Dreifuß vor dem Tempel in Delphi ge-
stiftet; andere derart sind in Abai aufgestellt." ''EeßaXövtss
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e^TtQod^s xov vr^ov xov iv ^dsXq)olöL' xal exsQoi xolovxol iv
"Aßi^i^i ävaxeaxcci}
Dieselbe Geschichte, nur kürzer, erzählt Polyaen. Er
entlehnt seine Mitteilung wesentlich Herodot; nur gedenkt
^ Hdt. 8, 27. — rsQccs ist Glosse. — Es folgt dann die Erzählung von
der Vernichtung der thessalischen Reiterei durch eine andere Kriegslist
bei Hyampolis.
Feralis exercitue 225
er des Sehers Tellias nicht und fügt hinzu, daß der Vorgang
in einer YoUmondnacht stattfand: „Als v die Phoker von den
Thessalern auf dem Parnassos eingeschlossen waren, bestrichen
sie sich selbst und ihre Rüstung in einer Vollmondnacht
mit Gips, verabredeten miteinander, die mit Gips Gefärbten
zu schonen, und stürzten sich auf die Feinde hinab. Diese
gerieten, wie vor einer fremdartigen und unbegreif-
lichen Erscheinung in Furcht; einige auch meinten, die
Angreifer seien andere, und so wurden sie besiegt, und der
Verlust auf selten der Thessaler betrug 4000 Mann." ^oxstg
is rbv IlaQvaßbv TcatccxXsiöd'evteg V7tb ©straX&v, 'yvtl^66avtsg
avtovg xal tä otcXcc vvxtl JtavösXrjvo) xal övvd'Tjiia aXXrjXoig
öövtsg cpsCdsdd'ai t&v ysyvtl^coiisvcov, iTttxcctaßcivteg tolg
TCoXsiiCoig insd'svto. Ol da co^jtSQ g)d6iia ^svov tcccI dXXÖTcotov
(poßri%'evxeg^ evioi de xal vo^iCöavtsg äXXovg slvai xovg
ixLtid's^svovg, ritt7]d'7}6av xal Ttx&^a iysvovxo ©sttaXiTibv
avÖQsg X£tQa'xi6%CXioi}
Pausanias beginnt seinen Bericht mit der Vernichtung
der thessalischen Reiter bei Hyampolis durch die Kriegslist
der Phoker, welche 'Töpfe in die Erde eingegraben hatten.
Sodann erzählt er die Niederlage von 300 auserlesenen Phokern
unter Gelon durch die feindliche Reiterei und das verzweifelte
Vorhaben der Phoker, im Fall ihres Unterliegens Weiber und
Kinder umzubringen, alle Habe zu verbrennen und einen ehren-
vollen Untergang zu suchen. Unter Führung des Rhoios von
Ambryssa und des Daiphantes von Hyampolis und auf Grund
der klugen Beratung des Tellias erfochten die Phoker danach
einen glänzenden Sieg, nach welchem sie die Bilder ihrer Führer
und einheimischer Heroen in Delphi weihten. „Aber auch
späterhin", so fährt Pausanias fort, „ersannen die Phoker eine
List, die dem Früheren an Klugheit nicht nachstand. Wie
t nämlich die Heere am Eingange nach Phokis einander
^ Polyaen. 6, 18. Es folgt gleichfalls die Reiterniederlage der
Thessaler bei Hyampolis.
f
226 Ludwig Weniger
gegenüber lagen, überfielen 500 auserlesene Phoker, indem sie
die Füllung der Mondscheibe w ab rn ahmen, in der
Nacht die Thessaler, sie selbst mit Gips beschmiert und
mit weißen Rüstungen über dem Gips angetan. Da soll denn
das größte Blutbad unter den Thessalern angerichtet worden
sein, da diese die nächtliche Erscheinung mehr für etw
Göttliches, als für einen Angriff von Feinden hielten. Der
Eleier Tellias aber war es, der auch diese List den Phokern
gegen die Thessaler ausgesonnen hatte. EvQEd-i^ ds zal vßtSQov
tolg ^(Dicsvöiv ovx ccTCodsov öo(pCa r&v ^qoxbqcov. cjg yaQ dii
tä ötQatÖTteda avtSKdd-Tjto ^sqI tr^v ig tijv ^cjtcC
e6ßoX7]v^ Xoyddsg ^axeav TtsvtaTcööiOL g)vXci^avTsg ^tXtJQ
tbv oivaXov tfig ösXrjvrjg k7ii%EiQOV(5iv ev tfj vvztl tolg
@s66aXolg, avtoC ts dXrjXifi^svoi yvil^cj xal evdsdvicötsg
oTtXa Xsvxä hTcl rjjf yöifjo). kvtavd'a e^SQyaö^fivai (povov rcov
Qe66aXG)v Xsy erat tcXbIötov, d'störsQÖv ti riyoviiivav tj
^axä scpodov 7CoXs[iC(av ev ry vvxtl öv^ßalvov. 6 ds 'HXslog
^v TsXXlag og aal tavta tolg ^coxsvöiv a^rjxccv^öato 6g tovg
GeööaXovg}
Weiterhin gedenkt Pausanias auch des WeihgeschenkÄI
das die Phoker für diesen Sieg nach Delphi gestiftet hatte"'
Man erfährt, was bei Herodot nicht ausdrücklich gesagt ist,
daß es eine Darstellung des Dreifußraubes war, Leto und
Artemis neben Apollon, Athena neben Herakles, die übrigen
Bildwerke von Diyllos und Amyklaios, Athena und Artemis
von Chionis, lauter korinthischen Meistern.^
Pausanias schöpfte aus einer anderen Quelle als Herodot.
Dies bekundet Reihenfolge und Inhalt seiner Erzählungen über
1 P. 10, 1, 3 ff.
* P. 10, 13, 7. Das Weihgeschenk hatte einen bewußten Sinn.
Herakles bedeutet die Thessaler; denn Thessalos galt als sein Sohn
(Strab. 9, 444. Schol. Äp. Bh. 3, 1090), und Athena war als Itonia eine
Hauptgottheit der Thessaler und deren Losung in den phokischen
Kämpfen; P. 10, 1, 10. Apollon aber und die Seinen gehörten zu den
Phokern durch Delphi und Abai.
Feralis exercitus 227
die Kämpfe. Die Reiterniederlage bei Hyampolis stellt er an
den Anfang des Krieges; Herodot berichtet sie nach dem
phokischen Überfall in der Nacht und setzt sie diesem zur
Seite. Pausanias läßt 500 Phoker den Überfall unternehmen,
Herodot 600. Pausanias gibt als Örtlichkeit die Gegend, wo
man den Zugang zum Lande Phokis hatte (itSQl tijv ig ti^v
0(oMa sößolTJv)] Herodot sagt, die Phoker seien auf dem
Parnassos eingeschlossen gewesen. Pausanias folgt offenbar
derselben Quelle, wie Plutarch (mul. virt. 2, S. 244b), wo
dieser von dem verzweifelten Vorhaben der Phoker, Weib und
Kind zu opfern, berichtet. Die Zahl der 4000 gefallenen
Thessaler gibt nur Herodot und der von ihm abhängige Polyaen.
Herodot war in Delphi wohlbekannt und stand daselbst mit
angesehenen Männern in Verbindung^; man darf annehmen,
daß er dort seine Nachrichten gesammelt hat, und dies geschah
zu einer Zeit, als man noch unter dem Eindrucke des Erlebten
stand. Pausanias mag einzelnes aus Mitteilungen der Periegeten
entnommen haben.^
Der Ort, an dem der nächtliche Überfall stattfand, ist
genau nicht angegeben. Herodot sagt nur, daß die Phoker auf
dem Parnassos eingeschlossen waren, als Tellias die Kriegslist
ersann. Es liegt daher am nächsten, daß sie von dem Orte
dieser Einschließung aus gegen die Feinde zogen. Nun berichtet
der Geschichtschreiber kurz darauf, daß ein Teil der Phoker,
jals die Perser von Doris her unter Führung der Thessaler in
1 Phokis eindrangen, auf die Höhen des Parnassos zog. Es sei
aber auch der Gipfel des Parnassos, der für sich liegt bei der
i Stadt Neon, für einen Heerhaufen zur Aufnahme wohl geeignet;
sein Name war Tithorea. Auf diesen hatten sie ihre Sachen
srebracht und waren selber hinaufgezogen.^ Es ist sehr wahr-
^ Vgl. 1, 10. 92. 8, 39.
j - Über die Periegeten in Delphi Plut. de Pythiae or. S. 395 flf. an
vielen Stellen; dazu W. Gurlitt über Pausanias S. 444 ff. 463.
I ' Hdt. 8, 32 : rag dh iyt rfjg Jcagidos is t7\v ^axida iasßccXov, ccitohg
' nkv rovg $cax8as ovtc aigiovei. ol iihv yccQ t&v ^oi-nimv ig tu ängcc xov
228 Ludwig Weniger
scliemlicli, daß es eben dieser wohlgeeignete Zufluchtsort w
den die Phoker auch bei dem Kriege mit den Thessalern auf-
gesucht hatten, und daß er zu verstehen ist, wenn Herodot
sagt, daß sie auf dem Parnassos eingeschlossen waren. Die
Stadt Neon lag weiter hin im Tale des Kephissos (H. 8, 33).
Pausanias nimmt an, der Name des Pamassosgipfels Tithorea
sei später auf die ganze Gegend übergegangen, zuletzt aber
auf die allmählich aufgeblühte Stadt Tithorea, die einstmals
Neon geheißen, beschränkt worden (P. 10, 32, 9). Nach Plutarch,
der die Gegend genau kannte, war Tithora, so hieß der Name
später, im Mithradatischen Krieg eine von schroffen Abhängen
umgebene Festung, dieselbe, in die sich einst die vor Xerxes
fliehenden Phoker gerettet hätten.^ Die alten Mauern von
Tithora sind noch heutigentags gut erhalten. Sie umgeben
das am nördlichen Fuße des Parnassos gelegene Velitza. „Vom
Fuße einer hohen Felswand des Parnassos ziehen sie sich anfangs
über einen schrägen Abhang, darauf über flacheren Boden in
gerader Richtung gegen Norden hin und wenden sich darauf
mit einem stumpfen Winkel nach Osten bis an das rechte, sei
hohe und schroffe Felsenufer des Gießbachs Kakoreuma
welcher sich vom Parnaß herab durch eine tiefe Schlucht
Tal und weiter abwärts in den Cephissus ergießt. Pausanias
(10, 32,11) nennt ihn Cachales. Durch die Schlucht führt ein
beschwerlicher Sumpfweg über die Höhen des Parnassos nach
Arächova und Delphi. Die Mauern zeigen, daß die alte Stadt
nur nach Westen und Nordwesten künstlich befestigt war.
Nach Nordosten und Osten gewähren die senkrechten Ufer des
Parnassos hinlänglichen Schutz gegen jeden möglichen Angriff." —
„In einiger Entfernung hinter Velitza stromaufwärts am Cachales
befindet sich eine Höhle in einer hohen Felswand. — Sie ist
am
iisPI
naQvr]66ov ccvsßriGav' 'iexi dh -aal iTturjösri ds^aöd'ui o^iXov tov UaQvriGGov
7] •aOQVtpriy y,aTu Nscova tcoXlv xet/isVrj in loouT^g* Tid'OQBa ovro^ci aw|
ig TTiV dr] ccvrivsiTiavTO xal avtol ävißriöav.
, ^ Plut. Sulla 15. Vgl. Bädeker Griechenland^ S. 202.
Feralis exercitus 229
sehr geräumig, hat vortreffliches Trinkwasser und ist vollkommen
unnehmbar, und es ist wohl wahrscheinlich, daß sie, wie die
Corjcische Höhle von den Delphern, von den Bewohnern Neons
und anderer umliegenden Ortschaften als Zufluchtsort benutzt
wurde." ^ Die Vermutung des Pausanias, Tithorea und Neon
möchten identisch sein, ist ungegründet. Ulrichs erkennt Neon^
in den nicht ganz anderthalb Stunden nördlich von Velitza
liegenden Resten einer alten Stadt, die man jetzt i^ Ualaiä Oy^ßa,
d. h. Alt -Theben nennt. — Nach alledem wird man davon aus-
gehen dürfen, daß die Stätte, auf der die Phoker in dem Kampfe
gegen die Thessaler sich bargen, und wo der Überfall in der
Vollmondnacht geplant wurde, dem späterhin zu hoher Blüte
entwickelten Tithora entspricht.
Betrachten wir den von Herodot, Polyaen und Pausanias
überlieferten Vorgang, so ergibt sich zunächst, daß es sich um
eine Kriegslist in einem einzelnen Falle handelt, nicht, wie
bei den Hariern des Tacitus, um einen gelegentlich wieder-
kehrenden Brauch. Der Vorgang ist daher an eine bestimmte
Ortlichkeit geknüpft, an die Berglandschaft des Parnassos
oder seiner nächsten Umgebung. Eine Schar von 500 oder
600 Kriegern, groß genug, um die Bezeichnung eines „Heeres"
zu verdienen, tritt handelnd auf. Da es gegen das Fußvolk
der Thessaler geht und das Gelände für Reiterei ungeeignet
war, greifen auch die Phoker zu Fuß an. Von der Reiterschlacht
wird besonders berichtet; sie fand bei Hyampolis statt. Die
List beruht, wie bei den Hariern, auf einer Vermummung; sie
(beschmieren sich von oben bis unten, Körperteile, wie Waffen-
rüstung, also auch die Schilde, mit Gips, so daß der ganze
|Mann weiß gefärbt war. Es handelt sich um einen plötzlichen
jÜberfall der Feinde, und zwar, wie bei Polyaen und Pausanias
jausdrücklich hervorgehoben wird, um Vollmondszeit, wo die
jweißen Gestalten der heranziehenden Schar noch heller leuch-
^ Aus Ubichs Beisen u. F. 2 S. 114f. 118 f. Als Zufluchtsort diente
(sie auch während des griechischen Befreiungskrieges; s. ebd.
Archiv f. Religionswissenschaft IX 16
230 Ludwig Weniger
i
tend erscheinen und einen gespenstisclien Eindruck machen
mußten. Der Zweck wird vollständig erreicht. Die Thessaler
wissen sich in den unbegreiflichen Anblick nicht zu finden;
sie denken an ein Außergewöhnliches, d. i. ein Wunder, es sei
alXo XI \tBQaö\f (pdaiia ^evov xal dXXöxotov, d'SiötSQOv 7) Tcatä
£(podov utoXsiiCcov, aXXovg toitg i^Ld-s^evovg elvai. — So weit
der Tatbestand.
Für uns ergibt sich die Frage, was konnten sich die
Thessaler unter der fremdartigen Erscheinung vorstellen? Wer
waren die „anderen", die sie in den Angreifenden vermuten?
Gespenster schienen es, so wird auch hier zunächst gesagt
werden dürfen. Der allgemeine Ausdruck für solche Spuk-
gestalten findet auch bei den Hellenen zunächst auf Tote, aus
dem Grrabe Erstandene, seine Anwendung. Also würde der
Ausdruck feralis exercitus auch auf die weißen Phoker passen,
um so mehr, als es griechischer Brauch war, die Toten weiß
anzukleiden.^ Dazu kommt die bleiche Farbe der Leichen selbst,
so daß der Gedanke an Tote, die eben den Gräbern entstiegen,
beim Anblicke der Vermummten wohl aufkommen konnte. So
etwas wie in Goethes Totentanz:
„Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden."
Man müßte sich damit zufrieden geben, wenn nicht
nähere Erwägung lehrte, daß ein Aberglaube besonderer und
an die Örtlichkeit geknüpfter Art der gewählten Kriegslist zu-
grunde gelegen hat.
^ Artemidor. II, 3: ScvSqI dk voGovvxi Isvaa ^x^lv liiöcxia Q'ccvaxov
TtQoayoQEvEt dta ro tovg ScnoQ'ccvovTccg iv XevkoTs i7cq>^Q£6d'aL; cf. IV, 2.
Nacli dem Begräbniskostengesetz von lulis auf Keos durften die Toten
in höclistens drei weißen Kleidern bestattet werden; s. Köhler Athen. Mitt.
1, 139 ff., dazu Roehl ebd. 255.
Feralis exercitus 231
n
Geht man davon aus, daß der Vorgang im Bereiche des
Parnassos spielt, so wird man zunächst die an dies Gebirge
gebundenen, sagenhaften Anschauungen ins Auge fassen
müssen und danach zu prüfen haben, inwieweit die Einzel-
lieiten, der Überfall, die Nachtzeit, die weiße Färbung dazu
passen. Man erkennt bald, daß es sich um nichts anderes als
um eine Art Nachahmung der Orgien des Dionysos oder
vielmehr, wie bei diesen selbst, um eine Entlehnung von Vor-
gängen des zugrunde liegenden IsQog Xöyog handelt.
Den Mittelpunkt dieses Gottesdienstes bildet Delphi. 700 m
über dem Spiegel des korinthischen Meerbusens, in emer Höhe,
die den kurzen Aufstieg von der Seeseite ^ sehr beschwerlich
machte, lag das Heiligtum in einem engen, für die Stadt nur
16 Stadien Umfang lassenden Felsenkessel, der sich, wie das
Halbrund eines ungeheuren Theaters, an den Parnassos anlehnt.
200 bis 300 m hoch fast senkrecht emporragende Kalkwände,
von dem Glanz ihrer Färbung ^aiÖQiccdsg genannt, schließen das
Ganze nach Norden ab und hatten den Peribolos mit den
Heiligtümern dicht unter sich. Oben führt eine weitie Hoch-
ebene in die wilde Hochgebirgslandschaft. An den Grotten
und Höhen dieser eindrucksvollen Gegend haftete die Sage von
den winterlichen Leiden des Dionysos, welche, durch Dichtung
und Lehre der Orphiker bis ins einzelne ausgebildet, für die
Gestaltung des Kultus, und zwar ebenfalls bis ins einzelne,
maßgebend wurde und danach wieder, in weitere Kreise dringend,
zu einer Art Vulgata sich niedergeschlagen hat.
Dionysos Zagreus, d. h. der große Jäger ^, der Sohn des
Zeus und der Persephone, wächst als ein blühender Knabe in
I ^ Bädeker Griechenland^ S. 156. Von der Küste bis Krisa 4 km,
I von da hinauf bis Delphi SVa km. Hiller v. Gärtringen b. Pauly-Wissowa
" IV, 2, 2518.
* Etym. M. 406, 48: ytagcc rb ^a, iv y 6 ndvv ScyQSvoav. Et. Gud.
1 S. 227, 40: 6 ^sydXag ayQsvcov; ebenso Gramer An. Oxon. 2, 443, 8. Vgl.
I Preller -Robert Griech. Myth. 805, 2.
16*
232 Ludwig Weniger
Verborgenheit auf. Im Spiele mit seiner Umgebung begriffen,]
wird er von „Titanen", die sieb mit Grips weiß gefärbt^
hatten, gepackt und in Stücke zerrissen. Die Unholde werfen!
seine Glieder in einen Kessel, kochen sie über einem Feuer]
und schicken sich an, sie zu verzehren. Zeus sieht die Greuel-J
tat, schmettert die Titanen durch seinen Blitz in den Tartaros
und übergibt die Überbleibsel des Dionysos dem Apollon, dei
sie zu Delphi in seinem Tempel beisetzt. Das noch zuckende
Herz des ermordeten Gottes wird von Pallas gerettet. Zeug
macht den .Dionysos wieder lebendig, und dieser geht nach sc
viel Leiden in den Himmel ein.
Die Darstellung des Ganzen und die Belege für die Einzeln
heiten finden sich bei Lobeck im Aglaophamus klar und er-
schöpfend zusammengestellt, so daß für unsere Erörterung ni
so viel nötig ist, als zur Beweisführung gehört, daß diesei
Mythos die Grundlage für die Kriegslist der Phoker gebotei
hat. Plutarch (de si 9), der die Verhältnisse von Delphi, das
ihm zur zweiten Heimat geworden war, so genau wie wenige
seiner Zeitgenossen^ gekannt hat, spricht es geradezu aus, daf
Dionysos an Delphi nicht weniger Anteil habe als ApollonJ
(rö ^iovv<5(p)tG)v ^dsXcp&v ovdhv '^trov rj rra ^A^oXXovl iibxsöxivI
Diese Gleichstellung wurde auch dadurch bezeugt, daß ii
Vordergiebel des großen Tempels Apollon mit Leto, Artemij
und den Musen, in dem hinteren, westlichen, der Untergang"
des Sonnengottes, Dionysos und die Thyiaden dargestellt
waren.^ Das Verhältnis beider Götter kam im Gottesdienste
zur Geltung: während der übrigen Zeit des Jahres wurde bei
den Opfern der Paian gesungen, begann aber der Winter, so
^ Das Jahr 120 n. Chr., unter dem Eusebios den Plutarch anführt,
ist das letzte sichere Datum seines Lebens; W. Gurlitt Über Pausanias
S. 462.
^ Paus. 10, 19, 4. Die Bildwerke waren von Praxias, einem Schüler
des Kaiamis, und Androsthenes, einem Schüler des Eukadmos. Vgl. Hiller
V. Gärtringen b. Pauly-Wissowa IV, 2 Sp. 2566 f.
I
Feralis exercitus 233
wachte der Dithyrambos auf; man ließ den Paian ruhen und
rief drei Monate lang statt des Apollon den Dionysos herab. ^
Die drei dem Dionysos vorbehaltenen Wintermonate hießen
Dadophorios, Poitropios, Amalios und fielen in die Zeit der
attischen Maimakterion, Poseideon, Gamelion. Im Dadophorios
alsO; der unserem November -Dezember entspricht, begannen
die bakchischen Winterfeiern. Nach Ablauf des Vierteljahrs,
am 7. Bysios (Anthesterion, Februar -März), wurde mit der
Wiederkunft des Apollon das große Fest der Theophanien und
der Neubeginn der apollinischen Zeit begangen. Im Hinblick
auf Mythos und Kultus bezeichneten die delphischen Theologen
den im Winter verehrten Gott nicht bloß als Dionysos, sondern
auch als großen Jäger (ZayQSvsX Nachtwalter (Nvxtikiog) und
Gleichverteiler (^löoöaCtrjg) und stellten von ihm Vernichtet-
werden und Verschwinden, Auferstehung und Wiedergeburt dar.^
Als Euios, der die Weiber aufstört und mit seinen rasenden
Ammen verkehrt, rufen sie den Dionysos herauf.^ Von der
Beisetzung der Glieder des von den Titanen zerrissenen Gottes
auf dem Parnassos redet Clemens von Alexandria (Protr. 15).
Nach Lykophron, Kallimachos und Euphorion wurden die gött-
lichen Reliquien zu Delphi im Adyton und neben dem Drei-
^ Plut. de ü 9 S.389b; nur insofern war das Verhältnis ungleich,
als Apollon über neun Monate verfügte. Daß übrigens Dionysos im
Sommer nicht ganz vergessen war, beweist der neuentdeckte delphische
Paian des Philodamos auf diesen Gott, ein v^ivos xZTjrtxog, der ihn zu
den Theoxenien einladet. Vgl. Weil Bullae Corr.Hellld, 1895 S.393ff.;
dazu Diels Ber. d. Berl. Ak. 1896 S. 457 ff.
^ Plut. de sl 2k. 0. . . . (f%'OQag nvag ytal ätfaviG^ovg ol rag aito-
ßi(a6SLs xat ■nccliyysvsGias. Der Sinn erfordert ccraßimOEis, vgl. de Iside 35 :
jcca Tal<s ävaßiwGBGi xal 7CaXiyy£V£6la.ig. Für oi tccs Stegmann: ELTa d'.
^ Plut. de et a. 0., zu lesen ist: s^lov OQGLyvvaiyicc iiccLVOfiivccig
JlÖvvgov Eatg 6vvs6vtcc rid'TJvccLg ccvay,a%ov6iv , statt ^lÖvvgov ävd'sovtcc
ti^atg. A.Waldenaer 6vv9'Eovta tid-iqvaig nach Bahr in der deutschen Übers.
S. 1216 Anm. ***. Der Ausdruck ccvaKalovaiv ist nicht wörtlich zu
nehmen als her auf rufen; gleich darauf sagt Plutarch xcctccKccXovvtcci,
sie rufen herab. Es handelt sich allgemein um Adventslieder.
234 Ludwig Weniger
fuß aufgestellt.^ Dort war der Erdspalt, über dem die Pythi
Orakel erteilte, und dort stand auch ein goldenes Bild d(
ApoUon.^ Ebendort nun zeigte man den Sarg mit den Restei
des heiligen Leichnams, und wer es nicht besser wußte, hiel
ihn für eine Art Untersatz.^ Die hochheilige Stelle, die dei
Dionysosgrab eingeräumt ist, das Allerheiligste von Delp]
die Orakelhöhle selbst, bestätigt mehr als alles andei
Plutarchs Aussage, daß Dionysos an Delphi nicht mindere^
Anteil habe als ApoUon.
Mit diesen Überlieferungen stimmen die Einzelheiten d(
delphischen Gottesdienstes bei den trieterischen Winterfesten d(
Dionysos, wo in drei besonderen Akten das Kommen de
Gottes zu Beginn der rauhen Jahreszeit und sein Schwärmt
mit den Thyiaden auf den Höhen des Parnassos bis zum Übei
falle durch die Titanen, sodann sein Tod und seine Beisetzui
und zuletzt seine Wiederbelebung in anschaulichem Ritus dj
gestellt wurde. Das sind die ÖQÜ^sva oder ogyia, zu dene
der IsQog Xöyos den dogmatischen Hintergrund bildet, ai
denen er also herausgelesen werden kann. Für unseren Zwe(
kommt allein der erste dieser Akte in Betracht. Was wi
davon wissen, knüpft an die Nachrichten über das delphische
Thyiadenkollegium an, eine Genossenschaft, die dazu bestimmt
war, in einer Art Nachahmung der weiblichen Mitglieder des
bakchischen Thiasos, der Ammen des jungen Gottes, diesem
die gebührenden Ehren zu erweisen.* Unter der Leitung
^ Lycophr. AI. 207 ff.: iv fivxotg, JsXcpLviov TtuQ avrga Kegdcpov d'sov.
Dazu das Scholion. Vgl. Lobeck Agl. 558.
^ Daß es von Goldelfenbein gewesen (Hiller v. Gärtringen bei
Pauly-Wissowa IV 2, 2568), kann ich aus dem Hymnos des Philodamos
nicht herauslesen.
8 P. 10, 24, 5. Plut. Isis 35. Eusebios Chron., Schoene II S. 44 f.
Syncell. Chron. S. 307 Dind. Jo. Malalas Chron. 2, 52 S. 45 Dind. Cyrill.
c. Jul. X, 341. Lobeck Agl 573s.
* Ausführlich handelt darüber meine Abh. Über das Collegium der
Thyiaden v. Delphi, Eisenach, 1876, deren Aufstellungen ich noch heute
aufrechterhalte.
Feralis exercitus 235
einer Vorsteherin und vereint mit den attischen Thyiaden, die sich
dazu in Delphi einfanden, und unter denen wohl keine anderen
als die Gerairen zu verstehen sind, wurde zu Anfange des
Winters im Monate Dadophorios an einem bestimmten Kalender-
tage, den wir nicht wissen, die Erscheinung des Dionysos ge-
feiert. Die Nachrichten reichen aus, um danach ein un-
gefähres Bild der Vorgänge zu gewinnen. Das Fest fand in
der Nacht statt — daher wird es als Nyktelia bezeichnet,
wie der Gott als Nyktelios — , und zwar auf den Berghöhen
des Pamassos. Am Abende vor der heiligen Nacht, so darf
I man annehmen, versammelten sich die priesterlichen Frauen
I im Festornat an einem geeigneten Platze, wahrscheinlich im
Theater von Delphi, das, wie in Elis, als Dionysostempel
diente.^ Von da aus konnte man das Temenos durch seinen
westlichen Ausgang bequem verlassen^ und stieg dann in
I nordwestlicher Richtung aufwärts, an einer Bildsäule des
Dionysos vorüber, die von den Knidiern gewidmet war. Eine
j ununterbrochene Treppe von mehr als tausend in den Stein
gehauenen Stufen, „eines der kühnsten und bewunderns-
würdigsten Werke des Altertums", offenbar zu diesem Zweck
angelegt, führt auf die Höhe der Phaidriaden.^ Durch eine
Schlucht, die bis zum Gießbache der Kastalia sich hinzieht,
gelangt man in ein schmales Tal, an das im Westen eine
ganz von Bergen umgebene Hochebene sich anschließt, deren
südlichster Teil von einem kleinen See eingenommen wird.
* In Elis: P. 6, 21, 1. Einen anderen Dionysostempel gab es in
Delphi nicht.
2 Dahin schaute auch das westliche Giebelfeld des Apollontempels
mit der dionysischen Darstellung, ebenso bezeichnend, wie das östliche
Giebelfeld des olympischen Zeustempels mit Oinomaos und Pelops nach
dem Hippodrom zu schaute. Vgl. die Pläne bei Luckenbach Olympia
und Delphi, 1904 S. 40 und 45 und die Abbildungen ebd. S. 39 und 44.
" P. 10, 32, 2. Ulrichs Beisen u. F. 1, 117. Thiersch Topogr. S. 9.
Vischer Skizze des ParwayS, Yerh.d.Philol. Vers, in Altenburg 1854, S. 13.
Welcker Tagebuch einer griech. Reise II, 76 f. Bädeker Griechenland^
S. 161 f.
236
Ludwig Weniger
Zwischen dem Tal und der Hochebene erhebt sich die steile
Anhöhe, an deren Gipfel eine geräumige Tropfsteinhöhle, die
Korykische Grotte, liegt. Sie war dem Pan und den Nymphen
geweiht, die man als Genossen des Dionysos dachte.^ Weite;
hin nordöstlich erhebt sich das bei 2460 m Höhe oft di
Wolken überragende, stellenweise mit ewigem Schnee bedeckt
Lykoreion (jetzt AvksqlJj der höchste Gipfel des Parnasso
Dorthin verlegt Pausanias (10, 32, 5) die Orgien. „Yon d
Korykischen Grotte aus'^, so schreibt er, „wird es auch eine
wohlgegürteten Manne schwer, zu, den Höhen des Parnass
zu gelangen; die Höhen aber ragen über die Wolken hinau
und die Thyiaden rasen auf ihnen dem Dionysos und de
ApoUon zu Ehren"; aTtb dh xov KcoqvkIov %aX67iov ijdr] aal dvö
sv^covG) TtQog tä axQa cctpi^ic^'ai rov üaQvaööov. rä de vs(p&-
t£ kötiv dv(Dt£Q(D tä ccKQa, xul al ©viddag stcI tovtoig r
/diovv6(p Tcal t(p ^A%61Xg)vi ^ccCvovr ai. Mochten die göttliche
Thyiaden dort oben ihr Wesen treiben, so blieben die mensc
liehen weiter unten, wo es auch zur Nachtzeit ohne Lebe
gefahr auszuhalten war. Denn erschien auch die ganze wer
Höhe dem Dionysos geweiht, so mochte doch die Hocheben
von der wir sprachen, und die Umgebung der Korykisch
Grotte den eigentlichen Schauplatz des Festes bilden, den m
sich einigermaßen hergerichtet denken muß. Es kam vor, d
unter besonderen Umständen, wenn die wallenden Nebel d
Gebirgs den Schauplatz verhüllten, die schwärmende Schi
sich in weite Ferne verirrte. So war es im phokischen Krie
(355 bis 346 v. Chr.) geschehen, daß sie den Pfad verlöre:
hatten und schließlich halbtot im fernen Amphissa anlangten.!
Auch hatten die Frauen unter der nächtlichen Kälte, Winte
^ Darin Altar mit Inschrift; Vorderseite: Evörgarog \ 'AXyiiSäiiov
ItifißQvöLog I eviiöSQLTtoloL \ TIccvl Nv[i(pais\ auf der oberen Fläche bei de^
Escharen Nv^cp&v x . . \ Tlavog Kai \ QväSav a . . \ XtasX7iq)9L \ ; LoUii
Athen. Mitt. 3, 2 S. 154. Für 6v^6BQinoXoi ist offenbar zu lesen: 6v^
TtBQmoXoig. Vgl. Soph. Antig. 1151: 6olg aybcc TtSQiTtoXoLg QviuiGiv.
2 Plut. mul. virt. S. 249 c. Weniger, Abh. Thyiaden S. 10.
I
Feralis exercitus 237
stürmen und Schneegestöber zu leiden.* Dort oben auf den
Höhen der Berge wurde nun das Nachtfest mit der Erweckung
des Dithyrambos, der Herbeirufung des Dionysos in festlichem
Adventslied, unter Fackelglanze gefeiert. Von den Fackeln hat
das Fest und der Monat den Namen.^ Mit Vorliebe schildern
die attischen Bühnendichter das Treiben des Gottes und seiner
Umgebung und den Lichterschein auf den Felshöhen des
Pamassos,^ Natürlich durfte Darbringung eines Opfers nicht
fehlen, und im Anschlüsse daran mochte der Rebensaft in
Strömen fließen. Das Nahen des Gottes mußte dargestellt und
gefeiert werden, ausgelassener Festjubel den Freudenbringer
begrüßen.* Vor allem aber war den priesterlichen Thyiaden das
^ Einen solchen Fall schildert Plutarch de primo frigore 18 S. 953 d.
Abh. Thyiaden a. 0.
^ Der Festname JadacpoQia ist jetzt inschriftlich bezeugt; vgl.
Dittenberger Sylloge^ II n. 438. Dasselbe bedeutet (paval Bay,%iov Eurip.
Ion 550. ^coQOvvtccL ds 6s aO'ccvatoi . . . tQLSTSöLv (pccvatg Bgo^Log im
delphischen Hymnos des Aristonoos von Korinth Bulletin de Corr. Hell.
XVII, 1893 S. 561. 0. Crusius Die delphischen Hymnen, Philol 53, 1894.
Ergänzungsheft S. 5. 15. Vgl. Tzetzes Lyc. 212: ^avariQQiog dh XeyEtaL cctco
Tov diä cpuv&v nal Icc^Litadcov iTtitBlußd^ai tu tovtov ^vGxriQia.
^ Vgl. Aesch. Eum. 22ff. : cißa dh vvnqxxg^ ^vd'a KagvTilg tcbtqcc,
xoiXrif (fiXoQVig, dai^övcov avccörgocf^' Bgoiiiog ^ibi tov ^mgov, ovo'
cc^vriiiovm, i^ ovts BaTt^c^ig iöXQCctriyriGEV ^sög. Aristoph. Nub. 603 ff. :
IlaQVUGiav dg y,atex(ov TtEtgccv 6vv rcsvxaig GsXccyet BccTcxccig ^sXtpiöiv
i{i7tQE7C(ov, xco^aöTrjs ^lövvöog. Eurip. Hypsipyle fr. 752 S. 467 Nauck:
Jiövvöog, dg %'vq6oi6l y,cd vEßQcov doQcctg "nad^uTtrog iv nEVKCclGi HaQvaGöov
I xaT« Tcridä %oqev(x)V ^ag^Evoig 6vv jEXcpiaiv. Bacch. 306: §V avrov öipEi
xanl AEXcfieiv TtirgaLg nrid&vra avv itEv-uccieiv dvKOQVcpov nXccna näXXovta
xal GEiovra Bayi%Elov %Xd8ov. Ion 714ff. : i(b ÖEiQccdEg HaqvaGov ititgag
^%ov6ai 6%6nEXov ovqccvlov %'' i'Sgav, Iva Baycxtog a^cpncvQOvg avixcov
nEv%(x.g XaLipriQCi 7cr\Su vvKtLJtöXoig a^a öhv BdY.%uig. 1125: Evd^a tcvq
%r\8& Q'Eov ßay.%Elov. Soph. Ant. 1126: eh 8' vTthg 8iX6(poLO nstgag
GTEQOip Ötcotce Xiyvvg, ^vd-a Kcagv-Kicci Nviicpat 6xl%ov6i Bav,%i8Eg KaetaXiag
ts v&^. Eur. Phoen. 233: oo Xdiinovoa tcetqcc Tcvgog SvKogvcpov ciXag
VTchg ay.Q(ov Bcc^xeIcov JiovvGov.
^ Bei Euripides Ion 550 ff. hat Xuthos dem Fackelfeste beigewohnt,
ist mit den Mainaden in Berührung gekommen und glaubt, im Fest-
ransche {Bcc^xiov Tcgog 7}8ovaLg) den Ion gezeugt zu haben.
238 Ludwig Weniger
Reigentanzen lieb und galt als wesentlicher Bestandteil; denn
es stellte in künstlerisclier Form das Schwärmen der Mainaden
des Mythos dar. Gesang, Musik, Schwingen des Liknon mit
einem vorgestellten oder nachgebildeten Wiegenkinde, Efeu-
gewinde, Thyrsosstäbe und rauchende Fackeln, dazu große
brennende Feuer, um Licht und Wärme zu spenden, die stillen,
schneebedeckten Bergriesen im Hintergrunde, das Ziehen der
Wolken und fahles Mondlicht: alles zusammen bildete eine
großartige Szenerie, die auf zuschauende Laien, auf die Seele
des Volkes überhaupt, offenbar den mächtigsten Eindruck ge-
macht hat. Allein die Szene wechselt; der dionysischen Lust
folgt dem Mythos gemäß Entsetzen und Trauer. Fürchterliche
weiße Gestalten nahen; es sind die „Titanen", die das Götter-
kind überfallen, ergreifen, zerreißen, die zuckenden Glieder in
einen Kessel werfen und auf dem Dreifuß über das Feuer
setzen, bis Zeus dreinfährt und die Unholde zunichte macht.
Daß auch dieser Teil der mythischen Überlieferung irgendwie
dargestellt wurde, ist nicht zu bezweifeln; wie es aber ge-
schah, läßt sich nicht nachweisen. Flucht, Verfolgung, Suchen
des Entschwundenen durch die Thyiaden konnte man wieder-
geben und findet anderwärts Seitenstücke.^ Das Zerreißen und
Kochen bietet Schwierigkeiten; aber die Bühnentechnik hat
weit größere überwunden. Indes dürfen wir das Weitere auf
sich beruhen lassen. Denn das Vorgeführte wird genügen, um
zu zeigen, wie in Wirklichkeit die Sage von dem Walten des
Dionysos und seines Thiasos und vom Überfalle des Gottes
durch die weißgefärbten Daimonen an den Parnassos geknüpft
war und diesem Gebirg in den Seelen der umwohnenden Be-
völkerung einen eigenartigen, schauervollen Reiz verlieh, als
einer Stätte, da es nicht geheuer ist, wo unheimliche Geister
hausen und daemonische Mächte ihr Wesen treiben, denen man,
wenn es möglich ist, aus dem Wege geht.
1 Vgl. Preller-Eobert Gr. M. 1, 689 ff. F. A. Voigt in Roschers
Myth. L. 1 Sp. 1037 f. 1056.
Feralis exercitus 239
Delphi und Tithorea bilden die Endpunkte der von Süd-
westen nach Nordosten in weitein Bogen sich hinziehenden
Hauptkette des Parnassosgebirges, und die Landschaft um
beide Orte macht nach Tansanias (10, 1, 1) das eigentliche
alte Phokerland aus. Ebenso wie in Delphi und den darüber-
liegenden Berghöhen darf man auch in Tithorea und dem
nächstliegenden Teile des Gebirges die Bekanntschaft mit den
I Sagen von den Leiden des Dionysos als etwas den Bewohnern
Geläufiges und Heimisches voraussetzen. Die Entfernung von
Delphi nach Tithorea betrug, wenn man den Weg über die
Berge nahm, 80 Stadien, d. i. zwei Meilen; der Fahrweg war
etwas weiter (P. 10, 32, 8). Im Volksglauben erschien das
ganze Parnassosgebirge durch die geheimnisvollen Vorgänge
auf seinen Höhen geweiht und stand unter der Gewalt jener
Unholde^, wie bei uns der Harz in weitester Ausdehnung unter
ähnlichem Zauber liegt. Der Hexentanzplatz ist vom Brocken
weiter entfernt als Delphi von Tithorea; die Gegend von
Schierke und Elend liegt in der Mitte. Auch im Riesengebirge
ist Rübezahls Gewalt nicht bloß an die Umgebung des Hirsch-
berger Tales gebunden, sondern erstreckt sich, so weit die
Berge reichen. Es liegt im Wesen des Volksglaubens, zu
verallgemeinern. Selbst in den lokrischen Städten Amphissa
und Tritaia deutet der Monatsname Gigantios, der in Amphissa
dem Amalios, in Tritaia dem Poitropios der Delpher, also
zweien der bakchischen Wintermonate, entspricht, auf Bekannt-
schaft mit der Titanensage; die Giganten sind, wie so oft,
an die Stelle der Titanen gesetzt. Aus Tithorea weiß man
jvom Dienste des Dionysos und daran geknüpfter Legende
iwenig.^ Nur die Sage von Antiope, die, von Dionysos mit
'Raserei bestraft, dort von Phokos geheilt und als Gemahlin
^ Strabon 9, 417: IsQOXQsnrjg d' iarl Tcäg 6 IIccQvccaeog ^xav avxga
^ Um so mehr aus späterer Zeit vom ähnlichen Dienste der
ägyptischen Gottheiten Isis und Osiris.
240 Ludwig Weniger
I
heimgeführt wurde, ist in Tithorea lokalisiert. Man zeigte im
Städtchen das Grab der Heroine, ein Mainadengrab also, wie
das der Choreia in Argos, der Kosko, Baubo, Thettale in
Magnesia a. M., und die ähnlichen der Dionysosbräute Physkoa
in Elis (Orthia) und Ariadne in Argos.^ Fest steht, daß die
Bewohner des Ortes und seiner Umgegend völlig mit dem
Gedanken vertraut waren, der das Gelingen der angewandten
Kriegslist allein ermöglichte, dem Gedanken, daß in ihren
Bergen, welche die hochgelegene Stadt überragten, wie Frau
Hütt das heutige Innsbruck, jene Titanen hausten, die dem
Dionysos den Untergang bereitet hatten und seitdem noch
immer zur Nachtzeit ihr unheimliches Wesen trieben.
Besteht das Hauptstück der vielgefeierten Orgien des
Dionysos aus dem Wechsel von höchster Freude mit tiefstem
Leid in der Erweckung des Wiegenkindes und seiner Zer-
reißung durch die Titanen, so tritt als ein Einzelzug der
Legende sowohl, wie der dQ6iiEva, der in dem geschilderten
Vorgange für das Verständnis der phokischen Kriegslist be-
sonders*^ in Betracht kommt, die Vermummung der Verfolger
hervor, welche darin bestand, daß sie sich mit Gips bestrichen.
Verkleidung und Entstellung des Angesichts, um etwas anderes
vorzustellen, ist von Anbeginn ein eigentümlicher Zug der
bakchischen Religion. Altertümliche Figuren des Dionysos, mit
Mennig oder Zinnober rot gefärbt, sah man zu Pausanias' Zeit
noch da und dort in Griechenland.^ Das Beschmieren mit
Weinhefe, Ton, roter Farbe und dergleichen, dann auch Ver-
hüllen der Gesichtszüge mit Blättern, findet sich früh im
Dienste des Gottes. Bekanntlich hat sich daraus der Ge-
brauch der Maske im Drama entwickelt. Thespis zuerst
soll das Gesicht mit Bleiweiß gefärbt, dann mit Portulak
überzogen, endlich Masken aus unbemalter Leinwand hergestellt
^ P. 2, 20, 4. — Athen. Mitteügn. 15, 1890, S. 331 f.; Rohde Fsyche^
342, 2. — P. 2, 23, 8. Weniger Kollegium d. 16. Fr. in Elis S. 18 ff
. * Vgl. P. 2, 2, 6. 7, 26, 11. 8, 39, 6.
Feralis exercitus 241
haben.^ Mochte schon bei den ersten mimischen Vorstellungen
die Absicht mitwirken, sich unkenntlich zu machen und als etwas
anderes darzustellen, einen abenteuerlichen Eindruck hervor-
zurufen, insbesondere komische oder schreckende Wirkung zu
erzielen, so spielt doch die erwähnte Eigenart des dionysischen
Kultus dabei mit, und es ist wahrscheinlich, daß dieser Zug
auf die Legende von der Verfolgung des Gottes durch die
Unholde und darüber hinaus auf einen uralten Glauben zurück-
zuführen ist.^ Für unseren Zweck kommt es besonders auf die
weiße Färbung an. Ganz weiße Kleider trugen auch die
Eingeweihten des idäischen Zeus im Hinblick auf die Nacht-
feier des Zagreus nach dem Fragment aus Euripides' Kretern
(v. 10) vcyvbv ds ßiov teivo^svj 6^ oi) ^ibg 'IdaCov ^uv0tr}g
ysvönr^v, xal vvTcrtJCÖXov ZdyQScog ßiotäg tag % dyiiocpd'yovg
dalzag rsXsöag MtjtqC x oQsCa dadag äva(5%G)v^ xal Kovqtjtcov
Bd:iXog ezXrid'riv o^Lod'sCg. IldXXsvKa d^e%cov suiiata
(psvyo. Das Zeugnis ist insofern von Wichtigkeit, als es dem
Zeitalter Herodots nicht fern steht und einen wohl mindestens
ein Jahrhundert alten Brauch voraussetzt. Auch die weiße
Färbung der Gesichter war Sitte der Eingeweihten geworden.
Dies geht aus dem Berichte des Demosthenes in der Kranz-
rede über die Hilfe des jungen Aischines bei dem nächtlichen
Treiben seiner Mutter Glaukothea hervor, bei dem er den Ein-
[zuweihenden die Nebris umtat und sie mit dem Ton und der
jKleie einrieb (259) : vsßQ^^cov %al ^QatrjQC^cjv ^al ^ad'alQcov tovg
T6Xov[isvovg Tial aTtoiidttcov rtp 7crjX(p 'Aal xolg TtitvQOig.
Demosthenes' Erklärer Harpokration, der um die Zeit der
Antonine lebte, führt die Auslegung Sachverständiger an, daß
man Ton und Kleie denen, welche eingeweiht wurden, auf-
^ Vgl. Albert Müller G7\ Bühnenaltertümer S. 270.
; 2 Vgl. die ^oXosts in Orchomenos, Plut. Q. G. 38 S. 299: xai v,Xri%'jivai
Vohq fihv ävÖQag ccvt&v dvGu^atovvrag vno IvTcrig xat itevd'ovg WoXosiSy
fcvvcig dk 'OXsiag olov oXodg. kuI iiexqI' vvv 'ÖQXOiiBViOL tccg UTto tov ysvovg
WTC) ytcdovöi.
242 Ludwig Weniger
schmierte im Hinblick auf die Sage, daß die Titanen den
Dionysos gemißhandelt hätten, indem sie sich mit Gips
färbten, um nicht kenntlich zu werden.^ Das gehörte also
zum Mysterienapparat. Besonders deutlich sind die, wenn
auch späten, doch auf alter Überlieferung beruhenden Angaben
an verschiedenen Stellen im Epos des Nonnos. So heißt es
6, 170 von den Titanen: akXä s yv^(p ocs^daXer} xQiöd-svtsg
iTtCxXoTCa TtvxXcc xqoöütcov. Daß in gleicher Weise die Bak-
chanten ihr Angesicht weiß färbten, sagt der Dichter 27, 204:
zvxXa iLsXaQQCvoio %Qo6d)7tov "Ivdcov XrjidC(DV XevTcaCvsts
^vatidi yvifG). Ebd^228: eXsvxaivovto dh yvipc)
livötiJCÖXq). 29, 274: XQCöag evd'a Tcal avd'a xaQrjCda Xsvxddi
yv^o). 30, 122: ^al ov yvtl^oLO laxi^eig avtoßacpfl ^sd'snov
TCSKOvi^sva TivxXa Ttgoötaitov. 34, 144: ovdh iiexoira ns(pvQ^£va
Xsvicddi yv7l}(p^ G)g TcdQog, ägyaCvovxo. 47, 732: 6[irjysQ£eg
ÖS ütoXlrai ^vötLTtöXc) xqCovzo TCaQtjia Xsvxddi yvtl^o).
Es ist wohl nur ein zufälliges Zusammentreffen, daß
tltccvög neben yvipog^ öxiQQdg oder öxCQog^ Xatvicrj, die heUenische
Bezeichnung für das Mineral bildet, welches wir als Gips be-
zeichnen.^ Zu Anfang scheint man Kalk und Gips dem Namen
nach nicht unterschieden zu haben. Später behielt der Kalk
den Namen rltccvögf und, wenn er gebrannt und zerschlagen
war, den Namen 7tovCa\ Schon im Schiffskataloge 2, 735
werden Tixdvoi6 xb XsvTcä xdQrjvcc erwähnt; dazu schol. xCxavog
il ocovCa TcaXsixccL. diä xb öiatpaveg ovxco aaXslxai (nämlich
^ 'Ano^drtcov: Jrnioöd'ivris iv ro) vTihg KtrißLg^&yrog. ol fihv änXoiv,6a-
TEQOV dxovovöiv ccvtl tov aTtotp&v -nccl ccTCoXviiaLvo^svog y äXXoi dh tcsqleq-
yoTEQOv, olov ■7tsQL7fXdzT(üv TOV TCtiXov 'nccl XU TtiTVQa ToTg TsXov^evoLgj ac
Xiyonsv ccTto^drtsöQ'ai, xov dvdQidvta nriXo)' ijXELcpov yäg rS) -jtriXS} y.al to
jtLtvQ(p rovg iivofiivovg, iotfiiiioviisvoL rä ^iv&oXoyovfisvcc itaq ivioig,
a}g agu ol Titäveg tov ^ iovvaov iXv^'^vavto yvipco y,axa7cXa6cc-.
lievoi inl xm ^ir} yvmqi^oi yEV&6%'cct,' xovxo ^ihv ovv x6 ^d'og ixXiTtsiv
TtriXo) dh V6XSQ0V y,ccxccjtXdxxE6d-ai vo^i^ov %dQLv.
^ Vgl. Hes. scut. 141: itav iihv yccQ xv^Xa xixdvca Xcvxra r iXicpavv
TiXi-Ktgo) t' vTtoXcc^Tthg ?rjv.
' Blümner Technologie 2, 140.
Feralis exercitus 243
der Ort in Thessalien*, Benseier übersetzt „Weißenfels").
Natürlich ließ man sich das Wortspiel zwischen tttavog und
Tltävsg nicht entgehen und leitete auch die Bezeichnung des
ungelöschten Kalkes von den mythischen Titanen her.^ Es
läßt sich erkennen, daß die Vorstellung von der weißen Färbung
der Titanen viel verbreitet gewesen ist, und nach dem vorher
Entwickelten muß sie auf einen alten, tiefer begründeten Sagen-
zug zurückgeführt werden. Allerdings bleibt zu beachten, daß
dies nicht von allen Titanen, insbesondere nicht von denjenigen
gilt, deren die Uias mehrfach gedenkt^, sondern eben aus-
schließlich von den Unholden des Gebirges, welche den Zagreus
überfallen und zerrissen haben, und denen erst Onomakritos
den Namen von Titanen verschafft hat (P. 8, 37, 5).
Wenn wir gesehen haben, daß die Wahl der Nachtzeit,
die sagenhafte Ortlichkeit, das Beschmieren mit Gips, wohl-
geeignet waren, in hellenischen Zeitgenossen bei dem Angriffe
der Phoker den Gedanken an die mythischen Titanen wach-
zurufen, so ist für das Gelingen der Kriegslist nicht ohne Be-
deutung, daß die Leute, welche getäuscht werden sollen, Thessaler
gewesen sind. Die "fhessaler standen durch lange Streitig-
keiten mit ihren phokischen Grenznachbam in Verbindung; sie
hatten einige Hundert phokischer Geiseln in ihrem Lande und
ihi-erseits Zivil- und Militärbeamte in Phokis gehabt (oben S. 223) ;
so konnten sie mit phokischem Glauben und Aberglauben wohl
* Strab. 9, 439: Tlravog d'ä%o xov cv^ßsßri'noTog avo^idöd^ri' Xsv-
x6y£(ov yccQ iöZL rb %oiQiov 'Agvqg -nXrieiov 'xal [tmv AcpsJT&v, Thessalien
war reich an Kreide, Plin. 35, 17, 57.
^ Anch das alte Titane bei Sikyon scheint von den weißschimmernden
Bergwänden seinen Namen erhalten zu haben. Aber am Gipfel haftete
eine Ortssage von Titan, dem Bruder des Sonnengottes; Paus. 2, 11, 5.
E. Curtius Pelop. 2, 501. Eustath. B. 2, 735 ixXrid'ri dh ovtag {T^ocvog,
die thessalische Stadt) anb t&v ^ivd^LTicbv TlravcoVy ovg 6 xov ^v^ov
Zsvg -KBQdvvolg ßaXcav ncctiipQvyE' di avtovg yag Kai tb 1^ äyav 7toXii]g
nccvGsoig xccl mg olov eItcelv titavmdovg ÖLatQvcp&hv iv Xid'oig XsTtrbv
riravog avo^dad'Ti, olov jtOLvfjg xivog TixavtKfjg ysvoiisvrig iv avrcö.
» 14, 278 f. 273 f. 8, 479. 5, 898.
I
244 Ludwig Weniger
vertraut sein. Es kommt nun aber hinzu, daß die Bewohner
Thessaliens durch ihre Nachbarn in Thrake, so wie in den
angrenzenden Ländern von Hellas, nicht nur die dionysischen
Orgien sehr gut kannten, sondern auch, daß sie von allen
Hellenen am meisten dem Aberglauben ergeben waren. Das
thessalische Pherai galt als Geburtsort der Hekate^; im nahen
lolkos hatten Medeia und Jason gewohnt. Kurz, die Denk-
weise der Thessaler war eine solche, daß derartiger nächtlicher
Spuk, wie ihn die phokische Kriegslist darstellte, bei ihnen .
aufs leichteste Wirklichkeit gewann. ^^Hl
Dazu kommt nun noch das gespenstische Mondlichi^^
Der Glaube der Alten an Einwirkung des Mondes bei Zauberei^,
und Hexenspuk ist bekannt und wohl begreiflich. Das fahle^^j
Licht mondbeglänzter Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält,
ließ zu allen Zeiten wunderbare Märchenwelt aufsteigen uni
zeigte die Dinge zwar klar und deutlich, aber nicht so, wi
bei Tage, sondern mit Weiß übergössen, ein anderes Dasein
der Farbe entbehrend.^ Niemand mehr als die Thessale
wußten davon zu erzählen, welche Einwirkungen der Mond
schein ausübt. Ihre Zauberinnen verstanden den Mond
herabzuziehen und zu unheimlichen Dingen, vornehmlich zur
Erregung der Liebesleidenschaft, dienstbar zu machen. Zauber-
kräuter wurden im Mondlichte gesammelt; Totenbeschwörung^n
gelangen am besten bei Vollmond. Der helle Mondenschein
zieht die Toten aus den Gräbern heraus, daß sie umgehen^,
wie in Goethes Totentanz und in Bürgers Lenore: „Der Mond
der scheint so helle; Die Toten reiten schnelle." Auch diony-
sischer Spuk liebt den Mondenschein. „Nächtlich erscheinender
Dionysos, Begleiter der Mondgöttin", vvxtocpasg ^i6vv66^
it,
]
1 Tzetz. ad Lyc. 1180. Schol. Theoer. 2, 36.
^ Thuk. 7, 44: hv dh waroiLuxia . . . nm^s äv rtg öaqpwg rt ^dei; riv
iihv yäg Gsliivri la^Ttga, kagcov dh ovtcog äXXi]Xovg ojg ^v eEl'qvjj sUbg rr\v
Hhv oiptv xov 6ä)(iaTog Tcgoogäv, xriv 6h yv&6iv tov oly-slov aTtiöxstöd'at.
* Die Nachweise bei Röscher Selene und Verwandtes, S. 85. 88. 90.
Feralis exercitus 245
QvvÖQO^is M7]vi^g, wird der Gott bei Nonnos (44, 218) an-
geredet. Nach alledem mußten die unheimliclien weißen
Gestalten der Gipsmänner, die, im Mondlichte blinkend, von
dem sagenumwobenen Gebirge heranstürmten, in den vom
Schlaf aufgescheuchten Thessalern wohl den Gedanken hervor-
rufen, daß ein Außergewöhnliches, äXXo rt, ein Wunderereignis
(teQag) vor sich gehe, und daß die gespenstisch Nahenden
aXlovg tivag sein könnten, ein Totenheer, feralis exercitus, oder
wohl gar das dionysische Heer der Titanen. Denn daß es so
viele waren, ein ganzes Heer, bildete für den Wahnglauben
kein Hindernis. Von Phalangen der Titanen spricht schon
Hesiod {th. 676). Man hatte sich, wie aus Euripides' Bakchen
hervorgeht, daran gewöhnt, den Kampf zwischen Dionysos
und seinen Gegnern zum Streite ganzer, großer Scharen ge-
steigert zu denken. Pentheus stand an der Spitze seiner
Krieger und Dionysos an der Spitze der Mainaden; wer konnte
wissen, wie groß die Schar der Titanen war, die im Parnassos
hausten?
Auf den Aberglauben solcher Feinde, wie die Thessaler
waren, konnte ein kluger Mann einen Plan bauen, der Ge-
lingen versprach. Dieser kluge Mann fand sich; es war der
elische Seher Tellias. Tellias spielt im Kriege der Phoker
und Thessaler eine so hervorragende Rolle, daß es sich ziemt,
seiner Geschichte näher zu treten. Im olympischen Gottes-
dienste des Zeus wirkten die beiden Seherfamilien der lamiden
und der Klytiaden. Obgleich sich in den Inschriften gelegent-
lich mehrere von jedem der beiden Geschlechter verzeichnet
finden, so scheint doch in der Regel nur ein lamide und ein
Klytiade, jeder lebenslang, den Dienst versehen zu haben. Die
übrigen Glieder des Geschlechts, welche ebenfalls die heilige
Weihe als Erbteil besaßen, auf die das meiste ankam, und
überdies die Seherkunst durch Gewohnheit von Jugend auf und
durch Unterweisung der Väter erlernt hatten, suchten ihr Brot
im Auslande zu verdienen. Daher hört man von Sehern elisch-
Archiv f. Eeligionswissenacliaft IX 17
246 Ludwig "Weniger
olympisclier Herkunft manclierlei in der Geschiclite ihrer
Zeit, besonders aus dem sechsten und fünften Jahrhunderte v. Chr.,
als die olympische Mantik in Blüte stand. Sie wirkten nament-
lich als Heerespriester, die, wie der typische Kalchas der Ilias,
die Aussichten wichtiger Unternehmungen aus den Opfern
vorausbestimmten, zugleich aber auch als politische und
strategische Ratgeber die Rolle von Diplomaten spielten, deren
kluger Rat die Entwickelung der Dinge nicht selten beeinflußt
hat. Die Telliaden bilden einen selbständig gewordenen Seiten-
schößling eines der beiden Sehergeschlechter, vermutlich der
Klytiaden. Nur zwei Vertreter dieses Zweiges sind bekannter
geworden: unser Tellias, der Heerespriester der Phoker im
Kriege gegen die Thessaler, sodann Agesistratos, den Herodot
(9, 37) den bedeutendsten der Telliaden nennt, der bitterste
Feind der Lakedaimonier und ihres Heerespriesters, des Tisa-
menos, eines Klytiaden aus lamidenstamme, durch Adoption
zum Klytiaden gemacht. Agesistratos scheint der Sohn unseres
Tellias, dieser aber der Eponymos des Telliadengeschlechts
gewesen zu sein.
Die olympische Seherschaft stand zu Delphi in naher Be-
ziehung, und das delphische Orakel förderte die Stellung dieser
Leute in Olympia seinerseits in hohem Grade.^ Kein Wunder,
wenn Tellias mit den delphischen „Theologen", deren Plutarch
gedenkt^, d. h. Männern, die in der orphischen Lehre wohl-
bewandert waren und danach diese, sonst nur vereinzelt vor-
kommende Bezeichnung trugen^, in Beziehung trat. Um so
mehr, als der Dionysosdienst von Elis, das Kollegium der
Sechzehn Frauen, die man als Thyiaden bezeichnen darf, das
Epiphanienfest der Thyien mit dem Wunder der Kesselfüllung,
an delphischen Dionysosdienst erinnert, und selbst orphische
^ Paus. 3, 11, 8. Weniger Der heilige Ölbaum in Olympia, S. 27.
2 Def. or. 14, S. 323. Nikephoros bei Lobeck Agl. 618.
^ Lobeck Agl. 465 ff. Gerhard Orpheus und die Orphiker, S. 74,
Anm. 152.
Feralis exercitus 247
Beziehungen nachweisbar sind.^ So kannte Tellias die Wunder-
vorgänge auf dem Pamassos gewiß sehr genau, und ebenso
wußte er als Seher von Fach die Menschen zu beurteilen, wie-
weit sie Glauben entgegenbrachten oder versagten. Aus solchen
Ideengängen eines klugen Pfaffen ist die List erwachsen, welche,
ohne Rücksicht auf etwaigen Zorn der Gottheiten, es kühnlich
wagte, die Rolle der Titanen zu übernehmen und statt des
Dionysoskindes und seiner Thiasoten den verblendeten Thessalem
den Untergang zu bereiten.
So hat es sich gefügt, daß dem schwarzen Heere der
germanischen Harier ein weißes der hellenischen Phoker gegen-
übergestellt werden kann, ein halbes Jahrtausend älter als jenes,
feralis exercitus das eine, wie das andere, aus gleichen Um-
ständen erwachsen und auf einem Aberglauben beruhend, der
Ähnliches und Verschiedenes zum Vorscheine bringt, zuletzt
aber doch auf dieselbe Grundan schauung zurückführt.
^ Weniger Kollegium der Sechzehn Frauen, S. 13.
17'
Walflschinytheii
Von L. Badermaclier in Greifswald.
Merkwürdige Übereinstimmung mit einer jedem Philologen
bekannten Erzählung Lucians zeigt eine polynesische Legende
von der Meerfahrt des Rata und Nganaoa, die bei Frobenius
Das Zeitalter des Sonnengottes S. 63 ff. am bequemsten zu-
gänglich ist. Die Stelle, die in Betracht kommt, lautet: „Aber-
mals setzten sie ihre Reise fort, aber eine noch größere Gefahr
harrte ihrer. Eines Tages rief der tapfere Nganaoa aus:
„0 Rata, hier ist ein großer Walfisch!" Das ungeheure Maul
desselben war weit offen, der Unterkiefer war schon unter dem
Boote und der andere über demselben. Ein Augenblick und
der Walfisch hatte sie verschlungen. Nunmehr brach Nganaoa
„der Drachentöter" (the slayer of monsters) seinen Speer in
zwei Stücke, und in dem Augenblick, als der Walfisch sie
zermalmen wollte, richtete er die beiden Stäbe in dem Rachen
des Feindes auf, so daß er seine Kiefer nicht zu schließen ver-
mochte. Nganaoa sprang schnell in das Maul des großen
Walfisches und blickte in dessen Bauch hinein, und was sah
er? Da saßen seine beiden Eltern, sein Vater Tairitokerau
und seine Mutter Yaiaroa, welche beim Fischen von diesem
Ungeheuer der Tiefe verschlungen worden waren. Das Orakel
hatte sich erfüllt; die Reise hatte ihr Ziel erreicht.'^ Nganaoa
beschließt nun die Flucht; er nimmt einen von den beiden
Stöcken aus dem Maule des Tieres, zerbricht ihn in zwei Teile
und benutzt diese als Feuerreibehölzer. Die Flamme, durch
Blasen angefacht, ergreift die fettigen Teile im Bauche des
Wales. Das Ungeheuer stirbt an der inneren Glut; Nganaoa
und seine Eltern entkommen durch die Kiefern des Fisches,
die mit dem Speerholz auseinandergesperrt waren.
L. Radermacher Walfischmythen 249
Auch in den wahren Geschichten des Lucian (I 94)
wird ein ganzes Boot verschluckt; die Reisenden stoßen im
Bauch des Fisches auf andere Menschen. Sie befreien sich,
indem sie ein Feuer anzünden und das Fett des Wales ver-
brennen. Sie sperren das Maul des Fisches mit einem Baum-
stamme, um des Ausweges sicher zu sein; so entrinnen sie
aus dem getöteten Tier. Es gibt bei Lucian einige groteske
Übertreibungen, entsprechend seiner Tendenz, sich über die
lügenhaften Berichte der Reiseromane lustig zu machen, aber
diese Übertreibungen sind nach Ausweis der Parallelerzählung
unbedeutend. Das Seltsame und Auffallende ist die Überein-
stimmung der Züge bis ins einzelne. Frobenius hat das un-
bestreitbare Verdienst, nachgewiesen zu haben, daß über die
ganze Erde eine Erzählung verbreitet ist, nach der ein Mensch
von einem Fisch (oder Drachen oder Krokodil) verschluckt
ward, aber dann lebend wieder zum Vorschein kam. Die Er-
zählung nimmt verschiedene Formen an; die oben vorgelegte,
die bei den Aitutakis (ich kenne die Leute nicht) aufgezeichnet
wurde, ist durchaus singulär, von Lucian hat Frobenius nichts
gewußt, was dem l^thnologen niemand verargen kann. Wie
erklärt sich die Übereinstimmung? Ist es eine Übertragung?
Dagegen spricht, daß die Legende der Polynesier noch wirk-
licher und einfacher Mythos zu sein scheint; ich möchte eher
glauben, daß eine Erzählung, die der polynesischen sehr ähn-
lich war, bereits dem Lucian vorgelegen hat, und da es von dem
Propheten Jonas heißt, daß er von einem Fisch verschlungen
und wieder ausgespieen ward, so ist dieser Schluß nicht zu kühn.
Der polynesische Häuptling Rata baut sein Boot mit Hilfe
eines Reihers, dem er beistand, als er ihn mit einer Schlange
kämpfend fand; die Vogelhilfe ist ein Zug, der in einer
bestimmten, freilich weit abliegenden Gruppe europäischer
Märchen wiederkehrt, den Märchen von der vergessenen Braut
(Köhler, Kl. Sehr. I 161 ff.). Der Reiher ist dort durch einen
Raben ersetzt.
250 L* Radermacher
Das von Frobenius beigebrachte Material ist nacb ver-
schiedenen Richtungen der Erweiterung fähig; seltsamerweise
ist gerade Europa bei ihm zu kurz gekommen. Seit geraumer
Zeit ist eine Sage aus Livland veröffentlicht, die die einfachen
Elemente der Lucianerzählung enthält (F. Bienemann, Liv-
ländisches Sagenbuch S. 2). Ein Fischer in der Ostsee wird
mitsamt seinem Boot von einem ungeheuren Wal verschlungen,
zündet Feuer im Bauche des Tieres an und wird wieder aus-
gespieen. Ich weise noch auf eine weitere Erzählung hin, die
einen Ausblick auf griechische Sage eröffnet; es ist ein Märchen
der Angolaneger (Froh. S. 115). Der Held, Sudika Mbambi mit
Namen, wandert in die Unterwelt und fordert von dem Unter-
weltsbeherrscher dessen Tochter zur Frau. Er soll sie sich durch
Lösung verschiedener Aufgaben verdienen; darunter figuriert
der Kampf mit einem Ungeheuer, dessen (Drachen-) Köpfe auf
einem Felde hervorwachsen. Die letzte Aufgabe ist, den großen
„Krokodilfisch" zu töten, der die Schweine und Ziegen des
Unterweltsherrn gefangen hat. Bei diesem Abenteuer wird
Sudika von dem Fische verschlungen, aber durch seinen jüngeren
Bruder aus dem Bauche des Tieres befreit und wieder belebt.
Hierzu stimmt in vielen Punkten ein finnisches Märchen (bei
Emmy Schreck, S. 3 ff.) von dem Schmied Ilmarinen, der übers
Meer fährt, um die Tochter des Teufelskönigs zu gewinnen.
Ilmarinen pflügt ein Schlangenfeld, er hat einen Kampf mit
einem Seeungeheuer, das den Brautschatz der schönen Katrin in
seinem Besitz verwahrt. Er wird verschlungen, befreit sich aber
aus dem Magen des Fisches, indem er einen eisernen Yogel an-
fertigt, der jenem die Eingeweide zerreißt. Ich weise noch einmal
(vgl. Das Jenseits im Mythos der Hellenen S. 65 ff.) darauf hin, daß
griechische Legende Ahnliches von Jason auf Kolchis berichtete.
Ehe er die Medeia und das goldene Vlies gewann, ward er von
der schatzhütenden Schlange verschlungen, aber, wahrscheinlich
durch das Eingreifen der Athene, wieder ans Licht gerettet. Dem
Helden Jason war auch die Aufgabe gestellt, mit Hilfe von feuer-
Walfischmythen 251
sciliiaubendeii Stieren ein Feld zu pflügen und Schlangenzähne zu
säen, aus denen in diesem Fall gewappnete Männer hervorwachsen.
Ich möchte weiterhin auf ein ungarisches Märchen aufmerk-
sam machen, das eine eigenartige Version der weitverbreiteten
Legende enthält. Es ist durch Wlislocki (Volksglaube und
relig. Brauch der Magyaren S. 54) nach der Sammlung Kalmanys
übersetzt und darum besonders lehrreich, weil es unverfälschte
Mythologie gibt. Sonne, Mond und Stern, die drei Töchter
eines Königs, sind von drei Drachen geraubt worden. Drei
Brüder der Prinzessinnen ziehen aus, ihre Schwestern zu
befreien. Als der siebenköpfige Drache erschlagen ward, da
wurden daheim die Sterne sichtbar, nach dem Tode des neun-
köpfigen leuchtete der Mond, nach dem Tode des elfköpfigen
schien wieder die Sonne. Das Folgende gebe ich wörtlich:
'Sie gingen nun heimwärts; die Sonne folgte ihnen nach; sie
kamen hin zum Monde, zu ihrer mittleren Schwester; auch
die ging nun mit ihnen; hierauf gingen sie zur Sternenmaid,
und auch diese folgte ihnen nach. Als sie weiter gingen,
sprach zu ihnen der Alteste, Janos: „Geht nur weiter, ich
komme bald nach!" ' Er ging in eine Steinburg hinein und
i suchte dort einen Schmied auf, bei dem er einen Topf voll
I Blei schmelzen ließ. Dort stand außerhalb der Steinmauer
eine Hexe; Janos aber befand sich innerhalb. Sprach zu ihm
die Hexe: „Ich möchte, daß du die Steine so weit wegräumst,
daß ich dich bis zum Halse sehe." Er räumte die Steine weg.
Nun sprach die Hexe: „Ich möchte, daß du die Steine so weit
wegräumst, daß ich dich bis zum Gürtel sehe." Nun räumte
I Janos bis zu seinem Gürtel die Steine weg und hielt den Topf
j voll geschmolzenem Blei in der Hand hinter sich versteckt.
; Sprach zu ihm die alte Hexe: „Ich möchte gerne, daß du die
I Steine so weit wegräumst, daß ich dich bis zur Sohle sehe."
j Er räumte sie weg. Sprach nun zu ihm die Hexe: „Jetzt
j verschlinge ich dich, weil du meine Söhne getötet hast!" —
j „Nun also", versetzte Janos, „sperr auf dein Maul, damit
252 I^- Radermacher Walfischmytlien
ich hineinspringe!" Sie öffnete ihr Maul, und Janos warf ihr
den Topf voll siedendem Blei in den Rachen. Die alte Hexe
verreckte.' Der eigentümliche Schluß hat in der verwandten
Literatur seine Analogien. Auch in einer Erzählung von West-
neuguinea (Froh. S. 70 vgl. S. 149) wird der Held von der
Schlange nicht verschlungen, sondern wirft ihr in den geöffneten
Rachen erhitzte Steine, die verschluckt werden und die Schlange
töten. Gewiß ist das Motiv des Feueranzündens im Inneren
ursprünglicher. Mit dem ungarischen Märchen verwandt ist ein
russisches von Iwan Kuhsohn dem Sturmritter (aus Afanassjews
Sammlung jetzt zugänglich in der Übersetzung von A. Meyer,
Wien 1906 Bd. I Nr. 27). Drei Drachen werden erschlagen; ihre
Mutter, die Hexe, verwandelt sich in ein Schwein und verschlingt
von den drei Brüdern zweie; da nimmt der dritte das Schwein bei
beiden Ohren — ^es räusperte sich und beide Brüder sprangen
heraus'. Eine Dublette hierzu ist Nr. 32 (Der Soldat und der Teu-
fel); die Schwester der drei Drachen in Löwengestalt verschluckt
einen Bruder, wird jedoch gezwungen, ihn wieder auszuspeien.
Es handelt sich um Fragen, über die das letzte Wort
noch nicht gesprochen ist. Eine, wenngleich bescheidene Ver-
mehrung des Materials dürfte da nicht unwillkommen sein.
Neues strömt immerfort hinzu. In den eben durch Kunos ver-
öffentlichten Türkischen Volksmärchen aus Stambul (Leyden
1905) erzählt gleich das zweite (S. 3 ff.) von einer Sultanin, die
im Bauche eines Fisches gar einem Knaben das Leben gibt.
Der Fisch wird gefangen und aufgeschlitzt, wie im indischen
Märchen. „Und was erblickt der Padischah? Seine Gattin im
Fischmagen, eine goldene Trinkschale in der Hand, silberne
Schuhe an beiden Füßen, in den Armen einen kleinen Sohn
haltend." Unter den Märchen der Südslaven (Krauß I S. 291 ff.)
findet sich eine ähnliche Erzählung, die dennoch originale Züge
enthält. Denn die junge Frau verwandelt sich in einen Vogel,
den ^der große Fisch' verschluckt; man fängt den Fisch, öffiiet
seinen Leib und findet die Gräfin noch am Leben.
St. Lucia, auf germaniscliein Boden
Von M. Höfler in Bad Tölz.
St. Lucia (f 300) wird am 13. Dezember gefeiert. Ihr
Name (lucens = leuchtend) wurde maßgebend für diese Tages-
wahl; denn seit Karl d. Gr. hat der 12. Dezember den Namen
St. Luciennacht, und diese entsprach im Volksbrauche der
später fallenden Perchtennacht; von da ab begann, weil diese
nach früherer Annahme die längste Nacht war, die Sonne
wieder länger zu leuchten [ygl. altsächs. thiu berhta sunna =
sei lucens (Heliand) ; und ahd. giperahta naht = die leuchtende
Nacht].
Als Licht bringender Tag [Lucifer] hatte durch Volks-
etymologie auch dieser Heiligentag bzw. die h. Lucia Be-
ziehung zum Augenlichte wie die auf den gleichen Tag fallende
St. Ottilia^; sie wurde zur Patronin der Blinden; sie trägt zwei
ausgestochene Augen in einer Schale oder hält eine leuchtende
Lampe in der Hand; nach der Volkslegende war sie blind
geboren; in Oberitalien (Colle de S. Lucia) werden vor ihrem
1 Bilde und am dort befindlichen Kirchenbrunnen mittelst zweier,
I in letzterem angefeuchteter und mit verschiedenen seidenen
I Bändern umwickelter, ca. Y2 ^ langer Holzstäbe die kranken
1 Augen berührt. „St. Lucienschein" heißt auch das Triefauge.
\ Ihre volksmedizinische Wertschätzung ergibt sich auch durch
I ihr Patronat für weibliche Blutflüsse; auch das Lucianskraut
I (Arnica montana) hat wohl Beziehung zur St. Lucia, ebenso
^ Hammarstedt, Lussi 23 bringt das schwedische Blindebock- und
I das deutsche Blindekuhspiel in Beziehung zu dem Runenkalender, der
für St. Luciatag ein blindes Tierhaupt als Tageszeichen hat.
254 M. Höfler
das Lucienliolz (Prunus padus), worunter man allerdings
ursprünglicli Prunus Mahaleb verstand, die am Minoritenkloster
St. Lucie bei Michel ihren Standort hatte. Wie die in der
Mittwinterzeit besonders gefeierte Perchta wurde die h. Lucie
auch die „Spinnerin" genannt und ist sie in den Niederlanden
Patronin der Weber (Volkskunde, Tijdschrift voor nederlandsche
Folklore 1901. 25)*, wie Frau Perchta oder Frau Fasten, so
erhebt sich „Frau Lutze" als Kalenderheilige aus dem Schwärme
der in der längsten Nacht umziehenden Geister. Das St. Lucien-
kreuz, in Weidenrinden geschnitten, vertreibt die Geisterschar.
Um diese Zeit war im 15. Jahrhundert der Aderlaß als Krankheit-
Prophylaxis üblich; die alten Leute ließen sich am St. Lucien-
abend an den Schienbeinen zur Ader, während man die jungen
Leute am Mittwoch, Donnerstag und Freitag nach Lucie an
der Frauenader „mittelte" (ein von der Medianader über-
tragener terminus technicus der Aderlasser) oder mit Pillen
arzeneite. Solche Aderlaßtage haben sehr häufig Beziehung
zu althergebrachten Kultzeiten, in denen man die Krankheits-
dämonen besonders scheute und zu vertreiben suchte (siehe
Archiv f. Relig.-W. II 95); solche Tage waren nach römischem
Vorbilde u. a. die Solstitien. Mit St. Lucientag begann im
14. Jahrhundert die Winterzeit, welche bis St. Gertraudstag
nach den Kalendermachern dauerte; damit erklärt sich auch,
daß im germanischen Norden, z. B. in Västmanland, St. Lucien-
tag als lilla jul = kleine Jul-Zeit bezeichnet wurde; nach
E.Hammarstedt (Omen fomordisk arstredelning 251 und Lussi 11)
heißt die Luciennacht beim schwedischen Landvolke modematten
(= Mutternacht) als Erzeugerin der kommenden Jahresnächte,
eine Bezeichnung, die sonst der Julzeit zukommt und schon
im Angelsächsischen (modra-niht) für die Weihnacht oder
Mittwinternacht galt. Noch bei Hans Sachs (1612) „bringt
Lucia die längsten Nacht" (Schmeller, Bayerisches Wörter-
buch^ I 1550); diese Zeit war wegen des Schwarmes der Dunkel-
Eiben sehr gefürchtet.
St. Lucia, auf germanischem Boden 255
Nach den Niederlausitzer Mitteilungen V (1898) Q6 und
E. H. Meyer (Volkskunde 252) sind auch noch in Deutschland
die Hexen am St. Lucientage sehr rührig und schreibt man
zum Schutze vor demselben Kreuze über die Stalltüren, wie
sonst am h. DreikÖnigstage die Zeichen: + C + M + B.
Praetorius (1668) schreibt in seinem Blocksberg 513: „man
lieset von den Teuffein und Gespensten ingemein, daß sie vor
allen andern Zeiten heuffig verspüret werden am Tage oder
Feste . . . Luciae." Olaus Worm (1643) spottet über diese lange
Nacht; sie soU so lange währen, daß die Ochsen aus Hunger
zuweilen an ihren eigenen Klauen nagen.
Nach J. Colers Calendarium perpetuum oeconomicum (1613)
war St. Lucienfest ein Solstitium der Winterzeit (vgl. auch
W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte II 186).
St. Luciennacht hat also die Bedeutung eines Vorabends
vor einem neubeginnenden Jahre; die schwedische Lucienbraut
(lussibrud, auch lussi genannt), welche am Lucienabend mit
einem glänzenden Lichterkranze am Haupte von Gehöft zu
Gehöft zieht, ist nur eine Personifikation des kommenden
Jahres. Als Neujahrstagsgebräuche sind demnach auch die
Volksgebräuche des St. Lucientages aufzufassen. Der Seelen-
kult mit der Speisung der unterirdischen Wesen oder der Ver-
storbenen muß sich dann ebenso bemerkbar machen; derselbe
[Verlangte eine feste Bindung an die hergebrachte Speiseordnung;
!wer sich gegen letztere vergeht, dem schneidet die Perchta
zur Strafe den Leib auf; deshalb ist auch „Frau Luz" wie
jdiese eine Bauchaufschneiderin (Grimm Mytholog.^ 1212). Diese
ISeelenspeisung verlangt gewisse Opferspeisen und -Getränke;
|die schwedische weißgekleidete Lucienbraut trägt in den Händen
leinen Napf mit starkem Bier (öl), den sie, mit dem Lichter-
ikranze auf dem Haupte, ins Haus trägt; so erscheint auch an
den Quatemberfasten (16. Dezember) noch heute im Kloster
jLüne (gegenwärtig ein sog. Damenstift) ein weißgekleidetes
Mädchen, welches in einer uralten Schale eine Kaltschale oder
256 M. Höfler
Weinsuppe dem Pastor im Auftrage der Äbtissin übergibt;
hier ist der Pastor, wie öfter, der Empfänger des üblicben
Seelenopfers. Je reicbliclier diese Seelenspeisung ausfällt —
plenius inde recreantur mortui; so sagen auch die scbwediscben
Bauern: „sä öfverflödigt man firade lussi-högtiden, sä ymnigt
skulle det nya äret blifva" (Hammarstedt, Svenska Polket 478
in Sveriges Rike III 6 und Lussi 15). Auch in Deutschland
gab es darum eine „verfressene, versoffene Luzei", und der
Altbayer kennt ebenfalls eine „Bier- und Branntwein -LutzP^
An dieses näcbtliche Seelenopfer erinnert auch der scbwediscbe
„Lucienbissen" (Lusse-biten, Lucie-betan), gebratener Speck
begleitet mit einem Trünke Branntwein und mit Brot, welcher
Imbiß [wie in Süddeutschland die weihnächtlichen Mettenwürste
oder der Julgalt in Schweden] in der Luciennacht 1 — 2 Uhr
an alle Hauspersonen als erste Mahlzeit verteilt wird, worauf
sich letztere wieder zu Bett legen. An diesen fleischlichen und
vegetabilischen Imbiß der Schweden erinnert anderseits wieder
der um zwei Tage früher, am 11. Dezember beim Kloster
Kremsmünster in Oberösterreich gefeierte sog. Gespendt- oder
Karnisseltag, welcher angeblich der Stiftungstag des Klosters
sein soll, der aber historisch nicht über das 14. Jahrhundert
hinausgeht. Der Name des Tages [carnis seil, dies, daraus
Carnissel, wie Laetizl aus laetitium], seine Bezeichnung als
„Spendetag", der ganze Brauch, seine zeitliche Koinzidenz mit
dem Lucientage und der längsten Nacht sprechen für einen
Seelenkulttag, der mit üppiger Fleischverzehrung einherging.
welche als eine Art Agape funeralis mitten in der christlichen
Adventfasten mit dem angeblichen Stiftungstage des Klosters
in Zusammenhang gebracht wurde und als klösterliche Fleisch-
und Brotspende fortlebte. Zur Zeit der Gründung von Krems-
münster 777 durch den Bayernherzog Thassilo galt die nach-
folgende längste Nacht als Winterbeginn, der sicher mit einen:
althergebrachten Totenkulte oder einer Seelenspeisung verbunder
war. Pfarrer Hansjacob (Letzte Fahrten 1902. S. 205) schreib]
St. Lucia, auf gennanischeni Boden 257
darüber: Bis 1773 bekam jede Person ein halbes Pfund Ocbsen-
fleiscb und ein zweipfündiges schwarzes Laibl (dessen primitive
Farbe schon für Seelenkult spricht; siehe Spendebrot bei Sterbe-
fäUen im Globus, Band LXXX 1901, S. 91, und Allerseelentags-
gebäcke in Beilage zur Allgem. Ztg. 271. 1901. 25. Nov.);
zwischen 15 — 30000 Menschen wallten alljährlich am Kamissel-
tag dem Stifte zu, wo im äußeren Klosterhofe die Spendung
vor sich ging; die Brotverteilung allein dauerte von 12 bis
4 — 5 Uhr; auch die Nachbarklöster (jüngerer Gründungszeit)
bekamen an diesem Fleischtage eine Spende, so z. B. die
Kapuziner in Wels zwei Ochsenhäute zu Sandalen; am eigentlichen
Stiftertage, dem 11. Dezember, wurden die Schulmeister, die
Hofmaier, die Totengräber aller Stiftspfarreien gespeist; jeder
Gast an der Prälatentafel erhielt an diesem Tage einen Laib
Brot und ein sog. „Tafelstück" Fleisch im Gewicht von fünf
Pfund, jeder Mönch Brot und vier Pfund Fleisch, jeder Student
Brot und zwei Pfund Fleisch und ähnlich jeder Klosterdiener
und Beamte, je nach seiner Stellung; ging Fleisch oder Brot
aus, so wurde die Entgeltung oder Vergütung in Geld geleistet.
Der ganze klösterliche Brauch entspricht sicher mehr einer
Gildenfeier aus heidnischer Zeit als einem christlichen Stiftungs-
feste. Im schwedischen Värmland besteht in bezug auf das
St. Lucienfest mit seiner überreichen Verpflegung die alte Sage,
daß in längst verflossenen Zeiten bei einer schweren Hungers-
not eine Frau namens Lucia sich in Lichtgestalt auf einem
j Schiffe bei Vänern geoffenbart habe; mit diesem Schiffe, welches
i beladen war mit Fleisch und Bier, soll sie von Strand zu
Strand gefahren sein, um ihre Güter an die Bedürftigen zu
I verteilen, und seitdem sei es zu ihrem Andenken und zu ihrer
Ehre, daß man den Lucientag mit Essen und Trinken feiere
(Hammarstedt, Lussi 5). Die Übereinstimmung mit der Legende
des h. Nikolaus (6. Dezember) ist noch größer in der anderen,
i ebenfalls aus Schwedisch- Värmland stammenden Sage, wonach
ein reicher Spanier namens Lucian nach Schweden, wo eine
258 ^- Höfler
Hungersnot herrsclite, mit einer Schiffslast voll Getreide ge-
fahren sei, und daß man seitdem ihm zu Ehren den Lucientag
feiere (1. c. 6).
Sicherlich mußte der Kirche viel daran liegen, diese
Freßgelage an den mit einer Totenfeier oder mit einem Seelen-
kulte verbundenen Volksfesten in mildere Bahnen zu leiten
und durch Bußordnungen dem orgienartigen Treiben entgegen
zu wirken.
Als ein solches Mittel dienten die Fastengebote einersei
und die Umwandlung der Fleischgerichte in symbolisieren^
Gebildbrote. Es kann uns darum nicht wundem, wenn
bei den viel später christianisierten Nordgermanen das Opfe
oder Spendefleisch, oder wie der Tiroler sagt, das „schlachti^
Stuck" dieser St. Lucienzeit in ein das tierische Schienbein
nachahmendes Gebildbrot, das St. Lucienbrot, verwandelt sehen,
welches mit der mehrfachen Verlegung des Neujahrsfestes auch
auf diese verschiedenen Neujahrstage sich übertrug; Volkssitte_
und Volksbrauch sind viel hartnäckiger, als man für gewÖhnli(
glaubt; auch die christliche Kirche mußte sich dem He
gebrachten anbequemen, und sie verstand es, auch unt
Schonung der Rechte und Pflichten, das rohe heidnische Fes
gelage unter andere Formen zu bringen. Wir haben schon
der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1903 S. 436 üb^
das schwedische Julbrot und Lucienbrot gesprochen und doi
auf Grund zahlreicher Parallelgebäcke dasselbe den sog. Knauf-
gebäcken zugereiht, welche ihren Urtypus im tierischen
Schienbeine haben, und welche meistens ein Neujahrsgebäck
sind; so verwandelte sich das „Stück" (verteilter Fleischimbiß)
in eine Fastenspeise, in ein Knochengebäck mit je zwei oberen
bzw. unteren Condylenknäufen und mit einer rundlichen mittleren,
dem Fleischbrote entsprechenden Verdickung. Dieses Gebild-
brot der nordischen Julzeit heißt dort nicht bloß Lussibröd,
sondern auch Döfvelskatt (= Teufelskatze); letzterer Name
entspricht dem holsteinischen Düvkater (= Teufelskater), einem
st, Lncia, auf germaniscliem Boden 259
Gebäcke, das in Friedrichstadt in Holstein zur Nikolauszeit
hergestellt wird. Yon Holländern etwa 1620 bei ihrer Nieder-
lassung dort eingeführt, hat es sich seitdem dort erhalten und
gelangte auch als Teufelskatze zu den Schweden in Göteborg;
Julkuse (= Julkalb), Teufelskatze und Teufelskater haben als
Gebäcke oder Gebildbrote den gleichen Typus, nämlich, wie
schon erwähnt, den des tierischen Schienbeins, d. h. des aus-
geschlachteten Fleischopferstückes. Über die Deutung der
Namen Teufelskatze haben wir uns schon an der erwähnten
Stelle (Zeitschr. d. Y. f. Volksk. 1903 S. 436 ff.) ausgesprochen
und verweisen auf letztere, um Wiederholungen zu ver-
meiden.
Auch in Niederbayern ist der St. Lucientag ein etwas
abgeblaßter Bauernfeiertag; denn nach Schlicht (Bayerisch
[Land 521) gibt es an demselben sog. Weizennudel (aus
einerem, besseren Mehle) und sog. Eierwacker, eine aus
emmelschnitten, Milchkäse, Gewürz und Eiern verfertigte
ehlspeise, zu der die Dirne die Ingredienzen sammelt oder
zusammenträgt, also eine Art „Zemede", wie sie das Sippen-
pder Gildenopfer vorstellt, welches an Seelenkulttagen üblich
fv^ar. In Norwegen waren die Luciennächte gefürchtet, weil
m ihnen die Toten einander trafen, die als wilde Jagd „jola-
•eiden" (Julreiten) dahinsausen und Menschen mit sich nehmen;
|im sich vor diesem Seelen- oder Totenzuge zu schützen,
Schüttete man dort Julbier über Bäume aus, weil diese Ge-
^pensterwesen nach diesem Tranke besonders gelüstig wären.
In Böhmen hat St. Lucie sogar deutliche Beziehung zu
ien drei Schicksalsfrauen. E. H. Meyer (Wuttke^ S. 177)
)ringt diese drei Töchter der h. Lucia, wovon die erste spann,
lie zweite aufwickelte, die dritte „weifte*^, in Zusammenhang
uit den drei Nornen der Frigg; ihr Auftreten und ihre Ver-
iiindung mit St. Lucia entsprang der Bedeutung des Kalender-
f-ages der letzteren, der als Winterbeginn ein germanischer
■^eujahrstag war; sonst erscheinen die drei Schicksalsfrauen
260 M. Höfler
hauptsäclilicli am li. Dreikönigstage (6. Januar = Großneujahr
des Mittelalters).
Dieser für das Schicksal des kommenden Jahres so wichtige
Tag macht sich auch im schwedischen Yolksglauhen bemerkbar;
denn nach der öfters schon erwähnten Quelle (E. Hammar-
stedt, Lussi 11) macht man dort in der Luciennacht den
ärsgäng (Jahresgang) nüchtern und vollständig schweigend zu
einem Kreuzweg, um Offenbarungen für das zukünftige Jahr
hier zu erhalten. Im schwedischen Smäland werden fünf bis
sechs Los- oder Wahrsagenächte angenommen, und unter diesen
ist die Luciennacht die vornehmste. Lucie, die holde, wird
vom schwedischen und dänischen Mädchen angerufen, daß sie
es wissen mache, wessen Bett es soll breiten, wessen Kind es
soll tragen, wessen Schätzlein es soll sein, in wessen Armen
es soll ausschlafen. Analoges findet sich in Deutschland in
der Andreas- und Thomasnacht.
Diese Neujahrstagrolle kennzeichnet sich auch du
ungarische und kroatische Yolksgebräuche. In Hdd-Me
Yäsärhely bäckt man am St. Lucientage für jedes Famili
mitglied je einen Kuchen und steckt (als Symbol des Seel
Opfers) eine Hahnenfeder (pars pro toto) in jeden hinein;
wessen Feder dann im Backofen verbrennt, der muß im
kommenden Jahre sterben (Zeitschr. d. V. f. Volksk. 1894. 310).
Wie in Deutschland auf Weihnachten (im Norden in der Jul-
zeit) oder am modernen Neujahr, so erhält in Ungarn auch
das mit dem Menschen symbiotische Haustier in der Lucien-
nacht Brot (und in Ungarn auch Knoblauch) zu fressen
(1. eod. 309), um des Segens der Kultzeit teilhaftig zu werden.
In anderen Gegenden Ungarns soll man (vielleicht als christlichen
Gegensatz zum heidnischen Brauche) am St. Lucientage über-
haupt kein Brot backen, sonst mißrät es (1. eod. 310). Die
Kroaten backen für Mensch und Tier gerade an diesem Tage
Maiskuchen, damit ihnen der Biß wütender Hunde nicht schade,
eine Art Hubertusbrot, das dem Seelenkulte und der Prophy-
I
St. Lucia, auf germanischem Boden 261
laxis vor Krankheitsdämonen entsprang [Ethnolog. Mitteilungen
aus Ungarn IV (1895) 173].
Wir haben demnach in dem St. Lucientage ein Beispiel,
wie gewisse mythologische und religiöse Vorstellungen des
Volkes sich hartnäckig an die mit dem Toten- oder Seelen-
kulte zusammenhängenden Zeitperioden des Jahres haften. Zur
Zeit des niedersten Sonnenstandes schwärmen in der längsten
Nacht des Jahres die Seelengeister, deren weibliche Anführerin
(in Begleitung der drei Schicksalsfrauen) zur Personifikation des
betreffenden Tages wird; die römisch -christliche Heilige Lucia
tritt durch ihren Namen an die Stelle einer einheimischen
Dämonenanführerin; sie übernimmt damit auch fast alle Seiten
dieses Wesens, ohne aber so fest zu haften wie dieses. Perchta
und St. Lucia decken sich nahezu ganz im Volksglauben auf
germanischem Boden.
Arcliiv f. Keligionswissenschaft IX
II Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische Vol
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der FüUe des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in 8 Heften
von 2 Jahrgängen schließen. Mit diesem Band IX (1906) beginnt
die neue Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen
der Zeit seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß
des betr. neuen Berichts referiert werden.
2 Indonesien
Von Dr. H. H. Juynboll in Leiden
Borneo
Nachdem Dr. A. W. Nieuwenhuis 1900 in holländischer
Sprache sein bekanntes Buch „In Centraal Borneo" heraus-
gegeben hatte, ließ er 1904 den ersten Teil der Ergebnisse
seiner Reisen in den Jahren 1894, 1896 — 1897 und 1898—1900
unter dem Titel „Quer durch Borneo" in deutscher Sprache
erscheinen. Auch in diesem neuen Buche sind, wie in dem
vorigen, die religiösen Yorstellungen der Bewohner Zentral-
Borneos ziemlich ausführlich behandelt. Zum Beweise, daß
die Bahau sich selbst nur graduell von den Pflanzen, Tieren
und Gesteinen ihrer Umgebung verschieden vorkommen, er-
H. H. Juynboll Indonesien 263
I wälint der Autor^ daß dieselben niclit nur sich selbst, sondern
I auch allen belebten und unbelebten Wesen den Besitz von
Seelen (bruwä) zuschreiben (S. 96). Die Meinung, alles in der
1 Natur besitze eine Seele, ist bekanntlich eines der beiden
I Hauptdogmen des Animismus. Die Bahau fürchten aber diese
! Seelen nicht so sehr als die Geister (tö), die Donner, Blitz,
Regen und Wind verursachen. Der Name derselben ist all-
gemein malaio-polynesisch, wie aus den verwandten Sprachen
(z. B. Mal. hantUj Mentawei, Ceram, Ambon, Timor, Sumbawa
nitu, Tagal. anito usw.) ersichtlich ist. Zur Vertreibung dieser
/() gebrauchen die Bahau dieselben Mittel, die auch den Menschen
Angst und Abscheu einflößen, z. B, Schwerthiebe, das Zeigen
von Schädeln usw. Die Donnergeister (td helare) sollen den-
jenigen, die über Tiere lachen, den Hals umdrehen. Während
die gewöhnlichen Leute die td als die Urheber ihrer Freuden und
Leiden betrachten, meinen die Häuptlinge und Priester, die ^ö seien
nur Werkzeuge des obersten Gottes, der Tamei Tingei = „unser
hoher Vater" genannt wird. Dieser lebt mit seiner Gemahlin
TJniang Tmangan über allen anderen Regionen. Unter ihm
stehen: Bjäjä Hipui, die Beherrscherin der guten Geister,
vermählt mit Howong Hwän. Sie bewohnt den Äpn Lagän
oder die gute Geisterwelt. Unterhalb dieser findet sich die
Apu Kesiö, von den Seelen der Verstorbenen bewohnt. Dann
folgt die Erde und schließlich die Unterwelt, bewohnt von
Amei Awi und dessen Gemahlin Buring Une, welche die Erde
und den Ackerbau beherrschen.
Tamei Tingei beherrscht das Lebenslos der Menschen. Er
ist allwissend und straft und belohnt die Menschen.
Bjäjä Hipui lebte einst als menschliches Weib auf Erden
'und ist erst später nach dem Apu Lagan gezogen, nachdem
.ihr Sohn Tekwan im Lirong-¥\vi^ ertrunken war, Sie greift
!auch in das Lebenslos der Menschen ein.
Die guten Geister des Apu Lagan beseelen die Priester,
jdie Tätowierkünstler, Hirschhomschnitzer und Schmiede. Die
18*
264 H. H. JuynboU
I
Bahau stellen sieb, die bösen (djä-äh) Geister (td) als menscben-
äbnlicbe Wesen mit großen, dicken Leibern, riesigen Augen in
großen Köpfen und scbweren Hauern vor. Die den Donner
und Blitz verursacbenden td helare sollen die Bäume aus-
einanderreißen können.
Man meint, daß die bösen Geister stark bewacbsene Berge,
dunkle Waldgebiete und Felsböblen bewobnen, wesbalb man
mit Steinen und Holzstücken nacb ibnen wirft. Als Ab-
scbreckungsmittel für böse Geister dienen Figuren mit über-
trieben großen Genitalien oder bloß Genitalien, weil der Anblick
dieser eine abscbreckende Wirkung auf die bösen Geister übt.
Aucb einzelne Pflanzen, Zähne verschiedener Tierarten (z. B.
Hunde, Wildkatzen, Bären, Panther) und Steine werden zu
demselben Zweck angewandt.
Die bösen td haben für die Bahau mehr Interesse als die
guten, weil die letzteren ja unschädlich sind.
Diejenigen, die gesündigt haben, sterben im Kampfe oder,
wenn es Weiber sind, bei der Entbindung. Sie heißen dann
mätei djä-äk, d. h. eines schlechten Todes gestorben. Ihre
Seelen gelangen nicht in den Himmel Apu Kesio.
Die guten Menschen aber sterben durch Krankheit eines
schönen Todes (mätei saju)j und ihre Seelen gelangen naet
Apu Kesio,
Die Bahau schreiben den Menschen, ihren Haustieren unc
einzelnen anderen Tieren den Besitz von zwei Seelen zu, dei
übrigen Tieren, Pflanzen und toten Objekten aber nur eine
Der Teil der Persönlichkeit, der zeitweise den Körper verlasser
kann, heißt hruwa oder mata Tcanan (malaiisch = rechtes Auge)
der zeitlebens im Körper bleibende Teil aber ton luwä odei
mata Mha (mal. = linkes Auge). Hierbei ist zu bemerken
daß Mha nicht malaiisch ist, denn in dieser Sprache ist linker
hiri, im Javanischen aber: Jciwa. Der hruwa liegt im Haupt<
des Menschen und entflieht diesem leicht in Gestalt einei
Tieres: eines Fisches, Vogels oder einer Schlange.
j - Indonesien 265
Die Priesterinnen locken mit Hilfe der Geister aus dem
lApu Lagan die hruwa, die den Menschen oft verläßt, wieder
in den Körper zurück, indem sie z. B. ein schönes Stück Zeug
'auf das Haupt des Patienten legen usw.
Nach dem Tode zieht die hruwa nach Äpu Kesio und
später nach Langit (Himmel) Mengun, wo sie ewig fortlebt.
