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BINDINßUSTÄüG 15 1923
^
ARCHIV
FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFT
NACH ALBEECHT DIETERICH
UNTER MITWIRKUNG VON
H. OLDENBERG C. BEZOLD K. TH.TREÜSZ
IN VERBINDUNG MIT L. DEÜBNER HERAUSGEGEBEN VON
RICHARD ^n^N^SCH
DREIZEHNTER BAND
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG 1910
-^
Inhaltsverzeiclinis
I AbhandloDgen ^^^^
Zar gynäkologischen Ethik der Griechen Von Johannes Ilberg in
Leipzig 1
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel Von I. Goldziher in
Budapest 20
Die Serapislegende Von E. Petersen in Berlin -Haiensee ... 47
Seltsame Vorstellungen und Bräuche in der biblischen und rabbi-
nischen Literatur Von K. Kohler in Cincinnati 75
Z^AFIA Von P. Stengel in Berlin 85
Zur Geschichte der Chadhirlegende Von Israel Friedländer in
New-York 92
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende
Von Israel Friedländer in New-York 161
Zur neuplatonischen Theologie Von Konrat Ziegler in Breslau 247
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit Von Richard
M. Meyer in Berlin 270
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie Von F. Skutsch iu
Breslau 291
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie Von
Otto Gilbert in Halle a.S 306
San Lr.cio Von E. A. Stückelberg in Basel 333
Lupercalia Von Ludwig Deubner in Königsberg 481
Kordkaukasische Steingeburtsagen Von A. von LöwisofMenar
in Berlin 509
Der Ursprung des ludicium offae Von AdolfJacoby in Weiters-
weiler 525
Marica Von Franz BoU in Heidelberg 567
11 Berichte
1 Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 Von
0. Franke in Berlin 111
2 Ägyptische Religion (1906 — 1909) Von A. Wiedemannin Bonn 344
3 Religion der Japaner 1905 — 1908 Von Hans Haas in Heidel-
berg 373
IV Inhaltsverzeichnis
Seite
4 Religionen der Naturvölker 1906 — 1909. Allgemeines Von
K. Th. Preuß in Berlin 398
5 Der indische Buddhismus (1907 — 1909) Von H. Oldenberg in
Gröttingen 578
6 Der Jainismus Von H. Jacob i in Bonn 615
III Mitteilnngen und Hinweise
Von K. Köhler (Zu Archiv XIH 84) 153; I. Friedländer (Zu Archiv XIIl'
102) 154; H. Stocks (Zu Archiv XII 46) 154; E. Fehrle (Zu Archiv
XII 577 f.) 166; A. Abt (Zu Archiv XII 161 ff.) 159; G. Kazarow
(Vampirglauben in Bulgarien) 159; E. Hoffmann-Krayer (Zu Ar-
chiv XII 579) 160; M. Höfler (Zu Archiv XII 579) 160.
Von H. Stocks (Zu Archiv XI 158) 466; 0. VS^einreich (Zum Tod des
großen Pan) 467; E. Hertlein (Paul de Lagarde und die Abfassungs-
zeit des Daniel) 473; Th. ^iöldeke (Zu Archiv XII 234 ff.) 474;
F. Boll (Akrostichische Inschrift aus Sinope) 475; 0. Kern (ApoUon
Didymaios in Attaleia in Pamphylien) 478, (Inschrift von Magnesia
am Maiandros) 479; J. Löwenthal (Ein irokesisches Märchen) 479.
Von H, Haas (Lautes und leises Beten) 619; 0. Weinreich (Engastri-
mythen) 622; E. Schmidt (Zu dem Zaubergesang in der Nekyia) 624;
R. Eisler (Bildopfer bei Empedokles) 625; Th. Zachariae („Von
Abziehung der Sterbenden Hauptküssen") 626; 0. Janiewitsch
(Totenmaske bei den Wogulen) 626, (Durstige Seelen, AYPA) 627,
(Zu Archiv XII 579) 630; A. Marmorstein (Genesia oder Parentalia?)
630; F. Boll (Todsünden) 682; A. Jacoby (Zu Archiv XIII 525 ff.)
634.
Register Von Willy Link 635.
I Abhandlungen
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen
Von Johannes Ilberg in Leipzig
[Eüppokratea]
Wiederholt sind in diesem Archiv die Anschauungen des
griechisch-römischen Altertums über das Problem der Ab-
treibung besprochen worden. Salomon Reinach suchte das
verwerfende urteil über diesen EingrijBF auf orphische Lehre
zurückzuführen (IX 312 ff.); dagegen meint Sam Wide (XII 232)
'nachgewiesen zu haben, daß dort, wo wir einen festen Boden
haben, die Verdammung der Kindesabtreibung innerhalb der
griechischen Kultur auf einen jüdischen (bzw. christlichen)
Einfluß zurückgeht'. Der feste Boden Wides scheint mir recht
schmal zu sein — er besteht aus zwei griechischen Inschrift-
steinen etwa aus den ersten Jahrzehnten des II. nachchrist-
lichen Jahrhunderts, die Tempelbestimmungen aus Lindos und
aus Laurion enthalten — ; es dürfte sich daher empfehlen, ihn
möglichst zu erweitern, bevor man sich über die wichtigen
religionsgeschichtlichen Zusammenhänge entscheidet, die hier
vermutet worden sind.
Ohne solcher Entscheidung vorgreifen zu wollen, möchte
ich vom medizingeschichtlichen Standpunkt einiges zur Sache
geltend machen.
Die als Grundlage der Betrachtungen Wides über "Aoqol
ßiaLod-dvatoL dienenden Kultusvorschriften stehen IG XII 1 n. 787
(= Dittenberger, Syll.- 567 = Ziehen, Leges Graec. sacr. II 1 n.