Weil die hruwa einen sehr gefahrvollen Weg zum Äpu
Kesio zurücklegen muß, werden dem Verstorbenen viele Sachen,
die der Seele auf der Reise und später von Nutzen sein können,
mitgegeben. Erst nachdem die Angehörigen die Trauer ab-
gelegt haben, begibt die hruwa sich auf die Wanderung.
Wenn die hruwa über die Terrainschwierigkeiten, z. B.
Wege von der Schärfe der Schwerter, nicht hinweg kommt,
geht sie zugrunde. Die Verunglückten schlagen einen durch
Schwerter, die während der Geburt gestorbenen Frauen und
inder aber einen durch Gonge bezeichneten Weg ein, während
ie Guten nach dem Äpu Kesio gehen. Die zweite Seele der
ahau, die ton luwa, verläßt den Körper erst nach dem Tode
bd bleibt dann auf dem Begräbnisplatze, bis sie zu einem
sen Geiste wird.
Weil die ton luwa in der Gestalt von Hirschen und grauen
Ä.ffen erscheinen können, essen die Bahau diese Tiere ungern.
Der Verfasser gibt zwei Erzählungen als Beweise, daß die ton
luwa in Tieren sich aufhalten können.
Die Bahau unterscheiden die Haustiere, Hirsche, grauen
iffen und Wildschweine, die nach ihrer Ansicht wie die
Menschen zwei Seelen (hruwa und ton luwa) haben, von den
übrigen Tieren, die nur eine Seele haben und die tulär län
genannt werden.
Eine Erzählung, wie ein Weib sich in ein hawui (Wild-
schwein) verwandelt, erinnert an eine tompake wasche Fabel,
von Ref. übersetzt in Bydr. T. L. Vk. 1895, S. 325—326.^
^ Der Text ist herausgegeben von Jellesma in Vet'h. Bat. Gen.
•^LVU, S. 58.
2ße H. H. JuynboU
Wenn die Bahau einen Panther (Icule) geschossen haben,
werden Jäger, Hunde und Waffen mit Hühnerblut eingerieben,
um ihre Seelen zu beruhigen, und müssen die Männer acl
Tage lang sowohl tags als nachts baden.
Auch nachdem die Jäger ein Wildschwein erlegt habei
müssen sie acht Tage zu Hause bleiben, nach einer Bärenjaj
aber nur sechs Tage.
Nach dem Bau eines Hauses tun die Kajan ein Jahr lai
Buße, um die Seele der gefällten Bäume zu sühnen.
Bei den Ülu-Äjar Dajaken muß man sich sogar, nachdei?
ein Haus von wertvollem Eisenholz gebaut ist, drei Jahre lan^^.
verschiedener Leckerbissen enthalten. ^||
Auch die Seelen des Täsembaumes (Äntiaris toxicaria
Lesch.) und des Kampferbaumes sind schwer zu befriedige^
Die Verehrung des Kampferbaumes erhellt übrigens aus d<
Kampfersprache, die viele Völker Indonesiens, auch Bornec
gebrauchen müssen.^
Wie die Javanen und andere Malaio-Poljnesier glaub«
auch die Dajaken Zentral -Borneos, der Reis sei beseelt. Dii
jenigen Gegenstände, die im Leben des Menschen eine wichtig
Rolle gespielt haben, werden zu Lebzeiten gesammelt und nach
dem Tode ihres Eigentümers in einem großen Packen (legen)
aufbewahrt.
Aus der Überzeugung, daß ihnen die guten Geister des
Äpu Lagan durch die Vermittelung von Tieren und durch auf-
fallende Ereignisse den Willen und die Pläne Allvaters mit-
teilen, hat sich ein ausgebreitetes System von Vorzeichen ent-
wickelt.
Die maßgebendsten Orakelvögel der Bah au sind der hisit
oder Sit (Änthreptes malaccensis) und der telandjang (Flatilophus
coronatus), bei den Kenja-^iämmen außerdem eine rote Trogon-
art (Trogon elegans) und ein brauner Falke (Haliastur intermedia).
^ Siehe betreffs der Malanau in Nord-Borneo: Furneß,
home-life of Borneo head hunters. S. 168.
Indonesien 267
Auch das Reh (Cervulus muntjac) und eine schwarze
Schlange (DoliopMs Uvirgatus Bor.) sind wahrsagende Tiere.
Die Bahau haben ein System von Verbotsbestimmungen,
das pemali (Substantiv) und läli (Adjektiv) heißt und mit dem
polynesischen tabu, dem malaiischen pemali und pantang über-
einstimmt. Läli bedeutet „verboten", aber auch „geweiht",
z. B. Jiaung läli ist ein Hut, der nur bei religiösen Zeremonien
aufgesetzt werden darf. Alle Gegenstände, die überhaupt beim
Gottesdienste gebraucht werden, heißen pemali.
Wie fast alle Malaio-Polynesier haben auch die Bahau
Personen, die ihrer Meinung nach der Geisterwelt näher stehen
als die große Menge.
Diese Personen, die eine Yermittelung zwischen Volk und
Geisterwelt übernehmen, heißen däjung (= singen). Ihre Hilfe
wird bei bösen Träumen, Krankheit, Tod usw. angerufen, und
sie spielen eine wichtige Rolle bei den Ackerbaufesten. Die
däjung sind die Gebildeten und Weisen des Stammes.
Die Jüngeren der däjung werden zwei Jahre lang unter-
wiesen. In der Probezeit müssen sie Erde essen.
Der Verfasser beobachtete exaltierte Zustände der däjung
nur in rudimentärer Form beim Neujahrsfeste.
Die junge däjung muß durch einen guten Geist beseelt
werden, bevor sie ihr priesterliches Amt antreten kann. Bei
den Bahau gehören die Frauen, die an Nervenkrankheiten wie
Epilepsie leiden, nicht zu den däjung y wie dies sonst bei den
meisten Indonesiern der Fall ist.
Selbstverständlich genießen die däjung große Achtung.
i Ihr sittliches Leben ist untadelhaft, also ganz verschieden von
! dem der hälian und hasir in Südost- Borneo.
! Während ihrer Amtshandlungen bedienen sich die däjung
j einer besonderen, dahaun tö (Geistersprache) genannten älteren
I Sprache. Um mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten,
! schlagen die Priesterinnen auf kupferne Becken. Die Haupt-
; aufgaben der däjung sind erstens das Zurückholen der ent-
268
H. H. Juynboll
flohenen hruwa und das Geleiten (antar) derselben nach Äi
Kesid; zweitens die Vermittelung zwischen der Menschen- un^
der Geisterwelt bei dem Ackerbau.
Eine religiöse Handlung, die zum Zweck hat, die entflohen^
Seele zurückzulocken oder die beunruhigte Seele zum Bleibei
zu bewegen, heißt hei den Bahau mela. Die mela fängt
mit einer Mahlzeit für die Geister sowie mit der Erzählui
von Geschichten. Als Geistertrank dient Schweinshlut, ai
Bananen- und Sawang- Blättern^ aufgefangen. Die verirrt«
Seele des Patienten soll längs des alän hruwa (Seelenweg)
einer Schnur mit Lockmitteln, aus dem Äpu Lagan zurücl
kehren und wird dann in ein Körbchen mit Geisterspeise gf
steckt. Nachdem die Seele in den Kopf des Kranken geblasei
ist, wird sein Arm mit einer Speerspitze gestrichen, um diJ
Seele in seinem Körper festzuhalten. Nach dem mela ist jed^
Arbeit den Hausbewohnern während eines Tages verboten, um
ihre Wohnung ist läli. Das Ei spielt als Opfer bei der mel
und anderen Gelegenheiten eine wichtige Rolle.
Zur Anlockung der Geister werden ihnen Schweine, Hühnei
Eier, Fische und Reis angeboten. Diese Opfergaben werden
kleine Rollen aus Bananenblättern (hawit), die acht Lagen en\
halten, gewickelt.
Vor der Reisemte (ngeluno) läßt jeder Bahau eine mel
stattfinden, für die die Priesterin drei pemäli verfertigt, die dej
Verfasser auf Tafel 16 abgebildet hat. Jedes der Familiei
glieder ißt mit einem hölzernen Spatel (ad läli) ein paar Reis
körner der neuen Ernte und trinkt mit einem Kürbislöffe
(tuhe läli) etwas Wasser vor dem Beginn der Festmahlzeit.
Wenn der Reis zuerst in die Scheune eingebracht wirc
werden wieder verschiedene pemäli verwendet, um die Reig
^ Die Sawang- Pflanze (Cordyline javanica Bl. ßj ei^ielt nicht nur ii
Zentral- und Südost-Borneo (siehe z.B. Schwaner, Borneo, II, 27, 120),
sondern auch in der Minahasa, wo sie tawaang heißt, eine bedeutende
Rolle.
I
Indonesien 269
Seelen anzulocken, aufzufangen und aufzubewahren. Hierzu
gehören z. B. ein Schöpfnetz (hiköp hulit) in Tandjong Tcuda
und ein Leiter (sän lali) bei den Ma-Suling.
Nicht nur die Seelen des augenblicklich vorhandenen
Reises, sondern auch die des auf den Boden gefallenen oder
gefressenen Reises sucht man durch pemali zu erhalten. Auch
um die erzürnten Reisseelen der bereits gefüllten Scheune zu
beruhigen, wird ein pemali gebracht. Wenn eine neue Ernte
beginnt, werden die gebrauchten pemali durch andere ersetzt.
Auch beim Anfang des Reisschnittes werden die Geister durch
Eßwaren und Wasser günstig gestimmt. Bei dem Saat- und
Neujahrsfest werden die Götter Tamei Tingei und Bjäjä Hipui
verehrt, für die ein besonderes pemali von den däjung ver-
fertigt wird.
Wir können hier auf die verschiedenen pemali nicht näher
eingehen, die vom Verfasser ausführlich beschrieben und ab-
gebildet sind.
Die Besorgnis um die Ruhe ihrer Seelen beherrscht das
Tun und Lassen der Bah au während ihres ganzen Lebens.
Die meisten Mitteilungen über die religiösen Vorstellungen der
Eajan am Mendalam verdankt der Verfasser der Oberpriesterin
von Tandjong Karang, TJsun genannt.
Nieuwenhuis schließt seine Abhandlung über die Religion
i Zentral-Borneos mit einer Schöpfungsgeschichte der Mendalam
iKajan^ aus der erhellt, wie sie sich vorstellen, die Menschen
seien erst allmählich zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gelangt:
aus der Vereinigung eines Schwertgriffes und eines Weber-
schiffchens soll ein menschenähnliches Wesen hervorgegangen
sein ohne Arme und Beine, das sich nur schiebend vorwärts
ewegen konnte. Ihre Nachkommen konnten nur sitzen,
und erst später entstanden richtige Menschen, deren Tochter
mit ihren Armen den Himmel berühren konnte. Erst
als die Menschen Fische gegessen hatten, begannen sie zu
sprechen.
i
270 H. H. JuynboU
Dies ist hauptsäclilicli der Inhalt der Kapitel V und VI
Außerdem findet man im Buche zerstreut noch viele Mit
teilungen über die Religion der Bewohner Zentral -Borneos.
I
In den By dragen v. h. Kon. Inst. v. T. L. en Volkenk.
volgr. II (1904), S. 532—546 verfolgt M. C. Schadee seine
Bydrage tot de kennis van den godsdienst der Dajaks
van Landak en Tajan. In §24 ergänzt er die Mitteilungen
von Wilken und Ling Roth^ über die Oniromancie, indem er
verschiedene Träume nebst ihrer Deutung erwähnt. Wie
Nieuwenhuis (siehe oben) behandelt auch Schadee die Tier-
orakel, nach einer Notiz des malaiischen Häuptlings in Darit
über die Vögelorakel der Menjuke-D a-jaken^ in malaiischem
Text nehst holländischer Übersetzung. Wie in Zentral-Borneo
und Kutei gehören auch in West-Borneo das Mdjang und
hantjil zu den Orakeltieren.
In § 28 sq. werden verschiedene Verbotsbestimmungen
(Mal. pantangan) erwähnt, z. B. das Verbot, die Namen der Eltern
und den eigenen Namen auszusprechen, dem man bekanntlich
bei vielen Völkern begegnet, wie aus Andree's Ethnogr.
Parallelen und Tylor's Researches in the Early history
of mankind erhellt. Die pantangan über das Essen von
Hirschfleisch sind örtlich verschieden. Auch in Kutei,
Zentral-Celebes und Mindanao ist dieses Fleisch eine ver-
botene Speise.
Die Verfertigung von Matten und Reisblöcken, das Annehmen
von Titeln, das Tragen von Masken und das Weben sind auch
an einzelnen Orten West -Borneos verboten. In § 35 sq. be-
handelt der Verfasser die Theogonie. Der Hauptgott Batara
Guru wird nicht verehrt. Die guten Geister, die bei den
MenjuJce-J) a^siken djubata (= Skr. dewatä) heißen, sind sehr zahl-
^ Wilken, Het Shamanisme nnd Ling Koth, Natives of Sarawak
and British North Borneo.
Indonesien 271
reich. Die Land -DsLJaken kennen außer den djubata die deway die
natürlich auch hinduischen Ursprunges sind und die echt
dajakische Kamang, deren Häuptling, Trio genannt, der Patron
der Kopfjäger ist. Trio und die Kamang sind nicht nur im
niederländischen, sondern auch im englischen Teil West-
Bomeos (Serawak) bekannt.
In § 39 wird ein Talisman des Kopfjägers, agit genannt,
aus Zähnen wilder Tiere bestehend, beschrieben. Zu den
Geistern niedrigeren Ranges gehören die pudjut und der Tajam,
die im Tcaju ara hausen, und Mawing, der in offenen Wald-
stellen vorzugsweise sich aufhält.
Wie fast überall in Indonesien werden auch in West-
Borneo die pontianak (entstellt aus patianak = Kindertöter)
gefürchtet. Dieselben versuchen, die Knaben und Männer
der Grenitalien zu berauben. Vor Hörnern sollen sie sich
fürchten.
Schließlich werden noch die Jiantu, die in Zentral-Bomeo
ß heißen, der Blatterngeist, der Hantu Apaty der Reismangel
und Hungersnot verursacht, und die Hantu Älus und 8er dh,
denen resp. Krankheiten des Reises und Mäuseplage zugeschrieben
werden, erwähnt.
In den Bydragen v. h. Kon. Inst. v. T. L. en Volkenk.
7« volgr. IV (1905), S. 489—513 findet sich die Fortsetzung
von M. C. Schadee's Bydrage tot de kennis van den
godsdienst der Dajaks van Landak en Tajan. Das
Mediumwesen (der Schamanismus) bildet den Gegenstand dieser
I Abhandlung. Zuerst gibt er in § 50, was seit Wilken^s
I Monographie (in B. T. L. vk. 5® volgr. H) über Schamanismus
'in verschiedenen Gegenden West-Borneos (Ober-Kapuasgebiet,
Sambas, Nanga Tebidah und Djelei) bekannt geworden ist
durch die Abhandlungen von Tromp, Eilerts de Haan,
jKühr und Barth. Bei den Landak- und Tajandajaken ist
der Schamanismus von überwiegendem Interesse und mit allen
272 H. H. Juynboll
anderen Zeremonien und Bräuclien im Zyklus des Familien-
lebens innig verbunden.
Es gibt in Landak und Tajan zwei Hauptarten von
Schamanismus, die herlenggang und hahalian genannt werden.
Bei dem herlenggang heißt das Medium lenggang. Es gehört
zu den Medien, die Greister in sich aufnehmen (hersarung). Die
halian aber (die Medien bei dem hahalian) senden ihre Seele
aus nach der Greisterwelt; das hersarung besteht bei ihnen
nicht.
Das herlenggang ist eine malaiische Institution, das hahalian
aber (wie der Name andeutet) spezifisch dajakisch. Das erstere
ist gebräuchlich bei den Malaien von Landak, bei einzebien
dajakischen Stämmen und auch wohl bei Chinesen aus Landak.
In Tajan ist das herlenggang vom mohammedanischen Fi
bahan verboten, weil es dem Islam widerstreitet; es wird £
von den Malaien auch dort klandestin getrieben, und auch
dortigen Dajaken kennen es.
Lenggang bedeutet „schaukeln, sich hin und zurück
wegen". Wahrscheinlich ist dieser Name dem Medium ge-
geben wegen der schwebenden Bewegung beim einheimischen
Tanz. Es ist aber auch möglich, daß die lenggang sich
wirklich früher auf Schaukeln setzten, wie die landakischen
halian und die serawakschen manang noch jetzt tun. Ge-
wöhnlich ist der Zweck des herlenggang die Genesung eines
Kranken.
Nach der Meinung der Dajaken werden Krankheiten ver-
ursacht, indem die Seele zeitweise den Körper verläßt und
ein böser Dämon in den Körper gefahren ist. Diesen Dämon
denkt man sich in der Gestalt von Steinchen, Tischgeräten,
Skorpionen, Würmern usw.
Zur Genesung eines Kranken muß man dabei die eigene
Seele in den Körper zurückbringen, den Dämon austreiben und
die Gegenstände, die die Krankheit verursacht haben, aus dem
Körper heraustreiben.
Indonesien 273
Man fängt an mit einem Opfer an die bösen Geister, aus
verschiedenen Speisen (z. B. Hulin, Reis, Eiern, Gebäck und
Bananen), Zigaretten und Betelpriemcben bestehend, in einem
tumpang genannten Körbchen von jungen Kokosblättem vor dem
Hause aufzuhängen. Nachher stellt man in der Mitte des
Vorderzimmers einen künstlichen Baum auf, aus verschiedenen
Bestandteilen, z. B. aus simhar agong (platycerium alcicorne)
bestehend.
Derartige künstliche Bäume werden nicht nur in verschie-
denen Gegenden Bomeos (bei den Meltau -j Djelai- und Kenda-
w?a)^^aw-Dajaken in West-Borneo, den Olon-Lowangan in Süd-
ost-Borneo usw.), sondern auch bei den SaJcei von Malakka
gefunden. Dieser taman oder Tidlam genannte Baum wird ver-
ziert mit roten jpapaw^^^7- Blumen, die in der Sprache des
lenggang: dara menanggd' (das fischende Mädchen), und den
gelben hunga lemaSy die hudjang menambei (der rufende Jüngling)
genannt werden. Der Gipfel des taman wird von einer Ananas-
frucht gebildet, die auch auf dem Giebel eines Hauses der
Seelenstadt und als Gipfelverzierung eines Opferhäuschens für
Tempon Telon sich findet. Um den Baum werden Teller
mit Opferspeisen und über denselben ein Körbchen (tum-
pang) mit Speisen für die bösen, hantu genannten Geister
aufgehängt.
Das Medium setzt sich auf den Boden in der Nähe des
Baumes. Vor ihm stellt man einen Fächer, der in der Medium-
sprache lajar agong (das große Segel) genannt wird, brennende
Benzoe (kemenjan) und Sirih. Er überdeckt den Kopf mit
einem Tuch (slendang). Die Anwesenden singen unter Be-
gleitung von Tamburinen (rebana) und tawa'-tawa^ (Trommel)
einen Gesang, dessen Text in § 59 erläutert wird.
Der Verfasser meint, die Vorstellungen der landakischen
Media seien dem Tiwah- oder Totenfest der Olo Ngadju entlehnt.
Infolge des Gesanges wird das Medium von Mambang huning
beseelt. Dieser Geist wird auch auf Malakka und in Sumatra
274 H. H. Juynboll
I
gefürchtet. Nach einem neuen Gesänge sieht Mambang Tcuning
in der Gestalt des Mediums in einem Steinchen Quarz (batu
panilu)y wie das Los des Kranken ist. Auch eine pinang-
Blüte und zwei Nadeln werden als Orakel zu diesem Zweck
von ihm gebraucht. Nachdem Mamhang huning sich allmählich
entfernt hat, fängt man wieder an zu singen, bis ein neuer,
Tjarang hemuning genannter Geist in das Medium fährt. Später
kommen noch zwei Geister nacheinander herab. Diese vier
Geister werden die radja der dewa genannt. Sie werden an-
gerufen, damit man die Hilfe der niedrigeren dewa erhalte,
die jetzt herabsteigen. Jeder derselben wird mit einer besonderen
Melodie, aber mit denselben Worten angerufen. Es gibt
männliche und weibliche dewa.
Als der Ana Badja Batu Bahara genannte Geist in den
lenggang gefahren ist, greift derselbe im taman die Seele
(sumangat) des Kranken, fängt sie in einer Kokosnußschale
und bringt sie, indem er bläst, in das Ohr des Kranken.
Der stumme, si Awa genannte Geist versteht am besten
die Kunst, die Krankheit aus dem Körper des Patienten zu
entfernen, indem er denselben reibt und massiert, damit die
Stückchen Holz oder Stein, welche die Krankheit verursacht
haben, heraustreten. Auch dabei wird wieder gesungen. Dieser
si Awa ißt die unter dem taman stehenden Speisen, während
andere dewa tanzen (menari). Die dabei gesungenen Lieder
(pantun) werden in § 70 vom Verfasser in Text und Über-
setzung mitgeteilt. Das herlenggang dauert eine oder zwei
Nächte. Oft tut der Hausherr während des herlenggang das
Gelübde (niat), er werde nach der Genesung des Patienten wieder
herlenggang. Dieser herlenggang hajar niat besteht nur aus
Singen (menjeni) unter Begleitung von rebana und tawa^-tawa^
und Tanzen (menari).
Bei dem Tanzen hält der lenggang selbst einen slodang
laut genannten Nachen von der Hülle der Pinangblüte und
eine andere Person einen hölzernen gelbgefärbten Nachen
I
Indonesien 275
(lantjing Jcuning) in der Hand. Diese stellen die Nachen dar,
in denen die dewa sich nach der Menschenwelt begeben haben.
Nachdem der dewa seinen Namen genannt hat, wird wieder
ein Gesang gesungen, der vom Verfasser in Text und Über-
setzung mitgeteilt wird. Die zwei Fahrzeuge und der Baum
der Seelenstadt sind von Grabowsky als zu dem Tiwah-Fest
der Oh Ngadju gehörig im Int. Arch. f. Ethnogr. Band ü,
Tafel YIII, Fig. 1 und 2 abgebildet. Auch der Name dewa,
der natürlich dem Sanskrit entlehnt ist, kommt in Südost-
Borneo vor, wie Hardeland in seinem Wörterbuch (s. v.) schon
mitgeteilt hat.
[Fortsetzung und Schluß folgen im nächsten Heft: Sumatra, Celebes,
Malakka, Luzou.]
3 Kussisclie Volkskunde
Von Ludwig Deubner in Bonn
Die Bericlite über russisclie Volkskunde müssen notwendig
eine abgesonderte Stellung innerhalb der übrigen Bericlite
dieses Archivs einnehmen, denn es kommt bei ihnen weniger
darauf an, eine knappe Übersicht und charakterisierende Urteile
zu liefern, als vielmehr bei aller Knappheit möglichst genau
den Inhalt der besprodienen Abhandlungen und Werke an-
zugeben. Dies erfordert der Umstand, daß die Hauptmasse
der in Betracht kommenden Literatur in russischer Sprache
verfaßt wird, deren Kenntnis nur bei einem verschwindend ge-
ringen Teile der Leser dieses Archivs vorausgesetzt werden
darf Ein bloßer Hinweis also und ein paar allgemeine An-
gaben würden doch ihren Zweck verfehlen, da der Leser nicht
wie auf anderen Gebieten imstande ist, auf Grund der Hinweise
selbst an die Quellen heranzutreten.
Die wichtigste russische Zeitschrift, die sich mit der Ver-
arbeitung der russischen Volkskunde beschäftigt, ist die Etno-
grafitscheskoje Obosrenije. Die Redaktion dieser Zeitschrift
hat vor längerer Zeit eingewilligt, in Austausch mit dem
Archiv zu treten, allein bisher ist dem Verlage des Archivs
kein Heft der Etn. Obosr. zugegangen, so daß ein zusammen-
fassender Bericht noch nicht in Angriff genommen wurde.
Dies (und der oben angedeutete Gesichtspunkt) soU erklären,
warum im folgenden als erster Bericht die ausführliche Lihalts-
angabe eines hervorragenden Werkes erscheint.
Ludwig Deubner Russische Volkskunde 277
E. W. Anitschkoff, Das rituelle Frühlingelied im Westen
und bei den Slaven. Teil I. Vom Ritus zum Lied.^ St. Peters-
burg 1903. XXIX und 392 Seiten.
Teil II dieses Werkes führt den Titel „Vom Lied zur
Poesie". Die Zweiteilung ergab sich dem Verfasser aus der
doppelten Fragestellung: 1. zu welchen Resultaten kann das
Studium des volkstümlichen Frühlingsrituals den Religions-
historiker führen? 2. was gibt das mit dem Frühlingsritual
verbundene Lied für die Literaturgeschichte aus und überhaupt
für die Ästhetik? Der erste Teil zerfällt in drei Kapitel 1. Ein-
leitung, 2. Empfang und Verehrung des Frühlings, 3. Das wirt-
schaftlich-religiöse Frühlingsritual. Vorausgeschickt ist eine
reichhaltige Bibliographie.
Die Einleitung S. 1 bis 86 beschäftigt sich mit methodo-
logischen Vorfragen. Der Verfasser betont die Wichtigkeit
der vergleichenden Methone für folkloristische Studien und be-
dauert, daß gerade mit dem so reichen slawisch -russischen
Material nach Grimm und Mannhardt sich außer den Oster-
reichem kaum ein westeuropäischer Gelehrter befaßt habe. Auch
unter den Slawen gäbe es nur zwei bis drei Gelehrte, die in
Betracht kämen, an erster Stelle A. N. Wesselowski (dem auch
das vorliegende Werk gewidmet ist). Ein Studium aber auch
des westeuropäischen Volksliedes ohne Bekanntschaft mit den
slawischen Literaturdenkmälern erscheint unmöglich. Der Be-
stand der westeuropäischen Volkslieder zerfällt in drei Teile:
1. von den Sammlern des XVIII. und XIX. Jahrhunderts auf-
gezeichnete oder zufällig gedruckte Lieder, 2. alte Lieder in
iHandschriffcen, Liederbüchern und Flugblättern des XV., XVI.,
XVII. Jahrhunderts, 3. anonyme Stücke, verstreut in mittel-
alterlichen Handschriften, wovon ein Teil auf Rechnung mittel-
ialterlicher Dichter gesetzt werden kann. Eine der wichtigsten
Fragen, die sich an diese Lieder knüpfen, ist ihr Verhältnis
^ ^ BeceHHfla oöpfli^oBaa nucHfl na aana^^ n y cüaBAHt. HacTb L
jOtI) 0üpfl;^a Kt ntcH*.
Archiv f. EeligionswlBsenschaft IX 19 •
I
I
278 Ludwig Deubner
zur Kunstpoesie. Die Frage, was Literatur, was Volksgut,
läßt sich nur durch Vergleichung mit unabhängigem Material
entscheiden. Die gleiche Schwierigkeit der Scheidung entsteht
angesichts der gegenwärtig gesungenen Lieder. Ein sicheres
Kriterium hietet vor allem der Zusammenhang mit dem Ritus.
G. Paris und Bielschowsky erkannten die Wichtigkeit des
rituellen Liedes für die Geschichte der Poesie und versuchten
die Rekonstruktion seiner ältesten Form. Die Ausscheidung
der rituellen Lieder aus dem Liederbestand Westeuropas ist
die erste Etappe in dem wissenschaftlichen Studium der Lieder-
literatur. Die dabei vorzunehmende Yergleichung mit den
slawischen Liedern überträgt das Zentrum des Interesses nach
dem Osten; denn hier ist das allgemeine Schema gegeben, zu
dem der Westen nur einzelne Züge beisteuert.
Um die ursprüngliche Form eines Liedes wiederherzustellen,
muß man untersuchen, zu welchem Ritus es gehört und welche
Anwendung es in der rituellen Handlung fand. Mit dem Ritus
ist die Symbolik des Liedes eng verbunden. Eben diese Sym-
bolik, die im Westen oft kaum mehr vernehmbar ist, hat sich
im Osten deutlich erhalten, die Volksdichtung des Ostens kann
bei der Erklärung des * westlichen' Liedes nicht umgangen
werden.
Das Volkslied ist ursprünglich ein integrierender Bestand-
teil des Ritus. Was ist Ritus? Grimm führte das Frühlings-
ritual auf die mythologische Vorstellung vom Wechsel des
Winters und Sommers zurück, nicht ohne dabei ihre Bedeutung
zu überschätzen. Kuhn und Schwartz sind der Ansicht, daß
jeder Ritus einen bestimmten Mythus vorstelle, ihre Theorien
und Deutungen „beruhen auf der völlig aprioristischen und
durch nichts bewiesenen Überzeugung, daß der primitive Mensch
die Natur poetisch auffasse, daß er in einer gewissen Phantas-
magorie bildlicher Vorstellungen lebe, aus denen sich in der
Folge Mythen bildeten, daß er sich zur Natur verhalte wie
ein begeisterter Künstler und nicht wie ein eingeschüchterter
Russische Volkskunde 279
und räuberisclier struggler for life, für den an erster Stelle
der Kampf steht um seine Ernährung, die schwer gewonnen
wird und die allernächste Bekanntschaft mit den rein utili-
tarischen Erscheinungen der Natur verlangt". Taylor und
Lubhock sahen von der Mythologie ab und betrachteten Bräuche
und Riten als Erscheinungen des täglichen Lebens, die einst
einen realen praktischen Sinn hatten. Zugleich wurde das
Gesichtsfeld durch Betrachtung der Naturvölker erweitert und
der von Max Müller vertretene linguistische Standpunkt er-
schüttert. Es folgt Mannhardt, der zuerst das Studium des
volkstümlichen Ritus auf die Höhe wissenschaftlicher Forschung
hob, aber einen Rest mythologischer Anschauungsweise nicht
loswerden konnte. Dies zeigt sich darin, daß er in die Riten
des Volkes seine Vorstellungen von Wald- und Baumgeistern
hineinträgt. Sein Einfluß macht sich bemerkbar in Frazers
Golden Bough, sowie in Roschers mythologischem Lexikon.
Mannhardts Grundvorstellung' ist zu abstrakt. An einen in
allen Pflanzen lebenden Vegetationsgeist vermag der primitive
Mensch nicht zu glauben. Gleichwohl hat Mannhardt den
Ritus einigermaßen von der Mythologie befreit und den rein
praktischen Zweck einer ganzen Reihe von Bräuchen erkannt.
Nach ihm betrachtet man den Ritus als eines der Elemente,
aus denen Glaube sich bildet. „Er ist eher eine der Zellen
des religiösen Bewußtseins, als eine Reproduktion fertiger
mythologischer Vorstellungen. Diese sind meist jünger und
unter seiner Mitwirkung entstanden." Bei den ältesten Stadien
des religiösen Bewußtseins muß man das Wort ^Religion' durch
^Weltanschauung' ersetzen. Das Hinzutreten von Göttern zu
bestimmten volkstümlichen Riten ist sekundär und meist da-
durch bedingt, daß im Kalender Ritus und Gottesverehrung
zusammenfielen. Dagegen liebt der Ritus Personifikationen,
die aus der Benennung des Feiertags oder des Ritus selbst
hervorgegangen sind. Solcher Art sind Pfingstl, Maie-
röslein, trimouzette, Marena, Kupalo, Kostroma usw. Wo die
19*
280 Ludwig Deubner
Etymologien dieser Namen unsicher oder unbekannt sind, ist
die Untersucliung des Ritus der erste Schritt zu ihrer Deutung.
Die volkstümlichen Feiertage gruppieren sich um die vier
festen Jahrespunkte: Sommersonnenwende, Wintersonnenwende,
Frühlingstag- und -nachtgleiche, Herbsttag- und -nachtgleiche.
Dazu treten einige abseits liegende Feste, wie Fastnacht, Pfingst-
montag, Trinitatis. Es fragt sich, ob diese den Frühlingsfesten
zugezählt werden können. Zu bemerken ist, daß der Spät-
frühling mit seinem Blütenreichtum dem Menschen viel wichtiger
und interessanter ist, als die ersten Anzeichen des Lenzes.
Doch nach dem Kalender läßt sich nicht fesstellen, was zur
Frühlingsfeier zu zählen ist, die Antwort gibt allein das Ritual.
Riten wurden vollzogen zu Ostern, um Pfingstmontag, am
Georgstag (23. April), am 1. Mai. Davon erhielten sich im
Osten Georgstag und die Woche von Pfingstmontag bis Trini-
tatis (Russalnaja nedelja), im Westen hauptsächlich 1. Mai und
Pfingstmontag. Auf diese Weise entsteht eine Art Synkretismus
des Rituals, indem ursprünglich nicht verbundene Riten zu-
sammen begangen werden und zusammenfließen. Daher muß
bei der Untersuchung der Riten ihre kalendarische Festlegung
außer acht gelassen werden, zumal die meisten mehr als einmal
jährlich vollzogen werden. Die vorliegende Arbeit hat den
Zweck, den allgemeinen Sinn der Riten herauszustellen, die
wir im Frühling antreffen, ihren Typus festzulegen und zu er-
klären, warum sie gerade im Frühling angewendet werden.
Als Ausgangspunkt einer jeden Untersuchung dieser Art
müssen die realen Bedingungen des häuslichen Lebens dienen,
„die täglichen Bedürfnisse des primitiven Menschen in jedem
gegebenen Moment seines Wirtschaftsjahres". Dies gilt un-
eingeschränkt für die Frühlings- und Herbstriten; verwickelter
liegt die Sache bei den Sonnenwenden. Die Psychologie der
ersteren gründet sich auf einen bestimmten Komplex von Sorgen
und Freuden, Befürchtungen und Hoffnungen. Der Frühling
stellt eine Kombination dar von Kraftaufwand für die Zukunft
Russische Volkskunde 281
und Genuß gegenwärtiger Vorteile. Das Zweite hängt davon
ab, ob und inwieweit die Viehzucht in Betracht kommt. Mit
dem Beginn des Frühlings hört die Sorge für das Viehfutter
auf: spätestens am Nikolaustage (9. Mai), wenn nicht am Georgs-
tage, wird das Vieh ausgetrieben, am Nikolaustage auch die
Pferde. Für den Ackerbauer ist der Frühling eine Zeit an-
gespannter Kräfte, die wichtigste Zeit des Jahres. Aus lang-
jähriger Beobachtung kennt er eine Menge von Anzeichen,
nach denen er über die kommende Ernte urteilt; ihren Nieder-
schlag finden sie in Sprichwörtern. Die ästhetische Seite des
Frühlings hat im Volkslied so gut wie gar keinen direkten
Ausdruck gefunden. Nicht nach Beschreibungen darf man
I suchen. Nur dort, wo die Erscheinungsformen der Natur
! einer seelischen Stimmung entgegenkommen und diese sym-
bolisch auszudrücken imstande sind, entsteht der aller Poesie
I eigene psychologische Parallelismus. In seiner Symbolik be-
deuten die Kennzeichen des Frühlings stets fröhliche Stimmung,
I ein erwünschtes angenehmes Ereignis. Anderseits fordert das
Volk im Liede dazu auf, sich mit dem Frühling einzuleben.
Es liebt die Blumen, als Gegenstand seiner Lust und flicht
Kränze. Diese ästhetische Seite darf nicht außer acht ge-
lassen werden.
Die Frühlingsfeiem und ihr typisches Ritual kehren in
allen religiösen Systemen der Welt wieder. Sie entsprechen
einem bestimmten Stadium der Kulturentwickelung, durch das
alle menschlichen Rassen und Völker hindurchgehen müssen.
Daneben können auch direkte Entlehnungen stattgefunden haben.
In diesem Sinne sind die russischen Fremdvölker wichtig, da
sie manche den Slawen entlehnte Riten treuer und klarer be-
; wahrt haben, als diese. In einer ganzen Reihe von Frühlings-
[ feiern bei Chinesen und Wilden äußert sich die erwartungsvolle
[Stimmung der hoffnungsfrohen Menschen, die den Grundzug
der Lieder, Spiele und Riten auch bei den Frühlingsfeiem der
europäischen Völker bildet.
^2: Ludwig Deubner
2. Kapitel S. 87 bis 257. Nach dem Einzug des Früh-
lings und der Wiederbelebung der Vegetation muß eine ganze
Reihe ritueller Handlungen vollzogen werden, damit nicht statt
Glück und Frohsinn irgendein Unheil entstehe. „Der Ritus
sucht an das Schicksal des Menschen den ganzen Strom leben-
schaffender Kraft zu fesseln, in dem die Natur vor seinen Augen
frohlockt."
Groß- und weißrussische Lieder bewahren den Ausdruck
'den Frühling anrufen'. Der zugehörige Ritus erhielt sich in
den entsprechenden Landschaften, vor allem in Weißrußland:
am 1., 9. oder 25. März sammelt sich die Jugend auf Hügeln,
Speicherdächern, überhaupt erhöhten Plätzen, und singt dort
besondere Lieder. Im Gouvernement Kostroma vollziehen die
Mädchen dieses 'Anrufen', indem sie dabei bis zum Gürtel im
Wasser stehen, oder, wenn das Eis noch nicht aufgetaut ist,
rings um ein Eisloch. Dies geschieht bisweilen früh morgens
vor Sonnenaufgang. Die Lieder wenden sich am häufigsten
an den personifizierten Frühling (weiblich: wessnd) mit der
Frage, welche Freuden er mit sich gebracht habe. Der Früh-
ling kommt gefahren mit Pflug oder Egge. Dies wird im
Borissoffschen Kreise figürlich dargestellt: ein schönes und
arbeitsames Mädchen wird, mit einem frischen Kranze ge-
schmückt, auf die Egge gesetzt und auf dem Felde um an-
gezündete Holzhaufen gefahren; dabei singen die Mädchen, von
einem Schalmeibläser begleitet. Im Gouvernement Kursk werden
aus Teig gebackene Schnepfen mit Fäden an Stangen gebunden,
die man in Böden steckt. Die Schnepfen fliegen im Winde,
die Kinder singen ein Lied: ... „es flog die Schnepfe her übers
Meer, es brachte die Schnepfe neun Schlösser. Schnepfe,
Schnepfe! Schließ zu den Winter, schließ auf den Frühling —
einen warmen Sommer." Im Gouvernement Saratoff und sonst
backt man am 9. März Lerchen, mit denen die Knaben und
Mädchen auf die Dächer der Hütten klettern. In der Ukraine
spricht man eine Art Beschwörung. In Weißrußland backt
I
Russische Volkskiinde 283
man Störche, einen Braucli, wie den im Gouvernement Kursk,
nennt man * Schwälbchen' oder 'DöUchen', auch hier bringt
das Döhlchen die Schlüssel. Überhaupt spielen die Vögel im
Frühlingsritual eine große Rolle. In zwei Formen also ruft
man in Rußland den Frühling: 1. man bittet ihn, seine Gaben
mit sich zu bringen und stellt ihn auf dem Pflug fahrend vor^
2. man hält die vom Süden kommenden Vögel für die magischen
Verkündiger der Frühlingsfreuden. Bei den Serben wird gegen
Mitternacht ein Holzhaufen angezündet und gesungen (der
Ritus heißt na ranilOy 'in der Früh'). Bei den türkischen
Serben tanzen und singen die Mädchen bis zum ersten Hahnen-
schrei. Dann laufen sie auf den Hof hinaus, klettern auf die
Dächer und singen dort Lieder scherzhaften Inhalts. Auch
am Wasser finden Bräuche statt, so Reifspiel und Gesang an
Flüßchen oder Quellen. An Stelle des Vogels findet sich in
Serbien gelegentlich das Bienchen. In Polen versammeln sich
die Mädchen vor Tagesanbruch an den Ufern der Flüsse und
Teiche; sobald die Sonne erscheint, entkleiden sie sich, springen
ins Wasser, lösen ihre Haare und sprechen einen Spruch,
dessen Grundgedanke die Heirat ist. Auch in Schweden wird
zu Beginn des großen Fastens der Sonnenaufgang in freier Natur
erwartet und mit Liedern begrüßt. In allen diesen Bräuchen
ist die aufgehende Sonne als Bringerin des ver novum gedacht.
Bei den heidnischen Fremdvölkern Rußlands findet man im
Frühjahr Darbringungen von Opfern. Die Wotjaken breiten
am Tage nach dem Zupflügen der Aussaat auf einer Anhöhe
unter einer Tanne ein Tischtuch aus und legen darauf besondere
1 Fladen und Pfannkuchen; der Priester spricht Gebete, indem
er in den Händen einen Fichtenzweig hält. Während des
; Gottesdienstes bewirten Mädchen die Anwesenden gegen be-
j sondere Bezahlung mit Kumys. Besonderes Interesse verdient
! ein langes Frühlingsgebet, das vom Popen an den aufgetauten
I Stellen des Feldes gesprochen wird, indem hierin in umständ-
' Hcher Weise der ganze Kreis der Feldarbeiten bis zum Herbst
234 Ludwig Deubner
aufgezäUt wird, wobei der Priester sicli bemüht, nichts aus-
zulassen. Am Schluß stehen folgende Anrufungen: 0 du Schöpfer
und Erhalter des Getreides, Kjldyssine; o du Geher und Wächter
der Haustiere, Inmare; o du Ordner und Befehlshaber der Bienen,
Kwase-e: seid gesund! Das Ganze mutet an wie eine römische
Indigitation. Der Verfasser hält es für gefährlich, von einem
heute bestehenden Ritus auf einen heidnischen Kult zurück-
zuschließen, indem er unter Kult eine religiöse Handlung ver-
steht, die sich unter den besonderen Bedingungen eines mit
Priestertum und Glaubensbekenntnis verknüpften Zustandes
religiöser Formen herausgebildet hat. Er sieht im Kult den
Endpunkt der rituellen Evolution und verlangt als Kultgegen-
stand ein göttliches Bild; der Lehre von dieser Gottheit müsse
ein Mythos zugrunde liegen. Damit wird eine Scheidung
zwischen Ritus und Kultus vorgenommen, die nicht alle billigen
werden, denn ein ausgebildeter Kult ist seinem Wesen nach
von den ersten Anfängen ritueller Handlungen nicht verschieden.
Wo Opfer dargebracht werden, muß eine Gottheit vorhanden
sein, und diese Gottheit braucht keineswegs bildlich vorgestellt
zu werden; noch weniger bedarf sie eines Mythos. Eine andere
Frage ist, ob bei Riten wie die Anrufung des Frühlings eine
Gottheit tatsächlich noch ganz fehlt. Dafür ist die Abwesen-
heit eines Mythos natürlich noch kein Beweis, und es macht
nichts aus, daß der Versuch Faminzyns, einen solchen Mythos
zu konstruieren, mißglückt ist. Einen ausgebildeten Kult im
Sinne Anitschkoffs vorauszusetzen, wird natürlich niemandem
beifallen. — Der Verfasser gibt zu, daß die Symbolik des
Zugvogels eine altertümliche, eingewurzelte religiöse Vorstellung
bietet. Ja, die Anbetung der Vögel ist zuverlässiger, als die
Anrufung der personifizierten Jahreszeit. Der Vogel ist ein
heiliges, fast vergöttertes Tier. Die christlichen Schichten der
Frühlingslieder, die eine Bitte an Gott enthalten, gestatten
keinerlei bestimmtere Rückschlüsse auf einen Kult. Die
rufungslieder tragen (nach des Verfassers Scheidung)
Russische Volkskunde 285
Charakter eines Ritus, nicht Kultes, ihre religiöse Richtung
ist unabhängig von einer breiteren religiösen Organisation.
Beschwörung und Gebet scheiden sich im Volksbewußtsein
i recht deutlich. So beginnt ein weißrussisches Lied (S. 89) mit
den Worten: „Gott, hilf (uns), den Frühling anzurufen" (ähnlich
S. 88 „hilf uns, Gott, zur guten Stunde zu beginnen mit dem
Herausrufen des Frühlings"). Wir werden hier deutlich zwei
Gebetsschichten erkennen. Dem Verfasser zufolge ist ein Gebet
nur möglich bei einer genauen Vorstellung von der Persönlich-
keit des angerufenen Gottes, von seinen Eigenschaften und
Tätigkeiten. Die Beschwörung geht aus den Bedingungen des
täglichen Lebens hervor. Der primitive Mensch, der an die
sympathetische Kraft von Wort und Handlung glaubt, bemüht
sich, eine erwünschte Erscheinung hervorzurufen; Namen und
Attribute des Segenspenders sind ihm weniger wichtig als die
Aufzählung dessen, was er begehrt. So wird jener mit der Zeit
verdrängt und verschwindet. In die alte Formel der Frühlings-
beschwörung drang die allgemeine Vorstellung des Frühlings:
die Personifikation ist dafür nur der poetische Ausdruck. Auch
die Opfergaben der Weiber gelten nur dem Frühlingsmütterchen.
— Gewiß beachtenswerte Bemerkungen, sofern wir nur die
Verwandtschaft von Beschwörung und Gebet im Auge behalten.
[Der Schluß des Aufsatzes folgt im nächsten Heft]
III Mitteilungen und Hinweise
Diese verschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesern hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und besonders
neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke und Nach-
weise oder auch anregender Fragen würde sich zwischen den ver-
schiedenen religionsgeschichtlichen Forschern hier u. E. entwickeln können,
wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung widmen würden.^
Totenklage und Tragödie
Es gibt zwei Formen der Totenklage. In der ersten, mehr
epischen, trägt ein Vorsänger (-in) ein Lied vor (e^ccQiog yooLo)^
worauf der Klagechor das Refrain singt. Ursprünglich klagten die
Frauen (Sl 723 ff.), Verwandte und Freunde (-S 317 ff,); eine spätere
Entwickelung ist es, daß die Totenklage den Aöden überlassen
(52 719 — 722), also unter Aufnahme epischer Elemente kunst-
mäßig ausgebildet wird. Die zweite Form ist Wechsellieder
(g) 58 ff., Plat. leg. p. 947 B). ^'qtjvslv TTETtoLTj^ivcc, Plut. Sol. 12, vgl.
Lukian de luctu 20. Wechsellieder nebst Chor, der das Refrain
singt, sind zu erschließen aus dem Klagelied über Bion v. 43 ff.
Gerade diese Form hat die Tragödie übernommen; sie spielt beson-
ders in den ältesten Tragödien (Sept. Choeph. Pers.) eine hervor-
ragende Rolle. Dagegen ähnelt die Komposition der ältesten
Tragödien der ersten Form der Totenklage: in beiden werden mehr
schildernde und erzählende Partien von lyrischen Gefühlsausbrüchen
begleitet.
Die Darstellung von Schmerz und Leid ist immer als für die
Tragödie charakteristisch betrachtet worden (s. Aristot.); dasselbe
ist der springende Punkt bei Hdt. 5, 67 über die Adrastoschöre
(rQccyLKog xoQog = tragischer Chor). Diese Chöre sind eine jedes
^ Sog. Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig enthalten als
sie „Berichte" ersetzen soll. Über die Zeitschriftenschau, die dem Archiv
besonders beigegeben werden kann, siehe die Mitteilung Band VIT, S. 280.
I
Mitteilungen und Hinweise 287
Jahr wiederholte, dramatisch ausgestattete TotenWage (r« ndd-ea
iyiqaLQOv), wie auch andere Bestattungsgebräuche im Heroenkultus
i regelmäßig wiederholt werden. Andere Beispiele einer jährlichen Toten-
j klage bieten Achilleus in Elis und die Kinder der Medea in Korinth.
Die Haupthandlung der Orgien war die Omophagie, das Zerfleischen
des in Tiergestalt vorgestellten Gottes. Eine Totenklage über den
so getöteten Gott in alter Zeit ist allgemein angenommen und sicher
vorauszusetzen, für spätere Zeit bezeugt. Nimmt man an, daß
die Tragödie eine ihrer Wurzeln in dieser Totenklage hat, erklärt es
sich, warum Leid und Schmerz immer ein Charakteristikum der
Tragödie waren, warum die älteste Form der Tragödie sich der
Totenklage so nahe anschließt, warum die Totenklage gerade in
den ältesten Tragödien einen so breiten Kaum einnimmt, warum
Göttermythen in die Tragödie nur aufgenommen werden, wenn sie
zu Heldensagen herabgesunken sind, warum so viele nicht- diony-
sische Mythen aufgenommen sind — denn die Chöre, die anderen,
z.B. Adrastos, galten, sind von dem berühmtesten, dem Dionysos-
kult aufgesogen worden. Der Grundunterschied zwischen Tragödie
und Totenklage ist, daß jene eine fiLfirjöig Öqcovzcov ist; doch
tritt dies in den ältesten Tragödien weniger hervor. Wenn der
Bote etwas erzählt und der Chor darauf klagt, ist das mit der
epischen Form der Totenklage beinahe identisch; der Unterschied
zeigt sich, wenn der Held selbst auftritt. Hier muß der längst
erkannte mimische Trieb im Dionysoskult angezogen werden.
Dionysos selbst muß auftreten (Bethe, Proll.), wie er im Kult tut;
die Satyrn passen für dieses ernste Spiel nicht; der Chor ist der
der dionysischen Totenklage, die in das Fell des getöteten Tieres
(gewöhnlich ein Bock) gehüllten Orgiasten, die durch diese Kleidung
selbst zu TQccyoi werden. So erklärt sich am leichtesten die Grund-
bedeutung des Wortes XQayfpdla. Angenommen ist hier, daß Tra-
gödie und Satyrspiel verschiedenen Ursprungs sind (wie Reisch in
der Festschr. f. Gomperz). Das Satyrspiel stammt aus der Pelo-
ponnes, die Tragödie ist dagegen an den Kult des Eleuthereus
gebunden, der von der böotischen Grenze gekommen ist, gerade
Kithäron und Böotien sind die berühmtesten Stätten des diony-
sischen Orgiasmus. Martin P. Nilsson
(Resume eines schwedischen Aufsatzes in Cominent. philologae in
hon. Joh. Paulson, Göteborg 1905.)
Thrakisches
Die von Pauli, Kretschmer und anderen angeregten Unter-
I suchungen über die vorgriechischen Ortsnamen hat zuletzt Fick
in seinem Buch „Vorgriechische Ortsnamen als Quelle für die
288 Mitteilungen und Hinweise
Vorgeschichte Griechenlands" systematisch weitergeführt. Unter
anderem hat Fick (S. 105), in Übereinstimmung mit Pauli, darauf
hingewiesen, daß auch die Urbevölkerung (nach Fick „pelagonisch-
pelasgisch") von Thrakien mit der „kleinasiatischen" in Beziehung
zu bringen ist. Dagegen hatte Kretschmer^ die Meinung Paulis
zurückgewiesen. Was zunächst die Städtenamen an der Westküste
des Pontes betrifft, hatte Kretschmer kaum recht, dieselben von
der Gruppe der kleinasiatischen mit s- Suffix gebildeten Namen
auszuschließen. Wie später die Griechen, werden schon die „Karer"
den Pontos aufgesucht und Städte an dessen Ufern gegründet haben;
außer den Namen wie ^OSr}666g, Ual^ivörjöGog erinnert an sie auch
der KaQ&v h(n^v, südlich von Kallatis.^ Über die Ansicht Ficks,
daß auch das innere Thrakien einmal von „pelasgischer" Be-
völkerung besetzt gewesen sei, ist jetzt nicht zu reden, denn
dieser Gelehrter behält sich vor, auf das Verhältnis der „pelago-
nischen Urbevölkerung von Thrake zu den Kleinasiaten (Hettitern)"
später zurückzukommen.^ Auch über das Verhältnis der Pelasger
zu den Hettitern überhaupt spricht sich Fick jetzt nicht aus.
C. F. Lehmann* rechnet auch die Pelasger zu den „Karern". Wie
dem auch sei, die Ansicht Paulis und Ficks lenkt unsere Auf-
merksamkeit auf Beziehungen zwischen Thrakien und den „Klein-
asiaten". Davon wollen wir hier einiges hervorheben.
Auf Karlen deutet das Doppelbeil, das wir auf Münzen der
thrakischen Könige finden;^ dieses Symbol haben die Thraker wahr-
scheinlich von der älteren Bevölkerung übernommen.^
In Kreta finden wir einen Fluß KsÖQLöog; „der kretische Fluß
KeÖQLöog gehört seinem Namen nach zweifellos zum Gebirge Kiv-
Sqlov ... die richtige Form wäre also Kt,{v)6QLa6g^'' (Fick). Damit
stimmt überein, wohl nicht zufällig, der Name des thrakischen
Gottes KsvÖQLaog'^'^ auch in Thrakien haben wir den Ort KIvöqcc.^
Mit Recht hat Tomaschek^ den ApoUon in die Reihe der
thrakischen Götter aufgenommen. Seine überaus lebhafte Ver-
^ Einl. in die Gesch. d. griech. Spr. S. 405. Vgl. die von Fick
S. 105 f. aufgezählten Namen.
* Siehe Bürchner Die Besiedelung der Küsten des Pontos Euxeinos
durch die Milesier I S. 35.
' Wie ich aus Lindl Cyrus (S. 32) sehe, hat Knudtzon vermutet,
daß die Hettiter aus Thrakien gekommen wären.
* Beitr. zur alt. Gesch. IV 390. ^ Head Historia nummorum p. 240.
^ Über die Verbreitung des Symbols siehe S. Müller Urgeschichte
Europas 59.
' Über ihn siehe Reinach Bevue des etudes Gr. XV (1902) 32 f.
« Tomaschek Die alten Thraker II 2 S. 85. — Vielleicht hängt
damit zusammen auch der erste Bestandteil des Namens Kstql-tcoqis;
über das nasale s siehe Müllenhoff Deutsche Altertumsh. III 163.
® ibid. II 1, 48. Vgl. auch v. Domaszewski Belig. des röm. Heeres S. 53.
Mitteilungen und Hinweise 289
ehrung in Thrakien, wo er mit verschiedenen Beinamen erscheint,
ist durch zahh'eiche Inschriften bezeugt.-^ Es ist wohl nicht zu
zweifeln, daß die Thraker diesen Gott nicht erst von den Griechen
übernommen haben. U. v. Wilamowitz^ hat erwieseü, daß die
Griechen den Apollon von der „kleinasiatischen" Bevölkerung über-
nommen haben; aus derselben Wurzel wird auch der thrakische
Apollon stammen.
Dasselbe wird wohl auch von Artemis gelten.
Die interessanten Ausführungen Ficks über den Phallosdienst
der Pelasger^ führen uns auch nach Thrakien. Es sei erinnert
an die in Weizenstroh versteckten lqcc, die thrakische und päonische
Weiber ''Aqxe^iSl rrj ßdödslrj darbringen (Herod. IV 33), und die
auch im Hyperboreerkult eine Eolle spielen; in diesen geheimnis-
vollen iQcc versteckt sich nach Schroeder^ ein Symbol des Frucht-
barkeitsdämons. Auch das Eselopfer der Hyperboreer deutet nach
Kleinasien hin; Lampsakos, wo das Eselopfer in historischer Zeit
bezeugt ist, liegt in der Nähe der alten Pelasgerstädte an der
Propontis. Daß der Esel als Symbol der Zeugungskraft der Natur
eine Rolle im Kultus der kleinasiatisch -thrakischen Urbevölkerung
gespielt hat, wird man nicht bezweifeln.^
In diesen Zusammenhang gehört endlich auch Hermes^, der
nach Herodot (V 7) der höchste Gott der thrakischen Fürsten war;
in ihm verehrten sie ihren Stammvater. Daß „Hermes" auch der
thrakische Name des Gottes gewesen ist, vermutet mit Recht
Tomas chek."^ Auch dieser Gott stammt von der kleinasiatischen
Bevölkerung,^ von der ihn Griechen und Thraker übernommen
haben; darum trägt der Gott denselben Namen bei beiden Völkern,
ebenso wie auch Apollon. Gawril Kazarow, Sofia
G. Friederici bespricht im Globus 89, 59 ff. eine Zeremonie
der Tupi (Südamerika), die mit dem Namenwechsel nach der
zu kannibalischen Zwecken erfolgten Tötung eines Feindes zu-
sammenhängt. Der Matador, der bei dieser Gelegenheit seinen
Namen ändert, zieht sich schließlich in seine Hängematte zurück,
muß still liegen bleiben, darf gewisse Dinge nicht essen und schießt
^ Dumont-HomoUe Melanges d'archedlogie, den Index; auch die
Inschriften in der bulgar. Zeitschrift Sbornik des Ministeriums für Volks-
außlärung Bd. XYI— XVII 72.
^ Hermes 38 (1903) 575 f. Unabhängig von ihm Hommel Grundriß
der Geogr. u. Gesch. d. alten Orients 53.
' Siehe aber Dieterich Mutter Erde.
* Arch. f. Beligionswiss. VIII (1904) S. 73. Siehe auch Dieterich
a. a. 0. 104. ^ Schroeder ibid. 77. « Fick S. 66. 45.
' a. a. 0. II 1 S. 56. » gi^he Hommel a. a. 0. S. 53.
290 Mitteilungen und Hinweise
mit einem kleinen Pfeil und Bogen auf eine wachsbestrichene
Scheibe. Alles dies sind Zeremonien, die den Matador symbolisch
in den Zustand der ersten Kindheit zurückversetzen, damit der
Geist des Erschlagenen seinen Mörder nicht wiederfindet.
L. Deubner
Zu dem vereinzelten Zeugnis aus dem Bereich kulturloser
Völker für das Niederlegen des neugeborenen Kindes auf
die Erde (Dieterich Mutter Erde S. 15 f.) kann man demselben
Aufsatz Friedericis S. 60 und 63 zwei Parallelen entnehmen. Bei den
Tupi (Südamerika) wird das Neugeborene von der Erde aufgehoben,
und dieselbe Zeremonie wiederholt sich dreimal hintereinander bei
den Azteken. L. Deubner
Ein Pestsegen. Ein mir bekannter Mann in St. Martin
(Bezirksamt Landau [Pfalz]) besitzt ein geschriebenes Gebetbuch,
das sich seit sechs Menschenaltem als 'Hexenbüchel' in der Familie
vererbt. Eines der ^Gebete' lautet: Es bezeuget Herr Franciscus
Solarius, Bischof zu Salamanca, daß im Konzilio zu Trient anno
1547 über zwanzig Bischöfe und Ordensgenerale an der Pest ge-
storben. Da habe der Patriarch zu Antiochia allen geraten fol-
gende Buchstaben, so von dem h. Zacharia, Bischofen zu Jerusalem,
mit ihrer Auslegung und Beschwöi-ung hinterlassen worden, als ein
gewisses Mittel gegen die Pest bei sich zu tragen, und als dies
geschehen, da ist kein einziger mehr an der Pest gestorben, und
wenn man dieselbigen Buchstaben über eine Tür geschrieben, so
sind alle in selbigem Haus Wohnende vor die Pest bewahret
worden:
+ S.A.B-{-Z.H.G.F
-{-JB.F.B.S.
In Geinsheim (B.-A. Neustadt a. H.) sieht man heute noch diese
Buchstaben, in ein Holztäfelchen eingeschnitten, darunter die Jahres-
zahl 1798, über einer Haustüre angebracht. Vgl. Fr. Sprater im
Pfälzischen Museum XXH (1905) S. 122. Statt F in ZHGF liest
diese Inschrift P, jedoch mit Unrecht. Th. Zink in Kaiserslautern
fand unsere Inschrift weiter in einem aus dem Fichtelgebirge
stammenden Brauchbüchlein, wie sie ja nach W. H. Eiehl, Land
und Leute ^ S. 303 "^zum eigensten Hausrat des Fichtelgebirgs ' ge-
hören. Für den Kreis Ahrweiler hat Jos. Pohl die Inschrift
nachgewiesen (R. Picks Monatsschrift f. d. Gesch. Westdeutschlands
VII (1881) S. 270ff.), für die Pertisau am Achensee A. B. Meyer
Mitteilungen und Hinweise 291
(Verhandl. d. Berliner anthropol. Gesellschaft 1884 S. 56); wie ver-
stümmelt die Formel allmählich wurde, zeigt folgende Fassung:
lJ^.j2.7.D.^Ä. + B,Y.3.S.Ä.B. + .3.-{-.H6f.-{-.B.F.2,S.-\-.+.+.
(Albertus Magnus, Ägyptische Geheimnisse für Mensch und
Vieh, II S. 49 nach freundlicher Mitteilung von Prof. Dr. G. Heeger
in Landau). Weitere Nachweise der Formel bietet R. Köhler
(Verh. d. Berl. anthr. Ges. 1885 S. 145 ff. = Kleinere Schriften III
572 ff.). Unbedeutende Varianten weist die Buchstabenreihe im
Komanusbüchlein, Druck von Bartels, Berlin, S. 44, auf, deren
Kenntnis ich dem Herausgeber dieser Zeitschrift Prof. Albrecht
Dieterich danke. Auch der 'Benediktus -Pfennig' und die
^Geistliche Schildwacht' kennen neben dem Text des ^Hexen-
büchels' den Segen gegen die Pest. Über die richtige Form, die Be-
I deutung und den Zweck der Formel unterrichtet zuletzt B. Friesen-
egger. Die Ulrichskreuze, Augsburg 1894, 40. Der Pestsegen soll
demnach von Papst Zacharias (741 — 752) eingeführt worden sein.
Er besteht aus 7 Kreuzen und 18 Buchstaben: jedes Kreuz bezeich-
net ein Gebet, das mit Crux anfängt, z. B. Crux Christi, salva me!
Jeder Buchstabe ist der Anfangsbuchstabe eines Wortes, mit dem
wieder ein Gebet beginnt. Die richtige Fassung wäre dement-
sprechend :
+ Z + DIA + BIZ + SAB -f Z 4- HGF + BFBS.
Den Wortlaut der Gebete, die meist mit einer Bitte um Abwehr
der Pest schließen, s. bei Friesenegger a. a. 0. Der Zacharias-
pestsegen erscheint auch öfter auf Medaillen und Kreuzen in Ver-
bindung mit dem Benediktussegen. Vgl. hierzu weiter 0. Frank,
i Deutsche Gaue VI (1905) Sonderheft 38; A. Stöber, Sagen des
Elsasses, Straßburg 1892, I S. 145. In einem zu Bamberg 1774
gedruckten ^Rituale Romano -Bambergense' findet sich unter den
Benedictiones extraordinariae S. 297 ff. eine Benediktionsformel für
Zachariaskreuze und -münzen; in der Beschwörung, mit der die
Priester solche Kreuze und Münzen weihen und die pestverbreitenden
Teufel bannen sollten, wird Gott unter acht Namen (Messias,
Emanuel, Sabaoth usw.) angerufen. Ich vermute deshalb, daß
imit den Buchstabengruppen unserer Inschrift nebenbei vielleicht
|noch auf Namen, wie i>JA(bolus), 6MJ5(aoth) angespielt werden
■mochte.
Ludwigshafen a. Rh. Dr. Albert Becker
Bei einer am 19. März d. J. auf Veranlassung von Dörpfeld
jim Opisthodom des Heraion vorgenommenen Grabung fand
isich eine prachtvoll erhaltene Bronzestatuette von 23 cm Höhe,
292
Mitteilungen und Hinweise
darstellend einen bärtigen Krieger mit Gurt, Helm und reicher Haar-
frisur, die Linke abwärts gestreckt, die Eechte erhoben, die ein
Geschoß gehalten haben muß. Dörpfeld wies gleich auf Pausanias
V 17 hin, wonach im Heraion neben dem Herabilde ein Bild des
Zeus, bärtig und mit einer ^vv^ bedeckt, zu sehen war. Ein Zu-
sammenhang ist nicht ausgeschlossen, zumal die Statuette einen
Blitz geschwungen haben kann. Die Wichtigkeit des Stückes
würde sich erhöhen, wenn die von mehreren Seiten ausgesprochene
Ansicht, die Statuette stünde mykenischer Zeit nahe, sich festigen
sollte.^ Wie dem sei: in jedem Falle ist dieser Fund, der in der
Humusschicht unterhalb des Heraion zutage kam, ein besonders
hervorragendes Exemplar jener Weihgeschenke, die beweisen, daß
bereits vor der Erbauung des Heraion an derselben Stelle ein
Heiligtum bestanden hat. Die Statuette kann nur ein Götterbild
oder eine Votivfigur vorstellen. Ihre Publikation wird alsbald in
den Athen. Mitteilungen erfolgen.
Olympia L. Deubner
^ Inzwischen scheint man sich dahin zu einigen, daß die Statuette
aus hocharchaischer Zeit stammt.
[Abgeschlossen am 25. Mai 1906.]
m^
I Abhandlungen
Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam
Von I. Goldzilier in Budapest
I
Unter den auf fünf Tageszeiten verteilten Kultusübungen
(salät), zu denen der Islam seine Gläubigen verpflichtet, wird
bereits in jener frühen Zeit, in der die an Mohammed an-
gelehnten traditionellen Sprüche entstanden sind, dem für die
Nachmittagszeit (al-^asr) verordneten Ritus besondere Be-
deutung und Wichtigkeit zugeschrieben. Die für das ^asr
bestimmte Zeit beginnt mit dem Ende des für den unmittel-
bar vorhergehenden Mittagsritus {al-zuhr) festgesetzten Zeit-
raumes; ihre Dauer wird bis kurz vor Sonnenuntergang aus-
gedehnt. Jedoch wird in den alten Quellen besonders ein-
geschärft, von dieser Weite der Grenzbestimmung keinen
Grebrauch zu machen, sondern das ^asr möglichst zu vollziehen,
jolange die Sonne noch „hoch oben steht und lebendig ist"
wal-samsu murtafi^atun hajjatun)} 'Ajischa berichtet, daß
ler Prophet diesen Ritus zu einer Tageszeit zu vollziehen
3flegte, als die Sonne noch kräftig in das Wohngemach hin-
jinleuchtete und als noch kein Schatten in demselben fühlbar
^ Dies wird in einer Version bei Ibn al-Gärüd al-Nisäbüri al-
Muntakä min al-sunan (Haidaräbäd 1315) 78 so ausgedrückt, daß der
i^rophet den Biläl das Adän zum 'asr rufen ließ: wal-samsu murtafi'atun
i)aidä'u nakijjatun „solange die Sonne hoch stand, weiß und rein
glänzend)".
Archiv f. Religionswissenschaft IX 20
294 I- Goldziher
war. Ein Genosse des Propheten, der viele Jahre immer in
seiner Umgebung war und seine Lebensgewohnlieiten am besten
kannte, erzählt, daß der Prophet das ^asr zu einer Zeit ver-
richtete, daß er nach Beendigung desselben noch nach el-^Awäli
ging (die Bestimmung der Entfernung variiert zwischen vier
und acht mil, 1 — 2 deutsche Meilen, von Medina) und dort
die Sonne noch hoch stehend sah.^ Man erzählt, daß *Alä
einst in Basra den Anas ihn Mälik (Abu Umajja) besuchte, als
dieser eben aus der benachbarten Moschee vom Mittagsgottes-
dienst kam. Auf die Frage des ^Alä, ob sie das ^asr bereits
verrichtet haben, wies Anas darauf hin, daß sie ja soeben erst
vom mhr (Mittagsgebet) kämen. Darauf jener: So verrichtet
denn gleich auch das ^asr, denn ich habe den Propheten sagen
hören, daß es Gewohnheit der munäfiJcün sei, mit dem ^asr so
lange zu warten, bis die Sonne zwischen den Hörnern des
Satans^ ist (dem Niedergange naht).^
Es wird demgemäß Wert darauf gelegt, möglichst den
Beginn der für das '^asr bestimmten oberen Zeitgrenze zu be-
nutzen^ und von der durch das Gesetz zugebilligten Latitude
keinen Gebrauch zu machen. Mit einem Wort, man möge sich be-
streben, das ^asr in der frühesten Nachmittagszeit zu verrichten.^
^ Buchäri Mawalüt al-salät Nr. 12 ff. Les traditions islamiques tra-
duites de Vardbe par 0. Houdas et W. Mar9ais I (Paris 1908) 192—194.
* Über die Bedeutung dieser Phrase s. meine Ähhandl. zur arab.
Philoll 113—115.
^ Sunan dl- Nasa' i I 89, Muslim II 149.
* Ygl. ju'ag^ilüna al-'asr, Mukaddasi ed. de Goeje 130, 13. Als
mittlere Zeit wird ungefähr drei Stunden nach Mittag betrachtet
(Snouck Hurgronje Mekka II 91, 3); für die Zeitbestimmung dient ge-
wöhnlich die Länge des von den Gegenständen geworfenen Schattens;
Lane Manners and customs of the modern Egyptians^ (London 1871)
I, 91 Anm.
^ Nichtsdestoweniger wird in der Gesetzschule des Abu Hanifa ge-
lehrt, daß es kein Vorzug sei, das 'asr zu beschleunigen; die anderen
drei orthodoxen Schulen halten sich an den Sinn der oben angeführten
Traditionslehren; Bahmat al-umma 15, 5 v. u. (wa-ta'gil al-'asr afdal
illä 'inda Abi Hanifa).
Die Bedeutung der Nachmittagszeifc im Islam 295
In der Tat wird die Zeitbestimmung „zwischen Mittag
und ^asr^^ zur Umschreibung eines ganz kurzen Zeit-
raumes gebraucht.^
II
Man findet manche Spur davon, daß im alten Islam
diesem ^asr eine ganz besondere Yorzüglichkeit vor allen
anderen Riten zugeeignet wurde. Der überwiegende Teil der
alten Koranexegeten deutet in der medinensischen KoransteUe
Sure 2, 239 „Beobachtet die Gebete und das mittlere Ge-
bet"^ diesen besonders hervorgehobenen Ritus auf das ""asr^
und erklärt dabei das Wort: al-wustä (das mittlere) im Sinne
des altarabischen Sprachgebrauchs in der Bedeutung: das vor-
nehmste. Nach einigen Traditionen* soll sogar im ursprüng-
lichen Korantext hier statt al-wustä (das mittlere) ausdrück-
lich al-^asri gestanden haben, nach anderen, dem jetzigen
Text ein explikatives wa-saläti-l-^asri hinzugefügt gewesen
sein.^ Diese ganz unzulässigen Voraussetzungen sind aber
jedenfalls Zeugnisse für den bevorzugten Charakter des salät
al-^asr im Bewußtsein der alten Islamlehrer. Sie wurden
eben durch die Überzeugung von einem solchen Charakter
erst hervorgerufen.®
* Jäm III 478, 4.
^ Vgl. Houtsma lets over den dagelijlcschen Salat der Mohammedaner
{Theolog. Tijdschrift XXIV 130) und die Korankommentare zu 2, 239.
^ Bei Ihn Mäga (Dihli 1282) 50: Die Ungläubigen hinderten (während
des „Grabenkampfes") den Propheten, das 'asr zu verrichten bis zum
Sonnenuntergang; da sprach er: „Sie haben uns vom mittleren salät
zurückgehalten, möge AUäh ihre Häuser und Gräber mit Feuer erfüllen,"
* Buchäri Tafsir Nr. 19 und dazu die bei Kastalläni z. St. VII 45 f.
gesammelten alten Nachrichten.
^ Muwatta' (mit Zarkäni) I 254 — 255 (sehr wichtig für diese Frage).
^ Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob nicht in anderen
Traditionen etwa Opposition gegen die Bevorzugung des *asr sich kund-
gibt; z. B. in einem sicherlich an obige Koranstelle sich anschließenden
Hadlt- Spruch : häfiz'alä-l-'asreini „Beobachte die beiden 'asr" (d. h.
Früh- und 'asr- Gebet, a potiori) bei Nihäja III 101, Lisän VI 252, Tag
20*
296 ^- Groldziher
I
In einer bei al-Tirmidi verzeiclineten Nachriclit sagen
einmal die heidnischen Gegner von der gegen sie heranziehen-
den Schar Mohammeds: „sie hätten ein Gebet, das ihnen lieber
sei als ihre Väter und ihre Kinder; dies sei das ^asr^^} Und
auch für Einzelbitten wird in manchen traditionellen Sprüchen
dieser Zeit ein besonderer Erfolg zugeschrieben. Der schiHtische
Imam Abu ^Abdallah Ga'far al-Sädik (st. 765) erzählt, daß
sein Vater, wenn er Gott eine Bitte anheimstellen wollte,
dazu die Zeit wählte, wann die Sonne von ihrer Mittagshöhe
abzubiegen beginnt (zawäl al-sams). Dies wird auch von
anderen Imamen wiederholt; freilich kommen in solchen Tra-
ditionen auch andere Zeitbestimmungen vor.^ In der „Nahrung
der Herzen" des Mystikers Abu Tälib al-Mekki wird als Spruch
des Propheten angeführt: „Wenn jemand zu jener Zeit vier
ra¥ah's verrichtet und .dabei die Koranrezitation, die Knie-
beuscuns und Prosternation korrekt vollführt, so beten 70000
Engel mit ihm und flehen bei Gott um Sündenvergebung für
ihn. Denn die Tore des Himmels werden zu dieser Stunde
geöffnet, und ich liebe es, daß man gerade damals von mir
eine fromme Handlung vorlegen könne." ^
Bei keiner der Gebetzeiten außer diesem ^asr werden den
der Gesetzübertretung im allgemeinen geltenden Drohungen
noch spezielle Warnungen hinzugefügt. „Wer das ^asr ver-
nachlässigt, geht des Verdienstes seiner bona opera verlustig
Qidbita ^amaluhu)"'^ in einem anderen Spruch wird von einem
solchen gesagt, er sei „als ob er seiner Familie und seiner
Habe beraubt würde" (Jca'annamä wutira ahlahu wa-mälahu)^
dl-arus III 404. Es würde zu weit führen, diesen Gesichtspunkt hier
weiter zu verfolgen.
^ Tirmidi Sunan II 172, 13: inna li-ha'ulä'i salätan hija ahabbu
ileihim m^n äbä'ihim wa - abnä'ihim wahija-l-'asru.
2 Kulini Uml al-Käß (Bombay, Hth. 1302) 594.
8 mt al-iulüb (Kairo 1310) I 27 vgl. 11 146.
* Buchäri Mawakit 1. c. Houdas - Margais 194, Muwatta' Seibänl 134;
Muslim II 150. Es ist interessant, zu beobachten, daß in einigen in
i
Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam 297
Hingegen wird jenem, der das ^asr regelmäßig leistet,
doppelter Lohn zugesagt.^ Schön den früheren Religions-
genossenschaften sei dies Gebet angeboten worden; sie fanden
es aber als zu beschwerlich {takulat ^aleihim) und lehnten es
ab. Erst mit dem Islam sei es durchgesetzt worden. Es über-
ragt den Wert der anderen Gebete um 2Q Grad (daragat)}
Es braucht nicht bewiesen zu werden, daß der Schwur
„Beim *asr", mit dem die 103. Sure des Korans beginnt, mit
der dem salät dl-^asr zugeschriebenen Weihe (wie z. B. Baidäwi
an erster Stelle erklärt) nichts zu tun hat.^ Zur Zeit der
Offenbarung dieses mekkanischen Orakels war ja jenes Gebet
noch gar nicht eingerichtet. Schon mohammedanische Kom-
mentatoren weisen eine solche Beziehung mit dem richtigen
Hinweis darauf zurück, daß ja am Anfang einer anderen Sure
(93) der Schwur bei anderen Tageszeiten angewandt wird.*
III
Die besondere Weihe und Bedeutung, die man dieser
Tageszeit zueignet, ist noch aus einer anderen Erscheinung
ersichtlich. Man läßt' gerichtliche Eide im Zusammenhang mit
dem ^asr ablegen.^ Die Abnahme des Schwures in Verbindung
mit dem Gebet (ha^d al-saläti) wird, wenigstens für einen be-
stimmten Fall (Zeugeneid betreffs eines mündlichen Testamentes),
bereits im Koran (5, 105) angeordnet. Die Kommentatoren
'Alä al-din al-Muttaki ^s Kanz al-ummal IV 83 — 84 gesammelten Ver-
sionen diese Warnung denen gilt, die das salät al-'asr bis zum Sonnen-
untergang, also bis zur gesetzlich zulässigen Zeitgrenze hinausschieben
(s. 0.). ^ Usd al-gäba V 148 unten; vgl. ZDMG III 385 Anm.
^ Kanz al-ummal IV 84 Nr. 1716.
^ Unter den im Tafsir al-Tdbari (XXX 160) mitgeteilten alten Er-
klärungen wird diese nicht erwähnt.
* Vgl. Fachr al-dm al-Bäzi, Mafätih z. St. VIII 675.
^ Ganz ohne Bedeutung ist es wohl, wenn in einer Schwurformel
des Dichters Kutejjir als der Zeitpunkt des Schwures der Abend be-
zeichnet wird: halafta . . . .'asijjatan (Jäküt IV 769, 11); *a^ijjatan
scheint hier nur Flickwort zu sein.
298 I- Goldziher
I
wollen darunter das salät al-'^osr verstehen; diese Spezialisierung
ist jedoch wahrscheinlicli erst in der Zeit nach Mohammed
erfolgt. Aus einer Reihe von Beispielen aus früher Zeit, die
ich gesammelt habe, hebe ich die folgenden heraus.
Der Kalife ^Omar läßt den Fezäriten Manzür ihn Zabbän,
der zur Zeit des Heidentums die Gattin seines verstorbenen
Vaters geehelicht hatte und dies blutschänderische Verhältnis
im Islam fortsetzte^, zur *asr-Zeit vierzig Eide darauf ab-
legen, daß ihm das auf eine solche Ehe bezügliche Verbot
des Islam unbekannt war. Daß die Eide nach dem ^asr- Gebet
abgelegt wurden, wird hier nicht ausdrücklich gesagt. „Man
behielt ihn im Kerker bis zur Zeit des ^asr- Gebetes"^ oder
„bis nahe zum ^a."^, dann ließ man ihn schwören.
Ibn abi Muleika, dem die Aufsicht über die Bevölkerung
von Tä'if anvertraut war, holte sich bei dem alten Ibn ^Abbäs,
der in Rechtssachen als Orakel galt, Rats darüber, wie er
gegen eine Sklavin vorzugehen habe, die laut der durch einen
rechtsgültigen Beweis nicht bekräftigten Anklage ihrer Ge-
nossin diese geschlagen habe. Ibn ^Abbäs gab ihm die Weisung,
daß er die Verklagte nach dem ^asr festnehmen lasse und
ihr die Koranworte 3, 71 („die aber den Bund Allahs und
ihre Schwüre für geringen Lohn verkaufen" usw.) zu Gewissen
führe. So verfuhr man auch und die Angeschuldigte wurde
geständig.* Die Anwendung des Koranverses läßt nicht daran
zweifeln, daß die Prozedur in der Weise beabsichtigt war, die
Angeklagte im Leugnungsfalle auf ihre Aussage einen Eid
leisten zu lassen. Also die Eidesabnahme in Verbindung mit
dem ^asr.
Nach einer Nachricht bei Abu-1-farag al-Isfahäni in
seinem semitischen Martyrologium gab der Kalife Hisäm I.
in einem obschwebenden Rechtsfalle die Verordnung, daß vor
allem vom Kläger ein Beweis (hajjind) für seinen Rechts-
* Muh. Stud. I 26. 2 jigänt XI 55 paenult. » Ibid. XXI 261, 3.
* Musnad dl-Säfi 89.
Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam 299
anspruch gefordert werde; wäre er nicht imstande, einen
solchen beizubringen, „so leget der Gegenpartei nach dem
V/sr einen Eid auf bei AUäh, außer dem es keine Gottheit
u,ibt, daß der Kläger ihr nichts zur Verwahrung gegeben und
(laß er überhaupt keine gültige Forderung zu stellen habe".^
Als merkwürdige Rechtsentscheidung des Abu Müsä al-
As^ari wird folgendes überliefert. In Angelegenheit der letzt-
willigen Verfügung eines Muslim in Dakükä' melden sich zwei
christliche^ Zeugen; als die Erben ihre Aussage anzweifelten,
ließ Abu Müsä die beiden Christen nach Küfa kommen und
nahm ihnen nach dem '^asr einen Eid ab des Inhaltes: „Bei
AUäh, wir haben uns für diese Zeugenaussage nichts bezahlen
lassen, wir verheimlichen nicht das Zeugnis Allahs; ansonst
mögen wir zu den Sündigen gerechnet werden".^
Nach einer nicht allgemein anerkannten Textversion soll
auch für den feierlichen Zi^ä?«- Eidfluch (Koran 24, 6 ff.)
zwischen Ehegatten (wenn jemand sein Weib ohne Zeugen-
bekräftigung der Untreue zeiht), der nach einigen Gesetzes-
j gelehrten zur Klasse der Eide gerechnet wird*, dieselbe Zeit
bestimmt gewesen sein.^
Wir sehen hier eine Reihe von Beispielen für die Tat-
sache, daß man die Wahl der Zeit des ^asr zur Ablegung des
Eides als Verschärfung (tagliz) desselben betrachtete. Man
scheint vorauszusetzen, daß der Schwörende aus Scheu vor
der heiligen Weihe derselben zu dieser Tageszeit nicht den
^ Makätil dl-Talibijjlna 162.
^ Bei Ibn Kajjim al-Gauzija, al-turuk al-hiJcmijja fi-l-sijäsat al-
safijja 164, wo dieser Rechtsfall mitgeteilt ist, wird der Umstand, daß
es christliche Zeugen waren, verschwiegen; statt nasränijjän (zwei
Christen) nur allgemein ragulän (zwei Männer).
» Därakutni Sunan (Dihli 1300) 495.
^ Nach Mälik und al-Säfi'i wird das Li'än als Eidesleistung, nach
Abu jjanifa wird es als Zeugenschaft behandelt, Kastalläm YIII 194.
^ Zarkäni zu Muwaüa' III 50, 5 v. u. fatalä'anä; al-Zuhri f ba'da-
l-'asri.
I
300 I- Goldziher
Mut haben würde, einen Meineid zu schwören. In der
heißt es auch in einem Traditionsspruch: „Dreierlei Leute sind
es, die Gott (am Tage des Gerichtes) nicht anreden und auf
die er nicht blicken und denen er kein Verdienst anrechnen,
die er hingegen mit schmerzlicher Strafe züchtigen wird
einen Mann, der nach dem "^asr um eine Ware feilscht u
bei Gott schwört usw."^
Was ist nun aber die Ursache, die der Tageszeit
^asr in dem religiösen Vorstellungskreis jene Weihe verli
die wir an zwei hervorragenden Momenten des religiösen
Lebens beobachten konnten?
Die mohammedanische Überlieferung selbst gibt uns den
Grund für diese Erscheinung an die Hand. Um die ^asr-Zeit
— so belehren uns die alten Theologen des Islam — lösen
die zur Überwachung der Welt herabgesandten Engelscharen
einander ab; die Tagesengel kehren in den Himmel zurück,
während die für die andere Hälfte des Tages abgeordneten
Engel auf der Erde erscheinen. Man möge nun bestrebt sein,
daß die zurückkehrenden Engel auf die Frage Allahs: „Wie
habt ihr meine Diener zurückgelassen?" den Bericht erstatten
können, daß sie die Muslims im Gottesdienst verlassen habend
Dieselbe Ablösung findet allerdings auch zu anderer Tageszeit
statt; aber islamische Kommentatoren konstatieren, daß auf
die Nachmittagsabwechslung mehr Gewicht gelegt wurde. Es
sei dies die Zeit, in der die Engel über die Taten der
Menschen Bericht erstatten (waU irtiß^ äl-a^maiy. Man müsse
also während dieser Zeit möglichst in frommen Handlungen
begriffen sein. Es folgt daraus, daß es gefährlich sei, gerade
zu dieser Zeit Gott durch lügenhafte Anrufung seines Namens
zu beleidigen.
^ Buch. Sahädät Nr. 23 und auch sonst in den anderen Sammlungen,
^ Buch. Mawäkit al-salät Nr. 16 {Houdas -Margais I 194), Tauhid
Nr. 24, Murtadä al-Zabidi, Ithäf al-sädat al-muttakm III 280.
' Bei Kastallänl IV 457. ,,
Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam 301
Die Vorstellung, daß Gott zur Zeit des Nachmittagsgebetes
Gericht über die Menschen hält, ist in diesem Kreise nicht
vereinzelt. Sie begegnet uns auch in der jüdischen Kabbala,
wie dies mehrere Stellen des Zöhar-Buches beweisen, deren
Inhalt gewiß auf ältere Überlieferung zurückgeht. Die Zeit
des Minchäh- Gebetes (dem das mohammedanische salät al-^asr
entspricht) wird als die Tageszeit bezeichnet, in der Gott, mit
Ausnahme des Sabbatnachmittags, scharfes Gericht über die
Menschen hält und in der, bis zum Einbruch der Nacht, die
hohe Gewalt über die Welt herrscht.^
IV
Wenn wir nun aber zu den islamischen Vorstellungen von
der ^asr -Zeit zurückkehrend, auf die Frage übergehen, welches
wohl die Quelle davon ist, daß man in jenen Kreisen mit
dieser Tageszeit die Abwechslung der Engelscharen und den
Bericht über die Andachtsübung der Menschen in Verbindung
setzt, so möchten wir zur Beantwortung dieser Frage folgende
Meinung wagen. Jene Vorstellungen sind nicht als genuin
islamisches Produkt, ' sondern als von außen eingedrungenes
Element zu betrachten. Die Keime dazu sind, nach unserer
Ansicht, in der „Stundentafel" zu finden, die auch in dem
jüngst durch C. Bezold in arabischem und äthiopischem Text
herausgegebenen, auf ein griechisches Original zurückgehenden
Testamentum Adami reproduziert ist. In dieser von Adam
dem Seth mitgeteilten Stundentafel, in der die überweltlichen
Vorgänge auf die einzelnen Stunden des Nvx%"iqiieQov verteilt
* Perikope Jithrö (ed. Amsterdam II 88b unten): s^n'^ttJ hz'z itn i<n
I "p-iSHT: "psi"! h2^ i^-^b^ xs^pn xr"i nnsTa^i xri?::^ ^nraj nü^ "la NrnttJi ^ai^
[ (nur am Sabbat nictit, da herrscht das höchste Wohlgefallen 5<1>"i
n3rü5X Nl"-!-:); Perik. Näsö, Anf. (ed. Amsterd. II 121a): Nnibs"! Nrs'ü:n
H'ib-'b bxri j<nx"i "ir 5<72brn X'jba; r\i<hs n^n:i 5<^byn t^-^iü &<rn nn:^"i
Nach dem späten Midrasch Seder Gan "Eden (Beth ha-midräs, ed
Jellinek III 131) werden die Gesetzesübertreter von der Minchäh- Zeit ab
durch die züchtigenden Engel herbeigeholt und in die Hölle geführt.
302 I- Groldziher Die Bedeutung der Nachmittagszeit im Islam
sind, wird die siebente Tagesstunde in folgender Weise charak-
terisiert^: „In der siebenten Stunde gescbiebt der Eintritt zu
Grott und der Ausgang von ihm, denn in dieser Stunde werden
Gott die Gebete aller Lebenden vorgetragen"; in einer anderen
erweiterten Version: „wenn der Mensch zu dieser Zeit betet,
schließt sich seine Lobpreisung der Lobpreisung der Engel an
und sein Gebet findet Erhörung bei Gott".^ Also Abwechslung
der Engelscharen, Vortrag der Gebete und zugesicherte Er-
hörung.
Die siebente Tagesstunde ist eben der Beginn des ^asr,
unmittelbar nach Schluß der Mittagszeit (sechste Stunde). Wir
haben eingangs gesehen, daß es in den ältesten religiösen
Dokumenten empfohlen wird, das ^asr- Gebet möglichst am
Beginn des für dasselbe zugelassenen weiten Zeitumfanges zu
erledigen. Die weite Verbreitung des Testamentum Adami im
morgenländischen Christentum gibt der Möglichkeit Raum, daß
die in demselben erläuterten Ideen in den islamischen Volks-
glauben eindringen. Dafür gibt es ja viele Beispiele. War
nun einmal der Glaube an die besondere Wichtigkeit der ^asr-
Zeit für die Anrufung Gottes in den religiösen Vorstellungs-
kreis eingedrungen und in muslimischem Sinne bearbeitet,
konnte er sich leicht auch auf die Voraussetzung der Scheu
vor Profanierung derselben im Eid ausdehnen. Diese mit
dem Nachmittagsgebet verbundenen Vorstellungen übertrugen
sich dann auf den ganzen Zeitraum, auf den sich das ^asr im
Sinne der legalen Bestimmungen erstrecken darf
^ Orientalische Studien (Theodor Nöldeke gewidmet) 898, 10. Wir
zitieren nach dem arabischen Text.
2 ed. Bezold, ibid. 906, 8 v. u.
Die luppitersäule in Mainz
Von Alfred von Domaszewski in Heidelberg
Die vor kurzem in Mainz entdeckte luppitersäule ist von
so hervorragender Bedeutung für die Geschichte der Religion
auf gallischem Boden, daß eine Erörterung dieses einzigen
Fundes den Lesern des Archivs erwünscht sein wird.^
Auf einem doppelten Sockel von 2,98 Meter Höhe erhebt
sich eine Säule, deren Schaft und Kapitel 5,60 Meter mißt.
Darauf ruht eine Basis von 0,62 Meter, die das bronzene Stand-
bild eines luppiter trug. Die Vorderseite der oberen Sockelstufe
trägt die Inschrift: I(ovi) o(ptimo) m(aximo) pro [sa]l[ute
Nergnis] Claufdji Caesaris Au[g(usti)] imp(eratoris) Canabarii
pub[l]ice L. Sulpicio Scri[bJonio Proculo leg(ato) Äug(usti)
p[r(o)] [p]r(aetore); cura et impensa Q. luli(i) Prisci et
Q. luli(i) Audi. — L. Sulpicius Scribonius Proculus wurde,
als Statthalter Obergermaniens, im Jahre 67 zugleich mit seinem
Bruder Rufus, der Niedergermanien verwaltete, von Nero ab-
berufen und von dem Virtuosen in Griechenland, wie auch der
Bruder zum Selbstmord gezwungen. Das Schicksal der edeln
jBrüder hat selbst in jener Zeit, die die Schandtaten des
Schlächters des altrömischen Adels mit stumpfem Knechtssinn
ertrug, ungewöhnliche Teilnahme hervorgerufen.^ Errichtet
wurde das Denkmal von den im Umkreis des Lagers an-
gesiedelten Römern^ unter der Leitung und auf Kosten zweier
^ Körber Die große luppiter - Säule \on Mainz, Mainzer Zeitschrift
1, 1906, 54fiF.
* Prosopogr. imp. Born III p. 186 n. 217. 219. Tacitus Teilnahme
lan Galbas unglücklichem Cäsar Piso ist eine Huldigung für das erlauchte
Haus der Scribonier. ' Ygl. über die Canabarii oben S. 153.
304
Alfred von Domaszewski
Männer, die wahrsclieinlicli als die obersten Beamten der Cana-
barii, ihre magistri zu fassen sind.
Die Künstler, welche das Werk gefertigt haben, nennen
sich auf der obersten Platte der unteren Sockelstufe: Samus
et Severus Venicari f(ilii) sculpserunt. Die Gliederung des
Sockels in zwei Stufen ist bedingt durch das Bestreben, die
Weihinschrift in Sehweite zu bringen. Dieser scheinbare
Zwang des tektonischen Aufbaues scheidet die Bildwerke, die
beide Stufen des Sockels und den Schaft der Säule umziehen,
in drei Gruppen. In Wahrheit hat der Künstler bei dieser
Gliederung die höchste Freiheit walten lassen, um die Gedanken,
die er im Bilde verwirklichen sollte, in reiner Klarheit hervor-
treten zu lassen. Zur leichteren Übersicht gebe ich ein Schema
der auf der Säule gebildeten Göttergestalten (vgl. die Tafel II):
"Hga
ZeXrivn "miog
Genius
Augusti
Lar
JiovvGog
Lar
Maia
Aequitas
Jn^zriQ
nsQöscpovTi
Honos
Pax
Virtus
'''HqiaLöTog
IIoGELd&V
"AQXB^ig
"Agrig
Victoria
Insclirift
Dioskur
'ATCoXXaiv
Dioskur
Zsvs
'AQ-nvu
Fortuna
'HQuyiXfig
Mercurius
Rosmerta
Schon durch ihre Größe erscheinen die Götter auf den
Reliefs der unteren Sockelstufe als die Hauptgestalten jenes
Kultes. Es sind luppiter, Minerva mit Fortuna, Herkules
Mercurius mit Rosmerta. Die Doppelgestalten an den Seiten-
flächen des Sockels dienen nicht nur der künstlerischen
Symmetrie, sondern sie sind gefordert, um die eigentliche Be-
deutung der Minerva und des Mercurius in ihren Begleitern
erscheinen zu lassen. Mercurius ist durch Rosmerta als der
Die luppitersäule in Mainz 305
gallische Gott bezeichnet/ Dagegen die drei anderen Gott-
heiten, luppiter, Minerva, indem ich Fortuna zunächst aus-
scheide, und Herkules bilden eine Dreiheit jener Art, wie sie
Usener nach ihrer tieferen Bedeutung erläutert hat.^ Die innere
Notwendigkeit, durch welche die Glieder dieser Dreiheit zu-
sammenhängen, läßt die Wiederholung des luppiter auf dem
Sockel erkennen, dessen Standbild doch die Säule selbst trug.
Entstanden ist diese Dreiheit im griechischen Glauben, der
allein Zsvg, ^Ad')]vä, ^HQa^cXfjg als eine Einheit empfinden
konnte.^ Auf griechischem Boden in lonien ist diese Dreiheit j
allein in einem hohen Kunstwerk nachzuweisen. Strabon 14, j
1, 14 Samos — tö ^Hgalov — x6 ts vjtatd'Qov o^oCog iisötbv
ccvdQLccvtcjv h(5rl tcjv ccqCötcov' cdv XQCa Mvgcovog sQya Tioloö-
6mä iÖQv^evcc btcI ^läg ßccdscog, et '^qe ^sv 'Avtaviog^ ävsd"rjxs
dh Ttdltv 6 Esßaötog KalöaQ sig rr^v avtriv ßdöiv xa dvo, %'r\v
'Ad-Tjväv xal rbv 'HQaTcXsa, tbv dh zJCcc sig tb Ka7Cst6?.iov
list7]V£yKS, xaraöKSvdöag avrq) vaiGxov. Ist die Dreiheit
unseres Denkmales ionischen Ursprunges, so ergibt sich eine
noch schärfere Bestimmung der Herkunft durch die Verbindung
der A&rjvä im Bilde mit der Tvxtj, römisch Fortuna. Denn
in den griechischen Städten jener Zeit wurde allgemein der
Schutzgeist der Stadt als Tvxr] Ttölemg verehrt.^ 'Ad-rjvä ist
durch die Verbindung mit Tvxr^ als Stadtgöttin bezeichnet.^
A%"Yivä wurde aber in Massilia als Burggöttin verehrt. Justin
^ Wissowa Beligion der Homer S. 250.
^ Bhein. Museum 58, Iff. Ygl. Preller - Robert 1, 74 über die
Stellung dieser Dreiheit in der Gigantomachie.
' Im römischen Grlauben ist diese Dreiheit nicht nachzuweisen und
sie widerstrebt auch sowohl der Bedeutung der römischen Gottheiten
als ihrer Stellung im Kult. Nun gar auf Gallisches zu raten, verbietet
j die lange Reihe sicher griechisch-römischer Gottheiten der oberen Sockel-
i stufe und des Säulenschaftes.
^ Preller- Robert Griech. Myth. 1, 543.
^ Der Einfluß des römischen Kaiserkultes, der mit der griechischen
j Götterreihe auf der Säule verschmolzen ist, hat der Gestalt der Tv%r\
' diese rein römische Charakteristik aufgedrückt. Vgl. unten S. 310.
306 Alfred von Domaszewski
43, 5, Catumandus — cum in arcem Minervae venisset, con-
specto in porticibus simulacro deae — exclamat. Diesen Kult
hatte Massalia mit der Mutterstadt Phokäa gemein. Strabo 13,
4, 41 TtoXXä de xcbv a^yalaiv rfjg ^Ad'rjväg ^odvcov zad'7]^sva
dsCzvvrai^ Tcad'ccTtSQ iv ^ozaCa, MaööaXCa, ^Pio^rj, XCgj, alXaig
nXsCoGiv. Ein tiefer religiöser Sinn erfüllte die Phokäer, als
sie unter dem Schutze jener Dreiheit, die die Götterwelt vor
dem Ansturm der Giganten siegreich errettet hatte, ihre Stadt
im fernen Westen mitten im Lande feindlicher Barbaren grün-
deten. Wenn die Dreiheit hier mit dem gallischen Mercurius
verbunden ist, so ist das ein Zeichen mehr, daß der griechische
Götterkreis der Säule aus der alten lonierstadt Massilia stammt.
Dies bestätigen die anderen Götter, die auf der oberen Sockel-
stufe und dem Schafte der Säule dargestellt sind. Denn auf
der oberen Sockelstufe erscheint Apollo begleitet von den
Dioskuren, den schützenden Göttern der Seefahrt. In Massilia
wurde Apollo verehrt als ^Aitdllcov ^sXg)Cviog} Strabo 4, 1. 4
iv dh tfl ccotQo: rö ^E(pB6iov LÖQvrai Kai tö tot) ZtsXtptvCov
'AjtöXXcjvog IsQÖv tovto iihv tcolvov ^Icbvtov aTcdvxov^ rö dl
''E(pB6iov rfig ^AQts^idög i^tt vshg trjg 'Eg)SöCag.
Die meisterhafte Verbindung der Trümmer, in die der
Schaft der Säule zerschlagen war, durch die Mainzer Museums-
verwaltung, läßt sich auch aus dem Sinne der Darstellungen
als richtig erweisen. Die Frontseite der Säule wird bezeichnet
durch die Inschriftenfläche der oberen Sockelstufe. Die vier
Götter auf jeder Säulentrommel entsprechen den vier Göttern
auf jeder Seite der unteren Sockelstufe. Die Stellung und
Folge der Säulentrommeln ist bestimmt, wenn sich nachweisen
läßt, wo auf diesem fortlaufenden Bande die letzte Gottheit
der unteren Trommel an die erste Gottheit der nächstfolgenden
Trommel anschließt. Dieser Übergang ist zwischen der ersten
und zweiten Trommel vollkommen gesichert. Denn an die
Preller -Robert 1, 257.
Die luppitersäule in Mainz 307
mit Mars nach römisclier Art^ verbundene Viktoria kann nur
die das Tropäon schmückende Gestalt der zweiten Trommel,
Honos, anschließen, weil Honos und die als dritte Gestalt
darauffolgende Virtus Eigenschaften des Mars sind, dessen
Wesen sie zur Entfaltung bringen.^ Demnach steht Viktoria
auf der ersten Trommel an vierter Stelle, Poseidon an erster
Stelle; ebenso hat auf der zweiten Trommel Honos die erste
Stelle, Vulcanus die vierte. Nicht minder gesichert ist der
Anschluß der Götter der dritten Trommel an die der zweiten.
Auf Vulcanus kann nur die ihm im römischen Glauben aufs
engste verbundene Maia^ folgen, die also den ersten Platz ein-
nimmt. Für die vierte und fünfte Trommel ist die Anordnung
gleichfalls gegeben. Der Genius Augusti steht an erster Stelle,
ebenso wie luno.
Nach Apollon folgt in dem meerbeherrschenden Massilia
Poseidon, auf ihn Artemis, die durch die Trennung von Apollo
kenntlich ist als die fremde Gottheit. Der Künstler hat den
griechischen Typus gewählt, der auch an das befreundete,
herrschende Rom erinnert. Strabo 4, 1. 5 Tcal dij xal t6
locfvov rfjg ^AQts^iddg trjg ev tö ''AßertCvco ol ^Pco^aloc x^v
avtriv did%'S6iv s%ov t^ jtaQcc tolg Ma66aXi6xaig ccved'eöav.
Daran schließt sich mit Entfernung der römischen allegorischen
Gestalten das Paar "AQrig^ "Hcpaiötog^ in denen sich der Geist
des waffenfrohen auch durch die Künste des Friedens glänzenden
Massilias verkörpert. Auf der dritten Trommel stehen nach
römischen Gestalten zJrj^TJrriQ und IIsQöscpovr) , beide als Pflege-
rinnen eines Tieres; hinter Demeter hat sich ein Maultier ge-
lagert, Persephone setzt den Fuß auf den Kopf eines Rindes.
Der Boden Massilias, wenn auch wie alle Gestade des Mittel-
^ Mars ist mit Viktoria verbunden in der römischen Heeresreligion
Westd. Zeitschr. 14, 33 ff. In der griechischen Religion sind Zsvg und
'AQ-rivu die vLTtricpoQOi. Schon Homer läßt den Ares keine Siege erringen.
2 Westd. Zeitschr. 14, 40 und Festschrift für Otto Hirschfeld 244.
5 Festschrift für Otto Hirschfeld 247,
308 Alfred von Domaszewski
meeres in jenen einzig glücklichen Tagen durch angestrengten
Fleiß in einen Garten verwandelt, war doch nicht reich an den
Gaben der Demeter. Strabo A, 1, 5 yßiqav d' 8%ov6iv hlaio-
cpvtov yisv %al jcardiiTCsXov, 6Ctco dh Xv^QOtsQav diä X'^v XQa%v~
t7]ra. Dagegen gedieh in der Ebene an der Rhonemündung ^,
wie in unseren Zeiten, die Pflege herrlicher Rinder. Plinius
n. h. 21, 57 thymo quidem nunc etiam lapideos campos in
provincia Narbonensi refertos scimus, hoc paene solo reditu,
e longinquis regionibus pecudum milibus convenientibus ut
thymo vescantur. Und wie das Handelsvolk des Ostens, die
Nabatäer auf der Sinaihalbinsel die Kamele ihrer Karawanen zu
Tausenden hegten^, so muß auch Massilia für den Handel in
den nur von Saumpfaden durchzogenen Barbarenlanden des
Westens Maultierherden von gewaltiger Größe besessen haben. ^
Keines der Güter, welche die geschäftigen Griechen mit
sich führten, war den Barbaren erwünschter, als der herz-
erquickende Wein, Athenäus 4, 36 p. 153c aus Poseidonius —
Kslrol — ro dh 7av6[iev6v J^t^ ^ccQa ^sv tolg %Xovxov6iv otvog
i^ 'IxaXCag aal xfjg MaööaXLtjxctv X(OQag Tta^aTcoiii^öfisvog,
UKQaxog ö' ovxog. So folgt auf der vierten Trommel zJiovväog.
Dagegen ist "Hqu, die auf der fünften Trommel zwischen
"Hliog und HsXr^vri steht, in diese himmlische Höhe aus ihrem
ursprünglichen Sitze vertrieben. Denn der gallische Gott hat
ihr den Platz geraubt auf der unteren Sockelstufe zur Rechten
des Zsvg. Der Künstler, der durch die Ordnung des Kultes^
gezwungen war, dem keltischen Gotte den Ehrenplatz auf der
unteren Sockelstufe zu geben, hat mit großer Weisheit die
Himmelsgöttin in ihr lichtes Reich zurückgeführt und so dem
herrschenden luppiter wieder genähert.
^ YgL. über dieses sagenberühmte Feld Ukert Geographie I 10, 424 f.
^ Euting Sinaitische Inschriften p. XI f.
^ Auch in Petra stehen die Kamele unter dem Schutze einer Gott-
heit. Brünnow und Domaszewski Die Provincia Arabia 1, 336 n. 466.
* Ygl. unten S. 310.
Die luppitersäule in Mainz 309
Die wirkliche Ordnung der /I68e7ca ^soC^ Massilias ist
folgende: Zevg, ^Ad'tjvä^ 'HQaxXrig, "Hqu, ^Ajt6X?.ov, Iloöstd&Vy
"jQts^ig, "AQTig^ "HcpuLötog, ^rj^TJtjjQ, IIsQöscpövr], /li6vv6og^
die in ihrer Zusammensetzung die Geschichte und die Kultur
Massilias widerspiegeln.
Mit diesem Götterkreise der Massalioten ist auf das innigste
verwoben die neue göttliche Macht des herrschenden Reiches
der Römer, der Kaiserkult.
Auf der vierten Trommel ist der Genius des Kaisers mit
den Lares publici hinter der vorletzten Stelle eingefügt, wie
es die Ordnung der römischen Religion erfordert, in der der
Genius des Kaisers hinter die dei immortales zurücktritt.^
Daß er vor zJiovvöog steht, ist nur durch die Notwendigkeit
bedingt, ihn an der Frontseite der Säule sichtbar zu machen.
Die römischen Götter, die sich in die griechische Reihe mischen,
sind alle dazu bestimmt, das Wesen des göttlichen Kaisers zu
beleuchten. So ist Viktoria dem Mars zugesellt als die Sieges-
kraft des Imperators.^ Honos und Virtus der zweiten Trommel
sind jene echt römischen Tugenden, die gerade der Begründer
der Monarchie im höchsten Maße besaß.^ Zwischen ihnen steht,
von ihnen gehütet, eine allegorische Figur, die durch Ähren-
krone und dem mit Ähren geschmückten Zepter als eine Eigen-
schaft der Tellus bezeichnet wird.^ Es ist die Pax Augusti.®
^ Preller -Robert Griech. Myfh. 1, 110. 783 866. Dittenberger Insc.
Orient. 322 und die nachgebildeten dei consentes der Römer. Wissowa
\BeUgion 55. Diese griechischen Götterkreise beruhen wohl auf den
} Monatszeiten, haben aber nicht das geringste gemein mit den semitischen
I Kalender göttern. ^ Westd. Zeitschr. 14, 68. ^ Westd. Zeitschr. 14, 37.
j * Westd. Zeitschr. 14, 43 Anm. 186. Ich glaube, daß die das Tro-
'paeum schmückende Gestalt trotz ihrer weiblichen Bildung wegen der
j Natur der römischen Eigenschaftsgötter als Honos bezeichnet werden
; darf. Sonst könnte man auch an die der Virtus gleichartige Nerio
iMartis denken. ^ Festschrift für Otto HirschfeU 248.
^ Das Tellusrelief der Ära Pacis bildet den Schmuck der Vorder-
I Seite des Altars , wie die von der Architektur der Umfassungsmauer ab-
i weichenden Säulen zeigen. Der Altar ist also der Tellus geweiht.
Vgl. Dieterich Mutter Erde S. 80 f.
Archiv f. Religionswissenscliaft IX 21
310 Alfred von Domaszewski
An Vulcanus ist seine römische Eigenschaftsgöttin Maia an-
geschlossen, die der griechischen Mutter des Mercurius ange-
glichen wurde. Sie steht unter dem Genius Augusti, weil
dieser Augustus kein anderer ist, als der Begründer der Mo-
narchie, den die italische Welt als Mercurius Maiae filius
feierte.^ Neben Maia steht Aquitas, die römische Auffassung
der lustitia, eine der hohen Tugenden des Augustus, die Horaz
gefeiert hat.^ So spiegelt diese römische Götterreihe die
Stimmung wider, die das Säkulargedicht des Horaz ausspricht:
iam Fides et Pax et Honos Pudorque
priscus et neglecta redire Virtus
audet adparetque beata pleno
Copia cornu.
Eben diese Copia ist in der Bildung der Tvxrj von Mas-
silia verkörpert und die Wirkung des Kaiserkultes reicht hinab
bis in die Auffassung der Dreiheit altmassaliotischen Glaubens.
Deshalb ist auch Mercurius nicht schlechthin der Gott der
Gallier, vielmehr ist Kaiser Augustus selbst dargestellt, wie
ihn die Tres Galliae an der Ära von Lugdunum verehrten.^
Der luppiter, den die Säule trägt, ist nicht der massalio-
tische der unteren Sockelstufe, sondern er ist der, den die In-
schrift nennt, der luppiter optimus maximus, der das Weltreich
der Römer beherrscht.
Die Durchdringung der römisch -griechischen Kultur in
gallischen Landen ist zum reinsten Ausdruck gebracht.
1 Mit Recht hat Gilbert Bhein. Mus. 59, 628 in der Ode des Horaz I 2
Züge erkannt, die älter sind, als die Sammlung selbst. Sie ist ge-
dichtet nach der Besiegung des Sextus Pompeius, als Augustus noch
mgcctog war und den italischen Handel vom Fluche der Piraterie befreite.
Für die Ausgabe in der Sammlung hat Horaz das Gedicht durch einzelne'
Züge, princeps, pater v. 50, erweitert.
2 Bhein. Mus. 59, 302. Vgl. Festschrift für Nöldeke, 861.
^ Vgl. Otto Hirschfeld in der Festschrift der societe des Äntiquaires
de France (1904) p. 211—216..
Die luppitersäule in Mainz 311
Das Vorbild der Mainzer Säule stand in Massilia; es
wurde geschaffen in den Jahren, die zwischen der Säkularfeier
in Rom (17 v. Chr.) und der Weihe des Altars in Lyon
(12 V. Chr.) liegen, als der Kaiser in Gallien und Massilia
weilte und den Provinzen des Westens die neue Ordnung gab.
Das Denkmal hatte für Massilia dieselbe Bedeutung, wie die
Ära Pacis und Ära Fortunae reducis für Rom.
Hält man gegen dieses Werk augusteischer Zeit das gleich-
artige Denkmal, das unter Septimius Severus in Mainz er-
i richtet wurde ^, so ermißt man mit einem Blicke das Wirken der *Wvc'*^-^
Kräfte, die das Lichtreich griechischer Schönheit und römischer
j Kraft zerstört haben. Das durch den Bann eines halben Jahr-
Itausends gebundene Wesen der zum Dienen geschaffenen Völker
ides Mittelmeerreiches hatte sich losgerungen, Knechte waren
zu Herrschern geworden, um in den entseelten Formen der
Vergangenheit gleich Spukgestalten eine kurze Zeit weiter-
[zuleben, bis in der wilden Selbstzerstörung des dritten Jahr-
ihunderts die Nacht der Barbarei auch sie begrub. So hatten
»die Giganten über die Götter des Lichtes gesiegt.
^ Ygl. oben S. 158.
21'
AÜPOI BIAIO0ANATOI
Par Salomon Reinach ä Paris
I
De la Descente aux Enfers attribuee ä Orphee jusqu'ä
V Inferno de Dante, il y a comme une lignee continue de contes
populaires et edifiants sur l'au-delä, dont quelques -uns seule-
inent ont ete fixes par ecrit ou nous sont connus par les
allusions de poetes et de philosoplies, Pindare, Aristophane,
Piaton, Virgile, Lucien, Plutarque, qui ont puise lä des
inspirations. II s'ensuit qu'un texte de cette serie, meme
redige ä une epoque tardive, peut avoir conserve des traits
de la tradition la plus ancienne, ou la forme plus archaique
de certaines conceptions qui apparaissent denaturees ou attenuees
dans des textes de redaction posterieure.
Cela pose, examinons les vers 426 et suivants du sixieme
chant de VE)ieide.
Apres avoir passe le fleuve fatal, Enee et sa compagne
endorment Cerbere et poursuivent leur marche entre l'Aclieron
et l'interieur des Enfers. Au cours de cette etape, ils entendent
les vagissements d'enfants enleves au sein maternel (ab iibere
raptos) et rencontrent les ämes de ceux qui sont morts sans
crime de mort violente, soit qu'ils aient ete condamnes injuste-'
ment, soit qu'ils aient mis fin eux-memes ä leurs jours. Parmi
les suicides, Virgile distingue les victimes de l'amour, comme
Phedre et Didon, qui, tristement privilegiees, habitent ä l'ombre
d*un bois de myrtes. Plus loin sont les heros tombes ä la guerre
Salomon Reinach "Aoqol ßiccioGccvatoi 313
comme Deiphobe, dont le discours ä Enee termine cet episode
(v. 547).i
D'apres une croyance pythagoricienne ou orphique, ä la-
quelle Piaton fait allusion^ et que Tertullien nous a transmise^,
les ämes de ceux qui ont peri prematurement doivent attendre,
dans des quartiers isoles, que la duree legitime (maxima) de
leur existence ait ete remplie. Mais si Virgile s'est inspire de
cette idee pour grouper ensemble ceux qui sont morts avant
I'heure, il ne devait pas enumerer seulement les enfants ä
la mamelle^ les condamnes, les suicides et les victimes de la
guerre; en dehors des enfants en bas-äge, il y a le nombre
infini des gar9ons et des fiUes qui meurent, soit de maladie,
soit d'accident, avant d'atteindre l'äge mür. Ainsi la presence,
en cet endroit, des nouveaux-nes, reunis aux victimes du des-
espoir et de la guerre, est absolument injustifiable, ä moins que
(>es enfants j eux aussi, ne soient morts innocemment de mort
violente.
Ici comme ailleurs, Virgile parait s'etre conforme ä un
modele grec, celui peut-etre dont s'est aussi inspire Plutarque
dans l'apokalypse qui' fait partie de son livre sur le Genie de
Socrate. Timarque y raconte (XXII, 590 F) qu'il aper9ut .un
gouffre profond, rempli d'une vapeur epaisse et noire, d'oü
montaient des burlements, des cris d'animaux et des vagissements
d'enfants {iivqIcov xXavd^bv ßQsq)G}v), meles ä des lamentations
; d'hommes et de femmes. Plutarque ne dit pas ce qu'etaient
i ces enfantS; ßQsq^rj, et si, comme Virgile, il a suivi Posidonios,
^ La Sibylle entraine Enee en lui disant (v, 539) : Nox mit, Äenea,
nos flendo ducimus horas. On pleure beaucoup dans l'Eneide; mais, ici,
Enee ne pleure point, non plus que la Sibylle et Deiphobe. La note
de Servius (nam et lacrimae et gemitus fuerant) est absurde; eile prouve
simplement que la faute est tres ancienne, due peut-etre aux premiers
^diteurs de l'lßneide. Lire: fando („nous perdons notre temps en con-
versations"). Cf., pour l'emploi de fando, Virg. Aen., II, 6, 81, 361;
III, 481; VI, 333.
2 Plat. Bep., p. 619 C. » TertuU. De anima, c. 56.
314 Salomon Reinach
nous ignorons en quelle compagnie le philosophe grec
avait fait vagir ces ämes d'enfants. Nous le savons par Virgile
et nous avons vu que ce qu'il dit ä ce sujet est illogique si
Ton n'admet pas que les ccoqol etaient en meme temps des ßiaio-
ddivatoi, Si nous pouvions remonter le cours des apocalypses
populaires, nous en trouverions certainement une oü les exigeances
de la logique etaient respectees. Meme en l'absence de tout
texte de ce genre, nous avons donc le droit de supposer que,
dans une forme moins litteraire de la tradition, les enfants qui
vagissent ä l'entree des Enfers, en compagnie des suicides et des
morts de mort violente, sont des enfants tues, c'est ä dire des
vktimes de Vavortement Virgile ne dit pas cela, puisqu'il
ecrit ah uhere raptos\ les enfants dont il parle sont des nour-
rissons qui, au debut meme de leur vie, primo in limine vitae,
ont ete arraches par la mort du sein maternel. Mais les mots
sein maternel, aujourd'hui encore, offrent une equivoque; il peut
s'agir soit de la matrice, soit des mamelles. L'equivoque a
pu exister dans un des ecrits intermediaires entre les premiers
essais apocalyptiques et Virgile; en tous les cas, un texte formel
va nous permettre de la dissiper et de retrouver la conception
primitive sous les euphemismes de la poesie virgilienne.
Le precieux fragment que l'on appelle VÄpocalypse de
Saint Pierre j decouvert en 1886 ä Akbmin, est une revelation
de Jesus ä ses disciples, conduits par lui sur une haute montagne
d'oü ils voient d'une part les bienheureux dans leur felicite,
de l'autre les damnes dans leurs souffrances. Les analogies de
cet Enfer chretien avec l'Enfer hellenique de Virgile ont ete
signalees par moi des 1893 et mises en lumiere avec beaucoup
de perspicacite par M. Dietericb; c'est la tradition grecque
populaire, sans elements juifs, cbristianisee seulement ä la
surface. Or, un passage significatif de cette Apocaljpse donne
la clef des vers de Virgile sur les ämes vagissantes des enfants.
Dans un lieu plein de boue et de sang sont plongees des femmes;
vis ä vis d'elles, on voit des enfants assis qui pleurent (tcoXXoI
"AcoQOL ßiaLoQdvatOL 315
Ttaldsg xad'7]^evoi sxXaiov, ce qui correspond au vers de Virgile
[infantumque animae flentes). Ces enfants sont nes avant l'heure
[äcoQOi itCjcrovro, primo in limine vitae), mais ils ne sont pas
nes Sans violencej des rayons de feu partant de leurs corps
frappent les yeux de leurs meres, qui les ont con9us hors mariage
et se sont fait avorter (al äya^ov 6vXlaßov6ai xal iKtQ66a6ai.)
Clement d'Alexandrie et Methodios^ ont fait allusion ä
ce passage en j ajoutant quelques details. Suivant Clement,
les enfants ainsi nes avant terme sont confies ä un ange gardien
qui se Charge de les elever et fait d'eux, au bout de cent ans,
les egaux des fideles. Cette idee meme est d'origine grecque;
on trouve la trace d'une conception analogue dans Virgile (v. 329),
suivant lequel les ämes des atacpoi errent pendant cent ans
avant de pouvoir passer l'Aclieron, comme aussi dans la tradition
grecque conservee par TertuUien:^ „Ils disent que ceux qui
meurent tout jeunes doivent errer 9a et lä jusqu'ä ce qu'ils
aient atteint Tage auquel ils seraient parvenus s'ils n'etaient
morts prematurement." La duree de cent ans n'est pas indiquee
dans ce passage de TertuUien, mais eile ressort du texte parallele
de Virgile que Servius commente ainsi: Centum annos ideo dicit,
qtiia M sunt legitimi vitae humanae. II s'agit donc du terme
I maximum d'une vie humaine, fixe egalement ä cent ans par
Platon.^ Les avortes, places pendant cent ans sous la garde
d'un ange, sont censes mourir charges d'annees et entrer
ensuite dans le regne des bienheureux. II en est ainsi, ob-
serve complaisamment Metbodios, meme s'ils sont le fruit de
l'adultere.
Le supplice inflige par les avortes ä leurs meres, dans
l'Enfer petrinien, est assez etrange; on peut supposer qu'il
^ Clem. Alex. Eclog. Prophet. 41, 48; Method. Sympos. II, 6.
^ Tertull. De anima c. 56.
^ Plat. JRep. p. 614 B. Au congres recent de la Sanitary Institution
de Londres, le president de la section de medecine parlait des „cent
annees de vie auxquelles nous avons droit '^ {Revue de VUniv. de
Bruxelles, 1905, p. 199.)
31ß Salomon R-einach
doit son origine ä quelque peinture de Nekyia oü les enfants
assis etaient entoures d'une aureole de rayons {Strahlenkram
J'ai montre ailleurs que cette description chretienne de TEnfer
contient des details dont Torigine graphique, c'est ä dire
necessairement grecque, est incontestable.^ Mais, pour nous
en tenir ä l'episode des avortes, le malentendu — si malentendu
il y a — n'a pas ete commis d'abord par l'auteur de l'Apocalypse;
il doit etre, comme les autres, beaucoup plus ancien. Nous
pouvons donc ete assures que l'idee des supplices subis
Enfer par les femmes qui se sont fait aYorter bors mariage
est une idee populaire, non pas syrienne on juive, mais grecque
et paienne. Je crois avoir de bonnes raisons pour la considerer
comme orpbique.
II
Ni dans rAncien Testament ni dans les Evangiles, on
trouve la moindre condamnation du suicide, de l'avortement,
des fraudes privees (jsiQOVQyCai)^, trois sortes de rifiuti que
rhistoire des idees morales doit rapprocber, parce qu'ils
constituent, ä des degres differents, des atteintes au principe
de la saintete de la vie, des negations de la volonte de vivre.^
La morale cbretienne postevangelique a condamne ces pratiques
au nom de principes qu'elle a empruntes au paganisme, en parti-
culier de l'interet social et des vceux de la nature, motifs dont le
cbristianisme evangelique ne se preoccupe jamais. II est curieux
I
^ S. Reinach Cultes, mythes, etc. t. II, p. 200.
* Onan {Gen. XXXVIII, 4) se soustrait ä robligation que lui im-
posait la loi religieuse du levirat d'assurer une posterite ä son frere
mort avant lui, en refusant de feconder la veuve de celui-ci. II est
frappä par r£ternel, non pour avoir pratique une fraude conjugale,
mais pour avoir contrevenu a la loi. Son cas n'a donc rien ä voir avec
la fraude priv^e qui lui doit son nom et dont il n'est pas question dans
TEcriture; la loi mosaique ne s'occupe que des accidents (pollutions),
sans chercher ä en distinguer la cause.
^ A ce titre, ces pratiques ont ete discutees simultanement par
Kant dans sa Tugendlehre.
"AcoQOL ßiccio^dvutoi 317
de constater, en ce qui touclie les fraudes privees, l'evolution
de la theologie catholique au cours des derniers siecles. Alors
que le celebre Sancliez (1550 — 1610)^ n'allegue encore que la
punition Celeste d'Onan ^, dont la signification est toute differente,
un des auteurs les plus recents d'une Theölogia moralis, le
R, P. Tanquerej, relegue le cas d'Onan dans une note et, dans
le texte, invoque le voeu de la nature, deux vers de Martial,
enfin des considerations d'hygiene, inconnues de tous les anciens
casuistes et qui remontent au XVIIP siecle seulement.^ Quant
aux „accidents" qui, dans la loi mosaique et les penitentiels
du moyen-äge, tiennent une si grande place et comportent des
purifications tres compliquees*, le P. Tanquerey n'y attache plus
aucune importance; dans les cas graves, il conseille de consulter
un medecin.^
Si la theologie morale de l'Eglise, des ses debuts, a con-
damne d'une maniere formelle le suicide, les fraudes privees et
ravortement, il faut bien qu'elle ait emprunte ces principes ä
la morale paienne, puisque les Ecritures sont muettes ä cet
egard; mais cette morale n'etait pas celle des pbilosophes de
l'ecole; c'etait une morale populaire et religieuse, encore tout
impregnee de tdbous^ et d'autant plus accessible, semble-t-il,
ä la foule des femmes et des iUettres.
Les pbilosophes grecs ont debattu ces graves problemes sans
arriver ä se mettre d'accord. Les Cyniques et les Stoiciens
approuvaient le suicide; les Pythagoriciens et, ä leur exemple,
^ Sanchez De sancto matrimonio, XI, 17 (ed. de Lyon, t. III, p, 218).
^ Ibid.: Conclusiohaec constat ex XXXVIII Geneseos uM referturetc.
^ Tanquerey Synopsis theologiae moralis, t. I, Suppl., p. 19*; t. 11,
Suppl, p. 24*.
^ Levitique, XV, 31; Reuß La Bihle, t. V, p. 145, 153, 158;
cf. Lejay Le role theologique de S. Cesaire d'Ärles, Paris, 1906, p. 118 sq.,
p. 140. ^ Tanquerey ibid., t. II, Suppl, p. 24*.
^ Je vois avec plaisir qu'un des plus savants docteurs de Flfiglise
romaine, M. l'abbe Loisy, accorde aujourd'hui que la morale primitive
est „un Systeme de tabous, c'est ä dire d'interdictions justifiees par un
motif religieux" {Bevue critique, 30 decembre 1905, p. 505).
318 Saiomon Reinach
les Platoniciens le condamnaient.-^ Mais on peut prouver que
les Pythagoriciens n'ont fait, dans ce cas comme dans d'autres,
que donner une forme litteraire aux enseignements de rorphisme. .
Platon''^, apres avoir dit que le Pythagoricien Philolaos defendait |
le suicide, ajoute comme motif l'argument enseigne dans les j
mysteres (6 sv djcoQQTJtOLg Xsy6[isvog tcsqI avtcbv X6yo<s), ä
savoir que le corps est une maniere de prison oü l'äme est
attachee, en expiation de fautes passees, et dont eile n'a pas ,
le droit de sortir volontairement. C'est la pure doctrine I
orpliique sur le peche. Ce passage, soit dit en passant, pourra
toujours etre objecte ä ceux qui veulent que l'enseignement
des mysteres antiques n'ait presente aucune caractere moral.
Les fraudes privees etaient egalem ent permises et meme
recommandees par les Cyniques et les Stoiciens.^ Diogene les
pla^ait sous le patronage d'un dieu*; il racontait qu'Herraes
les avait enseignees au dieu Pan pour le guerir d'une passion '
que le tourmentait.^ Aucun auteur ancien (ni du moyen-äge)
ne les a proscrites, que je sache, au nom de l'hygiene; si Martial
les condamne, c'est parce qu'elles sont contraires ä la propagation
de l'espece {guod perdis liomo est).^ Mais, dans la meme epi-
gramme, Martial qualifie l'acte en question de scelus ingens, ex-
pression tres forte qui a lieu d'etonner cliez lui et qui implique
une transgression d'ordre religieux, un peclie. C'est, en effet,
comme un crime contre la religion que les fraudes privees etaient j
condamnees par l'orphisme; je peux en alleguer deux preuves.
D'abord, Aulugelle nous apprend que la defense orphique
» Cf. Zeller Gesch. der Philosophie, P p. 419, 426; II p. 891.
2 Plat. Phaed., p. 62B; cf. Gorgias, p. 493 A.
^ Chrysippe ap. Plnt. Moral., II p. 1277 D; Zenon ap. Sext. Pyrrh.,
in 206.
^ Dio Chrysost. Orat, VI 203; Diog. La. VI 2, 46 et 69. Cf.
ZeUer, II 1, p. 322.
^ L'idee d'un dieu ;^stpovpyog, qui se retrouve en Grece, est egalement
egyptienne; cf. Lefebure Bevue mensuelle d'anthropologie, 1899, p. 203.
6 Martial, IX 42.
"AoagoL ßLccLoQccvcctoi 319
TivdiKOv ä%o xslQccg e%B6%'E etait interpretee ainsi; ce texte du
grammairien latin, qui vise une explication dejä ancienne,
fournit une precieuse indication sur la morale orphique.^ En
second lieu, parmi les inscriptions greco-phrygiennes de
Badinlar, il s'en trouve une oü le penitent s'accuse, devant
le dieu, d'un attoucliement personnel impur, constituant un
peche.^ Le culte d'Apollon Lermenos ä Badinlar n'est pas
necessairement orphique; mais on sait que Torpliisnie est
d'origine thrace et que la Thrace est la metropole religieuse
de la Phrygie.
Nous arrivons donc ä des resultats singulierement concordants :
d'un cote, le cynisme et le stoicisme; de l'autre, dans la voie
etroite, l'orpliisme et le christianisme. Ce qu'il y a de plus
interessant ä noter, c'est que le christianisme, comme l'orpliisme,
et ä la difference des philo Sophies de lettres, attache aux deux
especes d'actes qu'il reprouve le caractere d'impietes, de crimes
envers Dieu, de tabous violes. L'orphisme n'a pas invente cette
maniere de voir, qu'il a transmise aux docteurs chretiens 5 il n'est
ici que l'echo de vieilles superstitions, de tabous prehistoriques.
Ces tabous ont du, ä une epoque tres reculee, exercer un grand
empire sur le variete blanche de l'espece humaine, sans quoi
eile ne se serait pas elevee si haut. A cote du tabou quasi
universel du sang clannique, il fallait que les anthropoides
d'avenir eussent le scrupule de verser leur propre sang et de
repandre inutilement leur seve creatrice. Ce demier tdbou
n'existe pas chez les singes et existe fort peu chez les negres;
c'est peut-etre pourquoi les singes sont restes des singes et
la plupart des negres les cousins germains de ceux-ci.
^ Le vers est cite comme orphique (Abel Orphica, 263, 264).
Aulugelle (lY, 11, 9) le lisait dans les Kad-aq^oi d'Empedocle, qui suivaient
la doctrine de Pythagore, c'est ä dire l'orpliisme scientifique, Cf. Diels
Fragm. der Vorsokratiker, p. 224.
^ Ramsay Gities and bishoprics, t. I, p. 136, 152; cf. Journal of
hellenic studies, 1889, t. X, p. 222.
320 Salomon Reinach
L'avortement volontaire parait inconnu des animaux^ et il
est rare cliez les sau vages; rinfanticide en tient lieu. La
seulement oü rinfanticide est repute criminell les pratiques de
Tavortement se multiplient. En Grece, le plus ancien temoignage
ä cet egard serait le serment dit hippocratique, par lequel le
medecin s'engageait ä ne pas remettre de pessaire abortif ä une
femme et ä ne pas pratiquer l'operation de la taille. Mais la
date et l'interpretation de ce document sont egalement incertaines;
s'il s'agit bien de l'operation de la taille (et non de la castration),
l'interdiction parait plutot repondre aux interets des specialistes
de la litbotomie, auquel cas la mention des pessaires comporterait
une Interpretation analogue et n'aurait pas la portee d'une
probibition morale. Galien pretend, il est vrai, que l'avortement
aurait ete interdit par Solon et par Lycurgue;^ Musonios dit
que les legislateurs ont defendu aux femmes de se faire avorter,
qu'ils ont inflige des peines aux delinquantes et leur ont
egalement interdit d'empecber la conception.^ Mais ces textes
sont singulierement vagues. II n'y a rien ä tirer de l'bistoire
rapportee par Ciceron sur une femme de Milet condamnee
ä mort pour avortement, car le crime consistait dans l'intention
delictueuse, la femme ayant ete corrompue par les heritiers
naturels de son mari.* A Atbenes comme ä Rome, la legislation
n'est intervenue que dans l'interet de la famille et des droits du
pere; si l'avortement en soi avait ete considere comme un crime,
Piaton ne l'aurait pas autorise et Aristote ne l'aurait pas
recommande pour prevenir l'exces de population.^ Sous l'Empire
romain, de nombreux textes de moralistes prouvent que les
avortements etaient tres frequents et impunis, bien que mal vus
de l'opinion; il faut attendre jusqu'au debut du IIP siecle de
^ Les cas de suicide, chez les animaux, sont rares et douteux La
fraude privee n'est pas sans exemple, mais eile n est habituelle que chez
les singes. ^ Galen, t. XIX, p. 177 (Kühn).
' Musonios ap. Stob. Floril., 74, 75. * Cic. Pro Cluentio, 11.
^ Plat. Bep. p. 461 C; Theaet. p. 149 D; Arist. Polit. VII 4, 10,
p. 1335 B.
"AcoQOL ßicctoQdvatOL 321
notre ere pour trouver une loi qui les condamne.^ D'ailleurs —
et ceci est essentiel — ni en Grece ni ä Roma l'avortement de
la femme non ma/riee n'a ete l'objet de mesures legislatives;
on le considerait comme une affaire privee.
Dans TApocalypse de Pierre, il s'agit precisement de femmes
qui se sont fait avorter Jiors mariage et qui sont, pour cela,
l'objet de chätiments eternels. Ceux qui infligent les chätiments
sont les enfants memes nes avant terme, consideres comme
les victimes de leur mere, dont le crime est assimile ä un
meurtre. II n'y a meurtre que si Torganisme detruit est un
etre humainj le cbristianisme admet cela pour le foetus, alors
que les Stoiciens et les Cyniques — ici encore dans la doc-
trine opposee — ne le pensent point.^ L'idee chretienne a
continue ä dominer non seulement les decisions de l'Eglise,
mais les legislations seculieres, tandis que l'antiquite paienne
considere plutot, en pareil cas, que la mere a tous les droits
sur le fruit de ses entrailles, tant qu'il n'a pas encore vu le
jour.^ Or, puisqu'il n'est pas question de cela dans l'Ecriture,
il faut bien que la morale chretienne naissante ait tire d'ailleurs
sa doctrine intransigeante sur l'avortement. L'Apocalypse de
Pierre prouve que cette source cachee est orpbique, puisque,
suivant l'esclialotogie orphique, les filles-meres avortees sont
punies de cbätiments eternels.
Ainsi, dans l'etude de l'evolution des idees sur les trois
formes de la negation du devoir vital, nous arrivons au
meme resultat, qu'on ne saurait attribuer au basard. Trois
^ Dig., 47, 11, 4; 48, 19, 39. Yoir les articles Abigere partum,
Ämblosis, Äbortio dans Saglio et dans Panly-Wissowa.
2 Plut. De placiUs V, 15.
^ Athenagore declare ä Marc Aurele que les chretiens tiennent pour
homicides les femmes qui se fönt avorter — preuve que ce n'etait pas
Topinion generale. Innocent XI (2 mars 1679) a condamne la proposition
suivante: Licet proeurare dbortum ante animationem foetus, ne puella
deprehensa gravida occidatur aut infatnetur (Denzinger, Enchiridion, n.1051).
Mais la contradiction que presentent actuellement la loi et les mceurs est
un scandale auquel le XX^ siecle devra mettre fin.
322 Salomon Reinacli "Aagot ßiccio9dcvcctoi
I
ia
dB
fois nous avons vu le christianisme d'accord avec l'orpliis
et en Opposition avec le cynisme et le stoicisme. Dans la
Philosophie de l'ecole, les devoirs des individus sont sul
ordonnes ä l'interet de la cite; dans l'orphisme, com
dans son heritier le christianisme, il n'est plus question d
interets de la cite, mais du salut eternel des individus, qui a
pour condition essentielle leur purete. Cette doctrine du salut
est enseignee par des Apocalypses, c'est ä dire par des revelations
divines, qui sont les formes primitives de l'enseignement moral,
qu'elles soient faites ä Hammourabi, ä Moise, ä Zarathustra,
ä Orphee ou ä Minos.
En resume, le passage de Yirgile sur les cccoqol atteste
l'existence d'une source orphique oü les äoQOi etaient des
ßiaiod'dvatoiy c'est ä dire des enfants avortes; cette source
orphique a egalement inspire l'auteur judeo-egyptien de l'Apo-
calypse de Paul; eile a inspire l'enseignement du christianisme
en ce qui touche les devoirs physiques de l'homme envers
lui-meme et il resulte de lä, comme d'autres considerations
concordantes, que le christianisme ne derive ni du judaisme
sacerdotal, ni de l'hellenisme litteraire, mais de Teschatologie
populaire de la Grece greffee sur la cosmogonie des Hebreux.
Jupiter summus exsuperantissimus
Par Franz Cumont ä Bruxelles
Le musee de Berlin a acquis, il y a peu d'annees, un bas
relief provenant de Rome et portant une figure de Jupiter
avec la dedicace I(ovi) o(ptimo) m(aximo) summo exsupe-
rantissimo. Cette plaque sculptee a fait aussitot l'objet d'une
etude sagace de [M. Kekule von Stradonitz, qui a reconstitue
le monument auquel eile appartenait, retrouve son histoire,
apprecie ses caracteres arcbeologiques et determine sa date.^
II a montre que ce bas -relief avait fait partie d'une base tra-
vaillee au moins sur trois faces et que sur les deux cotes
etaient places les Dioscures. Le Jupiter qui occupait la par-
tie anterieure, etait represente tenant de la main droite une
patere et portant de l'autre une corne d'abondance.^ C'est une
image d'un style arcbaisant mais d'une epoque tardive; eile ne
remonte pas plus baut que la fin du IP siecle de notre ere
et doit etre attribuee sans doute au regne de Commode, qui
fit frapper des monnaies au type de Jupiter avec la legende
lovi exsup(eranUssimo)^j et qui, dans le calendrier introduit
^ R. Kekule von Stradonitz Über das Belief mit der Inschrift C. I. L.
j VI. 426 (Sitzungsber. Akad. Berlin XVII, p. 387), 1901.
1 ' Un type analogue est reproduit sur nne gemme de St. Peters-
j bourg dont Tauthenticite est certaine, quelqne bizarre qu'elle paraisse
i (Reinach Pierres gravees, pl. 123 No. 3 et p. 134; cf. pl. 120 N«. 3 et
I p. 124). On y voit nn Jupiter archa'isant, debout, coiflfe du modius de
»S^rapis, tenant d'une main une patere sur laquelle se pose une abeille
'; (ou un papillon selon Winckelmann) et de l'autre une corne d'abon-
■ dance.
1 ^ Cohen Monn. emp. rom. III ^ p. 261 Nos. 241, 242. Jupiter j est
i represente autrement que sur le bas -relief de Berlin: il est assis sur
■an trone et porte le sceptre — Annees 186—187.
324 Franz Cumont
par lui ä Rome, donna meme au mois de Novembre le nom
d'Exsuperatorius (en grec 'T^squCqcov)}
Si je reprends ici la parole a propos du monument de
Berlin, ce n'est pas pour combattre les conclusions de mon
eminent devancier — elles paraissent inattaquables — , mais je
voudrais etudier au point de vue religieux ce Jupiter etrange,
dont la veritable nature n'a pas, semble-t-il, ete expliquee
jusqu'ici. On verra que la composition arcbeologique de la
base romaine eu sera eile meme eclaircie.
* *
*
Je reunirai d'abord la serie des inscriptions oü apparait
le Jupiter exsuperantissimus. On peut dejä en les interpretant
en tirer des indications precieuses sur le caractere de ce dieu:
1. Rome. C. IL. YI. 416: I(ovi) o(pUmo) m(aximo) \ summo \
exsuper[an]\tissim[o] |. — Bas-relief de Berlin. D'apres
la forme des caracteres, il date environ de Tan 200 apr. J. C.
2. Italic. Luceria. C. I. L. IX. 784: [lovi optimo] \ maximo
sum\mo exsuperan\tissimo M. \ Aur(elius) Äugendus \ pro-
c(urator) s(aUuumF) A(pulorum?) pro sa\lute sua et M.
Aur(eli) \ Montani eq(uitis) R(omani) fili \ sui v(otum)
l(ihens) m(erito) solvit \ B(e)d(icata) VI [N]o[nas] Ma-
[i(as)].
La ligne 1 est restituee d'apres le numero precedent
(cf. N°. 4). La date de l'inscription est suivant Hirscb-
^ Lampride Commod. c. 11: Menses quoque in honorem eins pro
Äugusto Commodum, pro Septembri Herculem, pro Oetobri Invictum, pro
Novembri Exsuperatorium , pro Decembri Ämazonium ex signo ipsius
adulatores vocabant; cf. c. 12: Cum patre appellatus Imperator V Kai, Ex-
superatorias. Dion Cass. LXII, 15 (p. 297, 2 Boissevain) : nal ol fi'qvsg
ccTt' avtov TtdvTsg ins'KXrj%'7\6av , mexs y.axaqid'^slöd-ai avrovg ovtas'
kna^6viog,'AvL->iritog, EvTV%rig^ Evösß'^g, Äovynog, Al%Log, AvQ'qXiogf Ko^-
^Lodog, Avyovörog, ^HgaTiXsLog, '^Paficclog, 'TTisgalgav. avrbg yccQ aXXore äXXcc
(istsXd^ßciVE ta>v ovo^idroav, xov 8' 'A^a^oviov ■not xov 'TnsQalQOvrcc Ttayiag
kccvtat ^d'ETO mg yial iv itaeiv änX&g Tcävxag ccvd'QmTtovg yiad'' vnsgßoXrjV
VfK&V.
Jupiter surnmus exsuperantissimus 325
feld {Bie Kaiserl. Verwaltungsheamten^ p. 127) le com-
mencement du IIP siecle.
3. Äeca. C. L L. IX. 948 == Kan De love Dolicheno N^ 96:
lovi [D]o[l]ic[heno] \ exuperantissfimoj \ L. Mummius
Nig[er] \ Quintus Valeriufs] \ V[ejg[e]his SeverinfusJ \
Camdius Tertulflus] j co(n)s(ul) v. s.
La date du consulat est inconnue mais parait devoir
etre placee dans la seconde moitie du 11^ siecle (Dessau
Prosop, II p. 387 N°. 515).
4. Pres de Clusium. C. I. L. XL 2600 = Dessau Inscr. sei.
3003: lovi o(ptimo) m(aximo) siimm(o) \ exsuperantisfsij-
mo I T. Sextius Verian\us pro salute Cor\neliani f(ilii)
clarissimi virij consulis ....
Consulat de date inconnue.
5. Gaule. Ager Vocuntiorum. C. I. L. XII. 1533: [I(ovi)
o(ptimo) m(aximo)?] \ sjummo \ [C]n. H. S. \ [ex] voto.
Restitution tres douteuse.
6. Dacie. Carlsbourg. C. I. L. IIL 1090 = Dessau Inscr. sei.
2998: lovi summo ex\superantissimo \ divinarum hu\-
mananimque \ rerum rectori \ fatorumque ar\hitro ....
. . a \ et pro \ Ze^ |
7. Germanie. Utrecht. C. I. Rh. 55 = Dessau Inscr. sd. \
3094: lovi o(ptimo) m(aximo) \ summo exsuperantissimo , \
Soli invicto, Apollini, \ Lunae, Bianae, Fortunae, \ Marti,
Viäoriae, Paci \ [Q.J Antistius Adventus | leg(atus)
Aug(usti) pr(o) pr(aetore) \ dat.
Q. Antistius Adventus fut legat de Germanie sous
Marc Aurele ou Commode; cf. Prosopogr. I p. 85 N°. 589.
8. II faut rapporter sans doute ä la meme divinite l'inscrip-
tion suivante trouvee pres de Capoue. C. I. L. X. 3305
= Dessau Inscr. sei. 2997: I(ovi) o(ptimo) m(aximo) \
summo excellen\tissimo \ Maecius Prohus v(ir) c(larissimus),
praef(ectus) \ aliment(orum) , quod hoc in loco \ anceps
Archiv f. Eeligionswißsenschaft IX 22
326 Franz Cmnont
periculum \ sustinuerit \ et honam valetudi\nem recipera-
verit I v(otum) s(olvit).
Maecius Probus fut legat de Tarraconaise sous Sep-
time Severe et Caracalla (198 — 211 ap. J. C); cf. Prosop. II
p. 320 N°. 47.
Ainsi ces inscriptions, pour autant que leur date puisse
etre determinee, ne sont pas anterieures ä la seconde moitie
du IP siecle. Cette constatation confirme ce qui avait dejä
remarque M. Kekule (p. 395): „Si l'usage de l'epitliete Exsupe-
rantissimus ne s'est pas introduite sous le regne de Commode;
il s'est certainement alors generalise." Or, nous savons que
Commode temoigna une devotion particuliere aux cultes orien-
taux — comme tous les despotes sur le trone des Cesars. II
fut le premier empereur qui se fit initier aux mysteres de
Mitlira et qui figura en personne dans les processions isiaques.^
On pouvait donc s'attendre ä ce que le dieu qu'il honorait
d'une predilection speciale, au point de le faire figurer sur ses
monnaies et de le prendre en quelque sorte pour patron, ap-
partint, lui aussi, au pantheon asiatique et, de fait, c'est ce
qu' attestent les inscriptions : nous trouvons d'abord (N°. 7) le
Jupiter summus exsuperantissimus uni au Söl invidus qui est le
nom caracteristique des dieux solaires de l'Orient.^ Dans le
calendrier de Commode le mois Invidus etait pareillement rap-
proche d'Exsuperatorius^, et, de meme que la premiere epithete
appliquee au prince indique qu'il se considere comme le represen-
tant de Soleil sur la terre*, la seconde l'assimile au maitre des
dieux, ä Jupiter ou pour mieux dire ä Baal. Le N°. 3 nous
montre en effet le qualificatif d^ exsuperantissimus porte par le
Jupiter Dolichenus, le Baal de Doliclie en Commagene. Une autre
^ Lampride Commod. c. 9 ; cf. Mon. myst. MitJira I p. 231 et C. I L.
VI. 420 = Dessau Inscr. sei. 398.
^ Mon. myst, Mithra I p. 48 ss., cf. ibid. II p. 173 la dedicace lovi
fulgeratori (C. I. L. VI, 377) par un pretre nomme Exuperantius.
* cf. supra p. 324 n. 1.
■* Mon. myst. Mithra I p. 288. Cf. Usener Bhein. Mus. LX, 1905, p. 466 ss.
' Jupiter summus exsuperantissimus 327
dedicace d'un serviteur de ce Jupiter semitique (C. I. L. YI.
406 == 30758) est consacree Ex praecq)to I(ovis) o(ptimi)
m(aximi) D(olicheni) conservatori totius poli et numini praestan-
tissimo ... Ce dernier superlatif est un equivalent d^exsu-
perantissimus. Mais le plus explicite de nos textes est celui
(N°. 6) qui donne au nouveau Jupiter les titres de ^ydivinarum
humanarumque rerum rectoYj fatoruTnguearhiter". On en
rapprochera immediatement la celeßre dedicace bilingue ä Bei
I decouverte ä Vaison^: JBelus Fortunae rector mentisque ma-
! gister . . . Evd^vvtfJQi xvyjrig BtjXg) .... L'une et l'autre '
sont inspirees par les croyances astrologiques qui ä l'epo-
i que imperiale dominaient toute la religion de la Syrie.
I Le dieu supreme est le ,,Seigneur du ciel" (Ba^al samin) dont ,
les revolutions determinent tous les eyenements de ce monde '
et les pensees meme des hommes. II peut donc etre appele
i ä juste titre ^^l'arbitre de la Fortune^ le guide des choses
I divines et liumaines et le maitre de la pensee".
I Le caractere du Jupiter Exsuperantissimus , tel que nous
venons de le definir, permet de comprendre certaines particula-
Irites du bas relief — et de l'intaille — qui le representent.
I „C'est le seul Jupiter qu'on voie avec une corne d'abon-
! dauce" observait dejä Winckelmann.^ Mais cet attribut insolite
est celui de la Fortune, ä laquelle preside ce Baal oriental,
comme nous venons de le dire, et dans la dedicace que nous
;citions tantot, l'epitbete praestantissimo est suivie de celle
■d'exhihitorij c'est ä dire „nourricier''. En second Heu,
l'artiste a prete ä son Jupiter une apparence archaique, comme
le remarque encore Winckelmann, „um ihm eine entlegenere
Ursprüngliclikeit zu geben".^ Les cultes orientaux sont
en effet entoures du prestige d'une antiquite presque infinie.
Entin ainsi s'explique qu'on ait place ce Jupiter entre les
^ C. I. L. XIL 1227 = Dessau Inscr. sei 2997.
* Description des pierres du cabinet Stoscli, citee par Kekule
l c. p. 389. 3 Kekule Ibid. p. 388.
22*
X
328 Franz Cnmont
Dioscures, qui ne sont pas les compagnons habituels du
dieu latin. Les deux heros qui', suivant la legende grecque,
vivent et meurent alternativement, etaient devenus aux yeux
des theologiens la personification des deux hemispheres Celestes
qui passent tour ä tour au dessus et au dessous de la terre.^
Comme tels ils apparaissent sur un monument mithriaque
des deux cotes du dieu leoutocephale du Temps^, identifie avec
le Caelus aeternuSy et on les trouve frequemment dans les pays
semitiques ä droite et ä gauclie du Ba%l samtn^, dont notre
Exsuperantissimus est l'equivalent romain.
* *
Les resultats auxquels nous ont conduit l'interpretation
des monuments epigrapliiques et archeologiques sont confirmes
et precises par une Serie de passages d'ecrivains latins.
^ PMlon De decalogo 56 (II 189 M = IV, 281 Cohn- Wendland): Tov
Sh oiiQccvov slg Ji^iecpaiQia x& Xoyco dvavsiiiavTsg, t6 fihv VTthg y^g, ro dh vzb
yqg, JioöxoQOvg i>tdXs6av {ol ^vQ'oyQdcpoL), ro TTJg itsgrui^gov ^oo^g avtav
ytQOötSQatEvödfisvoL Siriyri^a. Julien Orat IV, 147 A (191 1. 2 Hertlein)
^H^iGcfavQici tov Tcdvxog xa dvo (sc. Dioscuri); Lydus De mensih. IV, 17
(p, 78 Wünscla): Ol cpiKoGocpoi tpaöL JLOß-Kogovg elvui xo vtco yfiv v,al
vTchg yfjv ii\Li6(puiQiov' xsXsvto)6L dh a^oißadov ^vd'LKÜg olov8l vtco xovg
&vxi-3to8ag i^ diioißfjg (pego^Evoi.. II est souvent question dans les astro-
logues de la rotation des cieux, qui fait passer successivement chaque
moitie au dessus puis au dessous de la terre du monde visible dans le
monde invisible. p. ex Manilius III, 421 {sex hdbeat supra terras sex
Signa sub Ulis) et l'extrait, attribue aux XccXSalot., Cat. codd. astr. V, 2
p. 132, 6 SS. * Mon. myst. Mithra I p. 85.
' J'ai cite divers monuments op. L p. 86 n. 1. — II y en a d'autres.
Une s^rie de steles puniques inedites conservees au British Museum nous
montrent ä la partie superieure (c'est ä dire dans le ciel) Jupiter ou
Saturne (c'est ä dire Baal) avec les Dioscures (Nos. 498, 501, 505, 516,
620, 522). Ceux-ci sont parfois rempla9es par un disque solaire et un
croissant, symboles du jour et de la nuit, — Cf. les dedicaces CLL.
VI, 413 = Dessau 4320: lovi Ddlicheno, Herae, Castorihus et CLL. II,
2407: . . Caelo, Castorihus. — II faut interpreter de meme les Dioscures
plac^s dans les coins superieurs d'une plaque estampee dont la figure
principale est Sabazius , plaque publice par Blinkenberg ÄrcMolog. Studien
1904, pLIL
Jupiter summus exsuperantissimus 329
Apulee, dont l'activite s'est prolongee precisement jusque
lus le regne de Commode; nomine au moins deux fois le
summus exsuperantissimusque deorum. D'abord dans sa traduc-
tion du TtsQl Tioöpiov il substitue ä une formule vague du
grec (6 xov xoö^ov hitiioav ^b6%) cette expression beaucoup
plus speciale. Ce qu'il entend par lä, c'est, conformement au
modele qu'il habille de son latin, un dieu qui reside „sur les
hauteurs les plus hautes du monde" et dont la puissance, re-
pandue dans toutes ses parties, fait mouvoir le soleil et la ;
lune, tourner la spbere entiere du ciel, et assure par leur \
intermediaire le salut des creatures terrestres.^ Le traite itBql i
xoö^ov n'est probablement pas anterieur au IP siecle de notre
ere, mais il reproduit les conceptions et souvent les paroles
meme de Posidonius d'Apamee^, dont l'influence sur le deve-
loppement de la tbeologie romaine fut immense. L'on a fait
observer^ que la position assignee par lui au dieu supreme
est en contradiction avec le pantheisme stoicien, et doit etre
consideree comme une concession faite aux croyances popu-
laires. La remarque acquiert maintenant une portee nouvelle,
puisque nous constatons combien cette idee que Dieu regne
au plus baut des cieux etait mise en relief, meme ä
Rome, par les cultes de la Syrie, pays dont Posidonius etait
originaire.
^ Apulee De Mundo c. 27 (p. 126, 15 6d. Goldbacher): Summus ex-
superantissimusque divum . . . si ipse in dito residat dltissimo eas autem
potestates per omnes partes mundi dispendat, quae sint penes solem ac
lunam cunctumque caelum. horum enim cura sdlutem terrenorum omnium
gubernari. Cf. c. 25 (p. 125, 2) : Summam illam potestatem sacratam caeli
penetralihus. Cf. IIsqI koö^ov c. 6, p. 398b 8 Bekker: Zs^voxbqov 8h kccI
7CQS7t(ods6TSQOv ccvTov (sc. tov d'sov) iTcl rf}s Scvatdra ^copag IdgveQ'cci,, trjv
dh dvvccniv diä TOV ev^Ttavtos xoöftov Sn^xovöav rjXiov rs Ktvstv xal
OsXrjvriv ytal tov TtdvTcc ovqccvov itBQidyBiv^ aitiov xs ylvsöd'cci totg i-rcl
y^g ßcotriQiag.
2 Cf. W. Capelle Die Schrift von der Welt {Neue Jahrb. für das
klass. Altertum VIII, p. 530 ss.).
8 Capelle l c. p. 28.
330 Franz Cumont
I
Le second passage oü Apulee nomme le dieu summ
exsuperantissimus , se trouve dans l'opuscule De Flatone^, oü il
combine avec la theologie du grand idealiste grec une foule
de doctrines en faveur sous les Antonins. La fa9on dont il
y definit ce dieu, repond ä peu pres ä celle dont il le con9oit
dans le De Mundo. 11 divise les puissances divines en trois
classes: la plus hasse est formee des genies locaux ou, pour
employer le terme grec, des „demons"; la seconde des habi-
tants du ciel (caelicoli) et en particulier des astres, enfin au
dessus des planetes et des etoiles fixes siege le dieu ,,seul et
unique, ultramondain et incorporel, pere et arcbitecte de ce
monde divin".^ Bien que ces qualites de l'Etre supreme soient
platoniciennes, le reste du developpement d'Apulee trahit une
tout autre influence: il s'y inspire des theories siderales des
astrologues.^ Je n'en veux pour preuve que la mention (c. 10)
de la „grande annee" dont le terme arrive quand toutes les
planetes se retrouvent ä leur point d'origine. Cette tbeorie
est ä l'origine „cbaldeenne" et fut probablement exposee
d'abord en grec par le babylonien Berose.^ Nous sommes
ainsi de nouveau conduits vers les cultes semitiques.
Mais nous connaissons par d'autres sources le Systeme
cosmologique des „Chaldeens" qui a inspire cette tbeologie
dont Apulee -se fait le predicateur. Suivant les astrologues
^ De Plat. I 12 (p. 73, 25 Goldbacher): Providentiam esse summi
exsuperantissimique deorum omnium qui non solum deos caelicolas ordi-
navit etc.
^ c. 11: Deorum trinas nuncupat species quarum est prima unus et
solus summus ille ultramundanus et incorporeus quem patrem et archi-
tectum huius divini orhis superius ostendimus.
^ Apulde cite expressement les Chaldaei dans un expose aDalogue
au däbut du de deo Socratis (c. 1, p. 5, 17 Gold.). — II est re-
marquable qu'Aulu- Gelle parle de Vexsuperantiam des planetes dans un
passage oü il combat ä la suite de Favorin les memes Chaldaei (XIV»
1, 12): Propter exsuperantiam vel splendoris vel altitudinis.
* Cf. Bidez Berose et la grande annee (Melanges Paul Fr^derieq.
1904, p. 9 SS.). Cf. Hippolyte l c. IV, 1 (p. 66 Cruice).
Jupiter summus exsuperantissimus 331
orientaux, le monde divin est une Trinite; il est un et
triple: il se compose de celui des etoiles fixes, inde-
composable, de celui des planetes partage en sept, et de
celui de la terre ä partir de la lune. Chacun des mondes
inferieurs re^oit du monde superieur une portion de sa puis-
sance et participe ä son energie, et la source de toute force
et de toute vertu reside dans la sphere la plus haute, une et
indivisible, qui regle les mouvements de toutes les autres parties
de l'univers.^ ^ ^
*
Un siecle avant Apulee la doctrine qu'il adopte etait
dejä populaire. En efi^et Stace y fait une allusion rapide mais
neanmoins tres claire. Dans la Thebaide (IV, 515) le devin
Tiresias evoque les ombres infernales; elles tardent ä paraitre;
il menace alors de les y contraindre par des procedes magiques:
ni te TJiymbraee vererer
et tripUcis mundi summum, quem scire nefastum.
Tiresias recourrait aux pratiques illicites de la magie, s'il ne
craignait ApoUon, c'est ä dire le Soleil, et l'Etre place ä la
tete de la triple bierarcbie du monde. Pourquoi ajoute-t-il
quem scire nefastum'^ Est ce simplement parce que ce dieu
lointain est inconnaissable^? II indique plus probablement qu'il
est celui dont on revelait la nature dans les mysteres orientaux,
lesquels se propageaient dejä du temps du poete.^ C'est du moins
^ Cette theorie des astrologues chaldeens est expos^e avec un grand
luxe de chiffres par Hippolyt. Adv. haeres. lY, 1 § 8 (p. 67 ss. ed. Cruice)
et V, 2 § 13 (p. 188 s.); noter surtout la phrase: Acc^ißciveLV ytoöiiov ccTtb
noe^iov dvvayiiv tiva xccl iiBTOVölav ytal ^Bxi%Biv tav vTtSQKSifievcov ta
vTcoKsiiiEvcc. — On sait que les Chaldeens affectionnaient la division des
dieux en triades. Comparer ce que dit Hippolyte de la triple division
des ämes enseignee dans les 'AggvqIcov rsXsrcci (V, 1 § 7, p. 145 Cr.
cf. p. 18 'ä66vqI(ov ^vetriQia). C'est ä cette doctrine que semble se rap-
porter un passage mutile de Firmicus Maternus De errore prof. rel.
c. 5 (p. 82 Halm). ^ cf p 333 ^ 2 H.
' Cf. note 1. — Ailleurs Stace mentionne de meme incidemment
les mysteres de Mithra {Thel). I, 719), qui commen9aient ä se repandre
de son temps.
332 Franz Cumont
I
ainsi que l'a entendu le commentateur de la Thebaide, Lact
tius Placidus.^
Mais nous trouvons une definition beaucoup plus explicite
du summus deus dans un passage de Ciceron qui offre avec
les chapitres d'Apulee {De Fiat 11) une ressemblance qui ne
saurait etre fortuite. Seulement le Somnium Scipionis^ oü se
trouve ce texte, est exempt de tout melange d'idees platoni
ennes, et il nous fait remonter ä une source dont la purete
presque inalteree, Decrivant la Constitution du ciel, Cicer
nous dit:^ Novem tibi orbibus vel potius glöbis connexa 5
omnia, quorum unus est cadestis extumus qui reliquos compl
titur, summus ipse deus, arcens et continens ceteros, in
sunt infixi Uli qui volvuntur stdlarum cursus sempiterni.
subiedi sunt Septem^ qui versantur retro contrario motu ai
caelum ... Le summus deus n'est plus ici, comme ob
Apulee, une puissance „ ultramondaine et incorporelle% c'es
une energie residant dans le ciel des etoiles fixes, qui embrasse
toutes les autres spheres. II est summus precisement parce qu'il
occupe dans l'espace la zone la plus eloignee de la terre.^ On
admet communement que la cosmologie et l'escliatologie mystiques
du Somnium Scipionis remontent ä Posidonius d'Apamee, auquel
nous serions encore une fois ramenes. En tout cas, l'auteur suiri
^ Lactantius Plac. Theb. IV, 516 (p. 228 Jahnke): Infiniti (?) autem
philosophorum magorum Persae etiam confirmant revera esse praeter hos
deos cognitos qui cohmtur in templis, alium principem et maxime domi-
num, ceterorum numinum ordinatorem , de cuius genere sint soli Sol et Luna ;
ceteri vero qui „circumferi" (mss. circumferri) a sphaera nominantur, eiuT~
clarescunt spiritu. On ne peut guere faire fond sur les donnees confuses
de ce compilateur infime, mais la correction circumferi me parait nean-
moins s' imposer. Lactantius a traduit par cet adjectif barbare le grec
TCEQltpSQStg.
* Cicer. Somn. Scip. 4 = De Bep. VI, 17.
* Cf. Macrobe Gomm. I, 17 § 2: Quod autem hunc extimum glohiim
qui ita volvitur summum deum vocavit, non ita accipiendum est, ut ipse
prima causa et deus ille omnipotentissimus aestimetur . . . sed summuvi
quidem dixit ad ceterorum ordinem qui subiecti sunt.
Jupiter summus exsuperantissimus 333
par Ciceron etait un adepte de l'astrologie Orientale *, et sa con-
ception du dieu supreme est entierement conforme a celle que la
theologie des cultes Syriens se faisait du Ba'^al samin: une force im- ^
manente qui fait mouvoir les cieux. Cette adoration du Ciel \
(OtfQavög) est, aussi bien que celle des astres, un des caracteres
saillants de la religion des „Chaldeens", et chaque fois que
Philon d'Alexandrie parle de ceux-ci, il ne manque pas de la
leur reprocher.^
* Cf. dans le meme developpement de Ciceron: Hominum generi
prosperus et salutaris ille fulgor qui dicitur lovis, tum rutilus horri-
hüisque terris quem Martium dicitis. Macrobe Comm. I, 19 § 2 re-
marque däjä que Tordre des planetes adopt^ par Ciceron est celui des
Chdldaei.
* Philon De Nobilit. 5 (II, 441 M.) et les nombreux passages r^unis
par Conybeare Philo ahout the contemplative life p. 133, 16. Comparer
l'Apologie d'Aristide c. 4. — L'adoration du Ciel parmi les populations
semitiques ^taient si generale que les Juifs, parfois mediocrement
orthodoxes, de la Diaspora paraissent l'avoir partagee en quelque mesure,
Ce n'est pas une simple meprise qui les a fait considerer tres fr^quemment
comme les adorateurs du caeli numen; cf. Friedländer ä Juvenal YI, 545
(summi internuntia caeli) et infra p. 334 n. 5. — C'est aux memes croyances
sämitiques que fait encore allusion Macrobe Comm. I, 14 § 2: Propter
illos qui aestimant nihil esse aliud deum nisi caelum ipsum et caelestia
ista quae cernimus. Et lorsqu'il affirme immediatement apres summi
omnipotentiam dei posse vix intellegi, il nous rappelle ce curieux de-
veloppement oü Philon , en invoquant les contradictions des doxographies, '
demontre que la nature du ciel est incompr^hensible {De Somniis. I, 4
§ 21 p. 623 M = III, 209 ed. Wendland); cf. Ps. Apul. Asclepius 19 (p. 41,
i 16 Goldb.): Caeli vel quicquid est quod eo nomine comprehenditur ovöiocq-
! X7i<s est lupiter. — De meme on parait avoir tire de l'unite de mouvement
! du ciel superieur, par Opposition aux planetes, l'idde que le dieu su-
I preme est infaillible: Favon. Eulogius Disput, de somn. Scipionis p. 12, 16
j Holder: Caeli orhes novem . . . Primus et summus est cctcXccv^s. Qui
i quia semper uno ac iugi conti nuatus agitur motu, nulli videtur errori
'■ subiectuni, . . . Ä-nXavri? a un sens physique et moral. — Sur le culte
I du Ciel dans les mysteres orientaux, cf. Mon. myst. Mithra I p. 87 ss.
j n faisait partie aussi de THermätisme. li' Asclepius dit (c. 3, p. 30,^7):
i Caelum., sensihilis deus^ administrator est omnium corporum quorum aug-
{ menta detrimentaque Sol et Luna sortiti sunt; mais il place au dessus du
! ciel le createur du monde entier. Cf. c. 9 (p. 34, 25): dilectus dei caeli
' cum his quae insunt omnibus.
334 Franz Cumont
Quel est l'equivalent grec du nom de Jupiter summiis'^
Le 7C6qI zööiiov appelle dans un passage son dieu supreme
VTtatog^, en reprenant un terme homerique (vTtarog d'S&v etc.).
Onretrouve celui-ci dans certains oracles en versrendus äl'epoque
romaine^; mais il ne semble pas que cette epithete poetique
du roi de l'Olympe ait jamais penetre dans le rituel des cultes
Syriens. C'est un autre qualificatif, tres rapproche de celui-ci,
qui j est applique ä Zeus: il est dit "Til;i6tog. Le nom de
Zeus Hypsistos ou Hypsistos, c'est un fait maintenant demontre,
designe en dehofs de la Syrie Jehovali. Mais dans les pays
semitiques il avait une signification beaucoup moins speciale.^
II s^applique dans plusieurs regions au Baal national, con^u
comme siegeant au plus haut des cieux.^ Un passage de Jean
Lydus^, oü celui-ci embrouille selon sa coutume des donnees
heterogenes, donne de Zaßa6d' une definition qui convient en
realite ä cet Hypsistos: il est dit 6 vjthQ rovg iztä TCÖXovg,
ce qui concorde absolument avec ce que les Latins nous
disent du Jupiter summus.
Pourquoi ä Rome a-t-on ajoute ä ce titre celui d^exsu2)e-
rantissimus, qui parait correspondre au grec ^ccvvTteQtarog'^^
^ IIsqI ^oö^ov p. 397 b. 24 Bekker: Tijv ^ihv ovv äv(atdx(o yioi nQÖa-
rriv t'Sgav avtos ^Xcc^ev, VTtaros ^h &LCi xovxo avoiiaöTat xal xcctcc tov
TCOLTirriv axQOtdtrj xopvqp^ tov öv^TtavTog xa^'L^gv^iivos ovgccvov.
^ Oracle de Claros citd dans Cornelius Labeon (Macrobe I, 18 § 24):
Tov xdvtcov VTtarov d'sbv ^inisv 'lam. Cf. Buresch Klaros p. 106 § 39:
"Egtl d's&v ficcKagcov VTtcctog ^sog.
^ Cumont Hypsistos p. 3 n. 1. Dussaud Notes de Mythologie syrienne
p. 122 SS.
* Cf. Lebas -Waddington Inscr. de Syrie, index de Chabot p. 10.
Sobernheim Palmyren. Inschriften p. 37 ss., qui montre (p. 43) que ce dieu
n'est autre que Ba'al samin. — Cf. Renan Mission de Phenicie p. 103:
@s& v^löta ovQCivicp. Ibid. p. 234: Jil ovQccvicp viplörcp. et le nom
d.'^TipovQdvLog dans Philon de Byblos (Dussaud p. 138).
^ Lydus De mensib. IV, 53 (p. 111 Wünsch): Kai I^aßaad" öh tcoX-
Xa^ov Isystai olov 6 vTihg rovg snta noXovg, xovtböxiv 6 dri^LOVQyog.
Cf. Orae. Sihyll. XII, 132: OvgdvLog Zaßaad' d'sog cccfd-itog ald-egi vaiav.
^ Dans le tcsqI koö^ov (397 a 15), le ciel est dit zy ^syB&si Tcavv-
Tcigtarog, De meme Hymn. Orph. IV. 8: (Ovgavh) TtavvTtSQrccre dat^ov
Jupiter summus exsuperantissimus 335
Övidemment pour montrer que ce dieu de l'ether le plus
eleve etait infininieiit saperieur ä tous les autres. La faveur
que Commode temoigna ä ce culte doit sans doute etre
consideree comme une premiere tentative pour organiser une
hierarchie officielle des etres divins et etablir au profit d'un
Baal semitique le monotheisme dans le ciel comme la mon-
arcliie regnait sur la terre, ainsi que le firent plus tard Helio-
gabale et Aurelien. De meme que Jupiter est exsuperantissimus
deorunif Commode est dit dans une dedicace des decurions de
Trevi omnium virtutum exsuperant(issima) , pour marquer que
Tempereur etait la plus puissante des forces (virtutes) par
lesquelles l'Etre supreme agit dans ce monde terrestre>
*
Cette etude nous a permis, si je ne m'abuse, de suivre
l'introduction en Occident d'une doctrine capitale de cette reli-
gion astrologique dont les fondateurs furent les Chaldeens, et
les legislateurs, les theologiens grecs de l'epoque alexandrine.
Elle s'introduit d'abord dans la litterature: c'est une conception
nouvelle dont un pbilosopbe s'est empare et qui lui fournit la
matiere de speculations originales. Puis, avec Tinvasion des
cultes Syriens, un dieu metapbysique, qui ne vivait que dans
{7Cccvv7t€Qtatos Bst applique ä d^autres dieux ibid. VIII, 17 ; XII, 6; LXVI, 5).
— Zeus est dejä dit icavvniQxaxos dans Callimaque Hymn. I, 91;
Jehovah dans les oracles Sibyllins fr. III, 3 (p. 230 Getfcken): 'Alla d'eog
(lovog slg TCccvvTt^Qtccrog \ dg ^S7toLriy.sv ovgavov rjsXiov rs xrA. Mais
d'autre part le nom du mois JExsuperatorius est rendu en grec par
! 'TnsQcciQcov cf. supra p. 324.
I ^ C. I. L. XIY, 3449 = Dessau Inscr. sei. 400. — Sur ce sens de
virtutes^ cf. Bev. de Philologie XXVI, 1902, p. 8; Lactantius Placidus ad
j Theb. IV, 516; August. Civ. dei IV, 11 = Varron. Antiqu. div. I fr.
! 15b, Agahd. — Cette interpretation theologique d'une expression tlieo-
: logique me parait preferable a celle qui verrait simplement dans
1 omnium virtutum exsup. Taffirmation que le courage (virtus) de Com-
I mode-Hercule surpasse toutes les autres bravoures. L'empereur
1 est en efifet Timage et le representant du Soleil sur la terre, et c'est
I avant tout par l'intermediaire du soleil, suivant la doctrine astrologique,
le dieu du ciel exerce son action ici bas. Cf. cependant p. 324, n. 1
336 Franz Cumont Jupiter summus exsuperantissimus
les livres, devient l'objet d'une adoration presque officielle;
il compte un empereur parmi ses devots, on lui consacre des
dedicaces jusqu' aux extremites de Tempire. II restera desor-
mais jusqu' ä la fin du paganisme un des aspects sous lesquels
on se plait a considerer la divinite la plus elevee du pantheon.
La conformite du mysticisme astrologique, dont le Somnium
Scipionis avait ete en latin la premiere expression, avec les
doctrines des mysteres orientaux assura ä cet essai de Ciceron
un regain de faveur et un surcroit d'autorite. On le copia et
on le commenta avec predilection.^ Le nom meme sous lequel
au IP siecle le dieu Celeste de l'astrologie avait ete venere
ä Rome, ne fut jamais oublie. Au milieu du IY% l'auteur de
TAsclepius^, interpolateur audacieux d'Hermes Trismegiste,
rend gräces dans la priere qui termine sa traduction au Sum-
mus Exsuperantissimus^, et encore vers l'annee 409, le paien
Nectarius ecrivant en Afrique ä S*. Augustin* lui disait: Cum
nos ad exsuperantissimi Dei cuUum religionemque compellereSj
lihenter audivi et finissait sa lettre par le souhait Deus sum-
mus te custodiat. Le Jupiter Syrien, adopte autrefois par Coi
mode, etait de venu presque chretien.
^ En dehors du Commentaire, erudit mais indigeste, de Macro]|
et de la Disputatio de Favonius Eulogius, eleve paien de S'. August
nous en trouvons la preuve dans Firmicus Maternus qui le copie dail
son astrologie, d'ailleurs sans le citer: le eh. III § 4 = Firmic. Mat. I, 5
§11: Sempiterni stellarum ignes qui glöbosae rotundidatis specie formati
circulos suos orbesque celeri festinatione perßciunt etc. C'est certaine-
ment parce que le Songe de Scipion etait d'accord avec les croyances
des mysteres orientaux, qu'il a ete sauve de la destruction.
^ Sur la date de YAsclepius, qui se saurait etre anterieur au milieu
du IVe siecle, cf. Bernays Abhandlungen ed. Usener p. 337 ss.
* Asclepius c. 41 (p. 61, 24 Goldbacher) : Gratias tibi, summe, ex-
superantissime. La preuve certaine que ces epithetes ne figuraient pas
dans Hermes , a 6t6 fournie par la decouverte du texte grec (Reitzenstein
Archiv für Religionsw. VII, 1904, p. 893 ss.). Je dois l'indication de ce pas-
sage ä l'obligeante erudition de mon coUegue M. Thomas.
^ Augustin. Epist 103 (Migne Patrol. lat. XXXIII p. 386).
Der Gottheit lebendiges Kleid
Von Marie Gothein in Heidelberg
In der Beschwörungsszene des Faust ist die Spannung aufs
liöchste gestiegen. Seinem „Du mußt, du mußt" gehorchend,
erscheint der Geist der Erde, und als sich der Übermensch
aufgerafft hat, der Flammenbildung ins Auge zu schauen, ent-
hüllt ihm der Geist sein Wesen, das zu begreifen er nicht
geschaffen ist, mit folgenden Worten:
In Lebensfluten und Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her,
Geburt und Grab
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Was ist „das lebendige Kleid der Gottheit", das am
sausenden Webstuhl der Zeit der Geist der Erde in ewiger
Bewegung schafft? Warum betont Goethe das Geschäft des
Webens so besonders, daß er es dreimal in den kurzen Worten
wiederholt?^
Die Beantwortung dieser Fragen führt uns hinauf in die
Zeiten, die auch den Griechen schon als halb sagenhafte er-
schienen, in denen orphische Denker und Theologen sich den
Kosmos mythisch zu erklären suchten. Unterirdische Grab-
funde, wie ägyptische Papyri haben in dem letzten Jahrzehnt
erwünschte Bestätigung dafür gegeben, daß die fragmen-
^ Die Kommentare geben über diese Stelle keinen Aufschluß.
338 Marie Gothein
tarischen Zeugnisse später neuplatonisclier Schriftsteller über
orphische Lehren aus echten Quellen geschöpft sind.^ So be-
kräftigt ein Papyrusfetzen, den B. Grenfell aus seiner Sammlung
publiziert hat^, ein längst bekanntes Zitat des Clem. Alexan-
drinus (Strom. YI 2, 9), wonach der orphische Weise Phere-
kydes, den die Alten einen Zeitgenossen des Thaies nannten,
folgenden Ausspruch getan hat:
„Zeus machte ein großes und schönes Gewand und stickte
darein die Erde und den Okeanos und das Haus des Okeanos."^
Aus dem Papyrus nun erfahren wir, daß es sich um ein Hoch-
zeitsfest handelt, an dem Zeus am dritten Tage der Braut das
Gewand überreicht. Die Braut aber, die in dem Papyrus-
fragment nur vv^cprj genannt ist, ist Chthonie, wie Diels nach-
gewiesen hat.* Denn Zeus, Chronos und Chthonie waren von
Uranfang da, und Chthonie nimmt den Namen rfj an, nach-
dem ihr Zeus die Erde als Geschenk gegeben hat.^ Die Erde
aber stellte sich Pherekydes als geflügelten Eichbaum vor,
über den Zeus das von ihm bestickte Gewand warf.^
Nach dieser Anschauung also ist Zeus selbst der Yer-
fertiger des bunten Gewandes, das er als Bräutigam der
X^ovCri-rfi verleiht. Das männliche Urprinzip beschäftigt sich
hier damit in bunten Farben Bilder hineinzusticken (jjtoiTcCXXei).
Die Gewandverfertigung war aber nach griechischer Vor-
stellung Frauenarbeit, — spottet doch Herodot darüber,
daß in Ägypten Männer der Webearbeit oblagen. So ist
^ Theodor Gomperz Griechische Denker, Leipzig 1896, I p. 69.
* Greek Papyri Ser. II New classical fragments and other greek and
latin papyri ed. by ß. Grenfell and A. Hunt.
^ Kern De Orphei Epimenidis Fherecydis theogoniis, Berlin 1888 p. 87.
Z<i? Tcoisl (päQog [liya ts "ncd ycalbv ■kccI iv ccvta TtOLmlXsL yfiv y,ai 'Slyrivov
■aal xä 'Slyrivov doa^ata.
* Diels H. Zur Pentemychos des Pherekydes^ Sitzungsberichte der
Berlin. Akad. 1897 p. 3 u. 4.
^ Kern a. a. 0. p. 84, Laertius Diogenes I 119 Zag [ihv -kcu Xgovog
riGav äsl "koI Xd'ovlr}' Xd'ovlifj dh ovo^icc iysvsTO Fi}, i-TtSL^rj avTjj Zag yfiv
y^Qccg diSot. ß Kern a. a. 0. p. 87, Clem. AI. Strom. VI 6, 53.
Der Gottheit lebendiges Kleid 339
denn auch die Gewandbereitung im orphischen Mythos von
Zeus auf eine weibliche Nachfolgerin übergegangen. In dem
reichen Gemisch mythischer Vorstellungen, die in dem orphi-
schen Kulte zusammenflössen, trat Demeter der Chthonie sehr
nahe, wenn sie nicht ganz mit ihr verschmolz, wie ihr Bei-
name /IriiiritriQ Xd'ovlcc zu verraten scheint.^ An anderer Stelle
wird allerdings den beiden Göttinnen ihr getrenntes Macht-
bereich zuerteilt.
jT^ (JLTJTEQ TtdvTcoVy JrjiirjteQ TcXovioöorsLQa.^
Mit Demeter vereint aber erscheint im Kulte immer die Tochter
Köre, die nun das Recht für sich in Anspruch nimmt, selbst
als Göttin der Erde, als Frühlingsgöttin die Gewandverfertigerin
zu sein. „So wird Köre, welche die Aufseherin der ganzen
Schöpfung ist, als Weberin überliefert.^"
Ebenso berichtet Proclus in Plat. Crat. p. 24, daß
Köre und ihr ganzer Chor, solange sie droben weilt, „die
Ordnung des Lebens weben".* Und mehr noch in neuplato-
nischer Sprechweise drückt sich Damascius aus, wenn er sagt,
daß Köre bei Orpheus Yerfertigerin des Gewandes sei, in das
sie, während sie oben ist, die Abbilder der Ideen hineinwebt.^
Ob dieser Vorgang, ob die Gabe des Zeus an Chthonie in dem
verlorenen orphischen Hymnos IIsTtXog^ besungen war, wird,
wenn nicht auch hier noch ein Papyrusfund Aufklärung bringt,
eine offene Frage bleiben müssen.
1 Diels a. a. 0. p. 7, Paus. III 14, 5. ^ Abel Orphica Frgm. 165.
' Abel a. a. 0, Frgm. 211 Porphyr, de antro nympharum XIV 15:
OuTCö y.a.1 TtccQCC rä 'Ogcpst 7} Koqt], ^tzsq iötl TCavrog tov önsiQOiiivov ^cpOQog
ißrovQyovCcc TCUQadidotcii. ^ Abel ebend.
^ Kern a. a. 0. p. 97 bei Damascius. Der innige Zusammenhang
des Gewandes, das Zeus uranfänglich einmal verfertigt, mit dem anderen,
das Köre eben gerade zur Frühlingszeit, „solange sie oben ist", erschafft,
scheint mir durch diese Fragmente völlig klar zu liegen und doch
„weiter zu führen", als Diels (a. a. 0. p. 4 u. 5) Erinnerung an den
Peplos der Athena, der bei den Panathenäen vorgeführt wurde.
^ Lob eck Aglaopham. 379.
340 Marie Gothein
Sicher aber ist es woM, daß der Mythos vom Raube der
Proserpina in alexandriniscb-neuplatoniscben Kreisen sieb am
blühendsten ausgestaltet hat. Sizilien hat frühe den Anspruch
erhoben der Schauplatz des Göttinnenraubes zu sein. Alle
uns überlieferten Nachrichten über orphische Korevorstellungen
stammen von neuplatonischen Schriftstellern. Ihren Kreisen
nahestehend müssen wir uns auch den Dichter denken, der
noch im sinkenden Altertum den Raub der geliebten Tochter
der Demeter durch Pluto mit all der Zierlichkeit und dem
Überschwang dieser letzten höfischen Dichterblüte besungen
hat.^ Claudian, der sich selbst gerne mit Orpheus vergleicht^,
hat auch diese Sage nach orphisch-sizilianischer Überlieferung
behandelt. So ist auch bei ihm allein Proserpina- Köre als
Weberin^ dargestellt: in Henna am Ätna sitzt wartend der
Heimkehr der Mutter das geliebte Kind und webt für diese
ein Geschenk^:
Hie elementorum seriem sedesque paternas
Insignihat acu: veter em qua lege tumultum
Discrevit Natura parens et semina iussis
Biscessere locis.
Da ordnet sich alles: Erde, Meer und Sterne. In bunten
Farben wird das Meeresgestade gewebt
credas illidi cautihus algam
Et raucum hihulis inserpere murmur harenis.
Die fünf Zonen werden hinzugefügt, man kann ihr Klima
und ihre Vegetation erkennen, und alles wird vom Okeanos
umflossen. Durch die Ankunft der Göttinnen Minerva und
Venus wird Proserpina an der Vollendung des Gewandes
gehindert.
^ Claudian JRaptus Proserpinae ed. S Jeep 1875.
^ Siehe Kl. Ged. I und Widmung zu Baptus Proserpinae.
^ In beiden Versionen des Mythos bei Ovid Fasti IV 417 flf. und
Metam. V 341 ff. fehlt dieser Zug. * Baptus Pros. I 237 ff.
Der Gottheit lebendiges Kleid 341
Hier zum erstenmal haben wir also in ausgeführtem
Bilde die Worte des Pherekydes: die Erde und der Ozean
sind dargestellt und die Sterne in die Luft aufgehängt, doch
auf der Erde ruht der Nachdruck. Wenn also orphische Über-
lieferung Claudian zu dieser Webszene angeregt hat, so waren
doch andrerseits solch reich gestickte oder gewebte Gewänder
damals schon ein poetisches Inventar, das sich vererbte von
Dichter zu Dichter. Schon CatuU hat im Epithalamium von
Peleus und Thetis auf einem Gewände den ganzen Mythos von
Ariadne, die von Theseus verlassen wird, gewebt gesehen.*
Virgil läßt Aneas ein königliches Gewand, auf dem eine
Jagd auf dem Ida eingewebt ist, als Siegespreis aussetzen.*
Ovid aber benutzt den Webestreit zwischen Minerva und
Arachne, um gleich eine ganze Fülle verschiedener Szenen,
besonders Liebesabenteuer der Götter, in die Gewänder zu
weben.^ Und Claudian selbst hat zu wiederholten Malen noch
solche Bildergewänder in seinen Gedichten erwähnt: so bringt
Roma dem Stilicho das kostbare Gewand, auf dem die Zukunft
seines Hauses dargestellt ist,^ Diese ganze Kunstweise, wohl
schon bei den alexandrinischen Dichtem ausgebildet, ist doch
wieder nur ein Zweig jener Schilderungslust von Bildwerken,
mit denen römische Dichter ihre Werke auszierten, und die
sie bald von Tempelmauern, bald von Schiffen, Waffen usw. ab-
lasen. Alle aber leiten sich schließlich doch aus der einen
Quelle, dem kunstreichen Schilde, den Hephaistos für Achilleus
schmiedet, her.
Für Claudian aber war dies Weben des Gewandes der
F*roserpina doch noch etwas anderes, als für alle die anderen
römischen Dichter, es sollte in allegorischem Bilde das
Weben des Erdengewandes dargestellt werden, das durch
^ CatuU LXIII 50 ff. « Virgil Aen, V 250.
3 Ovid. Metam. VI 1 ff
* Carm. XXII, Siehe auch Karl Purgold Archäologische BenierJcimgen
zu Claudian und Sidonius Gotha 1878 p. 108.
Archiv f. Eeligions Wissenschaft IX 23
342 Marie Gothein
den Raub der Frühlingsgöttin unterbrochen, unvollendet ge-
lassen wird.
Und gerade diese Allegorie des Gewandes, in das der
Kosmos bineingewebt ist, bat durcb das ganze Mittelalter und
darüber hinaus gewirkt, auch als man seine Weberin längst ver-
gessen und eine andere an ihre Stelle gesetzt hatte. In die speku-
lativen Träumereien mittelalterlicher Dichter wollte eine so fest
umrissene Persönlichkeit wie Proserpina nicht mehr passen,
auch fand ihr Mythos vom Raube durch den Unterwelts-
beherrscher in dem christlich gefärbten Piatonismus späterer
Zeit keinen Platz mehr. An Stelle der griechischen Göttin
der Natur trat nun Natura selbst als Göttin auf. Allerdings
ist Natura -Physis auch schon in einem orphischen Hymnos j
als Göttin personifiziert, zu der man flehen und um deren
Schutz und Gaben man bitten kann.
nun geht es nach der Weise der Hymnen durch 28 Verse
mit verschiedenen Beinamen der Göttin, bis zum Schluß die
Bitte kommt:
alXd, '9'fa, lixo^ial (>£, 6vv evoXßoiöLV iv &QccLg
EiQTivriv^ vyiHav ayetv^ av'6,'Yi(SLV äjtavxGiv}
Doch zeigt vielleicht gerade diese schier unerschöpfliche
Fülle der Beinamen, die der Göttin im Hymnos beigelegt
werden, daß man sich nur ein sehr zerflossenes Bild von ihr
machte, und daß sie bei den Orphikern gegen Chthonie und
Köre -Demeter nicht an lebendiger Gestaltung aufkommen konnte,
wohl auch nie einen eigenen Kult gehabt hat. Auch in späterer
Zeit macht die griechische Dichtung nur schwachen Gebrauch
davon, die (pvöig zu personifizieren.^ In einem Pseudolucianischen
^ Orphica rec. G. Hermann p. 267.
^ Hardy Der Begriff der Physis in der griechischen Philo-
sophie kommt zu einem ganz negativen Resultat, was die Personi-
fikation der ^vöLg anbetrifft.
Der Gottheit lebendiges Kleid 343
Dialog ''EQCJtag (19) wird sie von dem Verfechter der Frauen-
liebe gegenüber der Knabenliebe als Zeugin angerufen und
dabei Allmutter, heilige Wurzel der Schöpfung genannt. Ähn-
lich ablehnend hat sich lange auch die lateinische Literatur
verhalten. Wir finden anfänglich nur eine ganz seltene Ver-
wendung des Wortes Natura, erst befruchtet durch die reiche
Bedeutung des griechischen Begriffes gelangt die Sprache zu
der Vieldeutigkeit dieses Wortes.^ Noch Lucrez in seinem
nach der Natur genannten großen Werke, De rerum natura,
personifiziert nicht die Natur selbst. Wo wir dies vielleicht hätten
erwarten können, in seiner wundervollen Einleitung, sehen wir
statt ihrer Venus, die zeugende Frühlingsgöttin, erscheinen,
ausgestattet mit allen Eigenschaften, die eine spätere Zeit auf
I die Natura selbst übertrug. Erst Claudian wieder führt mit dem
I Reichtum von Allegorien, die seine Gedichte beleben, auch die
i Natur gerne, wenn auch nie an hervorragender Stelle, ein. So
tritt in einem seiner Gedichte Natura als Türhüterin auf, sie
öffnet Sol den Eingang zur Höhle der Zeit.^ An anderer
j Stelle berichtet Jupiter im Götterrat, als er den Mythos vom
I Raube der Proserpina seinen versammelten Untertanen er-
klären will:
Nunc mihi cum magnis instat Natura querelis
Humanuni relevare genus.^
Natur habe ihn einen harten Tyrannen gescholten und ihn
an die Herrschaft des Vaters erinnert. Doch im Olymp selbst,
wo doch bei dieser Gelegenheit alles zusammengerufen ist:
pleheio stat cetera more iuventus
Mille amnis^
treffen wir sie nicht an. Gerade aber dies Bild der klagenden
Natur, das Claudian hier zuerst einführt, hat nach langen Jahr-
^ J. Claßen Zur Geschichte des Wortes Natur. Frankfurt 1863
p. 11. Festschrift der Senkenbergschen Stiftung.
^ Carm. XXII 422 ff. » Baptus Proserpinae HI 33 ff.
* Bapt. Pros. IE 15 ff.
23*
344 Marie Gothein
hunderten die Phantasie der späteren christliclien DicMer
beflügelt.
Wir müssen bis in den Anfang des 12. Jabrbunderts herunter-
gehen, um der Göttin Natura wieder zu begegnen. Um diese Zeit
blühte in der Schule von Chartres, die die platonische Philosophie
wieder neu beleben wollte, wenn auch mit sehr geringer Kenntnis
Piatos selbst, da ihr nichts als das Timäusfragment des Chal-
kidios bekannt war^, der jüngere Bernhardus Silvestris. In
einem Gedichte, De mundi universitate ^, macht er den Ver-
such mit Piatos kosmologischen Phantasien zu wetteifern. Hier
nun sehen wir der Göttin Natura den obersten Platz nach
dem Schöpfer angewiesen. Er läßt die Göttin „klagend fast
bis zu Tränen" vor Nous ( Providentia Dei) erscheinen mit der
Bitte, das (^haos zu einem Kosmos zu gestalten, Nous will-
fährt und sendet zum Schluß Natura aus, um Urania, die
Herrscherin der Sternen weit, und Physis „quae rerum omnium
peritissima est" herbeizuholen, um mit ihnen vereint den
Menschen zu schaffen. Durch die Zweiteilung der Natura und
Physis aber verhindert sich Silvestris selbst, der Natura wirk-
lich lebensvolle Züge zu leihen; sie ist die oberste Helferin
und Beraterin des Nous, die Verwalterin des Gesetzmäßigen im
Weltall, die eigentliche Göttin der Erde ist Physis, der Urania,
die Herrscherin im Gebiete der Sterne, gegenübersteht, so daß
das Bild der Allvermittlerin Natura ihm unter den Händen
zerfließt.
Hier gebührt Alanus de Insulis der Ruhm, mit seiner Kon-
zeption der Natura das Vorbild geschaffen zu haben, das bis
in die Renaissance und darüber hinaus die Dichter begeistert
hat. Sein Gedicht De Planctu Naturae^, das wohl das
^ Schaarschmidt Joh. Saresberiensis nach Leben, Studien, Schriften
und Philosophie. Leipzig 1862 p, 73 ff.
2 Bernhardus Silvestris De mundi universitate ed. S. Barach u.
Joh. Wrobel, Innsbruck 1876.
» Migne Patr. Lat. CCX 431 ff.
Der Gottheit lebendiges Kleid 345
früheste seiner Werke ist, gilt der Bekämpfung der wider-
natürlichen geschlechtlichen Laster. Dem Dichter selbst er-
I scheint im Traum Natura klagend über die Verderbnis des
Menschen, den sie geschaffen; in langem Dialoge mit dem
Dichter werden die einzelnen Laster besprochen und den Tugen-
den entgegengesetzt, bis sie schließlich durch die Ankunft
! des hochgeehrten Hymen unterbrochen werden. Natura be-
schließt, diesen mit einem Briefe zu ihrem Hohenpriester
Genius zu senden. Dieser erscheint und spricht ein Anathema,
j eine Exkommunikation über alle, die diesen Lastern huldigen,
aus. Alanus war weder dichterisch noch philosophisch ein
sehr tiefer Kopf, doch wenn ihm der hohe Flug der Phantasie
des Bemhardus auch fehlt, so ist es ihm dafür gelungen, die
Göttin Natura wirklich lebendig zu gestalten.
Mit allem Aufwand an begeisterten Worten wird die
Schönheit ihres Leibes geschildert. Das Wunderbarste an ihr
aber ist das Gewand, das sie trägt. Die Jungfrau hat es mit
eigenen Händen gewebt, dreifarbig umgibt es ihren Leib, zu
oberst blau, der Luft gleich, von so großer Zartheit des Gewebes,
„ut crederes esse naturam, in qua, prout oculis pictura imagina-
tur, animalium celebratur concilium".^ Nun folgt eine lange
Aufzählung von Geschöpfen der Luft, die man mit ihren Schick-
i salen, Lebensgewohnheiten und Eigenschaften abgebildet sieht,
I und dem entsprechend schauen wir auf den unteren Gewändern
' die Geschöpfe der Erde und des Meeres, alle als lebendig,
handelnd. Selbst Hemd und Strümpfe, die der Dichter nicht
sieht, glaubt er bemalt mit den niederen Wesen, wie die Stiefel
I Pflanzen und Blumen aller Art aufweisen. Es ist unschwer zu
! sehen, woher Alanus diesen Gedanken nahm. Er selbst weist
uns auf Claudian, als den Dichter des Altertums, der ihn damals
am meisten beschäftigte. Sein bald darauf entstandenes Gedicht
— der Anticlaudian — ist im Wetteifer mit dem Dichter des aus-
* Migne a. a. 0. 435 D.
346 Marie Gothein
gellenden Altertums geschrieben.^ Alanus überträgt also hier
zuerst die uralte Funktion der Köre auf seine neue Göttin, die
von nun an bei den christlichen Dichtern die Stelle der Demeter-
Kore einnimmt. Dem mittelalterlichen Dichter freilich ward
diese Gewandschilderung in erster Linie ein Mittel, didaktische
Zwecke zu verfolgen: gerade bei den uns heute so ermüdenden
Aufzählungen dürfen wir nicht vergessen, daß sie der seiner
naturgeschichtlichen Kenntnisse frohe Dichter einem lern-
begierigen Leserkreis darbot. Neben Claudian hat dann auch
Boethius' Consolatio philosophiae auf Alanus eingewirkt, nicht
nur daß er, wie auch schon Silvestris in De mundi universi-
tate die äußere Form, die Mischung von Poesie und Prosa für
beide Gedichte wählt, nein auch schon Boethius läßt seine
Philosophia mit einem Gewände bekleidet sein, das sie mit
eigenen Händen gewebt hat und das mit symbolischen Zeichen
und Bildern bedeckt ist,^ So benutzt auch Alanus überhaupt
solche Gewandschilderungen, um das Wesen seiner allegorischen
Gestalten damit zu erklären; die Tugenden, die Natura gegen
die Laster sich zum Tröste aufruft, zeigen auf ihren Gewändern
allerlei Fabeln eingewebt, die zu ihrer Verherrlichung dienen^,
und Hymen trägt ein Kleid „in quibus picturarum fabulae
nuptiales somniabant eventus.* Im Anticlaudian ^ trägt fast jede
der sehr zahlreichen allegorischen Gestalten ein figurenreiches
Gewand, das dazu dient, uns ihr Wesen verständlicher zu machen.
^ Migne a. a. 0. 487 ff. Der etwas irreführende Titel dieses Ge-
dichtes erklärt sich daher, daß Claudian in einer Invektive gegen den
Minister des Honorius Rufian, den Antirufianus, von Alecto den schlimm-
sten aller Menschen, Rufian eben erschaffen läßt; des Alanus Thema da-
gegen beschäftigt sich mit der Schöpfung des besten aller Menschen.
^ Boethius Consol. Prosa I 1.
^ De PI. nat. 473 A. Castitas z. B. trägt ein Gewand, auf dem wir
die Geschichten des Hippolytus, der Daphne, Lucretia, Penelope ein-
gewebt sehen. '^ De PI. nat. 472 B.
^ Dazu 0. Leist Der Anticlaudianus , ein lat. Ged. d. 13. Jahrh. und
sein Verfasser Alanus de InsuUs Beilage z. Programm des Gymnas. zu
Seehausen 1872—1882.
Der Gottheit lebendiges Kleid 347
Auch in diesem zweiten Werke des Alanus tritt die Göttin Natur
klagend auf, auch hier erpreßt der Fall und die Verderbnis
des Menschen ihr Tränen, doch beschließt sie hier, als Segen
und Heilmittel den „besten Menschen" zu schaffen, und beruft
dazu eine Versammlung der Tugenden. Die persönliche Schilde-
rung der Göttin und mit ihr das Gewand läßt der Dichter hier
mehr zurücktreten, um sich nicht zu wiederholen, dagegen
iiören wir ausführlich von ihrem Palast und Garten: einsam
wohnt sie, wo in ewigem Frühling immer junges Grün sprießt,
ferne von aller Krankheit; alle Sinne werden angenehm berührt.
Ein Wald umgibt den Berg, auf dem der Palast liegt, wo die
Bäume Blüten und Früchte zugleich tragen, und silberne Quellen
durchrieseln ihn, während auf den Ästen der Gesang der Vögel
niemals verstummt,^
Mit ähnlichen Worten hatte auch schon Bernhardus Sil-
vestris Granusion geschildert, den Aufenthalt der Physis, dessen
Namen er herleitet „quia granium diversitatibus perpetuo con-
cubescit".^ Auch Silvestris hatte solche Schilderungen nicht er-
funden. Henna, den Aufenthalt Proserpinas, schmückt Claudian
mit allen solchen Reizen. Größere Übereinstimmung mit Alanus
insbesondere zeigt aber ein anderes Gedicht des Claudian, sein
l]pithalamium für Honorius und Maria, die Tochter seines
Gönners Stilicho.^ Hier wird die Wohnung der Venus auf
Cypern geschildert, die in allen Einzelheiten mit dem Palast
der Natur übereinstimmt: der stille, von einem Walde um-
gebene Berg, auf dem der Palast steht, der ewige Frühling, fern
von Frost, Winden und Wolken, die Vögel, die hier erst zu-
gelassen werden, wenn sie vor Venus ein Examen abgelegt
haben, die Quellen, die den Hain durchrauschen. Ovids goldenes
Zeitalter und TibuUs Liebesgarten* sind römische Vorbilder,
^ Migne a. a. 0. 490 A ff.
^ De mundi universitate II, IX 15 ff. ' Carm. X.
^ TibuU I 3, 57 — 64.
348 Marie Gothein
die Claudian Anregung gegeben haben mögen. Mit breitem
Pinsel malt Alanus dieses Heim der Natura aus und findet
dann zum Schluß auch noch den Ersatz für die fehlende
Gewandschilderung, indem er in den Gemächern des Palastes,
auf die Wände gemalt, solche „lebende" Szenen erschaut.
Hie Jiominum mores picturae gratia scribet
0 nova picturae miracula transit adesse
Quod nihil esse potest}
Die Göttin Natura aber war, gerade wie sie bei Alanus sich
gestaltete, für das dichtende Mittelalter, das immer wieder eine
Neigung zu neuplatonischem Pantheismus zeigte, eine überaus
glückliche Erfindung. Hinter Alanus Natura steht Gott, als der
„mundi elegans architectus"!^ Er selbst hat die Natura und
mit ihr einmal die ganze Welt geschaffen. Dann aber hat er
beschlossen, selbst nicht mehr einzugreifen, untätig, unnahbar
zu bleiben. Statt seiner hat er nun die Natura als seine Stell-
vertreterin, „vicaria% eingesetzt. Alanus braucht gerade dieses
Epitheton wiederholt^, und wir werden sehen, wie es später zu
einer Art Amtsbezeichnung der Natur wurde. Sie ist die Königin
der Welt* und steht mitten in der Schöpfung, als Wächterin über
alles Gesetzmäßige; alles Werden und Vergehen ist ihr Werk,
der ewige Wechsel des Individuums, die Dauer der Art.^
Doch als erschaffen ist sie fähig menschlichen Empfindens, der
Klagen, Tränen, Freude, darin ähnlich den griechischen Göttern,
besonders dem Göttinnenpaar, das sie in so vieler Hinsicht ver-
drängt hat: Demeter und Köre.
^ Migne a. a. 0. 491 A.
^ De planctu naturae Migne a. a. 0. 453 B.
» De pl. nat. Migne a.a.O. 442 C, 453 D, 476 B, 479 A.
* De pl. nat. 479 A.
° Vgl. M. Baumgartner Die Philosophie des Alanus de Insults.
Beiträge zur Geschichte des Mittelalters ed. Cl. Bäumker u. Hertling
B. II Heft II.
\
Der Gottheit lebendiges Kleid 349
Und hier möge nocli auf einen eigenartigen Parallelismus
der Mythenbildung hingewiesen werden, der freilich nur beweist,
wie ähnliche Spekulationen über den Weltwerdeprozeß sich auch
zu ähnlichen Bildern gestalten. Wie einst dem orphischen
Theologen zufolge Zeus, das Urprinzip, einmal das Gewand
der Schöpfung verfertigte und es dann der Göttin der Erde
übergab — wie dann aber jährlich aufs neue dies Gewand neu
geschaffen wurde von der Göttin der Erde, so dachte sich auch
der mittelalterliche Dichtertheologe seinen Gott als den ein-
üiahgen Urschöpfer des Kosmos. Dann aber übergibt er ihn
der Natura, damit er von dieser ewig neu hervorgebracht werden
sollte. Diese durchsichtige Allegorie des personifizierten Begriffes
Natur war es gerade, die dem mittelalterlichen Empfinden so
ganz entsprach, so daß die große Wirksamkeit, die unser „doctor
universalis" gerade mit dieser Schöpfung auf die nächstfolgenden
Epochen ausgeübt hat, wohl erklärlich ist.