148) und IG III 74 (= Dittenb. 633 = Ziehen 49). Sie gestatten
Archiv f. BeUgionswissenschaft XIH 1
2 Johannes Ilberg
den Zutritt zu den betreffenden Heiligtümern erst nach Ablauf
von vierzig Tagen änb cpO^ogsCav (Inschr. von Lindos Z. 12)
oder ajtb ^d-ogäg (Inschr. von Sunion Z. 7). Beide Ausdrücke,
q)&OQsla und ^d-OQcc, übersetzt Wide mit 'Abtreibung der Leibes-
frucht', aber sie bedürfen genauerer Interpretation. Zufällig
läßt sich diese gerade mit Hilfe eines gleichzeitigen oder wenig
älteren Arztes geben, des berühmten Soranos von Ephesos,
und zwar besonders aus zwei einschlägigen Kapiteln seiner
Gynäkologie: I 18 (S. 228 f. Rose): TCvcc örjiisia ^£XXovöt]g
yCvsö&ai (pd-oQäg, 'Anzeichen eines bevorstehenden Abortus'
und I 19 (S. 229 ff. R.): El q^d-ogCoig xal ätoxCoLg xq^öteov xal
aag, ' Zulässigkeit und Applikation von Mitteln zur Abtreibung
und Konzeptionsverhütung'. Des schnelleren Verständnisses
halber muß ich die Worte des Fachschriftstellers, soweit sie
unserem Zwecke nützlich sind, in deutscher Übersetzung mit-
teilen, zuerst den Abschnitt über (pd-OQa:
1 18, 59. ' Bei bevorstehendem Abortus erleiden die Patien-
tinnen (jLsXXovörig ds yCvsöd-ai xfjg tov s^ißQvov cp^ogäg talg
qiQ'SLQOvöccig jtUQaxoXov&el) zunächst Abgang einer wässerigen,
dann einer serumartigen oder einer blutigen Flüssigkeit, die
wie Spülwasser von Fleisch aussieht; hat die Loslösung be-
gonnen, so geht reines Blut ab und dann zuletzt Blutgerinnsel
oder, je nach der Schwangerschaftsdauer, formloses Fleisch
oder solches, das bereits Gestaltung erkennen läßt. In den
meisten Fällen sind die Symptome: Schwere im Kreuz und
Schmerzen in den Hüften und im Bauch, Leisten, Kopf, Augen
und Gelenken, Magenkrampf, Kälte der Glieder und Schweiß,
Ohnmacht, mitunter auch Fieberschauer; in andern Fällen
außerdem: Schluchzen oder Krampf und Stimmlosigkeit. Diese
Symptome zeigen sich besonders bei solchen, die sich durch
Abtreibungsmittel einen Abortus zuziehen (talg ix ^ag^axsiag
(pd-£iQ0v6ai,g). Bei denen, die unabsichtlich eine Fehlgeburt
durchmachen (talg xtOQlg tivog ijiLxrjdsvöecag ixiLtQaöxovöcag]
vgl. U, 13, 47 S. 344, 5 R.: exTQcaötg de (iötiv) ij nerä ösvxsqov
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 3
fj xqCxov iiT^va (p^ogä tov ifißgvov), stellt sich nach Hippo-
krates vorher auffälliges Welken der Brüste ein, nach Diokles
Kälte der Schenkel und ein Gefühl der Schwere im Kreuz um
die Zeit der Geburt.'
Unter (pd-OQd ist also beides, Fehlgeburt und Abtreibung,
zu verstehen, durchaus nicht nur das Verbrechen gegen das
keimende Leben, wie das Wort in dem Aufsatz von Wide
einseitig aufgefaßt wird. Es bedeutet eben ganz allgemein
'Absterben des Embryon', mag es künstlich hervorgerufen sein
oder ein pathologischer Vorgang. Man sehe sich auch den
Hippokrateskommentar des Galenos an, in dem gerade bei der
Interpretation der erwähnten Beobachtung aus den Aphorismen
über plötzliches Welkwerden der Brüste vor einer unfreiwilligen
faiisse coiLclie wiederholt der Ausdruck q)9oQtt (neben diacp&OQci
und htQoGiiög) angewendet ist (Gah XVU B 845 — 850 K.). Für
den im Sprachgebrauch der Arzte weniger bewanderten Leser
bemerke ich außerdem, daß (p&sCgeiv (wie dzoq:&sCQELv, dia-
<P^eCqslv, i/ßccXXeiv) weder absolut noch mit Objekt ohne
weiteres mit 'abtreiben' übersetzt werden darf; es heißt
'abortieren' und pflegt besondere Zusätze zu erhalten (wie
oben ralg ix q>aQiiaxs£ag q)^SLQ0v6aig), sofern es sich um
künstliche Maßnahmen handelt. Wer das nicht bedenkt, erhält
bei der Lektüre der Texte leicht eine übertriebene Vorstellung
von der Häufigkeit des künstlichen Abortus im antiken Leben.
Daß die römische Kaiserzeit einen Höhepunkt dieses ver-
brecherischen und verderblichen Treibens bezeichnet, ist ja
freilich allbekannt. Wie die medizinische Literatur in ihrem
ganzen Umfang allerlei Kultur- und nicht zum wenigsten auch
Degenerationserscheinungen getreulich widerspiegelt, so auch
in diesem Fall. Li dem altehrwürdigen Asklepiadenschwur,
der gewöhnlich dem Hippokrates zugeschrieben wird, ver-
pflichtet sich der Neuling schlechthin: ov daöa dh ovds
(pccQUaxov ovdsvl ahr^&elg d'aväöi^ov ovdh v(frjyT}6o^ai ^v/x-
ßovXCirjv TOLTjvdey biioCag de ovds ywuixl Tceööov cp^ögiov
4 Johannes Ilberg
ög)6c). ayväg ^^ ^<xi' ^<sC(X)g diatrjQrjöG) ßiov tbv i^bv xccl
Tsxvrjv Tr}v i^'^v} Dementsprechend spielen Abtreibemittel in
dem großen Corpus Hippocraticum nur eine beschränkte Rolle,
von der noch die Rede sein soll. Später wird das anders, und
es entspinnen sich Diskussionen unter den Fachleuten über ihre
Zulässigkeit und ebenso über die Frage, ob der Arzt die Hand
dazu bieten dürfe, die Empfängnis überhaupt zu verhindern.