Wahrscheinlich zu gleicher Zeit wie Alanus, vielleicht sogar
ohne Abhängigkeitsverhältnis, führte ein anderer lateinischer
Dichter die Göttin Natura in seinem Werke ein: Johannes von
Anvillein seinem „Architrenus". Der Zisterzienser Mönch hat hier
das uralte Thema von der Himmels Wanderung, die auch den
wesentlichen Inhalt von Bernhardus Silvestris und Alanus
Dichtungen ausmacht, zu einer allegorischen Wanderung auf
der Erde umgewandelt. Der Wahrheit und Glück suchende
Jüngling gelangt auf seiner Pilgerfahrt zu einer Reihe allego-
rischer Orte, dem goldenen Haus der Venus, dem „coUis prae-
sumptionis", dem „mons ambitionis", allerdings auch nach Paris,
„der mißachteten Wissenschaft", bis er zum Schluß auf der Insel
Thylen (Thule?) die versammelten Philosophen findet, die ihn
zuletzt zu der ewig jungen Göttin Natura führen, die er in
ihrem Garten antrifft, wo ewiger Frühling herrscht. Sie belehrt
ihn über die Entstehung des Kosmos, was ihn aber über die
menschliche Unzulänglichkeit nicht tröstet, erst als sie ihm eine
Frau verspricht, sieht er sein Glück vor sich. Die Hochzeits-
350 Marie Gothein
feier, bei der die Tugenden Dienerinnen sind, wird dann mit
großem Prunke gefeiert.^
Auch in die leichte Yagantenliteratur ist die Personifikation
der Natura eingedrungen. In dem Streitgedicht Helena und
Ganymed, das der im Mittelalter nur zu brennenden Frage der
Bekämpfung der Päderastie gewidmet ist, wird Natura als Scbieds-
ricbterin zwischen Helena, der Vertreterin der Frauenliebe, und
Ganymed, dem Verfechter der Knabenliebe, aufgerufen, in ihrem
Hause findet der Streit statt, und sie wird genannt:
genetrix Natura
de secreta cogitans verum genitura
hilem muUifaria vestiens figura
certo res sub pondere creat et mensura^,
was eine direkte Abhängigkeit von Alanus nicht unwahrschein-
lich macht.^
Die größte und nachhaltigste Wirksamkeit war Alanus'
bevorzugter Göttin bei den Dichtern der Vulgärsprachen vor-
^ Kuno Francke Ärchitrenus, Forschungen zur deutschen Geschichte
B. XX p, 473 ff. Francke glaubt, daß nicht die Moderantia die Frau
sei, die Natur dem Ärchitrenus verspricht, sondern eine von Fleisch und
Blut (Schlußanm. p. 502), während doch einige Handschriften die Über-
schrift des Schlußkapitels „Nuptiae Architreni et Moderantiae" tragen.
Der Auszug aus dem Gredichte ist gerade für diese Partien zu un-
genügend, um ein eigenes Urteil darüber zu haben, doch würde die alle-
gorische Frau dem Geiste des Mittelalters und des Gedichtes weit mehr
entsprechen. Ob die Tabula Cebetis auf den Ärchitrenus eingewirkt
hat, wage ich nicht zu entscheiden, seine eigentliche Verbreitung hat
dieses merkwürdige kynische Schriftchen aus dem ersten Jahrhundert nach
Chr. erst durch die Humanisten erfahren, anderseits kannte es Tertul-
lian: mens quidem propinquus ex eodem poeta inter cetera stili sui otia
pinacem Cebetis explicuit (s. Schanz Gesch. d. röm. Litt. HI ^ S. 45) und
die ganze Pilgerlebensreise zur wahren Glückseligkeit, die dem mittel-
alterlichen Empfinden sehr entsprechen mußte, hat einige Ähnlichkeit
mit dem Ärchitrenus.
* Zeitschrift] für deutsches Altertum. Bd. 18 p. 124 ff., siehe auch
ebenda Bd. 22 p. 256 ff. u. 43 p. 169 ff.
* Langlois Origines et Sources du Roman de la Böse. Paris 1890
p. 57. Langlois kann mit der Altercatio Ganimedis et Naturae kaum
etwas anderes meinen, als unser oben besprochenes Gedicht.
Der Gottheit lebendiges Kleid 351
behalten. Naturgemäß war es die französieclie Literatur, die am
stärksten davon beeinflußt wurde. Doch gehört nicht ihr die
früheste Nachahmung an; ein Werk in italienischer Sprache
vielmehr, der Tesoretto Brunetto Latinis, des Lehrers Dantes,
führt uns zuerst Natura in der Weise des Alanus vor. Latini
schrieb seinen Tesoretto während seiner Verbannung auf fran-
zösischem Boden, zu gleicher Zeit wie sein großes enzyklopä-
disches Werk le Tresor, mit dem er dem Volke, das den Flücht-
ling gastlich beherbergte, das erste große enzyklopädische Prosa-
werk in französischer Sprache schenkte. In kürzerer, faßlicherer
Form, in seiner Muttersprache und in gebundener Rede, wollte
er hier nach seinen eigenen Worten die gleichen Resultate den
schwächeren Geistern, die die Wucht der Wissenschaft nicht er-
tragen könnten, zugänglich machen, und darum wählte er die
allegorische Einleitung. Der Dichter erzählt, wie er, noch ganz
überwältigt von dem schmerzlichen Eindruck, den ihm die
Niederlage der Ghibellinen in Florenz gemacht hat^, sich im
Walde verirrt. Hier trifft er, umgeben von allerlei Geschöpfen,
Männern, Frauen und Tieren, eine hohe Frau. Sie erscheint
ihm immer wechselnd, bald den Himmel zu berühren, bald die
Erde selbst zu sein, die sie mit ihren Armen umschließt.^ Er
bewundert ihre große Schönheit, die allerdings ziemlich dürftig
geschildert wird, worauf sie sich ihm als Natura offenbart, die
von Gott geschaffen sei und mit Alanus' Worten heißt es dann
Chosi in terra e in aria
M'a fatto sua vicliaria.^
Dann offenbart sie ihm das Weltbild in seiner Entstehung,
um dieser Betrachtungen willen hatte ja einzig Brunetto die
^ Danach würde die Abfassungszeit bald nach 1260 zu setzen sein.
^ Hier hat Boethius unmittelbar gewirkt. Bei der Schilderung der
Philosophie heißt es (Pros. I, 1) Nam nunc quidem ad communem sese
liominum mensuram cohibebat nunc vero pulsare caelum summi verticis
cacumine videbatur.
^ Zeitschrift für germ. u. roman. Philologie VII 236, B. Wiese Der
Tesoretto des B. Latini Cap. III v. 315.
352 Marie Gothein
allegorische Einkleidung von Alanus geborgt. Jedoch ist die
Kosmologie hei weitem christlicher gefärbt als bei den latei-
nischen Dichtern, einmal ist das Sechstagewerk als Leitfaden
für die ganze Darstellung gewählt, dann aber ist Gott selbst
nicht nur der einmalige Schöpfer, sondern auch fortwährender
unmittelbarer Leiter; Natura wird nicht müde zu betonen,
daß sie nur die ausführende Hand des jedesmaligen göttlichen
Befehles ist.
Alanus' Göttin dagegen hat mit dem spezifisch christlichen
Dogma wenig gemein, und in dieser Richtung schließen sich
die Dichter, die Alanus in französischer Sprache nachgeahmt
haben, ihrem Vorbild weit näher an. Das bedeutsamste Gedicht
ist hier der zweite Teil des „Roman de la Rose". Jean de Meung
hatte sich ganz mit dem Geiste des Alanus erfüllt, als er beschloß,
an das naiv heitere Werkchen des Guillaume de Lorris seine
umfangreiche Fortsetzung anzuhängen. Aus dem allegorischen
Liebesgedichte wurde so durch ihn ein didaktisch enzyklopädisches
Werk, das ähnlich wie der Tesoretto das allegorische Gewand
nur benutzte, um anmutig dem Wissen seiner Zeit Ausdruck zu
leihen. Wie Brunetto fand auch Jean de Meung die von Alanus
geschaffene Göttin Natura besonders geeignet für seine Ein-
kleidung. Allerdings erreicht auch der französische Dichter sein
Vorbild nicht. Schon die Einführung entbehrt des Glanzes, den
ihr Alanus' Traumvision verleiht. Die Göttin erscheint im Rosen-
roman ganz unvermittelt in einer Schmiede ^, wo sie die Abbilder
der Ideen, ^ie Dinge dieser Welt schmiedet, und zwar im steten
Kampfe mit dem Tode, der ihr unaufhörlich ihre Werke ent-
reißen möchte; sie darf nie ruhen, denn sonst würden Pluto
und Cerberus, die Gewalten der Zerstörung, sich freuen. Erst
nachdem dieser Gedanke in ganzer Breite in fast 100 Versen
auseinandergesetzt ist, wird der Versuch gemacht, die Schönheit
der Göttin zu schildern. Dieser Versuch aber fällt ganz negativ
Roman de la Rose ed. Michel. Paris 1864 v. 16827 ff.
Der Gottheit lebendiges Kleid 353
aus: sie ist so schön und herrlich, daß niemand sie malen
könnte, selbst Zeuxis nicht, der doch sein Tempelbild aus
den Schönheiten der fünf schönsten Jungfrauen bildete; könnte
es der Dichter, so wollte er es wohl gerne tun und ihr könntet
es dann geschrieben lesen, doch nur Gott, der sie gemacht,
kann es. Nun beginnt Natur zu klagen, wie doch alles, was
sie so schön begonnen, schlecht ausgefallen sei. Sie läßt darauf
ihren Hohenpriester Genius kommen; der kurz angedeutete Ge-
danke des Alanus wird hier in aller Breite ausgeführt, wir
sehen Genius als Kaplan und Beichtvater der Natura gegenüber
fungieren. Sie, die von Gott zur Wächterin aller Dinge be-
stimmt ist,
Qu'ü m'a por chamhriere prise
Por chamhriere! certes vaire
Por constdble et por vicaire^
wird von Genius getröstet: es wäre wohl besser um diese groß-
angelegte Welt bestellt, deren Kosmos die Natur vorher er-
klärt — wenn die Männer den neugierigen Frauen nicht ihre
Geheimnisse preisgäben; dieses Thema wird dann bis zum
Ende des Werkes immer wieder auf vielen Umwegen erreicht.
Bei der weiten Verbreitung und dem großen Einfluß, den
dieses Werk bald auch über die französischen Grenzen hinaus
ausüben sollte, war nun auch die Rezeption der Göttin Natura
in der Volkssprache vollzogen. Deutliche Spuren der Einwirkung
des Rosenromans zeigt dann auch gleich ein anderes franzö-
sisches Werk, das am Ende des 14. Jahrhunderts entstanden ist,
„Les echecs amoureux".^ Der Verfasser kennt natürlich Alanus
auch, ja er schließt sich an ihn weit enger an, als alle bisher
besprochenen Nachahmungen. Dem träumenden Dichter erscheint
die herrlich schöne Frau in seinem eigenen Zimmer. Sie trägt
ein Gewand, das aus den vier Elementen gewebt ist, auf dem
^ Roman de la Böse a. a. 0. v. 17717 — 17719.
^ Ernst Sieper Les echecs amoureux. Eine altfranzösiscbe Nach-
ahmung des Rosenromans. Weimar 1898.
354 Marie Gothein
alle Wesen nach, den Ideen, die im Geiste Gottes konzipiert
waren, eingewirkt sind: die Fische, die Vögel, die Tiere und
zu oberst der Mensch, das Antlitz richtet er nach oben, die
Tiere überragend durch Vernunft und seine unsterbliche Seele.
Zugleich aber nimmt der Dichter aus dem Roman de la Rose
das kräftig wirkende Bild der Schmiede auf, wo die Natur
unausgesetzt an der Erneuerung der vom Tode bedrohten Wesen
arbeitet. Ihre Schönheit zu schildern erklärt auch er sich ebenso
unfähig, wie der Verfasser des Rosenromans: das gehe über
menschliches Vermögen; sie, das Urbild aller Schönheit, erfüllt
mit ihrem Glänze das ganze Zimmer, so daß selbst die Göttin
Proserpina mit allen ihren Edelsteinen ihr nicht gleichkommt.
Aus Boethius borgt er dann noch den Zug, daß seine Göttin
in jugendlicher, blühender Frische erscheine, trotzdem sie so
alt sei, daß niemand ihre Jahre zählen könne.^
Außerhalb Frankreichs hat der Rosenroman in sehr ver-
schiedener Weise gewirkt. Schon im Anfang des 14. Jahr-
hunderts hat er einen italienischen Bearbeiter gefunden.^ Ser
Durante, ein toskanischer Dichter, verarbeitete das große Werk
in 232 Sonetten, wobei unwillkürlich die eigentliche Liebes-
fabel stärker in den Vordergrund tritt, während das didaktische
Element, wenn auch nicht unterdrückt, so doch etwas zurück-
gedrängt wird. Durante nun hat jeder der zahlreichen alle-
gorischen Gestalten seines französischen Vorbildes ihren Platz
in seinen Sonetten gegönnt, nur die Göttin Natura samt ihrem
Kaplan Genius ist merkwürdigerweise ganz unterdrückt. Trotz
des Vorgangs im Tesoretto hat Natura auf italienischem Boden
sich nicht einbürgern können.
Ebenso finden wir in der deutschen Literatur nur ganz ver-
einzelt eine Spur von ihr. Diese Spur, die sich später so ganz
verlieren sollte, führt uns in den Anfang des 13. Jahrhunderts
^ Boethius a. a. 0. Prosa I, 1.
* II Fiore, imite du Boman de la Böse, par Durante publ. par
F. Castets. Paris 1881.
Der Gottheit lebendiges Kleid 355
zurück, so daß wir hier vielleicht den frühesten Einfluß des
Alanus in den Volkssprachen zu konstatieren hätten. In einem
der kleinen Gedichte des Stricker^ erhebt der Dichter einen
langen Klagesang über alle Mißstände der Welt. In dem
großen Sündenregister nimmt einen ziemlich bedeutenden Raum
die Anklage der unnatürlichen Liebes vergehen, der Päderastie
insbesondere ein, und hier nun tritt zum Schluß „natüre" per-
sönlich auf, wirft sich dem Herrn zu Füßen und bittet ihn,
die Wesen, die er geschaffen, damit sie ihr, der Natur, Unter-
tan seien, zu strafen, weil sie „dich hänt an mir gehoenet".
In einer Variante heißt es dann weiter:
wann du mir gebe das gebot,
daz ich were der ander got.^
I Die ganze Situation der klagenden Natur, die sich besonders
I gegen Verbrechen, die „widernatürlich" sind, richten, sodann
aber der Ausdruck „der ander Gott", d. h. vicaria, zu dem
Natura von dem Schöpfer berufen ist, machen einen direkten Ein-
fluß der lateinischen Poesie, des Alanus insbesondere, sehr wahr-
scheinlich. Ebenso aber wie in Italien hat auch in Deutschland
dieser frühe Versuch,' eine personifizierte Natur einzuführen,
weitere Folgen nicht gehabt. Der Rosenroman hat augenscheinlich
überhaupt keinen Eindruck mehr in dem Deutschland des 14. Jahr-
hunderts gemacht, dessen wachsende Unbildung den internatio-
nalen Austausch immer mehr zurückdrängte.
Eine ganz andere Bedeutung fand die auf französischem
Boden entstandene Allegorie der Natura in der englischen Poesie.
Sowohl der Rosenroman, wie Les echecs amoureux sind sehr bald
ins Englische übersetzt worden, und zwar hier allein in wirklich
I treuer Übernahme der Originale. Von Chaucers Übersetzung
. des Rosenromans wie in den anderen uns überlieferten Bruch-
I stücken haben sich gerade die Partien, die von der Natur
j handeln, nicht erhalten. Doch Geoffrey Chaucer war nicht
^ Stricker Kleine Gedichte ed. Hahn p. 69 XII.
2 Ebenda Variante v. 489 ff.
356 Marie Gothein
nur mit dem französisclien Werke, sondern auch mit Alanus
auf das beste vertraut und kann sogar bei seinen Lesern
das gleiche voraussetzen. Die spielend leichte Art, wie der
englische Dichter die Göttin in seine Gedichte einführt, zeigt
recht eigentlich, wie sehr die Personifikation den Dichtem
jener Periode schon geläufig ist, alles, was die Vorgänger in
Hunderten von Versen geschildert, weiß er auf wenige Zeilen,
wie in „The Parlament of Fowles", zusammenzudrängen. Auf
schattigem Bhimenhügel sitzt die „noble goddesse Nature"
deren Schönheit alle Geschöpfe überstrahlt, wie die Sonne das
Sternenlicht, aber wie sie wirklich aussieht, erfahren wir von
Chaucer ebensowenig, wie von den französischen Dichtern,
schalkhaft verweist uns der Dichter hier an die rechte Quelle:
Änd riglit as Alleyn in the Pleynd of Kinde
Devyseth Nature in array and face
In swicli array men mighten hir ther finde}
Alles finden wir in diesem Gedichte angedeutet, das Haus, die
Schönheit, das Kleid, ihre Stellung als Weltkönigin und Stell-
vertreterin Gottes, „the vicaire of th'almjghty lorde".^ Und dieser
Ausdruck besonders wird nun bei Chaucer wie bei seinen Nach-
folgern zu einem stehenden Epitheton der Göttin. In „The Phisi-
cians Tale" tritt wieder Gottes „vicaire general"^, die Göttin
Natura, auf, freilich jetzt nur noch, um ein schönes Mägdelein
zu schaffen. Chaucers Nachfolger Lydgate gebraucht vollends
die personifizierte Göttin Natur als ein traditionelles Gut.
Lydgate übersetzte „les Echecs amoureux" unter dem Titel „Rea-
Boun and Sensuality"^, worin gerade die Einleitungs träum vision
und die Göttin Natura ganz treu nach dem Original übertragen
ist.^ Wenn er aber hier nur fremdes Gut überliefert, so sind
die Stellen zahlreich, wo er in eigenen Werken die Göttin ein-
1 Chaucer The Minor Poems V the Parlement of Fowles 316 ff.
2 Ebenda 379. » Canterbury Tales Group G v. 20.
* Early Engl Text Soc. Extr. Ser. Bd. 84, 89.
^ J. Schick Kleine Lidgatestudien Anglica Beiblatt VIII p. 134 ff.
Der Gottheit lebendiges Kleid 357
führt.^ Etwas später schildert auch der schottische Dichter
Dunbar in seinem Gedichte „The Thrissel and the Ross"^
Dame Nature inmitten aller Geschöpfe, die sich einen König
wählen sollen.
Von nun an behauptet Nature in der englischen Literatur
ihr völliges Bürgerrecht. Und ganz anders als in irgendeiner
Sprache, die den Begrilff Natur aus dem Lateinischen entlehnt
hat, hat er sich auch heute noch in der englischen die Fähig-
keit bewahrt, sich zu lebendiger Personifikation zu gestalten.
j Im 15. und 16. Jahrhundert ist die Göttin so sehr in die
I Vorstellung weiter Kreise übergegangen, daß sie selbst auf der
! Bühne heimisch wurde. In den sogenannten Moralitäten, alle-
gorischen Stücken, die mit Hilfe der Personifikation von Eigen-
schaften und einiger anderer Begriffe den inneren Kampf des Guten
I und Bösen im Menschen anschaulich vorführen wollen, tritt Na-
tura häufig auf. Meist spricht sie zur Einführung einen Prolog, in
dem sie sich über das Lieblingsthema der damaligen Popular-
philosophie, die Weltentstehung, verbreitet. Feierlich wird ihr
Aufzug geschildert, meist stellt sie sich als die gütig schaffende
Herrscherin dar, aus' deren Händen der Mensch rein in die
Welt ausgesandt wird, wie in der englischen Moralität, die
nach ihr benannt ist „Nature".^ In ähnlich feierlicher Weise
tritt sie in einem französischen Stücke, „Le Dict des Jardiniers"*,
auf, wo sie ihr Sprüchlein in fünffüßigen Jamben hersagt, als
Einleitung für ein allegorisches Stück vom Frauendienst.
Ein ganz besonders empfängliches Gemüt für die Natur-
philosophie der Zeit setzt das englische Stück „The Interlude
of the Four Elements"^ voraus, indem die Erklärung des
^ TroybooJc Dsd, Fall of Princes 93 a, ÄssemUy of Gods 452 u. 52,
De duöbus Mercatoribus v. 676, diese Stellen lassen sich gewiß noch
vermehren.
^ Dnnbar The Poems B. 11 p. 183 ff. Scottish Text Soc. 1883/84.
^ Brandl Quellen des welil. Dramas 1898 p. 74 ff.
* Le Dict des Jardiniers ed. Mugnier Paris 1896.
" Dodsley Old Engl Plays ed. Hazlitt B. I p. 1 ff.
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 24
358 Marie Gothein
Kosmos der Gegenstand als solcher ist, wobei Natura ein Haupt-
unterredner bleibt. Sie wird hier männlich Lord Nature ge-
nannt, was bei dem mangelnden Gescblecbt des englischen
Substantivs möglich ist, aber doch sehr selten vorkommt. In
einer anderen englischen Moralität, „The Marriage of Wit and
Sience"^, fungiert sie als Mutter von „Wit", der übrigens hier
ganz an die Stelle des irrenden und schließlich zum rechten
Ziel geleiteten Menschen tritt.
Weit seltener, vielleicht nur dieses eine Mal, sehen
wir sie in christlichem Sinne klagend über ihre Verderbnis
auftreten. Petit (Repert. p. 86) beschreibt sie in einem Stücke,
Nature, Loi de Rigueur, Divin Pouvoir, Loi de Grace,
la Vierge so auftretend, und zum Schlüsse sich tröstend
mit der Hoffnung auf Erlösung durch die Jungfrau, die aus
ihrem Schöße geboren wird.
Gerade diese Ausnahme zeigt, wie wenig begründet die
landläufige Annahme ist, als hätte das Mittelalter nur die sün-
dige, nach Erlösung seufzende Natur gekannt^, ganz im Gegen-
teil, wir haben sie bis hierher in aller ihrer Erhöhung und Gött-
lichkeit gesehen, umgeben von der Herrlichkeit ihrer Schöpfung,
nur der Mensch mit seiner Neigung zur Verderbnis macht ihr
stets aufs neue Kummer, doch selbst er wird nicht durchaus
immer einer Erbsünde unterworfen, sondern von Natur aus rein
gedacht, wie die oben besprochene englische Moralität zeigt.
So nahm die Renaissance in England noch am Ende des
16. Jahrhunderts die Naturpersonifikation ganz unverändert auf.
John Lyly, ein Zeitgenosse Shakespeares, läßt sie in einem Stück,
„The Woman of the Moon"^, das erst 1597 gedruckt, wahr-
1 Dodsley II p. 1 fif.
^ Claßen Zur Geschichte des Wortes Natur a. a. 0. p. 24 ff. glaubt
sogar, daß erst das 18. Jahrhundert die gänzliche Befreiung des „in
den Schranken des theologischen Dogmas" festgehaltenen Naturbegriffs
brachte.
^ The dramatic Works of John Lilly ed. Fairholt, London 1892
II p. 149 f.
Der Gottheit lebendiges Kleid 359
öcheinlich aber mehr als ein Dezennium früher entstanden ist,
ganz in Moralitätenweise auftreten. Lyly war ein gelehrter
Herr, und wenn er selbst wohl kaum den Alanus gelesen
haben wird^, so zeigt er sich doch vertraut genug mit den
philosophischen Vorstellungen, die das Mittelalter mit Natura
verknüpfte. Er gibt ihr als Begleiterinnen Discors und Concors,
mit deren Hilfe sie aus den vier Elementen das Weib Pandora
für ihre Hirten von Utopien schafft. „Nature works her will
from contraries."^ Gerade so hatte einst Alanus' Natura den
Menschen aus der „quattuor elementorum Concors discordia"^ ge-
schaffen. Wenn nun in allen diesen Stücken des Gewandes der
Göttin nicht Erwähnung geschieht, so ist das wohl am besten
daraus zu erklären, daß das Gewand der auftretenden Allegorien
immer nach Möglichkeit so gewählt wurde, daß es ihr Wesen
erklären hilft; so läßt sich auch wohl denken, daß Dame Nature
bei ihrem Auftreten ein Gewand, das mit allerlei Geschöpfen
der Luft, der Erde und des Wassers bestickt war, trug.
Wenn die Renaissance nun auch Alanus nicht mehr gelesen
hat, seinen Namen hatte man in England doch nicht vergessen.
Edmund Spenser in ,dem nachgelassenen Fragment zur Faery
Queen* hat ihn in gleicher Weise, spielend wie Chaucer, von
diesem direkt übernommen. In Spensers großem Gedichte münden
wie in einem Strome alle Allegorien, die vom Altertum
geschaffen oder angeregt, durch den Geist des Mittelalters
durchgegangen waren, und nun in dieses Renaissancedichters
blühender Phantasie ein letztes, reiches Leben erhielten. Die
Personifikation der Natur, die diesen Gesang eröffnet, zeigt am
besten, wie er es verstand, im Rahmen der Tradition ein
grandioses Gemälde zu entwerfen. Auf seinem heimischen Berge
^ De Planctu Natur ae wenigstens ist nicht vor 1633 gedruckt,
während der Anticlaudian schon 1530 erschien.
2 Lilly a. a. 0. p. 154.
^ De Fl. Nat. Migne 443 B. Auch Horaz »Ep. I 12, 19 gebraucht
concordia discors und Ovid Met. 1, 433 discors concordia.
^ Faery Queen Fragment Canto VII Str. IX.
24*
360 Marie Grothein
auf Arlokill versammelt er die Götter, und Nature ist jetzt
niclit nur unter ihnen, nein, sie wird ausdrücklich greatest
godess genannt. Ihr Palast steht auf dem lieblichen Hügel, er
ist von der Erde selbst zu ewigem Frühling erbaut, und alle
Frühlingslust umgibt ihn. Dort führt die Hehre den Vorsitz,
die Schönheit ihres Antlitzes, die für den Beschauer blendend, ja
tödlich sein könnte, verhüllt ein Schleier, so daß man nicht er-
kennen kann, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts
ist. Und gar ihr Gewand zu schildern geht über Menschenkraft
so sehr,
That old Dan Geoffrey (in wJiose gentle sprigJit
The pure well - head of poetry did dwell
In Ms Fowls Parley durst not with it mell
But it transferres to Alane, who, he thought
Had in his plaint of Kinds described it well
Which who will read set forth, so as it ought
G-o seeJc he out that Alane, where he may he sought.
Wenn Spenser hier auch offen seine Unkenntnis über das
Gewand der Natur ausspricht, so ist ihm doch die Vorstellung
eines Gewandes, das Naturdinge „wie lebendig'^ zeigt, nicht
fremd. Hier und dort in Faery Queen finden sich solche An-
deutungen. Am deutlichsten wohl bei dem Neptunsfest ^, wo
der Flußgott Themse ein blaßblaues Gewand trägt, auf dem
die Wogen, wie Kristallglas glitzernd, so kunstvoll eingewoben
waren, daß wenige erraten konnten, ob sie falsch oder echt
waren. Und ganz ist in der englischen Literatur die eigenartige,
faszinierende Vorstellung eines solchen lebendigen Wunderkleides
nicht verschwunden. Noch einmal hat John Keats, der Dichter
der Renaissance der elisabethanischen Poesie im 19. Jahrhundert,
diesen uralten Gedanken aufgenommen. In seinem großen Jugend-
gedichte Endymion muß der Hirtenjüngling, nach der unbe-
kannten Geliebten suchend, das Innere der Erde und die Tiefen
des Meeres durchwandern. Hier trifft er den Meergreis Glaukos ^,
Book ly C. XI Str. XXYII. ^ Endymion Buch III 196 ff.
Der Gottheit lebendiges Kleid 361
sitzend, bekleidet mit einem blauen Mantel, „auf dem zu schauen
war jede Meergestalt, der Sturm, das Meeresrauscben, der öde
Strand, dann alle Geschöpfe, je nachdem das Auge darauf
schaut, bald groß, bald klein, weiter sah man auch Neptun
mit seinem Hofstaat von Nymphen darauf". Die Lektüre des
jimgen, damals 20jährigen Keats war beschränkt. Von den
^Iten kannte er Homer nur in Übersetzung des alten Elisa-
bethaners Chapman, Ovid und Vergil in der Ursprache, sonst
hielt sich seine schaffende Phantasie an Kompendien und Hand-
bücher über das Altertum. Spenser aber war der Dichter, der
ihn in jener Periode vollkommen beherrschte; ob er sich von
den geringen Andeutungen, die ihm die Faery Queen bot, hat
anfeuern lassen, ob ihm irgendwoher klarere Quelle dieser antik-
mittelalterlichen Vorstellung zufloß, jedenfalls hat dieser Dichter,
wie so oft noch sonst, mit glücklichem Künstlerinstinkt das
Wesen dieser alten Vorstellung in die Schilderung des Gre-
wandes des greisen Seegottes hineingebracht.
Und kehren wir nun zurück zu unserem Ausgangspunkt,
zu Goethe, dessen Geeist wie das Erdreich den Regen aller-
wärts aufnimmt und als ursprünglichen Quell wiedergibt; auch
er kennt in ähnlicher Weise wie Keats die Vorstellung eines
wunderbar gewebten Gewandes. In Hans Sachsens poetischer
I Sendung trägt das „rümpfet, strumpfet, buckelt und krumb"
1 Weiblein, Frau Historia, ein IQeid, von dem es heißt:
I Auch war bemalt der weite Raum
Ihres Kleids und Schlepps und auch der Saum
Mit weltlicher Tugend und Lastergeschicht.
, Und in diesem Gedichte, das mit so unvergleichlicher Frische Stil
und Gestalten des Meistersingers von Nürnberg nachahmt, treffen
wir auch noch eine andere Gestalt wieder, die uns schon mehrere-
mal in engster Verbindung mit der Natur begegnet ist, den Genius.
Der Naturgenius an der Hand
Soll dich führen durch alle Land,
Soll dir zeigen all das Leben usw.
362 Marie Gothein
Diesen Genius der Natur führte, wie wir sahen, zuerst Alanus
ein. In engster Verbindung mit der Göttin aus einer Idee
Gottes entstanden, „cum unius ideae exemplaris notio nos in
nativum esse produxerit" ^, ist der Genius die ausführende
Gewalt der Natur, ihr Hoherpriester, der den Geistern der Sinn-
lichkeit besonders feindlich gesinnt ist. Eine ganze Reihe antiker
Vorstellungen scheinen hier auf Alanus eingewirkt zu haben.
Wie schon bei den Alten den Göttern ein Genius beigesellt
wurde, der zwar wesenseins mit ihnen, doch aber von ihnen
getrennt die ausübende Gewalt personifizierte^, so erhielt nun
auch die neue Göttin ihren Genius beigesellt. Doch auch für
die spezielle Stellung, die er in Planctus Naturae einnimmt,
ein Gegner aller Fleischeslaster zu sein, fand Alanus antike
Vorbilder. Er kannte wohl aus Augustinus' Gottesstaat die
Lehre des Varro, der den Genius als eiae anima rationalis faßt,
im Gegensatz zu Sinnen- und Zeugungstrieb.^ So sehr sich diese
auch von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes entfernte,
so paßte sie doch zu der christlichen Anschauungsweise; der
geistliche Verfasser hing ihm nun, als Gegner der fleischlichen
Laster, noch ein priesterlich Gewand um.
Der Rosenroman übernimmt diese Gestalt von Alanus,
erweitert ihre geistlichen Funktionen nur noch, indem er sie
zum Beichtvater der Natur macht. Diesen Gedanken nimmt
Chaucers Zeitgenosse, der englische Dichter Gower in seiner
Confessio Amantis auf. Hier ist der Genius, der Hohepriester
der Venus, Beichtvater, Berater und Leiter des Menschen, seine
Funktion ist aber auch hier, den Menschen durch Rat und
Beispiel von den Lastern zu befreien.
Wieder näher seiner ursprünglichen Vereinigung mit dei
Natur erscheint dieser Leiter und Führer bei Hans Sachs. Eine
Hauptquelle für die Einführung des Genius ist dem Meister-
* De Planctu Nat. Migne 481 A.
^ Röscher Lexicon der griech. u. röm. Mythologie Art. Genius v. Birt
Usener Götternamen. 297 ff. ^ De civitate Dei 7, 13; 23.
Der Gottheit lebendiges Kleid 363
singer die Tabula Cebetis^ gewesen, dafür zeugt schon seine
Bearbeitung des antiken Schriftchens.^
Hier steht Genius am Eingang des Lebenstores, als alter
Mann gedacht mit einem Stabe in der einen, eine Schrifttafel
in der anderen Hand, er warnt die eintretenden Seelen vor den
Lastern, die sie vom rechten Wege abführen, unter denen die
des Fleisches naturgemäß einen großen Raum einnehmen. Das
Merkwürdige ist nun, daß Hans Sachs in seinem Gedicht den
Pförtner des Lebens nicht Genius, sondern Gott der Natur
nennt. Diese eigentümliche Interpretation, zu der der antike
Philosoph ihm nicht den geringsten Anlaß gibt, führt uns mit
gewissem Zwang zu dem Schluß, daß Hans Sachs die mittel-
alterliche Vorstellung des Genius nicht fremd war. Aus welcher
Quelle sie ihm zugeflossen ist, aus dem Lateinischen oder Eng-
lischen, wird sich bei seiner diffusen Lektüre schwer bestimmen
lassen. Genug „Genius" und „Gott der Natur" sind ihm gleich-
bedeutend, das zeigt noch deutlicher eine andere Stelle. Im
Landsknechtsspiegel erscheint ihm direkt „der groß Gott der
Natur, Genius", und entführt ihn in die Luft, um ihm des
Krieges Wüsteneien zu zeigen.^ Der Führer und Leiter ist er
immer und erscheint ihm noch zu wiederholten Malen, um ihm
irgendein belehrendes Schauspiel zu zeigen.^ Natura als Person
^ Die Tabula Cebetis hat ihre weite Verbreitung im 16. Jahrhimdert
hauptsächlich durch die deutschen Humanisten erfahren. Schon 1507
erscheint eine Edition von Johannes Aesticampianus, dem Lehrer Huttens,
ihr ist ein Kupferstich beigegeben, der das Gemälde, das der Erklärung
der Pilgerfahrt zur wahren Glückseligkeit in der Schrift zugrunde liegt,
wieder herstellen soll. Diesen naheliegenden Gedanken hat dann Hol-
bein in großartiger, kraftvoller Weise bald darauf auch als Buchtitel
durchgeführt. Siehe Geschichte des deutschen Kupferstiches und Holz-
schnittes von C. V. Lützow. Berlin 1891. Text p. 146 u. Reprod. Holbein
hat hier wie schon vor ihm der Kupferstecher um 1507 das Kostüm
seiner Zeit eingeführt und dadurch die Wirkung sehr erhöht.
2 jjf^^g gf^^j^g e<i geller B III p 75ff s ^^^^ gachg a. a. 0. HI 470.
* Ebend. I 437 ff. Der Tod zuckt das Stüllein und IV 176 ff. Ein
artlich Gespräch der Götter die Zwietracht des römischen Reiches be-
treffend, wo der Genius Engel genannt wird.
364 Marie Gothein Der Grottheit lebendiges Kleid
hat, wie wir sahen, nach einem frühen Versuch im mittelalt
liehen Deutschland keinen Boden gefunden, dafür ist hier
Hoherpriester Grenius zum Gott der Natur erhoben worden.
Bei Goethe endlich hat sich der Inhalt dieser ganzen Y(
Stellung unendlich vertieft und ist doch jenem mittelalterlichen
nicht ganz fremd geworden. Er setzt der „Gottheit" zur Seite
den Erdgeist, der nun aber selbst der schaffende geworden ist,
ihm fällt zu, was jene einst mit eigenen Händen vollbracht
hat: ihr lebendiges Kleid zu weben.
So sahen wir, wie in langer Kette, wenn auch nicht lücken-
los, so doch nie ohne sichtbaren Zusammenhang, theologisch-
mythische Vorstellung die dichterische befruchtet hat, so daß
diese wieder mythische Gestalten nicht ohne theologische Absicht
bildete. Nicht im schaffenden Volksbewußtsein hat sich dieser
Prozeß vollzogen; kaum jemals ist er bis zu diesem herab-
gestiegen. Gelehrte Spekulation hat diese Metapher zuerst
erdacht, die doch durch die tiefe Bedeutung des Bildes mit
eigentümlich weithin reichender Kraft begabt war.
Nachtrag
Zu p. 363. In dem Bibliotheksverzeichnis von Hans Sachs aus dem
Jahre 1562 ed. Goedeke, Archiv f. Literaturgesch. VIT p. 1 ff., ist ein
Gedicht des Alanus de Insulis „von der Menschwerdung Christi" ver-
zeichnet. Der junge Hans Sachs hat aus diesem Gedichte sein erstes
Meisterlied „das Geheimnis der Trinität" (1514) genommen, den Ge-
danken, daß das Geheimnis der wunderbaren Geburt des Sohnes den
sieben freien Künsten verborgen gewesen sei. Damit ist außer Frage
gestellt, daß Hans Sachs Alanus gekannt hat.
Ich verdanke diese Notiz Herrn Professor F. BoU aus Würzburg,
ebenso wie die folgende, die leider zu spät in meine Hände kam, um
als interessante analoge Vorstellung zu dem gewebten Schöpfungsgewande
in dieser Abhandlung verwertet zu werden.
Nach Porphyrius IleQl Srvyos bei Stobäus Ecl. I 1, 56 erzählt der
Gnostiker Bardesanes — nach Mitteilung von Indern, die als Gesandte
durch Mesopotamien ziehen — , daß in Indien im Mittelpunkte des Erd-
kreises eine hochgelegene Höhle läge, in der sich eine Bildsäule 10 bis
12 Ellen hoch befände, mit gekreuzten Armen und halb Mann, halb
Weib. Auf ihren Körperteilen sei die Sonne und der Mond, die Engel
und alles, was in der Welt ist, Himmel und Berge und Meer und Flüsse
und Okeanos und Pflanzen und Tiere, kurz alles, was existiert, ein-
gegraben. Diese Statue habe Gott seinem- Sohne gegeben, als er die
Welt gründete, damit er ein sichtbares Vorbild habe {d'sarbv naQaduyiLu).
Die Entstehnng der Bilderwand in der griechischen
Kirche
Von Karl Holl in Berlin
In der heutigen griechischen Kirche ist die sogenannte
Bilderwand, d. h. die feste Wand, die den Altarraum vom Schiffe
trennt, ein unentbehrliches Stück der Ausstattung des Gottes-
hauses. Sie dient nicht nur als Schmuck und als Stätte der
Anbetung, sie erfüllt auch im Gottesdienst eine wichtige Funktion.
Durch sie erhält die griechische Messe ihren spezifischen ge-
heimnisvoll-feierlichen Charakter. Indem sie sich wie eine un-
durchdringliche Mauer zwischen die Gemeinde und den Altar
schiebt, macht sie den heiligen Raum zum advtov im vollen
Süm und stempelt die dort vollzogene Handlung zum ^vötjJQtov.
Die Abschließung ist jedoch nicht starr. Die Wand ist durch-
brochen durch drei Türen, die den Abteilungen des Altarraums
entsprechen. Die mittlere, die Haupttür, führt direkt auf den
Altar zu. Von den kleineren Seitentüren geht die — vom Be-
schauer aus geredet — linke in die sogenannte TtQod'söig: hier
steht der Rüsttisch; durch die rechte kommt man in das öiccxo-
viiiov. Diese Türen spielen beim Vollzug des Gottesdienstes
eine bedeutsame RoUe. Ihre Öffnung und Schließung, das
Heraustreten des Priesters beim großen und kleinen „Einzug"
|(6l'0odog) grenzt die einzelnen Akte der Liturgie scharf gegen-
f einander ab und bewirkt den eigentümlichen Rhythmus der ganzen
[Handlung. Während der erste Teil des Gottesdienstes, die
l^r^oöxo^t^Tj, (heute) ganz hinter geschlossenen Türen vor sich
Igeht, wird der zweite, der Lehrgottesdienst, (nach einleitenden
Gebeten) feierlich eröffnet durch den „kleinen Einzug". Der
366 ^^^1 Hol!
Priester verläßt unter Vorantritt des das Evangelienbucli tra-
genden Diakonen den Altarraum durch die linke Seitentür. Sie
gehen in das Schiff hinein bis zur vordersten Reihe der hier
stehenden Gemeinde; in der Mitte des vaög wenden sie um
und kehren durch die Haupttür in den Altarraum zurück. Der
Sinn der Zeremonie ist unmittelbar klar. Der Prozession liegt
ursprünglich keine andere Absicht zugrunde als die, der Ge-
meinde das Evangelium vorzuführen und sie nachdrücklich auf
die nun folgende Lesung hinzuweisen. Es ist offenbare üm-
deutung, wenn die „tiefere" Auslegung der Liturgie darin die
Menschwerdung und die Predigttätigkeit Jesu symbolisch dar-
gestellt findet. — In ganz ähnlicher Weise wird der letzte Teil,
die eigentliche Opferung durch den „großen Einzug" eingeleitet.
Wieder gehen Priester und Diakon, diesmal mit den vom Rüst-
tisch aufgenommenen Elementen durch die linke Seitentür aus
dem Altarraum heraus; sie beschreiben dieselbe Kurve, um
wieder durch die mittlere Tür vor den Altar zu treten. Dann
beginnt der Weiheakt.
Wann ist diese Form des Gottesdienstes, die die Bilder-
wand zur Voraussetzung und an den beiden siöodoi ihr
charakteristisches Merkmal hat, entstanden und welches Motiv
hat auf sie hingeführt? Man hat dieser Frage bis jetzt nocli
nicht die ganze Aufmerksamkeit gewidmet, die sie verdiente.
Die archäologische und die liturgische Forschung haben sich,
soweit sie überhaupt darauf eingegangen sind, jede nur mit
der ihrem Gebiet angehörigen Seite des Problems beschäftigt,
ohne auf die andere Rücksicht zu nehmen.^ Und doch ist von
vornherein zu vermuten, daß Bilderwand und sYöodoi wie in
einer inneren sachlichen, so auch in einer zeitlichen Beziehung
zueinander stehen. Aus der Verkennung dieses Zusammen-
* Die liturgische Forschung ist hinsichtlich unseres Problems weiter
fortgeschritten als die archäologische. Die beste Zusammenfassung der
bisherigen Resultate über die Geschichte der Liturgie findet sich bei
F. E. Brightman Liturgies eastern and western^ Oxford 1896.
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 367
liangs mag es sich auch erklären, daß die letzte Frage, die
. nach der Herkunft der beiden Institutionen , bisher überhaupt
noch nicht aufgeworfen wurde.
Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß der Ab-
schluß durch eine feste Wand nicht die erste Form einer Ver-
deckung des Allerheiligsten gewesen ist. Die Bilderwand hat
ihre Vorstufe in der Abgrenzung des Altarraums durch Schranken
oder durch eine Säulenstellung. Zu noch dichterer Verhüllung
wurden Vorhänge um den Altar oder in den Zwischenräumen
der Säulenreihe angebracht. Seit dem 4. Jahrhundert lassen
sich diese verschiedenen Arten, den Altarraum oder doch den
Altar dem Blick zu entziehen, teils nebeneinander teils mit-
einander kombiniert nachweisen.
Aber Unsicherheit herrscht nun in der gelehrten Literatur
hinsichtlich der Frage, wann die griechische Kirche — nur sie
kennt ja die Ikonostasis — dazu fortgeschritten ist, Altar-
raum und Schiff durch eine feste Wand voneinander zu
scheiden. In den Handbüchern der Archäologie findet man,
soweit sie überhaupt eine bestimmte Epoche angeben, allgemein
die von Goar (Euchologium sive rituale Graecorum, Paris
1647 p. 18) zuerst aufgestellte These wiederholt, daß die
Bilderwand (in oder) nach den ikonoklastischen Streitigkeiten
aufgekommen sei. Ich verweise auf Dict. of christ. antiqu. Art.
iconostasis und Kraus, Realenzyklop. der christl. Altert. Art.
Bilderwand. Auch ein so sorgfältiger Forscher wie Nikolaus
MüUer hat sich (R E ^ „ Altar ^' S. 398, 28) Dei diesem Ansatz
beruhigt. Goar hat keine Belege für seine Datierung gegeben,
offenbar, weil er es für selbstverständlich hielt, daß zwischen
Bilderwand und Bilderstreitigkeiten ein innerer Zusammenhang
obwalte. Allein diese Annahme ruht auf einem Vorurteil, das
die uns geläufige Bezeichnung allerdings außerordentlich nahe-
legt. Der Name Bilderwand verleitet unwillkürlich zu der
Meinung, daß die Errichtung der festen Wand in erster Linie
aus dem Interesse erfolgt sei, Bilder daran aufhängen zu können.
368 Karl Holl
Jedocli nicht nur ist der Name Ikonostasis sehr jung^; auch
sachlich ist es nichts weniger als selbstverständlich, daß man
gerade den Bildern zulieb zu dieser Form der Absperrung des
Altarraums überging. Auf Grund der Tendenz, die sich schon
seit dem 2. und noch bestimmter seit dem 4. Jahrhundert in
der Entwickelung des Kultus verfolgen läßt, ist vielmehr
zu vermuten, daß der Zweck der Neuerung zunächst kein
anderer war als der, den heiligen Raum völlig dem profanen
Blick zu verschließen. Daß man die Wand mit Bildern schmückte,
erscheint als etwas Sekundäres, als eine weitere Verwertung
der schon geschaffenen Einrichtung. Denn Bilder konnte man
auch anderwärts anbringen und hat sie tatsächlich reichlich
genug an anderen Stellen, an den Mauern und Pfeilern, ange-
bracht. Dieses Interesse hätte nicht dazu genötigt, gerade vor
dem Altar eine Wand zu errichten.
Es ist aber auch mit positiven Gründen zu erweisen, daß
Goar die Entstehung der Bilderwand in einen falschen historischen
Zusammenhang gerückt hat. Einen ersten Anhaltspunkt für
die Bestimmung der Ursprungszeit griechisch kirchlicher Sitten
gewährt in der Regel die Vergleichung mit den Nebenkirchen. Die
dort vorliegenden Tatsachen reden auch in unserem Falle deut-
lich genug. Die Nestorianer und noch die Armenier kennen
die Bilderwand nicht. Bei den Armeniern vertritt ein Vorhang
^ Die gewöhnliche Bezeichnung der „Bilderwand" ist bis in die
späteste Zeit i} Ibqcc myjiUg (xayxeUat); vgl. — ich gebe nur Proben
aus späterer Zeit — vit. Steph. tun. M. 100, 1081 C, 1128 C; vit Euthym.
ed. de Boor 46, 14; de cerim. aul. Byz. I, 10, M. 112, 161 A, 169 A, 171 A,
1004 C; Ps. Germ. rer. erat, contempl. M. 98, 392 A; Sym. Thess. expos. de
div. templo M. 155, 704 C/g. Daneben kommt vor tä etriQ'sa de cerim. aul.
Byz. M. 112, 168 A; Ps. Germ. M. 98, 389 D und rcc didötvXa; Sym. Thess.
M. 155, 345 C. — Den Ausdruck stuovoetdaLov hat auch du Lange nur
an einer Stelle nachzuweisen vermocht bei (Codinus) de off. aul. Byz.
c. 6, M. 157, 61 D. Aber das Wort bezeichnet dort noch etwas anderes
als die Bilderwand, eine Art Ständer, der bei einer bestimmten Ge-
legenheit in einem Gemach des kaiserlichen Palastes (nicht in einer
Kirche) aufgestellt wurde, um Heiligenbilder daran zu hängen.
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 369
ihre Stelle. Dagegen findet sie sich bei den Kopten. Alfred
I. Butler hat in seinem vortrefflichen Werk The ancient coptic
churches of Egypt. 2 vis. Oxford 1884, eine Reihe von alten
koptischen Kirchen beschrieben, in denen überall eine kunst-
voll verzierte Holzwand den kaikäl — so heißt hier das
Allerheiligste — vom Schiff trennt.^ Nach seinen Feststellungen
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß bei den Kopten die
Bilderwand bis in den Anfang ihrer Sonderexistenz zurückgeht.
Schon diese Daten ermöglichen es, die Entstehungszeit der
Bilderwand in relativ enge Grenzen einzuschließen. Da es eben-
so undenkbar ist, daß die Kopten nach ihrer Loslösung diese
Einrichtung von der griechischen Kirche übernahmen, wie daß
die Orthodoxen sie von den Ketzern lernten, so liefert das
Ausscheiden der Kopten aus der Reichskirche den terminus ad
quem. Den terminus a quo geben die Armenier. Nun läßt
sich freilich der Abbruch der Beziehungen zwischen den Kopten
und der Reichskirche nicht auf ein bestimmtes Jahr datieren;
aber man darf doch — um möglichst weit herabzugehen —
etwa 600 als die Grenze bezeichnen, nach der ein Austausch
der beiderseitigen Institutionen nicht mehr wohl vorstellbar ist.
In das 6. Jahrhundert muß somit das Aufkommen der Bilder-
wand fallen, und man darf vielleicht schon darauf raten, daß
die Regierungszeit Justinians den neuen Brauch geschaffen habe.
Dieser Rückschluß wird durch ein direktes Quellenzeugnis
aus der griechischen Kirche bestätigt. In seiner berühmten
Schilderung der Hagia Sophia hat Paulus Silentiarius auch
I die uns interessierende Partie der Kirche genau beschrieben.
Die betreffende Stelle seines Gedichts ist allerdings von den
verschiedenen Forschern, die sie verwertet haben, nicht in
übereinstimmendem Sinn verstanden worden. Lethaby-Swainson
I (The church of S. Sophia 1894 p. 46) und Gh. Diehl (Justinien
et la civilisation byzantine. Paris 1891 p. 484) haben ohne
^ Vgl. auch die Beschreibung alter kaikäl -Türen bei J. Strzygowski
im Oriens christianus I, 363flP.
I
370 Karl Hol!
weiteres vorausgesetzt, daß Paulus eine wirkliche Ikonostasis
meine. Dagegen wollen Holtzinger (Die altdiristliche Archi-
tektur. Stuttgart 1899. S. 160) und Venahles (Dict. of christ.
antiq. Art. Iconostasis) nur eine, auch sonst bekannte Vor-
stufe der Bilderwand in der Schilderung wiederfinden. Keiner
der Genannten hat seine Auffassung des näheren aus dem Text
begründet. Es ist darum notwendig, die wichtigsten Verse hierher
zu setzen und in den entscheidenden Punkten zu interpretieren.
Paul. Sü. descr. S. Sophiae M. 86, 2, 2145:
V. 686 ovSs ^sv ovöe (lovoLg inl zeiieöiv^ bnitoGa (jLvörrjv
av8qa TtoXvyX&GGoio öcazQLVovöLv ofilkov
yv^ivag ccQyvQsag k'ßaXe nXccTiag, ccXka aal avtovg
TiCovccg ocQyvQSOLöL oXovg e%dXvips (lEtdXloLg
tYjXeßoXoLg CsXdeaöL XeXa(i7c6tag e^cckl öoLOvg'
olg eitL %aXXiTt6voLO %SQbg TSivrj^ovL Qvd"^^
o^vrsQOvg kvkXolo idXvip KOLXrivciTO öiöTiovg.
Dann folgt die Beschreibung der einzelnen Bilder, die hier
übergangen werden kann. Nur die Schlußworte kommen wieder ■
in Betracht:
V. 712 ig ÖS fieöccg leqov TcXaKccg eQTisog dt itEQl cp&xag
svLEQOvg XBvyipv6v (israL^fiLCc y yQccfifia '/aQccGöu
7} yXvcplg *£v noXv^vd'Ov' doXXl^ei, yccQ dvdöGijg
ovvo(ia accl ßpcöcXr^og' l'aav ys ^hv dficpaXoiööri
aöTtlÖL ^B66axioL6L xonov KOLXrjvaxo %(OQ0Lg
axavQOv dTtccyyiXXovöa' öia xqlöö&v Se d^vQexQCOv
SQKog öXov (ivöxrjöLv ccvolyexcci' iv yccQ EKdöxr}
TcXevQTJ ßaicc ^VQexQa ödx^ayev SQyoTtovog xslq.
Unmißverständlich ist an der Schilderung, daß eine Säulen-
stellung den Altarraum und das Schiff trennt. Daß die Säulen
paarweise verbunden waren, wie schon du Lange annahm, ist
durch den Ausdruck i^dici, doiovg nicht gefordert, und daß
vollends bei den gekoppelten Säulen eine hinter der anderen
stand, wie Lethaby- Swainson es sich vorstellen, erscheint durch
V. 690 ausgeschlossen: die „in weithin blitzendem Schimmer
strahlenden" müssen alle für den Beschauer unmittelbar sieht-
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 371
bar gewesen sein. Man wird sich die 12 Säulen als in einer
li,eihe stehend, in gleichmäßigem Abstand voneinander zu
denken haben. Diese Auffassung entspricht auch allein den
liaum Verhältnissen: ca. 32 m beträgt nach Fleury, La messe
III, 116 die mit den Säulen zu besetzende Linie.
Die Interkolumnien sind durch silberüberzogene Wände
ausgefüllt. Aber hier fragt sich nun, ob die Zwischenstücke
nach Art der alten cancelli nur etwa bis zur Hälfte der Säulen-
höhe reichten, so daß der obere Teil der Interkolumnien frei
blieb, oder ob sie bis zum Architrav hinaufgingen. Die Aus-
drücke, die Paulus zur Bezeichnung der Wand gebraucht: rsCxri^
£Qxog, [jLStaCx^Lcc geben darüber nichts Bestimmtes an die Hand.
Wohl aber ist entscheidend, was Paulus von den Türen sagt,
die durch sie hindurchführen. Nicht schon das, daß Paulus
überhaupt von Türen redet: d'VQSTQa könnten auch Durchgänge
durch Schranken sein. Aber wenn Paulus besonders hervorhebt,
daß die beiden Seitentüren kleiner waren, als die mittlere, so
ist das nur mit der zweiten der aufgestellten Möglichkeiten
vereinbar. Die verschiedene Höhe der Türen kann man sich
doch nur so vorstellen, daß sie in die Wand eingeschnitten
waren. Man beachte auch den Ausdruck diixiiaysv v. 719, der
direkt auf diese Auffassung hinleitet. Dann ist auch klar, daß
die Füllung bis oben hinaufreichte. Damit ist erwiesen, daß
die justinianische Hagia Sophia schon eine die Apsis völlig
gegen das Schiff abschließende Bilderwand besaß.^
^ Die anonyme narratio de struct. templi S. Sophiae ergibt für
unsere Frage neben der Schilderung des Silentiarius nichts Belangreiches.
Doch hebe ich die Stellen hervor c. 16; ed. Preger 94, Iff. ra Sh 6ri]d'Bcc
xal xiovag aqyvQai itdvxa. TCSQdvlsiGs 6vv rotg tcvXb&gvv avx&v und
c. 28; ed. Preger 105, 18 ff. Die einstürzende Kuppel hat im Jahre 567
den Ambo und die Solea zerschlagen 6vv rmv xqvggw errid'scav xai xQvoav
xal KLovoav oXoaQyvQoav. — Yon späteren Zeugnissen ist noch interessant
der Bericht über die Zerstörung der Bilderwand durch die Kreuzfahrer
im Jahre 1204 Chron. Nowgorod, (Hopf Chron. grecorom. p. 97): invaserunt
sanctam Sophiam . . . contuderunt podium sacerdotale argento ornatum
et duodecim columnas argenteas.
372 Karl Holl
Relativ untergeordnet ist für unsere Untersucliung die
Frage, wo genauer sich die Bilder befanden, die Paulus in
dem oben ausgelassenen Passus beschreibt. Die Angaben in
den zitierten vv. 686—691 sind verzwickt, weil der Dichter
zwei Gedanken verwirrend miteinander verbunden hat. Paulus
will erstens sagen: der Baumeister hat nicht nur die Wände
in den Interkolumnien mit silbernen Platten verkleidet, sondern
auch die Säulen überzogen; zweitens: die Wände zwar sind
ungeschmückt — nur das kann yviivccg in v. 688 bedeuten — ,
aber über — so muß wohl hier das iTcl gefaßt werden — den
Säulen sind Bilder angebracht. Holtzinger (Die altchristl.
Archit. S. 161 A. 1) wird also wohl recht haben, daß die
Medaillons am Architrav und Fries zu denken sind. — Ähn-
lich laufen auch bei den Kopten die Bilder oben an der
kaikäl-Wand entlang, vgl. A. I. Butler I, 29.
Wenn das Zeugnis des Silentiarius bisher nicht voll ge-
würdigt wurde, so trägt daran z. T. der Umstand Schuld, daß
nach ihm ziemlich lange Zeit hindurch keine QuellensteUe mehr
sich findet, die mit gleicher Bestimmtheit die Existenz der
Bilderwand verbürgte. Es ist ja von vornherein nicht zu er-
warten, daß gerade dieses Stück der Ausstattung der Kirche
häufiger erwähnt wird. Und tatsächlich sind nicht bloß in
der vorikonoklastischen, sondern in der griechischen Literatur
überhaupt die Stellen dünn gesät, an denen — abgesehen von
eingehenden Kirchenbeschreibungen — die Bilderwand vor-
kommt. Der Altar wird genannt, die Türen, die Bilderwand
seltener, und wo sie einmal auftaucht, da ist der schon be-
rührte Sprachgebrauch hinderlich, daß sie in der Regel mit
dem alten Ausdruck xiyxXCg bezeichnet wird. Ich wüßte aus
dem ganzen Material bis ca. 800 nur eine einzige Stelle zu
nennen, aus der man mit annähernder Sicherheit auf das Vor-
handensein der Bilderwand schließen könnte. Sie findet sich
in der Biographie des Tarasius (f 806). Es ist unmöglich,
den ganzen Passus hier mitzuteilen, aber ich darf vielleicht
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 373
auch ohne wörtliches Zitat aussprechen, daß die S. 407 ed.
J. A. Heikel (act. soc. sc. Fennicae t. XVII Helsingfors 1891)
erzählte Szene, wo Tarasius einen an den Altar Geflohenen zu
beschützen sucht, nur unter der Voraussetzung einer die Apsis
vollkommen verhüllenden Wand vorsteUbar ist. — Viel un-
deutlicher reden zwei andere Zeugnisse, die einzigen, die sonst
noch wenigstens relativ in Betracht kommen. In der vita
des Theodor von Sykion werden c. 8; ed. Theoph. Johannes.
Venedig 1884 S. 368 — die Stelle wurde auch auf dem
2. nie. Konzil zitiert Mansi XII 89 E — die siöödia tov d'vöia-
etrjQCov erwähnt und zugleich angegeben, daß oberhalb —
wie mir scheint, oberhalb der TayxXCg — iv tcj 6ravQo86%G)
sich ein Bild Christi befand. Ganz ähnlich ist aus Nikephoros
antirrhet. III 45, M. 100, 465 A/B (vgl. dazu apol. minor M. 100,
836 A/B und namentlich die offenbar davon abhängige Stelle
bei Georgios Hamartolos 786, 23 ff. ed. de Boor) zu ersehen,
daß auch ev xaig iBQalg TayTcXCöi Bilder sich befinden, die von
den Gläubigen verehrt werden: Bilder an der KLyxXCg — auf
eine vollständige Bild^rwand dürfte man von diesem Indizium
aus gewiß nicht schließen. — Besäße man die Daten aus den
Nebenkirchen und die Beschreibung des Silentiarius nicht, so
Iwäre in der Tat die chronologische Fixierung des Ursprungs
der Bilderwand zwar nicht unmöglich, aber doch nur auf Um-
wegen zu erreichen.
Auch diese unter sich so fest ineinander greifenden Zeug-
nisse lassen jedoch noch einen Punkt im dunkeln. Es erhellt
aus der Schilderung des Paulus Silentiarius nicht, ob der voll-
ständige Abschluß des Altarraumes in der Hagia Sophia eine
schlechthinige Neuerung war. Soweit wir sehen, ist das frei-
jlich der Fall gewesen. Bis zum Ende des 5. Jahrhunderts
I reichen unsere Belege dafür, daß man sich mit Schranken,
1 Säulenstellungen und Vorhängen zur Abgrenzung und Ver-
hüllung des Allerheiligsten begnügte. Lehrreich ist in dieser
'Hinsicht namentlich eine Erzählung in der vita Euthymii des
Archiv f. Religionswissenschaft IX 25
374 Karl Hol!
Kyrill von Skythapolis Anal, graeca der Mauriner. Paris 1688
S. 60£: ein Neugieriger stellt sich an die Schranken, excov
tag %£iQciS e^tsötrjQL'y^Evag tm xayxsXXa) rov d'v6Laöt7]QCov, um
ganz genau zu sehen, was auf dem Altar vor sich geht. Noch
mehr fällt ins Gewicht, daß auch Dionysius Areopagita in
seiner mystischen Beschreibung der heiligen Handlungen nichts
von einer Weiterentwickelung verrät. Wenn er ep. 8 M. 3,
1088 D von den TtvXai rcbv ädvtcjv redet, so ist der Ausdruck
sicher im bildlichen Sinne zu verstehen. Zwischen Dionysius
Areopagita und dem Neubau der Hagia Sophia unter Justinian*
liegt aber ein so kurzer zeitlicher Zwischenraum, daß ein
Aufkommen der Bilderwand außerhalb Konstantinopels höchst
unwahrscheinlich wird. Bedenkt man noch, daß die Ein-
führung der Bilderwand nicht bloß eine Äußerlichkeit ver-
änderte, sondern den ganzen Charakter und die Stimmung
des Gottesdienstes in fühlbarer Weise abwandelte, so wird
man vollends geneigter sein, den maßgebenden Vorgang
in die Zentrale — das wird Konstantinopel unter Justinian
auch in kirchlichen Dingen — als irgend anderswohin zu ver-
legen.^
Von Konstantinopel aus muß sich die neue Errungen-
schaft verhältnismäßig schnell verbreitet haben. Selbstverständ-
lich ist nicht anzunehmen, daß sie sich mit einem Schlage
^ Das Gedicht des Paulus Silentiarius schildert die Sophienkirche
so, wie sie im Jahre 563 nach der Wiederherstellung des eingestürzten
Teiles aussah. Aber man darf wohl unbedenklich voraussetzen, daß in
dem uns interessierenden Stück der ursprüngliche und der restaurierte
Bau nicht wesentlich verschieden waren.
^ Beachtenswert erscheint mir immerhin in technischer Hinsicht
die Beschreibung des Ciboriums in Thessalonich acta Demetrn M. 116,
1265 {yiißöaQiov) ig)LdQV(iivov k^ayöavcp GxriyLari^ vAoGiv £| ycal toi%oig
laagld'iLOLg i^ ccgyvQOv doTclfiov nal Siaysylviiiievov fi£^OQq)(J0^8VOV.
Silberne Türen führen in das Ciborium hinein, das wie ein Mantel die
Ruhestätte des Heiligen umgibt (ib. 1249 A, 1265 D). Die Art, wie die
Interkolumnien ausgefüllt und die Türen eingeschnitten sind, steht der
Konstruktion der Bilderwand in der Hagia Sophia außerordentlich nahe.
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 375
Überall durchsetzte.^ Aber daß mindestens die Großstädte bald
das Beispiel Konstantinopels nachahmten, beweist der bereits
hervorgehobene Tatbestand bei der koptischen Kirche.^
Das gleichmäßige Vordringen der neuen Einrichtung ist
sicher wesentlich befördert worden durch die eindrucksvolle
Zeremonie, die die liturgische Ergänzung zu ihr darstellt.
Über die Zeit, in der der Ritus der stöodoi eingeführt
wurde, fließen die Quellen reichlicher als bei der Bilderwand.
Das erste ganz unzweideutige Zeugnis für das Bestehen der
Sitte findet sich in der mystagogia des Maximus Konfessor
(f 662), Die Schrift ist, wie im Hinblick auf andere ähnliche
Werke ^ besonders betont werden muß, ohne alle Frage echt.
Bei der Erklärung der Liturgie kommen überall die Lieblings-
ideen des Maximus zum Vorschein; zudem steht ihr ein gutes
äußeres Zeugnis zur Seite; sie wird bei Anastasius Sinaita
quaest. et resp. 154, M. 89, 813 C zitiert. Maximus kennt schon
^ Doch ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn ich daran erinnere,
daß man aus der Erwähljung von Altarvorhängen nicht folgern darf, die
Bilderwand sei an einem bestimmten Ort nicht bekannt gewesen. Denn
die Ciboriumvorhänge wurden durch die Ikonostasis nicht überall ver-
drängt und teilweise, nachdem sie schon abgeschafft waren, später wieder
eingeführt. Es genüge hier der Hinweis auf Sym. Thess. de sacro templo
M. 155, 341 C.
^ Aus der melchitischen Kirche besitzen wir für Alexandria nur
ein höchstens indirekt beweisendes literarisches Zeugnis. In der vita
jdes Johannes edeem. c. 14; ed. Geizer 29, 6 spielt eine Szene r/^i] Xombv
<Tov dia'Kovov triv xad'oXi-KJiv VTtdyovtos 'nkr\Q&6ai £vxi]V nal xov ayiov
xatciTterdö^arog vipovö&aL fiiXXovTog. Mit Recht hat Geizer zur
Erklärung auf Ps. Germ. M. 95, 428 C verwiesen und geschlossen, daß der
hier gemeinte Vorhang der oberhalb der Mitteltür befestigte sei, was
jdie Bilderwand voraussetzt. Doch wird dieser Schlxiß nur im Zusammen-
hang mit den oben aufgeführten Daten sicher.
^ Die Erklärungen der Liturgie, die unter den Namen des Ger-
manus und Sophronius laufen, sind anerkanntermaßen unecht. Beide
stehen mit dem Kommentar des Theodorus von Andida in einem engen
literarischen Verhältnis. Die Schrift des Ps, Germanus ist wohl die
älteste unter den drei; aber auch sie darf nicht vor dem 11. Jahrhundert
angesetzt werden.
25*
376 I^arl Holl
eine doppelte suöodog im Gottesdienste; er unterscheidet eine
üfQ6tr] siöodog (M. 91, 688 C, 697 C, 704B) und eine slö-
odog tav äyCcov fLv6trjQC(x)v (700 B, 704C, 708 C). Die Form
der Ausfülirung ist jedoch bei beiden nicht gleichmäßig. Der
erste Einzug geht vom Narthex aus; es ist der feierliche Ein-
tritt in die Kirche. Mit ihm wird . der Gottesdienst eröffnet;
auf diesen Akt folgt zunächst die Lesung (700 A). Dagegen
bewegt sich die sleodog t&v ^vöttjqCcdv vom Altarraume aus
nach dem Schiff zu. Maximus beschreibt sie nirgends ein-
gehend; aber die Parallele zum ersten Einzug, der Name
siöodog und die Andeutungen namentlich in c. 16, M. 91,
693 C/D machen es doch unzweifelhaft, daß die Prozession
schon zur Zeit des Maximus ganz in der Weise der späteren
fisyciXr] siöodog vor sich ging.^ — Genau so, wie es Maximus
uns erkennen läßt, ist der Gottesdienst noch in de cerim. aul.
Byz. (10. Jahrhundert) geschildert. Das anschauliche Bild, das
wir hier erhalten, mag zur Illustration der kurzen Angaben
des Maximus dienen. Auch hier beginnt die Liturgie im
Narthex; nach Gebeten, die vor den königlichen Türen ge-
sprochen werden, findet der Einzug in die Kirche statt (vgl.
z. B. de cerim. aul. Byz. I 1, 9, M. 112, 152 ff.). Die euöodog
t&v iiv6triQC(Dv spielt sich folgendermaßen ab. Der Patriarch
mit dem Klerus geht, die heiligen Gaben tragend, aus dem
Altarraum heraus auf den Ambo zu. Dort hat der Kaiser
(hinter dem Ambo) Stellung genommen. Wenn die Prozession
ihn erreicht hat, schließt er sich dem Zuge an. Patriarch
und Kaiser durchschreiten dann die solea (zwischen Ambo
und Bilderwand); vor den heiligen Türen halten sie einen
Augenblick still; dann betreten sie miteinander das Aller- 1
heiligste, vgl. z. B. de cerim. aul. Byz. I 1, 11, M. 112, 168ff.
Für Maximus sind die beiden e16o8oi offenbar schon ein
ganz selbstverständliches Stück der Liturgie, so gut wie
^ Zu dem Zeugnis des Maximus kommt aus dem 7. Jahrhundert
noch das des Quinisextum can. 90 hinzu.
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 377
Schriftverlesung und Rezitation des Glaubensbekenntnisses. Der
Ursprung des Ritus muß geraume Zeit vor seiner Epoche liegen.
Es fehlt nicht an Spuren, um von ihm aus die Sache weiter zu-
rückzuv erfolgen. Zunächst kommt, wenn wir rückwärts schreiten,
eine Notiz im Chronicon p aschale in Betracht. Die Chronik
berichtet (M. 92, 989 A) zum Jahre 615 (645 ist Druckfehler):
SV rovTG) tq) BXBi STcl UeQyCov %atQidQ%ov KavöTavtLvov-
TtöXscjg ccjcb xrig ä ißdo^ddog rcbv vrj6tsLG)v ivdixtt&vos d
yjQ^ato TpciXXsö^ai ^atä to „ üCwtc vO'wO'ijTC) " av ta TtaiQq)
Tov siödysöd'ai xä JtQorj'yLaö^svcc dcjQa slg TÖ d'vöiaötrJQiov
ccjib tov öTcsvocpvXaTcCov ^srä tö einsiv xhv lsqek „Äara triv
dcoQsäv rot) XQtörov ^ov" svd'mg dQxerai 6 Xabg ,,Nvv al
dvvd[iSLg rcbv o^^ai/öv 6vv rj^lv doQdrcog XatQSvov-
6iv' idov yaQ eiöTtoQSVBtai 6 ßaöiXsvg tfig dö^rjg' idov
d'vöCa ^vötiTiri tstsXsLca^evrj 8oQv(poQsitai' TtCötSi xal
cpößo) TtQoöeXd'co^sv, Iva iiBxo%oi Jo-^g aicoviov ysvG}"
jis^a. dXXrjXovia". rovto dh ov ^övov iv talg vrjötsCaig
TtQorjyiaa^svov siöccyo^evcDV tpdXXerat, dXXd aal iv dXXatg
Tj^SQUig, böd^ig av %Qoriyia6^Bva yCvrjtaL.
Erzählt wird qine Neuerung in der Liturgie der vor-
geweihten Gaben, die Einführung eines Psalms, der in dem
Moment gesungen werden soll, in dem die Gaben vom Rüst-
tisch ^ auf den Altar gebracht werden.^ Deutlich ist dabei die
^ Der Chronist sagt cctco tov GKSvocpvXccKLOv. In der gelehrten Lite-
ratur herrscht über die Lage des öxcvoqpv^axtov ziemliche Verwirrung.
Es ist darum nötig, zu betonen, daß in den Quellen das ßy.svocpvXdy.iov
immer mit der ngod'sais, niemals mit dem diuY.oviy.ov identifiziert wird.
Um der Bedeutung der Sache willen setze ich die entscheidenden Beleg-
stellen her: de cerim. aul. Bys. I 1, 27, M. 112, 208 A SiiQxovtai diä tov
CCQ16TEQ0V ii^Qovg (das Zeremonienbuch nimmt immer den Standpunkt
des Beschauers ein) tov avtov ß'^^icctog (= Altarraum) xal slöSQxovtai
iv tä) öxsvoqpvXorxiöj. Ps. Germ. M. 98, 396 B/C 7} nQ06y.o^idri V y^voyi,ivri
iv TM öTisvocpvXccyiLG}. Sym. Thess. de sacro templo M. 155, 348 A 6 ix
'JtXayiov tov ß'^^iatog tov 6KSV0(pvXaiiL0v tOTtog, og xai Xsystau TtqoQ'söig,
^ Die zitierten Gebete und Lieder sind die heute noch üblichen.
Vgl. die vollständigen Texte bei Brightman Liturgies eastern and western:
378 Karl Hol!
siöodog vorausgesetzt. Wenn von einem siödyetv der daQ«
— der Ausdruck tritt wie ein t. t. auf; vgl. auch das sle-
jtoQBvstai 6 ßaöLlsvg rflg äö^rjg — gesprochen wird, so kann es
sich nicht mehr um ein einfaches Herübersetzen der Elemente
vom Rüsttisch auf den Altar handeln; die Präposition ist nur
verständlich, wenn der Weg über das Schiff genommen wird.
Evident wird das durch den Inhalt des Liedes: begrüßt wird
der Gott, der vor die Gemeinde hergetragen wird {öoQvcpoQsl-
r«t, man beachte den solennen Ausdruck!).
Die Liturgie der vorgeweihten Gaben ist auf einen Aus-
nahmefall berechnet. A minori ad maius ist dann zu folgern,
daß im regulären Gottesdienste die st^odog am Anfang des
7. Jahrhunderts schon üblich war.
Noch einen Schritt weiter rückwärts führt eine Nachricht
bei Cedrenus. Er vermerkt zum 9. Jahr Justins II (573/74)
M. 121, 748 B: htv7C(D%"ri ds tjjdXXsöd'aL xccl 6 x^Q^'^ß^^^S v^vog.
Die Notiz klingt abgerissen; über ihre Tragweite bezüglich
der uns interessierenden Frage ist doch kein Zweifel möglich.
Der cherubische Lobgesang ist der Hymnus, den die Gemeinde
beim großen Einzug anstimmt, das Seitenstück zu dem eben
erwähnten Psalm in der Liturgie der vorgeweihten Gaben.
Auf die Zeremonie des Einzugs deuten auch die Worte des
Liedes unverkennbar hin. Der Hymnus lautet Brightman
p. 377 und 379, Maltzew S. 70 und 73: ol rä xsQovßln
fiv6tiK&g siKOvC^ovtsg tcccI tfj ^(DOTtoim XQiddi xov tQiöd'yLOV
v^ivov TtQoöadovtsg %ä6av ti^v ßicotvK'^v d7Cod'6^sd'a ^eQi^vav,
cjg xov ßaöiXsa t&v oXcjv vjtoö 8^,6 ^evoi talg dyysXiTialg
doQdtog doQvg)OQOVßSvov td^söi. dXXrjXovta dlXrjXovia
aXXrjXovia. Wenn die Gemeinde hier „den von Engelscharen
Das Kcitsvd'vvd'ijtco p. 346; das Kcctä rr/v dagsav p. 348; es ist der laut
gesprochene Schluß des zweiten Gebets der Gläubigenmesse ; der Psalm ib.
-T- In deutscher Übersetzung findet man die Stücke bei Maltzew Die
Liturgien der orth.-kath. Kirche des Morgenlandes. Berlin 1894. S. 144,
145, 149, 150.
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 379
unsichtbar einhergetragenen König des Alls" begrüßt, so spielt
das „unsichtbar" offenkundig an auf das, was sichtbar vor
sich geht, die Hereintragung der Elemente durch den Priester.^
!>is 573/74 ist also der Ritus sicher zurückzudatieren.
Man müßte noch fast um ein Jahrhundert weiter hinauf-
steigen, wenn eine kurz hingeworfene Bemerkung Duchesnes
vollkommen zuträfe. Duchesne hat, ohne tiefer auf die ganze
Frage einzugehen, in einer Anmerkung (Origines du cult
chretien.^ Paris 1902, p. 84 Anm. 1) notiert, daß schon
Dionysius Areopagita die Prozession — er meint die sXöodog
— und den Brauch, dabei einen Hymnus zu singen, erwähne.
Er verweist auf eccl. hier. HI 2, M. 3, 425 C. Allein an dieser
Stelle ist von einem Einzug jedenfalls nicht ausdrücklich die
Rede. Es heißt nur, daß Priester und Diakonen in dem
betreffenden Moment Brot und Wein auf den Altar setzen
[jtQOtid'saöi^ wie es an den früher behandelten Stellen lautete
siödyovöiv). Die Annahme, daß die Übertragung der Elemente
auf dem Umweg über das Schiff erfolgte, wäre nur dann be-
gründet, wenn der allerdings erwähnte Hymnus {jCQOO[ioXoyrj-
^sCörjg vjtb TCavtog -pov tfig sxxX7]öCag jtXrjQm^atos r^g zad'O-
XiJiTjs v^voXoyCag) mit dem cherubischen Lobgesang gleich-
^ Gegen den cherubischen Lobgesang scheint „Eutychius" in dem
j sermo de paschate et s. aecharistia M. 86, 2400/2401 sich zu wenden.
I Er findet es unangemessen, daß man die noch nicht geweihten Gaben
I als König der Herrlichkeit begrüßt. Der von ihm stigmatisierte Aus-
druck — ßccöiUa tfjg do^rig — findet sich allerdings in dieser genauen
Form nicht im cherubischen Lobgesang — hier steht dafür ßaailaa x&v
' oXav — , sondern in dem bei den vorgeweihten Gaben üblichen Psalm.
j Aber wenn Eutychius diesen letzteren meinte, so hätte er seiner Polemik
I eine andere Form geben müssen. Er müßte dann dagegen protestieren,
daß man einen bei schon geweihten Gaben berechtigten Psalm miß-
i bräuchlich auch in der gewöhnlichen Liturgie verwendete. Er verwirft
\ aber nicht eine unpassende Übertragung des Hymnus, sondern den
: Hymnus überhaupt. Also kann er doch nur den cherubischen Lob-
I gesang im Auge haben. — Rühren die Fragmente wirklich von Euty-
i chius (Patriarch von Konstantinopel 552 — 565 und wieder 577 — 582)
i her, so sind sie eine wertvolle Bestätigung der Nachricht des Cedrenus.
380
Karl Hol!
gesetzt werden dürfte. Diese Identifikation unterliegt jedoch
den schwersten Bedenken. Einmal müßte dann die Nachricht
des Cedrenus über das Ursprungsjahr des cherubischen Loh-
gesangs umgestoßen werden, was bei einer so genauen An-
gabe kaum angeht. Dann aber ist — und das scheint
entscheidend — eine so frühzeitige Entstehung der suöodi
mit den Tatsachen, die wir bei den Nebenkirchen antreffe!
nicht zu vereinigen. Den Monophysiten ist die Zeremonie
bekannt: von den Kopten speziell berichtet Butler (The anciei
coptic churches II 284), daß bei ihnen nur eine Art Umgai
um den Altar üblich sei. In dieser Form werden wir
auch das feierliche TtQotid-ivai der Gaben zu denken habei
von dem der Areopagite spricht. Daß man diesen Akt, auc
wenn noch keine Vorführung der Gaben stattfand, durch ein<
Hymnus auszeichnete, ist wohl verständlich. Und es fei
nicht an tatsächlichen Belegen dafür, daß schon vor dem Ai
kommen des cherubischen Lobgesangs an dieser Stelle d^
Liturgie ein Lied gesungen wurde. Ich erinnere namentlic
an den Hymnus öLyrjödtcD Ttäaa ö«^| (Brightman p. 41, 21
dazu Maltzew S. 70 Anm. 1), der allem nach beträchtlich äH
ist als das Cherubimlied. — Ist demnach der Versuch,
El<5o8og bis ans Ende des 5. Jahrhunderts hinaufzuschiebei
nicht durchführbar, so ist die Nachricht des Dionysius Are(
pagita für unsere Frage doch nicht wertlos. Sie rückt ei
die Notiz bei Cedrenus in das richtige Licht. Wir sehen jetzl
daß die Einführung des Cherubimliedes nicht erst überhauj
die Sitte begründete, bei der Übertragung der Gaben eine!
Hymnus zu singen. Der cherubimische Lobgesang trat viel
mehr an die Stelle eines älteren Liedes. Dieser Wechsel ab(
wird nur dadurch begreiflich, daß in der Zwischenzeit ei
Änderung in der Zeremonie stattgefunden hatte, d. h. die sii
oöog aufgekommen war.
Das Jahr 573/74 bleibt also für uns das letzte erreichbai
Datum, bis zu dem wir den Ritus sicher zurückführen könnei
Die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche 381
Wir sind schon damit nahe an den Zeitpunkt herangerückt,
wo wir die Bilderwand auftauchen sahen. Das Zusammen-
stimmen der beiden Resultate ist eine Gewähr für ihre Richtig-
keit. Denn es ist evident, daß die Zeremonie der alöodog nur
i dann einen Sinn hat, wenn der Altarraum durch eine feste
Wand vollkommen abgeschlossen war. Solange nur Vorhänge
das AUerheiligste verhüllten, war mit ihrer Zurückziehung ganz
dasselbe zu erreichen, was die Siöodog bezweckte. Man er-
innere sich an die heute noch bei den Armeniern übliche Art,
j das Heilige bald zu zeigen, bald zu verdecken. Erst wenn
! eine unbewegliche, übermannshohe Brustwehr sich zwischen-
einschob, konnte ein Bedürfnis entstehen, durch ein Heraus-
tragen der Symbole das Interesse der Gemeinde an dem im
; ädvtov sich Vollziehenden wach zu erhalten. So schlägt das
' Resultat der zweiten Untersuchung das der ersten definitiv fest.
Nur das könnte noch einen Augenblick als problematisch
betrachtet werden, ob wirklich, wie es nach dem Bisherigen
scheint, die Einführung der siöoöoi der Bilderwand erst in
einem gewissen Abstand nachfolgte. Logisch, möchte man
meinen, wäre vielmehr eine gleichzeitige Entstehung gefordert.
Allein die innere Konsequenz der Sache braucht nicht sofort
empfunden worden zu sein, und die Quellenzeugnisse reden in
diesem Punkt so bestimmt, daß kein Räsonnement gegen sie
aufzukommen vermag. Den Daten, auf die wir in der grie-
chischen Kirche geführt wurden: die Bilderwand schon in der
Hagia Sophia, die siöodoi nicht viel vor 573/74, entspricht
ganz exakt die Tatsache, daß die Kopten wohl die Bilderwand,
aber nicht die slöodoi haben. Etwa eine Generation muß
zwischen den beiden Institutionen liegen. Auch dann noch
bleiben sie sich zeitlich so nahe, daß der innere Zusammen-
hang zwischen ihnen sichtbar ist.
Erst jetzt kann die Frage aufgeworfen werden, wie man
denn in der griechischen Kirche dazu kam, den Kultus gerade
mit diesen Formen zu bereichern. Es muß nachdrücklich be-
382 ^^^^ Soll
tont werden, daß hier noch ein erst zu lösendes Problem vor- j
liegt. Es genügt nicht, wenn man auf das Allgemeine ver-
weist, daß der christliche Gottesdienst im Orient mehr und
mehr den Charakter einer Mysterienfeier annahm. Dem daraus
sich ergebenden Interesse war ja schon gedient, wenn man das
AUerheiligste durch Vorhänge verdeckte. Warum ist man bei
diesem Modus nicht stehen geblieben? Erinnert man demgegen-
über mit Recht daran, daß seit Dionysius Areopagita das Be-
dürfnis nach einer noch dichteren Verhüllung des Mysteriums
sich regte, so bleibt doch immer noch die Frage, wie man
dann gerade auf die „Bilderwand" verfiel. Selbstverständlich
ist es doch nicht, daß dem Wunsch sich gleich diese so fertig
aussehende Konstruktion zur Verfügung stellte. Hier muß ein
bestimmtes Vorbild eingewirkt haben, etwas aufgenommen
worden sein, was vorher schon da war.
Und es ist auch nicht schwer, das Vorbild zu entdecken.
Man vergegenwärtige sich noch einmal die Anlage in der Hagia <
Sophia: die Reihe der zwölf Säulen, die Interkolumnien aus-
gefüllt durch Tafeln, die so hergestellte Wand durchbrochen ,
durch drei Türen, die Mitteltür höher als die Seitentüren — '
ich denke, bei den Lesern dieser Zeitschrift wird dieses Bild
sofort ein anderes in Erinnerung rufen: die „Bilderwand"
ist das Proskenion des antiken Theaters.
Die Analogie zwischen den beiden Konstruktionen geht
bis ins einzelne. Wie im griechischen Theater (vgl. Dörpfeld
und Reisch, Das griechische Theater. Athen 1896) seit der|:
Errichtung eines steinernen Proskenions die Wand durch
Säulen und zwischeneingestellte Tafeln gebildet war, so treffen
wir es auch in der Hagia Sophia. Auch die Zahl der zwölf
Säulen, die wir im Bau Justinians finden, scheint nicht zufällig
zu sein. Denn genau dieselbe Zahl hat Dörpfeld (S. 385) an
den Proskenien vieler Theater konstatiert und ist geneigt, sie
für charakteristisch zu halten. Die drei Türen, denen eine
Dreiteilung des Innenraums entspricht, sind beidemal in der-
Die Entstehung der Bilderwand in der griechisclien Kirche 383
selben Weise eingesetzt.^ — Vielleicht erstreckt sich die Parallele
noch weiter: die solea in der Hagia Sophia hat ihr Gegenstück
in dem Raum zwischen dem Proskenion und der Thymele, der
Ambo steht — ich kann das hier nicht näher beweisen; meine
Auffassung stützt sich hauptsächlich auf die Angaben des
Zeremonienbuchs — etwa an der Stelle, wo die alte Thymele
sich befand, und auch die Lage der kaiserlichen Loge deckt
sich in beiden Fällen. Ich will auf diese Kleinigkeiten kein
großes Gewicht legen: die Übereinstimmung in den ent-
scheidenden Zügen scheint mir evident.
Es ist noch eine besonders willkommene Bestätigung der
aufgestellten Hypothese, daß mittelst dieser Analogie sofort
auch der zweite Ejioten sich löst. An und für sich ist es ja
nicht selbstverständlich, daß man nach der Einführung der
festen Wand gleich auch eine liturgische Zeremonie fand, die
den aUzu strengen Abschluß wieder milderte und die Gemeinde
mit der am Altar vollzogenen Handlung direkt in Kontakt setzte.
Aber dasselbe Vorbild hat auch bei diesem Problem gewirkt.
Der „Einzug" im christlichen Gottesdienst hat gleichfalls seine
Parallele im antiken Drama. Wie dort der Aufzug des Chores
die Szenen schied, so markieren in der griechischen Liturgie
die 8L6odoi die Akte des heiligen Dramas. Auch der Name
slöodog ist wohl von dorther entlehnt. Elcodog scheint zwar
nicht die gewöhnliche Bezeichnung für den Einzug des Chores
gewesen zu sein — es wäre begreiflich, wenn man den eigent-
lichen t. t. vermieden hätte; doch ist auch möglich, daß der
Sprachgebrauch wechselte, vgl. die unten angeführte Stelle — ;
jedenfalls war es ein geläufiger Ausdruck für die Sache.^ Ich
^ Daß der Typus hier wie dort nicht starr ist, daß die Zahl der
Säulen (und der Türen) sich auch nach den Verhältnissen richtete,
braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden.
^ Ich darf vielleicht diese Gelegenheit benutzen , um die Philologen
auf eine Stelle hinzuweisen, die mir für das Fortleben der alten Tragödie
beachtenswert erscheint. In den Akten des heiligen Demetrius wird
(M. 116, 1206ff.) ein Traum erzählt, den der Bischof von Thessalonich
384 I^arl Holl Die Entstehung der Bilderwand in der griech. Kirche
unterlasse es, die Vergleichung noch, weiter durchzuführeu.
Die Übereinstimmung in der Hauptsache scheint mir auch hier
handgreiflich.
Es ist ein alter Vorwurf der Abendländer gegen die Orien-
talen, daß ihr Gottesdienst „theatralisch." sei. Ist der gelieferte
Nachweis richtig, so trifft diese Kritik im eigentlichsten
Sinne zu.
während des Avareneinfalls im Jahre 597 hatte. Der Bischof sieht sich
ins Theater versetzt. Er fragt sich erstaunt, wie er an den für ihn un-
schicklichen Ort komme, und will das Theater verlassen. Da betritt ein
Tragöde die Bühne {öq& xQccymdov stesQxofiEvov inl tb y.aXov^svov rov
Q-sdtQov XoyLov) und fordert ihn auf zu bleiben, um seinen Sprue);
anzuhören (iistvov, ort ch xal t7]v d'vycctEQci 6ov i%(0 tQaycpdfjöai). Yj-
gelingt dem Bischof zu verhindern, daß der Tragöde mit seiner Klage
anhebt. — Der Traum, der natürlich auf das der Stadt drohende Unheil
hinweisen soll, scheint mir psychologisch nicht erklärbar, wenn der
Bischof (resp. der Verfasser der Akten) die Tragödie nur aus der lite-
rarischen Überlieferung kannte. Ich bin geneigt, daraus zwar nicht z^
folgern, daß zur Zeit des Verfassers der Akten noch Tragödien ai
geführt wurden, wohl aber, daß noch tragische Schauspieler, Rezitator«
wenn auch vereinzelt, auftraten. Doch mögen darüber die SachkennJ
urteilen.
Leichenbestattuiig in Uiiteritalieii
Von H. Braus in Heidelberg
Zu Beginn des Jahres brachte eine der gelesensten Zei-
tungen Neapels, der Mattino (14./15 1. 05), einen lebhaften Appell
an die städtische Verwaltung, welcher eine Erneuerung der
„Polizia mortuaria" verlangte, da augenblicklich die übliche
Bestattung allen Regeln der Kultur und öffentlichen Hygiene
Hohn spreche. „Denn — das, was hier gesagt wird, erscheint
unglaublich, bemerkt der Artikelschreiber — hier exhumiert
man die Leichen schon nach kaum neun bis achtzehn Monaten
(je nach dem Alter des betreffenden Individuums), während das
Gesetz verordnet, daß der Bestattungsturnus zehn Jahre be-
trage." Was liegt näher für den Uneingeweihten als die Ver-
mutung, die große Stadt mit ihren 17000 Beerdigungen pro
Jahr (Mattino 2. HI. 05) dulde wegen Platzmangel auf den
Kirchhöfen eine so grauenvolle Umackerung dieser Stätten.
Sind doch gewiß noch vor wenigen Jahrzehnten die 21ustände
der Bestattung von Leichen Unbemittelter gerade in Neapel
sehr üble gewesen, wie allgemein erzählt wird. Und doch
liegt der Tatsache , daß die Leichen nur kurze Zeit in der Erde
verbleiben — nicht nur in Neapel, sondern allgemein in beiden
Sizilien — ein Volksbrauch, ein Herzensbedürfnis aller, auch
der bemittelten Stände, zugrunde. Da ich mich durch eigenen
Augenschein von manchem unterrichten konnte, was bei der
Bestattung nicht öffentlich ist und deshalb den meisten Reisen-
den nicht zu Gresicht kommt, ist es vielleicht für die Kenntnis
der Beerdigungsgebräuche von Nutzen, wenn ich das schildere,
was ich sah und sonst sicher in Erfahrung brachte.
iwß^
386 H- Braus
In manchen kleinen Städten und Städtchen Sizilie:
nimmt der Camposanto einen ganz beträchtliclien Flächenraum
ein, selbst dort, wo eine Neuanlage besteht und deshalb auf
die Entvölkerung der Orte durch Auswanderung Rücksicht ge-
nommen sein könnte. In Milazzo z. B., an der Nordküste der
Insel, dessen enormer Weinexport nach Frankreich durch die
Gesundung der Reben an der Loire schnell zurückging, so daß
besonders viele brotlos wurden, nach Amerika zogen und ihre
Häuser in der Stadt dem Verfall überließen, erstreckt sich der
Friedhof hoch über dem Meere in herrlichster Lage weit über
die Hügel hin. Er ist 1887 angelegt, ein Stolz der Bewohner:
La Pieta dei Milazzesi
Volle consacrato ai suoi morti
Questo poggio incantevole
Perche la loro memoria
In tanta fecondita di natura
Rifiorisse amorosamente nel euere
Delle piu lontane generazioni.
Auch auf diesem Camposanto wird unter Umständen sch(
nach einigen Monaten exhumiert. Questa soglia divide due
mondi, la pieta li congiunge. Pietätlosigkeit und Platzmangel
sind es also gewiß nicht, welche hier den Bestattungsturnus
diktieren. Am beredtesten sind die Begräbnisgebühren,
welche die Stadt erhebt. Bleiben die Leichen in der Erde, bis
der gesetzliche Turnus von zehn Jahren abgelaufen" ist , so ist
der Platz gratis. Wird dagegen schon nach kurzer Zeit
exhumiert, so ist eine Gebühr von 125 Lire (100 Mark) zu
zahlen. Ein Grab auf ewige Zeit kostet nur 60 Lire.
So bleiben denn die Leichen der Armen und Ärmsten auf
diesem Camposanto fast am längsten in der Erde; denn die
Zahl der gekauften Gräber (posti distinti) ist nicht groß. Gerade
die Begüterten aber lassen schon nach einigen Monaten ihre
Verstorbenen exhumieren. Der Platz in der Erde war auch
für sie frei. Er wird alsbald von einem Neuankömmling ein-
Leichenbestattung in Unteritalien 387
genommen, damit die Reihe voll bleibt. Das große Geldopfer
— besonders groß für den relativen Wert der Münze in den
wirtschaftlich rückständigen Verhältnissen — wird gebracht,
um den geliebten Leichnam so unterzubringen, daß das persön-
liche Verhältnis zu dem Toten den Überlebenden besser gewahrt
scheint.
So ist es auch in kleinen Ortchen. Der Arme verbleibt in
der Erde. Der Wohlhabende wird exhumiert. Überall sind
die Taxen für die Ausgrabung recht hoch. Auf der Insel
Lipari, der größten der Aolischen Inseln, werden 100 Lire ge-
zahlt, und das ist für die meisten der armen Bevölkerung so
unerschwinglich, daß außer den Armengräbern viele Posti distinti
existieren, welche wie bei uns mit Grabsteinen und Marmor-
büsten und Monumenten geziert sind. Denn für diese zahlt
man pro Platz nur die Hälfte. Nur diejenigen, welche als
ganz reich gelten, exhumieren ihre Toten.
Alle, welche italienische Friedhöfe gesehen haben, kennen
die Marmorplatten, mit welchen die Mauern in mehreren Reihen
übereinander bedecklj sind. Sie verschließen die Nischen
(nicchi, auch cugette, dasselbe Wort wie Schiffskabinen), in
welchen der exhumierte Leichnam untergebracht wird. Hier
wohnt der Tote. Am Allerheiligen- und Allerseelentag ist die
ganze Stadt auf dem Camposanto. Da sah ich in Neapel, daß
die Besucher auf die Marmorplatte der Nische verstorbener Be-
kannter und Anverwandter mit Bleistift ihren Namen ein-
schrieben. Ganze Besuchslisten waren auf Steinen von einst
i reich verschwägerten oder vielbefreundeten Toten zu lesen , oder
i viele an Ornamente und in Ritzen angeheftete Visitenkarten
zeugten von der Zahl, dem Stand und gesellschaftlichen Schliff
der Besucher.
Der Wunsch, daß der Tote erhalten bleiben möge in allen
seinen Teilen und als körperliches Ohjekt für alle Akte
des pietätvollen Sinnes der Hinterbliebenen, hat die frühe
Leichenausgrabung bei den Wohlhabenden in Schwung ge-
388 H. Braus
bracht, seitdem die Bestattung in der Erde aus hygienisclien
Gründen im modernen Italien gesetzlicli durcligefülirt wurde.
Denn in der gewöhnliclien Erde des Camposanto (der terra
frigida) verwesen die Weichteile, und selbst die Knochen werden
bald mürbe und zerstört. Unterbricht man jedoch diesen Prozeß
im richtigen Augenblick, so tritt unter der Einwirkung der
trockenen Luft Mumifikation ein, und nur wenig vom Körper
geht verloren.
Ich kenne diese Prozeduren am besten aus Neapel, wo sie
sehr ausgebildet sind. Hier wird die vulkanische Tufferde
(terra bruciata) benutzt, um von vornherein in der Erde schon
ein Mumifizieren der Leiche einzuleiten. In KapeUen, welche
sich auf dem größten Teil des unteren Friedhofes, dem Campo-
santo der Reichen, aneinander drängen — großen Häusern,
welche die Wege zu Straßen einer Totenstadt gestalten und
darin wohl antiken Gräberstraßen ähneln — , befinden sich zu
ebener Erde kleine Grabfelder, welche regelmäßig ummauert
und durch Zwischenwände in drei oder mehr, unter Umständen
acht oder zwölf Einzelgräber eingeteilt sind. Die Erde in den-
selben ist von außerhalb des Friedhofes herbeigeschafft worden und
besteht aus Rapilli, welche in großen Bänken in der ganzen
Umgebung der Stadt von den früher tätigen Vulkanen ab-
gelagert wurden. Der Camposanto des Vorortes Fuorigrotta
liegt selbst auf solchem Boden und ist erhöht angebracht, da-
mit die Feuchtigkeit abfließen kann. In den Kapellen des
großen Friedhofes bleibt die vulkanische Erde, da sie unter
Dach und Fach ist, stets trocken.
Wird nun eine Leiche, welche in dünnem tannenen Sarge
in diesen Boden bestattet ward, nach der vom Mattino im all-
gemeinen richtig angegebenen Zeit (9 Monate bei Kindern,
IV2 Jahr bei Erwachsenen) ausgegraben, so ist wohl eine be-
trächtliche Eintrocknung, aber von Verwesung kaum etwas zu
bemerken. Die Haut einer Frau von einigen 50 Jahren, welche
sehr stark gewesen sein sollte und 15 Monate in dieser Erde
Leichenbestattung in Unteritalien 389
gelegen hatte , war im Augenblicke der Exhumierung pergament-
artig, aber weich anzufühlen. Alle Gewänder, in welche die
Leiche gehüllt war, fand ich gut erhalten. Nur da, wo das
Gresicht, das zur Seite gewandt wat, den Kissen aufgelegen
hatte, waren Lippen und Wange durch die Zersetzungsprozesse
zerstört. Die Haare und seihst Augen und der ganze übrige
Körper waren intakt. Es soll dies der gewöhnliche Zustand der
Leichen sein. Nur bei besonders fetten Personen oder nach Krank-
heiten, die mit starken Zersetzungsprozessen vor dem Tod ein-
hergehen, soll der Zerfall nicht ganz aufgehalten werden
können. Ich sah noch die Leiche eines an Gehirnentzündung
infolge von Mittelohreiterung verstorbenen Kindes von ca. sechs
Jahren, welche zehn Monate in derselben Kapelle beerdigt
i gewesen war und so völlig intakt war, daß die Eltern das
Haar der Kleinen strählten und mit Bändern verzierten , wie
I wenn sie lebend sei. Der Vater zeigte mir die Photographie,
damit ich sehen könne, wie gut ihnen ihr Liebling erhalten
wäre.
Denn die Anverwandten, welche eine Nische in der Kapelle,
deren Innenwände ebenso wie die Mauern des Friedhofes mit
solchen bedeckt sind, erstehen können, betten den Toten nach
der Exhumierung in einen Schrein, angetan mit einem hellen
Totenhemd ; unter Umständen, wie bei jenem Kind, geschmückt
mit bunten Schleifen und Zieraten. Da mögen nun die Glieder
unter dem Einfluß der Luft, welche durch Löcher in der
marmornen Verschlußplatte frei zu- und abströmen kann, weiter
trocknen und schrumpfen, da mögen schließlich die Gesichts-
j züge und Körperformen unkenntlich werden, es bleibt doch
i die Gewähr für die Anverwandten, daß der Tote ganz ge-
blieben ist.
Das Zusammenbleiben des Leichnams ist die Hauptsache.
Denn da, wo keine Tufferde vorhanden und der Verwesungs-
prozeß nicht so gut aufzuhalten ist, hat man neuerdings be-
gonnen, gar nicht mehr zu beerdigen, sondern — was in
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 26
390 H. Braus
diesem Falle gestattet zu werden pflegt — die Leichen in
Zinksärge zu verlöten und dann direkt in Nischen beizusetzen.
Es ist dies z. B. in Sizilien und auf den Liparischen Inseln
mehr und mehr üblich geworden. In solchen Fällen wird die
Nische vermauert und dann erst die Marmorplatte davor be-
festigt. Oder aber man begnügt sich damit, das Skelett und
von den Weichteilen so viel wie möglich zu erhalten, indem
man auf Ys — ^V2 J^^^ beerdigt, und zwar auf möglichst
trocken gelegenen Friedhöfen, bei welchen manchmal die Erde
zwischen Mauern mit besonderen Abflußlöchem hoch über dem
Niveau der Umgebung aufgeschüttet ist, dann die Überreste
exhumiert und in Nischen mit Luftzutritt verbringt.
Je nach dem Vermögen der Hinterbliebenen wird der
Raum der Nischen ausgenutzt. Es werden manchmal mehrere
Leichen in einer untergebracht, denn durch die Schrumpfung
ist der Platz, welcher für einen Menschen berechnet ist, auch
für mehrere so präparierte Mumien ausreichend. Doch ist dies
wohl eine Folge der Teuerung in der Großstadt. In der
Provinz legt man kellerartige Gelasse an, von denen jedes für
eine Familie bestimmt und mit zahlreichen Nischen versehen
ist. Das Ganze ist von einer großen Grabplatte gedeckt und
mit einer Leiter zugänglich. Immer aber hat, bei Einzelnischen
oder Grüften, die Familie den Schlüssel, ohne welchen niemand
die Toten stören kann.
Die Armeren, welche keine Nischen zahlen können, lassen
gleichwohl in Neapel häufig die Leichen in der Tufferde trocknen,
dann aber in Ossuarien verbringen, großen Räumen unter
denselben Kapellen, welche auch die trockene Erde bergen.
In Ossuarien werden so allmählich viele Leichen vereinigt,
ohne daß sie einzeln mehr kenntlich wären. Es genügt da
offenbar das Bewußtsein , daß die Leiche nicht durch Verwesung
zerstört wurde. Auch werden Nischen, deren Zins durch Aus-
sterben der Verwandtschaft oder im Laufe der Zeiten sonstwie
nicht gezahlt wird, frei gemacht dadurch, daß man die Toten
Leichenbestattung in Unteritalien 391
in die Ossuarien verbringt. Die Ärmsten schließlich, welche
keine Kosten für die Bestattung aufbringen können, werden
iu gewöhnlicher Erde begraben und in der Provinz zehn Jahre,
in Neapel nur ^3 — IV2 ^^^^ ^^ derselben belassen. Dann
kommen die Skelette in große Ossuarien. Aber auch die Pietä,
der Armenfriedhof von Neapel, hat Nischen in den Mauern,
und manche von ihnen sind verschlossen, weil das ^cherflein
des Armen genügte, um hier die Knochen seiner Toten auf-
zuheben. Die meisten freilich starben mit garstigen offenen
j Höhlen auf dieses weite Amphitheater schnell wechselnder
Gräber. Italia povera!
Die Christengräber, welche in die Stufen antiker Tempel
zu Girgenti eingeschnitten sind, und die weiten unterirdischen
I Grabfelder Siziliens und Italiens erinnern daran, daß auch in
frühen Zeiten dasselbe Bestreben wie heute herrschte, die
Leichen so zu bergen, daß alle Teile möglichst zusammen-
blieben, und zu verhindern, daß nicht, wie bei langem Auf-
enthalt im Erdboden, die durch Zersetzungsprozesse gelösten
Teile unauffindbar wegsickerten. Im Mittelalter und bis in die
neuere Zeit hinein war es üblich, in trockenen Kellern unter
den Fußböden der Kirchen zu bestatten. Dort wurden die
Särge hingestellt und in vielen Fällen mumifizierten die
Leichen unter dem Einfluß der trockenen Luft. Es sind heute
noch solche Grüfte mit vielen Hunderten wohlerhaltener
I Kadaver zu sehen. In den am besten zur Mumifizierung ge-
eigneten wurden häufig die Leichen, nachdem sie in dem be-
! treffenden Raum ausgedörrt waren, in ihren Kleidern aufgestellt.
I Bekannt sind die phantastischen, Personen der verschiedensten
1 Stände bergenden Leichenkeller der Cappucini in Palermo. In
der von dem Habsburger Karl V. gebauten Feste auf Lipari, dem
1 Kastell der Hauptstadt der Insel , sind unter dem Boden der
Kathedrale in einem hellen luftigen Raum die Cannonici der
Kirche seit Jahrhunderten aufgestellt, zum Teil frei an den
Wänden stehend, zum Teil in ihren Särgen gebettet. Alle
392 H. Braus
waren einst wohl mumifiziert, zerfallen und vermodern aber
jetzt allmählicli, da scMießlich. Luft und Licht die Arbeit von
Insekten u. dgl. nur fördern. Die Bischöfe haben besondere
Grüfte, die nicht zu öffnen sind. Was hier gelang und die
Absicht der Hinterbliebenen war, die Leichen möglichst zu er-
halten, war nicht immer möglich, namentlich in Orten, wo der
Boden tief oder sogar im Meeresniveau liegt. So hört man
denn oft erzählen, daß jedesmal bei Leichenbegängnissen, wenn
die Platte von der Gruft unter der Kirche weggehoben wurde,
entsetzliche Gerüche den Leidtragenden entgegenströmten und
tagelang das Gotteshaus füllten. Die Leichenträger mußten
Masken anlegen, welche die Nasenöffnungen verschlossen, um
den Sarg in den Keller hinabtragen zu können.
Die Bourbonen suchten in Neapel, als die Keller der
Kirchen zur Aufnahme der Leichen nicht mehr ausreichten,
dadurch abzuhelfen, daß sie eine große unterirdische Gruft
außerhalb der Stadt erbauten. Sie ist jetzt noch auf dem
großen Camposanto in dessen oberstem Teil erhalten. Das
moderne Italien verbot dann die Aufhebung der Leichen in
Kirchen völlig und machte die Erdbestattung auf Friedhöfen
obligatorisch. Wie dabei die alten Sitten doch wieder auf-
tauchten, indem die alle Zersetzung begünstigende Wirkung der
Erde durch frühe Ausgrabung aufgehoben oder sogar eine
Mumifikationsmethode durch vulkanischen Tuff gefunden oder
schließlich durch Anwendung von Zinksärgen doch wieder die
Erdbestattung vermieden wurde, haben wir oben gesehen.
Welche enorme Wichtigkeit die Art der Bestattung in den
Anschauungen und im Leben des unteritalischen Volkes hat,
das beweisen die sozialen Einrichtungen, welche auch dem
wenig Bemittelten erlauben, zu Lebzeiten sich eine entsprechende
Behandlung seiner Leiche und derjenigen seiner nächsten An-
gehörigen zu sichern. Ich meine die Confraternitä, die Brüder-
schaft, welche zumal in Neapel noch heute eine große Be-
deutung hat und welcher außer den ganz Armen die meisten
Leichenbestattung in Unteritalien 393
Bürger, auch viele Reiche angehören. Fast jede der Kapellen
auf dem Camposanto von Neapel, deren Einrichtung oben Er-
wähnung fand, gehört einer Confraternitä an, deren Mitglieder
hier bestattet werden. Die eigentümlichen Umzüge beim Tode
eines fratello (daher auch Fratellanza für die Institution als
Ganzes), bei welchen die übrigen fratelli vermummt sind und
den Prunksarg tragen, hat man oft Gelegenheit in den Straßen
Neapels und auch sonst in italischen Städten zu sehen. Die
meisten dieser Brüderschaften sind sehr alt. Es liegen mir die
Statuten und Dokumente der Venerabile Congregazione sotto
il titolo di Maria S. S. Assunta in Cielo vor. Sie bestand ur-
sprünglich nur aus Fischern und deren Angehörigen, bis durch
das Anwachsen Neapels zur Großstadt immer mehr das Fischer-
element aus der inneren Stadt verdrängt wurde oder so ver-
armte, daß die Kongregation einzugehen drohte. Deshalb
wurden unter Murat 1813 die Statuten geändert, so daß auch
Angehörige anderer Gewerbe Aufnahme finden konnten, weil
quelli del ceto di terra lucrano piu di quelli di mare. Ge-
gründet in dem inzwischen aufgehobenen Kloster S. Maria in
Portico di Chiaja und schon 1666 erwähnt, weil damals
Alexander YII. einen Ablaßbrief der Kongregation gab, wahr-
scheinlich aber schon 50 Jahre oder noch länger vorher be-
stehend, ist sie später in die kleine Kirche Della Vittoria an
j der Villa nazionale übergesiedelt, welche sie jetzt noch für
' Kultuszwecke in Ordnung zu halten hat und welche ihr als
Versammlungsort und zu Messen dient.
Der wesentliche Vorteil, welchen die fratelli dieser Laien-
kongregation durch ihre Beiträge sich und ihren Angehörigen
[ erwerben, ist zweifellos in den Augen dieser Leute das Be-
\ gräbnis und die Unterbringung der Toten in der Kapelle der
Confraternitä. Zu den Benefizien gehörte zwar ursprünglich
auch unentgeltliche Behandlung durch den Arzt der Kongre-
; gation, Unterstützung bei Krankheiten durch Geld und persön-
\ liehe Pflege; damit war eine ziemlich komplizierte Gliederung
394 H. Braus
der Fratellanza in eine banca mit verschiedenen Ämtern und
in gewölinliclie fratelli verbunden. Heute besteben wesentlich
nur noch die Vorschriften über die Beerdigung, und zwar be-
ziehen sich dieselben einmal auf die Art des Umzuges, welchen
die Confraternitä mit dem Prunksarg (in welchem oft der Tote
gar nicht vorhanden ist, weil der Friedhof so weit außerhalb
liegt, daß man sich mit einem Umzug durch die Straßen des
betreffenden Stadtteiles begnügt) auszuführen hat, über be-
sondere Klageweiber (piangenti), Palmen, Wachskerzen und
die zu haltenden Messen, ferner aber auf die Bestattung selbst.
Ursprünglich fand dieselbe in der Fossa der Kongregation, d.h.
im Keller der Kirche statt, jetzt in der besonderen Kapelle
auf dem Camposanto in der geschilderten Weise. Dabei geben
alle Strafvorschriften, welche die Rechte einschränken, oder
die den Novizen, Frauen und entfernteren Angehörigen
stehenden minderen Rechte oder schließlich die den im Kranke
haus oder auf Reisen Verstorbenen gewidmeten Vorschrifte
deren Rechte auch geschmälert sind, immer noch den Genuß
des Anrechtes auf die Fossa d. h. die Kapelle, auch wenn alle
anderen Rechte verloren sind. Hier tritt der eigentlichste
Charakter der Fratellanza klar zutage. Auch geben die Leute
im Gespräch die Bewährung der Leiche vor Verwesung in der
Erde als Beweggrund ihres Beitritts zu derselben an.
Wie stark die Beweggründe sind, geht aus dem Geldopfer
hervor, welches diese Form der Bestattung erfordert, und
welches die Kongregation ihren Mitgliedern erleichtert, indem sie
monatliche Beiträge erhebt und dann aus dem Gesamtvermögen
die meisten Unkosten bestreitet. Es ist also eine ganz alte
Form von Versicherungsgesellschaft, welche die Confraternitä
vorstellt. Der Beitrag ist z. B. für die durchschnittlich wenig
bemittelten Mitglieder der Congregazione di S. Maria in Cielo
sehr hoch. Er beträgt 1.10 Lire pro Monat (früher 12 grana)
und wird vom 19. Jahr bis zum Tode gezahlt. Erfolgt der
Eintritt später, so muß eine dem Alter entsprechende Ein-
aer
:en^
1 Leichenbestattung in Unteritalien 395
trittsabgabe entrichtet werden. 600 bis 700 Franken und
mehr zahlen diese Leute, deren Verdienst kärglich ist und
i oft für die meist große Familie knapp ausreicht, für sich und
die Angehörigen aus Pietät für die Toten. Dazu kommt noch
der Betrag für die Nische und deren Ausstattung, welcher
über 200 Lire betragen soll. Bei anderen Kongregationen sind
die Beiträge viel höher, 5 Lire monatlich und mehr. Das
Benefiz genießen außer dem Familienvater selbst dessen Frau,
die Kinder (Mädchen bis zur Verheiratung und Söhne bis zum
j 18. Jahr), die angenommenen Kinder (figli di Dio) und die
Mutter des Mannes, falls sie als Witwe stirbt.
Der moderne Staat, welcher die Beerdigung aus hygienischen
Gründen obligatorisch gemacht hat, konnte bisher die Ge-
bräuche der Bestattung wohl umformen, aber ihnen ihren
eigentlichen Charakter nicht nehmen. Soweit die erheblichen
Kosten vom einzelnen direkt oder durch den Beitritt zur Con-
fraternitä bestritten werden können, wird Sorge getragen, daß
die Verwesung und Auflösung der Leiche in der Erde nicht
eintreten kann, sondern daß eine möglichst vollständige Kon-
servierung durch Beerdigung in geeigneter Erde und frühe
Exhumierung oder durch letztere allein ^erzielt wird. Die Be-
stattung im Zinksarg ist ein Notbehelf an Orten, wo die Erde
zu schnell eine Zersetzung herbeiführen würde. In der Ein-
richtung der Posti distinti, der gekauften Grabplätze, in
welchen die Leiche ewig verbleibt, ist jedoch die moderne Be-
erdigung, wie sie bei uns üblich ist, eingedrungen und wegen
der an vielen Orten geringeren Kosten im Vordringen begriffen.
Daß in großen Städten wie Neapel auch die Leichen der
Ärmsten schon nach kurzer Zeit dem Grabe entrissen und in
Ossuarien vereinigt werden, ist wohl nichts anderes als eine
Folge des Platzmangels. Es fehlt aber in den Augen des
Volkes, dessen wohlhabende Klassen aus Pietät früh exhumieren,
diesem Vorgang die Vorstellung des Grausigen, welche er für
uns hat. Ob mit Recht?
396 H. Braus Leichenbestattung in Unteritalien
Unsere Kultur versucht an die Stelle der Beerdigung
die Leichenverbrennung zu setzen. Wie die Guillotine die
Hinrichtung maschinell gemacht hat, so gibt der Siemenssche
Ofen der Bestattung das Gepräge unserer technisch hoch-
entwickelten Zeit. Zum mindesten sollten diejenigen, welche
in der partiellen Vernichtung des menschlichen Körpers
durch das Feuer und der üblichen Sammlung und Zerkleinerung
der Reste durch das Personal der Feuerungsanlage eine be-
sonders pietätvolle Art der Bestattung erblicken, die Gefühle
des Italieners verstehen, welcher in seiner Weise die ihm teuren
Reste den desorganisierenden Einflüssen der Erde zu entziehen
und sie durch künstliche Mittel als körperliches Objekt in
Nischen zu bewahren sucht. Wir alle fürchten die Erde und
machen uns schreckliche Vorstellungen über die Art der Zer-
setzung des Organischen in ihr, welche das Volk in seiner
Art personifiziert. Nicht jeder hat den grimmigen Humor
Luthers, der kurz vor seinem Tode schrieb : „Wenn ich wieder
heimkomme nach Wittenberg, will ich mich in den Sarg legen
und den Maden einen feisten Doktor zu essen geben."
iff
Erklärung der Abbildung auf Taf. III, oben
Teil des Camposanto in Milazzo
Auf der oberen Terrasse befinden sich mehrere Leichenkapell
von Bruderschaften und Privaten. Der Raum zwischen ihnen ist von
unterirdischen Gelassen eingenommen, welche zu ebener Erde mit großen
Steinplatten bedeckt sind.
Die Futtermauer der Terrassen und die Schranken, welche
von ihr aus in die nächst tiefere Terrasse vorspringen (eine der letzteren
ist im Vordergrund des Bildes in der Nähe zu sehen), sind vollständig
überdeckt mit Grabnischen (nicchi). Einige im Vordergrund sind noch
leer. Die am meisten links in der unteren Reihe der Mauer befindliche
enthält einen Zinksarg. Sie ist mit Ziegelsteinen frisch zugemauert.
Die noch unbehauene Marmorplatte für den definitiven Abschluß steht
am Boden in der Mitte der Mauer. Die vier Nischen rechts und alle
in der Futtermauer tragen Marmorplatten, welche den Ziegelabschluß
verdecken.
Die Gebüsche (Rosenhecken) hinter der Schranke im Vordergrund
umfriedigen große Felder, welche also die untere Terrasse bedecken (auf
den im Bilde nicht sichtbaren, nach rechts folgenden tieferen Terrasseu
finden sich noch mehr solcher Felder). In ihnen liegen in Reihen die
Gratisgräber (Wechselgräber). Man sieht im Hintergrund des Bildes einige
Monumente: Posti distinti (Dauergräber).
Orthia'
Von Anton Thomsen in Kopenhagen
Die bekannte Artemis Orthia in Sparta hieß ursprünglich
nur Orthia, wie wir es bei Alkman und in einigen Inschriften
finden, und dies ist also noch eine Bestätigung der genialen
Theorie, die Hermann Usener in „Götternamen" aufgestellt
hat. Über ihren Kultus kennen wir folgendes: bei Alkman
(Fr. 23, 61 Bergk^) bringen die Chorjungfrauen der Orthia ein
OAPOU dar; dies Wort haben einige als cpäQog, Gewand, ge-
deutet und mit den Kleidern der verstorbenen Wöchnerinnen,
die der Iphigeneia geweiht wurden, zusammengestellt; die
Deutung wäre gestützt durch die vermutete Verwandtschaft
Orthias mit Iphigeneia, welche aber nur ein Hirngespinst von
Tansanias, d, h. der rationalisierenden Mythenforschung ist.^
Mir gefällt besser die Interpretation Sosiphanes' im Scholion,
^ Als ich 1902 eine Untersuchung Orthia in Studien zur Sprach-
und Altertumsforschung der philologisch -historischen Gesellschaft zu
Kopenhagen herausgab, war mein Hauptzweck, die traditionelle Er-
klärung der äLa^cc6tLy(o6Ls als Ablösung eines früheren Menschenopfers
zu widerlegen, indem ich teils die Unzulänglichkeit dieser Erklärung
zu erweisen, teils einer neuen Deutung den Weg zu eröffnen suchte.
Erst nachdem diese Abhandlung schon lange gedruckt war, bin ich
; darauf aufmerksam geworden, daß eine der meinigen sehr ähnliche Er-
I klärung von J. Gr. Frazer in seinem Pausanias-Kommentar (1898) schon
aufgestellt ist. Da seine Deutung in Deutschland bisher gar nicht be-
rücksichtigt worden ist, auch in der Pausaniasausgabe Hitzigs und
I Blümners nicht, die doch in der Vorrede des zweiten Halbbandes (1899)
j des Kommentars Frazers Erwähnung tun und auch an mehreren Stellen
! Frazer anführen, noch in dem späteren Artikel Orthia in Roschers Lexikon
' (von Höfer), ist es mir sehr darum zu tun, auf sie aufmerksam zu machen.
^ Ganz irrig Ramsay Journ. Hellen. Stud. III (1882) S. 55, dem
Frazer zu Pausan. II, 7, 6 folgt.
398 Anton Thomsen
der es als q)ccQogj Pflug, versteht^, welche aucli von den Sicheln
gestützt wird, die der Siegespreis ihres Agon waren und von
den siegenden Knaben ihr geweiht wurden.^ Sie wurde also
durch Jungfrauenchöre und Agone gefeiert und zudem mit einer
Pompe von Lydern^, die nach Diels^ mit den gepeitschten
Ephehen identisch waren. Diese dia^aötCycoöig ist ja der be-
kannteste Zug des Kultus. Die Quellen fließen nur spärlich^;
Hauptstelle ist Pausanias III, 16, auf die ich später zurück-
kommen werde, die anderen Berichte sind kürzer als der des
Pausanias und von der Deutung des betreffenden Verfassers
beeinflußt; fest steht, daß die Epheben^ jedes Jahr vor dem
Altar der Orthia gepeitscht wurden.
Die von den Alten aufgestellten Deutungen sind folgende:
entweder wird darauf Gewicht gelegt, daß der Göttin Blut
geopfert wurde und die Epheben gegeißelt wurden, um den
Altar mit Blut zu benetzen (Pausan. III, 16, 10, Philostrat. 7ita
Apoll. VI, 20), oder dies wird vom früheren Menschenopfer ab-
geleitet (Pausanias, Suidas v. Lykurgos, Hygin. 261). Plutarch,
Aristides 17, läßt die Sitte eine Nachahmung einer Episode in
der Schlacht bei Platää sein; sie ist aber selbstverständlich
viel älter, und diese Geschichte kann den Ursprung durchaus
nicht erklären. Die Deutung, die wir am meisten finden
([Plut.] Inst. Lac. S. 239 C; Lukian, Anacharsis 38 — 39, weniger
klar Cic. Tusc. II, 20, TertuU. ad martyr. IV'), sieht in der
Kultussitte einen Wettkampf und eine Prüfung der Abhärtung,
^ So auch Bergk und Diels Hermes XXXI, 359.
2 Vgl. Th. Preger Musische Knabenwettkämpfe in Sparta, Athen.
Mitt. 1897, S. 334 f.
« Plutarch Theseus 31, Aristides 17. * Hermes XXXI, 361.
^ Am vollständigsten gesammelt bei C. Trieber Quaestiones Laconicae
(Göttingen 1866).
^ Die Epheben nennen die meisten Quellen, nur [Plutarch] Inst.
Lac, S. 239C und Cicero Tusc. 11,14 Knaben, was gewiß ungenau ist;
so Schneider; irrig Haase zu Xen. Rep. Lac. II, 9.
^ Die heillos korrupte Stelle Xen. Rep. Lac. II, 9 gehört wohl hierher.
Vgl. S. 405.
Orthia 399
kurz ein Examen der jungen Menschen, die ins Leben treten
sollten. Es ist einleuchtend, daß dieses pädagogische Motiv
nicht das ursprüngliche war; es ist eine rationalistisch-
moralische Erläuterung derart, wie wir sie immer wieder treffen,
wo der alte Kultus seinen ursprünglichen Sinn eingebüßt hat
und man im Begriffe steht, die eigentliche Religion zu ver-
lassen, um auf eigener Hand sich hinauszuwagen. Obwohl
aber dieses Motiv als das ursprüngliche nicht gelten kann, ist
doch später gewiß eine Motivverschiebung eingetreten, und ein
Nebenphänomen ist zum entscheidenden Hauptmoment gemacht
worden; und darauf deutet wohl die Verbreitung dieser Er-
klärung; von besonderem Interesse ist hier Philostratos, nach
welchem die diaiiaötC'ycoßig eine Ehre wäre, die der skythischen
Artemis dem Orakel gemäß erzeigt würde; und auf den Ein-
wand, daß es nicht weise Ratgeber wären, läßt er Apollonios
entgegnen: „Nicht zum Peitschen, sondern den Altar mit
Menschenblut zu benetzen, rieten sie ihnen — — ; die Klug-
heit der Lakedämonier hat aber, was bei diesem Opfer unver-
meidlich war, es zu einem Wettkampf des Aushaltens gemacht,
wobei niemand stirbt und die Göttin doch das Opfer ihres
Blutes erhält." Also die Prüfung der Abhärtung ist später
und menschlicher Erfindung entsprungen, das blutige Opfer
ist das ursprüngliche und von den Göttern gestiftet. Dieselbe
Auffassung tritt bei Suidas und Pausanias hervor; Suidas sagt,
daß Lykurg das Peitschen aller Epheben zum Ersätze des
früheren Opfers eines derselben eingeführt habe.
Es wäre dann wahrscheinlich dieses festzustellen: der
j Kultus der Orthia stammt von ursprünglichen blutigen
! Menschenopfern her; die Vorstellung, daß die Göttin Blut
I forderte, hat sich als die entscheidende erhalten; im Laufe der
iZeit aber sind die Menschenopfer Geißelungen geworden, durch
welche der Altar mit Blut benetzt wurde, ohne daß der Kultus
lunter normalen Bedingungen den Tod herbeizuführen brauchte,
wenn es auch dann und wann (Plutarch, Lukian) geschah; dies
400 Anton Thomsen
wird aber ausdrücklich als Ausnahme bezeichnet, die der Wett-
eifer der Epheben verschuldete, also nachdem die ethische
Seite des Kultus hervorgetreten war. Dieser Auffassung der
spätantiken Schriftsteller schließen sich, soviel mir bekannt
ist, alle Forscher^ der Neuzeit an ohne besondere Ab-
weichungen, nur Frazer bildet eine Ausnahme. Es ist hier
zunächst die Aufgabe, zu zeigen, daß diese Erklärung un-
möglich ist oder jedenfalls mit solchen Schwierigkeiten ver-
bunden, daß sie sich kaum behaupten läßt.
Um diese Anstöße zu verstehen, muß man die griechischen
Menschenopfer ins Auge fassen. Sie sind Ausnahmen; zwar
in außerordentlichen Fällen mußte es dem religiösen Bewußt-
sein naheliegen, nach außerordentlichen Maßregeln zu greifen,
und dann sucht man wieder nach alten kräftigen Mitteln,
denn in allen Religionen ist das alte immer das stärkste.
Periodische Menschenopfer sind aber sehr selten; mit solchen
muß man die Kultussitte der Orthia zusammenstellen, denn
wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß diese alte Sitte den
sehr seltenen Weg vom gelegentlichen zum periodischen Opfer
durchgemacht hätte; die ungereimten Veranlassungen, die
Plutarch (Arist. 17) und Pausanias (Orakel!) anführen, können
wir ruhig unbeachtet lassen. Bei den meisten periodischen
Menschenopfern (Lykaios, Kronos auf Rhodos, Thargelien usw.)
wurden nur Verbrecher geopfert, was schon Ersatz ist^; aber
der gewöhnliche Ersatz ist irgendein Tier, das dann oft, um
den Übergang leichter zu machen, als Mensch angekleidet oder
behandelt wird (Buphonia, das Kalb auf Tenedos) ; oder es wird
^ Z. B. K. 0. Müller, Welcker, Schneider zu Xenophon, Preller,
Schoemann, Bernays {Theophrast über Frömmigkeit), Ernst Curtius, Stengel,
Wide; in Uoacheis Lexikon a. Artemis {^chieihei), Iphigeneia (StoU), Orthia
(Höfer).
* Cäsar B. G. VI, 20 : supplicia eorum qui in furto aut latrocinio
aut aliqua nota sunt comprehensi, gratiora diis immortalibus esse
arbitrantur, sed cum eius generis copia deficit etiam ad innocentium
supplicia descendunt. Hier ist das Verhältnis auf den Kopf gestellt.
Orthia 401
bei der Zeremonie dem Opfer ein Ausweg offen gehalten, der
kaum ursprünglich ist, so daß das Menschenopfer nur durch
einen Unglücksfall oder unter besonderen Umständen statt-
findet (Agrionia zu Orchomenos, Leukas), oder der Mensch
wird durch eine menschenähnliche Puppe ersetzt (Argeia in
Rom, auch in europäischer Bauernsitte). Der Ersatz ist also
immer etwas geringeren Wertes, statt mehrerer Menschen nur
wenige, statt ehrlicher Menschen Verbrecher, statt Menschen
Tiere, ja man begnügt sich sogar mit Puppen und leeren
Zeremonien. Die entgegengesetzte Entwickelung sieht man
nie bei periodischen Opfern, wohl aber bei gelegentlichen.
Zu dieser Entwickelung aber bildet scheinbar der Kultus
der Orthia einen merkwürdigen Gegensatz. Der Ersatz hat
nur einen Sinn, wenn das Peitschen der Epheben das Opfer
derselben ablöste, die Sitte wäre dann . gemildert worden, wenn
auch die Göttin dann und wann ernstliche Opfer forderte.
Diese Auffassung ist aber a priori sinnlos, denn kein Volk
ist so dumm gewesen und kein Volk hätte viele Jahre existieren
können, wenn es den Göttern das Beste, die jungen Männer,
des Staates zukünftigen Schutz, hingegeben hätte. Hier liegt
das entscheidende Argument gegen die Theorie des Menschen-
opfers. Es ließe sich aber dagegen einwenden, daß der Ersatz
nicht notwendigerweise auf ein solches Opfer zurückzugehen
brauchte, es wäre denkbar, daß ein einzelner Mensch jedes
Jahr geopfert und dann das Peitschen aller Epheben als
Ersatz eingeführt worden wäre, wie auch Pausanias und Suidas
ausdrücklich sagen. Dies ist aber unwahrscheinlich, denn bei
dergleichen Ablösungen gibt es immer ein Zwischenglied; das
religiöse Bewußtsein wird schwerlich den Sprung vom einzelnen
Manne oder vom einzelnen Epheben zum feierlichen Durch-
; peitschen aller Epheben tun. Schon bei dem Übergang vom
Menschen zum Tier gibt es Schwierigkeiten, die im Alten
i Testamente Jahve persönlich bei der Opferung Isaaks be-
i seitigen mußte, und doch galt der Unterschied zwischen
4Q2 Anton Thomsen
Menschen und Tieren dem primitiven Menschen viel v^eniger
als uns. Das Opfer des einzelnen aber und das Peitschen
aller sind ganz inkommensurable Dinge; es läge am nächsten,
nach Tieren sich umzusehen; die Einwendung des Thespesion bei
Philostratos: dieses wäre eine seltsame Behandlungsweise von freien
Griechen, ist sehr berechtigt und wird in der Religionsgeschichte
durch Hinweisung auf pädagogische Motive nicht entkräftet.
Hiermit ist aber die Sache nicht erledigt; das Zwischen-
glied wäre ja im Blute vorhanden; die Göttin fordere Blut,
und anstatt daß einer all das seinige gäbe, müßten alle
Epheben ihren Beitrag leisten. Auch mit diesem Zwischen-
glied, das Tansanias und Philostratos so stark hervorheben,
steht die Opferablösung als etwas Besonderes da; das Ganze
könnte viel leichter und dem religiösen Bewußtsein ansprechender
erreicht werden als durch diese tagelange Geißelung; der
Sprung zwischen dem ursprünglichen Opfer und der Ablösung
ist ungeachtet des Blutes zu groß. Daß das Blut an und für
sich ein vorzügliches Zwischenglied sein konnte, steht fest;
Euripides, Iph. Taur. 1459, — rfjg öfig öcpayfig cctcovv btci-
6%BtG) ^Ccpog — ^^Qll ^Qog ccvdQog al^d t' ^^avihco — 06 Lag
hart, d'sd -9'' o:tcog ti^äg exji. Dies ist ein deutliches Bei-
spiel der Ablösung durch das Blut; der Weg aber, der von
dem einen zu den vielen führt, bleibt noch unerklärt, wozu
noch eine wichtige Erwägung kommt: warum dieser ungeheure
Umweg? warum das Peitschen? Durch einen Schnitt in die
Haut konnte ja der Altar ebensogut mit Blut benetzt werden,
warum dann diese beschwerliche Zeremonie, die ja doch den
Delinquenten nicht gerade angenehm sein konnte? Die
pädagogisch -rationalistische Erklärung ist selbstverständlich
eine spätere, und niemand wird behaupten, daß dadurch das
Zwischenglied gefunden wäre. Dann steht aber der Über-
gang von einem Manne zu allen den jungen und der vom
Blutopfer zum Peitschen als psychologisch ganz unerklärlich
und ohne Seitenstück in der Religionsgeschichte da.
Orthia 403
Es stellt sich nun die Frage ein, ob wir sonst im grie-
chischen Kultus Geißelungen dieser Art antreffen.^ Schon
Pausanias (VIII, 23, 1) hat folgende Parallele herangezogen:
ßsäv de IsQa avtod'L {^v ^AXsa) — Ttal /liovvöov vabg xal
ciyaXpicc. rovt<p ütccQa stog S-aiBQSia eoQxriv ayovöi, xal iv
/JLOVvöov tfl ioQtfi Ttaxä iidvtev[ia ix zisXq)G)v iiaötiyovvtai
yvvalxsg, xad'ä xal ol UTtaQt iatmv 6(pr}ßoi Tta^ä xfl 'Og^Ca.
Diese als ursprüngliches Menschenopfer zu fassen, scheitert an
demselben Einwand wie bei der Orthia; daß mehrmals einzeLue
Menschen dem Dionysos geopfert wurden, kann ja nicht eine
allgemeine Stäupung erklären. Bei Dionysos konnte man sie
aber auch als Sakrament betrachten, den anderen sakramen-
talen Formen des Dionysosdienstes ähnlich. Während das
Opfer den Weg vom Menschen zum Gott bezeichnet, haben
wir im Sakrament den Weg vom Gott zum Menschen, und
sein Kern ist die unmittelbare Übertragung der göttlichen
Kraft. Im Dionysoskultus finden wir öfter, wie Rohde^ ge-
zeigt hat, diese Übertragung durch das Blut, ähnlicherweise
wie im alten arabischen Kamelopfer ^ und bei der Hostie.
Geht es auch später in Symbolik über, die ursprüngliche Idee
bleibt doch immer dieselbe: der Wunsch, den Gott in sich
aufzunehmen und seiner Kraft durch direkte körperliche Über-
tragung teilhaft zu werden. Robertson Smith hat auch im
Kultus der Orthia den sakramentalen Charakter angedeutet*,
er hebt hervor, daß der Bund des Menschen mit Gott durch
das Blut geknüpft wird. Der Begriff des Sakraments muß
dann ausgedehnt werden, um überhaupt die unmittelbare
^ Anf Hesych vv. FviLVOTtaidia, JrilLaTibg voiios, Moqottov, xvnui,
tvn&vrsg und Pausan. VIII, 15, 3 (vgl. Mannhardt Mythol. Forsch. S. 121)
verweise ich nur, weil diese Stellen teils zu fragmentarisch, teils zu
unsicher sind. ^ Psyche^ 11 S. 14f.
' Robertson Smith Die Beligion der Semiten (1899) S. 262 (englisch
p. 338).
* a. a. 0. S. 247 (englisch p. 322). Vgl. Farneil Cults of the greek
States (1896) IT, 439.
1
k
404 Anton Thomsen
körperliclie Verbindung zwisclien Gott und Mensclien sowohl
in den Blutopfern als auch in den Haaropfern zu bezeichnen.
Somit wäre die Verknüpfung der diaiiaörCycoöig mit der
Weibergeißelung in Alea abgetan, und von dieser letzteren
aus durch die anderen dionysischen Blutsakramente könnte
eine abgerundete Theorie aufgestellt werden. In diesen
Sakramenten ist es aber gerade das Blut Gottes, das
der Mensch aufnimmt, und nicht umgekehrt, und zudem
steht stets das Peitschen als Mittel, Blut zu erlangen, ganz
irrationell da.
Diese mystischen Sakramente gehören ja zum Orgiasmus,
und man könnte, wie K. 0. Müller^, die dia^aötfycjöig als
Ausschlag davon betrachten. Dies ist aber keine Erklärung,
weil der orgiastische Kultus viele verschiedene Elemente um-
faßt und der Orgiasmus als Begriff nicht zur Erklärung aller
möglichen irrationellen und scheinbar widersinnigen Dinge
verwendet werden kann. Vom phallischen Dienst des Dionysos
und der vermuteten gleichartigen Bedeutung des Namens
Orthia ausgehend, könnte man unsere Sitte in Sparta
auch die in Alea als sexual -pathologische Erscheinungen q\
klären, späteren christlichen, wie den Flagellanten, der MarJ
Magdalena von Pazzi und der Elisabeth von Genton ei
sprechend; diese Erklärung muß aber entschieden zurücl
gewiesen werden; alte religiöse Kultussitten, wie die d(
Orthia, sind nicht vorübergehenden religiös -hysterisch«
Perversitäten entsprungen.^
Viel ansprechender als alle bisher genannten Deutung
versuche scheint mir der von J. G. Frazer in seinem Pausanij
Kommentar III S. 341f. aufgestellte: Before Coming forward
be scourged, the lads had to go through a course of bodily
training (Hesych s. v. cpova^iQ^). Although tradition averred
that the scourging of the youths was instituted as a Substitute
^ Dorier I, 386. ^ Ygl. Mannhardt Mythol. Forsch. S. 147.
Orthia 405
for human sacrifice^, analogy suggests that it was simply one
of those cruel ordeals whicli among savage tribes youths have
to undergo on attaining to manhood. For example among
the Becliuanas no lad may marry tili he has gone through
the initiatory ceremony called boguera. The ceremony is per-
formed upon a number of lads together. They live for six
or eight months in huts erected in a secluded spot. They
are scourged frequently and mercilessly, and they "make it a
point of honour to affect absolute impassibility, and the greater
number display a stoicism which would have been admired at
Lacedaemon, at the feasts of Diana Orthia". Blood spouts from
their backs under the Switches, and the marks remain deep and
broad for life. In other respects the training of these young
blacks resembles that of the Spartan youths. During the boguera
they are allowed no flesh meat except what they can steal; if
they are caught stealing "they are beaten unmercifully for their
clumsiness, while a successful foray is regarded as deserving of
all praise". They are trained to endure cold and hunger and
are daily practised in the use of arms. With all this may be
compared the training of the Spartan youths as described by
Xenophon (Rep. Lac. 2 — 4) and Plutarch (Lycurgus 16 sqq.) .
The tortures undergone at initiation by the young men of the
Mandan Indians are familiär from the descriptions and sketches
of Catlin: Letters and Notes etc. on the North American
Indians I p. 157 sqq.^ Probably as I have suggested elsewhere
(The golden Bough II p. 233 sq.) these ordeals were originally
instituted not as tests of endurance but as religious purifications.
Among primitive peoples beating is certainly practised as a
^ Frazer schreckt ja übrigens sonst nicht vor der Annahme der-
artiger Menschenopfer zurück: siehe z.B. seine Behandlung des Passah,
The golden Bough II, S. 48f.
^ Der Kuriosität halber mache ich auf Grote History of Greece
(New Ed. 1862) II S. 147 aufmerksam, der auch Catlin zur Vergleichung
mit der spartanischen Sitte heranzieht, aber die pädagogischen Motive
betont und „religious feelings" in dem Hintergrund stehen läßt.
Archiv f. Religionswissenschaft IX 27
406 Anton Thomsen
healing and purifying ceremony, without any idea of punishing
or testing the endurance of the sufferer. See The golden
Bough n p. 149 sq., 187, 213—217, 233 note 3.^
Daß Frazers Parallele^ uns den rechten Weg zeigt, bin
ich überzeugt, aber „initiatory rites" umfassen viele ganz
heterogene Sitten^, und eine eingehendere Erklärung ist mög-
lich, wenn man die Natur der Göttin, mit welcher der Ritus
verknüpft war, schärfer ins Auge faßt. Hier müssen wir uns
zu Pausanias wenden; er hat von der Herkunft des Kultbildes
zwei sich widersprechende Berichte. Dem ersten nach wäre es
mit dem Bild der taurischen Artemis identisch, das Iphigeneia
und Orestes aus Tauris stahlen. Um diese späte Kombination
zu widerlegen, brauchen wir kein Wort zu verlieren.^ Der
andere Bericht, der der Meinung Pausanias' nach — aber
gegen jedes gesunde UrteiP — den ersten begründen soUte,
sagt, daß Astrabakos und Alopekos das Bild fanden und irr-
sinnig wurden; dies wird ohne Zwang mit den letzten Worten,
daß das Bild in einem Lygosgesträuch gefunden wurde, ver-
bunden. Dieser ist der echte alte Kultusmythos; der Zug des
Wahnsinns zeigt das Alter der Sage, Astrabakos kennen wir
ja aus Herodot II, 69 als spartanischen Heros.^ Hieraus ergibt
sich: Orthia war eine alte lokale Göttin in Sparta, ihr Holz-
bild war mit Lygoszweigen umwunden, sie war eine Baum-
* Andrew Lang hat in Myth, Bitual and Beligion (1899) S. 235 f.
die alte Erklärung als Menschenopfer im Anschluß an K. 0. Müller; in
Custom and Myth (1901) aber bespricht er die Orthia beiläufig bei
australischen Initiationsriten, ohne aber ein Wort über die frühere Be-
sprechung zu äußern oder auf Frazer zu verweisen.
* Die Sitte in Alea hat Frazer auf gleiche Weise erklärt, Kom-
mentar IV, 278.
^ Über einige Riten von ganz anderer Art siehe Dieterich Mithras-
liturgie S. 157f.
* Vgl. Welcker Griech. Götterlehre I, 587, Robert Archäol. Märchen
{Philol Unters.) S. 144-150, und in Prellers Griech. Myth. S. 309.
^ Vgl. Pausanias ed. Hitzig und Blümner I, S. 799.
« Wide Lakon. Kulte 279.
I Orthia 407
o'öttin, und daher wurde sie später von Artemis verschlungen,
deren Hypostasen besonders im Peloponnes diesen Charakter
tragen. Dann standen die Peitschungen der Epheben als etwas
I ganz Unverständliches da, und den späteren Mythologen ist
I die grausame Sitte wohl die Veranlassung der Verknüpfung
mit der taurischen Artemis gewesen. Daß diese vermeintliche
Verbindung mit der durch Menschenopfer verehrten taurischen
^^Artemis^' vielleicht die Annahme des Blutes als Zwischenglied
veranlaßt habe, darauf deutet auch hin, daß diese Erklärung
I nur bei Philostratos und Pausanias sich findet, und gerade nur
bei diesen Autoren wird Orthia mit der taurischen Göttin
verknüpft.
Der Baum der Orthia war der Lygos; im Lygosgesträuch
wurde sie gefunden, und Lygoszweige umwanden ihr Bild; sie
hieß daher Orthia Lygodesma (Pausanias). Lygos oder Agnos^
wird oft ein großer Baum (Piaton, Phaidros p. 230 B, Pausan.
III, 14, 7); seine allbekannte Verwendung bei Thesmophorien
und dem Herafest auf Samos zeigt, daß seine Berührung
sakramentale Wirkungen erzielte. Daß auch Dionysos zu
Alea ein Baumgott war, ist wahrscheinlich, wenn die Deutung
des Namens des Festes 2JxiSQeLa als Verhüllung und die Ver-
gleichung mit der Sitte in Phigalia, das Bild des Dionysos
mit Efeu und Lorbeer zu verhüllen^, richtig ist.
Bei der Orthia haben wir also einen mit Peitschungen
verbundenen Baumkultus, und es ist somit natürlich, sich zu
Mannhardt zu wenden; es wird nunmehr klar, daß die
dia^aötCyco^ig mit den Sitten, die er als „Schlag mit der
Lebensrute'' bezeichnet hat, ganz gleichbedeutend ist. Seine
Erörterungen dieser Sache gehören gewiß zum besten Teile
seines Hauptwerkes: Wald- und Feldkulte; denn hier gerade
kommt der sakramentale Zauber klar zum Vorschein, dem
Mannhardt ja an anderen Stellen zu große Bedeutung zu-
^ Siehe Pauly-Wissowa Ägnos.
^ Immerwahr Die Kulte und Mythen Arkadiens I, S. 189.
27*
408 Anton Thomsen
schreibt, so daß er den Begriff des Opfers unterscliätzt.
„Menschen, Tiere, Pflanzen werden zu verschiedenen Zeiten
des Jahres mit einem grünen Zweige (resp. Stock) geschlagen
oder gepeitscht, um gesund und kräftig zu werden."^ Die
zugrunde liegende Idee, daß die Kraft von dem göttlichen
Baume oder dem Baumgotte selbst durch die Stäupung in die
Menschen übergeführt wird, hat sich im Yolksbewußtsein oft
erhalten; zuweilen sind aber die religiösen Vorstellungen ver-
schoben. Sowohl Menschen als Tiere müssen sich dem Heil-
mittel unterwerfen, und am meisten werden junge Menschen
beider Geschlechter geschlagen. Hier in Dänemark steht noch
das Fastnachtsreis in voller Blüte mit papiernen Blumen und
goldenen Blättern, und alle Kinder peitschen' die Alteren am
Fastnachtsmorgen und bekommen dafür einen Wecken.
Mit diesen Bräuchen möchte ich die ÖLa^aötfycaöLg zu-
sammenstellen; statt des unheimlichen Menschenopfers und der-
gleichen will ich das unschuldige und heilsame „Schmachostern",
statt blutigen Opfers unblutiges Sakrament vorschlagen.
Gegen diese Hypothese ließe sich einwenden, daß die
spartanischen Epheben sehr hart, als Regel vielleicht blutig
gepeitscht wurden, ja in einigen Fällen zum Sterben. Daß
der Schlag mit der Lebensrute ursprünglich recht kräftig ge-
wesen ist, kann keinem Zweifel unterliegen, sollte der Gott
doch in den Körper eindringen; bisweilen^ wird man überall
geschlagen, daß keine Achillesferse übrigbleibe; und es war
auch nicht nötig, für gar kleine Mühe Lohn zu geben. Eben
diese Vorstellung ist die Ursache der Peitschungen, sonst
könnte man ja auf seinem Lygosbette weiter ruhen. Der
Brauch wird natürlich oft abgeschwächt, wo die ursprünglichen
religiösen Anschauungen verschwanden; er kann sich aber
auch nach der entgegengesetzten Richtung entwickeln, zu einem
rohen Sport ^ oder zu einer Prüfung umgebildet werden, wie es
^ Wald- und FeldkuUe S. 251.
2 Wald- und Feldkulte S. 262. « Ebenda S. 255.
Orthia 409
namentlicli in den von Frazer gesammelten Parallelen hervor-
tritt. Oft gesellen sich ganz unanständige Vorstellungen hinzu,
und bisweilen taucht das Pathologische auf, z. B. bei den
Barbaren Rußlands, wo die Stäupung der Braut oft zu den
Hochzeitsgebräuchen gehörte.
Zu einer Prüfung hat sich also die spätere dicc^aörCycoöLg
entwickelt, die ursprünglich eine Übertragung der Kraft war.
Von der alten Baumgöttin empfingen die Jünglinge, wenn sie
an die Arbeit des Lebens Hand legen sollten, die göttliche
Weihe, die ihnen Gesundheit, Kraft und langes Leben geben
sollte. Es wird somit klar, warum alle, auch die Schönen
und Vornehmen, gepeitscht wurden; die dia^aötCyoöig war
eine Wohltat, die Einweihung zum Leben, wenn es auch nicht
ausgeschlossen ist, daß sie zudem speziellere Zwecke hatte.
Wäre auch hierdurch der Kultus der Orthia erklärt, bleibt
doch eine Lücke der Argumentation: daß wir nicht wissen,
ob die Epheben mit Lygos gepeitscht wurden. Plutarch,
Aristides 17, wo allerdings von den Lydern die Rede ist, und
Pseudoplutarch, Inst. Lac. S. 239, C, erzählen von Stöcken und
Peitschen, was aber leicht auf Verschiebung des Ursprünglichen
beruhen kann; anderwärts zeigt die Lebensrute auch diese
Entwickelung — oder die entgegengesetzte, die zu Spielzeug
führt, wie das Fastnachtsreis. Daß man Lygos zum Peitschen
brauchte, steht fest (Diosc. I, 136 äyvog 7^ Xvyog, d^ä^vog eötl
d£vdQ6drjg . . . Qccßdovg e^cov dved-Qavötovg ^axQccg . . •,
Athen. XV, S. 671f. TCQog dsö^ovg yaQ xcci nXiy^ata ri Xv'yog
£mt7]d eiog-, Eustath. S. 834 ad II. A 105 (pvxov lnavtcböeg xal
ciTCaXhv — ol ccTtalol äxQe^ovEg xal ^äXXov al TtaQacpvccdsg Tial sig
TtXeyficc 6v6tQ£(povtat xal elg dsöiiovg^ natd xivag öxoCvovg re
nal liidvtag^ vgl. Etym. M. ii66%oi6i Xvyoiöiv, Suidas, v. Xvyi-
^o^svog, . . . tLvsg öh Ttal xb ^sxä XL^o^Cag ßaöavC^siv XvyC^SLV
aal al ^döxiysg alg ot dd'Xrjxal xvnxovxai^ Xvyoi TtaXovvxav).
Von Interesse ist es auch, daß Lygos zu einem religiösen
Peitschen verwendet wird: Plutarch, Sympos. VI, 8, 1: 0v6{a
I
410 Anton Thomsen
tCg höxi TtcctQLog, tjv 6 fisv ccqxcdv sitl xfig xoivfjg eötCag
tcjv ^' ciXXcov E%a6xog btc' oIkov TcaXeltai dh BovXC[iov e^sXaöig'
Tcal xcbv oiTiBXcbv £va xvTtxovxsg ccyvCvaig Qttßdoig diä
d'VQä)v i^sXavvovöiv ijaXsyovxsg, "E^o ßovXi^oVj eöa de
nXovxov Tcal ^TyCsiav. Diese Sitte ist von Mannhardt be-
sprochen, Mythol. Forsch.. S. 129 f., und in Zusammenhang mit
(fdgiiaTioi und anderen unzweifelhaften Menschenopfern ge-
bracht — von einzelnen Menschen; das Peitschen zeigt sich
auch hier als sakramental.
An eine geschichtliche Verbindung glaube ich selb«
verständlich gar nicht; dieselben Bräuche können in Griech(
land wie im nördlichen Europa, in Rom wie in Australi«
denselben religiösen Vorstellungen entsprossen sein, welcl
von allerlei spekulativen Systemen und theologischen Int«
pretationen abgesehen, vielleicht ursprünglich nicht so v(
schieden gewesen seien, wie es oft vermutet wird.
Es bleibt noch übrig, die Deutungen des Wortes Ortl
zu besprechen. Der des Tansanias, daß die Lygoszweige
Bild oQd'dv machten, schließen sich Preller-Robert^ an^
wogegen Schreiber^ einwendet: es wäre unwahrscheinlich,
daß man aus einer allen älteren Holzbildern gemeinsamen
Eigenschaft eine individuelle Bezeichnung gebildet hätte; seine
eigene Deutung aber, die das Phallische zugrunde legt (so
auch K. 0. Müller), scheint mir, weil es sich auf eine Göttin
bezieht, ganz unannehmbar. Wide^, im Anschluß an Baunack,
nimmt die antike Erklärung der Orthosia^ auf: oxi ÖQd'ol slg
öcjxrjQCav rj ÖQd'ol xoifg ysvvco^svovg] sie wäre also eine „Heil-
oder vielmehr Geburtsgöttin", was durch den bekannten Gebrauch
des Lygos und die vermutete Verbindung mit Iphigeneia ge-
^ Griech. Myth. (Ausg. lY) I, 309.
* Roschers Lexikon I, 586 — 587 (Artemis).
^ Lakon. Kulte S. 112 — 115; Höfer in UoscherB Lexikon (Orthia).
* Die Gleicbsetzung Orthosias mit Orthia scheint mir fraglich, vgl.
Hitzig-Blümner Pausanias I, S. 598; Orthosia steht für Orthia bei Suidas
Lykurgos.
Orthia 411
stützt wäre; Orthia hat aber mit Iphigeneia durchaus nichts
zu tun, und sinnlos wäre ja das Peitschen junger Männer vor
dem Altar einer speziell weiblichen Göttin. Eine vierte
Deutung wäre möglich; ÖQd-öSf urspr. Sögd'ogj entspricht
Sanskrit ürdhva-s (von *vrdhvö-s) aufgerichtet, von der Wurzel
yvardh — erhöhen, größer machen, verstärken, gedeihen
machen, intr. wachsen, sich mehren, gedeihen usw.; ÖQd-Ca be-
deutet dann die Emporgewachsene, was mit Preller-Roberts
Deutung sehr wohl vereinbar ist. Ihr Idol denke ich mir der
sogenannten delischen Artemis ähnlich.
Die hier versuchte Erklärung der Orthia bezweckt, erstens
gegen die Deutung des Kultus als eines ersetzten Menschenopfers
und nachher gegen das Blutopfer ohne ursprüngliches Menschen-
opfer Front zu machen, und endlich auch Frazer gegenüber
eine genauere Bestimmung der Grundidee dieser Initiation zu
geben, die ich im Baumsakrament gefunden zu haben meine,
indem das Hauptgewicht auf den Lygosbaum und die wohl
ursprünglich von diesem abgeschnittene Lebensrute zu legen ist.
Immer und überall, wenn das Logosevangelium oder
irgendein anderes religionsgeschichtliches Dokument ausgelegt
werden muß, werden in der Religionsgeschichte wie im
Leben die Worte Goethes ihre Geltung behalten: Im Anfang
i war die Tat! Wenn man einen Gott zu verstehen sich be-
müht, dann muß man zuerst fragen: was tut er? und in
zweiter Reihe erst: was und wie er ist. Auch in der Religion
waltet das Gesetz der Sparsamkeit; soll ein Gott bestehen,
muß er Macht haben; die Götter kann man nicht widerlegen,
diejenigen aber, die nicht wirken und nicht mehr verehrt
werden, ersterben von selbst. So wahr das Religiöse nicht
Stimmung, Poesie oder Philosophie ist, sondern der harten
j Not des täglichen Kampfes ums Leben entsprungen, so sicher
I müssen auch die Götter etwas wirken können, sei es nun
j Gutes oder Böses; warum sollten sich die Menschen sonst um
! sie bekümmern? Ganz wertlos ist daher die Einteilung der
412 Anton Thomsen
I
Religionen in Monotheismus und Polytheismus, die in der
Religionsgeschiclite wie auch in der Religionsphilosophie eine
so große Rolle gespielt hat. Ein Monotheismus im eigent-
lichen Sinne hat nie existiert und wird auch nie existieren; es
hat auch kein Interesse, die Zahl der helfenden oder schadenden
Mächte zu kennen; nur auf die Hilfe oder auf den Schaden
kommt es an, auf die Spannung zwischen dem positiven und
negativen Pol; jede Religion hat ein dualistisches Element, ein
reiner Monismus hat nie in der Religion, sondern nur in der
religiösen Spekulation existiert. Die Haupteinteilung muß
davon ausgehen, ob der Gott überwiegend Schaden oder Hilfe
bringt, und das wird, wo ethische Ideen in die religiösen
hineingemischt werden, zu den Bestimmungen „Gut" und
„Böse"; völlig böse Götter gibt es so wenig wie völlig gute,
sogar der Teufel könnte noch schlimmer sein. Gerade gegen
die Theorie des ersetzten Menschenopfers möchte ich das segens-
reiche Wirken der Orthia als das Ursprüngliche behaupten.
Wie das Prinzip der Tat für das Verhältnis der Götter
zu den Menschen gilt, so auch für das der Menschen zu
den Göttern. Das religiöse Grundaxiom ist das praktische
gegenseitige Verhältnis zwischen dem Menschen und einem
übernatürlichen Wesen, d. h. unmittelbarer Kultus — Gebet,
Opfer, Beschwörung. Namen und Dogmen, alle theologischen
und philosophischen Systeme entstehen und verschwinden, ja
selbst was die höheren Religionsformen genannt werden, die
in der Tat nur theologische Gebäude auf der eigentlichen
Religion sind, wechseln und vergehen, nur der Kultus besteht,
denn alle Religion ist Kultus, und nur Kultus ist Religion.^
Entweder gibt es so viele Religionen wie Menschen, oder aber im
eigentlichen Sinne nur eine; ohne Verbindung entstehen überall
ähnliche Vorstellungen und Sitten, die eben, wenn man
Religion und Theologie klar auseinanderhält, sich gleich-
^ Vgl. Frazer The golden Bough^^ III, S. 49 sq.
Orthia 413
artiger zeigen werden, als man von Anfang an glauben sollte.
Einerseits ist es daher, wie gefährlich es auch oft erscheint,
bei der Erklärung eines Kultus sich zu weit vom Heimatsort
zu entfernen, in einem Falle wie diesem erlaubt, die Parallelen
bei anderen Völkern zu suchen, wenn es nur deutlich präzisiert
wird, daß das leitende Prinzip die Ähnlichkeit der mensch-
lichen Gemüter, nicht die geschichtliche Verbindung ist.
Anderseits wird man oft auch genötigt werden, Verknüpfungen,
die, wie die der Orthia mit der taurischen Artemis und
Iphigeneia, eine große Rolle bei der Erklärung gespielt haben,
fallen zu lassen, wenn man fest daran hält, daß Religion
Kultus ist, äußerer oder innerer, nur was Menschen tatsächlich
glauben, was sie unmittelbar verehren, im eigenen Herzen
oder durch Opfer, Sakramente und Taten, allein oder in Ge-
meinschaft mit Gleichgesinnten, ist Religion; alle Erklärungen,
Dogmen, Systeme und Spekulationen sind nicht Religion und
haben keinen religiösen Wert. Spekulation und lebendige
Religion können sich sehr wohl in einem Bewußtsein finden,
weil die menschliche Natur in sich große Gegensätze vereinen
kann; aber in den Augenblicken, wo man glaubt, spekuliert
man nicht, und wenn man spekuliert, schläft der Glaube.
Alle Religion ist Kultus, und daher haben die konstruierten
Verbindungen zwischen den Göttern nichts mit der Religion
zu schaffen, so wenig wie spekulative Theologie oder die
naiven Versuche bis auf den heutigen Tag, mehr zeitgemäße,
humane und komfortable „Religionen" zu konstruieren. In
der Religion ist eben das Alte das Gute, und die ältesten
I Schichten haben die Stärke von Jahrtausenden, sie sind der mäch-
1 tige lebende Untergrund aller Religionen, welche sich erhalten,
i auch wenn die höheren Schichten sich auflösen und ver-
schwinden.
Lukian (Anacharsis 38 — 39) erzählt, daß das Peitschen
eine Prüfung der Erhärtung sei, der die Eltern beiwohnen,
1 froh, wenn die Söhne aushalten; die Epheben, die sie bis zum
414 Anton Thomsen
Tode ertragen, bekommen Statuen auf öffentliclie Kosten. Man
kann es wohl als sicher betrachten, daß die Geißelung immer
mehr eine Prüfung wurde, wo die Eltern, wie jetzt bei öffent-
lichen Examen, gespannt dem Verlauf folgten, und wo Prämien
verteilt wurden (ßaiiovCzai). Wir stehen hier einer inter-
essanten Form des Yerschwindens eines religiösen Elementes
gegenüber. Das Religiöse hat eine obere und eine niedere
Grenze; wie die niedrigsten Formen der Religion zu etwas
hinweisen, das wir nicht Religion im eigentlichen Sinne nennen
wollen, so kann auch das Religiöse durch eine Entwickelung
von niedrigeren zu höheren Formen in das Mchtreligiöse
übergehen. Diese Entwickelung kann den langen Weg der
Spekulation gehen und ruhig oder durch Krisen in meta-
physische Systeme oder in eine rein positive Lebensauffassung
überführen, oder sie kann unbewußt und unmerkbar durch die
tägliche Praxis geschehen, indem die religiösen Formen, die
im Kampf von Tag zu Tag nicht mehr in Gebrauch sind,
schlechthin wegfallen. Die erste Form ist an und für sich
nicht religiös, denn wo die Spekulation beginnt, hört die
Religion auf; wird aber auch der religiöse Kultus nicht mehr
verstanden, kann er doch bestehen und wird wohl eigentlich
immer eine Zeitlang die Auflösung der höheren Schichten
überleben. Nur vom reinen dogmatischen Standpunkt aus
kann man den Glauben vom Aberglauben unterscheiden; in
der Religionswissenschaft kann man die Distinktion nur als
eine soziale und geschichtliche fassen, als eine zwischen
höheren und niedrigeren Schichten, d. i. zwischen eigentlichen
religiösen Schichten und solchen mit ethischen und meta-
physischen Ideen mehr verquickten, oder rein kultisch zwischen
privatem und offiziellem Kult. Eben die primitiven Schichten
sind die tiefsten und auch die festesten, im Unbewußten, Un-
mittelbaren und Gewohnheitsmäßigen wurzelnd, sind sie eben
darum schwierig zu entdecken, während die Systeme und
Stimmungen, die auf der Oberfläche liegen und diskutiert und
Orthia 415
poetisch dargestellt werden, leichter ins Auge springen. Nur
wo Spekulation und Kritik die höheren Formationen auflösen,
tritt, dem Gesetze folgend, das zuerst von David Hume, dem
Grundleger der modernen Religionswissenschaft, aufgestellt ist
(Natural History of Religion, 1757. Sect. VIII), der lebende
religiöse Untergrund deutlicher hervor, weil die höheren Schichten
nicht länger sie gleichsam niederdrücken, teils aber weil jene eine
Verbindung zwischen den eigentlichen religiösen Schichten und
allem, was sonst im Bewußtsein lebt, schufen; hei der Auflösung
der höheren Schichten werden die alten Formationen bloßgelegt
I und leichter beobachtet durch den schroffen Gegensatz, den sie
jetzt zum übrigen Inhalt des Bewußtseins bilden. In diesen
primitiven Schichten wurzelt alle Religion und kann darüber nie
hinausgehen. Daher muß die Religionsphilosophie vergleichende
Religionsgeschichte werden, und daher muß der Religions-
forscher die psychologische Analyse mehr in den Vordergrund
schieben, und besonders muß er, wenn er psychologisch seinen
Stoff durchdringen will, immer zur phantastischen Welt des
Kindes zurücksuchen — iäv ßti 'ysv7]öd'6 cjg tä TtaiöCa ov ^iri
dösXd'rjts eig ri}v ßaöilsCav xcbv ovqccvcov. Und daher streben
so viele Bekehrte zum Kinderglauben zurück, daher kann, wo
der christliche Glaube schon geschwunden, der Christbaum im
heidnischen Kinderglanz strahlen, und hier liegt auch die
I Lösung des bekannten Problems, warum Unglaube so oft mit
j Aberglauben verbunden ist. Wie der Greis in seinen letzten
Tagen zu den abgebrochenen, unwesentlichen Erinnerungen
'seiner frühesten Kinderjahre sich wendet, während er schon
I alles, was darauf später gebaut und mit Recht die Aufmerk-
samkeit an sich gezogen und die ersten Erinnerungen in das
Unbewußte herabgedrückt hatte, vergessen hat, so geht es
auch in der Geschichte der Religion; wo die höheren Schichten
aufgelöst und vergessen sind, können die sonderbaren, barocken
Brocken der früheren, des primitiven Kultes, zurückerstehen, die
das Erste waren und auch das Letzte sein werden. Es kann
416 Anton Thomsen Orthia
aber aucli so gehen, daß der leere Kultus und die theologische
Spekulation sich zusammenfinden, und dann tritt eine Rationa-
lisierung ein. So ist es wahrscheinlich auch in Sparta ge-
schehen, der eigentliche Sinn ist verschwunden, das Sakrament
unwesentlich geworden, vielleicht vergessen; dem alten reli-
giösen Kult hat man eine nichtreligiöse Erklärung unter-
geschoben; das Examen ist die Hauptsache geworden, gerade
deshalb hat auch die Sitte so lange die eigentliche Idee über-
lebt und eine so hervorragende Rolle gespielt. Auch bis auf
den heutigen Tag sehen vielleicht die meisten in der Examination
in der Kirche den Hauptzweck der Konfirmation, in dem, wie
Philostratos sagt, was die Klugheit ersonnen hat, und nicht in
dem folgenden Abendmahl, das Gott als die innerliche Ver-
bindung zwischen sich und den Menschen gesetzt hat.
Ich möchte gern, daß dieser Kultus, worin man Über-
bleibsel des Rohesten und Grausamsten, das wir in der Ge-
schichte der Religionen kennen, gesehen hat, mit sanfteren
Blicken betrachtet werden könnte. Die alte Orthia Lygodesma
möchte ich vom Gebiete des unheimlichen Menschenopfers,
des blutigen Todes, in die schönen, friedlichen Gefilde ver-
setzen, wo Fastnachtsreis und Lygosbaum geschnitten werden,
wo der Christbaum wächst, in den Kult, dessen höchstes und
schönstes Symbol die alte Vorstellung des Baumes des
Lebens ist.
Mythologische Fragen
Von Richard M, Meyer in Berlin
Die bloße Existenz des „Archivs für Religionswissenschaffc"
bedeutet für den Gesamtbetrieb der Mythologie einen un-
schätzbaren Fortschritt. Es ist damit ein in Permanenz er-
klärter „Kongreß für Religionsgeschichte" gegeben^ ein Areopag,
dem man mit gleichem Vertrauen die speziellsten und die
allgemeinsten Fragen vorlegen darf. Es ist so natürlich, wie
es richtig ist, daß das „Archiv" bis jetzt vorzugsweise Probleme
spezieller Natur behandelt hat; je mehr aber das Material
anwächst, desto wünschenswerter wird es erscheinen, daß wir
uns von Zeit zu Zeit auch allgemein über methodologische
Probleme unterhalten. Schon geht für manche Begriffe die
Terminologie in die Brüche, für nicht wenige Worte die Auf-
fassung auseinander;, und wie Andreas Heusler in seiner
wichtigen Abhandlung „Lied und Epos" (S. 47f.) für diese ja
auch mythologisch so wichtigen Kategorien eine strengere
Nomenklatur gefordert hat, so wird es nicht lange mehr ver-
mieden werden können, daß für das vieldeutige Wort „Zauber"
einigermaßen offizielle Definitionen aufgestellt werden.
Wer ausschließlich auf dem Felde der Mythologie tätig
ist, für den mag durch den vielfältigen Gebrauch eine gewisse
Kompensation der Gefahren eintreten, die mit methodologischen
Unklarheiten verbunden sind; so wie einige Arzte meinen, wer
die Hände viel brauche, könne es eher wagen, offene Wunden
an den Fingern herumzutragen, als wer sie zumeist behand-
schuht in den Schoß legt. Ich meinerseits freilich möchte in
beiden Fällen der Vorsicht das Wort reden! Jedenfalls aber
wird die Unsicherheit dann vollends unerträglich, wenn nun
aus den oft noch recht unsicheren Ergebnissen der Religions-
418 Richard M. Meyer
Wissenschaft heraus in die verhältnismäßig gesicherten Gebiete
der Literaturgeschichte, Historie, Kulturgeschichte Folgerungen
getragen werden. Gerade der Abwehr solcher Gefahren suchen
meine methodologischen Studien zu gelten.
Die Gefahr wächst natürlich mit der Bedeutung der
Forscher. Je bedeutender Wissen, Gedankenreichtum, Energie
eines Gelehrten sind, desto eher können Anschauungen, die
ihm als völlig sicher erscheinen, ohne doch vielleicht fest
genug fundiert zu sein, dahin übertragen werden, wo sie wirk-
lichen Schaden zu stiften geeignet sind. Ich bitte deshalb
gerade die Forscher, gegen die ich mich zu wenden habe (und
die zumeist dem „Archiv" zu dessen größtem Vorteil besonders
nahe stehen), meine gegen sie gerichteten Bedenken als eine Art
Huldigung aufzufassen — selbst wenn die Form das nicht verrät!
I Die IJberscliätzuiig des Zaubers
Von „wissenschaftlichen Moden" hat man längst ge-
sprochen. So hat etwa der berühmte Chemiker H. Kolbe die
Anfänge der physikalischen Chemie als „Moden der modernen
Chemie", übrigens unglücklich, verspottet (vgl. Strigel, ADB
51, 328), und allgemeiner habe ich neuerdings („Gestalten und
Probleme", S. 13 f) auf den Einfluß solcher Lieblingsvorstellungen
einzelner Epochen auf ihre Erkenntnis hingewiesen. Es liegt
keine Beleidigung darin, wenn wir das scheinbar abschätzige
Wort „Mode" verwenden: es wird damit eben nur auf das
deutlichste die Zwangsvorstellung, die Suggestionskraft be-
stimmter Ideen ausgedrückt, denen sich kaum jemand entziehen
kann, weil sie „in der Luft liegen", weil man sie einatmet
und ausatmet wie die Luft selbst.
Vielleicht aber ist die Kraft solcher Zeitideen selten so
mächtig gewesen wie heute. G. v. Below hat kürzlich gezeigt,
wie rasch eine solche Modevorstellung, die der großen Alter-
tümlichkeit russischer Agrarverhältnisse, sich überlebt hat;
V. Hehn hat sie begründet, 0. Schrader u.a. haben sie durch-
Mythologische Fragen 419
geführt — jetzt scheint man sie aufgeben zu müssen. Eine
viel wichtigere ^^leitende Idee" habe ich in meinen soeben er-
schienenen „Kriterien der Aneignung" (Neue Jahrbücher 1906,
und in Sonderausgabe) bekämpft: die Vorstellung, als müsse
eine weitgehende Übereinstimmung religiöser, kultureller, poli-
tischer Art allemal auf geographischer Übertragung beruhen. —
Beide Anschauungsformen sind für die Mythologie von großer
Bedeutung, zumal die zweite, aber auch die erste. Hängt
doch die Überschätzung, die unser verehrter Meister Usener
slawischen Götterlisten in seinen „Göttemamen" (S. 29 f.) ge-
spendet zu haben scheint, mit der Überschätzung slawischer
Altertümlichkeit überhaupt zusammen; freilich hat den genialen
Mann gerade dies vielleicht zu seinem glücklichsten Aper9u
geführt, wie nach Reitzensteins Urteil („Epigramm und
Skolion" S. 263) eine unbewiesene, ja sogar verfehlte Konjektur
Meinekes das richtige Verständnis der Bukolik eröffnete: die
Großen irren oft fruchtbarer als wir Kleinen das Richtige er-
kennen! — Aber beide wissenschaftlichen Moden beschäftigen sich
doch nicht so unmittelbar mit Kernfragen der Mythologie, wie eine
dritte, noch jüngere: die fast unbegrenzte Bewertung des Zauber s.
Es ist bekannt, daß die Religionsgeschichte (man erlaube
mir, hier diesen Ausdruck einfach mit „Mythologie" alternieren
zu lassen) lange Zeit unzweifelhaft den „Inhalt" der religiösen
Vorstellung viel zu ausschließlich in den Vordergrund gestellt
hat. Man glaubte wie Schiller: „es ist der Geist, der sich
den Körper baut"; Riten, Sitten, Formeln sah man als mehr
j oder minder ungeschickte Ausdrucksformen an, die einen schon
I vorhandenen Gedankenkomplex anschaulich machen sollten. —
Hierin einen großen Umschwung hervorgebracht zu haben, ist
I bekanntlich vor allem das Verdienst Robertson Smiths mit
j seiner „Religion of the Semites". (Über den Verfasser und
\ sein Werk handelt ein schöner Essay in J. Bryces, des be-
kannten deutschfreundlichen englischen Ministers und Historikers,
„Studies in contemporary biography", S. 311 f.) Der englische
420 Richard M. Mejer
Geistliclie erklärte im Gegenteil den Kult mit aller Ent-
schiedenheit für das prius und verlangte, daß seine Geschichte
das Rückgrat der Religionsgeschichte bilden solle. Übrigens
hatte vor ihm z.B. K. Weinhold nachdrücklich auf die Wichtig-
keit des Kultes für die Mythologie hingewiesen; aber Robertson
Smith führte als erster diesen Gesichtspunkt energisch und
scharfsinnig durch.
Wohl auch zu energisch! Denn schließlich läßt es sich
doch nicht leugnen, daß ein Kult auch jünger sein kann als
die Anschauung, der er dient. Am häufigsten wird dieser
Fall durch Übertragung eintreten, wie wenn etwa die
Neuchristen auf Madagaskar Taufe und Abendmahl im Sinne
ihrer angestammten Religion zaubermäßig verwenden (Reville,
Verhandlungen des IL Internat. Kongresses f. allgem. Religions-
geschichte in Basel, S. 338) — wobei es eine Frage für sich
bleibt, ob diese christlichen Gebräuche ihrerseits auf uralten
heidnischen Brauch zurückgehen (vgl. Keßler ebd. S. 259).
Aber auch durch innere Entwickelung kann die Religion
über den Kult herauswachsen und neue Kultformen fordern:
Bußpsalmen, ob nun babylonisch oder hebräisch, setzen eine
Reife der religiösen Anschauung voraus, die niemand als
primitiv ansehen wird. Aber selbst in der Gegenwart läßt
sich ja noch die Entstehung neuer Kultformen — natürlich
unter Anlehnung an alte — beobachten; so berichtet Konrad
Martin, der aus dem „Kulturkampf" bekannte Bischof von
Faderborn (Drei Jahre aus meinem Leben, Mainz 1877, S. 122f),
unter welchen Schwierigkeiten sich die Andacht zum heiligsten
Herzen Maria von einem bestimmten Zentrum aus seit 1836
durchsetzte und verbreitete. Sicher also werden wir nicht
jeden Kult unbesehen seinen mythischen Zusammenhängen
gegenüber als „primitiven Kern" betrachten dürfen, noch
weniger freilich in die alte Anschauung zurückfallen, aus der
heraus Kuhn und Schwartz meinten, jeder Ritus stelle einen
bestimmten Mythus vor (vgL Deubner, Archiv für Religions-
Mythologische Fragen 421
wissenscliaft 9, 278). Davon bin ich auch so weit entfernt,
daß ich soeben erst selbst empfohlen habe, nach Useners
glänzendem Beispiel bei der Erklärung mythologischer Er-
scheinungen weniger ausschließlich literarisch und mehr volks-
kundlich vorzugehen („Ikonische Mythen", Ztschr. d. Phil. 38, 170).
Aber es bleiben Fälle, wo man für das genealogische Ver-
hältnis zwischen Ritus und Mythus über die berühmte uralte
Rätselfrage j ob das Ei älter sei oder die Henne, einstweilen
wenigstens nicht herauskommt.
Zunächst aber wirkte Robertson Smith, nicht bloß auf die
Semitisten, mit geradezu faszinierender Kraft. Und aus der Vor-
stellung, alle Religion beginne schlechtweg mit Kulthandlungen,
wuchs insbesondere auch die ganz neue Wertung des Zaubers hervor.
Eigentlich liegt nur ein Spezialfall vor. Frühere Mytho-
logen, am stärksten die erste vergleichende Schule, die der
Creuzer, Kanne, Görres, dichteten den Urmenschen in einen
geheimnisvollen Propheten um, der göttliche Offenbarung in
dunkler Verhüllung hütete und fortpflanzte. Die neuere
Mythologie geht, besonders seit dem Erwachsen der folk-
loristischen Schule der Lipper t. Lang, Frazer, von der
entgegengesetzten Idee aus: instinktive, dumpf tappende Hand-
lungen sind ihr die Wurzel aller Religion und die älteste
Mythologie gleichsam nur ein System von volkstümlichen
Deutungen der eigenen Gesten. Führt ja auch die moderne
Psychologie die „Bildlichkeit oder Gegenständlichkeit des
Denkens" auf den psychischen Zwang oder doch die psycho-
logische Nötigung volkstümlicher Denkart zurück (L. W. Stern,
Die Analogie im volkstümlichen Denken, S. 57). Vereinigt
sich nun mit dieser Gewohnheit triebartiger, gestikulierender
„Handlungen" eine starke, auf bestimmte Zwecke gerichtete
Absicht, besser gesagt ein einem bestimmten Ziel zugewandter
j Wunsch — so entsteht der Zauber, wie ihn sich die Mytho-
I logen und Kulturhistoriker unserer Tage — auf Grund zahl-
' loser wohlbezeugter Belege — vorstellen.
Archiv f. Keligionswissenschaft IX 28
422 Richard M. Meyer
Es ist niclit durchaus nötig, die Zauberei so aufzufassen.
Vielmelir erscheint sie auf höherer Kulturstufe naturgemäß in
viel stärkerer „Bewußtheit": als überlegter Versuch, sich Kräfte
anzueignen, die eigentlich nur höher stehenden Wesen gehören.
So habe ich sie z. B. für die Edda definieren können, in einer
Abhandlung, die einmal systematisch gewisse Grundbegriffe
der Mythologie für ein bestimmtes ethnologisches Gebiet fest-
zulegen suchte (Der Begriff des Wunders in der Edda, Ztschr.
d. Phil. 31, 318). Eine allgemeine Definition des Wunderbegriffs
gab Hume im Essay X — nicht ein wandsfrei, wie sein geistlicher
Gegner Whately richtig nachwies (vgl. Famous pamphlets ed.
by H. Morley bes. S.275). Auch wird im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch der Gelehrten zwischen diesen Formen kaum entschieden:
V. d. Leyen z. B. (s. u.) denkt fast nur an die überlegte, von be-
stimmten Voraussetzungen ausgehende Zauberhandlung, Kauff-
mann („Balder") unterscheidet sie nicht von dem instinktiven
„Analogiezauber", Preuß hat diesen ausschließlich im Auge.
Immerhin ist die Kontinuität dieser Stufen der Magie nicht zu
bestreiten, und der Versuch, Dinge zu erzwingen, die sonst
nicht eintreten würden, und zwar durch Vermittelung
der dazu jeweilig kompetenten übermenschlichen
Wesen — dieser praktische Versuch der Thaumaturgie bleibt
allezeit Seele und Kern alles Zaubers.
Zauber nun in diesem Sinne ist in letzter Zeit in un-
geahnter Weise zu Ehren gekommen. Man möchte beinahe
von einem Rückfall in jene rationalistische Erklärungsweise
der Aufklärungsperiode sprechen, für die bewußter „Pfaffen-
trug" und blöde Nachahmung von selten der „dummen Menge"
das Wesen der Religion ausmachten; oder mindestens in die
Anschauung der bei entgegengesetztem Standpunkt nicht minder
einseitigen Romantiker, die mit Creuzer (Briefe über Hermes
und Hesiodus S. 31) den Begriff des Magischen in die Odyssee
hineintragen. Weltanschauung, Andacht, Verkörperung aus
ästhetischem Bedürfnis, Wißbegier, Systembildung, Anpassung
Mythologische Fragen 423
an gegebene Deutungen — alles das verschwindet, und es
bleibt nur noch der Zauberritus. Wir werden demgegenüber
nicht mit Faust rufen:
Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen
(Faust II, Weim. Ausg. v. 11404),
aber immerhin gewissen Übertreibungen gegenüber uns seine
Worte aneignen:
Mir widersteht dies tolle Zauberwesen!
Wenn Usener dem Ritus weitgehende Bedeutung für die
Entstehung aller sozialen Ordnung zuschrieb — wie kräftig
hat er doch daneben (z. B. Archiv f. Religionswissenschaft 7, 281)
jene anderen psychologischen Wurzeln aufgedeckt! Jetzt erklären
Hubert und Mauß, denen Forscher vom Range Preuß' und
Kauffmanns begeistert folgen, der Glaube an eine Zauber-
kraft sei vor aller Erfahrung a priori gegeben, er sei eine
„materielle und zugleich geistige Substanz" (ich zitiere Preuß,
Archiv 9, 96). Sie machen den Zauberwillen gleichsam zur
Ilrkraft der Menschheit, zu einem metaphysischen Urphänomen,
wie Schopenhauers „Wille zum Leben", Ed. v. Hartmanns
„Unbewußtes", Nietzsches „Wille zur Macht", dem er am
nächsten stehen mag. — Aus solchen primitiven Vorstellungen
hat denn z. B. v. d. Leyen (Germanistische Abhandlungen,
H. Paul dargebracht, S. I51f) die zentrale Gestalt des alt-
germanischen Olymps, den Gott Odin, abgeleitet, der für ihn
nur die Verkörperung des Zauberwesens ist. Das geschieht
immer noch in wissenschaftlicher Weise. Nun aber hat z. B.
in populärer Darstellung Arthur Bonns (Kunstwart 18, 235 f.)
; alle Erzählungskunst aus dem Zauberspruch abgeleitet und
I alle gründliche und überlegte Forschung über die Anfänge der
! Prosa ebenso wohlgemut ignoriert wie die klugen Spekulationen
jJacobowskis (Gesellschaft 15, 9 f.), die doch immerhin auf
empirischer Basis ruhen.
28*
424 Richard M. Meyer
Der Klassiker aber des wissenschaftliclien Zauberglaubens
ist der Mann, dem freilich seine gelehrten Arbeiten auch das
meiste Recht geben, ein von ihm in seiner Bedeutung fast neu
entdecktes Werkzeug zu überschätzen: K. Th. Preuß. Seine
an sich so wichtigen Aufsätze über den Ursprung der
Religion und Kunst (Globus LXXXYI— LXXXVII), die durch
die Studie über den dämonischen Ursprung des griechischen
Dramas (Neue Jahrbücher 1906, S. 161 f) ergänzt werden, zeigen
den Zauberkultus auf der Höhe. Von dem höchst gefährlichen
Dogma, daß es „nur eine Psychologie für die Entstehung
geben kann" (86, 361) ausgehend, leitet er aus dem Zauber
ab allen Körperschmuck (ebd. S. 391), alle Spiele der Er-
wachsenen (daß sie „sämtlich auf zauberisch -religiöse Motive
zurückgehen", ist ihm ein „unumstößlicher Gesichtspunkt"
87, 333), allen Arbeitsrhythmus (ebd. S. 335), alle Tänze
(„ursprünglich sind alle Tänze religiös" — ein von Preuß
übernommenes Dogma Gerlands, S. 336) und schließlich
(S. 382f.) die Sprache selbst! „Die weitere Konsequenz ist,
daß die Sprache dem Zauber der Töne und des Wortes über-
haupt ihren Ursprung verdankt" (S. 397). „Weder Affekte
noch Hilfsbedürftigkeit noch irgend etwas läßt sich denken,
das mehr als rohe Schreie hervorzurufen vermöchte ... Die
Sprache ist das Ergebnis des Zauberglaubens" (von
mir gesperrt; S. 397). Das ging denn selbst W. Wundt zu
weit, der doch sonst in seiner „Völkerpsychologie" so gern
dem mythischen Brüderpaar Reich und Preuß (die trefflichen
Forscher sind wirklich' verschwägert!) nachgeht (vgl. Reich,
Deutsche Lit.-Ztg. 1906, S. 1606) und Preuß den zaubermäßigen
Ursprung des Gewand- und Körperschmuckes (S. 204) und des
Ornamentes an Waffen (S. 212) abnimmt, den unbedingten
religiösen Ursprung aller Tänze (als hätte Groos nie seine
„Spiele der Tiere" und „Spiele der Menschen" geschrieben!)
einfach voraussetzt (S. 398, 403, 429) und selbständig die Ab-
leitung der festen Tonskalen aus den „heiligen Zahlen" (S.447,
Mythologische Fragen 425
vgl. S. 453 Anm.) hinzufügt — eine der kühnsten anti-
empirisclien Spekulationen aus dem modernen Zauberdienst
heraus! Aber selbst dieser große Adept der alten Magie meint
doch (S. 322 Anm.), daß die Konsequenz, die Sprache verdanke
ihren Ursprung dem Zauber der Töne und des Wortes über-
haupt, allein scbon geeignet sei, gegen Preuß' Verallgemeinerung
mißtrauisch zu machen. Und wenn in der Arbeit über den
Ursprung des griechischen Dramas Preuß' Tanz und Musik
lediglich als Zaubermittel aufgefaßt werden (ebenso S. 169
alles Ballspiel), so hat K. Euling (Das Priamel bis Hans Rosen-
plüt, S. 176 Anm.) wohl nicht ohne Grund gefürchtet, daß die
Kategorien der Kausalität und der Teleologie vertauscht seien.
Man vergegenwärtige sich doch nur einmal dies: der
primitive Mensch, der noch nicht eigentlich reden kann, soll
vermöge des Analogiezaubers bereits ein weitgreifendes System
von Kulthandlungen besitzen! Er soll Zauberriten ohne Sprache
überliefern und soll, ehe er die allen höheren Tieren gemeinen
Künste des Spiels und Tanzes besitzt, bereits von der schwie-
rigen Vorstellung individueller magischer Kräfte, des ^orenda'
der Irokesen (Hubert und Mauß a. a. 0.), durchdrungen sein!
Ein stummer Philosoph, ein sprachunfähiger Zauberer, hinter
ihm ein Volk von Zauberlehrlingen, mit denen er, die sich mit
ihm nicht verständigen können! Es bleibt ihnen das äußer-
liche Nachahmen, wohl; dies aber soll beim Ritus genügen,
bei dem jede Kleinigkeit von ungeheurer Wichtigkeit ist?
Einerseits wird der Urmensch unter die Stufe des Tieres
heruntergedrückt, das spielt und in seiner Weise sogar redet;
anderseits wird er über den Magier aller bekannten Zeit er-
hoben, der zauberkräftig schlechterdings nur durch das Zu-
sammenwirken von „Wort" und „Werk", Ritus und Spruch
aufzutreten vermag! Ferner: in allen bekannten Zeiten, bei
allen beobachteten Völkern ist der Zauber „stets bei wenigen
I nur gewesen"; selbst P. v. Bradke, der von einer vorhisto-
I rischen „Schule" träumte, meinte doch selbst noch für die
426 Richard M. Meyer
Arier der Urzeit: „War gleicli eine gewisse Kenntnis der
heiligen Rede auch den übrigen arisclien Männern, insonder-
heit den Vornehmen und Herren unter ihnen, unentbehrlic
die Pflege des Wortes und die Unterweisung im Worte ko
wenigstens auf die Dauer nicht ausreichend von Mann
geübt werden, denen gleichzeitig — und zwar in erster Linie
die Geschäfte des Krieges und der Versammlung, des Staa
und der Familie oblagen" (Beiträge zur Kenntnis d. vorhis
Entwickelung unseres Sprachstammes, S. 9). Für Preuß aber
wäre nicht nur „jedermann sein eigener Zauberer" — nein,
nach jener Vorstellung, die er (87, 418 f.) von der Verbreitung
des Zauberwesens entwickelt, wäre er eigentlich nur dies ge-
wesen. Wie man der glottogonischen Theorie Lazarus
Geigers vorgeworfen hat, nach ihr müsse der Urmensch
aufhörlich „tönen", &o muß er jetzt fortwährend „zaube
Ich bin der letzte, zu bestreiten, daß den primitiven Mensch
eine fast undurchdringliche Atmosphäre von religiöser Sc
umgab; und Usener hat uns ja gelehrt, wie jede Waffe, jeder
Klotz ihm zum „Augenblicksgott" werden konnte. Ich glaube
sogar, daß dies alles durchdringende „Abhängigkeitsgefühl"
bis in die Sprache hinein seinen Einfluß ausübt: den Optativus
als indogerm. Modus weiß ich mir nur so zu erklären, daß er
die Verwirklichung eines Wunsches von der Zustimmung
höherer Mächte abhängen läßt, wie der Konjunktiv von be-
stimmten Bedingungen, der Imperativ von der Tätigkeit einer
angeredeten Person. Aber eine weite Kluft trennt solche
religiöse Befangenheit noch von dem unaufhörlichen Verrichten
magischer Handlung, wie Preuß, Hubert, Mauß es voraus-
setzen. Der Begriff des Zaubers geht auf diese Weise völlig
in die Brüche, weil eine fortwährend und überall, von allen
und bei jeder Gelegenheit ausgeübte Tätigkeit jenen Charakter
einer ungewöhnlichen Anstrengung nicht bewahrt, ohne
den der Zauber keinen Sinn hat: mit Alltäglichem zwingt
man die Götter nicht. Wenn es nur religiöse Tänze gibt, so
rus
1
1
Mythologische Fragen 427
gibt es keine religiösen Tänze. Und in der Tat! Worauf gründet
man denn z. B. jenen Glaubenssatz, daß alle Feste ursprünglich
religiöser Art waren? Man denke doch an unsere Kirchweih!
Was ist denn das prius: religiöse Empfindung oder naive Ver-
gnügungssucht? Das Bedürfnis der Menschen, zusammen-
zukommen, miteinander zu „spielen", ihre Kräfte zu messen,
darf doch wohl schon wegen der Analogien bei den höheren
Tieren als ein wirkliches „Urphänomen" angesehen werden;
dies wird mit der Zeit diszipliniert, unter den Schutz heid-
nischer und kirchlicher Zeremonien gestellt, wie die erotische
Lyrik fast überall (z. B. in der Edda in dem Gedicht von
Skirnirs Fahrt) unter mythologischem Mantel in die Tradition
eintritt. Ein durchschnittliches Kirmesfest ist trotz Kirchgang
und Weihgaben seinem Ursprung nach so wenig „religiös",
wie ein Trinkgelage von Krieger- oder Turnervereinen zuerst
„patriotisch" ist — der Verein mag es deshalb doch sein! — ;
die bestimmenden Motive liegen nicht so tief: man will bei-
sammen sein und sich amüsieren.
Und all die psychologischen und historischen Schwierig-
keiten jener Vorstellung — wodurch werden sie denn eigent-
lich nötig gemacht? Wodurch, durch welche greifbaren
Argumente ist die frühere Anschauung widerlegt, wonach
umgekehrt durch eine Auslese aus dem Alltäglichen, Selbst-
verständlichen Religion, Ritus, Zauber sich erst entwickelt
haben? Viel weiter im Unwahrscheinlichen als in der Her-
leitung der Sprache aus dem Zauber kann man doch schwer
gehen! Höchstens könnte man noch die Art der Fortpflanzung,
die der Mensch mit dem Tier teilt, für eine rituelle Nach-
ahmung des IsQog yd^og erklären, wofür denn auch die nie
fehlende Begleitung religiöser Zeremonien bei der Eheschließung
und die feierliche Behandlung der Ehe in der Poesie zeugen
könnten . . .
Dies führt zu einem weiteren Gesichtspunkt. Preuß trägt
der poetischen und pathetischen Auslese nicht Rechnung.
428 Richard M. Meyer Mythologiscbe Tragen
Ganz natürlich ist in der Überlieferung, zumal der poetischen^
von diesen feierlichen und aufregenden Dingen unverhältnis-
mäßig viel die Rede. Man denke doch noch an die neuere
Dichtung! Ist es doch vielleicht auch ein Symptom der Über-
schätzung des Zaubers, daß Traumann (Literaturblatt f. germ.
u. rom. Phil. 26 [1905] S. 231) Minors gelehrtem Werkchen
über Goethes Fragmente vom ewigen Juden vorwerfen konnte,
er verwechsele poetische Verwertung mit Wunderglauben. Sehr
früh wird auch hier schon das Spiel neben die gläubige Aus-
übung getreten sein, wie bei unseren Kindern und ihren
Messen und Predigten. Wenn der junge Schiller den Pastor
Moser agierte, lag ihm der Glaube an Wunderwirkung des
heiligen Wortes fern, den der Geistliche noch gefühlt haben
mag. Aufmerksam spüren die Traditoren jede Kunde von
mexikanischem Heidentum auf; das hört sich dann an, als ob
der Azteke in lauter Zauber gelebt hätte. Aber wieviel Aber-
glaube ist von den heutigen Deutschen noch belegt (man sehe
nur Wuttke - E. H. Meyers „Deutschen Yolksaberglauben" oder
die Ztschr. d. Vereins f. deutsche Volksk. durch!), und wie wenig
Raum nimmt tatsächlich die Ausübung dieser Riten im Leben
des Volkes ein! Die Zauberberichte in ihrer ganzen Breite
ins Leben zu projizieren, ist gewiß noch voreiliger, als wenn
man aus den Romanen und Gedichtbüchern schließen wollte,
der moderne Mensch lebe nur für die Liebe und allenfalls
noch für die philosophische Grübelei.
Gegenüber der Vernachlässigung der Kultgebräuche be-
deutet Preuß' Betonen des Zaubers einen wichtigen Fort-
schritt. Nun aber kommt es darauf an, den wirklichen Umfang
des Zauberwesens nach Möglichkeit festzustellen, die charak-
teristischen Züge der Magie als einer ungewöhnlichen
Anstrengung nicht zu verwischen und einen fruchtbaren
Gesichtspunkt nicht durch Übertreibung zu schädigen!
[Der Schluß des Aufsatzes folgt im nächsten Heft]
II Berichte
Die BericMe erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in 8 Heften
von 2 Jahrgängen schließen. Mit diesem Band IX (1906) beginnt
die neue Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen
der Zeit seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß
des betr. neuen Berichts referiert.
' 2 Indonesien
Von Dr. H. H. JuynboU in Leiden
[Fortsetzung und Schluß]
Sumatra
Neue Mitteilungen betreffs der religiösen Anschauungen
der Karo-Batak enthält J. H. Neumanns Abhandlung: „De
j tendi in verband met Si Dajang'^ (Mededed. Ned. Zend.
Genootsch. XL VIII (1904), S. 101 flg.).
Nach ihrer Meinung besteht der Mensch aus drei Teilen:
1. die tendi (Seele im Körper, Lebenskraft), 2. eine zweite
tendi, die nach dem Tode hegu (die unvergängliche Seele) wird,
3. der Körper.
Die erste tendi hält sich unter dem Hause, wo die Placenta
begraben liegt, auf, die zweite aber auf dem Dachboden (paro).
430 H. H. JuynboU
I
Die eine, maringala genannte, verschwindet nach dem Tode,
die andere aber wird hegu djahu.
Nach der Anschauung der guru hat der Mensch sieben
tendif deren sechs die Sklaven der ersten, Si Djudjung oder
Djungdjungen genannten, sind. Wer alle diese sieben tendi hat,
würde unglücklich sein, denn die sechste ist ein Dieb, die
siebente ein Spieler. Diese siehen tendi finden sich in sieben
verschiedenen Körperteilen.
Die tendi ist mit dem Blut innig verbunden, denn sie ist
die Wärme, die Essenz des Blutes.
Zwei Dogmata der Karo-Batdk sind: alles, was lebt, hat
eine tendi, und der Mensch wird mit einer tendi geboren. Die
tendi wächst mit dem Menschen. Wenn ein Kind Zähne hat,
wird seine tendi als hart (fest) betrachtet. Die tendi geht von
den Eltern aus. Wenn man träumt, die tendi seines Kindes
gebe ein hartes Objekt, so ist dies ein günstiges Omen. Nach
einem Traum fragt man nicht: was war Ihr Traum? sondern:
was war seine tendi? weil der Traum eine Wanderung der
tendi ist.
Bei der ersten Haar schneidung, die nicht, wie sonst,
gunting, sondern indjami (leihen) heißt, bekommt das Kind
Nippsachen, damit die tendi sich nicht fürchte und entfliehe.
Wegen derselben Ursache wird das Haar des Kindes nicht ab-
geschnitten, bevor es Zähne hat. Man knüpft die ersten ab-
geschnittenen Haare zusammen und bewahrt dieselben auf, da-
mit man die tendi festhalte.
Die tendi ist zugleich Lebenskraft und alter ego. Die
tendi bestimmt den Menschen. Wenn bei einer Krankheit die
Arzneimittel nichts nutzen, stellt man die Diagnose: die tendi
ist erzürnt. Seele und Menschen hängen innig zusammen.
DerBatak sagt: ich will, kann aber auch sagen: meine tendi will.
Das Wort nawa (= Mal. njawa) wird bisweilen in der
Bedeutung von „Atem" gebraucht; die große Menge kennt es
aber nicht.
Indonesien 431
Die tendi kann den Körper des Menschen verlassen bei
Schreck und wird dann auf sieben verschiedene Weisen zurück-
gerufen, je nachdem sie sich mehr oder weniger weit entfernt
hat. Die tendi wird mit begu assimiliert. Der Verfasser gibt
zwei Zauberformeln (tabas)^ um die entflohene Seele zurück-
zurufen, in Karo-batakischem Text und Übersetzung.
Die Karo -Batak kennen keinen Hauptgott, aber drei Dihata.
Der Gott der oberen Welt heißt empung oder nini (Großvater).
Die Karo -Batak betrachten sich als die dibata tengah (Mittel-
götter) und nennen die Ahnen empung dihata.
Die Seelen gehen nach dem Tode nicht nach einem be-
stimmten Seelenland, sondern bleiben einfach auf dieser Erde,
bisweilen selbst im Hause. Der Begriff eines persönlichen
Gottes fehlt. Eine Vergeltung ist auch nicht vereinbar mit
ihrem Schicksalsglauben.
Der Krieg hat den Charakter eines Gottesurteiles, bei dem
dibata Schiedsrichter ist. Die dibata sind die Ahnen (nini
empung)^ die durch fremde Einflüsse Namen erhalten haben.
Das Band zwischen der Seele und den Göttern ähnelt dem
zwischen dem lebenden Geschlecht und den Ahnen.
Die Religion der Karo-Batah ist aber nicht einfach
„Ahnendienst". Neben der Verehrung seiner Ahnen fürchtet
er die Naturkräfte.
Die Lebenskraft von Tieren und Pflanzen heißt auch tendi.
Diese tendi ist sich selbst bewußt. Daher ist die tendi eines
gefällten Baumes zu fürchten. Die tendi gestorbener Tiere und
Pflanzen werden Wind.
Für kleine Kinder, die jung sterben, und für plötzlich ge-
storbene und unverheiratet gebliebene Frauen verfertigt man
einen Garten, der „Sonnenschirm der tendi^^ heißt. Dieselben
haben noch eine tendi, weil sie noch nicht ausgelebt haben.
Ein guru kann das Leben eines Menschen verlängern, indem
er die tendi eines anderen Menschen nimmt. Die tendi wird
oft in Verbindung gebracht mit dem Atem (kesali). Die begu
432 H. H. Juynboll
bleiben auf der Erde, werden Beschützer ihrer Nachkommen,
sind ihre dihata oder bleiben herumirrend. Unter tendi verstehen
die Karo-Batah eine Person und eine Kraft, etwas Bestimmtes
und etwas Unbestimmtes.
Wenn ein Kind krank ist, schickt die Mutter ihre eigene
tendi, um die iendi des Kindes zurückzuholen.
Die tendi des Reises heißt wie der Reis selbst Si Dajang. Si
Dajang wird als eine Person gedacht und angeredet. Sie hat
als Ort die perhenihen, die Nachahmung eines Waldes, als
Sonnenschirm. Wie bei dem Kinde wächst die tendi auch bei
dem Reis. Derjenige, dessen tendi hart ist, ist gesund.
Der Verfasser gibt hier eine Erzählung, wie aus dem be-
grabenen Vogel si Icanlca nukur der Reis entstanden ist, die
eine große Ähnlichkeit zeigt mit der minahassischen Erzählung
des heheJcou}
Si Dajang ist die schöpfende und unterhaltende Kraft, die
sich als die gnädige offenbart. Sie ist die tendi der Welt und
wird in einem hellen Vogel symbolisiert, wie im ganzen Archipel
die flüchtige Seele oft als Vogel dargestellt wird. Sie findet
sich in allem, speziell im Reis. Da ist ein Präfix, das Liebe
und Ehrfurcht ausdrückt, und jang ist ein allgemeiner Name
für Geister und Götter im indischen Archipel.
Der Verfasser deutet das Abschlagen oder Schwarzmachen
oder Schmücken der Vorderzähne als ein Mittel, damit Jang
(der Reis) sich nicht fürchte, wenn sie in den Mund eintritt.
Bei der Zahnfeilung bietet man der tendi des Patienten ein
Geschenk dar, damit sie nicht entfliehe; die tendi des Reises
ist wie diejenige der Menschen empfindlich für Schreck, Un-
achtsamkeit und Unhöflichkeit.
^ Jellesma. Bydr. t. d. kennis van hat Tompakewasch. (Verb. Bat.
Gen. XL VII, S. 54 — 55 und meine Übersetzung in B. T. L. Vk. 1894, 716
bis 717. Siehe die toumbuluscbe Redaktion in Niemann, Bydr. t. d.
kennis der Alfoerscbe taal, Text 7, übersetzt von Wilken in Med. Zend.
Gren. VII, 295 und 304.
Indonesien 433
Bihata hat die Welt nicht geschaffen. Der Mensch ist
von Dibata nicht geschaffen, sondern geschmolzen oder gegossen.
Die Menschen sind die dibata der Mitte. Bihata ist ein jüngerer
(sanskritischer) Name als die malaio-polyn. Si Dajang.
Diese Abhandlung schließt mit einem Mythus iXherSi Dajang,
der vielen Sonnenmythen bei anderen Völkern ähnelt.
Celebes
Paul und Fritz Sarasins „Reisen in Celebes" (Wies-
baden, 1905) bilden die erste Monographie über die ganze
Insel Celebes, während bisher nur der südliche und nördliche
Teil durch die Publikationen von Matthes und Graafland,
sowie Zentral -Celebes in den letzten zehn Jahren durch die
von Kruyt und Adriani veröffentlichten Mitteilungen be-
kannt geworden sind. Hier wird aus dem Buch der Herren
Sara sin nur der auf Religion bezügliche Teil hervorgehoben
werden.
Zuerst wird in flüchtigen Umrissen (1, 44) die Beschreibung
der Religion der Mijiahasser vom Jahre 1679 durch Padt-
Brugge gegeben. Nach ihm basierte die Kopfjagd größtenteils
auf religiösen Anschauungen. Eine große Zahl von Priestern
(wdlian) sorgte für genaue Einhaltung der religiösen Ge-
bräuche, welche hauptsächlich in Opferfesten (fosso) bestanden.