Hören wir auch darüber Soranos selbst:
1 19, 60. '^'Axömov und (p%^6Qiov sind nicht gleichbedeutend:
das eine verhindert die Empfängnis, das andere vernichtet die
Frucht. ^ExßoXiov erklären einige für synonym mit (p&ÖQLov^
andere finden einen Unterschied, indem es nicht von Medi-
kamenten gelte, sondern von mechanischen Schüttelungen und
gelegentlich vom Springen. In solchem Sinne habe bereits
Hippokrates, als Gegner der abtreibenden Arzneimittel
(TtaQattrjödiisvov tä (p&ÖQicc), in dem Buche 'Die Natur
des Kindes' ein exßoXiov angewendet, das Anfersen (tov
BKßaXslv %dQiv TÖ nQos Ttvyäg TCrjdäv). Auf diesem Gebiete
besteht nämlich Meinungsverschiedenheit. Einige verwerfen die
Abtreibemittel (q)d-6Qia), indem sie sich auf des Hippokrates
Worte berufen: 'Ich werde keinem ein Abtreibemittel aus-
folgen' (ov dcööcj ds ovdevl cpd^ÖQiov) und geltend machen, daß
es im Wesen der Heilkunde liege zu hüten und zu wahren,
was die Natur erzeuge. Andere dagegen verordnen sie, aber
nur in bestimmten Fällen; d. h. nicht, wenn eine Schwangere
den Eingriff wegen der Folgen eines Ehebruchs verlangt, oder
aus Rücksicht auf ihre Schönheit, sondern nur uin eine Gefahr
* Wie S. Reinach angesichts dieses Zusammenhangs und schwung-
vollen Abschlusses die ethische Bedeutung des Passus anzweifeln kann,
weil nachher folgt: oi Ts\ii(a 8h oidh (irjv ii^icöj'Tas, ixxfHQijoco 3h iQyccTjjaiv
&vdQuGi nQTq^iog rfißds, ist unbegreiflich. Er sagt (in diesem Archiv
IX 320): '. . . l'interdiction parait plutöt rcporidre aux interets des specialistes
de la lithotomie, auqiicl cas la mention des pessaires comporterait une inter-
pretution analogue et n'aurait pas la portee d'une prohibition morale.'
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 5
zu verhindern^, die sich voraussichtlich bei spontaner Geburt
einstellen würde, sei es, daß der Uterus zu klein ist für die
vollständige Ausbildung der Frucht oder daß sich am Mutter-
mund Neubildungen und Risse vorfinden oder ähnliche Gründe
maßgebend sind. Ebenso äußern sie sich auch über die
Mittel gegen Empfängnis (äroxia), und wir schließen uns ihrer
Meinung an.'
Man ersieht sogleich, daß die alte strenge Tradition in
gewissen Fachkreisen noch fortwirkt; wenigstens in der Theorie,
wird man im allgemeinen vorsichtigerweise hinzufügen müssen.
Diejenigen, die einen Bedeutungsunterschied zwischen (pd^ÖQiov
und ixßöhov annahmen und als Beleg dafür jene vielberufene
Historie zitierten von der [lovöosgybg :xoXvTi^og xag* ävögag
(foireovöa, tjv ovx eÖBL Xaßslv iv yaötgl^ oxcaj iiri dtifiOTsgr]
&T} (VII 490 L.), scheinen das Bedürfnis gefühlt zu haben, die
Verschiedenheit der darin von 'Hippokrates' angeordneten
gymnastischen Übung des 'Anfersens' und der im "Ogxog von
ihm verpönten nsööol (p^ögioi recht ausdrücklich hervortreten
zu lassen, um den scheinbaren Widerspruch zu erklären und
Vorwürfe gegen den großen Meister zu entkräften.- Übrigens
kommt im Falle der Tonkünstlerin ixßöliov oder ixßdXXsiv gar
nicht vor, und der Sprachgebrauch steht tatsächlich mit einer
solchen Spezialisierung des Wortes nicht in Einklang,^ Was
dann weiterhin von Soranos berichtet und was seinerseits ver-
treten wird, zeigt uns deutlich, daß selbst damals noch eine
' S. 230 , 1 R. schreibe ich äXXä diä ro xivSvvov xayXvoai {aXXoxB
SiccxivSvvov xaXvaai die Hs.). Zur Sache vgl. Theod. Prise. Gyn. 6, 23 f.
- Das geschah noch im vorigen Jahrhundert; s. Thibeaud Äp^oci'afe
accuse d'avoir provoque Vavortement d'une couttisane grecque (Gazette
medieale de Paris 1844 Nr. 35).
* Vgl. z. B. die zahlreichen ixßoXia in Ilegl yvvaixsiav I 78 (VIII
172fF. L.) und später [Galen] XIY 477, 480fiF.; Oribas. Eupor. IV 112
Bd. V 772). Es handelt sich dabei nur ganz vereinzelt um mechanische
P^inwirkungen (YIII 180 L.: ersgov ixßöXiov vtio rces {lacxccXag Xaßw»
aeisiv hxvg&s zur Austreibung der Nachgeburt).
6 Johannes Ilberg
Richtung der orthodoxen Hippokratiker bestand und ihren
intransigenten Grundsatz mit Nachdruck formuliert hatte: trjQslv
xccl 6(pt,Eiv tä ysvväiisva vitb rijs q)v<3scog. Ihr gegenüber hatte sich
eine berechtigte Kasuistik entwickelt, deren Vertreter künstlichen
Abortus und Verhütung der Empfängnis empfahlen, sofern infolge
einer Geburt direkte Lebensgefahr für Mutter und Kind zu er-
warten stand, äußere Beweggründe indessen nicht gelten ließen.
Der fernere Inhalt unseres langen Kapitels, § 61 bis
§ 65, frappiert etwas nach diesen Auseinandersetzungen und
hat sogar gelegentlich zu dem Verdacht geführt, Soranos meine
es mit der Zustimmung olg xal rjfislg övvcavov^sv, womit er
jene Mittel und Manipulationen nur in gewissen Notfällen
billigt, im Grunde seines Herzens gar nicht ernst und auf-
richtig; er würde sonst nicht eine so große Zahl davon ver-
zeichnet haben. Dieser Verdacht scheint mir unbegründet, ja
sogar, wie ich den Meister zu kennen glaube, sehr ungerecht;
dem Galenos wäre so etwas schon eher zuzutrauen bei seiner
Rücksichtnahme auf die ßaöiXizai yvvalxsg, alg ovx eötiv
KQVTJöaöd-ai (XII 443), als unserm, soweit ich sehe, durchaus
sachlichen und unabhängigen Ephesier in Rom, der von der
Hebamme auch mit Nachdruck fordert, daß sie uneigennützig
sei, äcpiXccQyvQog cog [lij diä iii6%-hv xaxög dovvai cpd'ÖQtov
(S. 174, 22 R). Lediglich also um Unheil bei voraussichtlicher
Dystokie zu verhüten, davon dürfen wir bei Soranos überzeugt
sein, teilt er seine Ratschläge und Rezepte, die icx6}iia und
(pd^ÖQitt, mit. Dabei warnt er wiederholt vor scharfen und
sonstwie schädlichen Mitteln, führt auch lange nicht alle an,
die ihm bekannt sind und erklärt insbesondere die Amulette für
erfolglos.^ Die Warnungen lassen zwischen den Zeilen erkennen,
* S. 231, 26; (fvXäxxBaQ^ai Sh inl noXv roc dgifiia Siä rag kii «^x&v
kXv.m6ii(S\ 234, 10:. aiqzlß^ot.i 81 rovrav rovg fir} &yav Sgiiietg, Zva itr]
itXsiova cvfinäd'Etccv nal 9sQ^ccaiccv inccycoaiv; 234, 20: moXXä Sh xal &XXa
nccQ äXXoig tTprjrai, (pvXätxEad'cii dk dst xcc- Xiccv jtXrixxixd. S. 232, 13:
TiXslcav iaxlv i] &n6 xovxav xäxcoöts (pd'EiQovxav (ihv kccI &vccxQS7tovxav xov
ox6iiaxov, TtXriQOvvvmv 3h xijv xs(paXi]v xal öv^7iä9eiav inicpEQiivxoiv xxX.