Der Name wdlian ist, wie schon Wilken hervorgehoben hat,
dem dajakischen balian, balinesischem ivewalen usw. verwandt.
Die fosso sollten dazu dienen, die Hilfe der Götter anzurufen.
Auch Totenopfer spielten eine große Rolle.
Man meinte, die zahlreichen Götter (empung) hätten ihre
Wohnsitze auf Berggipfeln, an Wasserfällen, bei großen Bäumen
oder unter der Erde. Sie waren ursprünglich Große und
Mächtige der Vorzeit, die zu Gottheiten geworden waren. Sie
verkündeten ihren Willen durch Schamanen (männliche und
weibliche) und durch Vogelgeschrei. Auf Vorzeichen wurde
streng acht gegeben, und Gottesurteile spielten eine große
434 H. H. Jnynboll
Rolle. Dies alles hat sehr viel Ähnliclikeit mit den jetzigen
religiösen Anschauungen der Bewohner Borneos.
Auf S. 51 findet sich die Abbildung der minahassischen
Hausgottheit Teteles; derartige hölzerne Bilder wurden früher
als Heiligtümer in den Häusern aufbewahrt, sind jetzt aber
sehr selten geworden.
Nach Anlaß der Abbildung eines „Loho'^ von Manangälu
(I, S. 218) wird gesagt, die Loho seien der Wohnsitz der Dorf-
schutzgeister (Anitu) und könnten als Tempel oder Geisterhäuser
bezeichnet werden. Speziell eine Säule, die von der Mitte des
Längsbalkens nach oben zum Dach geht, dient den dorf-
beschützenden Änitus als Wohnsitz. Oben um sie herum ist ein
kleines Giebeldach angebracht, unter dem menschliche Schädel
hangen. Diese sind der Anteil, welchen die Geister erhalten.
In einer Schmiederei sahen die Autoren (I, S. 230) ein
Bündel aus weichem Holz geschnitzter Messer, Hämmer, Lanzen-
spitzen usw., deren Sinn nach Kruyt der eines Opfers ist.
Die Geister sollen sich mit den hölzernen Modellen begnügen
und nicht die eisernen schädigen, denn wenn sie die Seele des
Eisens wegnähmen, so würde das Eisen kraftlos werden. In
einer anderen Schmiederei (von Lemhong pangi) sahen die Ge-
brüder Sarasin allerlei kleine Opferhäuschen von den Dach-
balken herabhängen, die dienen, um die Seelen, die ihren
Körper verlassen haben, zurück zu locken. Über die Totenopfer
der Toradjas erfahren wir, daß diese durchschnittlich alle drei
Jahre gefeiert werden. Zu Ehren der Toten wird ein mehr-
tägiges Fest gefeiert, mit Tanz, Gesang, Schlachten und Yer-
schmausen vieler Opfertiere, was also viel Ähnlichkeit hat mit
dem Tiwahfest der Olo Ngadju. Hierauf werden die Knochen
der Toten in einer Kiste gesammelt und in eine abgelegene
Felskluft hinausgetragen.
Auf S. 234 findet sich die Abbildung einer Opferstätte
auf der Paßhöhe des TaJcalehadjo, aus einer Menge in die Erde
gepflanzter Stöcke bestehend, in die Opfergaben hineingelegt
Indonesien 435
werden. Das Gebet eines Kahosenja bei der Darbringung seines
Opfers (eines Siribpriemchens und eines Stückes Baumrinde)
ist, wie Kruyt es belauscht bat, hier wiedergegeben. Im
zweiten Teil (S. 20) finden sich einzelne Mitteilungen über den
Dämonenkult in Pakuli. Dort gibt es einige sehr schlecht
aus Holz gearbeitete Bildnisse, von stark ausgeprägter phal-
lischer Haltung, die als Stellvertreter für Kranke dienen; der
Priester zaubert den Dämon aus dem Kranken in ein solches
Bildnis.
Die Nachrichten über die religiösen Anschauungen der
Toala (H, 290) sind mehr negativ als positiv. Es ist dort die
Rede von einem gewissen Baum, in dem ein Geist wohnt. An
diesem opfert man Reis, Gemüse und Hirschfleisch, um eine
gute Ernte zu erbitten. Der Ada, der dieses Opfer bringt,
kennt aber den Namen des Geistes nicht. "Von Mohammed
hat er reden hören, kennt ihn aber nicht. Er weiß nicht, wer
Welt und Himmel gemacht hat, was aus der Seele nach dem
Tode wird usw.
Auf S. 292 ist eine Holzmaske aus Ldmontjong abgebildet.
Hierüber sagen die Verfasser, daß bei einzelnen Toradjastämmen
Totenmasken vorkommen, welche den Schädeln beim Totenfest
vorgebunden werden. Der Name dieser Masken, den die Ver-
fasser nicht nennen, ist pemia.
Schließlich ist auf S. 312 von einem Opferplatz, der
Karaeng Lowe geweiht ist, und von einem an Karaeng Lowe
j geweihten Häuschen, in welchem ein aufrecht gestellter Holz-
pflock das Symbol der Verehrung darstellt, gesprochen. Reste
des bei den Toradjas noch heute herrschenden Animismus
sind auch bei den Makassaren und Buginesen unschwer zu
ünden.
Im allgemeinen lernt man aus dieser Reisebeschreibung
nicht viel Neues über die Religion der Celebes bewohnenden
Völker. In dieser Hinsicht sind die Publikationen von Kruyt,
die von den Verfassern auf S. 369 verzeichnet werden, von viel
436 H. H. JuynboU
größerem Interesse, weil derselbe durch seinen zehnjährigen Ver-
bleib in Zentralcelebes besser als irgendein anderer, Adriani
vielleicht ausgenommen, mit den religiösen Anschauungen der
Eingeborenen sich vertraut gemacht hat.
In den Bydragen tot de Taal- Land- en Yolkenkunde
vanNederlandschlndie (L VIII, 1905) findet sich von der Land-
schaft Donggala oder Banawa auf Celebes noch die folgende
Notiz: Das Opfern bei heiligen Bäumen, das Darbringen von
Opfern an die bösen Geister, um dieselben günstig zu
stimmen durch die halyangs (Art Priester und Priesterinnen),
das mit dem Blut einer auf greuliche Weise getöteten Ziege
oder Büffels gepflogene Bestreichen einer neulings genesenen
Person, um deren Seele zu verstärken, beweisen, daß der
Mohammedanismus den Animismus noch nicht ganz verdrängt
hat (S. 519).
Malakka
Sehr interessante Mitteilungen über die religiösen An-
schauungen der Inlandstämme Malakkas enthält Dr. Rudolf
Martins „Die Inlandstämme der malaiischen Halb-
insel", Jena, 1905, S. 932—987. Zuerst werden fremde Ele-
mente, malaiische, buddhistische, hinduistische, dajakische und
christliche erwähnt, von denen das erstere am mächtigsten
gewesen sein muß (S. 933). Nach Anlaß eines Berichts von
Borie (La Presqu' ile de Malacca, les Malais et les sau vages
(1886): „Le seul monument qu'il en restät alors, etait une
peau de hiavak, espece de grand lezard (l'iguane), sur laquelle
on voyait des caracteres que personne ne comprenait plus^^
sagt Martin (S. 936): „Denn daß die wilden Eingeborenen je
eine auf Tierhäuten fixierte Schrift gekannt hätten, ist durch
die Gesamtheit ihrer Ergologie vollständig ausgeschlossen."
Hierbei ist aber zu bemerken, daß doch auch die Malegassen
auf Tierhäuten schrieben. Eine derartige, mit arabischen
Indonesien 437
Charakteren in Malagasy beschriebene Haut findet sich in der
Leidener Universitätsbibliothek (Cod. 3037 leg. Warn.). Auch
das von Newbold (Political and Statistical Account of the
.British Settlements in the Straits of Malacca, 1839) konstatierte
Grerücht, wonach die Semang auf „Stebbal- Blätter" schreiben
sollen, nennt Martin „natürlich falsch", obgleich es doch be-
kannt ist, daß Baumblätter, spez. Lontarpalmblätter ein sehr
gewöhnliches Schreibmaterial bilden im Archipel (Bali, Lombok,
früher auch Java), Hinterindien und Vorderindien. Zu den ältesten
Nachrichten (S. 939) gehört die von Godinho de Eredia (1602),
nach der die „Banuas" Zauberer sind, die der Magie frönen,
und daß sie sich mittelst Zauberkünste in Tiger, Schlangen,
Krokodile usw. verwandeln können. Ein derartiger Glaube
ist allgemein malaio - polynesisch. Begbie (The Malayan
Peninsula, 1834) berichtet: „Da sie keine Religion haben, be-
sitzen sie auch keine Priester; ihr einziger Lehrer ist der
Puyung, der sie in Sachen der Zauberei, der bösen Geister,
Gespenster usw., an die sie fest glauben, unterrichtet." Auch
die Berichte von Abdullah ben Abdelkadir Munsji über
die Djakun, die Martin nach der Übersetzung Van RonkePs
(im Globus, LXIV, 1893) mitteilt, stimmen damit.
Martin unterscheidet in diesen ältesten Nachrichten drei
v^erschiedene Elemente: 1. ein ausgebildetes Schamanentum,
las in Form eines Pawangismus oder Poyangismus auftritt;
12. schwache manistische Vorstellungen, und 3. ein oberfläch-
liches, theistisches Element, das nach Logan (1847), Stevens,
|5keat und anderen dem ursprünglichen Vorstellungskreis der
Inlandstämme angehört. Hierbei ist noch zu bemerken, daß
jler Pawangismus oder Poyangismus allgemein malaio -poly-
iiesisch ist, wie aus Wilken's Abhandlung „Het Shamanisme"
jirhellt. Der ^amepawang ist entstellt aus: pawwang = pahyang,
Irom Radix hyang (Gott), der mit eyang (Großvater) und wayang
iSchatten) zusammenhängt. Von dem Dämonismus oder Geister-
i^lauben sagt Martin, derselbe schließe sich außerordentlich
Archiv f. Eeligionswiasenschaft IX 29
438 H. H. JuynboU
eng an den Volksglauben der Malaien und Dajaken an. Die
Dämonen heißen auch hier hantu. Dieser Name ist auch all-
gemein malaio-polynesisch, den Namen anitu, to (daj.) usw.
verwandt. Verschiedene dieser hantu werden von Martin er-
wähnt (S. 942 — 947). Unter ihnen sind der Hantu Sa^u/ru \
(der wilde Jäger) und der Grabdämon hervorzuheben. Der
„Hantu Mati ÄnaJi, Dämon des Geburtsfiebers, in der Form eines
Frosches oder eines Vogels'^ (S. 944) ist natürlich der malaiische
puntianaJi, sund. kuntianah^ philipp. patiana, d. h. „Kinder-
töter", also auch allgemein malaio-polynesisch.
Martin will die Hantu in zwei Gruppen einteilen. Die
ersteren knüpfen an die Seele des Verstorbenen an, die den
Hinterbliebenen in irgendeiner Form Schaden tun kann. Zu
dieser Kategorie von Geistern gehören sämtliche Krankheits-
dämonen, einschließlich des Mati Änak und des Hantu Kuhur
(Grabdämons).
Die zweite Kategorie von hantu hat, nach Martin's
Meinung, eine rein animistische Basis (S. 946). Es gibt Berg-,
Wald- und Baumhantu usw.
Auch hier, wie bei anderen Völkern, z. B. den Malaien,
besteht ein inniger Zusammenhang zwischen Menschenseele
und Vogel. Nach Stevens haben alle Arten Tiere ihre ent-
sprechenden Seelenpflanzen, die durch das Verzehren der Pflanzen
in den Körper der betreffenden Tiere gelangen.
Am meisten verbreitet ist der Glaube, daß der Geist beim
Tode den Körper verläßt und nach einem paradiesischen Lande
gelangt, wo er in aller Ewigkeit verweilt. Nach den An-
schauungen der Drang Blandass gelangen die guten Seelen,
nachdem sie in einem siedenden See gereinigt sind, zu
einer Fruchtinsel (mal. pulau huwah), welche am Ende der ;
Welt liegt.
Bei den Jakun und den Semang besteht die Anschauung,
daß der Himmel aus drei Stockwerken bestehe, von denen die
beiden oberen mit Fruchtbäumen bestanden sind, während das
Indonesien 439
unterste nur die Gewitterwolken, die den Menschen Krank-
heiten bringen, enthält. Nach der Vorstellung der Mintera
gehen die Seelen derjenigen Menschen, die eines blutigen Todes
gestorben sind, in die „Rote Erde" (mal. Tanah Merah) ein.
Der Glaube, der Mensch sei imstande, die hantu zu be-
einflussen und mit ihnen in Verbindung zu treten, führt zu
dem Schamanismus. Man versucht die gefürchteten hantu
zu verscheuchen durch Aufhängen von Affenkinnladen an dem
Dache der Häuser, durch Versperrung der Fußpfade und durch
Amulette. Interessant ist der Brauch des „Blutwerfens" zur
Abwehr von Gewitterstürmen, in dem Martin einen Wetter-
zauber erblickt. Die berufsmäßigen Schamanen heißen bei den
Semang B^ian, was dem dajakischen halian, toumbuluschen
icaliany balinesischen wewalen usw. entspricht, während der
Name Foyang, wie schon oben gesagt, aus pahyang entstanden
ist. Nach Stevens (Die Zaubermuster der Orang-hütan,
Z. f. Ethn. XXVI, S. 147) gibt es 7 Arten von Zauberern. Die
Würde eines Poyang ist meist erblich. Äußerlich unterscheidet
er sich nur bei den Jakun und einigen Senoi-Gruppen durch
eine besondere Bekleidung und Bemalung und durch den Besitz
einer Art Zauberstockes. Der Poyang ist in erster Linie
„Medizinmann". Die Mittel, die angewandt werden, um ihn
jin einen bewußtlosen Zustand zu bringen, sind Abbrennen von
Räucherwerk, Tanz, Gesang, Musik und Lärm, also die gleichen
jwie bei anderen malaio-polynesischen Völkern.
Neben der direkten Suggestivbehandlung ^ werden auch
I Amulette und Heilmittel gebraucht zur Heilung von KJrank-
jheiten. S. 965 — 966 gibt Martin eine ganze Reihe von Heil-
j mittein. Außer den Krankenheilungen führen die Poyang noch
ieine Reihe anderer Beschwörungen aus, z. B. die Beschwörung
einer gebärenden Frau usw. Ihnen wird auch die Fähigkeit
einer schädigenden Fernwirkung zugeschrieben.
Man glaubt, die Zauberer seien imstande, sich in ver-
schiedene Tiere, zumal Tiger, zu verwandeln und in dieser
ers
I
440 H. H. JuynboU
veränderten Gestalt ihren Mitmenschen zu schaden. Der
Poyang fungiert naturgemäß auch als Traumdeuter und Wahr-
sager.
Der „Liebeszauber" besteht gewöhnlich in einer besonders
wohlriechenden weißen Blume oder Wurzel, die schwer
finden ist.
Wie z. B. bei den Ätjehern und Serawak- Dajaken fehlt au
bei den Jäkun die Kampfessprache (mal. hehasa hapur) nie!
Martin vergleicht diese mit der „Kriegssprache" der See
Dajaken, dem „Slang" der Singhalesen beim Reisbau usw.
Er hätte auch die „Seesprache" (Sasahara), die die Sangi-
resen nur auf dem Meere gebrauchen dürfen, hier erwähnen
können.
Bei den Mantra fehlt die sonst so weit verbreitete Sage,
die auch bei den Semang und einigen Senoi sich findet, daß
Finsternisse durch ein Ungeheuer, welches den Planeten ver-
schlingt, hervorgerufen werden. Das Ungeheuer heißt bei den
Sakai Bähu, wie bei den meisten Völkern Indonesiens, während
der Name Hürä bei den Semang durch Metathesis hieraus
entstanden zu sein scheint (S. 977, nach Skeat, Wild Tribes of
the Malay Peninsula, 1905).
Nach dem Glauben der Semang und Jakun besteht der
Himmel aus drei Stockwerken. Der Regenbogen wird von den
Semang als eine riesige Schlange (Ikuh Hiiyä) vorgestellt, und
auch die Malaien in Pinang bezeichnen den Regenbogen als
Bogenschlange (^mal. ular danu), nach Maxwell, The Folklore
of the Malays, 1881 (J. S. B. R. A. S.). Nach der Mythologie
der Semang ist die Erde flach wie eine Platte.
Die bei den malaio-polynesischen Völkern so verbreitete
Mythe, nach welcher das Menschengeschlecht aus einem Ei
hervorgegangen ist, fehlt bei allen. Inlandstämmen. Nach einer
Schöpfungslegende der Mantra stammen dieselben von zwei
weißen Affen (mal. TJngTca putih) ab. Ähnlich leiten die
Orang Laut als Bewohner der Sumpfregion ihre Abstammung
Indonesien 441
von einem weißen Alligator und einem Delphin ab (New-
bold, II, 412).
! Die Mantra erzählen von einer großen Flut, vor der sich
idie ersten Menschen in einem Schiff retteten, und die Benua
haben die Tradition, daß Pirman (d. h. das arabische firmän)
einmal die Erde mit Wasser überschwemmte. Die letztere
Fassung kehrt bei den Semang wieder, nur ist es hier die
Regenbogenschlange, welcher die Handlung zugeschrieben wird
(Stevens, die Zaubermuster usw. S. 126).
Die Stammessagen übergeht Martin, weil dieselben, wie
schon Grünwedel und Skeat nachgewiesen haben, nicht
ursprünglich, sondern den Malaien entlehnt sind.
Die theistischen Vorstellungen der Inlandstämme hält
der Verfasser für die am wenigsten ursprünglichen. Schon die
Namen Gottes deuten auf malaiisch -moslimischen Einfluß: die
Benua haben nach Logan (The Orang Binua of Johore,
J. I. A. I, 275) einen Gott, Pirman , während ein großer Teil
der Jahun nach Favre (Account of the wild tribes usw. 1865,
S. 31) ein höheres W^sen anerkennen, das sie mit den Malaien
Tuhan Allah (mal. Herr Gott) nennen.
Nach den Orang Blandass ist Tuhan (mal. Herr) der
Schöpfer der Welt. Die Temia geben dem höchsten Wesen
den Namen Sam-mor (S. 984). Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß dieser Name mit Semar zusammenhängt. Dieser ist im
heutigen javanischen Schattentheater (wajang) ein Clown
und Diener der Pdndawo , muß aber ursprünglich ein alter
malaio-polynesischer Gott gewesen sein, wie schon Hazeu
(Bydrage tot de kennis van het Jav. tooneel. S. 112, Anm. 2)
nachgewiesen hat. Ein vierter Name Gottes, Teng (nach
Stevens) oder Pönn (nach Skeat) scheint ursprünglich zu sein.
Nach Stevens heißt der oberste Gott der Semang Kei iy
der unsichtbare Donnergott, der über den Menschen wacht, sie
bestraft und ihnen verzeiht, über Leben und Tod gebietet und
alles geschaffen hat außer der Erde und den Menschen (S. 985).
442 H. H. Juynboll
Wie Sam-mor mit dem javanisclieii Semar, könnte vielleicht
Kei t mit dem javanischen hyahi zusammenhängen. Dies ist
ein verehrender Titel nicht nur vornehmer Personen, sondern
auch verschiedener Geister, z. B. Kyahi Sadana, des Bruders
der Reisgöttin Njahi Sri, ferner Kyahi JBuyut, Kyahi Gede
Ndbiyen, Kyahi Gede Sumurnja, Kyahi Owar Tali, Kyalii
Empuh (Med. Ned. Zend. Gen. XXIII, 9 und Vreede, Jav.
Woordenb. I, 529 s. v. kyahi). Dies ist aber nur eine Kon-
jektur.
Es ist Skeat nicht gelungen, die Stevensschen Angaben
über Kei t und Ple (den Fruchtgott) zu bestätigen. Nur
einmal hörte er von einem Tä-Pönn als dem Schöpfer der
Welt, der so mächtig sei wie ein malaiischer Raja (S. 986).
Martin schließt diesen interessanten Abschnitt seines
Buches mit der Bemerkung, daß ein ursprüngliches theistisches
System bei keinem der Inlandstämme sicher erwiesen ist. Ein
„Gott" ist von den Inlandstämmen übernommen worden, aber
er hat dabei von seinen wesentlichen Attributen eingebüßt, er
hat legendarische und mythologische Form angenommen und
ist eine neue Verbindung mit einem viel ursprünglicheren
Animismus und Dämonismus eingegangen (S. 987).
Luzon
In A. E. Jenks „The Bontoc Igorot"^ ist Kapitel VIII
der Religion gewidmet. Der Glaube an die Geister der Ver-
storbenen (anito) ist bei den Igoroten allgemein. Der Geist
eines lebenden Menschen heißt tdko (S. 196).
Neben anito , dem allgemeinen Namen für Geister der
Verstorbenen, gibt es noch Namen für besondere Geister:
pinieng heißt der Geist eines Enthaupteten, wulwul der eines
Taubstummen, wongong der eines Kranksinnigen, futatii der
eines bösen Menschen. Limum ist der Name der geistigen
Manila 1905.
I Indonesien 443
ii'orm des menschliclien Körpers, der auf die Brust Schlafender
sich setzt.
Die Igoroten meinen, die Änito leben gerade so wie
Menschen: sie bauen Häuser, verheiraten sich, sterben usw.
Man glaubt, daß sie in den Bergen sich aufhalten. Wenn ein
Änito stirbt, wird er eine Schlange oder ein Fels, gewöhnlich
aber Ufa, der phosphoreszierende Glanz in dem toten Holz
des Gebirges (S. 197).
Alle Krankheiten, außer Zahnweh, und selbst der Tod
werden verursacht von Änito. Nur der Geist eines Enthaup-
teten, der pinteng, geht nach dem Himmel (chayya), während
die Änito in den umliegenden Bergen sich aufhalten. Der
pinteng ist verantwortlich für den Tod aller, die ihren Kopf
verlieren (S. 198).
Schlangen, Ratten, Krähen und der rötlichbraune Vogel
icJiu sind ihre Orakeltiere. Diejenigen, die die Änito aus den
Körpern der Kranken austreiben, heißen insüpäk Sie streichen
die Kranken, um die bösen Änito herauszulocken. Der Ver-
fasser gibt einzelne Beispiele von Formeln, um die Seele des
Kranken zurückzurufen (S. 199).
Bei der afat genannten Zeremonie wird ein Schwein ge-
opfert, um die entflohene Seele des Kranken zur Rückkehr zu
nötigen. Den folgenden Tag wird ein Küchel geopfert in dem
Hause des Kranken. Diese Zeremonie heißt mangmang (S. 200).
Der höchste Gott heißt Lwmawig, auch Funi oder Kam-
himyan. Der letztere Name ist wohl dem malaiischen sembunji
verwandt und bedeutet also: der Verborgene. Er ist der
Schöpfer. Auch die Igoroten haben eine Sintflutsage, und ihre
Adam und Eva heißen Fatanga und Fukan (S. 201). Die
Geschichte von Lumawig wird ausführlich erzählt. In den
letzten zwei Jahren ist eine Sekte entstanden, die sich selbst
Siipalado nennt. Dieselben glauben, daß Lumawig zurück-
kehren wird. Dies ist also ein Messiasglaube. Zwei Familien
in Bontolc werden olot genannt. Diese sind Vegetarier und
444
H. H. Jnynboll Indonesien
rauchen nicht. Es gibt drei Arten von Priestern. Die erstere
heißt wdkü und besteht aus drei Personen, die die Feiertage
dem Yolke erkundigen. Von der zweiten, patay genannten
Art, gibt es zwei Personen in Bontok (S. 205). Die dritte
Art besteht aus sieben Personen, von denen jede einen be-
sonderen Namen und einen besonderen Wirkungskreis hat
(S. 206). Der Ruhe- oder Feiertag in Bontok heißt Tengao und
fällt gewöhnlich in Perioden von zehn Tagen.
Schließlich werden verschiedene Zeremonien vom Verfas
mitgeteilt: S. 207 — 213, auf den Ackerbau bezüglich (zeJ
S. 213 — 214 Zeremonien um Regen zu fragen und böses Wettw
abzuwenden (drei), S. 214 — 215 auf Kopfjagd bezüglich (zwei)
und S. 214 auf Adoption sich beziehend.
i
3 Eussische Volkskunde
I Von Ludwig Deubner in Bonn
[Schluß]
Die in den bisher angeführten Riten und Liedern herr-
schende Stimmung ist die der Erwartung zu Beginn des Früh-
i lings. Anderer Art sind die Bräuche, die sich an die Zeit der
I Blüte, des Vorsommers knüpfen, wo der Frühling sein letztes
Wort spricht. Weit verbreitet ist die Sitte, den Mai aus dem
Walde zu holen; um Mitternacht verläßt man Stadt oder Dorf,
frühmorgens bei Sonnenaufgang kehrt man mit Blumen,
Zweigen und Maibaum heim. Dies geschah in Frankreich am
1. Mai, ebenso in Italien und England. In Deutschland tritt
neben den 1. Mai aucli der Pfingstmontag, zuweilen auch schon
die Butterwoche oder Lätare. Die gleichen Bräuche sind aus
Dänemark und Skandinavien für den 1. Mai und Pfingstmontag
bekannt. Die vielerorten aufgerichtete Maistange ist ohne
Zweifel der letzte Überrest früherer lebender Bäume. In ältester
Zeit brachte man nicht nur einen einzelnen Baum, sondern
überhaupt frisches Grün aus dem Wald: dieses nannte man
i Mai. Gerade die ältesten Zeugnisse reden von der Einbringung
des Grünwerks und dem Schmücken der Häuser, Kirchen und
Straßen, nicht aber unbedingt von der Einbringung des Maibaumes.
Auf slawischem Gebiet ist dieser gar nicht bekannt, nur im
Westen findet er sich unter dem Einfluß der deutschen Nachbarn.
Verwandte Bräuche (Ausputzen eines Birkenbäumchens, Ge-
lsang und Tanz) am Donnerstag vor Pfingsten unterscheiden
'sich von den vorgenannten dadurch, daß sie nicht mit dem
'Schmuck der Häuser verbunden sind und nicht vor Tasjes-
446 Ludwig Denbner
anbruch vorgenommen werden^ sondern nachmittags nach
längeren Spielen. Dagegen besteht allenthalben die Sitte,
Häuser und Kirchen mit frischem Grün zu putzen. Ein
eigentliches Ritual setzt hier erst ein mit dem Austragen, nicht
dem Einbringen. Im Gouvernement Saratoff wird am Donners-
tag vor Pfingsten eine auf dem Dorfplatz aufgestellte lebende
Birke von einem Mädchen aufgenommen und in den Wald
getragen, ihm folgen die übrigen mit Gesang; die Lieder reden
die Birken an, denen Pasteten, Kuchen und Eierspeisen ge-
bracht werden. Im Freien geht eine Mahlzeit vor sich, der
Überrest einer alten Opferhandlung. Dieses Mahl findet sich
allerorten in Groß-, Weiß- und Kleinrußland. Nach dem Essen
wird die Birke ^frisiert', d. h. ihre Zweige werden in Kranz-
form geflochten; zuweilen werden dabei Kuchen in Kranzform
gegessen. Die mit diesem Ritus zusammenhängenden Lieder
werden selten während des ^Frisierens' gesungen. Dieser Brauch
wird somit in der freien Natur vollzogen, nicht in Dorf oder Stadt.
Der Frühlingsbaum spielt die Hauptrolle wie im Westen, aber
er bleibt im Walde, und oft wird er nicht einmal abgehau
Unter dem Baum wird das Opfer dargebracht, aus seini
Blättern wird der Kranz geflochten, um ihn singt man Liede:
und spielt Reigenspiele. Ohne jede Prozession mit der Birke
gestaltet sich das Einholen von Grün in Serbien und Griechen-
land. Ungefähr gleichzeitig mit dem russischen 1. Mai, Georgs-
tag, Pfingsten und Pfingstmontag feierten Griechen und Römer
den Tag des Rosenfestes, das sich in der slawischen ^ Russahiaja
nedelja' (Woche vor Pfingsten) widerspiegelt. Das Sammeln
von Blumen war auch im W^esten üblich; das zeigen alt-
französische pastourelles und Neidhart von Reuenthal; die
Blumen sind das Symbol der Liebe.
Welches ist der Sinn der geschilderten Bräuche? Indische
Riten kommen uns zu Hilfe. Zu Beginn der Regenzeit,
wenn die Aussaat vonstatten geht, werden zwei Mädchen in
den Wald geschickt: sie begießen den heiligen Baum Chili
ber
1
le~
Russische Volkskunde 447
mit Wein und Ol, dann brechen sie einen Zweig ab.
Dieser wird ins Dorf gebracht und am Ufer eines Baches auf
einen Stein gelegt. Alsdann bringt man ihm Opfer dar, ge-
wöhnlich einen Ziegenbock. Es folgt Tanz und Spiel. Ähn-
liches geschieht bei den Oraonen in Bengalien zur Zeit der
Eeisaussaat. Unter den Bäumen des heiligen Haines Sarna
wird ein Opfer von fünf Hausvögeln dargebracht, wobei jeder
ein Stück Fleisch erhält. Darauf kehrt man beladen mit
blühenden Zweigen ins Dorf zurück. Eine verwandte Feier
veranstalten die Abchasier, die in heiligen Hainen noch den
Baumkult ausüben, dem Gotte der Wälder Misitch. Auch bei
den Osseten wird zu Pfingsten ein heiliger Baum verehrt, zu
dem die alten Weiber in weißer Kleidung hinziehen. Hier
beten sie, verzehren Gebäck und umtanzen den Baum. Bei
den Oraonen und Abchasiern sind die aus dem heiligen Hain
entnommenen Zweige Gegenstand religiöser Verehrung. Der
Baumkult ist bei den Slawen und den Fremdvölkern Rußlands
verbreitet; wie immer man ihn erklärt, gerade im Frühling
mußten ihm gewisse rituelle Vorstellungen entsprechen. Das
Einholen der Zweige hat den Sinn, daß das Dorf als religiös-
wirtschaftliche Einheit an dem Segen teilnimmt, der von dem
heiligen Baume ausgeht. Der primitive Mensch hält seine
Familie, sein Dorf, seinen clan für das Zentrum der Welt; er
interessiert sich für die äußere Natur nur soweit ihre Er-
scheinungen sich in dem Schicksal der ihm verwandten Ge-
meinde abspiegeln. Und jene religiös -wirtschaftliche Einheit
ist auch die Trägerin seines eigenen Schicksals. Im Westen
erhielt sich der Akt der Einholung des Zweiges oder Baumes
aus dem heiligen Hain, im Osten das Opfer, der Kult des
Baumes, die feierliche Prozession zu ihm. In enger Verbindung
mit diesem Ritus steht das Sammeln der Blumen, der Schmuck
der Häuser. Der Moment der Blüte ist der wichtigste im all-
mählichen Erwachen der Natur, von ihm hängt die Fruchtbar-
keit der Pflanzen ab. Auf ihn beziehen sich die römischen
448
Ludwig Deubner
Floralien. Schon Frazer erklärte das Blumenfest als sym-
pathetische Beschwörung der Frühlingsblüte, im Grunde richtig,
nur daß nicht mehr diese dadurch begünstigt werden sollte
sondern das Getreide; vielleicht ist es richtiger zu sagen!
alle Frucht.
Während die Lieder bei der Einholung des Maien spärlicl
sind, stehen sie im Mittelpunkt bei der Frühlingsbegrüßunj
indem die Jugend von Haus zu Haus zieht und den Hausherrei
ihre Wünsche vorträgt, in der Erwartung, Geschenke oder Gel^
zu erhalten. Je weiter nach Osten, desto deutlicher zeigt siel
die alte Bedeutung dieser Lieder. Bei den Romanen erfol|
diese Begrüßung am I.Mai oder ersten Sonntag des Monats. Bit
weilen ist unter dem Chor eine reine de mai oder mariee odi
sposa di may vertreten, in deren Namen dann gesungen wirc
In Portugal wird das Mädchen mit Blumen geschmückt unj
auf einen Thron gesetzt; der Vorübergehende muß Tribi
entrichten. Häufig bringt die Jugend frische Zweige un^
Blumen mit in die Häuser, in Spanien wird ein Knabe ode
Mädchen unter einer Blumenhülle herumgeführt (mays, maya]
Auch in Dänemark, Holland und England finden solche Ui
züge statt. In Deutsehland macht sich der Streit zwische
Winter und Sommer auch in diesen Begrüßungsliedern bemerl
bar. Der junge Mann, der von Kopf bis zu Fuß mit Gri
geschmückt wird, heißt: der grüne Mann, Großkönig, Laul
männchen usw. Daneben wird auch einfach der frische Zwei
mitgebracht. In Oberbayem erscheint sogar ein Vogel. Ai
Montag nach Pfingstmontag führt man im Dorf einen Reite
herum, auf den ein riesiger Schwanenhals gesetzt ist. De
Körper des Schwanes wird aus Grün und Sumpf blumen vei
fertigt. Diese Figur heißt Wasservogel, man begießt sie eifrij
mit Wasser.
Das Begrüßungslied findet sich auch bei Slawen, Grieche!
und Rumänen, auch hier steht die Bitte um Geschenke
erster Stelle. In Bulgarien und Serbien wählt man den Lazarus
Russische Volkskunde 449
Samstag in der sechsten Fastenwoche, Mädchen von 12 — 13 Jahren
ziehen umher und singen Lazarus -Lieder. Herr und Frau des
Hauses werden als Zar und Zarin angeredet und großer Reich-
tum wird ihnen angedichtet. Bei den türkischen Serben kleiden
sich zwei Mädchen als Lasar und Lasariza, die eine in männ-
liches Kostüm, mit einer Keule auf der Schulter; der anderen
wird ein Sack aus durchsichtigem roten Musselin, wie die Braut
ihn trägt, über den Kopf bis an den Gürtel hinuntergezogen.
Beide sind mit Blumen reich geschmückt. Verwandt ist der
serbische Umzug von ^ König' und ^Königin' (Kral und Kraliza).
In Polen wird ein kleines Mädchen ganz mit Laub und Zweigen
verhüllt. Bei dem Umgang mit den frischen Zweigen werden
bei den Slawen dieselben Heiligen angerufen wie bei der Be-
schwörung des Frühlings. Der heilige Georg soll mit dem
Schlüssel die Erde aufschließen. Bei den Kroaten und Slowenen,
wo die 'Begrüßung' am Georgstag stattfindet, wird ein von
Kopf bis zu Fuß mit grünen Zweigen bedeckter Bursche vom
Chor umhergeführt: der grüne Georg. Gleicher Art ist die
russische 'Pappel', ein Mädchen, das mit Schmucksachen,
Bändern und Tüchern behängt wird, indem sie die Hände über
dem Kopf zusammenhält; die Hände können durch Stäbe ersetzt
werden. An anderer Stelle heißt das in Zweige und Laub ge-
hüllte Mädchen Kust (Strauch). Im Gouvernement Jenissei
wird eine Birke in Frauenkleider gesteckt. Die deutschen
Bräuche zeigen, daß die mit grünen Zweigen geschmückte Figur
gewöhnlich mit Wasser begossen wird. Dies ist nichts anderes
als Regenzauber. Der Ritus des Begießens mit Wasser wird
bei den Slawen auch zur Zeit einer Dürre, gewöhnlich in der
Mitte des Sommers ausgeübt. Die Namen für die begossene
Figur sind von großer Mannigfaltigkeit. Ein rumänisches Lied,
das bei diesem Ritus gesungen wird, lautet: „Kaijan, Kaijan,
er und ich, wir bitten vereint, daß die Pforten sich öffnen und
der Regen befreit werde und wie ein Flüßchen ströme, mit
Geräusch, bis die Nacht beginnt, damit das Korn wachse.*^
450 Ludwig Deubner
Bei der Wichtigkeit des Frülilingsregens ist anzunelimeii, daß
diese Riten ursprünglich dem Frühling angehören. In Kachetien
(Kaukasus) werden tönerne Figürchen begossen. Sie heißen
Lasare, obwohl der Brauch im Sommer vollzogen wird; auch
im Lied wird Lazarus genannt. Seine zäh festgehaltene Er-
wähnung im Regenzauber beruht vielleicht auf dem Lub
evangelium 16, 24. Neben den frischen Zweigen begegnet
Emblem bei der „Begrüßung" auch die Figur eines Frühling
vogels, besonders der Schwalbe. Hierher gehört schon d^
altgriechische ^Xd'' ^Xd's xeXid6v. Wahrscheinlich trugen
Knaben das Bild einer Schwalbe mit sich, wie bei den Nei
griechen am 1. März eine grob aus Holz geschnitzte Schwall
von den Knaben umgeführt wird. In Polen wird zu Ostern der Ui
gang mit dem Bilde eines Yogels aus Hahnenfedern bewerkstellig
Zu den Begrüßungsliedern gehören auch die Lieder d^
weißrussischen Wolotschobniki, die in der Osterwoche gegi
Abend umherziehen. Vier Episoden lassen sich scheiden: l.d^
Bericht über den Weg und die Ankunft; 2. die Hervorrui
des Hausherrn und das Lob seines Hofes; 3. der Bericht dj
über, was der Hausherr sieht, wenn er aus dem Fenster blicl
die Heiligen sind auf seinen Hof gekommen, oder Gott selbs
sitzt auf einem Lehnstuhl da; auch bildet sich die Vorstelli
von einem Gastmahl der Heiligen aus; am Schluß werden dij
Feiertage aufgezählt, deren Vertreter die Heiligen sind; 4.
Tätigkeiten der Heiligen. Das Gastmahl scheint auf das erst
Mahl nach den Festen gedeutet werden zu müssen; auf Ostei
brauch weist alles hin. In der Aufzählung der Heiligen scheide
sich zwei Gruppen: 1. die Heiligen vor Ostern, in trockene
kalendarischer Aufreihung; 2. die Heiligen nach Ostern, b<
denen in poetischer Weise ihre spezielle wirtschaftliche Tätif
keit angegeben wird. Es ist klar, daß nur die zweite Rei
ursprünglich ist. Die Tätigkeit der Heiligen hängt mit de
ländlichen Arbeiten zusammen, die jedesmal nach ihrem Peiei
tage vorgenommen werden, wobei Varianten vorkommen. Inj
Russische Volkskunde 451
dem man sicli die Heiligen selbst im Liede als ländliche Ar-
beiter vorstellt, soll der wirtscbaftlicbe Erfolg bildlich ausgedrückt
werden. Der Ritus bei der ^Begrüßung' ist dem bei der Ein-
holung des Maien verwandt. Hier wird der Maibaum ins Dorf
gebracht, es ist ein Fest der ganzen Gemeinde; dort werden
Zweige in jedes einzelne Haus getragen. Welches ist der Sinn
der Begrüßung? Der Eegenzauber, der in einer Reihe inter-
essanter Beispiele vorgeführt wird , ist kein wesentlicher Bestand-
teil des eigentlichen Ritus. Sein Grundzug ist die Einbringung
des heiligen Zweiges ins Haus. Wie die Einbringung des
Maien ins Dorf diesem den Segen der erwachenden Natur ver-
mitteln soll, so wird dieser längst sehnsüchtig erwartete Segen
bei dem Begrüßungsumgang in jedes Haus gebracht, zu jedem
Herd, für jede Geschlechtsgemeinschaft als eine selbständige
religiös -wirtschaftliche Einheit. Verwandte Bräuche erläutern
diesen Sinn. Jede Geschlechtsgemeinschaft hatte ihren eigenen
häuslichen Kult, jede Familie bildete einen selbständigen reli-
giösen Verband. Dem primitiven Menschen genügt es nicht,
daß der Frühling kam für die ganze Gemeinde, für alle Menschen:
er muß sich davon überzeugen, daß der Frühling auch für ihn
kam. Er ist selbst der Träger seines Schicksals, seiner Vorher-
bestimmung, sein Werk ist die Ernte. Der Erfolg der Wirt-
schaft ist abhängig von der Beobachtung des Ritus, durch
diesen wird der Landmann der Güter des Frühlings versichert.
Gott, die Heiligen, der grüne Georg legalisieren den Ritus für
das Christentum, der letzte als eine Art Zwischenstufe zwischen
diesem und dem Heidentum. Mannhardts Ansicht, die Figuren
des Pfingstl, Maikönig usw. seien Waldgeister, ist unhaltbar,
denn nirgends tragen sie einen entsprechenden Namen. Die
Tatsache, daß für den frischen Zweig auch die Schwalbe ein-
treten kann, ist ein weiterer Gegenbeweis. Merkwürdigerweise
zeigen auch die Begrüßungslieder zu Weihnachten und Neujahr
Züge der Frühlingslieder. Der Verfasser stellt dies fest, ohne
weiter darauf einzugehen.
Lieh:
leaB^i
452 Ludwig Deubner
3. Kapitel S. 258 bis 392. Den Riten des vorigen Kapitels
treten hier solche gegenüber, die verschiedene Befürchtungen
und Sorgen darum offenbaren, daß nicht auf dem Wege zum
Ziel irgendwelche Hindernisse sich einstellen. An erster Stelle
steht der Ritus der Reinigung. Fünf Formen sind möglich:
I.Waschung; 2. Feuer; 3. Umpflügung, Umgang; 4. Schauke
5. Lärm. Reinigung des Körpers findet zu Ostern statt, n
dem die Seele durch Fasten sich geläutert hat. Entspreche
den zwei Zyklen von Frühlingsriten wird die Reinigung zwei-
mal im Frühling vorgenommen. Die zweite Reinigung fällt
im Osten auf den Georgstag, im Westen auf den 1. Mai. Ihr
gehören auch die Thargelien an. 1. Als rituelle Waschung ist
das auf slawischem Gebiet vor Sonnenaufgang bei der Anrufung
des Frühlings vor sich gehende Bad anzusehen. 2. Im mittleren
Rußland verbrennt man am Vorabend von Maria Verkündigung,
Butterwoche oder Ostern das Bettstroh, worauf man den ganzen
Winter geschlafen hat; auch verbrennt man aUen Kehricht.
Mit dem Rauch reinigt man die Hütte. 3. Um den ^Kuhtod'
aus dem Dorfe zu treiben, gehen die Frauen in bloßem Hemd
mit aufgelösten Haaren, mit Sicheln, Schüreisen usw. in den
Händen in Prozession um die Siedelung, wobei eine nackte
Frau (Witwe, Schwangere oder altes Weib) den Pflug zieht,
dazu werden Formeln gesprochen. Zu diesem Mittel griffen
die Bauern besonders häufig während der letzten Cholera-
epidemieen. Die serbischen Frauen laufen am Georgstag auf
einem Stock reitend, nackt oder einen Quirl über der Schulter,
um ihren Viehhof, damit ihnen niemand Milch stehle und sie
nicht von der Hitze verderbe. 4. Daß Schaukeln nichts als
purgatio aere ist, erkannte Lilek. In Bosnien, Herzegowina
und Altserbien heißt es, daß, wer sich am Lazarus -Samstag
schaukelt, das ganze Jahr gesund sein wird. 5. Bei den Fremd-
völkern Rußlands beginnt die Austreibung des Satans bei der
äußersten Hütte, wo sich einige Leute mit Stöcken aus Eber-
eschenholz sammeln. Man löscht das Feuer und beginnt unter
Russische Volkskunde 453
Geschrei und Lärm mit den Stöcken an den Wänden, Tischen,
Bänken und auf der Diele umherzuschlagen: dazu die betäubende
Musik einer Art Rassel. Aus der Hütte geht es auf den Hof,
dann zum zweiten Haus; die Zabl der Leute wächst, zum Schluß
sucht man eine Schlucht des nahen Waldes auf. Man geht
dreimal um den größten Baum und schlägt ihn mit den Stöcken.
Darauf werden diese fortgeworfen: die Teufel sind in den Baum
eingegangen. Ahnliche Austreibungen sind verbreitet. Bei den
südlichen Slawen wendet man sie gegen die Schlangen an.
Zu den vorstehenden Bräuchen gehört auch die folgende Aus-
treibung des Kuhtodes bei den Russen: Um Mittag schichten
die Frauen an den beiden entgegengesetzten Enden des Dorfes
je einen Düngerhaufen, den sie um Mitternacht anzünden. Zu
dem einen Haufen führen die Mädchen einen Pflug, in weißen
Hemden, mit aufgelösten Haaren, eine trägt hinter ihnen ein
Heiligenbild. Zum anderen Haufen bringen die Frauen einen
schwarzen Hahn, in schwarzen Röcken und schmutzigen Hemden.
Dreimal tragen sie den Hahn herum. Dann ergreift eine Frau
den Hahn und rennt mit ihm an das entgegengesetzte Ende
des Dorfes, indem sie unterwegs zu jedem Haus läuft, die
übrigen Frauen laufen ihr nach und schreien: „geh unter, du
schwarze Krankheit." Am Ende des Dorfes wirft die erste
den Hahn in den schwelenden Dünger, die Mädchen werfen
trockene Blätter und Reisig darauf. Dann fassen sie sich an
der Hand und springen mit dem erwähnten Rufe um das
Feuer. Nach der Verbrennung des Hahnes springen die Frauen
in den Pflug und die Mädchen umpflügen mit dem Heiligenbild
an der Spitze dreimal das Dorf. Hiernach ist die Austragung
des Todes zu beurteilen. Sie ist verbreitet bei den westlichen
; Slawen. Die Kinder verfertigen in der fünften Fastenwoche
I eine Frauenfigur (der Tod ist im Slawischen weiblich) aus Stroh
und ertränken sie außerhalb des Dorfes. Bei Polen und Mo-
■rawen heißt sie nicht Tod, sondern Marzana, Marena; man er-
tränkt sie am Sonntag Lätare. In Thüringen und der Eifei
Archiv f. Religionswissenschaft IX 30
454 Lndwig Deubner
binden die Knaben einen Strohmann an ein Rad und rollen
es angezündet bergab. Anderes an anderen Orten. Alle diese
Riten gruppieren sich um die Mitte des großen Fastens. Einen
abweichenden Charakter hat das Inswasserwerfen der Kostroma
zu Pfingsten oder am Pfingstmontag in Rußland und das Aus-
führen oder Ertränken der Russalka. Grimm sah in den er-
wähnten Bräuchen die Austreibung des Winters, Mannhardt
bezog sie auf seinen Yegetationsgeist. Beide umgehen den
Charakter der Reinigung, der auch bei antiken Parallelen klar
hervortritt, so bei dem delphischen Ritus der Bestattung der
Charila und bei der römischen Argeerprozession. Auch bei
den Naturvölkern wird die Reinigung durch Austragen besonderer
Puppen vollzogen. In Ozeanien werden die Dämonen in Puppen
geschlossen und m hloque ins Meer geworfen. Ebendahin
gehört die Verbrennung des Mamurius Yeturius. Vieles der-
art ist nur noch im Spiel erhalten. In allen analogen Fällen
nimmt die betreffende Figur alles Übel der Vergangenheit auf
sich. Daß man besonders im neuen Frühling von vorn anfangen
woUte zu leben, ist verständlich. Ganz abseits steht der Streit
zwischen Winter und Sommer, ein rein deutsches rituelles
Spiel. Hier handelt es sich nicht um eine kategorische Aus-
treibung, wie beim Tode. Der Winter mißt sich mit dem
Sommer. Bei den Eskimos findet ein ähnliches Spiel zwischen
zwei Gruppen von Burschen im Herbst statt. Siegt der Sommer,
so kann man noch auf gutes Wetter hoffen, also eine Art
Orakel.
Einen hervorragenden Platz im slawischen Frühlingsritual
nehmen die am Samstag oder Sonntag nach Ostern, gelegentlich
auch am Gründonnerstag stattfindenden Gedächtnisfeiern auf
den Kirchhöfen ein. Das Volk nimmt Trank und Speise mit.
Nachdem die Geistlichkeit die Seelenmessen abgehalten hat, wird
geschmaust und gesungen: es entsteht eine Art allgemeiner
Orgie. Besonders festlich begeht man diese Feier in Klein-
und Weißrußland. Im Kreis Perejaslawl zerschlägt jeder
Russische Volkskunde 455
Familienvater am Schlüsse der Seelenmesse ein buntgefärbtes
Ei am Kreuz und gibt es den Bettlern. Auf das Grab
wirft man Salz und die Überreste der 'heiligen' Speise; auch
ein Glas Schnaps gießt man aus und ruft dabei die Toten
an: „eßt, trinkt und denkt unser." In Weißrußland gießt
man Wein auf die Gräber und spricht: „heilige Eltern, warum
seid ihr von uns geflogen? kommt zu uns, wir wollen essen, was
(lott gibt". Gerade im Frühling, im wichtigsten Moment des
Wirtschaftsjahres, muß man die Toten als die Beschirmer der
Interessen ihrer Nachkommenschaft günstig stimmen. Sie sollen
dem Landmann helfen mit ihrem geheimnisvollen und weisen Ein-
tiuß auf sein Schicksal. Die gleichen Riten kennen die Fremd-
völker, bei denen sie auch zu Ostern, am Palmsonntag, in der
dritten und vierten Fastenwoche vorkommen. Bei ihren Toten-
bewirtungen lassen sie entweder einige Stühle frei oder lassen
den gedeckten Tisch eine Zeitlang stehen. Ja sie heizen für
die Toten sogar Bäder. Auch an die Woche vor Pfingsten
schloß sich die Totenverehrung; ihr Name 'Russalnaja nedelja'
geht auf die griechisch-römischen ^ PovCdXia Rosalia Rosaria
I zurück, die den Charakter einer Totenfeier haben. Dasselbe
Fest begegnet in frühchristlichen griechischen Inschriften als
, Qodiöiiög oder QoöödXia. Yon dem Fest wurden bei den Russen
I die Seelen der Toten '^russalki' genannt. Die Frage des Ver-
I fassers, warum diese Bilder der Toten nur weiblich gedacht
werden, ist leicht zu beantworten: man hat sich die Seele zu
: allen Zeiten weiblich vorgestellt. Ebensowenig Schwierigkeit
j bereitet die Austreibung der Russalka. Es ist nicht nötig, eine
'Umwandlung der Volksvorstellungen anzunehmen. Die Seele
des Toten ist von jeher auch als Feind betrachtet worden, so
|gut wie als Freund; davon liegt hier ein Rest vor. Daß man
'die Toten auch in der Woche vor Pfingsten, gegen Ende des
^ Frühlings verehrt, hat seinen Grund darin, daß der Bauer ihre
Hilfe zur Zeit der Kornblüte genau so nötig hatte, wie zu
Beginn des Frühlings. Die Feiern tragen einen fröhlichen
30*
456 Ludwig Deubner
Charakter, ihr Name ^russaliji' wurde daher überhaupt zur Be-
zeichnung von Volksspielen.
Eine besondere Rolle im Frühlingsritual spielen die Eier
und die Erstlinge der Herde. Das Ei ist die erste frische
Opfergabe, daher erklärt sich seine rituelle Bedeutung, die mit
Symbolik nichts zu tun hat. Die Erstlinge der Herde werden
feierlich geschlachtet. In Serbien und Bulgarien verzehrt man
das erste Lämmchen am Georgstag. Ehe man es tötet, werden
auf seinen Hörnern Kerzen angezündet, dann wird es in der
Kirche gesegnet. Auch ruft der Hausherr, vordem er es
schlachtet: „heiliger Georg, da hast du das Lämmchen", während-
dessen gehen die Weiber um das Tier herum und beschmieren
sein Maul mit Honig. Die Letten schicken am Georgstag die
Pferde zum erstenmal auf die Weide, was die Jugend mit
einem Mahl in freiem Felde feiert. Der dabei angerufene Ussin
ist eine rein rituelle Figur und nichts anderes als eine Personi-
fikation des Feiertags (wir werden sagen: ein Sondergott). Der
Verfasser erblickt in Ussin die lettische Bezeichnung für den
heiligen Georg, da dieser gelegentlich für Ussin eintritt und
Ussin auch als Ritter erscheint. Es liegt näher, eine Beein-
flussung oder Verdrängung des alten Ussin durch den christlichen
Georg anzunehmen. Der Sinn des Opfers an den heiligen
Georg liegt in dem Schmecken des ersten Zuwuchses. Das
erste Austreiben des Viehes erfolgt im ganzen griechisch- sla-
wischen Osten am Georgstage, das Austreiben der Pferde in
Rußland am Nikolaustag (9. Mai). Im slawischen Westen wird
das Vieh am Pfingstmontag oder 1. Mai ausgetrieben; dabei
erscheint als zentrale Persönlichkeit der Hirt: er wird beschenkt
und bewirtet. Bei den Russen, Esten und Letten begießt man
ihn mit Wasser, damit das Gras genug Regen bekommt. Wich-
tiger ist die magische Umgehung des Viehes. Im Gouverne-
ment Kowno wird das Vieh auf den Hof hinausgelassen,
der Hausherr klebt an die Ränder eines mit Serviette oder
Handtuch bedeckten Tellers Kerzen im Schema eines drei-
Russische Volkskunde 457
armigen Leuchters, legt auf den Teller Heiligenbilder und ein
Paar Eier und geht damit um das Vieh herum. Hinter ihm
schreitet seine Frau, in der einen Hand einen Topf mit glühenden
Kohlen haltend, in der anderen eine Schürze voll heiligen
Grases; damit beräuchert sie das Vieh. Den Beschluß macht
der Hirt, der mit einem von der Palmwoche aufbewahrten
Zweig möglichst jedes Tier schlägt. Dieser Umzug geht drei-
mal vonstatten. Daß es sich um eine Reinigung handelt,
zeigt der weißrussische Brauch, mit dem der dreimalige Um-
gang geschlossen wird. Man bleibt auf der Stelle stehen, von
der man ausging. Der Oberhirt betet, indem er auf die Herde
blickt: „errette, Herr, unsere Herden und jedes Stück Vieh
von jeglichem gleitenden Reptil und bösem Raubtier." Darauf
wenden alle Hirten der Herde den Rücken zu, und der
Oberhirt spricht die Worte: „hussa Hexe^'; alle Hirten
schreien: „hussa Hexe!" Der Hirtenbube, der weiter vor-
getreten ist, knallt laut mit der Peitsche in die Luft.
Der Oberhirte fährt fort: „Salz in die Augen!", der Bube
wirft aus seiner hohlen Hand Salz ins freie Feld. „Den
Feuerbrand in die Zähne!" der Bube schleudert nach
derselben Seite einen Feuerbrand. Darauf lassen sich alle
Hirten auf die Erde nieder und nehmen ihre Mahlzeit ein.
Aber es muß auch jedes einzelne Tier von jeglicher Seuche ge-
reinigt werden, die in ihm stecken könnte. Das einfachste
Mittel ist, die Herde durch einen Gegenstand zu jagen, der
die Unreinigkeit nicht durchläßt, wobei der Gegenstand entweder
so heilig ist, daß die Unreinigkeit vor ihm Halt macht, oder
seinerseits alles Unheil an sich zieht. Zum zweiten gehört die
Umtragung des schwarzen Hahnes bei Letten und Litauern.
In Südfrankreich trieb man das Vieh durch eigens errichtete
tunnelartige Tore aus Erde. Die Mordwinen bauen gleichfalls
einen Tunnel, verteilen aber außerdem darin einen Holzbrand,
so daß das Vieh in Wolken von Rauch geht. Hier tritt der
erste Gedanke hinzu: vor dem Feuer muß alles Unheil zurück
458
Ludwig Deubner
bleiben. Der Brauch, das Vieh durch Scheiterhaufen zu treiben,
ist weit verbreitet, bis zu den Hottentotten. Reinigende Kraft
schreibt man an einigen Orten auch dem Osterei zu. Im Kreis
Grodno breitet man beim ersten Austreiben vor der Schwel
des Viehstalls einen Pelz aus, mit den Haaren nach oben,
legt darauf Eier. Dasselbe geschieht in Deutschland. In d(
Mark Brandenburg geht das Vieh über ein unter der Schwel
vergrabenes Ei, anderswo wirft der Hirt den Kühen Eier untc
die Füße. Reinigend ist der Schlag mit der Gerte, der
vielen Orten bezeugt ist. Es scheinen sich zwei Vorstellunge
zu verbinden, 1. der einfache Akt des Austreibens, der feierliche
mit einem geweihten Zweig, vollzogen wird, 2. die Lustratioi
in Weißrußland schlägt der Hirt die Tiere, während Haui
herr und Hausfrau den Umgang vornehmen. Interessj
sind die Worte, die der indische Priester während d(
Opfers zu dem Zweig in seiner Hand spricht: „behüi
das Vieh, das das Opfer darbringt, das im Walde umhe^
streifen wird, vor dem Schrecken des Räubers, wilde
Tiere und jeglichen Unheils; die mit dem Zweig geschützi
Kühe werden ohne Fehler nach Hause kommen." Wei
die bulgarischen Mädchen sich am Georgstage schaukel
versetzen ihnen die Burschen hin und wieder eins mit d(
Rute.
Eine weitere Anzahl von Riten knüpft sich an die ersi
Ausfahrt mit der Egge, bei den Fremdvölkern, in Englai
und Deutschland. Auch gibt es im Frühling einige Tage,
denen es gefährlich ist, sich mit dem Pflug zu befassen,
der Ausfahrt aufs Feld zum Pflügen wird um Fruchtbarkei
gebetet, desgleichen bei der Aussaat. Brot und Eier werde
in Rußland bald auf die Egge gelegt, bald über das Feld vei
streut. In Deutschland fährt man mit der Egge über eine
Topf Milch mit Brot und Ei. In Westfalen zieht ein altes Weil
den Pflug. Eiopfer begegnen auch in Kleinrußland, Sei
bien, Bosnien und Herzegowina. Eier oder Eierschalen stecl
Russische Volkskunde 459
man in Deutschland und Rußland dem Sämann in den Korb;
gewöhnlicli nimmt man dazu Ostereier. Auch wirft der Sä-
mann eine Handvoll Samen rückwärts über die Schulter und
schließt dabei die Augen. Die Mordwinen fahren vor der Aus-
saat mit einem ganzen Mittagessen aufs Feld, schneiden einzelne
Scheiben Brot ab und legen auf jede je ein Stück von jeder
Speise. Diese Scheiben vergraben sie in die Erde. Nach dem
darauf folgenden Essen machen sie sich an die Aussaat. Die
Wotjaken decken über die aufgepflügte Erde ein Tischtuch,
darauf legen sie Eier, Brot und andere Speisen. Nach einem
Gebet erfolgt die erste Aussaat, wobei zugleich mit dem Korn
auch die Eier ausgestreut werden. Eins davon wird eingepflügt,
die anderen verzehrt man. Zum Sämann wird bei den Tschu-
waschen ein 'glücklicher Mensch' ausgewählt. Im Gouvernement
Ssamara schloß sich der Landmann am Vorabend der Aussaat
ein, zündete eine Wachskerze an und legte vor den Heiligen-
bildern eine Handvoll Samenkörner hin; dann begann er eifrig
zu beten um Herabsendung glücklicher Saat und Ernte. Dabei
wurden im Haus sorgfältig alle Spalten und Offnungen, sowie
die Ofenrohre zu dem Zwecke geschlossen, daß der herab-
gesandte Segen Gottes nicht aus dem Hause entweiche. In
Neuseeland müssen die Arbeiter vor dem Aufpflügen fasten
und sich waschen. Die Slowenen werfen in der Mitte der
fünften Fastenwoche auf dem Felde einen Teil des Pfluges
(verMo) gegen die Sonne. Wo er hinfällt, vergräbt man ihn.
Rostet er nicht, so gibt es gute Ernte. Nach Herausnahme
des verMo aus der Erde umwindet man es mit Efeu und setzt
es in den Pflug ein. Am anderen Morgen, wenn man zum
Pflügen ausfährt, steckt man dort, wo das verklo vergraben
war, eine geweihte Palmweide hinein. Zu den betrachteten Riten
gehört auch das Spiel Kostrubonko: Kostrubonko wird gesucht,
man findet ihn nicht; er ist tot und wird beweint; plötzlich
springt Kostrubonko auf und hascht die Mädchen. Eine Replik
davon ist das epirotische Spiel Saphira. Saphira stellt sich
460 Ludwig Deubner
tot, man beschüttet ilm mit Blumen und beweint ihn; kaum
spricht man von seinem Tode, so springt er auf und fängt
den Chor. Man hat damit mehrfach das Adonisfest von Byblos
verglichen: Klage um den Toten, am folgenden Tage Freude
über den Auferstandenen. Man hat hierunter nicht den Tod
der Natur im sommerlichen Brand und ihr Erwachen im Früh-
ling zu verstehen, wobei zwei auseinanderliegende Momei
zusammengerückt wären, Adonis ist, wie das Theokritscholi(
zu ni 48 erklärt, 6 öltos öTtsiQÖ^svog. Die Adonien waren
sprünglich ein Saatzauber, der Ritus sollte ein schnelles ui
erfolgreiches Aufgehen der Pflanzenkeime begünstigen, nachde
der kostbare Same in die Erde geworfen und in ihrer schre(
liehen ungekannten Tiefe untergegangen war. Es stimi
dazu, daß die alten Adonien in Byblos um die Wende d^
Februar während der Aussaat des Sommergetreides gefei(
wurden.
Auch für den Aufgang des Wintergetreides um Himm<
fahrt wird gesorgt. Man backt aus Teig sog. ^TreppeJ
(lestnisy)^ Pasteten mit quer übereinander gelegten Schichi
Sie symbolisieren den Wuchs des Getreides. Im Grouvernement
Ssaratoff gingen die Weiber mit ihren ^Treppen' aufs Feld,
wälzten sich auf der Wintersaat und warfen Eier in die Höhe.
So hoch das Ei flog, sollte der Roggen wachsen. In Ober-
bayem geht zu Ostern jeder Bauer mit seinen Leuten aufs
Feld und richtet an jeder Ecke ein Kreuz aus frischen Zweigen
auf-, ebenda legt er Schalen von Ostereiern nieder. Außerdem
wird in der Mitte des Feldes ein Ei vergraben. Geweihte
Speise vergräbt man in Osterreich. Ahnliches geschieht in
Indien. Es ist die Vorstellung des magischen Kreises, durch
den man das Feld schützt. Dasselbe sucht man durch feier-
lichen Umgang zu erreichen, der bei den Slawen sehr verbreitet
ist. Bei Serben und Bulgaren, wo sich auch die Geistlichkeit
beteiligt, werfen die Burschen kleine Bälle in die Höhe und
springen möglichst hoch, damit das Getreide ebenso hoch
Russische Volkskunde 461
wachse. Während das Kreuz umgetragen wird, legen sicli
die Kranken quer über den Weg, damit die Prozession über
sie hinweg ginge und ihre Krankheit ausgetrieben werde. Ver-
wandt mit diesem Umgang ist der germanische Flurumritt.
Die lustrierende Kraft des Umgangs wird stellenweise durch
Tragen von Fackeln verstärkt. Bei den Russen und Serben
sind auch Lieder mit dem Umgang verbunden. Die gleichen
Riten finden wir bei den alten Römern, auch ins Christliche
\Yerden sie übertragen. Die Reinigung des Feldes ist der letzte
Akt der rituellen Handlung im Frühjahr. Eine Beschwörung
der Ähren stellt das großrussische Spiel Kolossok dar: ein zwölf-
jähriges Mädchen geht über die kreuzweis verschränkten Hände
der in zwei Reihen sich gegenüberstehenden Mädchen und jungen
Frauen bis zum Feld, indem' die hintersten immer nach vorn
laufen und die Brücke fortsetzen. Auf dem Felde reißt das
Mädchen eine Handvoll Roggen ab, trägt sie zur Kirche und
wirft sie dort hin.
Die Mehrzahl der in dem vorliegenden Buche analysierten
Riten gehören zu den zwei großen Kategorieen der Beschwörungen
und Lustrationen. Einen Glauben an Geister setzt keiner not-
wendig voraus. Der primitive Mensch erzielt, wie Frazer
sagt, durch ähnliche Handlungen ähnliche Erscheinungen.
i Doch ist es nicht richtig, wenn Frazer behauptet, der Wilde
erreiche sein Ziel auf übernatürlichem Wege. A. Lang hat
1 betont, daß Erscheinungen wie Halluzinationen, Fernwirkungen,
' Erraten den Wilden längst bekannt sind. Wenn der Zulu
einen verlorenen Gegenstand nicht finden kann, nimmt er seine
Zuflucht zur inneren Eingebung und bemüht sich zu fühlen,
wo der Gegenstand steckt. Fast alle wilden Völker kennen
': diesen Akt des unbedingten Willens; sie nennen das *die Tore
( der Entfernung öffnen'. Es ist eine unbewußte Gehirntätig-
keit, die an Ekstase grenzt. Der Grundzug der betrachteten
Riten ist der Glaube des Landmanns, daß sein Schicksal mit
dem seines Feldes identisch ist; daß seine Vorherbestimmung
462 Ludwig Deubner
von ihm selbst abhängig ist oder seiner religiös -wirtschaftlichen
Gemeinde. Seine Art, die Natur anzusehen, ist streng egozentrisch.
Sie existiert für ihn persönlich. Seine Ansicht wird erschüttert,
wenn eine Naturerscheinung sich ihm schädlich erweist; nur
durch den Gedanken an die Möglichkeit eines Widerstandes
kann seine egozentrische Metaphysik wieder ins Gleichgewicht
gebracht werden. Dieser Widerstand in Form der Beschwörung
oder Lustration, erscheint uns übernatürlich. Nach Spencer
stellen sich dem primitiven Menschen komplizierte Objekte und
Verhältnisse unter den Bezeichnungen einfacher Objekte und
Verhältnisse dar. Wenn der Wilde erkrankt, erscheint dem-
nach als erstes Mittel die Aussaugung der Krankheit: diese
wird ganz konkret gedacht. Daneben steht die Austreibung
durch Riten, die den magischen Bräuchen der Reinigung und
Beschwörung verwandt sind. Der kirgisische Baksy bringt
sich in Ekstase durch das hartnäckige innere Bestreben, d
Kranken zu heilen. Der Ekstase dienen das Drehen im Kreis^
eintönige Musik, narkotische Getränke, Pasten u. dgl. Der
Beschwörer fühlt in sich die Kraft, durch Willensanspannung
die gewünschte Erscheinung hervorzurufen: er muß an sich
glauben. Der primitive Mensch, der durch seine Ekstase die
Tore der Entfernung öffnet und Krankheiten heilt, muß glauben,
daß er durch dieselbe Ekstase auch den Regen herbeiführen, die
Blüte der Nutzpflanzen beschleunigen und sichern könne usw.
Diese Weltanschauung muß religiös genannt werden. Sich
selbst hält der primitive Mensch für eine Art Gott; auch der
kirgisische Baksy und der türkische Schamane halten sich zweifel-
los für Götter. Die Vorstellung vom Mensch- Gott ist bei den
Wilden weit verbreitet. Frazer hält diese Menschengötter fälsch-
lich für Besessene. Ihre Göttlichkeit gründet sich auf den
Glauben an sich selbst, und dieser Glaube wurzelt in der Fähig-
keit, sich auf einen Wunsch zu konzentrieren. Ohne Wunsch
keine Religion, kein Gott, sagt Peuerbach. Die rituelle Handlung
liegt den vollkommeneren Formen des religiösen Bewußtseins
>er
ttsr I
Russisclie Volkskunde 463
zugrunde. Sie erklärt auch den Dualismus von Gut und Böse,
Liebe und Furcht in der Vorstellung von der Gottheit. In der
Beschwörung vollzieht sich der Prozeß der Entstehung des
wohltätigen Gottes, in der Lustration hat man die Quelle des
Menschenfeindes zu suchen. Das rituelle Lied dient einerseits
der Ekstase, anderseits drückt es den Wunsch selbst durch das
Wort aus. Der rhythmisch ausgedrückte Wunsch liegt der
Beschwörung zugrunde. Das rituelle Beschwörungslied ist eine
selbständig entstandene und ursprüngliche Form der Volkspoesie.
Nach Bücher waren Arbeit, Musik und Poesie auf der ersten
Stufe der Entwickelung eine Einheit, aber das Grundelement
bildete die Arbeit. Energische rhythmische Körperbewegungen
führten zur Entstehung der Poesie, insonderheit die Bewegungen,
die wir Arbeit nennen. Tanz ist eine Nachahmung bekannter
Arbeitsprozesse. Im Rhythmus sieht Bücher mit Nietzsche eine
Nötigung, eine Anspannung der Energie, die geeignet ist, bis
zur Eingebung, zum Rausch, zur Ekstase zu führen. Seine eigene
Theorie von der Entstehung des Liedes aus dem Beschwörungs-
verfahren betrachtet der Verfasser als eine Weiterbildung der
Theorie Büchers. Denn auch hier liegt derselbe psychologische
Prozeß zugrunde, wie beim Arbeitsliede. Auch hier dient das
Lied der Erregung und der Anspannung der psychischen
Impulse und Muskelenergie. Arbeits- und Rituallieder sind die
Grundtypen, in die der ganze Liederschatz des primitiven
Menschen aufgeht. Kriegs-, Jagd- und Liebeslieder gehören
zur zweiten Gruppe. Auch die im zweiten Teil zu betrach-
tenden Lieder und Tänze, in denen das ganze Menschenleben
mit allen seinen Fragen sich widerspiegelt, sind ein integrierender
[Bestandteil des Ritus, obwohl sie ihn anscheinend unabhängig
begleiten.
4 Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer
Reisebericht von K. Th. Preuß z. Z. in Mexiko
^5i Am 25. Dezember 1905 brach icli von Tepic auf ^, um
die Stämme der Sierra Madre besonders in bezug auf Religion
und Kunst zu untersuchen in der Hoffnung^ hier auf ursprüng-
liche Ideen zu stoßen, die die dunkeln Anfänge dieser un-
praktischen und doch so tief in die Tätigkeit der primitiven
Völker eindringenden „Mittel zur Lebenserhaltung" ein wenig
erhellen. Auch glaubte ich hier manche Erklärungen für die
Zeremonien und Bilderschriften der alten Mexikaner zu finden,
da an beiden Orten sowohl die gleichen Lebensbedingungen!
des Ackerbaues und Regens, der gleiche Sonnenstand imd die !
gleichen Tiere sich finden, wie auch ein sprachlicher und
räumlicher Zusammenhang vorhanden ist. In sechs Tagereisen
nach Norden erreichte ich das Hauptdorf der Cora- Indianer
Jesus Maria, das ich als Hauptstützpunkt erwählte, um von
hier aus die anderen bedeutenden Cora-Pueblos zu besuchen,
das zwei Stunden entfernte San Francisco und das eine bzw.
zwei Tagereisen nach Westen und Norden gelegene Mesa de
Nayarit und San Theresa. In diesen Dörfern werden verschiedene
Dialekte gesprochen, doch so, daß sich die Bewohner unter-
einander sehr wohl verstehen können. In San Theresa bin ich
jedoch noch nicht gewesen, da ich in meiner Nähe ein großes
Material vorfand. Die Grundlage für meine Untersuchungen ;
mußte das Aufschreiben und Übersetzen von Texten und daher
das Studium der Sprache sein, da wir außer einem kleinen Ij
^ Die Mittel zu dieser Reise gewährte mir die Preußische Regierung
aus der „Herzog von Loubat Professur- Stiftung".
K. Th. Preuß Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 465
Vokabular des Pater Ortega vom Jahre 1732 nichts dergleichen
; besitzen. Wenn ich nun im folgenden einzelnes von meinen
über Erwarten reichen Funden mitteile, so geschieht es in der
Erkenntnis, daß ein viermonatiger Aufenthalt nur gerade Zeit
i genug bietet, um zu übersehen, in welchen Richtungen die
' Arbeit einzusetzen hat. Ich biete daher weder Vergleiche mit
dem Altmexikanischen, noch teile ich etwas aus dem Original
der Texte mit, da die vollkommene Verarbeitung Jahre nach
i meiner Rückkehr erfordern wird. Auch muß man immer be-
! denken, daß ein Endurteil über die Cora erst nach dem
Studium der sprach- und kulturverwandten Nachbarstämme
möglich ist, zu denen ich im Juli übersiedeln will, und zwar
zunächst zu den Huichol- Indianern.
Kaum war ich einige Tage bei den Cora, so führte mich
der Indianer, den ich für meine Sprachstudien gewonnen hatte
! — ein Verächter der alten Corasitten — , in der Nacht zu
einigen „Höhlen" in der Umgebung des Dorfes. Es waren
teils kleine Hohlräume aus kunstlos übereinandergesetzten
Steinen, teils Felsspalten und Bildungen aus überhangenden
Felsen, deren Eingang durch Steine verbaut war. Ich fand
dort außer kleinen Schälchen mit Lebensmitteln und Tabak
für die Toten und Takuäte — die Götter — eine Anzahl be-
t malter und mit Federn behängter Zeremonialpfeile. Im Laufe
der Zeit besuchte ich viele andere wirkliche Höhlen, auch in
der Umgebung von San Francisco und der Mesa, die zum Teil
I tief hinabführten und nur auf dem Bauche zugänglich waren.
I Die Fülle der dort vorgefundenen Pfeile, die Masse der einen
I bedeutenden Geldwert repräsentierenden Federn — an einem
einzigen Pfeil zählte ich z. B. 80 Bündel — , endlich die kunst-
I voll hergestellten, zum Teil gewaltigen Sterne daran aus weißen
BaumwoU- und blauschwarz gefärbten Wollfäden machten es
mir zur Gewißheit, daß in diesen „Pfeilopfern" ein wesentlicher
Teil der Corareligion stecke. Tatsächlich haben die Cora
jedes Dorfes auch einen sehr einflußreichen „Alten" an ihrer
9
1
466 K- Th. Preuß
Spitze, den man den Vater des Dorfes nennen könnte, und
der als vornehmste Aufgabe die Sorge für die gemeinsamen
,, Pfeilopfer" hat. Diese bilden gewissermaßen einen Ersatz der
fehlenden Götterbilder. Und das alles, obwohl seit fast 200
Jahren hier die christliche Kirche besteht. Gegenwärtig be-
findet sich ein Pfarrer in Jesus Maria und ein anderer in dem
fast ganz mexikanisierten San Juan Peyotan. Die Cora sagen
einfach, Gott selbst habe diese Gebräuche eingesetzt, und s
nicht minder fromm als Christen wie als Heiden.
Wegen des Mißtrauens, das die Cora allen Fremden e
gegenbringen, gelang es mir erst ganz kürzlich, eine Serie
Pfeile nebst einer authentischen Erklärung ihrer Bedeutung
zu erlangen. Zugleich hatte ich achtgegeben, welche Federn
in den verschiedenen Zeremonien gebraucht wurden, so daß
ich mir jetzt ungefähr ein Bild von diesen „Pfeilopfem"
machen kann. Danach darf man in ihnen weder Opfer noch
Gebete sehen, sondern auch heute sind es lediglich un-
umgänglich notwendige Mittel, Leben und Gesundheit, Regen
und gute Ernte u. dgl. m. zu erhalten. Wollte der Vater eines
neugeborenen Knaben oder Mädchens nicht einen Pfeil mit
der Feder des kleinen Sperbers bzw. der Taube anfertigen und
im Hause aufbewahren, so würde das Kind sterben. Ganz
ebenso z. B. würden die Toten kommen und dem Kinde Schaden
zufügen, wenn er nicht einige Tage Zweige des Zapotebaumes
in den Türrahmen steckte. Zweige und Federn sind ein Mittel
zur Abwehr. Dasselbe wiederholt sich für die Gesundheit
des ganzen Dorfes besonders beim Neujahrsfest im Januar und
beim Fest der Reife der Knaben und Mädchen im Mai.
Außerordentlich gut für die Verhinderung und Heilung von
Krankheiten sind Pfeile mit den Federn des großen Sperbers,
die auch, an ein Stöckchen gebunden, den Heilkünstlern bei
ihren Kuren dienen. Um eine gute Ernte zu erlangen, ge-
braucht man, hauptsächlich zur Saatzeit, die prächtigen blauen
Federn des Blauhähers oder die gelben des Papageis. Am
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 467
Ende der Regenzeit, im Dezember, macbt man zum Fest der
mit der Erdmutter identifizierten Jungfrau von Guadalupe
Pfeile mit Reiherfedem, die Wasser, und mit großen Flocken von
Baumwolle, die Wolken bedeuten. Anfang Mai werden der
Sonne Pfeile mit den rötlicli- blauen Federn des Guacamayo
und roter Zeichnung des Schaftes in die Höhlen gestellt, und
beim Mitotetanz, über den ich noch sprechen werde, bedeutet
ein kurzer Stab mit denselben Federn, der neben das Feuer
inmitten der Tänzer gesteckt wird, zugleich das Feuer und
die Sonne. Ja, dieses Feuer selbst wird in den von mir in
der Corasprache aufgezeichneten Mitotegesängen die Federn
der Sonne genannt. Der Name des Adlers kuolreäbe ist zu-
gleich ein Beiname der Sonne, und Adlerfedern werden an
Pfeilen gegen Krankheiten angebracht, aber nur vom Ober-
haupt des Dorfes, dem „gobernador" {ta^htüany, offenbar, weil
der Zauber dieses Vogels für andere zu stark ist und nicht
beherrscht werden kann.
Den Federn wird eine besondere Kraft nach ihrer Farbe
und dem Ort des Vorkommens der betreffenden Vögel zu-
geschrieben. In zweiter Linie sind sie den Gottheiten geweiht,
und zwar trägt jeder Pfeil die Zeichen des Morgensterns
' 'Hätzikan, der Erdmutter Te^kame und der verstorbenen
„Alten", der Takuäte, die besonders im Osten, in den Bergen
und zwischen den Wolken leben. Selbst in den Zeichnungen
j der Sonnenpfeile ist nicht die Sonne allein vorhanden. Doch
' sind einige Pfeile mehr "^Hätzikan, andere mehr Te^kame ge-
weiht und vertreten daher je nachdem mehr das Männliche
oder mehr das Weibliche unter den Menschen. Diese
i Teilung findet sich z. B. bei den Pfeilen für Knaben und
j Mädchen, bzw. Männer und Frauen mit Federn des kleinen
S Sperbers und der Taube, für die wiederum entsprechend gelbe
^ Über die Aussprache der Coraworte bemerke ich, daß 'h geringe
I gutturale Aussprache des h bedeutet, x = seh und ^ der saltillo ist. Auch
; ist griechisch % verwendet.
468 ^- Th. Preuß
Papageienfedern bzw. Federn des Blauhähers treten können.
Die gelben Papageienfedern trägt beim Mitote ^Hätzikan in
seiner Krone und gleich dem Morgenstern der Hirsch, der die
übrigen gelben Sterne vorstellt. Stäbe mit Federn des Blau-
hähers kommen dagegen im Mitote der Erdmutter zu und ent-
sprechen offenbar dem Wasser, das die Welt umgibt und be-
sonders ein Attribut der Erdmutter ist. Der Ort des Vor-
kommens entscheidet z. B. bei dem Gebrauch des ai^nata ge-
nannten Habichts, der sich in den Bächen von Krebsen nährt.
Einen entsprechenden Federstab tragen einerseits die Anführer
des Mitotetanzes auf dem Hut, während ihre langen Rohrstäbe
mit Wolkenzeichnungen bedeckt sind, anderseits wird er bei
der achttägigen Zeremonie der „Badenden" kurz vor Ostern,
die jetzt zugleich dem Fischfang dient, am Ufer aufgepflanzt.
Ein Yögelchen, das sich wegen seiner roten Farbe wie eine
Blume auf den Bäumen und Sträuchern ausnimmt, nennen die
Cora xiM, was „Sonne" und zugleich „Tag" bedeutet.
An den Pfeilen befinden sich häufig vier-, sechs -
achtstrahlige Sterne aus weißen Baumwollfäden oder
wechselnd mit blauschwarz gefärbter Wolle bzw. gelber Ba
wolle oder gelbgefärbter Wolle. Übereinstimmend wurden sie
in Jesus Maria als Nachbildung der flachen, runden Kale-
bassenschale erklärt, die im Mitotetanz die Erdmutter in den
hochgehobenen Händen trägt. Die Schale trägt in Jesus Maria
innen einen achteckigen Stern aus aufgeklebten Perlen, die die
Versammlung im Mitote vorstellen, die ihrerseits wieder die
ganze Welt bedeutet. Ebenso tanzen die Götter auf dem Tanz-
platz, „Welt" genannt. Dieser erscheint in den Liedern von
San Francisco als Vorstadium der Kröte, das sich hier zur
Regenzeit massenhaft findet. Die Schale ist mit Baumwolle,
„den Wolken", gefüllt und obenauf liegen einige Blunien-
peyote — ein wunderbar stimulierendes Knollengewächs —
u. dgl. m. Die Farbe der Sterne aber richtet sich lediglich
nach der Farbe der Federn, ebenso wie die entsprechenden
Hi
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 469
1 locken von Baumwolle und Wolle, die sich an den Stiel-
enden der Federn befinden.
Vor etwa 20 Jahren hängte man an die Pfeile mit Reiher-
ledern für die Jungfrau von Guadalupe rechteckige weiche
Gewebe meist aus weißer Baumwolle, die als ihr Bett be-
zeichnet werden. In einer Höhle von San Francisco fand ich
1 reichlich Baumwolle, ihr „Sitz". Beides ist also ihr Wolken-
i sitz. Ich habe auch von diesen Pfeilen noch eine Anzahl für
das Berliner Museum retten können.
In einem Falle fand ich ein kleines Säckchen mit Tabak
I an einem Pfeil, also eine Opfergabe, wie sie auch allein neben
Eßwaren für die Toten und Götter vielfach vorkommt.
Es ist bedeutungsvoll, daß selbst bei diesem, sich mitten
im devoten Kirchenglauben befindenden Volke die Pfeile nicht
j als Opfergabe gelten. Auf meine hoffnungslose Frage nach
' der Bedeutung der Pfeile sagte mir zu meiner Freude ein
„Alter", daß sie wie die Pfeile des Morgensterns sind. Das
bezieht sich auf eine Zeremonie des Mitote. Beim Aufgang
des Morgensterns nämlich tritt dieser Gott unter dem im
Osten, d. h. am östlichen Ende der Welt errichteten Altar her-
vor, er erscheint aus der Unterwelt und versendet einen Pfeil
nach Westen ins Dickicht auf die die Menschen bedrohende
Wasserschlange, die offenbar, nach den Liedern zu urteilen,
die Morgenröte darstellt. Vorher hat er bereits auf die gleiche
Weise den Hirsch, d. h. die übrigen Sterne, erlegt. Es ist
also der von mir in der altmexikanischen Religion aufgedeckte
„Kampf der Sonne mit den Sternen", den wir hier lebendig
vor Augen sehen. Glücklicherweise wußte der „Alte" auch
noch anzugeben, daß der Hirsch und der Morgenstern Brüder
und wesensverwandt sind, so daß über die Deutung nicht der
geringste Zweifel obwalten kann. Sind aber die Zeremonial-
pfeile gleich den Pfeilen ^Hätzikans, so wohnt in ihnen nicht
die Kraft des Gebetes oder des Opfers, sondern die der Gewalt,
gleichwie es nicht gut anzunehmen ist, daß man je fromme
Archiv f. Beligionswissenschaft IX 31
470 K- Tt. Preuß
Wünsche der Gottheit vermittelst eines Pfeiles übersendet hat.
Auch trägt die jährlich gewählte Obrigkeit von San Francisco
Riesenpfeile ohne Federn, aber mit denselben Zeichnungen,
und von dem Teil, der sich auf die Takuäte beziehen soll,
heißt es wohl, das sind die Zeichen des gobernador usw. .
Die „Alten" besitzen eben Zauberkraft, und diese wird durj^fl
die Zeichnungen unterstützt. Die Pfeile also sind „Wesen fu^
sich", die eine Zauberkraft ausüben gewissermaßen an Stelle
der fehlenden Götterbilder. Stellte man doch in den Mitotes
zunächst ebenfalls die Erdmutter und den Morgenstern dar,
um sie zur Hergabe ihrer Segnungen zu zwingen. Freilich
mischt sich jetzt in den Liedern und Gebeten das Vertrauen
auf ihr Wissen und auf die Wirkung der korrekten Durc^^
führung aller Gebräuche mit der Demut vor den Göttern. ^M
Es fragt sich nur, weshalb werden die Pfeile und anderes^
in die Höhlen gestellt, mit welchen kosmogonischen Ideen ^
hängt das zusammen? — Denn daß dort die Götter und Takuäte
wohnen, ist noch lange nicht die letzte Antwort darauf. Hier
muß es vorläufig genügen, daß der Glaube besteht, von den ,
Bergen gehe aller Segen aus. Die Wolken z. B., die Träger
alles Segens, kommen von den Bergen — zugleich von Osten —
und nicht vom Wasser der Flüsse und Bäche. Nach den
Höhlen schleppen die Cora die Erstlinge von allen Erzeug-
nissen, um reichen Ertrag zu erlangen, z. B. die Blüten aller
Früchte bzw. diese selbst lange vor ihrer Reife und gegen-
wärtig auch eine in der Sonne getrocknete Iguana und fünf ebenso
gedörrte Fische vom Ertrag der „Badenden", damit es später 1
viele Iguanas und Fische gebe.
Die Vögel sind nicht die einzigen Tiere, denen Zauber-
kraft zugeschrieben wird. Vor allem spielt hierin der Hirsch eine
Rolle, dessen Schwanz an einem kurzen Stabe befestigt gleich
dem Federstab des Blauhähers in den Zeremonien des Mitote, |
z. B. des Morgens bei Sonnenaufgang, zum Besprengen mit
Wasser verwendet wird. Auch die Federstäbe sind übrigens
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 471
sämtlicli aus den Schwanzfedern der betreffenden Vögel her-
gestellt. Groß ist auch die Zahl der in den Mythen als Ent-
sprechung von anderen Naturerscheinungen auftretenden Tiere,
und noch ist der Glaube an die Kraft dieser Tiere nicht ganz
geschwunden.
Beim Mitote der Saat im Anfang Juni, kurz vor der
Regenzeit, wird in San Francisco und Jesus Maria ein großer
Maiskuchen gegessen, der cliicharra heißt. Diese ist ein
fliegendes Insekt, das sich zwar auch zu anderen Jahreszeiten
findet, aber nur im Anfang der Regenzeit singt. Die Cora
glauben, durch diese Zeremonie den Regen herbeizuziehen.
Der Gedankengang ist offenbar der, daß die chicharra durch
ihren Gesang den Regen veranlaßt, und wenn sie gegessen
wird — selbst in einer Nachbildung — , so haben auch die
I Menschen diese Fähigkeit durch ihren Gesang — die Cora
singen nur bei Zeremonien — , aber wohl auch durch ihr bloßes
Sprechen, sei es in den „Gebeten" oder im täglichen Leben,
den Regen hervorzurufen. In den Mitotegesängen rufen sie
die Grille zu Hilfe, 'weil sie so taktgemäß zu singen ver-
stehe, und in einer Höhle, wo ich eine Menge alter zu
den Mitotezeremonien gehöriger Objekte fand, waren die
kleineren Gegenstände in zwei Taschen untergebracht, deren
Muster mir schon vorher als niünkari „Worte" erklärt
jwar. Wie es scheint, ist darunter der Donner zu ver-
istehen, denn auch Zeichnungen von Wolken nannte man
„Worte". Überall in den Liedern drückt sich das Vertrauen
in die Worte aus. Ja, das im Mitote gebrauchte Musik-
instrument, der auf eine Kalebasse gelegte, mit zwei Hölzchen
geschlagene Bogen, und jeder Teil desselben haucht Zauber-
worte aus. Selbst den zahlreichen, im Mitote gebrauchten
Blumen werden Zauberrufe zugeschrieben.
Am Neujahrsfest bot sich mir eine weitere Gelegenheit,
die Zauberwirkung von Tieren und Menschen zu beobachten.
Die Hauptfeierlichkeit am 1. Januar besteht in der Übergabe
31*
472 ^ Th. Preuß
der Amter an die neugewählte Dorfobrigkeit. Es werden, ent-
sprecliend der Zahl der Amter — es sind einige dreißig — ^
einlieimisclie Holzsessel aufgestellt, deren Rücklehnen mit aller-
hand Figuren aus gebackenem Maismehl behängt sind. Andere
befestigt man an hohen Zuckerrohren, die nebst Bananen
und anderen Lebensmitteln den neuen Beamten von den alten
als Geschenk überreicht werden. Die Bananen schmücken zum
Teil malerisch den Sessel und die Zuckerrohrstangen, auch
setzt man den Neugewählten eine mit Bananen bedeckte Krone
aufs Haupt. Die Figuren stellen Männer und Frauen, Kro-
kodile, Tauben und Enten vor, die mit dem Läuten der Kirchen-
glocken Beauftragten erhalten Figuren von Glocken, die Ge-
hilfen des Richters eine aus kleinen Tamales von Pinole und
Honig zusammengesetzte Peitsche als Sinnbild ihres Amtes
der Züchtigung mit der Iztlepeitsche. Doch sind die richter-,.
liehen Funktionen auf die mexikanische Regierung über-|
gegangen, und die Peitsche existiert nicht mehr.
So harmlos die gebackenen Glocken und die Peitsche aus-
sehen, so wurde mir doch bezüglich der Figuren von Männern
und Frauen die Auskunft zuteil, das seien die Beamten des
neuen Jahres — denn auch die Frauen der Gewählten nehmen
an den Obliegenheiten der Männer teil, wie das überhaupt bei
den Cora Sitte ist — , und in der Tat sollen die Männer nur
Männerfiguren, die Frauen nur Frauengestalten an diesem Feste
geschenkt erhalten. Zugleich sei aber mit den Figuren ^Hätzi-
kan und Te;^kame gemeint. Es wiederholt sich hier also die
Zweiheit in manchen Pfeilen, die sowohl Männer bzw. Frauen
als auch die genannten beiden Gottheiten bedeuten. Durch
das Essen werden sie also der Götter teilhaftig. Das Krokodil:
aber, das sich in dem Flusse von Jesus Maria findet,
sei das gleichnamige Sternbild am Himmel. Es ist zugleich
das am meisten an den Haustüren nachgebildete Tier. Enten
aber und Tauben liefern ihre Federn für die Zeremonialpfeile;
die Enten, besonders die ganz schwarzen, für die merkwürdigen
S
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 473
befürchteten Götter des Wassers (Txakan), die Krankheiten
senden und lieilen. Anfangs Januar erfolgt unter Fasten und
Wachen die Anfertigung der Pfeile und Aschenkuchen für
diesen Gott Txäkan, wozu aus allen Häusern des Dorfes Asche
zusammengetragen wird. Die Taube ist in einer Mythe zu-
trleich die Tochter der Erdmutter und Trägerin alles Reich-
tums. Am Neujahrsfest scheinen also die neuen Dorfobrig-
keiten gewissermaßen das ganze Dorf zu repräsentieren.
Das geht auch aus folgender Beobachtung hervor. An
den ihnen überreichten Zuckerrohrstangen sind lange Bananen
wie Hörner von Stieren befestigt und sollen auch solche be-
deuten. Es traten einige Leute mit Gestellen aus Zucker-
rohr auf den Köpfen auf, die Stiere darstellten, und mit denen
die berittenen „Moros" — wir werden sie noch kennen lernen
— in aller Kürze ein Stiergefecht zur Kurzweil aufführten.
Einen Monat später, Anfang Februar, erfolgte dieselbe Über-
gabe der Ämter bei Gelegenheit eines kirchlichen Festes in
dem nahen San Francisco, und da wurde die Szene der Stiere
weiter ausgeführt. Etwa 20 junge Leute, nackt bis auf die
Schambinde, bemalten sich am ganzen Körper schwarz, weiß
und rot, was die Farben der Stiere nachahmen sollte, und
wurden von zwei maskierten Yiehtreibern, „Alten", die auf
Stöcken ritten, von auswärts ins Dorf getrieben. Die Schar
lagerte sich unter einem Baum, und die beiden wüst aus-
sehenden Gesellen gingen zu meinem Erstaunen ans Tor der
Kirche, aus der auf ihr Pochen der gleichfalls maskierte „Alte"
der „Danzantes", einer religiösen Tanzgesellschaft, herauskam,
um von ihnen die Stiere zu kaufen. Ich will hier nicht aus-
führen, wie der Handel in aller Umständlichkeit vor sich ging,
wie der Preis bezahlt, die Tiere einzeln taxiert, überliefert und
mit neuen Besitzermarken versehen wurden, — es genüge das
Ergebnis, daß hier augenscheinlich ein Analogiezauber ausgeübt
wurde, durch den dem Dorf Reichtum an Kühen für das
kommende Jahr gesichert wurde. Der „Alte" der „Danzantes"
474 K. Th. Preuß
repräsentierte hier wiederum das Dorf. Natürlich war den
Teilnehmern diese Idee nicht mehr gegenwärtig. Ich weiß
auch nicht, welche Szene ursprünglich zugrunde gelegen hab(
mag. Sicher ist nur, daß dieses Spiel „zu Ehren der Ju]
frau" stattfand, die identisch ist mit der Erdmutter, und ds
alle religiöse Frömmigkeit der Cora — auch der Kirche gegei
über — irdischen Segen bezweckt. Dieser Kuhhandel ist et^
mit den Lehmkühen zu vergleichen, die die benachbarten Hi
chol in die Höhlen stellen, um Reichtum an Vieh zu erlangei
Ich habe solche Kühe massenhaft in den Höhlen gesehen.
Bei den Cora zeigt sich besonders ausgeprägt die Id(
die ich auch schon bei anderen Völkern, z. B. den Puebl
stammen von Neu -Mexiko und Arizona verfolgt habe, daß
in der Natur wirkenden Kräfte, z. B. Tiere, Wolken u. dj
mit den Verstorbenen, hier mit den verstorbenen „Altei
identifiziert werden. Dieser Prozeß ist aber auch hier nicl
in jeder Beziehung durchgedrungen. Vielmehr ist es wol
richtiger zu sagen, die Gottheiten bestehen aus den Vorfahre
und den wirkenden Naturkräften, ohne daß die Grenze leid
zu ziehen wäre. Auch erscheint es häufig als bloße Laun^
ob irgendein Objekt mit dem Namen Täkua bezeichnet wii
oder nicht. So wurden allerhand Säugetiere und von den li
Sekten z. B. die Grille, die Chicharra, die Fliegen, die Fröscl
und ihr Vorstadium Täkua genannt, dagegen — abgesehe
von wenigen, z. B. dem Adler, dem Kolibri — nicht die Y'ögi
oder die Blumen, obwohl sie in den Mitotegesängen in d<
gleichen wirkenden Weise vorkommen. Nur eine gelbe Blui
Cempoalsuchil, die auch bei den alten Azteken sehr
deutungsvoll ist, sei unter einem anderen Namen ein Täkui
Die wirkenden Dinge brauchen deshalb nicht geringere Kk
zu haben. So tritt der Morgenstern in dem einen Liede uni
der Gestalt der wirkenden Blumen, Tiere, Zeremonialpfeilc
Mitoteobjekte u. dgl. m. auf. Der Mais ist direkt die Mutt«
Te;ukame, der Maisgott, ihr Sohn, wird zwischen den jungei
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 475
I Maisstauden geboren, als reifer Mais im Feuer, den Federn der
Sonne, geröstet und getötet, ersteht aber wieder u. dgl. m. Die
gelbe Farbe von der Blüte der pinus-pinole, die vor der Fasten-
zeit Tag für Tag in der Zeremonie der „Pachitas" den Sängern
von den Weibern ins Gesicht geschmiert wurde, ist die Morgen-
röte, deren Gottheit direkt „der gelbe Gott" genannt wird. Die
rote Farbe bezieht sich, wie wir sehen, direkt auf die Sonne usw.
So besitzt bei den Cora alles in der Natur eine gewisse
Zauberkraft, ohne daß dadurch ihr Verhalten den betreffenden
Naturobjekten gegenüber beeinflußt wäre. Das heißt, sie haben
keine Scheu vor ihnen, sie nutzen nur deren Kräfte aus. Und
das geschieht meist in einer so alltäglichen Form, daß dem
oberflächlichen Beobachter vieles entgehen würde. Der Cora
reitet z. B. zur Fastenzeit an den Abhängen des Tales von Jesus
Maria dahin. Ganz winzig und in weiten Abständen zeigen
sich einzelne Ranchos der Eingeborenen. Überall weiden ver-
einzelt und sich selbst überlassen Kühe, Esel, Maultiere und
Pferde. Eine brühende Hitze ^ lagert auf den scharf hervor-
tretenden Abhängen der Berge, die mit ihrem spärlichen Laub-
gehölz wie ergrauende Häupter aussehen. Ab und zu erblickt
man kleine kahle rechteckige Flächen im Walde: Rohdünger
für die Aussaat des Maises, die nach drei Jahren wieder dem
schnell nachwachsenden Walde überlassen werden. Tief unten
im Fluß suchen bis auf die Schambinde nackte Eingeborene
nach Krebsen, ihre dunkelbraunen Gestalten neben den leuch-
tenden weißen Baumwollgewändern der Frauen und Mädchen
geben ein heiteres Bild, denn den Schmutz sieht man von
weitem nicht. Alles erscheint wie ein Spiel, ein Zeitvertreib.
Langsam schreitet ein nackter Jüngling am Ufer entlang, auf
einer Rohrflöte blasend. Er ist kein Hirte. Er hat in der Tat
gar nichts zu tun. Nun hörst du auch von anderen Seiten
dieselben Melodien. Wanderer kommen vorüber, den breiten
* Mittags 40<> C im Schatten.
lie
i
476 K. Th. Preuß
selbstgeflochtenen Strohhut mit dem holieii mexikanischen
Kegel insbesondere mit weißen und gelben Blumen oder mit
Vogelköpfen, z. B. dem roten Kopf des pito real oder dem
Schopf des Blauhähers geschmückt. Von der Schulter hängt
ihnen meist eine in schönen Mustern gewebte oder gestickte
Tasche herab, ein langer, ebenso gemusterter Gürtel hält die
Hose oder — bei Frauen — den Rock an der Hüfte fei
Denn nur bei der Arbeit oder in der Nähe ihrer Häuser pfleg
die Männer zumal in der heißen Zeit bis auf die Scha:
bekleidung nackt zu gehen.
Wer wollte nun bei den heiteren Bildern, die sich den
Sinnen bieten, vermuten, daß das Pfeifen auf der Rohr flöte
eine religiöse Zeremonie darstellt? Nur in der Fastenzeit hört
man überall die Töne. Sie lösen den zwei bis drei Wochen
dauernden Brauch der Pachitas ab, in denen Sänger von Haus
zu Haus gehend die Sonne und anderes in aztekischer, den
Corasängern selbst unverständlicher Sprache besingen, während
ein kleines Mädchen, die Erdmutter Te;^kame, den Takt dazu
mit einer Fahne voll Glöckchen stampft. Das gelbe Pulver,
das dabei die Weiber als Hauptzeremonie den Sängern ins
Gesicht und in die Luft streuen, bedeutet, wie erwähnt, die
Morgenröte. Und am Osterfest werden die Flöten von anderen
antiken Gebräuchen abgelöst, die den Tod und das Herab-
kommen der Sterne bedeuten. Die Flöten aber sind mit
Blitzen und Regenwolken bemalt, denselben Mustern, die sich
auf den Stöcken der Vortänzer im Mitote finden. Die Blumen
auf den Hüten sind dieselben, die in den Mitotegesängen
immerfort als Blumen des Lebens bezeichnet werden. Ihnen
entsprechen — nach den Liedern zu urteilen — die Sterne
des Himmels, und der Altar des Mitote mit seinen blumen-
geschmückten Bögen darüber bedeutet den östlichen Ausgang
aus der Unterwelt und den sich darüber wölbenden Himmel.
Auf den Taschen und Gürteln aber finden sich wiederum
u. a. die Wolken, die Zeichen des Morgensterns, die Tiere,
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 477
die in den Gesängen und aufgezeichneten Mythen Naturkräfte
besitzen, und ebenso die Blumen.
Natürlich ist den Cora die Ableitung ihrer Kunst und
ihres Schmuckes von der Religion nicht mehr gegenwärtig,
ebenso wie sie die Zeremonien und Lieder nicht mehr ganz ver-
stehen. Ein Zweifel darüber kann aber nicht bestehen. Und
dem Fremden erscheint aller Schmuck im Leben der Cora,
alle Kunst und Poesie deshalb nicht minder anziehend und
eindrucksvoll, weil alles das in einer Welt des Zaubers ent-
standen ist und sich zum größten Teil noch darin befindet.
Im Gegenteil, der Fremde fühlt sich selbst mitten hinein-
versetzt, da ihm weder Unsinniges noch Greuelvolles aufstößt.
Freilich ist der Aberglaube oft auch für ihn sehr störend.
Das ganze Bild des alltäglichen Lebens der Cora wirkt erst
dann plastisch, wenn zu den täglichen Handlungen der Cora
den Täkua und den Toten gegenüber auch die Kunst als
integrierender Teil hinzugefügt wird.
Was jedoch der einzelne Cora täglich im Dienste seiner
Religion tut, ist viel schwerer zu übersehen, als die zahl-
reichen im Interesse des Ganzen vorgenommenen Zeremonien.
' Zwar weiß ich, daß der einzelne vor dem Fällen der Bäume
zur Feldbestellung , vor der Saat , vor dem Legen von Schlingen
für den Hirschfang, vor dem Fischfang und im allgemeinen
i zur Vermeidung jeder Art Krankheit Gebete sagt, Pinole und
Tabak oder Aschenkuchen für den Flußgott Txäkan niederlegt
und Pfeile anfertigt, daß bei Geburt und Tod, bei der Heilung
von Krankheiten, bei dem Herausholen von Krankheitsstoffen
aus der Erde (Heilung der Erde) besondere Zaubergebräuche
I bestehen, daß an vielen Häusern besonders in der Mesa de
' Nayarit Brettchen an der Hinterseite der Häuser angebracht
sind, um bei jeder Gelegenheit Nahrung für die Toten nieder-
zulegen, daß manche von jeder Speise etwas über die Schulter
werfen für die Toten oder die Täkua — aber man darf sicher
viel, viel mehr Handlungen der Art erwarten. Die Worte
eine
1
478 K. Th. Preuß
eines Cora, daß ihr Leben vollständigen Regeln unterworfen
und deshalb stets von Erfolg begleitet sei — im Gegensatz zu
den Mexikanern, die neben ihnen wohnen — , müssen daher
möglichst weit gefaßt werden. Da ich im alten Konvent der
Kirche wohne, so kann ich mich auch von dem kirchlichen
Eifer der Cora überzeugen: keine Nacht vergeht, ohne daß eine
Anzahl Cora Blumen, Baumwolle und Kerzen vor den Heilige
bildern niederlegt, um irgend etwas von ihnen zu erlangen.
Wir würden aber wenig von der Religion der Cora
Ganzes wissen, wenn wir nicht ihre Mitotegesänge,
Zeremonien und ihre Mythen hätten. Namentlich stehen die
Gesänge in der Weltliteratur einzig da. Man denke sich, daß
z. B. in dem Mitote der Chicharra, im Juni, zugleich dem Be-
ginn der Aussaat und der Regenzeit der Sänger vom Abend
des einen Tages bis zur Mitternacht des nächsten fast ununter-
brochen singt und dabei den ganzen Schatz seines religiös^H
Denkens offenbart. Hätten die Cora diese Lieder nicht, ^fl
würden sie sicher nichts mehr von ihrem Glauben wissen,
sondern, abgesehen von unverstandenen Gebräuchen, vollständig
in der Kirche aufgegangen sein. Und es werden deren immer
weniger, die diese Gesänge kennen. Ist z. B. der Sänger krank,
so gerät gleich das Dorf in Verlegenheit, oder die entfernteren
Ranchos können das Fest nicht abhalten. In 20 bis 30 Jahren
wird wohl nichts mehr davon existieren. Ich habe daher von
ihnen gerettet, was ich konnte. Es wäre aber notwendig, von
allen vier Hauptdörfem die Gesänge aufzuschreiben, da sie sehr
verschieden voneinander sind. Ich habe bisher von San Francisco
20 Gesänge und von Jesus Maria 32 erlangt, so daß von denen
des letzteren Dorfes kaum mehr als 2 — 3 fehlen werden. Vom
ersteren scheint es überhaupt weniger zu geben.
Die Gesänge ergehen sich in der Schilderung und Auf-
fassung der Zeremonien, des gebrauchten Schmuckes, der Macht
und der Taten einzelner Täkua und Götter. Wir erfahren z. B.
wie die Regenwolken entstehen, wie es dem Frosch gelingt,
Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer 479
sie von Osten heranzulocken, wie bei der Zeremonie der Aus-
saat der Mais tanzend in den Boden versenkt und von der
Gottheit des Morgensterns, einem Knaben, mit Wasser be-
gossen wird, wie er den Hirsch, die Sterne, erlegt und dann
bei Sonnenaufgang mit der Schlange (in der Morgenröte) kämpft.
An den verschiedenen Mitotes werden die Gesänge wieder-
holt und wenige andere für die Gelegenheit hinzugefügt. Be-
sonders wichtig sind die drei Mitotes der Aussaat, des Kochens
der jungen Maiskolben (helotes) und des Röstens des reifen
Maises (esquite). Aber manche Dörfer haben auch Mitote am
i^nfang oder Ende kirchlicher Feste, wenn Krankheiten herrschen
oder in der Regenzeit einen Tag der notwendige Regen aus-
bleibt. Immer ist der Tanz um das Feuer und um den mit dem
Gesicht nach Osten zum Altar gekehrten Sänger die Hauptsache.
Wer die Mythen und Zeremonien der alten Mexikaner
kennt, wird erstaunt sein, hier so enge Beziehungen zu diesen
zu finden. Auf Schritt und Tritt findet er einerseits die Er-
klärung von vielen im Mexikanischen und umgekehrt. Ich er-
wähne z. B. die weißen und roten Streifen auf den Backen des
Morgensterns beim Mitote, die der rotweißen Streifung des
i Körpers aller Nachtgestalten sowie des Morgensterns in den
'mexikanischen Bilderschriften entspricht. Die weiße Farbe
bedeutet das Licht der Sterne, die rote ihren Tod durch das
i Licht der Sonne. Entsprechend traten am Gründonnerstag des
I Osterfestes einige 40 schwarz und weiß gestreifte nackte Cora
lauf — sie trugen nur die Schambinde. Es waren die Stern-
jdämonen, die im Frühling herabkommen, sterben und sich in
idas Licht der Sonne verwandeln: Frühlingsgeister. Sie tanzten
'immer mit dem Kopf vornübergebeugt, wie herabstürzend,
machten eifrig Koitusbewegungen und waren am Karfreitag
'außerdem Tot gestreift, d. h. von der Sonne getötet. Dem-
ientsprechend führten sie außer anderen burlesken Szenen, die
offenbar ihren Tod bedeuteten, einen Kampf auf, bei dem die eine
Partei getötet und dann wieder belebt wurde und umgekehrt.
480 K. Th. Preuß Beobachtungen über die Religion der Cora- Indianer
Das Ganze aber findet in dem um dieselbe Zeit gefeierten alt-
mexikanisclien Xipefest (tlacaxipeualiztli) seine Parallele.
Übrigens wußten die Leute nichts mehr von der Bedeutung
dieser Gestalten. Im Gegenteil waren sie zu Juden geworden,
die Christus in Gestalt eines kleinen Knaben durch das ganze
Dorf verfolgten und schließlich kreuzigten. So ist in den
kirchlichen Festen noch viel Altheidnisches enthalten , wie z. B.
die eingangs erwähnten Gruppen der Danzantes, Maromeros
und Moros um Weihnachten und Neujahr. Doch würde es zu
weit führen, hier auf alles einzugehen.
Meine Arbeit hier ist trotz allem , was ich schon zu Papier
gebracht habe, selbst im groben noch lange nicht beendet.
Es fehlen besonders die Gesänge des Festes des Weines — es
handelt sich eigentlich um Schnaps (mescal) aus einer Maguey-
art, den die Cora jetzt kaufen. Es wird in Jesus Maria in der |
zweiten Hälfte des Mai, und zwar in den Bergen wie der Mitote .
gefeiert und ist zugleich ein Fest der Reife für Knaben und
Mädchen. Voran pflegt die sogenannte Schlafheilung zu gehen,
die ein grelles Licht auf die Sitte des Wachens bei allen
religiösen Zeremonien wirft. Die Cora betrachten den Schlaf
eben als eine Krankheit, und wenn man nicht zu schlafen
braucht, hat man die größten Zauberkräfte. So wird z. B.
in den Liedern der Adler gefeiert, weil er nie schläft, und
sein Ebenbild auf der Erde, d. h. er selbst ist ein Baum, dessen
Blätter sich stets bewegen. Leider ist es sehr fraglich, ob ich
den einzigen Sänger, der diese Lieder kennt, gewinnen oder
auch nur, ob ich dem Fest werde beiwohnen können, denn die
Cora sind wegen ihres Aberglaubens gegen Fremde sehr zurück-
haltend und schwierig zu behandeln. Es dauerte sehr lange
Zeit, bis [ich die ersten Mitotelieder niederschreiben und in
meinen Phonographen aufnehmen konnte. Und ebenso war es
mit den Mythen. Und doch, wenn ich mich bis zum Juli den
Cora widme, ist es schon das Äußerste, was ich ohne zu große
Benachteiligung des Studiums der anderen Indianer tun kann.
5 Ägyptische Keligion (1904—1905)
Von A. "Wiedemann in Bonn
Die Fortschritte auf dem Gebiete der ägyptischen Religions-
kunde in den letzten Jahren entsprechen nicht der Arbeit, welche
auf die Erörterung ihr entlehnter Fragen aufgewendet wurde.*
Das liegt großenteils daran, daß nur wenige der in Frage
kommenden Bearbeiter sich mit den Ergebnissen der Religions-
forschung im allgemeinen bekannt gemacht haben und man infolge-
dessen vielfach die in Ägypten entgegentretenden Prozesse als iso-
lierte Erscheinungen ansah. Man versuchte dieselben aus sich
heraus und vielfach aus ägyptischen lokalen Verhältnissen zu
erklären, ohne zu berücksichtigen, daß es sich um Denkvorgänge
handelte, die an den verschiedensten Stellen der Erde in ana-
loger Weise auftraten und Ausbildung erfuhren. Es vollzieht
sich auf diesem Arbeitsgebiete derselbe Vorgang, der sich in
der Geschichte der Ägyptologie bereits mehrfach wiederholt
hat. Man hat sich anfangs bestrebt, das historische Ägypten
als ein gegen das Ausland abgeschlossenes, völlig selbständiges
Land anzusehen. Die fortschreitende Denkmälerkenntnis hat
demgegenüber gelehrt, daß das Niltal von der Pyramidenzeit
an nicht nur mit Asien und dem südlicheren Afrika in regel-
mäßigen Handelsbeziehungen stand und von dort aus zahlreiche
^ Eine sorgsame Zusammenstellung der Werke, die bei einer Be-
arbeitung der ägyptischen Religion in Betracht kommen, unter beson-
derer Berücksichtigung der Erscheinungen des Jahres 1904, verfaßte
Capart Bulletin critique des Beligions de VEgypte 1904 in Mev. Hist. des
Bei. 51 S. 192 ff. Übersichten über die einschlägige Literatur gaben
Griffith Archaeological Beport 1904—1905 (Egypt Exploration Fund).
London 1905 und Wiedemann Ägypten in Jdhresber. der Geschichts-
lüissenschaft 1904 I. S. Iff.
482
A. Wiedemann
Einwanderer empfing, sondern daß ähnliche Verbindungen auch
zu Libyen und den Mittelmeerländern dauernd aufrecht-
erhalten wurden. Dann wollte man das ägyptische Volk
eine Einheit erklären. Die Funde des letzten Jahrzehnts zeigt
wiederum, daß dasselbe sich von Anfang an aus zahlreiche
grundverschiedenen Völker- und Rassenresten zusammensetzt
Ahnlich steht es bei der Sprache. Auch sie erweist sich nicl
als eine abgerundete, gleichmäßige; sie ist eine aus verschiede!
artigen afrikanischen und asiatischen Bestandteilen zusammen
gewachsene Mischsprache. Die seit der Entzifferung der Hiei
glyphen eifrig erörterte Frage, ob das Ägyptische eine semitiscl
Sprache sei oder nicht, erledigt sich mehr und mehr dahi^
daß die semitischen Elemente im historischen Ägyptisch vc
einem dieser Bestandteile der Sprache herrühren. Es handt
sich nunmehr darum festzustellen, wie umfassend dieser Einz(
teil und wie stark sein Einfluß auf die anderen heterogene
Sprachelemente gewesen ist.
Nicht anders liegen die Verhältnisse für die Religion d^
alten Ägypter. In ihr Ganzes haben während der historische
Zeit Ägyptens nicht nur mehrfach fremde Götter Aufnahi
gefunden, es haben auch von auswärts hereingetragene rel
giöse Gedankenkreise die Gestaltung der bereits im Lande voi
handenen Lehren beeinflußt. Ferner haben von Anbeginn
die verschiedenen Stämme, aus denen das geschichtliche Ägyptei
tum erwuchs, eigene Religionssysteme besessen. Aus ihrei
Zusammenfluß hat sich das Gewirr der späteren religiösen Voi
Stellungen entwickelt, deren innere Widersprüche teilweisj
eben in diesem heterogenen Ursprünge ihre Erklärung findei
Durch diese Erwägungen gewinnt man die Möglichkeit, zunächfi
eine Reihe der Eigentümlichkeiten zu deuten, welche die Aug
bildung des ägyptischen Tierkultes darbietet.
Dieser Kultus erscheint in den ältesten Texten als ein^
weitverbreitete Religionsform, er blieb bis in die späteste
Zeiten hinein der volkstümlichste Glaube im Niltale. Ein4
Ägyptische Religion (1904—1905) 483
lange Reihe von Tiergattungen wurde dauernd in ihn hereiu-
bezogen, wobei man sich bereits in der Vorzeit jede der-
selben monarchisch in der Weise organisiert dachte, daß an
ihrer Spitze ein ihr angehöriges Geschöpf als Herrscher oder
Hauptvertreter stand. Als in der Nagada -Periode ein fremdes
Volk das Niltal betrat und die Herrschaft gewann, suchte
dieses die altheiligen Tiergattungen seinen geistiger auf-
gefaßten Göttern anzugliedern. Man erklärte zu diesem Zwecke
die jeweiligen Obertiere der einzelnen Gaue für Verkörperungen
der eigenen Götter oder für bestimmte Erscheinungsformen der-
selben. Die Gleichstellung erfolgte in sehr äußerlicher Weise
auf Grund des zufälligen lokalen Zusammentreffens der Ver-
ehrungsstätte eines der heiligen Tiere mit dem Kultorte einer
bestimmten Gottheit. Aus diesem Umstände erklärt sich der
geringe, bisweilen auch ganz fehlende innere Zusammenhang
zwischen diesen Tieren und den Göttern, als deren Manifestationen
sie auftraten^. Inniger ist die Verbindung eigentlich nur zwischen
dem Gotte Horus und dem Falken, eine unmittelbare Folge des
Ümstandes, daß der .erste Herrschersitz der Einwanderer die
j den Falken verehrende Stadt Hieraconpolis in Oberägypten war.^
I Diese Ausführungen versuchen Entwickelungsvorgänge zu
erklären, die sich in Ägypten selbst abgespielt haben. Loret^
hat die Entstehung des ägyptischen Tierkultes überhaupt deuten
1 wollen. Nach seiner Ansicht hätten die einzelnen ägyptischen
j Stämme in der Urzeit rein willkürlich sich allerhand Symbole,
! darunter auch Tiere, ausgewählt, um sie als Stand artenzeichen
zu benutzen. Derartige Bilder habe man im Laufe der Zeit für
I Gottheiten gehalten und verehrt. Diese Erklärung beruht auf
^ Wiedemann Quelques remarques sur le culte des animaux en
i^gypte in Museon VI. S. 113 ff.
2 Newberry The Horus -title of the Kings of Egypt in Froc. Soc.
Bibl Arch. XXVI. S. 295 ff.
^ Les enseignes militaires des tribus in Rev. Egypt. X. S. 101 ff.;
I Quelques idees sur la forme primitive de certaines religions Egyptiennes
in Bev. Egypt. XL S. 69 ff.
484 A.. Wiedemann
rationalistischen Vorstellungen, die bereits Diodor und Plutarch
entwickelt hatten. Sie wird als nicht beweiskräftig durch die
Tatsache erwiesen, daß der Tierkult nicht eine selbständige Er-
findung der Ägypter gewesen ist; er gehört zu den allgemein
verbreiteten menschlichen Religionsanschauungen, die demgemäß
auch eine einheitliche Beurteilung verlangen.
Die Funde der letzten Jahre brachten für mehrere der
heiligen Tiere bisher unbekanntes Material bei, welches von
neuem die große dauernde Bedeutung der hierher gehörigen
Kulte für das Niltal erweisen. Daß in den Tempeln dieser
Glaubensform verhältnismäßig selten gedacht wird, liegt daran,
daß die Tempelkulte den geistigeren Göttern galten und diese,
wie eben ausgeführt, nur künstlich mit den heiligen Tieren in
Verbindung gebracht worden waren. Aus den beigebrachten
Urkunden ergab sich Wesentliches für die Stiere^, das Ichneumon
von Letopolis^, die Springmaus^, die Sphinx*, die von den
alten Ägyptern stets als ein wirklich in der Wüste hausendes
Geschöpf aufgefaßt worden ist, den AaP, die mit den Vor-
stellungen von Auferstehung und Unsterblichkeit in Verbindung
gebrachten Frosch und Kröte.^
Der durch die große Zahl der im Niltale vorhandenen
Schlangen bedingte und weit verbreitete Kult dieser Geschöpfe,
die bald als schädigende, bald als nutzbringende Dämonen an-
^ Kamal Fragments de monuments provenant du Delta in Ann.
Serv. Änt. V. S. 193 ff.; Spiegelberg Varia § 63 in Bec. de trav. rel. ä VEgypt.
XXVI. S. 44ff.
^ Lefebure Sur le nom du dieu de Letopölis in Sphinx IX. S. 19 f.
' Maspero Sur une figure de gerboise en bronze in Ann. Serv. Ant. V.
S. 201ff. ^ Malion in Bev. arch. V. S. 169ff.
^ Daressy Notes et Bemarques nr. 203 in Bec. de trav. rel. ä VEgypt
XXVI. S. 133 f.
^ 0. Keller Frosch und Kröte im Tdassischen Altertum in „Kultur-
geschichtliches aus der Tierwelt" (Verein für Volkskunde in Prag). S. 26ff.;
A. Jacoby Nachschrift in Sphinx VIII. S. 78 ff. (Vgl. dieses Archiv VII.
S. 479.)
Ägyptische Religion (1904—1906) 485
gesehen wurden, wurde von Amelineau^ ausführlich besprochen.
Nach ihm galten diese Tiere in Ägypten zunächst als Be-
schützer, dann als der Zufluchtsort für die Seelen der ver-
storbenen Götter, die in dieser Gestalt weiterhin den Pharao,
Privatpersonen, einzelne Stämme, Häuser, Städte beschützten.
Die Bedeutung der Schlangen als Schutzgottheiten steht fest,
für die weitere Aufstellung, für den Aufenthalt toter Götter
in diesen Tieren, hat Amelineau den Beweis nicht beizubringen
vermocht. Soweit wir durch die Texte wissen, dachte man
sich die verstorbenen Gottheiten als in ihrer einstigen Gestalt
weiter lebend, also anthropomorph, theriomorph oder anders
gebildet, je nachdem ihre äußere Erscheinung während ihrer
I Lebenszeit gewesen war. Gerade der Umstand ist für die
I ägyptische Religion durchweg charakteristisch , daß durch den
Tod keine Neuformung bedingt wird, vielmehr das ewige Leben
eine genaue Fortsetzung des endlichen Daseins bildet. Es wäre
daher in hohem Grade auffallend, wenn die Götter von dieser
Regel eine Ausnahme gemacht hätten. Für die heiligen Tiere
verfolgte jedenfalls die Mumifizierung den Zweck, den Fort-
bestand ihrer irdischen Gestalt für alle Zeiten zu verbürgen.
Aus diesem Grunde kommt die Untersuchung der Tier-
nmmien, welche in den letzten Jahren von Lortet und Gaillard^
mit Glück und Erfolg fortgesetzt worden ist, unmittelbar auch
dem Tierkulte, beziehentlich den von ihm umfaßten Tier-
gattungen zugute. Man muß freilich bei der Verwertung des
auf diese Weise festgestellten Materiales im Auge behalten,
daß den Ägyptern die strenge moderne zoologische Arten-
scheidung fern lag. Wenn auch der heilige Vogel des Horus
^ Du rdle des serpents dans les croyances religieuses de VEgypte in
Mev. Hist. Bei. LI. S. 335 ff., LH. S. Iff.
^ La faune momifiee de Vancienne Egypte. 2® Serie. Lyon. 1905.
Besonders interessant ist die von den Verfassern festgestellte Tatsache,
daß sich in einer Holzstatuette des Gottes Bes , der bei der Geburt und
frühesten Kindheit des Menschen eine Rolle spielt, mumifizierte Reste
eines menschlichen Embryo befanden.
Archiv f. Religionswissenschaft IX 32
486 ^- Wiedemann
im allgemeinen ein Falke ist, so erscheinen daneben mehrere
Sperber und Habichte in gleicher Bedeutung. Das heilige Tier
der Götter Ap-uat und Anubis wird jetzt meist als Schakal
bezeichnet, während ältere Forscher^ darin einen Wolf, wieder
andere auf Grund klassischer Angaben einen Hund erkennen
wollten. Eduard Meyer ^ hat neuerdings vorgeschlagen, dem
ersteren Gotte den Wolf, dem zweiten den Hund zuzuschreiben.
Dies ist in zahlreichen Fällen zutreffend, in anderen tritt aber
das umgekehrte Verhältnis ein oder erscheint auch der Schakal
als Gotttier. Offenbar haben die Ägypter die drei Tiergattungen
als etwa gleichwertig aufgefaßt.
Weit seltener als des Tierkultes wird der Verehrung von
Bäumen und Quellen gedacht. Schäfer^ erörterte diesbezüglich
den Zusammenhang des Osiriskultes in Abydos mit Bäumen;
von anderer Seite^ ward darauf hingewiesen, daß noch heut-
zutage die ägyptischen Bauern unter heiligen Bäumen Brot und
Wasser opfern. Die ehrwürdigste derartige Stelle bildete im
Altertume ein Baum zu Heliopolis, an dessen Fuß die Quelle
sprudelte, in der der Sonnengott sein Antlitz wusch. Die
Stätte hat bis in die Neuzeit religiöse Bedeutung bewahrt.
Die Legende lokalisierte hier den Aufenthalt Christi in Ägypten,
es wird daher von den Pilgern häufig von dem Marienbaum
und der dortigen heiligen Quelle gesprochen.^
* z. B. Paulinus a. S, Bartholomeo Mumiographia Musei Obiciani.
Padua 1799. S. 62 ff.
^ Die Entwicklung der Kulte von Abydos und die sogenannten
Schakalgötter in Äg. Zeitschr. XL I S. 97 ff.; vgl. von Bissing Zum Wolfs-
und Hunde -Gott in Rec. de trav. rel. ä VEgypt XXVII. S. 249 f.
^ Das Osirisgrdb von Abydos und der Baum pkr in Äg. Zeitschr.
XL I S. 107 ff.
* S, R(einach) Le culte du serpent et de l'arbre en Egypte in
Anthropologie XIV. S. 626 f.
^ Zusammenstellung der Quellenangaben in der zu Erbauungszwecken
verfaßten Broschüre von P. M. JuUien Der Muttergottesbaum in Matarieh,
deutsch von C. zur Haide. Regensburg. 1906. Vgl. Loret L'arbre de
la Vierge ä Matarieh in Sphinx VI. S. 99 ff.
Ägyptische Religion (1904—1905) 487
Die Inscliriftsangabeii für die Bedeutung der verschiedenen
volkstümliclien Gottheiten in den einzehien Perioden der
j ägyptischen Geschichte werden ergänzt durch die theophoren
! Eigennamen, die im Lande sehr beliebt waren. Da der Name
! als dauernder Bestandteil des menschlichen Individuums im
Diesseits und Jenseits galt und stets große Bedeutung besaß,
so kann man aus den in ihm auftretenden Gottheiten Rück-
I Schlüsse auf die Bedeutung dieser Gestalten in der fraglichen
i Zeit für die einzelnen Schichten der ägyptischen Bevölkerung
ziehen. Einen ersten Versuch, das hierfür in Betracht kommende
I Material zu sammeln und sinngemäß zu gruppieren, machte
E. Levy.^ Eine Fortführung dieser Studien verspricht reichen
und wertvollen Ertrag für die Religionsgeschichte.
Von Zahlen, die eine gewisse Heiligkeit besaßen und da-
her mit Vorliebe bei der Gruppierung bestimmter Götterkreise
und als runde Zahlen in Erzählungen verwertet werden, hat
I man für Ägypten neuerdings wieder auf die Drei^ und auf die
IFünf^ aufmerksam gemacht.
Bedeutend zahlreicher als für die religionsgeschichtlich
naturgemäß in erster Reihe in Betracht kommenden Volkskulte
I sind die Angaben der Denkmäler für die Gottheiten, denen eine
\ offizielle Verehrung galt, denen die großen Tempel des Landes
geweiht waren. Für diese bringt eigentlich jede Publikation
[ägyptischer Bildwerke und Texte neues Material bei. Eine
I Aufführung dieser Editionen und ihres religiösen Inhaltes würde
'hier viel zu weit führen, die Titel der Werke verzeichnen die
obengenannten Jahresberichte. Hingewiesen soll hier nur auf
die Fortsetzung einer Veröffentlichung werden, deren Beginn
bereits im vorigen Berichte über Ägypten (Archiv VII S. 484)
^ über die theophoren Personennamen der alten Ägypter zur Zeit
des Neuen Eeiches {Dyn. 18—20). Teil I. Berlin 1905.
^ von Bissing Zu üseners Dreiheit in Bhein. Mus. LIX, S. 160,
und in diesem Archiv VIII. S. 154 f.
^ Meinhold Sahhat und Woche im Alten lestament. Göttingen 1905.
S. 18f.
32*
488 ^- Wiedemann
erwälint ward. Für das Urkundenwerk Steindorffs haben Sethe
und Schäfer eine längere Reihe wichtiger Inschriften mit den
Originalen und Papierabdrücken verglichen und herausgegeben.^
Wenn den sorgsam und zuverlässig wieder gegebenen Texten
auch keine Übersetzung beigefügt worden ist, so ermöglichen doch
die über den einzelnen Abschnitten stehenden Überschriften
einen Einblick in deren allgemeinen Sinninhalt. Für religions-
geschichtliche Zwecke kommen neben einer Reihe von Grab-
und Tempelinschriften der 18. Dynastie (in IV) besonders
die Stele von Pithom (in II. 2) und die Stele des Königs
Piänchi (in III. 1) in Betracht.
Wichtigere Einzelstudien wurden folgenden Gottheiten ge-
widmet: für Amon von Theben veröffentlichte und übersetzte
Gardiner^ eine Sammlung interessanter henotheistisch, bez.
pantheistisch gefärbter Hymnen aus einem Leidener Papyrus
der thebanischen Zeit. Wreszinski^ sammelte die Namen und f
Titel der Oberpriester des gleichen Gottes und fügte jedem j
derselben ein Verzeichnis der von ihm erhaltenen Denkmäler
und der Stellen bei, an denen er genannt wird. Damit legte
er eine Grundlage für eine Geschichte des Pries tertum es des-
jenigen himmlischen Wesens, das in der Blütezeit Ägyptens bei
weitem das wichtigste war. Mit dem ägyptischen Gotte ver-
schmolz in der Oase des Jupiter Amon eine phönikische Ge-
stalt; die Stellen, denen zufolge deren Kultbild ein Stein-
fetisch war, führte Meltzer'* auf. BickeP seinerseits machte auf
^ Urkunden des ägyptischen Altertums, herausgeg. von G. Steindorflf,
II. Heft 2. Hieroglyphische Urkunden der griechisch-römischen Zeit
(Ptolemäus Philadelphus und Euergetes I) ; III. Heft 1. Urkunden der
älteren Äthiopenkönige ; IV. Heft 1 — 6. Urkunden der 18. Dynastie
(Hyksosvertreiher bis Hdtschepsut).
* Hymns to Amon from a Leiden Papyrus in Äg. Zeitschr. XL II. S. 12 ff.
* Die Hohenpriester des Amon. Berlin 1904, Einige Nachträge
bei Wiedemann, Orient. Litt. Zeit. VII Sp. 275 f. Reiches neues Material
wird sich aus dem großen Statuenfunde Legrains zu Karnak ergeben.
* Der Fetisch im Heiligtum des Zeus Ammon in Philologus LXIII.
S. 186 IF. « Philologus LXIV. S. 149 f.
Ägyptische Religion (1904—1905) 439
späte griecliische Angaben aufmerksam, laut deren dieser Gott
die wenig ägyptische Ansicht hegte, die wertvollste Gabe, die
man darbringen könne, sei das fromme Gebet. — Die am
Tempel zu Esneh aufgezeichneten Hymnen sind wichtig für
die späteren pantheistischen Gedankengänge, die sich an den
bereits in früher Zeit als Weltschöpfer auftretenden Chnum
(Chnuphis) anschlössen. Sie wurden von Daressy^ in sorgfältiger
Weise publiziert, übersetzt und mit kurzen Erläuterungen ver-
sehen. — Über die besonders in später Zeit in Panopolis verehrte,
in griechischen Texten öfters erwähnte Göttin Triphis äußerte sich
Gauthier^, der in ihrem Namen den Titel einer Isis wieder
erkennen wollte. — Den Gott Imhotep von Memphis, in dem
man einen vergöttlichten alten Weisen oder einen später zu
höheren Ehren gekommenen Sondergott gesucht hat^, er-
klärte Foucart"* in längeren Ausführungen für einen am An-
fange des Alten Reiches herrschenden, später vergöttlichten
König Ägyptens. Gegen diese Vermutung spricht jedoch einst-
weilen noch der Umstand, daß der Gott nicht mit königlichen
Jnsignien, sondern in bescheidenerer Darstellung als jugendlicher,
meist lesender Gelehrter vorgeführt zu werden pflegt. — Zu
dem von ihm entdeckten Gotte Uch von Cusae konnte
Chassinat^ nachtragen, daß er in Edfu als ein mit Messern be-,
waffiieter Löwe dargestellt wird. — Lefebure® suchte für die er-
habeneren Gestalten des ägyptischen Pantheons fremdländischen,
besonders semitischen Ursprung nachzuweisen; sie hätten dann
^ Hymne ä Khnoum du temple d' Esneh in Bec. de trav. rel. ä VEgypt.
XXYII. S. 82ff., 187ff.
^ La deesse Triphis in Bull Institut Frang. du Caire HI. S. 165 fit'.
^ Vgl. dieses Archiv VII. S. 476. ^ Imhotep in Bev. Eist. Bei
XL VIII. S. 362 ff.
" Sur une representation du dieu Oukh in Bull Inst. Frang. du Caire.
IV. S. 103f.
^ Les noms d'apparence Semitique ou indigene dans le pantheon
Egyptien in Becueil de Memoires publ par l'Ecole des Lettres pow le XIV
Congres des Orientalistes ä Alger. 1905.
490 ^- Wiedemann
bereits in vorhistorischer Zeit im Niltale eine Verehrungsstätte
gefanden. Dabei kommt er auch auf diejenigen in Ägypten
verehrten semitischen Gottheiten zu sprechen, deren Einführung
in historischer Zeit, während der lebhaften Beziehungen zi^
Asien im zweiten Jahrtausend v. Chr., erfolgte. Eine bish^
unbekannte Stele, die der in diesen Kreis gehörenden Astai
geweiht war, veröffentlichte Masden\
Der größte Teil der erhaltenen ägyptischen religiösen Te3
beschäftigt sich mit der Unsterblichkeit des Menschen
seiner Bestandteile. Ob dies daran liegt, daß tatsächlich
Jenseitsvorstellungen das Volk in so ausgedehntem Maße be^
schäftigten, ob nicht vielmehr die Art der Überlieferung, daß
vor allem die als Wohnung des Toten angesehenen^ Gräber
und deren Inhalt erhalten geblieben sind, dabei mitspricht, 0(
ob endlich beide Faktoren dabei mitspielten, ist im einzelne
Falle schwer zu entscheiden. Bei der Bestattung des Toi
handelte es sich in erster Reihe darum, ihm das mitzugebe
was ihm den Fortbestand sichern, das künftige Leben angenel
gestalten konnte. Das waren vor allem magische Formel
deren Aussprache im Jenseits Macht, Herrschaft, Speise un(
Trank, die Befriedigung aller Wünsche und Bedürfnisse ver-
schaffte. Nach ägyptischer Ansicht war durchweg in jeder
Beziehung und zu jeder Zeit die Magie und die Zauberformel
das wichtigste Mittel, um sich im Diesseits und im Jenseits die
Dämonen gefügig zu machen, besonders auch um Krankheiten
zu verscheuchen, die insgesamt bösen Geistern ihren Ursprung
verdankten.^
^ Zwei Inschriften in Kopenhagen in Äg. Zeitschr. XL I. S. 114 f.
^ Für die Ausgänge aus dem verschlossenen und vermauerten Innern
der Gräber, die man dabei für die Seele des Toten anbrachte, vgl.
Wiedemann Zum Pyramidentempel des Rä-en-user in Orient. Lit. Zeit.
VII. Sp.329ff.
' Eine für weitere Kreise bestimmte Darstellung des hierher ge-
hörigen Materiales gab Wiedemann Magie und Zauberei im alten Ägypten
Ägyptische Religion (1904—1905) 491
Die Zahl der für den Verstorbenen nutzbringenden Formeln
war so groß, daß sieb bereits frühe Sammlungen derselben
als erforderlich herausstellten. Man zeichnete diese dann mehr
oder weniger vollständig auf den Grabwänden, Särgen oder
Papyris auf, um sie dem Toten zur dauernden Verfügung zu
stellen. Für die älteste dieser Kompilationen, die „Pyramiden-
texte'', ergab die Berichtsperiode wenig Neues, wenn auch ge-
legentlich Auszüge aus denselben zutage traten.^ Weit
reicher floß das Material für die Formelsammlung des Mittleren
Reiches, die sog. „Ältesten Texte". Hier veröffentlichte Lacau^
eine längere Reihe von Sarginschriften, welche interessante
Einblicke in die älteren Entwickelungsformen der Osirianischen
Jenseitslehre gestatteten und die ungemein materielle Art be-
stätigten, in der der Ägypter metaphysische Dinge auffaßte.
So schildert u. a. ein von J. Baillet^ eingehender besprochenes
Kapitel in drastischer Weise, wie der Verstorbene im Jenseits
seine Angehörigen wieder zu finden weiß. Zu diesem Zwecke
braucht er nur die betreffende Formel vorzutragen, dann trifft
er seine Verwandten, Vater, Mutter, Kinder, Geschwister,
{Der alte Orient VI. Heft 4). Leipzig 1905. — Unter den für den
Lebenden wichtigen Formelsammlungen ist besonders ein demotischer
Papyrus interessant, den Griffith und Thompson, The Bemoticdl Magical
Papyri of London and Leiden. 2 Bde. London 1904—1905, mit Über-
setzung und Kommentar von neuem ediert haben. Für eine Anubis- und
Isis -Legende in diesem Papyrus vgl. Reitzenstein in diesem Archiv VIU.
S. 167 ff. — Über die Erwähnungen von Träumen, die nach ägyptischen
Texten durch Inkubation gewonnen werden konnten, äußerte sich
Maspero Le debut du second conte de Satni- Khämois in Melanges
Nicole. S. 341 ff.
^ Barsanti und Maspero Fouilles autour de la Pyramide d'Ounas in
Ann. Serv. Ant. V. S. 69 ff. (Abschrift von etwa 450 v.Chr.)
^ Textes religieux in B,ec. de trav. rel. ä l'JEgypt. XXVI. S. 59 ff.,
224 ff.; XXVn. S. 53 ff., 217 ff'.; Ann. Serv. Ant. V. S. 229 ff'. - Über die
der gleichen Zeit angehörenden Texte vom Sarge des Amamu handelte
Turajeff Zur Geschichte des Totenbuches in ZapisJci ID.. S. 15 ff. (Russisch).
^ La reunion de la famille dans les enfers egyptiens in Journal
Asiatique X. Ser. IV. S. 307 ff.
492 ^- Wiedemann
Freunde, Diener, seine geliebte Konkubine. Sollten trotz seine^
festen Willens diese Persönlichkeiten von ihm fern gehalten
werden, dann, droht er, würden die Opfer für die Götter ai
hören. Werde dagegen sein Wunsch erfüllt, dann werden
die verschiedenen Opfer an den heiligen Stätten des Land^
dargebracht und das Schiff des Sonnengottes von seinen Fäl
leuten in richtiger Weise bedient werden. Somit wird
Gottheit auch hier als von dem guten Willen des zaub<
kundigen Verstorbenen abhängig aufgefaßt und muß demselbe
in ihrem eigenen Interesse gehorsam sein. Von irgendeini
höheren Auffassung der ewigen Welt ist in diesen Texten nicl
die Rede.
Für die zeitlich folgende Formelsammlung des „Tote
buches" wurde die Übersetzung der Fassung der thebanischc
Periode, die Renouf begonnen, Naville vollendet hatte, und Sil
seit dem Jahre 1892 allmählich in den Proceedings der Society
of Biblical Archaeology erschienen war, als Buch herausgegeben^
und dadurch eine, wenn auch im einzelnen häufig hypothetiscl
Grundlage für die Durcharbeitung dieses Werkes gewonnei
Das eigenartige, im einzelnen schwer verständliche Kapitel 17J
wurde von Naville^ monographisch behandelt. Dasselbe bl
richtet einen Heracleopolitanischen Mythus, in dem von eine
Empörung der Kinder der Göttin Nut und von einer große
Flut die Rede ist, an deren Ende Osiris König von Heraclee
polis magna wurde. — Die jüngsten, untereinander sehr vei
schiedenen Fassungen des Totenbuches fügten in dessen
sprünglich der Osirisreligion geltende Formeln zahlreiche h(
terogene Glaubenssätze in bunter Folge ein. Von ihnen machi
^ Renouf and Naville The Egyptian Book of the Dead. Londoi
1904. Die gleiche Übersetzung soll auch als Vol. IV des Life- Work
Peter Le Page Penouf ausgegeben werden. Der zuletzt erschienene
3. Band dieses Sammelwerkes enthält u. a. eine Reihe kleinerer Studien
Renoufs zur ägyptischen Religionsgeschichte.
^ A mention of a flood in the Book of the Dead in Proc. Soc. Bihl.
Arch. XXVI. S. 251 ff., 287 ff., 300.
Ägyptische Religion (1904—1906) 493
besonders Pellegrini^ einige Exemplare unter Beifügung einer
Übersetzung und eines kurzen Kommentares zugänglich.
Bereits im Mittleren Reiche haben die Ägypter versucht,
sich die Topographie des Jenseits in einer freilich nicht immer
geschickten kartographischen Weise auszumalen. Man zerlegte
dasselbe in zwölf durch Türen oder Tore voneinander ge-
trennte Räume, welche die Sonne während der zwölf Nacht-
stunden durcheilte. Durch die Mitte des Jenseits floß, wie
durch die Mitte Ägyptens, ein Strom, auf dem sich die Sonnen-
barke hinbewegte, während an den Ufern rechts und links
allerhand Dämonen hausten und u. a. auch die Belohnung und
Bestrafung der abgeurteilten verstorbenen Menschen stattfand.
Im einzelnen war man sich über die Anordnung der Götter
und Geister nicht einig. Neben zahlreichen unbedeutenderen
Systemen entwickelten sich besonders zwei voneinander viel-
fach abweichende Lehren, die im Buche von dem, was ist in
der Tiefe (Am-duat), und im Buche von den Toren niedergelegt
wurden. Wie in zahlreichen anderen Fällen, so haben sich
auch hier die Ägypter nicht dazu zu entschließen vermocht,
eines dieser Werke als kanonisch anzusehen. Sie ließen die-
selben als gleichberechtigt nebeneinander bestehen und ver-
zeichneten sie trotz ihrer inneren Widersprüche als angeblich
authentische Bilder der jenseitigen Welt gleichzeitig in ihren
Gräbern. Unter Zugrundelegung vor allem der im Grabe und
auf dem Sarkophage Seti' I erhaltenen Fassungen und unter
Benutzung der älteren Arbeiten von Maspero und Lefebure
veröffentlichte, übersetzte und besprach Budge^ diese Texte.
Sein Werk bildet eine bequeme Einführung in die ein-
^ II libro della respirazione in Bendiconti Äcad. dei Lincei. XIII.
S. 87fi". ; Due papiri funer art del Museo Egizio di Firenze in Sphinx VIII.
S. 216 ff. — Einen weiteren hierher gehörigen Text (das Suten cheft)
enthalten die Monuments egyptiens de Leide. Livr. 34. Supplement.
Leiden. 1905.
2 The Egyptian Heaven and Hell {Boöks on Egypt and Chaldaea
Vol. XX— XXII). London. 1906. 3 Bde.
494 ■^- Wiedemann
scUägigen verwickelten Lehren und [ihre bisher nicht überall
mit Sicherheit zu übersetzenden Schilderungen.
Weit weniger systematisch als in diesen beiden Werken
sind die Jenseitserscheinungen in den sog. Mythologischen
Kompositionen angeordnet. Es sind dies von kurzen Bei-
schriften begleitete Bilderreihen, welche vor allem während der
19. und 20. Dynastie beliebt waren. In ihnen fanden weit
umfangreichere Teile der Osirislehren Aufnahme als in den eben
genannten beiden großen Unterweltsschilderungen. Diese my-
thologischen Bildertexte haben trotz ihres großen Interesses
bisher keine zusammenfassende Bearbeitung gefunden, doch
wurde erfreulicherweise in letzter Zeit ein hierher gehöriges
Manuskript von Chassinat^ veröffentlicht und mit sorgsamen
Erklärungen versehen.
Die Schicksale einzelner Götter, besonders die des Osiris,
wurden im alten Ägypten bei der Wiederkehr bestimmter Er-
innerungstage in dramatischer Gestaltung vorgeführt.^ Hierdurch
sollte einmal das Gedächtnis an die ehrwürdigen Vorgänge und
ihren Verlauf wachgehalten werden. Dann aber wurde durch
eine derartige Vorführung die Tatsache, welche das Ereignis
seinerzeit in das Leben gerufen hatte, auch ihrerseits immer
wieder von neuem geschaffen und erhalten. So sicherte und
verbürgte die Darstellung des Sterbens und Auferstehens des
Osiris den Weiterbestand der menschlichen Auferstehung nach
dem Eintritt des irdischen Todes, Diese Osirisfeiern sind wesent-
lich durch die Angaben der klassischen Autoren bekannt, welche
sich auf die Städte des Deltas bezogen, doch zeigen mehrfache
Andeutungen in den Texten, daß die gleichen Feste, wenn
auch mit einzelnen Abänderungen, bereits in früher Zeit und
^ Etüde sur quelques textes funeraires de^ provenance Thebaine in
Bull. Inst. Frang. du Caire III. S. 129 ff. Einen ähnlichen Text schilderte
Wiedemann Proc. Soc. Bibl. Arcli. XXII. S. 155 ff.
^ Vgl. Wiedemann Die Anfänge dramatischer Poesie im alten
Ägypten in Melanges Nicole. Genf. 1905. S. 561 ff.
! ö
Ägyptische Religion (1904—1906) 495
im ganzen Lande gefeiert wurden. Die wichtigste diesbezügliche
Urkunde wurde von Schäfer^ in ihrem Werte erkannt, heraus-
gegeben, übersetzt und in ihren Einzelheiten erörtert. Es war
eine abydenische Stele aus der Zeit des Königs Usertesen III
der 12. Dynastie, welche die einzelnen Szenen der heiligen
Handlung aufführte und einen vortrefflichen Beitrag nicht nur
zur Geschichte der Osirisreligion , sondern auch zu der des
ägyptischen religiösen Dramas lieferte.
Die Wirkung der Aussprache der magischen Formela
konnte verstärkt oder auch ersetzt werden durch die Ver-
wendung von magischen Geräten von bestimmter Gestalt und
mit vorschriftsmäßigen Inschriften und Verzierungen. Unter
diesen waren besonders im Mittleren Reiche Wurfhölzer sehr
beliebt, mittelst deren man Schlangen und Feinde vertreiben
zu können hoffte. Diese Stücke^ und die Amulette in Knoten-
form^ fanden in der Berichtsperiode eingehendere Berück-
sichtigung, während sonst die Amulette [stark vernachlässigt
wurden.
Neben der Formel kommen zur Sicherung des Wohles des
Toten das Opfer und die Beigabe, die naturgemäß auch im
Niltale die ursprünglichste Form der Totenehrung gebildet
hatten, dauernd in Betracht. Letztere konnten in wirklicher
Gestalt oder in plastischem oder gezeichnetem Abbild dar-
gebracht werden, und dann vermochte der Tote solche Bild-
werke vermöge seiner Zauberkraft in die wirklichen Gegen-
stände umzuwandeln. Zu diesem Zwecke bediente er sich
meist bestimmter Worte, gelegentlich aber erreichte er ihn
^ Die Mysterien des Osiris in ' Abydos unter König Sesostris TR
{Untersuchungen zur Geschichte Ägyptens, herausgeg. von Sethe. lY. 2).
Leipzig. 1904.
^ Legge The Magic Ivories of the Middle Empire in Proc. Soc. Bihl.
Ärch. XXVIL S. 130 ff., 297 ff., XXVIIL S. 159 ff.; Margaret Murray The
astrological character of the Egyptian Magical Wands, 1. e. XXVm.
S. 33 ff.
^ von Bissing in diesem Archiv VIIL Beiheft. S. 23 ff.
496 ^' Wiedemann
aucli, wie ein von Walker^ behandelter Text vom Beginne
des Neuen Reiches zeigt, durch Berührung mit der Hand.
Über das Totenopfer selbst und die bei demselben beobachteten
Zeremonien in den älteren Zeiten des Agyptertumes handelte
eingehend Lefebure^, der dabei zahlreiche Parallelen aus den
verschiedenartigsten Religionen zum Vergleiche heranzog. D^
Ersatz der wirklichen Gabe durch das Bild findet sich berei
unter den ersten Dynastien, ohne daß es ihm gelungen wäi
jemals die Darbringung der tatsächlichen Gegenstände vol
ständig zu verdrängen. Foucart^ hat gezeigt, daß ein T(
der Darstellungen auf den Gefäßen der Nagada- Periode d(
artige Scheingaben vorzuführen bestimmt ist. Freilich dj
man aus diesen und ähnlichen Analogien zwischen der Kuli
der Frühzeit und der des späteren Agyptertumes nicht den Schli
ziehen wollen, die gesamte kulturelle Entwickelung des Niltal^
sei eine einheitliche gewesen, die Annahme einer erobernde
Einwanderung während der Nagada- Periode sei daher übt
flüssig. Ein einwandernder Stamm konnte naturgemäß nicl
die ganzen im Niltal vorhandenen Zustände vernichten,
mußte vielmehr, wie bereits oben angedeutet, das Bestehend"
möglichst zu erhalten und mit seinen eigenen Vorstellungen
zu verknüpfen suchen! Bei manchen Punkten, zu denen das
weithin über die Erde verbreitete Bildopfer gehört haben wird,
werden aber auch die Glaubensanschauungen der Bewohner des
^ The Egyptian doctrine of the transformation of fwneral offerings
in Proc. Soc. Bibl. Arch. XXVI. S. 70 ff.
^ La vertu du sacrifice funer aire in Sphinx. VIII. S. 1 ff. ; vgl. auch
die sehr allgemein gehaltenen Ausführungen von Kyle Egyptian sacrißces
in Eec. de trav. rel. ä VEgypt. XXVII. S. 161 ff. — Chassinat Note sur le
titre sonou in Bull. Inst Frang. du Caire. IV. S. 223 ff. zeigte, daß es
in Ägypten besondere Beamte gab, welche die rituelle Reinheit der
Opfertiere und ihre ritusgemäße Abschlachtung zu prüfen und zu beauf-
sichtigen hatten.
' Sur la decoration des vases de la periode dite de Neggadeh in
Comptes rendus. Acad. des Inscr. 1905. S. 257 ff.
Ägyptische Religion (1904—1905) 497
Landes und die der Einwanderer annähernd die gleichen gewesen
sein, ohne daß sich daraus ohne weiteres eine einheitliche
Gresamtlehre zu ergeben brauchte.
Dem Zusammenhange zwischen ägyptischen und ander-
weitigen Glaubenslehren wurden in der Berichtsperiode mehr-
fach Arbeiten gewidmet. Foucart^ und Schneider^ suchten
große Teile des griechischen Dionysoskultes, Charencey^ solche
der Orpheusmythe aus Ägypten abzuleiten. Die ägyptischen
Elemente in den Hermetischen Schriften und bei Pseudo- Apuleius
erörterte in vortrefflicher Weise Reitzenstein*. Älter als diese
letzteren religiösen Beziehungen, welche sich wesentlich in den
Zeiten des Hellenismus abspielten, waren diejenigen, welche
zwischen den semitischen Stämmen Palästinas und Syriens
und Ägypten während der Zeit der innigen politischen, freund-
lichen und feindlichen Verbindungen beider Länder seit etwa
2000 V. Chr. stattfanden. Leider lassen sich hier die Ver-
hältnisse nicht im einzelnen verfolgen, da von allen in Betracht
kommenden asiatischen Völkern nur die Israeliten in ihrer
religiösen Entwickelung bekannt sind. Mit ihren Beziehungen zu
Ägypten hat sich in letzter Zeit in umsichtiger Weise Spiegelberg^
beschäftigt und vorsichtige Schlüsse aus den auf Israel bezüglichen
oder mit ihm in Verbindung gebrachten Denkmälerangaben ge-
zogen. Er kommt zu dem Ergebnisse, daß der Aufenthalt des
Volkes in Ägypten in der Entwickelung des Jahvismus keinerlei
^ Le culte de Dionysos en Ättique. Paris. 1904.
* über den Ursprung des DionysosJcultes in Wiener Studien. XXV.
S. 147 ff.
^ Les origines du mythe d'Orphee in Museon. V. S. 275 ff.
* Hellenistische Theologie in Ägypten in Neue Jah/rh. Klass. Philol.
XIII. S. 177 ff.; Zum Asclepius des Pseudo- Apuleius in diesem Archiv.
VII. S. 393 ff. Vgl. die Einwürfe gegen eine Reihe von Aufstellungen
Reitzensteins über ägyptische Bestandteile der Hermetischen Literatur
von Zielinski in diesem Archiv. VIII. S. 321 ff.; IX. S. 25 ff.
° Der Aufenthalt Israels in Ägypten im Lichte der ägyptischen
Monumente. Straßburg. 1904; Ägyptologische Randglossen zum Alten
Testament. Straßburg. 1904.
498 ^' Wiedemann
erkennbare Spuren hinterlassen habe, daß dagegen in späterer
Zeit ägyptischer Kultbrauch übernommen sein könne. Wenn
aber für die israelitische Religion ein ägyptischer Einfluß kai
vorliegt, so wurde das durch besondere religionsgeschichtlicl
Verhältnisse veranlaßt, die man nicht ohne weiteres für
übrigen Stämme Vorderasiens voraussetzen darf. Bei letzten
zeigen die „phönizischen" tJberreste, wie stark der ägyptiscl
künstlerische Einfluß sein konnte. Mehrfach ist andererseil
von ägyptischen Tempeln und Göttern in Syrien und Phönizien
die Rede. Es werden also wohl bei diesen Stämmen auch
tiefergehende Beeinflussungen stattgefunden haben, die den
babylonischen Einwirkungen, die in letzter Zeit mit Vorliel
betont worden sind, die Wage hielten. Genaueres hierül
wird sich aber erst dann feststellen lassen, wenn man üb^
die syrischen Zustände dieser Zeit und vor allem über
hethitische Sprache und Kultur zu abgerundeteren und
schließenderen Ergebnissen gelangt sein wird, als dies bisW
der Fall ist.
Zum Schlüsse [seien noch einige Werke genannt, welcl
in zusammenfassender Weise die ägyptische Religion behandel
Steindorff^ veröffentlichte Vorträge über dieselbe, welche
vor einem größeren Kreise in populärer Form zu Frankfurt a.
und in etwas ausführlicherer Gestaltung in Amerika gehalte
hatte. Dabei wurde ein Überblick über die verschiedem
Glaubenslehren gegeben und die Unsterblichkeitsvorstellunge
eingehender erörtert. Eine gleichfalls für weitere Kreise bc
stimmte ausführliche Darstellung der ägyptischen Religion gal
Erman.^ Dabei lehnte er von vornherein die Berücksichtigung
der Theorien der modernen Religionswissenschaft ab, er wolle
^ Beligion und Kultus im alten Ägypten im Jahrb. des Freien
Deutschen Hochstifts. 1904. S. 131 ff.; The Religion of the Ancient
JSgyptians. New York. 1905 (mit Literaturangaben und Index).
^ Die ägyptische Beligion (Handbücher der Königlichen Museen zu
Berlin). Berlin. 1905.
Ägyptische Religion (1904—1906) 499
diese Dinge (wie Animismus, Fetischismus, chthonische Gott-
heiten, Medizinmann) nicht in eine Religion hineintragen, die
sich auch ohne sie verstehen lasse. Das von zahlreichen Über-
setzungen von Inschrifts- und Papyrusstellen begleitete und daher
als Materialsammlung wichtige, illustrierte Werk verfolgt die
ägyptische Religion von den ältesten Zeiten bis zu ihrem Unter-
gange im Niltale selbst. Es berücksichtigt auch ihre letzten Aus-
läufer im römischen Isiskulte auf europäischem Boden und in den
Lehren der Mystiker bis in das 6. nachchristliche Jahrhundert
hinein.
6 Alte semitische Eeligion im allgemeinen,
israelitisclie und jüdische Eeligion
Von Friedrieh Sehwally in Gießen
I
Von zusammenfassenden DarsteUungen der Religion Israels
ist in dem Zeitraum 1904/05 zuerst der große Artikel
E. Kautzschs, Religion of Israel (Dictionary of the Bible, ed.
Hastings, extra V 612 — 734), zu erwähnen. Er vereinigt große
Vorsiclit und Zurückhaltung mit verständnisvollem Eingehen
auf die neuen und neuesten Resultate der Forschung. Bernhard
Stade, Biblische Theologie des Alten Testaments, Bd. I: Die
Religion Israels und die Entstehung des Judentums, Tübingen,
Mohr 1905 (XII 383 S.), hält mit bewußter Absicht an der
herkömmlichen „Biblischen Theologie" fest, aber was er uns
gibt, ist Religionsgeschichte im wahrsten Sinne des Wortes.
Und zwar kommen hier die primitiven Bräuche und Anschauungen
des alten Israel nicht minder zu ihrem Rechte, wie die erhabene
Gedankenwelt der Propheten. Der Stil ist knapp und scharf,
die Anordnung klar und durchsichtig, die Literatur nach ihrem
Werte berücksichtigt, aUes selbständig durchdacht; es gibt kein
besseres Buch über den Gegenstand. James Robertson (Die
Religion Israels nach der Bibel und nach den modernen
Kritikern, deutsche Übersetzung nach A. von Conrad von Orelli,
Stuttgart, Steinkopf 1905, VII 367 S.) steht auf ganz konser-
vativem Standpunkte, dem aUes von Gott geleitet und inspiriert
ist. Die Polemik gegen die Gegner ist zuweilen treffend,
immer aber vornehm und sachlich. Unter den Darstellungen
der Geschichte Israels, die allgemach anfingen gleich Pilzen aus
dem Boden zu schießen, nimmt das Werk Oettlis (Calw und
Stuttgart, Vereinsbuchhandlung 1905, VI 566 S.) durch seine
[^Tiedrich Schwally Alte semitische Religion im allgemeinen usw. 501
Objektivität und Reichlialtigkeit eine hervorragende Stelle ein.
Das schön geschriebene Buch ist, wie der Verfasser sagt, in
erster Linie für Theologen und bibelfreundliche Laien bestimmt.
Die Zahl der Monographien ist unübersehbar. Ich kann
hier nur über einen kleinen Bruchteil referieren, und zwar im
allgemeinen nur über solche Bücher, die als Rezensionsexemplare
eingegangen sind. Sehr interessant, lehrreich und fördernd ist
die Studie von A. Bücheier in Wien über „Das Schneiden
des Haares als Strafe der Ehebrecher bei den Semiten" (Wiener
Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenlandes, Bd. 18, S. 91 — 138).
Samuel Ives Curtiss (Some religious usages of the Dhiab
and Ruala Arabs and their old Testament parallels, Expositor.
6 ser. n. 52, April 1904 S. 275 — 285) gibt wertvolle Ergänzungen
zu seinem ein Jahr vorher ins Deutsche übersetzten Buche
., Ursemitische Religion im Volksleben des heutigen Orientes".
Leider ist der amerikanische Gelehrte, kurz nachdem er sich
einen wissenschaftlichen Namen erworben hatte, gestorben.
Der Vortrag Bernhard Duhms über „Die Gottgeweihten in
der alttestamentlichen Religion" (Tübingen, Mohr 1905, 34 S.)
behandelt die Propheten, Priester und Nazaräer, feinsinnig und
jeistvoU, mit überlegener Einsicht in das Seelenleben und mit
ewundernswertem Instinkte für das Wesen der Religion. Am
wenigsten einverstanden erklären kann ich mich mit der Be-
hauptung S. 11: „Das alte Israel war ein nüchternes Bauern-
volk und durchaus nicht wunder süchtig, wie es auch sehr
wenig abergläubisch war." Diese merkwürdige Ansicht be-
einträchtigt indessen den Zusammenhang weiter nicht, sie
mußte eben erwähnt werden, da die Arbeit des Sohnes Hans
Duhm über „Die bösen Geister im Alten Testament" (Tübingen,
Mohr 1904, 68 S.) ganz davon beherrscht ist. Dieser zieht aus
dem Umstände des seltenen Vorkommens von verderblichen
Geistern in der vorexilischen Literatur den Schluß, daß im
Volke selbst die Neigung zum Aberglauben gering war. Die
Prämisse ist richtig, aber sie hat ganz andere Ursachen.
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 33
502 Friedrich Schwally
B. D. Erdmans (De groote Verzoendag, Theologiscli Tijdsclirift,
Bd. 38 S. 17 — 41) weist mit Recht darauf hin, daß dem Yer-
söhnungstage, so jung auch die seine Feier regelnden Gesetze
sein mögen, doch uralte Gebräuche zugrunde liegen. Man
kann auch zugeben, daß er einmal mit dem Neujahrstage zu-
sammenhing, wenn man sich dabei nur die Tatsache vor Augen
hält, daß die primitivsten Kulturstufen nur Jahreszeiten
kennen. M. Friedlaender, Griechische Philosophie im Alt
Testament (Berlin, Reimer 1904, XX 223 S.) sucht den Ei
fluß zu bestimmen, den griechische Philosophie auf gewiss^
Teile des Psalters, Proverbien, Hiob, Koheleth, Sirach aus-
geübt, es ist ihm aber nicht gelungen, das Problem befriedigend
zu lösen. Max Haller, Religion, Recht und Sitte in de
Genesissagen (Bern, Grünau 1905, 159 S.) scheint, obgleich
der Titel nicht verrät, eine Doktor- oder Lizentiatendissertatioi
zu sein. Sie ist anziehend geschrieben und stark von Gunkc
beeinflußt, bedeutet aber keine Förderung der Wissenschai
J. Herrmann, Die Idee der Sühne im Alten Testamei
(Leipzigs Hinrichs 1905, YHI 112 S.) untersucht das biblisch^
Material mit lobenswerter Sorgfalt, ohne jedoch über die voi
ihm kritisierten Vorgänger wie Hofmann, Ritschi, Riehm un^
Schmoller wesentlich hinaus zu kommen. Denn er hat
ebenso wie die Genannten versäumt, der Untersuchung ein<
breite religions geschichtliche Unterlage zu geben. Solang^
das nicht geschieht, wird die Forschung nicht vom Fleckd
kommen. B. Jacob, Im Namen Gottes, eine sprach- un^
religionsgeschichtliche Untersuchung zum Alten und Neuei
Testament (Berlin, Calvary 1904, VII 176 S.) hat sich eine
dankbaren Stoff ausgesucht und denselben anziehend und lel
reich behandelt. Wenn er aber den Satz aufstellt, daß dem Alte
Testament und dem originalen Judentum — was ist originale
Judentum? — die magische Auffassung des göttlichen Namei
fremd gewesen sei, daß dieselbe vielmehr aus Ägypten stamme
so hat er den Beweis hierfür nicht erbracht, vgl. z.
A Ite semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 503
W. Staerk, Namenaberglaube im Alten und Neuen Testament,
Protestant. Monatshefte/ Sept. 1903, S. 353—358. Wenn auch
der absolute Gebrauch der Formel „Im Namen Gottes" in der
uns bekannten jüdischen Liturgie nicht vorkommt, sondern nur
in Briefen und schwer datierbaren Zaubertäfelchen, so scheint
mir doch für seinen ehemaligen Gebrauch in der altisraelitischen
und jüdischen Kultussprache manches zu sprechen. Das Ver-
schwinden der Formel im Judentum könnte aus bewußtem
Gegensatz zur christlichen Liturgie hervorgegangen sein. Ebenso
wie die Septuaginta zu Esther, wird von G. Jahn auch die
Septuaginta zu Ezechiel (Das Buch Ezechiel auf Grund der
Septuaginta hergestellt, übersetzt und kritisch erklärt, Leipzig,
Ed. Pfeiffer 1905, XX 362 S.) und zu Daniel (Das Buch Daniel
nach der Septuaginta hergestellt und kritisch erklärt, mit einem
Anhange, Die Mesa- Inschrift aufs neue untersucht, Leipzig,
Ed. Pfeiffer 1904, XXII 138 S.) für ursprünglich, und der
masoretische Text für sehr stark überarbeitet gehalten. Von
seinen mit Scharfsinn gewonnenen Resultaten werden sich ge-
wiß manche als richtig erweisen und herkömmliche Anschauungen
in dem einen oder anderen Punkte korrigieren. Auch wo er
irrt — denn seine Gesamtanschauung halte ich für falsch — ,
wirkt die selbständige Art seiner Arbeitsweise erfrischend.
Von Paul Kahles Schriftchen, Die arabischen Bibelüber-
setzungen, Texte mit Glossar und Literaturübersicht (Leipzig
1904, Hinrichs, XYI 64 S.), ist allein die gelehrte und sach-
kundige Literaturübersicht S. III — XYI von Wert, das übrige ist
zu nichts nütze. Vor der Verwendung von Bibeltexten zur Er-
lernung des Arabischen kann nicht dringend genug gewarnt
werden. J. C. Matthes, Zoenoffers, Tijlers Theologisch Tijd-
schrift, Haarlem 1904, II S. 69—92), widerlegt die noch
immer, weitverbreitete Meinung, daß durch Handauflegung
dem Tier die menschliche Sünde übertragen werde. Freilich
ist die von dem Verfasser betonte Auffassung des Sündopfers
als einfache Gabe an die Gottheit nicht ausreichend. Mit be-
83*
504 Friedricli Schwally
sonderem Eifer tritt der emsige holländische Gelehrte auf den
Plan, wenn es gilt, das Recht der historischen Kritik zu ver-
teidigen oder die Maßlosigkeiten moderner Überkritik zurück-
zuweisen. In der sehr gehaltvollen Studie, Israelitisch Ge-
schiedenis (a. a. 0. Bd. III S. 482 — 513) erörtert er die neueren
Arbeiten über Moses, Joseph, die Entstehung der Jahvereligion,
die mythologische Natur der Patriarchen, Sauls, Davids und
Jonathans, die Simsonsage; mit bewundernswerter Geduld hört er
die Zeugen ab. Friedrich Maurer, Volkskundliches aus dem
Alten Testamente (Leipzig, Böhmer 1905, Y 254 S.) behandelt i
I. Die Familie, ihre Lebensführung (S. 11 — 61), ihren Kult
(S. 61—144), ihr Recht (S. 144—187); IL Das öffentliche
Leben; III. Das geistige Leben. Trotz einzelner brauchbarer
Notizen bedeutet das Ganze keinen Fortschritt gegenüber den
älteren Darstellungen der Archäologie. Eduard Meyer, Die,
Mosesagen und die Lewiten, Sitzungsberichte der Kgl. Preuß. j
Akademie der Wissenschaften XXXI, 22. Juni 1905: der Inhalt ;
wird vom Verfasser selbst so skizziert: „Der Sinai ist ein Vulkan ^
in Midian, Jahwe ein Feuergott; der feurige Dornbusch dagegen \
liegt bei Qädesch. Mose gehört nach Qadesch und ist Ahn-
herr der Priesterschaft des hier ansässigen Stammes Lewi. Die
Priester üben anders als die israelitischen Priester die Gerichts-
barkeit und sind im Besitze aller Rechtssatzungen, die die
Grundlagen der späteren Gesetzbücher bilden. Zum Schlüsse
werden die ägyptischen Bestandteile der israelitischen Religion
besprochen." Wenn Meyer der Ansicht ist, daß Mose ein
Priesterrichter des südpalästinischen Qadesch war und gar
nichts mit Ägypten zu tun hat, so stimme ich dem bei, [i
vgl. schon meine „Semitischen Kriegsaltertümer", Leipzig 1901,
S. Iff. Ich habe mir auch schon lange die Ansicht gebildet,
daß die prophetische Schriftstellerei in Israel sehr stark von
Ägypten her beeinflußt ist. Man muß gespannt sein auf das
in Aussicht gestellte Werk, in dem der geniale Historiker diese ||
Aufstellungen eingehend begründen wird. Joh. Meinhold,
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 505
Sabbat und Woche im Alten Testament (Göttingen, Vandenhoeck
und Ruprecbt, 1905, 52 S. aus Forschungen zur Religion und
Literatur des Alten und Neuen Testamentes, herausgegeben
V on W. Bousset und H. Gunkel, 5. Heft) wird manchem einen
Dienst leisten, fördert aber das Problem nicht, trotz allen
ßäsonnements. Das bewundernswerte Buch von M. Merker,
Hauptmann der Schutztruppe für Deutsch - Ostafrika , Die
Masai, Ethnographische Monographie eines ostafrikanischen
Semitenvolkes (Berlin, Reimer 1904, XVI 421 S. gr. 8«), ge-
hört zu den hervorragendsten Erscheinungen der ethno-
graphischen Literatur. An dieser Stelle kann ich leider nur
auf seine vergleichende Betrachtung der masaitischen und israe-
litischen Traditionen über Schöpfung, Paradies und Sündenfall
hinweisen. Der Verfasser erklärt sich die gemeinsamen Züge
so, daß dieser Mythenkreis ursemitischer Besitz war, daß die
Masai sich schon in der Urheimat von ihren semitischen Ver-
wandten trennten und bereits lange vor der Zeit, aus der wir
ägyptische Urkunden besitzen, nach Afrika einwanderten. Ich
halte diese Lösung des Rätsels für falsch, aus vielen Gründen,
die hier nicht auseinandergesetzt werden können. Beträchtliche
Teile der Masaimythen haben mit dem semitischen Sagen-
kreise gar nichts zu tun. Auf dieses afrikanische Gut sind
m. E. Züge semitischer Herkunft aufgepfropft. Wann das ge-
schehen ist und unter welchen Umständen, ist schwer zu sagen.
Da es sich um Afrika handelt, kommen in erster Linie Missio-
nare der koptischen oder abessynischen Christen, sowie der
abessynischen Juden (Falaschen) in Betracht. Und zwar erfolgte
eine solche Beeinflussung wahrscheinlich nicht an den jetzigen
Sitzen der Masai, sondern in einer früheren, mehr nördlich
gelegenen Heimat. Das Problem ist verwickelt. Die wichtigste
religionsgeschichtliche Vorarbeit zu seiner Lösung wäre eine
komparative Darstellung der Schöpfungssagen der alten Kultur-
und jetzigen Naturvölker. Carl Mommert, Doktor der Theo-
logie, Ritter des Heiligen Grabes und Pfarrer zu Schweinitz,
506 Friedrich Schwally
Menschenopfer bei den alten Hebräern (Leipzig, E. Haberland
1905, Vni 88 S.), bat sieb, wie es scheint, die Aufgabe ge-
stellt, der bekannten Tendenzlüge von der Gesetzmäßigkeit des
Ritualmordes bei den Juden für die vorchristliche Zeit die
historische Grundlage zu geben. Auch die Kreuzigung Jesu
wird als Ritualmord aufgefaßt. Trotzdem empfiehlt der bei-
liegende „Waschzettel" das Schriftchen nicht nur Christel
sondern auch Juden zum Lesen bestens. Ditlef Nielsen!
Buch über „Die altarabische Mondreligion und die mosaisch^
Überlieferung" (mit 42 Abbildungen, Straßburg, Trübner 190^
IV 221 S.) verrät schon in dem Titel, aus welcher Schule
hervorgegangen ist. Die Gottesauffassung (vgl. S. 1 — 48) wir^
von dem Verfasser aus den theophoren Namen der süc
arabischen Lischriften herausgeschält. Diese Namen erinnei
zum großen Teil an die aus Syrien und Babylon bekannte!
Formen, bei welchen das allgemeine Gottesappellativ el (ih
mit einem davor oder dahinter stehenden Verbum bzw. Nomei
verbunden erscheint. Das einzige, was nun aus derartigei
Personennamen mit Sicherheit zu konstatieren ist, sind di^
Namen der Götter. Daß dieselben in der Zeit, aus der di^
betreffenden Inschriften stammen, noch verehrt worden sine
darf aus den Personennamen allein nicht gefolgert werden, dj
solche Namen auch vererbt und ohne Rücksicht auf den darii
liegenden Sinn weiter gebraucht wurden. Anderseits ist es
ganz unmöglich, das, was in den theophoren Personennamei
von den Gottheiten ausgesagt wird, sicher und bestimmt zi
deuten. Eine allgemeine wörtliche Übersetzung, auch wo ihn
grammatische Richtigkeit sicher stünde, ist viel zu farblos, ui
die zugrunde liegenden religiösen Ideen zu erkennen. AUei
dieser Schwierigkeiten ist sich der Verfasser weder von dei
Standpunkte der Philologie noch von dem der Religions-
geschichte aus hinreichend bewußt geworden. Wenn man die
Worte liest: „Das zentrale Wesen Gottes wird als die heilige
gerechte Liebe aufgefaßt, und von dieser Liebe aus wird ei
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 507
Bundesgott, Schutz-, Heil- und Erlösergott" (S. 13 Z. 7—10),
' so glaubt man gar eine kirchliclie Dogmatik vor Augen zu
haben. Der astrale Charakter der südarabischen Kulte ist von
Nielsen gut dargestellt. Die wichtigste Frage nach dem Ver-
hältnis derselben zu Babylon hat der Verfasser zwar an-
geschnitten, aber nicht beantwortet. Nach meiner Meinung
ist hier kein gemeinsamer ursemitischer Besitz' anzuerkennen,
! sondern es muß Entlehnung vorliegen. Für Abhängigkeit der
südarabischen Kultur überhaupt von Babylonien sprechen
nämlich gewichtige Argumente. In dem Abschnitt „Heilige
Zeiten" (S. 49 — 88) wird der Nachweis versucht, daß im
Mittelpunkt des altarabischen Kultus der Mond gestanden, daß
die Wallfahrt nach Mekka einer Lunarfeier gegolten habe, und
daß babylonisch schabattu arabischen Ursprungs sei. Das ist
alles wenig einleuchtend. S. 97 — 122 handeln von heiligen
Orten und Symbolen. Nur dieser Teil, der auch durch zahl-
reiche Abbildungen illustriert ist, wird einen Wert behalten.
Der Rest des Buches (S. 125 — 221) ist der mosaischen Über-
I lieferung gewidmet, die unter lunarische Beleuchtung ge-
rückt wird. Theodor Noeldeke, Sieben Brunnen (Archiv
für Religionswissenschaft, Bd. VII S. 340 — 344), stellt dem be-
kannten palästinischen Ortsnamen Bersaba (Siebenbrunn) aus
drei weit voneinander entfernten Sitzen semitischer Bevölkerung
(Mandäer, Syrer, Algier) treffende Parallelen an die Seite. Im
Anschluß an diesen Aufsatz macht Jul. Wellhausen, Archiv
für Religionswissenschaft, Bd. VIII 155 f., wahrscheinlich, daß
die Bedeutung der Zahl Sieben im Namen Bersaba „nicht eigent-
lich pluralisch, sondern sozusagen superlativisch" sei, indem
in Bersaba nur ein einziger Brunnen gewesen sei, wie auch
z. B. der Neunbrunn (Negenborn) bei Göttingen nur eine einzige
starke Quelle bilde. Albrecht Dieterich a.' a. 0. S. 156
schließt sich unter Hinweis auf den Enneakrunos in Athen
dieser Ansicht an. Es wäre schön, wenn diese Diskussion die Ver-
anlassung zu Untersuchungen über „die Bedeutung der Zahlen
508
Friedrich Schwally
in den Ortsnamen" geben würde. Angeregt durch Albrecht
Dieterichs Abhandlung „Mutter Erde" (Archiv für Religions-
wissenschaft, Bd. YIII Iff.) sucht Theodor Noeldeke (a. a.
S. 161 ff.) Spuren der Mutter Erde -Vorstellungen bei den Semite
nachzuweisen. Es ist in der Tat sehr einleuchtend, daß Gen. 2,
wo Gott den Menschen aus Erde schafft, nur eine monotheistiscl
Umwandlung der alten Auffassung ist. Dagegen könnten dei
übrigen alttestamentlichen Stellen (Gen. 3, 19, Hiob 10, 9; 34, li
Kohel. 3, 20; 12, 7, Ps. 103, 14; 104, 29) lediglich theologisch^
philosophische Reflexionen zugrunde liegen. Ist dies wirklicl
der FaU — ich wage keine Entscheidung — , dann wird sogs
Sirach. 40, 1 unsicher, obwohl an dieser Stelle die Erde als
Mutter alles Lebenden bezeichnet wird. Wenn in der schied
überlieferten Stelle Ps. 139, 15 der Inhalt nicht zu sehr ent
stellt ist, könnte hier allerdings ein von Gen. 1, 2 total al
weichender Mythus über die Entstehung des Menschen zu ei
kennen sein. Die äthiopische Bezeichnung des „Menschen"
„Kind der Mutter des Lebenden" kann in letzter Linie ai
die Bibel zurückgehen, da Gen. 3, 20 von Eva gesagt wirc
daß sie die Mutter alles Lebenden sei. Die äthiopische Bibel
Übersetzung müßte in diesem Falle auf Kreise zurückgehei
in denen die Menschen dem jüdischen Gebrauche entgegei
nicht „Adams-Kinder", sondern „Eva-Kinder" hießen. Solang«
wir aber hierüber nichts Bestimmtes wissen, ist die Möglich-j
keit einzuräumen, daß der Mensch in dieser Phrase als „So]
der Mutter Erde" gilt, mag nun diese Vorstellung aus gemei
semitischem Besitze stammen, oder von afrikanischen Nachi
barn entlehnt sein. — H. Oort, Het israelitische Pinksterfesi
(Theologische Tijdschrift 1904, S. 481—510), verfolgt d?
israelitische Pfingstfest durch alle Stadien seiner Entwickelung^
Leider fließen die Nachrichten darüber sehr dünn, die wichtigstei
Fragen nach dem ursprünglichen Sinn des Festes — Ernte
oder Sonnenwende? — und nach der eigentlichen Bedeutun|
des Namens „Wochenfest" sind noch immer dunkel. — AdolJ
I
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 509
Posnanski, Schilo, ein Beitrag zur Geschichte der Messiaslehre,
i erster Teil, Die Auslegung von Genesis 49, 10 im Altertum
bis Ende des Mittelalters (Leipzig, Hinrichs 1904, XXIII
512, LXXYI S.): diese ebenso umfangreiche wie sorgfältige
und fleißige Arbeit, die sehr an Pusey- Neubauer, The LIII
chapter of Isaiah according to the Jewish interpreters 18 76 f.
erinnert, zeigt, daß wir für das Verständnis der Stelle aus der
alten Exegese nichts lernen können. Schade für die Zeit und
Kraft, die an ein so nutzloses Thema verschwendet worden
ist. Bei der großen Bedeutung, welche der Gestimkult zeit-
weise für das religiöse Leben Israels gehabt hat, ist es wert-
voll, daß „die Astronomie im Alten Testament" einmal von
: einem so bedeutenden Kenner wie Giovanni Schiaparelli
! dargestellt worden ist (übersetzt von Willy Lüdtke, mit 6 Ab-
bildungen im Text, Gießen, Alfr. Töpelmann 1904, YIII 137 S.).
Von einschneidender Bedeutung ist die Studie von Jul.Well-
bausen „Zwei Rechtsriten bei den Hebräern" (Archiv für
Religionswissenschaft Bd. VII 33 — 41), in denen er die Riten
des Salbens und des Mantelüberwerfens (Ruth 3, 9, Ez. 16, 8)
erörtert. Gewohnt, den Dingen auf den Grund zu gehen und
sich nicht mit Gemeinplätzen und hergebrachten Redensarten
zu begnügen, stellt er u. a. fest, daß der Sinn der Königs-
salbung noch von niemand verstanden worden und auch mit
den Mitteln der jüdischen und arabischen Antiquitäten nicht
zu begreifen ist. Vielleicht, sagt er, ist darüber von der
; Ägyptologie Aufklärung zu erwarten. In der Tat, ließe sich
! nachweisen, daß die Salbung des Königs mit Öl in Babylonien
oder Ägypten gebräuchlich gewesen ist, so wäre ihre Entlehnung
l ! daher wahrscheinlich. Während sich alsdann die israelitische
I Archäologie bei diesem Resultat beruhigen könnte, muß die
I ethnologische Forschung nach den letzten Gründen fragen.
ii Leider hat J. G. Frazer in seinen kürzlich erschienenen Lectures
'< I on the early history of the kingship (London 1905) diesen
Punkt nicht berührt. Nach meiner Kenntnis des Materials
510 Friedrich Schwally
kann die Salbung ursprünglicli nur den Zweck gehabt haben,
den König tabu zu machen, ich kann aber jetzt nicht näher
darauf eingeben. K. Völlers hat die von Wellhausen ge-
stellte Frage aufgegriffen („Die Symbolik des Mash in den
semitischen Sprachen", Archiv für Religionswissenscbaft Bd.VIIl
97 ff.). Ohne Zutrauen zu dem gebrecblicben Rohr der ägyn-
tiscben Hilfe, zieht er sich auf die arabischen Antiquitäten, a^H
denen er reiche und interessante Einzelheiten sammelt, zurück
und verweist für die rätselhafte Verwendung des Öles auf das
„Lebensöl" der Babylonier. H. Zimmern (Zeitschr. Deutsche
Morgenl. GeseUscb. 1904, S. 199—202) stellt auf Grund eines
von Pinches neu edierten Textes fest, daß babylonisch sapattu
den 15. Tag des SOtägigen babylonischen Monats, also den
Neumondstag bezeichne. Die Etymologie des Wortes dagegen,
sowie sein Verhältnis zum israelitischen Sabbat ist ihm noch
immer dunkel.
Den Ertrag der Ausgrabungen im Orient für die Kenntnis
der Entwickelung der Religion Israels führt E. S ellin in einem
Vortrage (Leipzig 1905, A. Deichert, 44 S.) vor Augen, mit
Berücksichtigung der Funde in Ägypten, Babylonien, Cypem,
besonders in Palästina, wo er selbst mit Erfolg gegraben hat.
Die Ausführungen über Bauopfer (S. 31) gehen von der An-
nahme aus, daß ein Opfer wie eine Leiche bestattet werden
kann. Dafür kenne ich aus der Religionsgeschichte kein ein-
ziges Beispiel. Dagegen ist es ein weitverbreiteter alter Brauch,
die Toten der Familie im Hause oder dicht dabei zu begraben.
Die für die israelitische Gesetzgebung so wichtige Inschrift
des babylonischen Königs Hammurabi ist jetzt von Kohler
und P eis er bearbeitet worden (Hammurabis Gesetz, Bd. I,
Übersetzung, juristische Wiedergabe, Erläuterung, Leipzig 1904,
Ed. Pfeiffer, 146 S., gr. S«). Die Mitarbeit eines Juristen, der
als bester Kenner der vergleichenden Rechtsgeschichte gilt, ist
natürlich bei einem solchen Texte von großem Werte. Leider
spotten noch viele Stellen aller philologischen Kunst.
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 511
Von den Ägyptologen hat W. Spiegelberg zwei frucht-
bare Beiträge geliefert. Aus den „Ägyptischen Randglossen
zum Alten Testament" (Straßburg, Schlesier u. Schweikhardt
1904, VI 48 S.) hebe ich hervor die im Anschluß an Exod.
1, 16 geführte Untersuchung über den Gebärstuhl bei den
alten Ägyptern. Auch die andere Studie „Der Aufenthalt
Israels in Ägypten im Lichte der ägyptischen Monumente"
(Straßburg, Schlesier u. Schweikhardt 1904, 55 S.) zeichnet
sich durch Besonnenheit und vollendete Sachkenntnis aus, nur
scheint mir die Rücksichtnahme auf die Exegeten etwas zu
weit zu gehen. Das Licht der Monumente ist leider sehr trübe.
Und wenn auch gewiß in der biblischen Sage ein historischer
Kern steckt, so ist doch bei dem gegenwärtigen Stande der
Forschung niemand verwehrt, sich einen ganz beliebigen Kern
herauszuschälen und diesen für den richtigen zu halten.
Übrigens hat die Frage eine viel geringere Bedeutung, als
gewöhnlich zugegeben wird. Denn die Einwirkung ägyptischer
Kultur ist nicht nur in Palästina, sondern in ganz Vorder-
asien zu spüren und hat ebensowenig eine jüdische Ein-
wanderung zur Voraussetzung wie die Babyionisierung
Palästinas das Exil. Daniel Völter, Ägypten und die Bibel,
die Urgeschichte Israels im Lichte der ägyptischen Mythologie,
2. Aufl., Leyden, Brill 1904, 116 S., erklärt die Vätersagen als
Sonnenmythen. Da er weder zur Beurteilung israelitischer
noch ägyptischer Antiquitäten ausreichende Kenntnisse besitzt,
ist das Büchlein völlig wertlos. Trotzdem hat es nach knapp
einem Jahre die zweite Auflage erlebt.
Die moderne palästinische Volkskunde ist besonders
durch Leonhard Bauer gefördert worden, dessen „Volks-
leben im Lande der Bibel" (Leipzig, H. G. WaUmann 1903,
III 312 S.) eine ganz hervorragende Leistung ist. Es be-
handelt folgende Gegenstände: Bevölkerungsstatistik, Volks-
charakter, Bau und Einrichtung der Häuser, Kleidung und
Schmuck, Geburt, Name, Kinderspiele und Kinderarbeiten,
512 Friedrich Schwally
Schulwesen, Berufsarten, Verlobung und Hoclizeit, Stellung
der Frau, Arbeiten der Fellacbinnen, Kreislauf des Jahres,
Ackerbau, Ol- und Weinbau, Gemüsebau, Früchte- und Gemüse-
kalender, Rindvieh-' und Bienenzucht, Steuerverhältnisse, Kauf
und Verkauf, gesellschaftlichen Verkehr, Nahrungsmittel und
Speisen, Nationalgerichte und Nationalgebäck, Mahlzeiten und
Gastfreundschaft, Brunnen, alte Kultus statten, Synkretismus,
Geisteskranke, Klima, Krankheiten, Heilmittel, Tod, Leichen-
klagen, Grab, Gesten, Sprichwörter und Rätsel, 'Poesie und
Musik, Reisebuchblätter, Jerusalem im 19. Jahrhundert. Das
Buch ist zwar schon 1903 erschienen, mir aber erst nach
Abschluß des letzten Jahresberichtes zugänglich geworden.
Der Verfasser, Lehrer an einer Missionsschule, kennt das
Heilige Land aus langjährigem Aufenthalte. Er besitzt nicht
nur eine vorzügliche Beobachtungsgabe, sondern auch liebe-
volles Literesse für das Leben der Eingeborenen, eine Eigen-
schaft, welche den in der Fremde weilenden Europäern
gewöhnlich rasch verloren geht. Trotzdem scheint das Werk
ziemlich unbekannt geblieben zu sein, es war z. B. bis vor einem
Jahre in einer der größten Bibliotheken Deutschlands nicht
vorhanden. A. Haffner, Erinnerungen aus dem Oriente
(Wiener Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenlandes, Bd. 18, S. 169
bis 184), bespricht Bauernregeln, Verwünschungen und Spiele.
In das Judentum des neutestamentlichen Zeitalters führen
hinein Paul Fiebigs „Altjüdische Gleichnisse und die Gleich-
nisse Jesu" (Tübingen und Leipzig 1904, VI 167 S.). Er
übersetzt darin die Gleichnisse der Mechiltha, eines alten
rabbinischen Kommentars zu Exodus, und setzt sich mit
Jülichers bedeutendem Werke über die Gleichnisse Jesu aus-
einander. Das Resultat, daß sich Jesus bei seinen Gleichnissen
einer seiner Zeit geläufigen Kunstform bediente, ist nicht neu,
aber die Vorlegung dieses Materials wird für die Exegese von
Nutzen sein. Walter Köhlers frische und energische Unter-
suchung (Archiv für Religionswissenschaft VIII S. 214 — 243)
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 513
erklärt „die Schlüssel des Petrus^' Mtth. 16, 19 einwandfrei aus
der griechiscli- römischen Antike, doch haben allein seine
mythologischen Belege Beweiskraft. Hierdurch hat er sich
verleiten lassen, die an derselben Stelle des Matthäusevangeliums
vorkommende Phrase „binden und lösen" im Sinne von „ver
bieten und erlauben'^, aus der Sprache der [klassisch-] antiken
Mantik zu erklären. Das halte ich für falsch. Denn der dieser
Phrase zugrunde liegende Knotehzauber ist so weit über die
ganze Welt verbreitet, daß wir denselben auch für das alte
Israel voraussetzen müssen, obschon er noch nicht nachgewiesen
ist. A. Buecheler beschreibt auf Grund talmudischer Stellen
„Das Ausgießen von Öl und Wein als Zeichen der Ehrung bei
den Juden Palästinas" (Monatsschr. f. Geschichte u. Wissenschaft
des Judentums, Jahrg. 49, S. 12 — 40). M. Friedlaender, Die
religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeitalter
Jesu (Berlin 1905, Reimer, XXX, 380 S.), erwähnt die Apo-
Ivalyptik, die religiöse Stimmung des Landvolkes, den Essenismus,
Minäismus, das hellenische Judentum, die sibyllinische Weis-
heit, Jesus und Paulus. Der wertvollste Teil des Buches
ist m. E. das Kapitel über die religiösen Bewegungen
unter der Landbevölkerung, deren Anteil an dem Empor-
kommen der christlichen Verkündigung gewöhnlich zu gering
eingeschätzt wird. Während die neueren jüdischen Gelehrten
im allgemeinen für den Hellenismus sehr wenig Verständnis
haben, überschätzt Friedlaender denselben. Die Ausführungen
über Jesus und Paulus gehören zu dem Schönsten und Un-
befangensten, was je von einem jüdischen Autor gesagt worden
ist. Seine heftige Polemik gegen die Rabbiner und Seminar-
theologen ist begreiflich, aber nur zum Teil begründet. Denn
darin hat die jüdische Orthodoxie unzweifelhaft recht, daß
allein durch Festhalten am überlieferten Ritus der Väter das
Judentum als Rasse wie als Religion vom Untergang bewahrt
werden kann. Die Beteiligten haben sich also die Frage vor-
zulegen, ob sie ihr Volkstum und ihre Religion für wert halten,
514 Friedricli Scliwally
auch weiter konserviert zu werden. Leidens cliaftlicli verneint
wird dieselbe von J. Fromer, Das Wesen des Judentums
(aus „Kulturprobleme der Gegenwart'^, herausgegeben von Leo
Berg, 2. Serie, Bd. 1, Berlin — Leipzig — Paris, Hüpeden
u. Merzyn 1905, VII 183 S.). Der Verfasser, selbst Jude,
russisch -polnischer Abstammung, hat sich eine umfassende,
moderne Bildung angeeignet. Scharf, unerbittlich und rücksichts-
los wird von ihm dem Wesen des modernen Judentums und den
Gründen seiner Leidensgeschichte und seiner Zurücksetzung im
Staatswesen nachgespürt. Das Judentum, sagt er, muß sich auf-
lösen, da seine treibenden religiösen Ideen überlebt sind, und da
ein Volk ohne Land nicht für sich existieren kann. Es muß
sich nicht nur geistig, kulturell und religiös den Wirtsvölkern
assimilieren, sondern auch physisch. Infolge des Widerwillens
der Wirtsvölker gegen die physische Vermischung wird die-
selbe jedoch auf unübersehbare Zeit unmöglich sein. Dagegen
sind die schönen Vorträge von Caesar Seligmann (Juden-
tum und moderne Weltanschauung, Frankfurt a. M., J. Kauff-
mann 1905, 117 S.) hervorgegangen aus dem inneren Drange
des Verfassers, die Versöhnung, die er selbst in heißem Ringen
zwischen Judentum und moderner Kultur gefunden hat, den
Gebildeten und Suchenden in seiner Gemeinde nicht vor-
zuenthalten.
Mit einem wertvollen Stücke der Geschichte und Kultur
des mittelalterlichen Judentums in aller Herren Länder machen
uns bekannt die Schilderungen des berühmten jüdischen
Reisenden des 12. Jahrhunderts, Benjamin von Tudela. Von
dem schwer zugänglich gewordenen Werke eine Neuausgabe
und Übersetzung veranstaltet zu haben, ist das Verdienst des
rührigen Verlages von J. Kauffmann in Frankfurt a. M. (I. Teil
hebräischer Text, 164 S.; IL Teil, Einleitung, Übersetzung und
Register, 102 S. 1903/04, gedruckt in Jerusalem).
Zur Förderung der jüdischen Volkskunde hat sich
schon vor mehreren, etwa drei oder vier Jahren, in Hamburg
Alte semit. Religion im allgem., israelitische u. jüdische Religion 515
eine Gesellschaft gebildet, welche auch eine Zeitschrift heraus-
gibt („Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde",
herausgegeben von M. Grunwald, Hamburg, Selbstverlag der
GeseUschaft). Mir liegt das 13. Heft vor (Jahrg. 1904, Nr. 1,
72 S.), in dem unter anderem ein mittelalterliches Purim-
festspiel ediert ist.
Über die Rasse der Juden ist schon sehr viel ge-
schrieben worden. Aber es fehlte bis jetzt an einer zusammen-
fassenden, kritischen Darstellung. Diesem Mangel ist durch
das Werk von J. M. Judt, Die Juden als Rasse, eine Analyse
aus dem Gebiete der Anthropologie (deutsche Ausgabe — die
andere Ausgabe ist wohl polnisch — Berlin, Jüdischer Verlag,
ohne Jahr, IV 243 S.), jetzt einigermaßen abgeholfei^^. Und
zwar hat der Verfasser die Judenheit der ganzen Welt berück-
sichtigt und der physiko-anthropologischen wie der historischen
Seite gleichmäßig Rechnung getragen. Er kommt zu dem
m. E. richtigen Resultate, daß die Juden in der Zer-
streuung im allgemeinen keiner Rassenkreuzung mit der
eingeborenen Bevölkerung erlegen sind. Maurice Fishberg
dagegen (Materials for the physical anthropology of eastem
European Jews, Memoirs of the American Anthropological
and Ethnological Society, Vol. I, part 1, Lancaster. New Era
printing Company 1905, 146 S.), schließt seine streng metho-
dischen Untersuchungen mit den Worten: „We conclude that
the bulk of the modern Jews, who live at present in eastem
Europe and who constitute more than 80 percent of all the
Jews, are physically more akin to the races among which
they have lived in eastern Europe than to the so called Semites."
in Mitteilungen und Hinweise
Diese verschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesern hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und besonders
neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke und Nach-
weise oder auch anregender Fragen würde sich zwischen den ver-
schiedenen religionsgeschichtlichen Forschern hier u. E. entwickeln können,
wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung widmen würden.*
In der Inschrift von Speos Artemidos^ Z. 9 — 10 sagt
die Königin Hatschepsowet (um 1500 v. Chr.) in bezug auf
ihren himmlischen Vater Amon
Ich machte die Wahrheit groß (?)'', die er (sc. Amon) liebte,
(Denn) ich wußte, daß er von ihr lebt,
Mein Brot ist sie.
Ich trinke ihren Tau
Deshalb bin ich eines Leibes (Acw wc) mit ihm.
Also dadurch, daß die Königin dieselbe Wahrheitsspeise genießt
wie ihr Vater Amon, wird sie mit ihm eines Leibes. Die Wahr-
heit ist hier also ganz materiell, konkret gedacht, als eine Art
Nektar und Ambrosia. Ich glaube nun, daß im Lichte dieser
Stelle, wo diese Anschauung ganz evident ist, auch andere Stellen
ähnlich konkret zu deuten sind. So ist es mir sehr wahrscheinlich,
daß überall, wo es von dem König heißt (besonders oft von dem
Ketzerkönig Chinaton), er „lebt von Wahrheit", tatsächlich ein
körperliches Genießen der Götterspeise gemeint ist, und dasselbe
gilt von den Verstorbenen, die häufig als „die, welche von Wahr-
heit leben", bezeichnet werden. Die „Wahrheit" ist hier die
Speise der Götter oder eines Gottes, durch deren Genuß der
^ Sog. Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig enthalten als
sie „Berichte'' ersetzen soll. Über die Zeitschriftenschau, die dem Archiv
besonders beigegeben werden kann, siehe die Mitteilung Band VIT, S. 280.
2 Set he Urkunden IV, 383 ff.
' Die Ergänzung der zerstörten Gruppe s<^3(j)-nj ist nicht sicher.
Mitteilungen und Hinweise 517
Mensch mit dem Gott wesensgleich wird.^ Das ist wohl auch der
eigentliche Sinn der bekannten Wendung des Totengebetes, in
welchem man dem Verstorbenen unter anderem „alle schönen und
reinen Dinge, von denen der Gott^ (d.h. wohl Osiris) lebt", wünscht.
Wer diese Osirisspeise genoß, der wurde nach den Worten des
obigen Textes „eines Leibes" mit Osiris, er wurde selbst zum
Osiris^ und teilte so das selige Schicksal dieses Gottes.'*
W, Spiegelberg
Zum Jahvethron
M. Dibelius (Die Lade Jahves. Göttingen 1906 [Forschungen
zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments
lierausgeg. von Bousset und Gunkel VII]) hat neuerdings die
zuerst von meinem unvergeßlichen Freunde Wolfgang Reichel auf-
gestellte Ansicht, daß die „Bundeslade" ein Thronsitz gewesen sei,
in gründlicher Erörterung wieder aufgenommen. Er hat die
Geschichte der Lade nur bis zur Zerstörung Jerusalems durch
Nebukadnezar (586 v. Chr.) verfolgt und betrachtet sie damit als
abgeschlossen. Wie seine Vorgänger, hat auch er die Notiz des
Tacitus bist. V 9 nicht beachtet: Romanorum primus Cn. Pompeius
(63 V. Chr.) Judaeos domuit templumque iure victoriae ingressus est:
inde vulgatum nulla intus deum effigie vacuam sedem et inania
arcana. Reichel schrieb mir auf die Mitteilung dieser Stelle im
März 1899: „Für mi>ch ist die vacua sedes eine gute Bestätigung
der Bundeslade als Thron. Sie übersehen nur, daß die Bundeslade
bei der Eroberung durch die Babylonier zugrunde ging und nach
dem Exil nicht mehr existierte. Der leere Thron kann also eine
Erinnerung an sie sein sollen — nicht mehr! Aber auch so . . .
freue ich mich über die Notiz und betrachte sie als gutes Zeugnis."
Als 0. Benndorf Reicheis zweiten Aufsatz über den Jahvethron
weiteren Kreisen bekannt machte , sandte ich ihm meine Beobachtung
mit Reicheis Erwiderung zu; seine eigene Antwort vom Januar
1902 lautete: „Auch mir scheint in den Worten des Tacitus eine
Bestätigung vorzuliegen, ja das Zeugnis für eine Wiederherstellung
der Bundeslade vorzuliegen, wie dies ja durchaus alter Kultsitte
^ Da der Pharao nach ägyptischer Anschauung ein Gott auf Erden
ist, so lebt er auch wie die Götter von der Götterspeise Wahrheit. —
Weitere Beispiele bei Wiedemann Die Toten und ihre Reiche im
-Glauben der alten Ägypter (Der alte Orient II 2) S. 18 ff. Zu der ganzen
Anschauung vgl. A. Dieterich Mne Mithrasliturgie S. 100 ff., der mich
freundlichst auf diese Stellen hinwies.
^ Spätere Variante „die Götter".
8 Der Tote heißt seit alter Zeit stets „Osiris N. N.".
^ Vgl. dazu Erman Die ägyptische Beligion S. 96 ff.
Archiv f. Religionawissenschaft IX 34
513 Mitteilungen und Hinweise
entsprechen würde. Wäre gar Nichts vorhanden gewesen, so
erschiene die wortreiche Umschreibung dieses Nichts bei Tacitus
zumal denn doch befremdlich." Der liebenswürdigen Aufforderung
Benndorfs, der ganzen Sache weiter nachzugehen, habe ich in all den
letzten Jahren nicht folgen können; jetzt ist die Frage des
„Jahvethrons" durch Dibelius von neuem behandelt worden, und
jetzt bietet das „Archiv" auch für die anspruchslosesten „Mit-
teilungen und Hinweise" einen Raum; so wage ich es denn, ohne
weitere eigene Bemerkungen die Taciteische Notiz der Aufmerksam-
keit derer zu empfehlen, die Reicheis Spuren folgen.
F. Münzer
Ein syrischer Regenzauher
Die syrische Literatur gestattet uns bei ihrem starr theolo-
gischen Charakter nur selten Einblicke in die religiösen Anschau-
ungen des Volkes. In den Märtyrerakten treten gelegentlich ältere
Festbräuche zutage, und die Kanones des Jakob von Edessa
machen uns mit allerlei abergläubischen Praktiken, die sie verur-
teilen, bekannt.
Nun aber gibt es ein Gebiet, auf dem keine organisierte Reli-
gion hat umhin können, sich volkstümlichen Vorstellungen anzu-
passen. Wenn anhaltende Dürre den Landmann um die Früchte
seiner Arbeit zu bringen droht, so erwacht immer aufs neue in
ihm die Erinnerung an die Bräuche, mit denen seine Vorfahren
dem Übel zu steuern suchten, und er vollzieht sie, auch wenn ihm
ihr ursprünglicher Sinn längst entschwunden ist. Die Geistlichkeit
ist dabei von jeher und überall bemüht gewesen, solche Riten, die
sie nicht unterdrücken konnte, aufzunehmen und ihnen, so gut es
ging, dem eigenen religiösen Gedankenkreise entsprechende Vor-
stellungen unterzuschieben. Wie der Islam sich zu solchem Regen-
zauber verhielt, haben kürzlich Goldziher in den Orientalischen
Studien, Th. Nöldeke gewidmet, I 308 ff. und speziell für Nord-
afrika A. Bei im Recueil de memoires et de textes public en
l'honneur du XlVe congr. des Orient., Alger 1905, S. 49 ff. und
E. Doutte, Merräkech I 383 ff. gezeigt.^ Auch die syrische Kirche
^ Zu den von Goldziher angeführten Beispielen von Heiligen , durch
die man Regen erbittet, vgl. noch den Vers des Farazdaq: „den Kalifen
Gottes, durch den man Regen erbittet", Biwän 413, 1, cit. Ibn Qotaiba,
lib. poes. 298, 10. Der durch einen Vers des Umaija ibn abi '1 Salt
bezeugte heidnische Regenzauber (Schultheß, Or. Stud. I, 83) findet sich
auch bei Baihaqi ed. Schwally 441, 15 und Sujäti, sarh saw. Mugni
106, 1 — 6 (nach 'iso el Askarl), aber für qälau wird das in syrischer
Schrift recht nahe liegende metrau „seine Regengüsse" zu lesen sein.