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 7
wieviel Unglück auf diese Weise damals durch Leichtsinn und
Unverstand angerichtet worden sein mag.
Bei den (p&ÖQia kann Soranos im allgemeinen und einzelnen
auf sein früheres Kapitel (1 14) TCg 'fl t&v 6vv£LXr}q)vi&v iTCifieXsia
hinweisen; man müsse eben, ■vtenn die Geburt nicht erfolgen
dürfe, das Gegenteil des dort Vorgeschriebenen tun (S. 232, 20).
Mit welch liebevoller Sorgsamkeit weiß er daselbst zum Besten
der angehenden Wöchnerin zu raten! Gegen Ende wird er ganz
schwungvoll; man sieht, die xrjQr^öLg (S. 211, 14) ist sein eigent-
liches Prinzip.^ Trotz aller Bemühungen sind natürlich patho-
logische Fehlgeburten oft nicht zu verhindern, über ihre Therapie
ist im zweiten Buche gehandelt.^
Auch Soranos durfte ohne Zweifel von sich sagen, daß
er der Richtschnur: rrjQslv xal 6at,Biv xä ysvvaiisva vnb tfig
^ S. 214, 10: Vernachlässigung der hygienischen Vorschriften während
der Schwangerschaft ist unter allen Umständen ungünstig für das Kind, auch
wenn es nicht gerade zur Fehlgeburt kommt : (iridslg 3h vnoXccyL^uvixa, Sri xav
7caQaßaLvovaT]g tivog ?ria r&v siQriiiivav ri Tiävra {lt] yivriTai zov cviljjqpO'evTOj
ixTQcoaig (- u _ _ u), oxixl Ttävrag rjdlxTiTai to övXlricpQ'iv (- w _ _ w _ ^J).
Am Schluß braucht er eines seiner beliebten Bilder: wie die Bauwerke
je nach ihrer Fundamentierung dauerhaft sind oder nicht, Qccdiag xal
TtQog oXi'/riv aqpo^/xrjv anogglmsTai (5 Cretici), so auch die lebenden
Wesen: t&v 3h fcäcov ij yswr^cig ^arai 3iä(poQog Ttagä t6 rotg ^gatzoig
{^\j w_ wi-r iw- ) maavsl aroixsioig xal 9eyisXloig Jiaqpooois i^sguad'^vcct
{^w w_ vu w — ^ ). Vgl. die Vorschrift S. 223, 23 ff., die Schwangere
solle nach dem achten Monat besonders häufig in süßem und warmem
Wasser baden, to; yctg avrotpvfj (seil. v3aTu) 3Qi,uvTiQag ?;f0VTa rag
TtoiötriTccg ov3hv diacpigsi rä>v sig (p9oQuv vTCOti^suivcov (pagnaxav.
* Vgl. n 13. Es wird dort folgende Terminologie aufgestellt (S. 344, 4) :
^xgoia ^hv ovv iaztv äjtonzvGiiog zov Gnsg^iazog fi£ra zr^p evvovöiav (isrä
jigmzriV ^ 3Bvxigav r}(isgav, ixzgcaoig 3h 7} [iszct öevzbqov ij tqLxov {if^va
(pd^ogä zov i^ßgvov, a^ozoxia 3h ij cvvE'/yvg z^g zsXeiwcsog ngo mgag
ccnözB^ig. Etwas abweichend bei [Axist.] Hist. anim. VII 3 S. 583 b 12:
xuXovvzai 3'ixgvaei.g (ihv al ui-^Qi- tcö v iTtzä ijuapcör Siacp&ogaL (vgl. S. 583 a 26),
ixzgcoGuol 3'al /li^ßi zäv zszzugdxovza (vgl. ixgvGieg und zgcoßnoi bei
[Hippokr.] Ilsgl inza(n]vov 9 Bd. VII448L.). Bei Galen im Epidemien-
kommentar (XVII A 444 f.) steht ein Auszug aus Hist. anim. S. 583 a
27 — 584b 1, darin auch dieser Satz.
8 Johannes Ilberg
cp'ööscag nicht untreu geworden war, wenn er auch den Askle-
piadeneid in alter Weise nicht mehr hielt. Die wissen-
schaftliche Erfahrung hatte längst Fortschritte gemacht, und
Leben und Wohl der Mutter war es, auf das jener Satz
oder das hippokratische thcpsXslv tj ^ij ßXdmsiv Anwendung
fand, falls schon für das Kind nichts oder nichts Sicheres
erhofft werden konnte. Es wird jedenfalls nach dem Dar-
gelegten unbedenklich gesagt werden können, daß trotz aller
bösen Mißbräuche der Zeit in der medizinischen Wissenschaft
von damals eine Auffassung vom Schutze des Ungeborenen
herrschend war, die keines religiösen Einflusses aus dem
Orient bedurfte.
Ein halbes Jahrtausend früher kann erst recht nicht
von der Notwendigkeit einer solchen Annahme die Rede
sein, wenn wir uns des Eides erinnern, der uns aus der
Jugendzeit der ionischen Medizin vorliegt. Und was noch
wichtiger ist: die Krankengeschichten und Lehrschriften des
Hippokratischen Corpus bestätigen diese Anschauung in
weitem Umfang.
Wir teilen zuerst einiges Sprachliche über die technischen
Ausdrücke mit, die darin für Abortus am meisten gebräuchlich
sind. Galenos behauptet im Epidemienkommentar (XVIII A 799) :
o nalovöLV a^ißlcoöLv ol 'AttiKoi, xovto övvrjd^oi; 'I:t7toxQdtr]g
ccjtocpd^OQav övo}id^£L, xal xa Q^nara de tä TtSQixsC^sva tfi TtQOö-
tjyoQCa rfjds (y gl. naöcci ccjceq^d^eiQav Epid. I 16Bd.I 193, 18Kw.)
xal Tag vno r&v yQa^iiatix&v 6voyLat,oiiBvag iiBto%äg (vgl. ano-
(p%-EiQov6B(ov ol tix&ol nQo6i6%vaCvovxai Epid. II 1, 6 Bd. II 76 L.)
ävdXoyov avxfi yQKcpsi. Aber ein Überblick über das Corpus
zeigt uns, daß diese Bemerkung, Hippokrates pflege gewöhnlich
dxoqj&OQcc, anoff^eigsiv usw. zu sagen, nur für die Epidemien
zutrifft. Vgl. außer den beiden soeben aus Epid. I und II an-
geführten Stellen: Epid. III Bd. I 222, 6 Kw. yvvalna k^ anocp^OQfig]
222, 14 ersQTjv ii, ccTtotp&oQfjg] Epid. IV G Bd. V 146 L. und ebenda
22 S. 162 L. ccjtB(f&6LQ6v] Epid. II 2, 13 Bd. V 90L. und Epid. V 33
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 9
Bd. V 238 L. = Epid. VII 74 Bd. V 432 L. d:i6(p»ttQ^cc} In den
übrigen Büchern finden sich die mit dxö zusammengesetzten
Formen nicht, sondern in der Regel diacp&ogyj (auch Epid. YII 97
Bd. V450L.) und diatp^ägsiv (auch Epid. VII 41. 73 Bd. V
408. 432 L.) sowie, gewöhnlich wenn die Composita mit did
vorangegangen sind oder auch folgen, (p9oQ^ und (fd-sCgeiv ohne
Präposition.- Belege dafür bieten namentlich die gynäkologischen
Schriften knidischen Charakters in beträchtlicher Anzahl; sonst
begegnen im Corpus auch ixtiTQcööxsiVj ixtiTQäöxeö&aiy rgaö^iög
und einige seltener verwendete Synonyme. Galens Äußerung
über den Sprachgebrauch darf also nicht zu streng genommen
werden, selbst wenn man sie auf die von ihm für echt ge-
haltenen Hippocratica beschränkt, denn es steht auch in den
Koischen Prognosen ix diacp&oQtls (505. 506 Bd. V 70ÖL.) und
sm rgaöncö (532 Bd. V 706 L.), in den Aphorismen (5, 53
Bd. IV 550. 552) diaif&eiQeiv [liXXovöL rä efißgva und diu-
(p^sCgovöLv. Immerhin ist es richtig, daß ocxoq:&oQyl bei gewissen
antiken Hippokratesgelehrten als fester terminus technicus galt;
in den Buchstabengruppen {xccgaxzJlQSs) am Ende der einzelnen
Krankengeschichten des dritten Epidemienbuches, die den jedes-
maligen Verlauf schematisch andeuten, ist Abortus durch A
bezeichnet (I 222, 13. 223, 2 Kw.; tö [ihv A dr^Xol cczocf&OQav,
^ uTtocpd-agua bedeutet nicht 'Abortivmitter (so noch Fasbender,
Entwickelungslehre, Geburtshilfe und Gynäkologie in den Hippokrat.
Schriften, Stuttgart 1897, S. 117f.), sondern 'abgestorbene Frucht'.
* Vgl. IIbqI yvvaixsiav 121 (VIII 60 L.), wo am Anfang des Kapitels
diacfO'siQovrai steht, dann qcO'fipcoötv; Kap. 25 (VIII 66 L.) (pd-sigsrai, gleich
darauf 3ici(p9'OQr,v, sodann wieder (fd-ag^vai, (p^aigovrai (so auch am Ende
des Kapitels beim Plural des Neutrums nach Vindob. 9 statt qpO-eipErat
zu schreiben), ain'?] cp^ogf/g, qi&sigovei. Kap. 72 (VIII 152 L.) geht das
Kompositum sechs einfachen Formen voran. Der Text muß lauten: xal
räv dtacf 9s igaeeav {diciq:9^agsig iav cod.9; diacpQ-eigsiaswvY) zä Ifißgva
xccTU l6yov 15 Kcc^agais yivtrai tovtwv räv ^ufpEcäf, xal ini tqigi vsaJTfgotoi
cpd'aQeTciv iXäaaovag T](iEgas, ini öh roiai ysgairigoiGi TiXdovag. 7tad-r,uara
db TU aiixä ian Tisgl Xoxeiav q>9eigd6y ts (so mit der besten Über-
lieferung; vgl. VIII 128, 5 L.) zb lußgvov xal zixoverj, r,v fir} vr^:tiov (p9sigTj
zo Titxidiov xzL
10 Johannes Ilberg
aitihlEiav Gal. XVII A 612; vgl. meinen Aufsatz Philol. LIV
396 fie.)-'
Wer die im Corpus vorhandenen Zeugnisse durchmustert,
wird sich vergewissern, daß in dieser ganzen verschiedenartigen
Schriftenmasse von Abtreibung nur selten die Rede ist. Es
sind unbeabsichtigte Fehlgeburten oder auch Frühgeburten,
worum es sich fast durchweg handelt.^ Oft finden wir die
Gründe angegeben. Sie werden in allgemeinen, genauer be-
obachteten Witterungsverhältnissen und deren Folgen ver-
mutet^, oder in der Körperbeschaffenheit der Schwangeren*,
ferner in Krankheiten^ oder Unfällen® und vielen sonstigen
Anlässen äußerer oder psychischer Natur. Das umfangreiche
Material kann hier nicht ausgebreitet werden; wir verweisen
insbesondere auf die eingehenden ätiologischen Darlegungen im
ersten Buche IIeqI ywaizsCcov Kap. 21 und 25 (VIII 60f. 64 bis
68L.), die mit den Worten schließen: &6ts ov XQV O'tö/ia^an/
täs yvvcclxag ort diacp^Biqovdiv ccstcovöccl' qpvAaxiJg yäQ xal
^jtL6Tr]^rjg ^oXXrjg dsl ig ^o disvsyxslv nal ix&Qsipai t6 naidCov
hv rrjöL [ii]tQri6L xal d^tocpvysiv avto kv t(p röxa. Einige Stellen
möchte ich deshalb hervorheben, weil sie zu Mißverständnissen
Anlaß gegeben haben oder geben könnten. Epid. V 53 (V 233 L.)
^ Galen teilt mit (XVII A 800), daß alte Exegeten auch in der ersten
Krankengeschichte des sechsten Buches (V 266 L.) statt &nb cpd-OQrig
schreiben wollten <^^|> &nocp&oQfig ; s. auch Pallad. S. 4 f. Dietz. Man
wird das kaum in den Text setzen , ebensowenig Epid. II 2 , 4 (V 86 L.)