Mitteilungen und Hinweise 519
hat diesem dringenden Bedürfnis sich fügen müssen, unter den
Werken des Ephraem Syrus (ed. Lamy IIl 1 — 126) stehen neun
Bittpredigten, die sich z. T. auch in Bedjans Ausgabe des Brevi-
arium Chaldaicum (Leipzig 1886) finden. Alle diese Reden beziehen
sich hauptsächlich auf die Dürre als eine von Gott zur Besserung
der sündigen Menschheit gesandte Kalamität. Obwohl es nun Ephraem
im allgemeinen vorzüglich gelungen ist, die für die Situation charak-
teristischen Gedanken in der Flut seiner biblischen Bildersprache
zu ertränken, schlägt er doch in der siebenten Rede einmal Töne
an, die weniger einem christlichen Prediger als einem altheidnischen
Regenmacher anstehen. Nachdem er wieder des breiteren durch
Vorführung biblischer Beispiele zur Buße gemahnt, und nachdem
er die Sünden der Welt für die Dürre verantwortlich gemacht hat,
fahrt er fort (S. 97, 10)
„Laßt uns Trauer anlegen, damit der Himmel
sich bedecke zum Regen.
Wir wollen dumpfes Geschrei erschallen lassen,
damit der Donner in den Wolken ertöne.
Die Stimmen des Gebetes sollen fliegen,
damit Blitze zum Regen gesandt werden.
Die Erde möge mit Tränen genetzt werden,
damit sie auch vom Regen benetzt werde.
Wir wollen die Schleusen der Augen zum Weinen öffnen,
damit auch die Wolken geöffnet werden.
Die Stimme unseres Bittens wird zwingen
den Höchsten, unsere Stimme zu erhören.
Weil unsere 'Stimme nicht bei ihm gehört ward,
hörte auch seine Stimme auf bei uns zu tönen,
und der Donner seiner Wolken schwieg.
Weil die Tränen unseres Weinens versiegten,
versiegten seine Stimmen von unseren Ackern. *
Denn er dürstet sehr nach unserem Worte,
so wie das Feld nach seinen Güssen.
Er wünscht nicht, daß wir fallen,
da er durch Tränen die Schuldscheine löscht.
Wir wollen den Leib im Gebet schwitzen lassen,
damit die Wolke Regen ergieße.
Wir wollen ein wenig dürsten,
damit die Saat vom Regen gesättigt werde.
Wir wollen ein wenig fasten.
damit die Sättigung durch die Wolke groß werde."
Ephraem begnügt sich an dieser Stelle nicht mehr damit, rein
geistliche Mittel zur Abwehr der Kalamität zu empfehlen, sondern
er verweist, wie es ein heidnischer Priester im gleichen Falle ge-
tan hätte, auf die bewährten Prozeduren des Analogiezaubers (vgl.
u. a. A. Lang, Myth, ritual and religion I 82 ff.). Den durchaus
in diesen Zusammenhang passenden Gedanken, daß Gott durch
nachdrückliches Bitten auch gegen seinen Willen zur Erhörung
34*
520
Mitteilungen und Hinweise
gezwungen werden könne (vgl. dazu Goldzihers Ausfühi'ungen über
das ilhäh, a. a. 0. 313) mildert Ephraem allerdings alsbald durch
einige geistliche Gemeinplätze. C. Brockelmann
Orientalische Studien
betitelt sich eine Festschrift, die Theodor Nöldeke in diesei
Frühjahr von 86 Gelehrten als ein Tribut ihrer Dankbarkeit un^
Verehrung dargebracht wurde. -^ In dem Inhalt der beiden Bänc
spiegelt sich der gegenwärtige Stand der orientalistischen Studieij
ziemlich getreu wider, und schon ein flüchtiger Blick auf di
einzelnen Beiträge zeigt, welch hervorragende Rolle der Religionj
Wissenschaft dabei zukommt. Dieser Umstand wird es vielleicht
rechtfertigen, wenn im folgenden den regelmäßigen Jahresberichte!
des Archivs vorgegriffen wird, um seinen Lesern die für sie
achtenswerten Teile der Studien tunlichst bald zu vermitteln.
Wie zu erwarten, ist die Arabistik besonders stark Vertreter
M. J. de Goeje bespricht die bekannte „Berufung" Muhammedg
der eine männliche Gestalt in betender Haltung am Horizont ei
blickte und eine Stimme rufen hörte: „0 Muhammed, du bist de
Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel"; er erklärt sie als ein^
von Muhammed ungeahnte, optische Täuschung, analog dem „Brockei
gespenst". — A. Fischer sucht nachzuweisen, daß zwei Verse dej
101. Sure des Qorän als Interpolation zu erklären sind, eine fi
die wichtige Frage nach der Echtheit des Qorän grundlegenc
Untersuchung, die mittlerweile die Zustimmung Völlers (ZDM(
60^ 373) gefunden hat. — Auf die dämonische Natur gewisse
Tiere und die Auffassung ihrer Handlungen als durch Dschinnei
verursachte Phänomene macht R. Geyer gelegentlich der Erklärunj
eines altarabischen Dichterverses aufmerksam. — Fried r. Schulthesi
prüft die von Umajja b. Abi 1-Salt, einem Zeitgenossen Muhammeds
erhaltenen „religiösen" Gedichte auf ihre Echtheit und gibt voi
den unverdächtigen Stücken eine kurze Inhaltsübersicht über di(]
darin verwerteten biblischen Themata, die Erzählungen aus de
arabischen Legende, die Beschreibung einer Art von Regenzaubei
die kosmologischen Vorstellungen und die theologischen Gedankel
des Dichters über Gott, die Engel, den Tod und „unsere Mutter*
Erde; als Bezugsquelle dieser Vorstellungen wird Jemen angenommei
— Von der bekannten Fabelsammlung Kaiila wa-Dimna weis
^ Orientalische Studien Theodor Nöldeke zum siebzigsten Gebui
tag (2. März 1906) gewidmet von Freunden und Schülern und in ihrei
Auftrag herausgegeben von Carl Bezold. Mit dem Bildnis Th. Nöldeke'
einer Tafel und zwölf Abbildungen. Zwei Bände. Gießen, Töpelmanu, 190(
Mitteilungen und Hinweise 521
M. Th. Houtsma die Existenz einer metrischen Bearbeitung in
arabischer Sprache nach, die 1900 in Bombay in einer litho-
graphischen Ausgabe erschien. — Eine Untersuchung über den
Aufbau der berühmten Religionsgeschichte „Milal wa 1-Nihal"
des spanischen Zähiriten Ihr Hazm (994 — 1064) führt I. Fried-
länder zu dem Resultat, daß das Buch „zunächst als ein vor-
nehmlich dogmatisches Werk gedacht war, das die gesamte Dogmatik
des Islam vom spezifischen Standpunkt der Zähiriten beleuchten
sollte". — T. J. de Boer teilt eine kurze Inhaltsangabe einer
philosophisch -theologischen Streitschrift über die Personen der
Trinität mit, die er dem bekannten Kufenser Philosophen und
Astrologen Al-Kindi (in der ersten Hälfte des 9. Jahrb.) zuschreibt.
— Auf christliches Gebiet führt ein von L. Cheikho heraus-
gegebener und übersetzter Traktat des nestorianischen Mediziners
und Theologen Hunain b. Ishäq (809 — 873): „über die Art und
Weise, wie man die Wahrheit der Religion erreicht," der sich in
dem großen Werke „Kitäb usul al-din" des Ihn ^Assäl erhalten
hat. — S. Fraenkels Ausführungen über das Schutzrecht beleuchten
eine an Zeremonien und volkstümlichen Gebräuchen reiche Seite
des altarabischen Lebens. — Besondere Beachtung verdienen die
umfangreichen Sammlungen I. Goldzihers über Zauberelemente im
islamischen Gebet, und zwar hauptsächlich solche Elemente, die
sich als „volkstümlich fortlebende Reste aus den Anschauungen
der heidnischen Zeit" erweisen. Unter diesen werden behandelt:
Gottesbeschwörungen' und - bedrohungen , zumal seitens besonders
frommer, heiliger Personen; die Regenrogation ; das stürmisch ein-
dringliche und anspruchsvolle und das schmeichlerische Gebet,
dem besondere Wirkung zukommt; die Benützung bestimmter
Bittformeln, besonders unter Anwendung gewisser, zum Teil
fremden Kreisen entlehnter, zum Teil mystisch klingender Gottes-
namen; endlich eine Reihe von Gesten: der Gebrauch des Zeige -
oder Fluchfingers, das Emporheben und Ausbreiten der Hände bei
bestimmten Gebetsarten und das Streichen des Antlitzes mit den Händen
nach Beendigung eines Bittgebets. — Zweck und Wesen des
Mimbar im alten Islam bespricht C. H. Becker. Danach war das
Mimbar in der ältesten erreichbaren Zeit ein (tragbarer?) Sitz auf
zwei Stufen für das jeweilige Oberhaupt der Gemeinde, den
Sprecher oder Friedensrichter, dem als notwendiges Zubehör ein
Stab beigegeben wurde. Stuhl und Stock (Thron und Szepter)
galten unter Muhammed und seinen ersten Nachfolgern als (von
Gott verliehene) Symbole der Herrscherwürde: ersterer wurde
mit der Ausbildung des islamischen Kultus zur Kanzel, letzterer
zum Stab des göttlichen Sprechers. — Eine Spur ehemaliger
Gruppenehe erkennt Th. W. Juynboll in der allgemeinen Bedeutung
522 Mitteilungen und Hinweise
des arabischen Wortes ^amm^ das nach ihm nicht nur den Bruder
des Vaters (patruus), sondern, wie im Hebräischen, jeden Agnaten,
der zu der Generation des Vaters gehörte, oder im allgemeinen
jeden „Verwandten der älteren Generation" bezeichnet. — Daß
die von A. S. Yahuda gesammelten und erklärten bagdadischen
Sprichwörter auch für die Religionsgeschichte versprengtes Material
enthalten, braucht kaum bemerkt zu werden. — Fr. Schwallys
Beiträge zur Volkskunde des heutigen Ägyptens bringen Mitteilungen
über die Zwei -Ehe, über Hochzeitszeremonien und die mechanische
Defloration, über Votivgegen stände bei der Cairiner Mu'ajjad-
Moschee und wundertätige Steinsäulen, über die Ehrfurcht vor
Objekten, die mit dem Gottesnamen beschrieben sind, und über
allerhand Haus-Aberglauben. — Reiche Ausbeute verspricht auch
der Artikel W. Mar9ais' über Euphemismus und Antiphrase im
heutigen Algerien, wozu gelegentlich altarabische Parallelen an-
geführt werden. Die bekannte Scheu vor dem Gebrauch ominöser
Wörter und deren Ersatz durch solche mit glückverheißendem
Sinn wird hier durch eine Anzahl treif lieber, meist neuer Beispiele
aus Tlemcen und Oran illustriert.
Eine Mitteilung H. Grimmes über den Logos oder Amr in
Südarabien, den er auf sabäischen Inschriften nachzuweisen ver-
sucht und für die Quelle von Muhammeds „Amr -Logos -Lehre"
erachtet, bildet den Übergang zu den Beiträgen auf dem Gebiete
der aramäischen Literaturen. 0. Braun bespricht syrische Texte
über die erste allgemeine Synode von Konstantin opel. — Der von
einem sonst unbekannten, von Ebedjeschu als „Interpres Turcarum"
bezeichneten Nestorianer verfaßte „Wonnegarten", ein syrischer
Bibelkommentar im Anschluß an den liturgischen Jahreszyklus
nach dem Ritus des Klosters „Mär Gabriel und Mär Abraham",
wird von J.-B. Chabot mit besonderer Berücksichtigung der darin
genannten Quellenschriftsteller untersucht. — K. V. Zettersteen
teilt ein volkstümliches nestorianisches Wechsellied zwischen „dem
Teufel und der Sünderin" im Felllhi- Dialekt mit. — Über die
Textgestalt des Targums zu den Klageliedern gibt S. Landauer
auf Grund seiner handschriftlichen Studien eingehende Aufschlüsse,
wonach Lagardes Ausgabe zu verbessern ist. — Auch die Beiträge
M. Gasters zur samaritanischen Masora stützen sich auf un-
gedrucktes Material, sowie auf mündliche Mitteilungen eines ge-
lehrten Priesters, Ishak b. Anoran aus Nablus. — Zwei schwierige
Termini der Nomenklatur in der emanistischen Lehre der Mandäer
bespricht M. Lidzbarski: Uthrä und Malakhä. Als Grundbedeutung
des ersteren Wortes, das in den mandäischen Schriften allgemein
für die Engel, die Boten der Götter und Beschützer der Menschen,
gebraucht ist, wird „Überfülle" angenommen. Auch die Malakhe
Mitteilungen und Hinweise 523
^^erden in den ältesten (magischen) Texten regelmäßig als gute
Schutzgeister erwähnt, wurden aber späterhin als fremde Engel,
böse Dämonen astraler Natur, aufgefaßt und als solche in apotro-
päischem Sinne angerufen, bis sie in der jüngsten Zeit zu himm-
lischen Wesen allgemeinster Natur verblaßten.
Im Bereiche der hebräischen Literatur sind dem Texte des
Sirachbuches zwei Aufsätze gewidmet: ein Specimen criticum mit
besonderer Berücksichtigung der Rhythmik von J. W. Rothstein
und eine Anzahl Randglossen unter Verwendung der parallelen
rabbinisch- talmudischen Literatur von L. Ginzberg. — Der Ein-
fluß von E. Sievers' metrischen Studien auf die biblische Exegese
macht sich bemerkbar in einem Beitrag von B. Stade über die
poetische Form von Psalm 40 und einer Studie W. Nowacks
über „Metrum und Textkritik". — Anmerkungen zu einzelnen
Psalmenstellen steuert T. W. Da vi es bei. — B. D. Eerdmans
nimmt für den Ursprung des Mazzoth- Festes, das er streng vom
Passah getrennt wissen will, ein Erntefest in Anspruch und erklärt
die drei charakteristischen Punkte des Festes aus animistischen
Vorstellungen, zu denen er analoge Erscheinungen bei den Bataks
auf Sumatra anführt. — Eine Skizze über die Ereignisse der
letzten Zeit nach dem Alten Testament entwirft K. Marti. —
Über den Ursprung und die Entwicklung des israelitischen Ephod
handelt E. Seilin: der Lendenschurz, die Tracht der ersten
Menschen bei Ägyptern und Arabern, wurde in Israel bei fort-
schreitender Kultur zur heiligen Tracht, zum gold- und silber-
verzierten Purpurgewand, in dem sich der Priester Gott in seinem
Heiligtum zur Empfangnahme von Entscheidungen und Losorakeln
nahte. Der Losbehälter wurde zum unzertrennlichen Attribut des
Ephod, dieses selbst ward in den Hauptheiligtümem deponiert und
durfte von dem Priester nur auf heiligen Pfaden mitgeführt werden,
bis es später mit dem Verfall der Orakeleinholung außer Gebrauch
kam und zur dekorativen Insignie herabsank. — Den Ausdruck
seßä' hassämajim, unter dem im Alten Testament teils die Sterne,
teils belebte Wesen verstanden werden, deutet G. Westphal als
Ausfluß einer genuin hebräischen alten Märchenwelt, die neben
der Jahwereligion bestand, und versteht darunter ein „Heer, das
oben am Himmel die Schlachten mitkämpfte, die Israel auf Erden
ausfocht"; meteorologischer Ursprung dieser mythologischen Vor-
stellung wird als wahrscheinlich angenommen, — Reiches Material
über die Erscheinungsformen, Attribute und Mythen des phöni-
zischen Gottes Esmun = Asklepios legt W. W. Graf Baudissin
vor. Die Identifizierung beider Gottheiten wird darauf zurückgeführt,
daß von beiden heilende Wirkungen als ausgehend gedacht wurden,
was die richtige Deutung eines von Damascius erzählten Mythos
524 Mitteilungen und Hinweise
bestätigt. Auch für Esmun ist wahrscheinlich als heiliges Tier
die Schlange, das chthonische, auf die Mantik zurückführende Tier
anzunehmen. Hinweise auf Analogien in der Ausgestaltung der
christlichen Heilandslehre beschließen die Studie, zu der des Ver-
fassers Artikel „Der phönizische Gott Esmun" in der ZDMG 59,
459 ff. zu vergleichen ist. — Die Etymologie des hebr. herlth
„(Gottes-) Bund" usw. bespricht C. F. Seybold. — Über die in
jüngster Zeit mehrfach untersuchte Rolle der Leber als Teil des
Opfertieres und den „lobus caudatus" handelt G. F. Moore. — End-
lich ist in diesem Zusammenhange noch der Aufsatz C. H. Toys
über den Ausdruck der Idee eines absoluten, natürlichen „Gesetzes"
bei Israeliten und Arabern zu erwähnen.
Einen verhältnismäßig geringeren Raum der Festschrift nehmen
die Beiträge aus der abessinischen Literatur und die assyrio-
logi sehen Artikel ein. Die äthiopische Übersetzung der fünften
„Demonstration" des persischen Weisen Aphraates aus dem um
340 verfaßten syrischen Original, eine Homilie des Bischofs Jacob
über die Ankunft des Perserkönigs in seinem Bistum Nisibis, ver-
öffentlicht Fr. M. E.Pereira. — C.Bezold teilt die arabisch-
äthiopischen Texte des sog. „Testamentum Adami" mit, dessen
Stundentafel vielleicht auf Stunden -Namen zu reduzieren und dann
in letzter Linie auf babylonische Vorstellungen zurückzuführen ist.
— E. Littmann gibt die wörtliche Übersetzung einer Anzahl
moderner semitischer Stammessagen aus der Tigre- Sprache.
Eine Studie von H. Zimmern über die babylonisch -assyrischen
kultischen Termini pi^ pi „Mundöffnung" (zur Darreichung heiliger
Speise) und mis pi „Mundwaschung" und ihren vermutlichen Zu-
sammenhang mit dem Pethä und MambüJiä der Mandäer eröffnet die
Beiträge auf dem Gebiete der Keilschriftforschung. — M. Jastrow jun.
findet in dem babylonischen Weltschöpfungsbericht deutliche Spuren
zweier verschiedener, aus Eridu bzw. Nippur stammender Episoden
des Gedichtes, die in einer in Babylon vorgenommenen Redaktion
kombiniert wurden. — Für die Beurteilung von P. Jensens Unter-
suchungen über „den babylonischen Sintfluthelden und sein Schiff
in der israelitischen Gilgamesch-Sage" wünscht der Autor selbst
eine vorhergängige Kenntnisnahme von Band I seines demnächst
erscheinenden Werkes „Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur".
— C. F. Lehmann-Haupt sucht Brjhravctg bei Ktesias mit baby-
lonischem Bel-Etana zu identifizieren, während er für BeXrjtdQag bei
Bion und Alexander Polyhistor den babylonischen Namen Bel-etir
in Anspruch nimmt, und zwar als Beiname Sargons I. von Akkad.
Es entspricht dem weiten Umfang der Studien des Gelehrten,
dem die hier angezeigte Festschrift gewidmet wurde, daß in ihr
nicht nur die semitische Philologie vertreten ist. Auch die per-
Mitteilungen und Hinweise 525
sische, türkische und altägyptische Literatur, die griechische
Mythologie, römische Epigraphik und Geschichte, alte Kirchen-
geschichte und Kritik des Neuen Testaments sind zu Worte ge-
kommen, wovon hier zum Schluß die Aufmerksamkeit der Leser
dieses Archivs auf die folgenden Beiträge gelenkt werden darf:
eine vollständige Darstellung der hochpoetischen Schilderungen der
Sonnen- und Mond- Auf- und Untergänge, des Tagesanbruchs,
Mittags, Abends und der Nacht im Schähnähme von P. Hörn;
eine kritische Sichtung des ägyptischen Sprachguts in den aus
Ägypten stammenden aramäischen Urkunden der Perserzeit mit
zahlreichen theophoren Namen von W. Spiegelberg; J. Oestrups
Erklärung des in der Ilias von Chryses angerufenen Smintheus als
des Feldm äuse - oder Pestgottes orientalischen Ursprungs ; der Nach-
weis einer karthagischen Göttertrias in Vergils Aen. 4, 58 durch
A. von Domaszewski und eine Untersuchung über die Häufigkeit
des in der Familie Jesu vorkommenden Namens Panthera von
A. Deißmann. Die Petrusanekdoten und Petruslegenden in der
Apostelgeschichte stellt W. Soltau zusanamen. Endlich entwirft
K. J. Neumann ein anschauliches Bild von den aus den pseudo-
clementinischen Briefen „De virginitate" bekannten „Enthaltsamen",
d. h. den Jungfräulichen beiderlei Geschlechts, einer Wurzel des
späteren Mönchtums, die zur raschen Ausbreitung des Christentums
beitrug und seine planmäßige Unterdrückung durch Decius mit-
veranlaßte.
Es war durch den engen Bahmen dieser „Mitteilung" geboten,
nur solche Beiträge zur Nöldeke- Festschrift ausdrücklich zu nennen,
die in unmittelbarer Beziehung zur Religionsgeschichte stehen oder
sich doch augenscheinlich nahe mit ihr berühren. Damit soll nicht
gesagt sein, daß nicht auch in anderen Teilen des Werkes für den
Keligionshistoriker brauchbare Einzelheiten zu finden seien. Das
alphabetisch geordnete Autorenverzeichnis am Anfang und vielleicht
auch der Eigennamenindex am Schluß des Ganzen mögen dem
Suchenden behilflich sein. In welch ausgedehntem Maße Th. Nöldeke
selbst sich an der Lösung der Probleme beteiligt hat, die im vor-
stehenden angedeutet sind, geht aus der Übersicht seiner Schriften
hervor, die E. Kuhn, sachlich geordnet, an der Spitze des Werkes
veröffentlicht hat. C. Bezold
Rote Farbe im Totenknlt
In seinem lehrreichen Aufsatze „Rot und Tot" Arch. IX
1 — 24 hat V. Duhn überzeugend nachgewiesen, daß die roten
Farbstoffe, welche so häufig in Hockergräbern der Stein- und
frühen Bronzezeit und gelegentlich auch anderwärts gefunden
I
526 Mitteilungen und Hinweise
werden, rituelle Bedeutung haben und Ersatz für Blut darstellen.
Ich stimme um so lieber bei, als ich selbst diese Ansicht aus-
gesprochen und vor 3 Jahren — am 18. Mai 1903 — in einem
"Vortrage in der St. Nestorgesellschaft für Geschichtsforschung zu
Kiew ausführlich zu begründen versucht habe.-^ Ich stützte mich
bei meinen Ausführungen im wesentlichen auf dieselben antiken
und folkloristischen Parallelen und zum Teil auf dasselbe archäo-
logische Material, wie v. Duhn. Indem ich meiner Freude über
dieses Zusammentreffen Ausdruck gebe, erlaube ich mir in einem,
wie mir scheint, nicht unwesentlichen Punkte eine abweichende
Auffassung vorzubringen und bei der Gelegenheit auch einige
Nachträge zu liefern.
Wiederholt spricht v. Duhn von „Rotmalung der Leichen"
(S. 13, 14, 15), von „rotem Anstrich der Leichen vor der Be-
erdigung" (S. 12) und meint, daß diese „rote Bemalung des
Leichnams den Schein des Lebens, ja eines höheren Lebens dar-
stellen sollte" (S. 19). Letztere Ansicht ist gekünstelt und wider-
spricht, streng genommen, der wohlbegründeten Auffassung des
roten Farbstoffes als einer Ablösungsform für Blut. Wo gibt es denn
auch nur eine Spur davon, daß irgendwann irgendwo der Brauch
bestanden, Leichname mit Blut „anzustreichen". Die Fundumstände
steinzeitlicher Hockergräber, wie sie in unzähligen Fällen bei
Ausgrabungen in Südrußland beobachtet worden sind^, sprechen
entschieden gegen eine Annahme beabsichtigter Rotmalung der
Leichen. Niemals ist eine gleichmäßige dünne, den ganzen Körper
bedeckende Farbschicht gefunden worden, wie sie jene Annahme
voraussetzen läßt. Vielmehr nehmen die Farbstoffe immer einen
verhältnismäßig geringen Raum ein, sind dafür aber um so
konzentrierter: meist bilden sie in ihrem jetzigen Zustande ganze
Stücke und Klumpen. Gewöhnlich finden sie sich am Schädel
oder nahe von ihm; seltener an den oberen Brust- und Arm-
knochen, ganz vereinzelt auch an den unteren Extremitäten. Es
kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Farbe in verdünntem
Zustande über den Leichnam ausgeschüttet wurde, nachdem er
bereits im Grabe gebettet war. Einen in dieser Hinsicht überaus
lehrreichen Fall teilt mir mein Kollege J. A. Kulakowski aus
seinen Ausgrabungen in der Krim mit. Ein von ihm aufgedecktes
* Vgl. die Mitteilungen (Ctenija) der St. Nestorgesellschaft XVII
S. 121. Ausführlichere Berichte brachten die Tageszeitungen, z B. die
Kijewskaja Gazeta N. 139 vom 21. Mai 1903.
^ Zu der „neueren uns Westeuropäern zugänglichen Literatur"
(v. Duhn S. 12 Anm. 1) war hinzuzufügen das ausführliche Referat
Stiedas im Archiv f. Anthropologie N. F. II (1904) S. 66 — 72 über den
zusammenfassenden Aufsatz von A. Spicyn {Schriften d. K. Russischen
Archäol. Gesellschaft XI, 1899).
Mitteilungen und Hinweise 527
Hockergrab enthielt zwei Leichen;, über beide lief, beim Kopfe
der einen beginnend, dann auf die Schulterknochen der anderen
hinübergehend, weiter die Brustknochen beider berührend, ein
zickzackförmiger Streifen roter Farbe. Ein derartiger Guß kann
natürlich nicht zum Rotmalen gedient haben, sondern muß eine
Opferspende gewesen sein. Nach dem, was v. Duhn selbst an-
führt (namentlich S. 4 und S. 15), ist es nicht zweifelhaft, daß
die rote Farbe ein Ersatz für Blut ist. In einer noch früheren,
jenen Hockergräbern vorausliegenden Zeit wurde offenbar das Blut
des Opfertieres auf den im Grabe liegenden Leichnam ausgegossen,
natürlich womöglich in und auf den Mund — denn trinken sollte
ja der Verstorbene die Spende. Diese Art der Darbringung wurde
beibehalten, als an Stelle des Blutes in Wasser aufgelöster Eisen-
ocker oder Mennig getreten war. Da diese Flüssigkeit in reich-
lichem Maße auf einen beschränkten Raum ausgegossen wurde,
bildeten sich jene Ocker- resp Mennigstücke und -klumpen,
welche bei den Ausgrabungen sich meist in nächster Nähe des
Kopfes der Leiche finden. Gelegentlich wurde außer der un-
mittelbar ausgeschütteten Flüssigkeit ein weiterer Vorrat derselben
in einem Gefäß, leicht erreichbar für den Toten, in das Grab
gestellt. So erklärt es sich, daß bisweilen der rote Farbstoff auch
in rohen, höchst primitiv ohne Hilfe der Drehscheibe gearbeiteten
Töpfen und Schüsseln gefunden wird.
Diese durch die Fundumstände in den südrussischen Kurganen
nahegelegte Auffassuilg der roten Farbstoffe als Opferspenden wird
durch eine wichtige Beobachtung bestätigt, die E. Riviere an einem
der berühmten steinzeitlichen ^ Hockergräber in den Höhlen der
Balzi Rossi bei Mentone gemacht hat. Er berichtet in seinem
Buche De Tantiquite de l'homme dans les Alpes -Maritimes, Paris
1887 p. 131 folgendes: au-devant de la bouche et des fosses nasales
a six centimetres environ de ces ouvertures etait creuse un sillon
parfaitement regulier, sillon in tentionnel, long de dix-huit centimetres,
large de quatre centimetres et profond de trente-cinq millimetres.
Ce sillon etait rempli de fer oligiste en poudre. Den Zweck
dieser Furche weiß Riviere nicht zu erklären. Offenbar sollte sie
dazu dienen, die das Blut imitierende Ockerfarbe unmittelbar in
den Mund des Beigesetzten zu leiten.
Daß aus der Gepflogenheit, dem Toten einen Guß roter Farbe
als Ersatz für das kostspielige Blutopfer mit in das Grab zu
^ Sie scheinen einer älteren Periode anzugehören, als die süd-
russischen Hocker. Nach Lissauer Zeitschr. f. Ethnol. XXXII 1900, Ver-
handlungen S. 402, stammen die Gräber von Balzi Rossi aus einer
Übergangszeit von der paläolithischen zur neolithischen Periode, in
welcher der Mensch noch keine Töpferei kannte.
528 Mitteilungen und Hinweise
geben, sich mit der Zeit die Sitte entwickelt habe, den Leichnam
rot anzustreichen und auch die vorher entfleischten Knochen rot
zu malen, ist ja sehr wohl möglich und wird durch die von
V. Duhn angeführten ethnographischen Parallelen wahrscheinlich.
Es schien mir aber von Wichtigkeit, die ursprüngliche Grundlage
dieses Gebrauches schärfer hervorzuheben, und ich meine, wir
haben dadurch ein wertvolles Zeugnis für das Fühlen und Denken
des primitiven, auf der untersten Kulturstufe stehenden Menschen
gewonnen.
Die Hypothese von einer (nicht rituellen) Rotmalung der
Leichen ist von Prähistorikern aufgebracht, welche weder die
funerale Bedeutung des Blutes noch seine bereits von Varro er-
kannte Ablösung durch rote Farbmittel kannten. Colinis Aufsatz,
auf den sich v. Duhn S. 8 beruft, ist mir unzugänglich, und ich
weiß nicht, was es mit seinen „Pintaderas" für eine Bewandtnis
hat. Ein anderer Prähistoriker, der öfters zitiert wird und
angeblich bewiesen haben soll, daß die rote Farbe in den Hocker-
gräbern zur Bemalung der Haut gedient habe, ist R. Forrer,
Über Steinzeit -Hockergräber zu Achraim, Nagada etc. in Ober-
ägypten und über europäische Parallelfunde, Straßburg 1901.
Auf S. 34 findet man dort folgende Beweisführung: den ägyptischen
Hockern sind regelmäßig dünne Schieferplatten beigegeben, welche
als Paletten zum Anreiben von Farben gedeutet werden; ähnliche
„Paletten" sind auch in Pfahlbauniederlassungen der Schweiz
gefunden worden; daraus folge, daß die Farbenreste in den euro-
päischen Hockergräbern zur Bemalung der Haut bestimmt gewesen
seien. Diese Argumentation hat vor allem die klaffende Lücke,
daß bis jetzt, soviel ich weiß, nie rote Farbe und „Paletten"
zusammen gefunden worden sind: in den ägyptischen Gräbern
fehlt die Farbe, in den europäischen fehlen die „Paletten".
Zu den Belegstellen auf S. 4 für den Gebrauch roter Tücher
als Blutersatz beim römischen funus füge hinzu: Stat. silv. H 1, 159
quod tibi purpureo tristis rogus aggere crevit und Theb. VI 62 Tyrioque
attollitur ostro molle supercilium. Auch die bei Cic. de legg. II
§ 59 leider korrupt überlieferte Vorschrift der XII Tafeln (extenuato
igitur sumptu tribus reciniis et *vincla purpurae et decem tibicinibus
tollit etiam luctum) gehört wohl hierher. Ein interessanter Nach-
klang dieses Gebrauches hat sich bis auf unsere Zeit bei der Be-
stattung der Päpste erhalten. Bevor der Sarg Leos XI IL nach
Beendigung der solennen Leichenfeier für immer geschlossen wurde,
um in einer Nebenkapelle von St. Peter seiner Überführung nach
dem Lateran entgegenzuharren , wurde über die Leiche eine leichte
Decke aus hochroter Florettseide gebreitet. Der Sarg selbst
war im Innern mit karmoisinrotem Sammet ausgeschlagen —
Mitteilungen und Hinweise 529
alles nach altüberliefertem Herkommen.^ Hier haben wir ein her-
vorragendes Beispiel dafür, wie Anschauungen und Sitten der
primitivsten Urzeit bis auf unsere Tage nachwirken.
A. Sonny
A Note on the controversy as to the origin of the Lares
In the Archiv for 1904 p 42 foll, Wissowa replied to
criticisms of his view that the origin of the Lar familiaris is
to be found in the compita and not in the house, and that on that
account the Lares cannot have been the spirits of dead ancestors,
as De Marchi and E. Samter still maintain. With this view of
Wissowa's I entirely agree, and his answer to his critics appears
to me convincing; but there is one difficulty which in the article
in question he does not entirely clear up. How did the Lar come
to be transferred to the house from the compitum?
On p. 56 he writes: Mit dem Übergange ländlicher Ver-
hältnisse in städtische hat sich allmählich der Lar familiaris,
d. h. der Lar des Grundstückes, ohne daß darum der gemeine Dienst
an den Compita aufhörte, ins Haus gezogen und dort mit Vesta
und den Penaten zu einer Gruppe von Herdgottheiten vereinigt
usw. To me it seems that the Lar must have gained an entrance
into the house hefore the change from rural to urban life , and I think
we have some means of conjecturing how it was effected. I believe
that he gained admittance through the slaves of the farm , as these
increased in number and importance, and as yet were not drawn from
distant regions, but were prisoners taken from neighbouring cities,
or debtors condemned to slavery.
These slaves could of course have had no share in the worship
of Vesta and the Penates; the hearth was the peculiar careofthe
daughters of the family, and the penus of the materfamilias and the
children; nor is there any trace in the cult of Vesta and the
Penates as embodied later in the State worship of a share taken
by any stränge or unfree person. But this is not the case with
the cult of the Lar; we know that slaves took part in the Com-
pitalia, where the Lares of the com^pita were the objects of worship,
as well as in other festivals which were clearly descended from
the religion of the farm, the Paganalia and probably the Satumalia.
As to the Compitalia, Dionysius teils us that (IV. 13. 2) a Servius
Tullius included the slaves in the actual ritual, because the Lares
were glad to have their Service: a passage which we cannot trace
^) Vgl. die Berichte der Tagespresse, z. B. Berliner Tageblatt vom
27. Juli 1903.
530 Mitteilungen und Hinweise
to any source except the practice itself , but which is quite borne
out by wbat we learn from Cato about the relations between the
slaves and the Lar. In R. R. 5 (quoted by Wissowa on p. 50)
we find that the vilicus must not ^facere rem divinam nisi Compi-
talibus in compito aut in foco', — a passage which seems to me
to indicate that he might sacrifice for his fellow slaves to the Lar
at the compitum, or to the Lar in the house, if the Lar tvere already
transferred from the compitum to the house. So too the vilica
might and should adorn the focus with a Corona on calends nones
and ides, and on the days of the lustratio agri she might 'supplicare'
to the Lar familiaris pro copia; representing the female slaves of
the house, she thus had a modest share in the worship of the
Lar, but not in that of any other deity. (Cato R. R. 143.) In
all other family rites the paterfamilias sacrificed for the whole
familia, including the slaves, except when he deputed this duty
to his vilicus, as might often happen in the frequent absence of
the latter at Rome or in the army, just as the duties of the Anglo-
Saxon manor were undertaken by the Gerefa, usually a villanus
or serf, in the place of the absentee landlord. It seems clear
then that the worship of the Lar at the compitum or in the house
came more and more distinctly to be the right of the vilicus and vilica,
and through them of the slaves of the familia, perhaps even without
the necessity of obtaining leave or receiving Orders to that effect
from the master; and thus the Lar came to be called by the epithet
familiaris, which plainly signified that in his cult the slaves were
included. Now we know that it was the old custom for the slaves
to sit at the meals of the family on subsellia (Marquardt
Privatalt. I. 171); what then more natural than that they should
be recognised as having a claim to see and worship there the only
deity of the farm to which they were closely attached? What
more natural than that they should bring the Lar with them from
the compitum to the house, especially in the frequent absence of
the master? In other words, as the slaves came to be more and
more distinctly recognised as members of the economical Community
of which the house was the centre, the one deity whom they had
always worshipped on the land followed them into the house.
"W. "Warde Fowler
F. Blaß hat auf der theologischen Konferenz in Eisenach einen
Vortrag über die Textkritik im Neuen Testament gehalten^,
der nicht nur eine höchst populäre Einführung in die Probleme
^ F. Blaß Über die Textkritik im Neuen Testament. Leipzig, Deichert
1904. 0.80 M.
Mitteilungen und Hinweise 531
bietet, sondern vor allem eine beredte Apologie der „völligen
Harmlosigkeit" der von Blaß geübten Methode darstellt. Dies für
die echte Kritik geradezu typische Prädikat der „Harmlosigkeit"
geht ihr eben nur dann ab, wenn Leute wie Harnack und andere
Vertreter der „Pseudo Wissenschaft", in „dogmatischen Vorurteilen"
befangen und den Kopf angefüllt mit „eigenen oder fremden
Phantasien", sie zu handhaben versuchen. „Wir Philologen" —
meint B. — „pflegen allerdings auch manches für interpoliert zu
erklären und wenn wir eine Stelle für unverständlich halten, so
konjizieren wir": ja er gibt den Rat, Konjekturen „zunächst einmal
zu machen, und dann sich umzusehen, ob nicht doch irgendwo
Zeugen dafür sind"; aber auf diese Weise entstehen doch nie
„seelengefährliche Irrtümer". — Kurz — man lese das Büchlein,
um zu sehen, wohin theologischer Eifer einen ernsthaften Philologen
führen kann, sowohl hinsichtlich der Achtung vor ehrlicher Arbeit
anderer Leute, wie hinsichtlich der Willkür in der Behandlung
eines in seinen historischen Voraussetzungen nur halbverstandenen
Textes.
Ein zweibändiges Werk über Paulus verdanken wir dem
emsigen Fleiß C. Clemens.^ Der erste Band enthält die „Unter-
suchung" der Vorfragen: Echtheit der Paulinischen Briefe resp.
einzelner Teile in ihnen, Quellen und Glaubwürdigkeit der Apostel-
geschichte, sowohl der kanonischen wie der apokryphen, Chronologie
des Lebens und der Schriften des Paulus. Der zweite Band gibt
eine lebendig geschriebene Darstellung des Lebens und Wirkens
des Apostels, in welche die Grundzüge seiner Theologie, sowie
Inhaltsübersichten seiner Briefe geschickt verflochten sind. Der
Wert des Werkes beruht in der überaus sorgfältigen Zusammen-
stellung und vorsichtigen Beurteilung des bisher Erarbeiteten,
nicht im Erschließen neuer Bahnen für künftige Forschung. Ins-
besondere verdient die eingehende Berücksichtigung der englischen
und amerikanischen Literatur, in der C. wie nur wenige deutsche
Gelehrte zu Hause ist, unseren Dank, während demgegenüber die
neuere deutsche „religionsgeschichtliche" Forschung entschieden zu
kurz kommt. Die Verlagsbuchhandlung würde deshalb nicht nur
sich selbst, sondern auch der Wissenschaft einen großen Dienst
erweisen, wenn sie den Verfasser veranlaßte, noch nachträglich ein
genaues Inhaltsverzeichnis oder Sachregister anzufertigen, und
wenn sie dies den Besitzern nachlieferte: in seiner jetzigen Form
ist dies doch gerade als Nachschlagebuch überaus wertvolle Werk
einfach unbenutzbar für jeden, der es nicht von A bis Z gelesen
1 C. Clemens Paulus, sein Leben und Wirken. Gießen, Rickert
1904. 2 Bde.
532 Mitteilungen und Hinweise
und sich selbst ein Register angefertigt hat: und das kann man
nicht von jedem — z, B. den Lesern dieser Zeitschrift — ver-
langen !
Die Anfänge der Kirchenverfassung erörtert allein auf
Grund der Quellen „in streng methodischer Weise" „ohne jede
andere Voraussetzung, als daß wir es mit wahren geschichtlichen
Zeugnissen zu tun haben "^ in einem ziemlich umfangreichen Buch
der Jesuit H. Bruder.^ Durch geschickte Kombination später
und früher Zeugnisse, Einfügung der erforderlichen Zwischen-
gedanken an geeigneten Punkten mit reichlicher Phantasie und
völliges Ignorieren der Literatur und damit auch der vorhandenen
Schwierigkeiten gelingt es ihm, in scholastisch logischem Beweis-
gang den monarchischen Episkopat als ein bereits in apostolischer
Zeit vorhandenes und keineswegs bloß auf „Ordnen und Vorstehen"
beschränktes Amt nachzuweisen. Da dies Resultat vom katholischen
Dogma vorgeschrieben wird, so ist gegen seine Erreichung an sich
nichts einzuwenden: nur hätte der Weg nicht so primitiv zu sein
brauchen, daß für den historisch denkenden Leser auch nicht das
geringste Brauchbare abfällt!
Einen nützlichen Neudruck der von Kimmel und Weißenborn
(1850) besorgten „Monumenta fidei ecclesiae orientalis"
liefert Michalcescu.^ Er gibt den Kimmeischen Text wieder und
schickt den einzelnen „Bekenntnisschriften" kurze historische Ein-
leitungen voraus. Zugefügt sind dogmatische Synodalbeschlüsse in
sehr kärglicher Auswahl, sowie die Chrysostomusliturgie, die Basi-
lianischen Mönchsregeln und liturgische Gebete und Lieder.
Ein völlig neues Werk stellt die vierte Auflage der Loofs-
schen Dogmengeschichte^ dar: aus dem bewährten Studentenbuch
ist jetzt ein — oder vielmehr „das" — bis ins kleinste Detail die
Probleme erörterndes Lehr- und Nachschlagewerk geworden, das
unter beständigem Verweis auf die Quellen und diejenige Literatur,
aus der etwas zu lernen ist, über die gegenwärtige Kenntnis der
Pogmengeschichte erschöpfenden Aufschluß gibt. Die bereits in
den früheren Auflagen befolgte Methode, die Anschauung des betr.
Schriftstellers durch ein Mosaik von Originalzitaten, die durch
deutsche Zwischensätze verbunden werden, zum Vortrag zu bringen,
^ H. Bruder d. J. Die Verfassungen der Kirche von den ersten
Jahrzehnten der apostolischen Wirksamkeit an his zum Jahre 175 n. Chr.
= Forschungen z. christl. Literatur u. JDogmengesch. IV 1. 2. Mainz,
Kirchheim 1904.
^ OriöavQos r?Js ögd'odo^Lag Die Bekenntnisse und die wichtigsten
Glaubenszeugnisse der griechisch -orientalischen Kirche von Jon Michal-
cescu. Eingeführt von Prof. D. Albert Hauck. Leipzig, Hinrichs 1904.
* F. Loofs Leitfaden zum Studium der Bogmengeschichte, 4. völlig
umgearbeitete Auflage. Halle, Niemejer 1906.
Mitteilungen und Hinweise 533
hat L. hier zur Meisterschaft ausgebildet und zugleich durch ge-
schicktere typographische Anordnung das in den früheren Auflagen
Störende beseitigt. Die bisher erschienene erste Hälfte reicht bis
zu Thomas v. Aquin und enthält somit die für die Leser dieser
Zeitschrift wichtio^ste Partie. Hans Lietzmann
„Mutter Erde" im Sanskrit
Die volkstümliche Anschauung von der „Mutter Erde", die
uns A. Dieterich kürzlich näher gerückt hat, und die Sitte, die Frau
umgekehrt auch wieder als ein Saatfeld aufzufassen, ist auch dem
indischen Altertum eigen und tritt uns da mehrfach in sicheren
Spuren entgegen, und zwar großenteils schon in den Veden.
a) Zunächst werden Himmel und Erde ausdrücklich als ein
Ehepaar hingestellt, mit der Dualform matara (wörtlich „die beiden
Mütter") als „die beiden Eltern" bezeichnet und von den Sängern
angerufen, daß sie ihre Kinder, die Menschen, beschützen, nähren
und fördern sollen. So heißt es im Rigveda (nach Graßmann):
1, 159, 2. 3 (an Himmel und Erde):
„Und mit Gebeten denk' ich an des Vaters Geist,
Des gütigen, und an der Mutter große Macht;
Die samenreichen Eltern schufen alles Sein,
Unsterblichkeit den Söhnen weit im weiten Raum.
Und diese Söhne, reich an Kunst und Wunderkraft,
Gestalteten sogleich das große Elternpaar;
Im Umfang dessen, was da geht und steht, beschützt
Den festen Ort des Sohnes ihr, der nimmer täuscht."
10, 64, 14 (an alle Götter):
„Denn Erd' und Himmel, sie die großen Göttinnen,
Die hehren Mütter, kommen mit der Götter Stamm,
Mit Nahrung nährend beide beiderlei Geschlecht,
Und strömen durch die Väter vielen Samen aus."
9, 85, 12:
„Gandharva hat des Himmels Höh' erstiegen,
Mit hellem Lichte hat sein Glanz gestrahlet,
Die Welteneltern hat erhellt der lichte."
1, 89, 4 (an die Maruts):
„Dies Labemittel wehe uns der Wind herbei,
Die Mutter Erde und der Vater Himmel dies,
Die Steine dies, die somapressenden, zum Heil;
Vernehmet dies, o gabenreiche Ritter, ihr."
6, 51, 5:
„0 Vater Himmel, treue Mutter Erde,
0 Bruder Agni, seid uns hold, ihr guten!"
Archiv f. Eeligionswissenschaft IX 35
534 Mitteilnngen und Hinweise
6, 70, 6: '
„Die Erd', der Himmel mögen stärken unsre Kraft,
Als Mutter, Vater, alles schenkend, tatenreich ! "
6, 72, 2 (an Indra-Soma);
„Das Morgenrot erhellt ihr, Indra-Soma,
Und führt herauf mit ihrem Licht die Sonne,
Den Himmel stütztet ihr mit fester Stütze
Und dehntet weithin aus die Mutter Erde."
Ein Lied (l, 160) preist beide sogar in einem merkwürdigen,
echt altindischen Vergleich, den Himmel als „den samenreichen
Stier", die Erde als „bunte Kuh".
Noch öfter aber wird einfach nur die „Mutter Erde" für
sich erwähnt; so z. B.: 10, 62, 3 (an die Angiras):
„Die fromm die Sonne setzten hoch am Himmelszelt,
Und die die Mutter Erde weithin breiteten,
0 Angiras, euch werde reicher Enkel Schar!"
3, 8, 1 (an die Opfersäule, den „Waldesherrn"):
„Es salben dich beim Fest die frommen Männer,
0 Waldesherr, mit süßer Götterspeise;
Verleih uns Schätze, wenn du aufrecht dastehst,
Und wenn du ruhst im Schöße dieser Mutter!"
5, 42, 16:
„Die Erde, Luft, die Bäume und die Kräuter alle
Erreiche dieses Loblied, Reichtum schaffend;
Ein jeder Gott erhöre recht mein Rufen,
Nicht geb' uns hin der Ungunst Mutter Erde."
Ähnlich drücken sich spätere Schriften aus, am deutlichsten
noch Manus Gesetzbuch (Sacred Books of the East XXV, nach
Bühlers englischer Übersetzung) 2, 225 f.:
„The teacher, the father, the mother and an eider brother must not
be treated with disrespect, especially by a Brähmana, though one be
grievously offended (by them); [226:] The teacher is the image of
Brahman, the father the image of Prajäpati (*the lord of created beings'),
the mother the image of the earth."
Etwas verschleierter heißt es im Satapathabrahmana (Sacred
Books XLI nach J. Eggelings Übersetzung) 5, 2, 1, 18:
„Thereupon, while looking down upon this (earth), he mutters:
'Homage be to the mother Earth! Homage be to the mother Earth!'
For, when Brhaspati had been consecrated, the earth was afraid of
him; — Hence he entered into a friendly relation with her; for a mother
does not hurt her son, nor does a son hurt his mother."
5, 4, 3, 20: „Looking down on this (earth), he then mutters: 0
mother Earth, injure me not, nor I thee! For the earth was once afraid
J
Mitteilungen und Hinweise 535
of Varuna. — — Hence by that (formula) he entered into a friendly
relation with her; for a mother does not injure her son, nor does a
son injure his mother."
In Boehtlingks Sammlung Indischer Sprüche femer steht
(12163, 24786):
„0 Mutter, Erde, Vater Luft, Freund Feuer, lieber Schwager
Wasser, Bruder Äther, zum letzten Male lege ich jetzt ehrfurchtsvoll
die Hände zusammen."
Endlich erklären Wörterbücher den Ausdruck „Mutter"
(mätar-) geradezu mit „Erde" (prtJiwi).
b) Die umgekehrte Anschauung dagegen, daß die Frau ein
Ackerboden, ein Saatfeld sei, knüpft sich, soweit ich das jetzt
ohne weitere Nachforschung übersehen kann, an zwei auch in ihrem
gegenseitigen Verhältnis bemerkenswerte Ausdrücke an: der eine
(hija-m n.), eine Bezeichnung für den „Samen", wird ohne Unter-
schied von Pflanzen, Tieren und dem Manne gebraucht; der andere
(Ksetra-m n.), von Hause aus die Benennung lür eine „Nieder-
lassung" und etymologisch im Stamm dem griech. KtiGig ent-
sprechend, gibt ursprünglich die Begriffe „Grundbesitz, Grundstück,
Feld" wieder, dann aber übertragen auch die Begriffe: „der frucht-
bare Mutterleib; das als Feld gedachte Eheweib, welches der
Ehemann selbst bestellt oder durch einen anderen bestellen läßt";
indische Wörterbücher (Amarakosa, Hemacandras beide Sammlungen,
der Medinikosa) erklären diesen zweiten Ausdruck darum auch
kurzweg durch Wörter, die „weibliche Scham" (hJidga-) oder
„Schoß, Mutterleib, vulva" (yöni- mf.) oder „Gattin" Qjätm f.)
bedeuten. Ableitungen von diesem Worte sind auch häufig ge-
braucht: paraksetra-m n. „eines Fremden Acker, eines anderen
Weib," besonders aber ksetraja-s „feldgeboren", d. h. „ein mit der
Frau eines kinderlosen Mannes durch einen anderen rechtmäßig
erzeugter Sohn".
Wir verzeichnen die wichtigsten der uns zu Gebote stehenden
Belege.
Das Wort für „Same" kommt in der hier betrachteten sinn-
lichen Verwendung mit Bezug auf ein Weib schon im ßigveda vor,
freilich in einem der spätesten Teile und auch noch in einem ein-
geflickten Verse, nämlich 10, 85, 37 (und entsprechend Atharvaveda
3, 23, 4); hier heißt es (nach Graßmanns Wortlaut, mit dem
übrigens Ludwig im wesentlichen übereinstimmt):
„(Schaffe uns, 0 Pusan, diese heilbringendste herbei,)
In die die Menschen ihren Samen streuen."
Viel häufiger, dafür aber auch erst viel später ist der Aus-
druck „Saatfeld" im Sinne von „Mutterleib" belegt; er gehört
35*
536 Mitteilungen nnd Hinweise
der Rechtsspraclie an und begegnet darum auch in allen Rechts-
büchern. Diese Rechtsbücber setzen die Vorstellung von der Mutter
Erde ohne weiteres voraus und brauchen nicht nur die uns hier
angehende Wortsitte, sondern verdeutlichen auch das Eherecht
(Beischlaf mit der Schwägerin, Ehebruch u. dgl.) und das Erbrecht
fortwährend durch Vergleiche aus dem Pflanzenleben.
Bei Manu heißt es (wieder nach Bühlers englischer Über-
setzung in Sacred Books of the East XXV) 9, 33:
„By the sacred tradition the wo man is declared to be the seil,
the man is declared to be the seed; the production of all corporal
beings (takes place) through the union of the soil with the seed."
9, 37: „This earth indeed is called the primeval womb of created
beings, but the seed develops not in its development any properties of
the womb."
9, 166: „Him, whom a man begets on his own wedded wife
(wörtlich: 'im eigenen Saatfeld bei der rechtmäßigen Gattin'), let him
know to be a legitimate son of the body, the first in rank."
3, 175: „But those two creatures, who are born of wives of other
men (wörtlich: 'im Fremdacker')."
9, 51: „Thus men, who have no marital property in women, but
sow their seed in the soil of others, benefit the owner of the woman;
but the giver of the seed reaps no advantage;" usw.
Närada (Sacred Books XXIII, übersetzt von J. JoUy) sagt
12, 55:
„When seed is strewn on a field without the knowledge of the
owner , the giver of the seed has no share in it ; the fruit belongs abso-
lutely to the owner of the field."
12, 59: „Grrain cannot be produced without a field nor can it be
produced without seed; therefore ofFspring belongs by right to both,
the father as well as the. mother."
Närada in Day. 82:
„Wessen Samen auf einem von dem Ehemann abgetretenen Saat-
feld ausgegossen wird, dessen Nachkommenschaft gilt als herrührend
von zwei erzeugenden Ehemännern."
Yajnavalkya 2, 127:
„Ein Sohn durch einen Kinderlosen auf Geheiß erzeugt in einem
fremden Saatfeld."
Endlich steht auch im Mahabharata z.B. (l, 4661):
„Wie auch ich in des Vaters Saatfeld erzeugt durch einen großen
Sangesheiligen (großen Rischi)."
Zwei vedische Stellen sind leider zweifelhaft; die eine,
Rigveda 1, 119, 7, nach Graßmanns Fassung:
„Ihr Helfer habt den altersschwachen Vandana,
Wie künstlich einen Wagen, neu zurecht gemacht.
Gezeugt den Sänger aus dem Boden wundersam;
Dem Frommen hier sei hilfreich eure Wundermacht!"
Mitteilungen und Hinweise 537
deutet ein alter Erklärer, Säyana, in unserem Sinne; in der
anderen, Atharvaveda 11, 1, 28, wäre dagegen nach V. Henrys
Auffassung „Saatfeld" im eigentlichen, nicht in dem übertragenen
Sinne gebraucht; darum übersetzt er: „Le (fruit) mür de mon champ,
c'est ma (vache), qui se laisse traire a souhait."
L. Sütterlin
In zwei fast gleichzeitig erschienenen neuen Arbeiten „Die
Sage vom ewigen Juden in der neueren deutschen
Literatur" von Dr. Johann Prost, Leipzig 1906 (Georg Wigand)
und „Ahasver-Dichtungen seit Goethe" von Albert Soergel
(Probefahrten. Erstlingsarbeiten an dem Deutschen Seminar in Leipzig.
Herausgegeben von Albert Köster. Sechster Band. Leipzig 1905.
R. Yoigtländer) wirci wieder einmal die künstlerische Entwickelungs-
geschichte eines Stoffes verfolgt, der neben der Faustsage vielleicht
am nachhaltigsten die Einbildungskraft der Dichter und des Publi-
kums angeregt und gereizt hat, ohne allerdings wie die letztere durch
eine geniale Konzeption zu einem äußeren Abschluß in seiner Gestaltung
gelangt zu sein. Für die Religionswissenschaft wäre die Ahasversage
kein ungeeignetes Versuchsobjekt, um den Prozeß der Legenden- und
Sagenbildung zu verfolgen, soweit er in heller historischer Zeit durch
die literarische Formung beeinflußt wird. Wie kümmerlich sind die
Wurzeln der Ahasverlegende , und wie ist sie allmählich zu einem
weitverzweigten Stainme legend arischer und sagenhafter Motive an-
gewachsen, an dem, von allen Seiten sich entwickelnde Überlieferungen
apologetische und zeitgeschichtliche Tendenzen, immer neue Jahres-
ringe bilden. Diesen Problemen gehen selbstverständlich beide der
obengenannten Arbeiten nicht nach, aber die zweite von Soergel,
die in jeder Beziehung — wissenschaftlich und formal — der von
Prost weit überlegen ist, geht ihnen wenigstens nicht ganz aus
dem Wege, streift sie in den ersten Kapiteln „Die Sage", und
„Ahasver in der Volksdichtung" und verliert sie auch im Laufe
der Darstellung nicht völlig aus den Augen. — Die unmittelbaren
kirchengeschichtlichen und theologischen Beziehungen zu „Goethes
Fragmenten vom ewigen Juden und vom wiederkehrenden Heiland"
hat schon vorher Jakob Minor (Stuttgart 1904) dargestellt, der
in drei Kapiteln die Vorgeschichte, die Goetheschen Fragmente
und die Nachgeschichte dieser Bruchstücke behandelt und zur Er-
klärung die theologischen Zeitfragen heranzieht. Eine Reihe von
Einwänden und Bedenken gegen Minors Darstellung hat Ernst
Traumann in seiner ausführlichen Rezension dieses Buches (Lite-
raturblatt für germanische und romanische Philologie 1905 Nr. 7)
veröffentlicht. Immerhin ist durch alle diese Publikationen das
538 Mitteilungen und Hinweise
wissenschaftliche Interesse an der Legende wieder geweckt worden,
vielleicht zieht daraus auch die Religionswissenschaft einigen
Nutzen. M. v. Waldberg
Sterbende werden auf die Erde gelegt
Über diese alte Sitte haben in der letzten Zeit K. Weinhold
(Ztschr. des Ver. für Volkskunde 11, 221), W. Caland und
E. Samter gehandelt (s. die Literatur bei A. Dieterich, Mutter
Erde, 1905, S. 26 f.). Ich vermisse bei den genannten Autoren
einen Hinweis auf die Ausführungen von R. Cruel in seiner
Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879.
An zwei Stellen spricht Cruel von der alten Sitte. Auf S. 239
sagt er: „Wenn des Kranken letzte Stunde nahe schien, so wurde
er vom Bette aufgehoben und auf einer ausgebreiteten Decke auf
die Erde gelegt, um hier zu sterben. Bei Laien war es zugleich
Sitte, ihm eine geweihte Kerze in die Hand zu drücken^, was in
einzelnen katholischen Gegenden noch heute geschieht. Auf der
Erde zu sterben galt als gleich notwendig für Hohe und Niedere,
Weltliche und Geistliche; und wenn die Anwesenden nicht dafür
sorgten, befahl es der Kranke oft selber. Rührend lautet es daher
in den einfachen Klostergeschichten des Cäsarius von Heisterbach,
wenn der sterbende Bruder im Infirmitorium seine Pfleger mahnt:
Sternite mattam et pulsate tabulam! breitet die Decke aus und
schlagt die Tafel! Letztere diente statt der Glocke^, um den
Konvent zusammenzurufen, der dann am Sterbelager Gebete las
und Psalmen sang, bis der Tod eingetreten war. Ebenso heißt
es von der Königin Mathilde (f 968): Als aber die neunte Stunde
kam, befahl sie, ein grobes Tuch auf den Boden zu breiten und
ihren sterbenden Körper darauf zu legen, indem sie mit eigener
Hand sich Asche auf das Haupt streute. 'Denn ein Christ', sprach
sie, ^darf nicht anders als in Sack und Asche sterben'. Äbte und
Bischöfe ließen sich vor dem Tode gern in die Kirche tragen und
^ Cruel hat wohl Stellen im Auge wie Caesarius Heisterbacensis
Bialogus miraculorum VII, 22: Nobilis vir Otto febre invales-
cente desperatus, et depositus, candela more saecularium manui
eius impressa, omnibus qui aderant visus est exspirasse; VIII, 74:
cum .... quasi iam morituro data fuisset candela in manu.
Sonst vgl. zu der „Sterbekerze" z. B. Rochholz Deutscher Glaube iind
Brauch 1, 167: Samter in den Neuen Jahrbb. f. d. klass. Altertum 1905,
I, S. 34 ff.
* Zu der von Cäsarius oft erwähnten Sterbe- oder Totentafel
(tabula morientium s. detunctorum) vgl. Ducange s. v. 4. Tabula und
Jac. Grimms Kleinere Schriften 4, 345; auch Martene De antiquis
monachorum ritibus V., c. IX, § 24.
Mitteilungen und Hinweise 539
vor dem Altare niederlegen, uni dort ihre Auflösung zu er-
warten."
Hierzu gestatte ich mir einige Bemerkungen und Ergänzungen,
da Cruels Zitate aus der herangezogenen Literatur, wie oft, so
auch hier, „spärlich und wenig präzis" sind^. Die Stelle, die
Cruel aus den Klostergeschichten d.h. dem Dialogus miraculorum
des Cäsarius von Heisterbach zitiert, steht daselbst XI, 19, wo
der Mönch Allard zu seinem Pfleger Adam spricht: Stemite mihi
mattam, et pulsate tabulam, quia Dominus vocat me. Oder Cruel
meint Dial. XI, 5, wo ein sterbender junger Laie fast dieselben
Worte spricht. Sonst vgl. VII, 51, Schluß. XI, 6 (der Laien-
bruder Obertus liegt, wie es Brauch ist, auf der Decke und
haucht seinen Geist aus. Plötzlich kehrt er ins Leben zurück und
wird, auf Befehl des Abtes, wieder ins Bett gebracht — repositus
est in lectum suum. Ein ganz ähnlicher Vorgang wird z. B.
auch VII, 22 erzählt). XI, 9. 16. 17. 25 (strata matta, se in
ea reposuit, et per tabulam conventum advocari fecit). XI, 36.
Das Niederlegen eines Sterbenden auf den Boden (deponere ad
oder in terram) erwähnt Cäsarius im Dialogus VII, 22. VIII,
30. XI[, 5. Vgl. auch Ducange s. v. Deponi ad terram und
E. Martene, De antiquis monachorum ritibus, Lugduni 1690, lib. V.
c. IX. § 4. 7 — 9. 17. 31 (Etsi nonnuUos legamus extremum in
lecto spiritum reddidisse, [notandum] communem tamen monas-
teriorum usum habuisse, ut ad terram in cinere et cilicio depositi
morerentur; quam jiraxim plurimis exemplis confirmare possumus).
Was Cruel von dem Ende der Königin Mathilde erzählt,
steht, wie er selbst angibt, bei Pertz, Monumenta VI (Scriptorum
tomus IV.), p. 301. Die Worte: Non decet Christianum nisi in
cilicio et cinere mori werden auch sonst Sterbenden in den Mund
gelegt; vgl. die Stellen bei Martene a. a. 0., § 31 und bei
Alteserra, Origines rei monasticae lib. V. c. 22 (Monachorum mors
in cinere et cilicio), in Glücks Ausgabe, Halle 1782, S. 503 ff.
Daß sich Äbte und Bischöfe beim Herannahen des Todes in
die Kirche tragen und vor dem Altar niederlegen ließen, wird
oft berichtet. Cruel selbst erzählt es z. B, von dem Bischof
Mein werk von Paderborn (f 1036) auf S. 94 seines Buches.
Andere Beispiele von solchen, „qui supremum in ecclesia spii'itum
ad aras exhalare voluerunt," bei Martene a. a. 0., § 32 — 33.
Auf die uns beschäftigende Sitte kommt Cruel noch einmal
zurück. Nachdem er aus einer Predigt Gottschalk Hollens^
^ Edward Schröder im Anzeiger für deutsches Altertum VII, 173.
* Hollen starb nach 1481. Crane bezeichnet HoUens Predigten als
„a perfect mine for the study of mediaeval superstitions '^ und weist u. a.
auch gerade auf die von Cruel exzerpierte Predigt I Nr. 47 besonders
540 Mitteilungen und Hinweise
einen die mittelalterliche Volksmedizin betreflFenden Auszug ge-
geben hat, bemerkt er auf S. 619: „Interessant ist es hier zu
beobachten, wie frühere kirchlich geheiligte Sitten allmählich aus
der Öffentlichkeit verschwinden, dagegen heimlich im Dienste von
Magie und Aberglauben noch fortleben. So haben wir gesehen,
daß es in der ersten Periode [600 — 1200] allgemein frommer
Brauch war, die Sterbenden vom Bette zu heben und auf dem
Boden liegend ihre Seele aushauchen zu lassen. Im 14. Jahr-
hundert wurde dies nach und nach als rohe Grausamkeit erkannt
und aufgegeben, erscheint aber im 15. Jahrhundert unter den
Superstitionen. Denn wenn ein Kranker nicht sterben kann, heißt
es in obiger Predigt, so decken abergläubische Leute das Dach
über ihm ab^ und heben ihn aus dem Bette, weil sie sagen, daß
die Feder irgendeines Vogels darin sei, die ihn zu sterben ver-
hindere, aber infolge davon töten sie ihn."
Die Worte stammen, wie Cruel S. 618 angibt, aus den
Sermones dominicales super Epistolas Pauli (Pars I. s. hyemalis,
Nr. 47) des Gottschalk Hollen oder Holen. Bemerkenswert und
in der Literatur hier vielleicht zum erstenmal vorkommend ist
der Glaube^, daß die im Bett befindlichen Federn den Kranken
nicht sterben lassen. Wie dieser Glaube entstanden ist, zeigt
Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch 1, 169: „Aus dem
Heidenbrauche, im Verscheiden auf der nackten Erde oder auf einem
Bund Stroh liegen zu sollen, hat sich die Volksmedizin ihre weit-
verbreitete Satzung gebildet, daß man auf Federn liegend
nicht sterben könne. Diese Lehre findet sich schon in den
medizinischen Schriften des 16. Jahrhunderts und hat in Ländern
ohne Salubritätsaufsicht ihre ausnahmslose Geltung. Wende und
Serbe pflegt jeden Sterbenden aus dem Bette zu nehmen und auf
Stroh zu legen.^ Bei Letten und Esten wird er auf die Erde
gelegt, damit man ihm so 'zum Tode verhelfe'. Kruse ^ mußte
hin. {The Exempla of Jacques de Vitry ed. by Th. Fr. Crane, London
1890, p. LXVIII.)
^ Schwerlich richtig. Im Original lautet die Stelle nach dem
Hagenauer Druck von 1519: (Item) cum infirmus non potest mori coope-
riunt tectum super eum, leuant eum de illo lecto: dicentes quod
ibi est penna alicuius auis que non permittit eum mori: sed per conse-
quens occidunt eum.
^ Vgl. sonst Wuttke § 723. Weinhold Ztschr. d. Vereins für VolJcs-
Jcunde 11, 221. Drechsler Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien
1, 290. Irischer Glaube bei Dieterich Mutter Erde S. 27. Grohmann
Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen und Mähren 1 Nr. 1317: Auf
Vogelfedern stirbt der Mensch sehr schwer.
^ Haupt- Schmaler Wendische Volkslieder 2, 251.
* Friedrich Kruse Urgeschichte des estnischen Volksstammes, Moskau
1846, S. 133.
Mitteilungen und Hinweise 541
dies zu Dorpat an seinem eigenen , Diener mitansehen, der krank
von dessen Frau aus dem Bette gerissen und so dem Tode tiber-
liefert wurde."
Nur hätte Eochholz hinzufügen sollen: die alte Sitte des
„levare de lecto" und des „deponere ad terram" lebt fort in der
Sitte, dem Sterbenden das Kopfkissen wegzuziehen, um
ihm das Sterben zu erleichtern. Rochholz selbst erwähnt die Sitte
S. 170 (mit einer wenig einleuchtenden Erklärung). Sonst z. B.
zu vergleichen: P. Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in
Schlesien 1, 290. E. H. Mejer, Badisches Volksleben im neun-
zehnten Jahrhundert 581: Die noch hie und da z. B. in Köndringeu
übliche rohe Gewohnheit, dem Kranken das Sterben durch plötz-
liches Wegreißen des Kopfkissens zu erleichtern, bekämpft schon
das Mildheimer Noth- und Hülfsbüchlein.^ Würzburg, 1790. —
Grohmann, Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen und Mähren
I Nr. 1316: Wenn man auf einem Kissen von Hühnerfedern liegt,
kann man nicht eher sterben, als bis das Kissen beiseite geschafft
ist. — Bei den Tscheremissen wird der Federpfühl beim Eintritt
des Todeskampfes unter dem Sterbenden weggerissen und ihm
Stroh untergelegt, weil das Wegwerfen eines Federpfühls zu kost-
spielig sei (Dieterich, Mutter Erde S. 27; nach Caland). Wenn
Wuttke § 723 sagt, daß man mit dem Fortreißen des Kopfkissens
vielleicht die Fäden zu durchreißen meine, die den Sterbenden
noch an das Diesseits fesseln, so gilt von dieser Erklärung das-
selbe, was B. Kahie gegenüber der Erklärung eines anderen
Brauches sehr richtig bemerkt hat: Diese Erklärung ist viel zu
abstrakt, so denkt das Volk nicht (Ztschr. des Vereins für Volks-
kunde 11, 434, Anm.). Theodor Zachariae
Im südlichen Teile der Insel Leukas, etwa eine Stunde nord-
östlich von Vasiliki, liegt auf einer Anhöhe dieKapelle des heiligen
Joannis Rodakis, die auf den Fundamenten eines alt -dorischen
Tempels errichtet ist, den Dörpfeld bei der diesjährigen Ausgrabungs-
kampagne im Juni näher untersuchte. Bauern hatten ihm von den
antiken Überresten Kunde gebracht und zugleich sie als von einem
Demetertempel herrührend bezeichnet; auf was sich letztere Mit-
^ In der mir vorliegenden Ausgabe (Gotha 1825) lautet die an-
gezogene Stelle auf S. 18: Damit man in der Zeit, bis die sicheren
Zeichen des Todes kommen, die Kranken nicht etwa aus Unvorsichtig-
keit ums Leben bringe: so muß man ihnen, wenn es scheint, als wollten
sie sterben, ja nicht das Kopfkissen wegziehen. Dieses ist eine sehr
schlimme Gewohnheit usw.
542 Mitteilungen und Hinweise
teilung stützte, konnte nicht festgestellt werden; Inschriften fanden
sich nicht. Der „heilige Tisch" der Kapelle besteht aus einem
dorischen Kapitell, das auf einer Säulenbasis ruht, beide antiken
Ursprungs. In der Kapelle werden zwei Pflugspitzen aufbewahrt,
von der Form, wie sie heute noch dort bei den Bauern im Ge-
brauche sind, jedoch viel kleiner (die größere ca. 15 cm), also
Modelle; möglich, daß sie noch von den Weihgeschenken des antiken
Heiligtums herrühren. (Vgl. die beigegebene Abbildung, Tafel III
unten, die ich der Freundlichkeit Dörpfelds verdanke.) Die Bauern
erzählten uns, daß die Weiber nach der Geburt eines Mädchens mit
nackten Füßen über diese Pflugspitzen schritten, wobei der Papas
ein Gebet spreche. Dadurch bewirke man, daß das nächste Kind
ein Knabe werde.^ Friedrieh Pfister
^ S. Dieterich Mutter Erde 47, 78, 109. Es kommt aber in diesem
Brauch noch der Glaube hinzu, daß der Pflug = Phallos die Erzeugung
eines männlichen Kindes in den Weibern bewirkt, die über ihn treten.
[AbgescMosson am 23. Oktober 1906.]
blösung von Menschen-
opfern 4; 397 ff.
Abendröte 1; 107 f.; 112
l^bortio 315 f.
^dam, androgyn 172 ff. ;
Adam u. Ih^a 75; 169 ff.
Ä^derlaß 254
idonisfest u. Verwandtes
459 f.
S^gyptisches 27 ff.; 143 ff.;
318,5; 481 ff.
Ä.hrenbeschwörung 461
A-equitas 304 ff.
Ä-frikanisches 6; 16; 19;
211,1; 250; 505
A-grarisches in griecb. Re-
ligion 87 ff.
Ahnenkult 431
Kidotcc apotropäisch 264
Mchemie 59 f.
Ä-lexander von Abonotei-
chos 146
Ä-lexandria u. Hermetik 50ff.
MXs^Uaxog 93 f.
lAlgonkinindianer 121 ff.
TAlkman 43f.; 397
iiTseelen 387
ites wird heilig" als
j heorie 100 f.
i 1 estamentliches 159 ff. ;
176 ff.; 500 ff.
A merikanisches 15 ; 1 7 ff. ;
'6ff'.;108ff.;114ff.;289f.
.mon 29,1; 50 f.
Amulette 439
Au alogiezauber 9 7 f.
Androgyne Gottheiten 91 f.;
— Wesen 172 ff.
Aiiimismus 263; 430 ff.
moooL 312 ff. ; — auf Su-
matra 431
Aphrodite Tpid-vgos 189; 195
Eegister
Von Otto "Weinreich
Apokalypsen 313 ff.
Apollo 28; 45; 47; 89; 92;
151; 156 f.; 232 ff.; 288 f.;
304 ff.; 319; — in Arka-
dien 45
Apotheriose 50
ara genesis 147; — Pacis
309,6; 311
Arapohoindianer 123 ff.
Ares 304 ff.
Arkadien 33 ff.; 39 ff.
Armenisches 75; 78; 84ff. ;
^ 368 f.
ccQQTitcc IsQoi 87 ff.
Artemis 91 f.; 289; 304 ff.;
— Orthia 397; 399; 407
Asklepios 47; 50 f.; 93 f.
'asr 293 ff.
Astrale Elemente in der alt-
arabischen Religion 506 f.
Astrologie 29, 2; 38, i;
185 ff.; 328 ff.
Athene 87; 91; 304 ff.
Atum 27
Augenkrankheit geheilt 253
Augustus 303 ff.; 310
Australisches 14 ff.
avrox^ojv 89
Av^o) u Verwandtes 91 f.
a^LS tavQE yixX. 88
Ba'al sämün 326 ff.
Babel u. Bibel 165; 167 f.;
173
Babylonisches 507
Baldr 63 f.; 66 f.
Baumgeister 435; -gott-
heiten 407 ff.; -kult 266;
407 ff.; 446 f.; 486; -seele
266; s. Seele
Beerdigung 3; 118; 385 ff.
Beischlaf, rituell 122; 128
Berührung , segenbringend
145
Bestattungsbräuche, italie-
nische 385 ff.
Beten, lautes u. leises
185 ff.
ßiaiod'dvcctOL 312 ff.
Bild im Zauber 102; 495
Bilderwand in der grie-
chisch-orthodoxen Kirche
365 ff. ; — : Proskenion des
antiken Theaters 382 f.
Bildopfer 495 f.
Blasen von Hörnern, Po-
saunen u. ä. beim Welt-
untergang 64 f.; 71
Blasphemische Gebete 195ff.
Blut, den Toten vergossen
4; 16; 18; 22; 527ff.;
— ersetzt durch rote
Farbe 4; 15 ff.; 526 ff.;
— im Opfer 398 ff.; —
im Sakrament 403 f.
Blutbund 100; 102
Blutschande 88; 93
Boiotien u. Hermetik 57
Borneo 262 ff.
Braut Christi s. Kirche; —
des Maien s. Maibräuche
Buchstabenzauber 290 f.
Bulineger 16
Bundeslade als Thron 517 f.
Canabae 153 ff.
Canabarii 153 ff.; 303 f.
Celebes 433 ff.
Chaldaei 185 ff.; 330 f.
XSLQOvgylcci s. Onanie; ein
Gott jjst^ovpyog 318
XSQOvßiccicbs viivo? 378 ff.
544
Register.
Christliches 6; 63 ff.; 73 ff.;
121 f.; 253 ff.; 302; 314 ff.;
450 ff.; 466; 486; 538 ff.
Christus 67 f.; — u. Kirche
73 ff.; — und Thomas:
Zwillinge 78
Chthonie 338 f.; 342; 346
Chthonisch - phallisch : äls-
^LTtccKog 93
Clown in religiösen Tänzen
120
collegia iuventutis 157
coloni 154 f.
Commodus 323; 326; 335
conceptio immaculata 105
Confraternitä in Neapel
392 ff.
Copia: Tvxri 310
Coraindianer 464 ff.
Dadophorios 233 ff.
Dämonen vertrieben 439
Dämonismus 435; 437 f.
Daktylen 88 ff.
Dankgebet, antikes 189, i
Delphisches 231 ff.
Demeter 87; 89; 91 ff.;
304 ff.; — androgyn 91;
— Chthonia 339
Despoina 91
dicc[La6riy(06Lis 397 ff.
Diana 150; 152
di nixi 92
Dionysos 91; 231 ff.; 287;
304 ff.; 403 f.; 407
Dioskuren304ff.; 323; 327f.
Diotima 43 ff.
däiös-Ku d-sol 309
Dogmen der Hermetik 25 f. ;
— der Karo-Batak 430
Donar 23
Doppelbeil 288
Drachen 58; 78; 250 ff.
Dreiheit 26; 29; 34 f.; 51;
551; 92f.; 304ff.; 323;
327; 331; vgl. Trinität
SQmnEva 234 ff.; 494
Dualismus , hermetischer
25 ff.; — in Religion
412; 463
Eier im Frühlingsritus
456 ff. ; — im Reinigungs-
ritus 457 f.; — im Zauber
(Indonesien) 268
Eileithyia 88; 90 f.
Eißodot im antiken Drama
383; — in griechisch-
orthodoxer Liturgie
365 ff.; 375 ff.
Ekstase 461 f.
Embryo, mumifizierter beim
Gotte Bes 485,2
Engel 300
Entfleischung , künstliche
13; 17ff.
'EcpsöLcc yga^iiata 197 f.
Eratosthenes 52 f.
Erde, aufgeschlossen 449
Erdmutter, bei Coraindia-
nern467f.;470;473f.;476
Erechtheus 88 f.
"Egag 43 f.; 93
Erschaffung des Menschen
(im Alten Testament)
160 ff.; (in der Herme-
tik) 31 ff.; — des Para-
dieses 159 ff.; — der Welt
(im Alten Testament)
159 ff.; (in der Hermetik)
31 ff.
Eschatologie, arkadisch her-
metische 48 ff.
Esel, Symbol der Zeugungs-
kraft 289
Ethisches 316 ff.
Eugammon, Telegonie 41;
48 ff.
Euhemeros 51 ; 57, 2
Euphemie in Algerien 522;
— in griechischer Reli-
gion 88 f.; — bei Yergil
314
exercitus antiquus 220
Exhumierung der Leichen
18; 385 ff.
Exkremente 102; 136; 146
Exsuperatorius mensis 324 ;
326
Färbung, rituell 1 ff. ; 240 ff. ;
473; 479; 526ff.
Farben bei Coraindianern
465 ff.
Fasten 114; 118; 124
Fastenspeise 258
Fastnachtsreis 408
Federn (bei Coraindianern)
465 ff.; — hindern den
daraufliegenden Kranken
am Sterben 540 f.
Fell eines Tieres verleiht
dessen Kraft. 9 7
Fernwirkungen, magisclid
461 f. I
Fetisch mit Blut bestrichen
rot gefärbt 19 ff.
Fetischdienst 211, i
Fimbulwinter 61
Finnisches 250
Fisch, gegessen, verleihij
Sprache 269; — ver^
schlingt Menschen 105
248 ff. .
Flötenblasen bei Coraindia-
nern 475 f. '
Fluchgold 59
Flurumgang 460 f.
Fortuna 151; 155 f.; 304 ff
Frauenrock, roter, zauber
kräftig 6
Frau Perchta 254 f.; 261
Fruchtbarkeitszauber 6 ;
117; 120; 122; 127ff.
131; 458 ff.; 473 f.; 54!
Frühlingsbräuche 280 ff.
4450".; -lieder 277 ff.
445 ff-.
gälä u. Verwandtes 1761
Gastmahl der Heiligen 45«
rfj 338 f.
Gebet s. Beten ; — u.Zauber
wort 97 ff.; 285
Gebetszeiten 293 ff.
Gebildbrote 258 f.; 282 f.
472
Geburt verhindert 199
Geburtszauber 6; 186 f.
198 f.; 439; 542
Geißelung 122; 405; s. Sux
ILaGxiyaGig
Geistaustragen 123
Geister, böse 263 ff.; 271
436; 442; — gute 263 f.
266 ; 270 ; — vertrieben 25-
Genius 151; 153; 155;
Augusti 304 ff. ; — un«
Natura 353 ff.; 361 ff.
Genossenschaften, religiös
114; 118; 120f.; 123fl
St. Georg 449; 451; 456
Gericht Gottes zur Nach
mittagszeit 300 f.
Germanien, römisches 149fl
Germanisches 61 ff.; 96
201 ff.: 253 ff.
Register.
545
espensterheer 202 ; 205 ;
215 f.
cstirnmythen 104; 251;
440; 469; 476; 479
ewänder, bilder-
gesclimückte in Poesie
341; 345 ff.
imle (Saal) 69 ff.
ips 223 ff.; 232 ff.
ilaube — Aberglaube 414
llaukos 3 60 f.
Inostisches 30, i ; 75
lötterkampf 62 f.
iöttertetras 28 f.
irottesbegriff, alttestament-
licber 176 ff.
Irannus 151 f.; 156
Ti-uppenehe 87 f.; 90
laar, lockiges 147 f.; —
rotes 23
laarschneidung 430
ladesscbilderungeii 312 ff.
lahn, schwarzer in Reini-
gungsriten 453; 457
larier 201 ff.
armonia 57 ff.
Hauch, zauberkräftig 102;
145
Heidengötter: böse Dämo-
nen 68
Heilgötter 151 f.
Heilige Handlung 234 ff.;
494
Heilzauber 6; 115; 117 f.;
268; 272 ff.; 432; 435;
439; 443; 461 f.; 466 f.;
477; 479
Heimdallr 64 f.; 71
Helios 304 ff.
Helle 214 f.
Hephaistos 88; 93; 304 ff.
Hera 92; 304 ff.
Heraion 291
Herakles 92 f.; 304 ff.
Hermes 25 ff.; 216 f.; 289;
318; — aymviog 153;
157; — Trismegistos 50
Hermetik 25 ff.; 332, 2;
336
Heros ipid'VQog 189
Hexe 23; 251 f.
Himmelfahrt der Kirche
83 f.
Himmelskult 328; 333
IgxoqIcc, grammatischer Ter-
minus 41, 3
Hockerstellung der Leichen
13; 15f.; 113; 527
Höhlen der Coraindianer
465; 470
Hörner, apotropäisch 271
Honos 304 ff.
Horus 27 ff.; 483; 485
Hund, als Totenführer 135;
— weißer, geopfert 122
Hupa lOOf.; 112; 115ff.
lason 250 f.
Ikonostasis s. Bilderwand
Indianer 18; 20 f.; 96 ff.;
112; 114ff.; 147 f.; 405;
464 ff.
Indisches 6; 21 f.; 446 f.
Indonesisches 262 ff.; 429 ff.
Inselidole: Mrixigsg 94
Iphigeneia 4; 397; 406;
410 f.
Irisches 23
Islamitisches 293 ff.
Italienisches 5; 385 ff.
Jagdzauber 100 f.; 102;
117; 122
Jahwae, Sonnen-, Wetter-
gott 181 ff.
Janustempel, offen 219
Jenseitsvorste]lungen,ägyp-
tische 490 ff.; — auf Ma-
lakka 438; — auf Su-
matra 431; — der Pa-
ressi 17
Jerusalem, das himmlische
70f.; 84
Jisrä'el meteorisch 184
Jüdisches 187 f.; 497 f.;
500 ff.
Julbier 259
Jungfrau von Guadalupe
467; 469; 474
Juno 20; 150
Juppiter 19 f.; 153 ff.; — :
Baal 326 ff. ; — und Dios-
kuren 323; 327 f.; — Do-
lichenus 325 ff.; — opti-
mus maximus 153 ff.;
310; 322; — summus
exsuperantissimus 323 ff.
Kadmos: Kosmos 57 f.
Kadosstämme 128 ff.
Kaiserkult , römischer
309 f.
Kallimachos 52
KaXXovT] u. Verwandtes 90
kebhodh Jahwae u. Ver-
wandtes 176 ff.
Ks^Qiödg u. ä. 288
KsQxoiip: Ks-Kgaip 89
Ktylig 8. Bilderwand
Kind und Korn 122
Kinder kommen aus Bäu-
men, Felsen u. ä. 42,2;
58; 112; 116; 141
Kirche: Äon 73; 82; — :
Braut Christi 7 6 ff.; —
Jungfrau 73ff. ; — Mutter
73 ff.
Kirke, Todesgöttin 50
Kleid der Gottheit 337 ff.
Knotenzauber 513
Köpfe, sepulkrale, rot be-
malt 7
Körper, geschwärzt 203 ff.;
— geweißt 223 ff.
Körperöffnungen des Toten
verstopft 14 f.
Kopfkissen, dem Sterben-
den weggezogen 541
Köre 91; 93; 339 ff.
K6q7] KOöiiov 26; 34 f.; 38;
44 ff
Kornmutter 129; 131 f.
Kosmogonie, arkadisch-
hermetische 30 ff.
Krankheit 430 ff.
Krankheitsboot 98
Krankheitsdämonen 271 f. ;
438 ; — ausgetrieben 254 ;
435; s. Heilzauber
Kreuze, apotropäisch 255;
290 f.
Krieger, geopfert (Mexiko)
135 ff.
Kronos schlangenumwon-
den 146 f.
Kuhtod ausgetrieben 452 f.
Kultus 99 ff.; 106; 110;
284; 412 f.; 420 f.
Kuß, zauberkräftig 142;
vgl. 102
KvlXonodiüiv 88; 90
KvQccvidsg 51 f.
KvQriVT] 40 ff . ; — von Kvqti :
Koqri 47
546
Eegister.
Labdakiden 59; 88; 90
Lade, heilige 85 f.; 51 7 f.
Ladon 33 f.; 45 f.; 47, i
Lagerterritoriuiii,römisclies
153 If.
Lampen in Gräbern 14
Lar 304 ff.
Larenkult, seine Anfänge
529 f.
Lazarus imRegenzauber450
Lebensrute 407 ff.
Leber 178 ff.; 524; — Sitz
der Seele 178 f.
Leberschau 180
Leda 92; —: Leto 94
Legen auf Erde: gebären
144 f.; — von Neugebore-
nen 112; 290; — von
Sterbenden 112; 538 ff.
Leichenkeller 391 f.
Lesen, lautes und leises
190,1
Liebeszauber 440
Lied 277 ff.; 463
Liturgie, griechisch - ortho-
doxe 365 f.; 375 ff.
Livländisches 250
lodges 124 ff.
Logos, hermetischer 25 ff.;
34 ff.
St. Lucia 253 ff.
Lugier 201 ff.
Lustration s. Reinigung
Liizon 443 ff.
Lygos 406 ff.
Männerkindbett 92; 101
magus 185 ff.
Maia 304; 307; 310
Maibaum u. ä. 445 ff. ; —
brauche 445; 448; —
braut u. ä. 448 f.
Maiduindianer 11 8 ff.
Maiskuchen,prophylaktisch
260
Malakka 436 ff.
Maria 75 ff.
Marienbaum 486
Martern (rituell) 127
ficcöxcchöfiög 146; vgl. 3
Maske 240 f.
Massilia 305 ff.
Medien 271 f.
Menschenopfer 138 ; 397 ff. ;
— periodische 400 f.
Menschgott 462
Mephisto 23
Mercuriusl52f.; 204ff.; 216
Messiasvorstellung auf Lu-
zon 443
MrjTTiQ 87 ff.
Methodologische Fragen in
Religionswissenschaft
277; 417 ff.
Mexikanisches 96 f.; 106 ff.;
133 ff.; 464 ff.
Michael, Erzengel 65, i; 71
Minerva 3 04 ff.
Mithrasmysterien 326;
331, 3
Mitote (bei Coraindianern)
467 ff.
Mohammed 233 ff.
Monatsnamen 324
Mond in griechischer Re-
ligion 90; 244 f.
Mondmythen 105 f.; 110
Morgenröte 1 ; 107 f. ; 1 12 f. ;
116; 131 f.; 134; 137 f.;
142; 469; 475; 479
Morgenstern 469 f. ; 474 ;
476; 479
Mumifizierung 388 ff.; 485
Mutter Erde Ulf.; 508;
533 ff.
Mutterrecht 87 ff.
Mysterien 93 f.
Mythenwanderung 104;
109 ff.
Mythologie u. Philosophie
34ff.; 93
Mythus 106; 109 f.; 420 f.
Jfachahmung 99 f.; 102 f.
Nacht, längste 253 ff.
Nachtzeitzum Kampf 201ff. ;
224 ff.
Nacktheit 203 f.; 473; 475;
479 ; — apotropäisch 452
Name 487; 502 f.; ihn aus-
zusprechen gefährlich 15 ;
— verboten 270
Namenwechsel 120; 289
Nantosvelta 150 ff.
Narrheit, rituelle 125
Natura 342 ff.; — vicaria
Gottes 348 ; 351; 353 ; 355f
Naturmythen 109 f.; 131
Naturobjekte zauberkräftig
102 f.; 474 f
Naturvölker 4; 6f ; 14 ff.
89; 95 ff.; 262 ff.; 429 ff
464 ff.'
Nekyia Vergils 312 ff.
Neugriechisches 14
Neujahrstagsbräuche 255 ff
Neuseeländisches 4; 6
St. Nikolaus 257
Novg 25 ff.; — dri^iovQvoq
25ff.; 34f.
Odinn 61 f; 423
Odysseus 48 f.; 94
Öl zur Salbung 143 f; 5091
Oidipus 59 ; 88 ; 90
Onanie 316 ff.
Optativus , indogermani-
scher 426
Orakeltiere 266 f; 270; 443
Orgiasmus 404
Orgien, dionysische 231;
234 ff.
Orphisches 312 ff.; 337 ff.
Orthia 397 ff.
Osiris486;491f;494f;517
Ossuarien 390 f
Osterbräuche 450 ; 452 ; -eier
8. Eier; -fest 476
OvXog ovEiQog 147 f.
Päderastie, im Mittelalter
343; 345; 350; 355; 362
Pan 35ff.; 56; 318; — :
ndcov 94 ; — : Silvanus 150
Pantheismus , hermetischer
25 ff.
TtavvTtiQtccrog 335
TtdgsdQOL 92
Parnasses 223 ff.
Pax 304 ff.
Pelasgos 47; 56; 58
Peripatetische Hermetik
25 ff.
Persephone 304 ff.
Personennamen, theophore
487; 506
Pestsegen 290 f
Petrusapokalypse 314f ; 321
Pfeile (bei Coraindianern)
465 ff.
Pfingstbräuche 445 f.
Pflanzenseele 264; 266
Pflügen, erstes 458 f.
Register.
547
iii^spitzen , zauberkräftig
vi 2
^': Phallos 542,1
Jlen: Genii 94
1 allisches 21; 87 ff.; 113;
289; 404; 410; 435; 542, l
iiP02J (Alkman frg. 23;
61 B.*) 397 f.
lokeer 223 ff.
],ysis 342 ff".
]ato u. Piatonismus 34 ff.;
38; 318; 330; 342; 344
iaton: Plutos 93
iimandres 2 8 ff.
»Iiiisches 283; 449; 453
»lynesisches 110; 168;
170; 248 f.
)ljtheismus im Alten
Testament 165; 169
)ros 43 ff.
)seidon 304 ff.; — ^tJxtog
91; — q}VTccXy.iog 91; 94
)seidonios 329; 332
)vg: cpdXlog 88
•oselenie des Menschen-
geschlechts 38 ff',
•oserpina 340
ah, Hymnus auf 27 ff,
abertät" 102 f.; 114; 118;
122 f.
iieblostämme 131 ff.
appe, als Tod 453; —
statt des Menschen 401;
— statt des Toten 118
ythagoreisches 50; 313;
317 f.; 319,1
|uellenverehrung 486
agnarökmythus 61 ff.
ationalisierung religiöser
Gebräuche 399 ff.
egenbogen als Schlange
440 f.
!.egenzauber 98; 117; 121;
125; 131; 450 f.; 471;
479; 518 ff.
Bgindömr 65
einigungsriten 115 f.;
425 ff.
eligion, über ihr Wesen
411 ff. ; — u. Kunst 101;
— u. Zauberei 95; 97 f.
aitus 278 ff.; 420 f.
Röstung des Toten 14 f.
Rollen mit Zauberformeln
187; 198
Rosenfest 446; 465
Rosmerta 304 ff.
Rot: Farbe der Unterirdi-
schen 23; — im Toten-
wesen Iff.; 525 ff.; — :
Leben u. Kraft 19 ff.; 526
Rote Erde 439
Rudra 23
Rückkehr des Toten ver-
hindert 3; 9; 15; 214
Russisches 98; 252; 276 ff ;
409; 445 ff.
Saat u. Zeugung 122
Saatzauber 459 f.
ZaßamQ' 334
Sabazios 328, 3
Sakrament 403 f.
Salbung s. Öl
Salus 151; 156 f.
Sarg, rot bemalt 2; — mit
rotem Tuch ausgeschla-
gen 528
Schamanen 20; 114f.; 119;
271 f.; 433; 437 ff.
Schicksalsfrauen 259 f.
Schlaf: Krankheit 480
Schlag mit Gerte : reinigend
458; — mit Lebensrute
407 ff.
Schlangenfett , zauberkräf-
tig 96
Schlangenkult 484 f.
Schmachostern 408
Schöpferwort Gottes und
Zauberformel 165
Schöpfungsberichte, baby-
lonische 168; — biblische
159 ff.; — der Fidschi-
insulaner 170; — der
Masai 505; — indone-
sische 433; 440 ff.
Schutzdämonen , rote im
Grab 8; 13
Schwarze Farbe 1; — im
Totenwesen 6; 14; 201 ff.
Schwarzer Hahn s. Hahn
Schwarzes Heer 201 ff. ;
222
Schwedisches 254 ff.; 283
Schweizer Volkskunde 6 ;
23
Schwur zur 'aar Zeit 297 ff.
Seelen als Gespenster 213 ff.;
— als Tiere 212; 264 f.
— angelockt 268 f.; 431;
434; 443; — gespeist
255 ff. ; — im Sturm 216 ff. ;
— von Bäumen, Tieren
u. a. 430 ff.; — vorzeitig
geborener Kinder im Ha-
des 312 ff.; — zwei im
Menschen 264; 429 f.
Seelenglaube 118; 211 ff.;
4290".
Seelenkult 255 ff.
Seelenvogel 432; 438
Seelenwanderung, ein
Wandermotiv 62
Selbstmord 316 f.
Selene 304 ff.
Semitisches 100; 159 ff.;
176ff.;187f.; 326ff.;482;
489 f.
Serbisches 283; 448 f.; 456
Sieben Metalle 49 ; — Vo-
kale 146
Siebente Stunde 302
Sintflutsagen 106 ff.; 119;
121; 441; 443
Sirona: Salus 151f. ; 156
Skeletteile, rotgefärbt 9ff.;
16 ff.
Solarismus 103ff.; 176ff.
Sol invictus 3 25 f.
Sonne, aufgehende bringt
Frühling 283; — im
Kampf mit Sternen 107;
135;137f.;142f.;469;479
Sonnenmythen 65; 104 ff.;
115 f.; 134 f.; 137 ff.;
141 f.; 251; 453; 469
Sonnentanz 123 ff.
Sonnenwende 132; 137 ff.;
280 f.
Speichel 102; 145
Spendetag 256 ff.
Sprache : Resultat des Zau-
berglaubens 102; 424ff.
Statuen, gesalbt 144
Stäupung der Braut 409
Steinfetisch 488
Sterbende auf Erde gelegt
538 f.; — in Kirche ge-
bracht 539
Sterndämonen 479
Sternmythen 104 ff.; 134 f.;
137 ff.; Ulf.
Stierfell, zauberkräftig 6
548
Register.
Stoisches 54f.; SHf.; 321;
329
Stundentafel 301
Styxwasser, zauberkräftig
49
Sucaelus 153 ff.
Sucellus: Silvanus 150 ff.
Sueben 201; 205
Sühngebräuche , indonesi-
sche 266
Sünde, orphisch 318 f.
Sünder 264
Sumatra 429 ff.
Supranaturalismus 165
Symbolik des Vogels 283 f.
Sympathiezauber 97 f.
Tabu 267; 317 ff.; 510
Tanz im Zauber 102 f.; 115;
117; 119ff.; 274; 424;
467 f.
Tat (Gott) 50 f.
Tehöm: Tiämat 167 ff.
Telliaden 245 ff.; Tellias
223 ff.
Testamentum Adami 301 f.
tSTQoi^V^ 31, 2
Teufel ausgetrieben 452 f.
Teufelskatze 258 f.
Theater, antikes 282 ff.
Theistische Vorstellungen
auf Malakka 441 f.
Theotokos 78 f.
Q'BG^ocpoQia 87 ff.
Thessaler 223 ff.
Thomasakten 76 ff.
Thot 27 f.
Thron: Attribut der Kirche
und Mariae 85 ; — Jahves
517 f.
^vuv : sexuelles Rasen 88 f.
Thyiaden 89; 234 ff.
Tierkult, ägyptischer 482 ff.
Tieropfer 91; 139
Tierseele s. Seele
Titanen 232; 238 ff.
TLTccvog 242 f.
Tithor(e)a 227 ff.
Tohu va-Bohu 167; 169
Totaustragen 453 f.
Toter: als Vogel 18; —
gespeist und getränkt
255 ff.; 455; 477; —
zauberkräftig 495 f.
Totenklage 286 f.; — mahl
454f.; — maske 435; —
Opfer 2 f.; 212 f.; 434;
495 f.; — reich 214 f.
Tragödie und Totenklage
286 f.
Traum : Wanderung der
tendi 430
Trinität 331 ; s. Dreiheit
Umzüge im Frühlingsritus
448 ff. ; — im Reinigungs-
ritus 452 f.; 456 f.; 461
Ungarisches 251; 260f.
Ussin: St. Georsr 456
Vafthrudnismal 61 ff.
Verbote 267; 270; 317 ff.
Verbrennung 118
Verkleidung 92
Verlöbnis mit Kriegsgott
210
Vertauschung der Rollen
der Geschlechter 92
Victoria 152 f.; 158; 304 ff.
Vieh, lustriert 456 ff.
Viergöttersteine 158
Virtus 304 ff.
virtus, theologisch 335
Völuspa 61 ff.; 66
Vogel im Frühlingsritus
282 f.; 448; 450 f.
Vollmondnacht 225ff. ; 244 f.
Wahnsinn 406
Wahrheit: Götterspeij
516f.
Weib: Saatfeld 535 f.
Weiß 223 ff.; — weiW
Heer 223 ff.; — Kleid
230; 241; 447
Weltei 168
Welteiche 42
Weltende 62 ff.
Weltgericht 65 ff.
Wetterzauber 439
Wilde Jagd 259; 217 ff.
Wochentage 216
Wodan 216 ff.
Worte bei Coraindianern
471
Wütendes Heer 217 ff.
Wurfhölzer 495
'TTtSQCCLQav 324; 335 zu
334,6
Zahlen, heilige 487
Zauber, Begriff und Wesen
95 ff.; 417 ff.; — sakra-
mentaler 407 ff.
Zauberformeln 495 ; — dem
Toten mitgegeben 490 f.;
495
Zaubergebet, leises 197 f.
Zauberkraft 96 ff.
Z aub erspruch 1 1 5 ff . ; —
und Gebet 9 7 ff.; — und
Schöpferwort Gottes 165
zelä': Rippe od. Seite? 175
Zeus 30, i; 42; 88f.; 92;
304 ff.; 338; 349; -
Hochzeit mit Chthonie
339; — vipiötog 334; —
Lykaios 41; 43; 47
Zwei Seelen im Menschen
und gewissen Tieren 264;
429 f.
Zwölf Götter s. Smdsxa
Druck von B. G. Toubner in Dresden.
Tafel III
Friedr. Pf ist er, Altar der Kapelle des h. loannis Rodakis.
Archiv für Religionswissenschaft IX. 3/4.
BL
A8
Bd. 9
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Schaft vereint mit dm
Beitragen zur Religiana-
wissenschaftlichen Gesell-
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