&jtocp9oQr)s statt &7fb (p&oofjs.
* 'Die Lehren von der Fehlgeburt stellen bei weitem das Umfang-
reichste und auch das Wesentlichste von dem dar, was die Hippokratischen
Schriften bezüglich der Pathologie der Schwangerschaft überhaupt ent-
halten', Fasbender a. a. 0. S. 121.
' II 44 f. L. (I 49, 25 Kw.) vgl. IV 490 L.; II 648 L. (l 193, 17 Kw.);
V148L.; VIII 184L.
* VIII 452 vgl. 490.
6 IV 646. 548. 552. 684; V 162. 166; VII 336 (= VIII 116). 376
(=VIII 148).
<* V 408. 460 {ix «reö/xaros), 482 (^x «reoftaros ^ anda^TOe ^ »Ijjy^ff).
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen H
= Epid. VII 74 (V 4:i2L.) notiert sich der behandelnde Arzt:
T17 I^Cfiov TÖ TQLrjxoöraiov äxöcpd^aQfia' 7Ciov6rj xi ^ avrd,uaTOf
Toüro övvsßTj. Es beruht auf einem Vorurteil, zu konstatieren
(was Littre und Ermerins^ tun), er müsse hier daran denken,
daß die Patientin ein Abtreibungsmittel genommen habe, wie
es etwa Soran S. 234, 14 anführt (jcöti^s); vielmehr scheint nur
die Vermutung eines Diätfehlers im Trinken Tom Beobachter
aufgestellt zu werden.* IIeqI yvvaixsCcjv I 67 (VIII 140) ist von
der Anwendung scharfwirkender Pessare (Tampons, Einlagen) die
Rede und ihren schlimmen Folgen: r^v de yvvi) ex rptoö/iov T^cö/ia
Xocßr} iiiya ij aooG^iroiGi dgi^eöiv slxa^fj (iXxäör^ Vindob. &) rag
[irjTQag, ola ywulxeg ögäöC te xal li^tQSvovraL, xal rö s^ßgvov
tpO^agfi usw. Diese Worte richtig zu interpretieren ist für unser
Problem von Bedeutung, auch wenn man von der Lesung der
interpolierten Hss. und der Ausgaben: ola xoXlä yvvaixeg
dsl dgäöC xs xal Ir^XQSvovöi absieht. Pessare {xq669-£xu)
werden im Corpus ungemein häufig erwähnt (s. den sach-
lichen Index von Littre X 7 29 f. u. d. W. pessaire), darunter
auch öfter scharfe (dginaa). Da ihre Anwendung bei
verschiedenartigen Leiden erfolgt, könnte man auch hier in
Zweifel ziehen, daß Abtreibung gemeint sei und vermuten,
der Arzt erwähne nur weibliche Kurpfuscherei im allgemeinen,
wobei dann unbeabsichtigt Fehlgeburten vorkämen. Aber
das ist nicht wahrscheinlich; er spielt wohl tatsächlich auf
schlimme Praktiken an, wohlgemerkt nicht der Arzte. Eine
bald darauf folgende Betrachtung mag ein ähnliches Ziel
^ Ermerins' Phantasie geht ins Romanhafte. Er sagt Bd. I 686:
'Cum iUud thovgt] ti de remedio abortum faciente intelligere oporteat nequ^
constet, qiiare mulier viro nupta tcde remedium bibisset, putavi anciUam
uxoris Simi spectari'.
* Vgl. IIsqI yvvaix. I 25 (VlII 68L.): eiöi Sh at tp^sigovai zu iußQva
x^v dgiiiv XI x^r »tx^ov (fdyaGt naQcc xo l9og ij niaei vj\Ttiov xov
Tcaidiov iovTog xtX., wo eine Absicht des künstlichen Abortus infolge des
ganzen Zusammenhangs gar nicht in Fräse kommen kann.
12 Johannes Ilberg
haben.^ Besonderen Charakter — ich meine yom ethischen
Standpunkt — tragen gewisse Vorschriften zur Austreibung
der toten Frucht; man wird sie nicht mit den verpönten
auf eine Stufe stellen.^ Solche Mittel heißen im Corpus
oft ezßöXia, wie später jene; ebenso werden daselbst die zur
Herausbeförderung der Nachgeburt dienenden genannt.
Ausnahmen bestätigen die Regel: es gibt nur eine, einzige,
jene von Soranos erwähnte, Abtreibungsgeschichte aus der
hippokratischen Praxis (VII 488 ff. L.), die auch von jeher Auf-
sehen gemacht hat. Genauer genommen handelt es sich bei der
Gymnastik des 'Anfersens' der [lovöosQyög um einen Versuch
ihres Arztes, bereits am sechsten Tage eine sxQvöig hervor-
zurufen, wie die Hippokratiker sagten, nicht um rpcoeffio'g, und
die moderne Medizin ist der Meinung, daß in dem merkwürdigen
Fall Ausstoßung der üterusschleimhaut stattgefunden habe.^
Jedenfalls erzählt unser Gewährsmann mit Harmlosigkeit und
unverkennbarem wissenschaftlichem Interesse, was er jener Ton-
künstlerin, natürlich einer Hetäre, geraten und bei ihr beobachtet
hat; 'sie durfte nicht schwanger werden, um nicht an Wert zu
verlieren', so motiviert er sein außergewöhnliches Experiment,
das er aus persönlichem Interesse für die Besitzerin des
Mädchens vornahm. Noch einmal erwähnt ein Autor seine Er-
fahrungen auf diesem Gebiet; wiederum kommen Hetären in
Betracht, aber von einer Mitwirkung des Arztes ist dabei nichts ge-
sagt: JIsqI 6aQX(ov 19(VIII610L.): al EzalQai al drj^66icci,aitLvas
avTBCov TCEnsiQrivTai noXXdxig . . ., yLväöxovöiv öxdrav Xdß(oGiv
* IIkqI yvvaiy.. I 72 a. E. (VIII 162 L.): al yccg cpQ'OQa.l x&v toxov
j^aXenöaxsQaL sleiv ov yccg ^ßri (ir] ov ßiccioiii (p&agfivai to ^^ßgvov t]
qpapftaxM 7) jror« 7) ßgatco 7) ngoa^eroiöiv 7) aXXco rivi' ßir) di novriQÖv
iöTiv . iv reo toiovrco 8h Kivdvvog icri tag /iTjrpag iXx(o&r]vai rj qjisy^^vai.
rovTO dh intxivSvvov iart. Sicherlich anders geartet sind die Worte VllI 60:
ovSbiutis ßir}g ixiysvo^iivrig oidh ßogfi'e <5:»'«;rtr73J8iov, wozu vgl. VIII 66;
jjv 7) yvvT} iv yaßtgl ?;uot;ffa . . . &x^°S ßii[} &eigj).
* Vgl. VIII 142 f. 184 flf. 466: 'qv dh yvvi] ixTirgdoßxjj äixovaa xal ^jj
^ilf) ixßäXXeiv {d-iXjj bedeutet hier soviel wie Svvi^rat).
^ Ch. Robin bei Littre VII 463 ff.; vgl. Vlll 57 7 L.
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 13
iv yaörgC ' xansix' evöia^d-sCgovöiv ■ Izsiöäv da ^^)j diacp^agfu
ixzC:itec a6:csQ öap|. Wie das Folgende beweist, führt er diese
Dinge nur an, um die Heptadentheorie daran zu knüpfen. Der
Gesamteindruck ist unbestreitbar der, daß die wissenschaftliche
Medizin der Hippokratiker mit den ip^ögia nichts zu tun hat
und zu tun haben will, und daß sie auch prophylaktisch nicht
abortieren läßt, sondern nur nach bereits erfolgtem Absterben
der Frucht eingreift. Auch über dvoxia zur Verhinderung der
Konzeption erfahren wir von diesen Fachmännern so gut wie
nichts^, dagegen zahlreiche Ratschläge und Mittel {xvtjtijqio)
für deren Herbeiführung (s. X 532 L. u. d. W. conception). Es
scheint mir angebracht, diesen Sachverhalt vielfach verbreiteten
anderen Anschauungen gegenüber einmal ausdrücklich fest-
zustellen
Wir wenden uns nunmehr noch, um die Entwickelung zu
skizzieren, der nachsoranischen Zeit zu und beschränken uns
hier auf das Sammelwerk des Aetios von Amida aus dem
sechsten Jahrhundert, das auf der kompilatorischen Tätigkeit
der römischen Kaiserzeit beruht. Das letzte (XVI.) Buch seiner
^ laxQv^ä ßißlCa umfaßt die Gynäkologie, für uns kommen die
sechs Kapitel 16 — 21 in Betracht. Sie behandeln, unter dem
Gesichtspunkt der Prophylaxe gegen Schwergeburt, Maßregeln
und Mittel zur Verhütung der Konzeption {aTÖxia) und für
Abtreibung {q^ogia), sowie im Anschluß daran den spontanen
Abortus. Die beiden Sorankapitel I 18 und 19 sind größtenteils
aufgenommen, ohne strenge Beibehaltung des Wortlautes oder
der Reihenfolge, manches davon nur im Exzerpt; dagegen hat
Aetios seine Kapitel 17 — 19 beträchtlich erweitert, Kap. 20 und
21 sind überhaupt nicht aus Soranos. Was uns Aetios Neues
überliefert, sind in Kap. 17 und 18 eine große Anzahl weitere
dröxia und cp^ogia. Man erkennt sogleich, daß sie meistenteils
» VUI 170 (vgl. VII 414): 'Aroxiov ■ rjp (iri 8ej] (»ily die ParaUelst^Ue)
xvioxEcd'ai, iilevog oaov xvauov dialg vdari nuiv dovvai, xal ivucvibv mg
inog siTietv ov xviexsrai,. Das ist alles.
14 Johannes Ilberg
einer ganz anderen Sphäre entsprungen sind als dem streng
wissenschaftlichen Geiste und der Vorsicht^ des bedeutenden
Arztes aus Ephesos. Gewisse Unterströmungen der Heilkunde,
die zwar stets vorhanden waren, aber von den großen Medizinern
fast immer bekämpft worden sind, machen sich bei Aetios sehr
stark geltend. Es ist eine ähnliche Entartung der Medizin, wie
wir sie z. B. ein Jahrhundert früher im Westen bei dem Gallier
Marcellus Empiricus beobachten können, der neben wissen-
schaftlichem Material in seinem Doctorbuch zur Freude des
Kulturhistorikers viel Volkstümliches verzeichnet. Soranos hatte
die Amulette abgelehnt (S. 232, 16): ol dh xccl itEQidnxons
iXQTJöavto TioXXä ta tfjg avtina^sCag X6y(p noulv vo[iC^ovt£s,
hv olg uriXQag rj^iövcsv xal rbv iv tolg G)6l qvtcov avrcSv xal
äXXa TcXsCova tovxcov, ansQ hjtl xav aTCoxsXsG^axcav (paCvovxav
ilfsvdrj. Bei Aetios tauchen diese und Ähnliches wieder auf,
z. B. Kap. 17 S. 20 Zervos: '^ Gegen Empfängnis (äövXXrjnxov):
Die Leber vom Wiesel trage man in einer Röhre am linken
Fuße oder die Hoden desselben Tieres in einer Röhre an der
Nabelgegend.' — 'Fett vom Uterus der Löwin trage man in
einem Büchschen von Elfenbein, das ist sehr wirksam.' —
'Bilsenkrautsamen sammle man vom Kraute ab, bevor er auf
die Erde fällt, verreibe ihn mit Eselsmilch samt ein wenig
Myrrhe und einem Samenkorn schwarzen Efeus oder seiner
Traube, hülle es in Hasen-, Maulesel- oder Hirschhaut und
trage es bei sich. Das Amulett darf jedoch durchaus nicht
die Erde berühren.' — 'Den ersten Zahn, der einem Kinde
ausgefallen ist, aber die Erde nicht berührt hat, möge die
Frau in einem Ringe an sich tragen oder den Steinbruchs-
wurm (xbv ix XaxonCov öxaXrjxa, ist vielleicht ein Fossil ge-
meint?) als Amulett.' — 'Bilsenkrautsamen verreibe man mit
Milch einer Stute, die ein Mauleselchen säugt, hülle es in Hirsch-
* Die von Soran S. 232, 3 flf. aus älteren Quellen angeführten, aber
wegen ihrer Schädlichkeit ausdrücklich verworfenen Mittel erscheinen bei
Aetios S. 19, 13 S. Z. meistenteils wieder, ohne daß dieser vor ihnen warnte.
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 15
haut, befestige es am linken Arm und sorge, daß es nicht
zu Boden fällt.' — Kap. 18 S. 23, 15Z.: 'Kömer vom wilden
Feigenbaum, sobald sie von selbst herausspringen, in einem
Tuch aufgefangen, damit sie die Erde nicht berühren,
sind als Amulett ein Abortivum {(p&ÖQiovy. — Der wiederholt
auftretenden Vorschrift, das Amulett oder seine Bestandteile vor
Berührung mit der Erde zu hüten, muß eine bestimmte An-
schauung zugrunde liegen. Soranos beginnt seinen wichtigen
Abschnitt IleQl t^s tov ßQi(povg ixifieXeCag mit den Worten
(S. 248, 14): ii tolvvv ^ala xo ßQeq)og dTiodala^dvr, :tQ6r£Q0v
sig rriv yfjv axon^iG^a 7CQ0s:tt&soQrj6a6a, tcöxsqov ocqqsv
t6 ä:tox£xvrj}iEvov köxlv ^ ■O'^Av, kuI xa^cig yvvaiiiv e&og
ä%o6riyLaivixc3 j xaxavosCxco ds xal ngöxegov, el slg ävaxQOtpilv
löXLv ijiLxridsiov i] ovda^cog. Sie erkennt die Lebensfähigkeit
des Neugeborenen u. a. (S. 249, 5) ix tov xs^sv krcl yfig sv&icog
avxb xXav^iivQCöai yiBxu xovov xov TiQoörlxovxog. Der Über-
setzer Muscio sagt in dem Paragraphen über das Durch-
schneiden der Nabelschnur (I 78, S. 28, 20 R.): cum modke
infans requieverit in terra} Albrecht Dieterich hat bekanntlich
den weitverbreiteten Volksglauben, daß das Kind nur dann am
Leben und gesund bleibt, wenn es von der Erde aufgehoben
wird, in seiner 'Mutter Erde' ausführlich behandelt. Die
Amulette bei Aetios bezwecken nun gerade das Gegenteil
von ßQsq:ovg imniXsia, sie sollen die Empfängnis verhindern
und die Frucht vernichten. Die Vermutung liegt nahe, daß
aus diesem Grunde ihre oder ihrer Bestandteile Berührung
mit der Mutter Erde vermieden werden soll.
Daß die ärztliche Literatur dieser Jahrhunderte keinerlei
Abnahme der betreffenden Mittel erkennen läßt, sondern eher
* Inschrift von Smyma des dritten Jahrh. n. Chr. (Kaibel Epigr.
gr. ex lap. conl. nr. 314):
^riTQog vTi ädivccv ag slg tpdog fifayov ^Slgat^
ix yair^g tis 7taTT}Q iaog £i>lcirTO Jjfßöi ysyr^&ag
xai if,' u-xiXovCh 'kv^qov xal iig G-xäqyavä ft' avxhg JOt^x«».
16 Johannes Ilberg
das Urogekelirte zutrifft, läßt sich nicht leugnen (vgl. auch
Aet. XVI 31 u. 32, S. 46, 6. 16 Z.). Die Scheu vor der höchst
gefährlichen Embryotomie hat, wie Aetios selbst sagt^, dazu ge-
führt, jene Rezepte immer wieder zu verordnen, wenn es die Körper-
beschaffenheit der Frau ratsam erscheinen ließ. Dem Hebammen-
buch des Muscio, welches Soranische Lehre meist katechetisch in
mittellateinischer Form überliefert, einem sehr einflußreichen
Werkchen, sind die bei Aetios zu findenden Erweiterungen
übrigens ferngeblieben; seine gewiß auch jetzt noch zu
billigende maßvolle Beantwortung der Frage: Oportet nos
rebus aborsoriis uti? hat den späteren Zeiten vermöge seiner
trefflichen Quelle gerade den Standpunkt vermittelt, den die
antike Wissenschaft auf ihrer Höhe vertreten hatte.^ Was
ohne deren Verantwortlichkeit Frivolität und Habsucht, aber
auch philosophischer und sozialpolitischer Doktrinarismus
sich haben zu schulden kommen lassen, muß jetzt unerörtert
bleiben; die Anweisungen einer Lais und Elephantis, über die
Plinius spottet^, die (pccQfiaxa cc^ßXati'nd^ und d^ißXcod-QidLa^
so vieler Quellen dürfen wir für unseren gegenwärtigen
^ Aet. XVI 16 S. 17, 21 Z.: alg itoXXcp ftev aiLSivöv iexi xo (li] 6vX-
Xaßsiv sl 3h ccqu avXXdßoi, ßEXriov ißri. rov i^ßgvoTOfirid'fivai t6 cp^slgai.
dib ScKoXovd'uv iöTi ^eqI cfd^ogicov diaXocßeiv nal ätOKiav.
* Gynaecia Muscionis 1 57 (S. 20, 1 Rose). Im Bruxellensis (s. IX/X)
des Muscio ist auf fol. 16 v zu 111 S. 8, 13 von erster Hand folgende
spätere Bemerkung hinzugefügt: Ad partum eiciendum has caracteras
facis in crusca de pane et ligas ad coxani dexteram JXH et cum se
liberaverit, cicius dissolvis. Das bezieht sich auf Beförderung der Geburt.
^ Plin. Nat. bist. XXVIII 81 : Quae Lais et Elephantis inter se con-
traria prodidere . . . monstrifica aut inter ipsa pugnantia, cum haec
fecundidatem fieri isdem modis, quibiis sterilitalem illa, praenuntiaret,
melius est non credere.
* Gal. VIIIA 799: xo S' Sc^ßX^a^KSiv , iaag ydg rig Scyrost kccI tovt'
aitö, xara r^g SctsXovg tcov i^ißgitov i^tTttmOBrng inicpeQOvaiv , OTiag av j]
yByovvla (also von spontanem Abortus ebenso wie von künstlichem), y.a\
xa q>dQiiaxcc äh xd xovx' i^ya^ö^ieva -KaXoveiv ä^ßXoiXLKd.
' Gal. II 183, XII 130, XVII A 636; Aret. Morb. acut. II 11; Suid. s. v.
&nßX(od-Qidiov usw. H. Diels (brieflich) weist hin auf Lysias fr. 8 Th.
(Rabe, Rh. Mus. LXIV 576, 7).
Zur gynäkologischen Ethik der Griechen 17
Zweck ebenso beiseite lassen, wie Piaton und Aristoteles oder
die Stoiker.
Das Vorstellende ist nur deshalb niedergeschrieben, um
einer einseitig ungünstigen Auffassung der sexuellen Ethik des
griechischen Altertums entgegenzutreten. Wenn wir heute ge-
wohnt sind — oder uns gewöhnen sollten — , in medizinischen
Fragen das Urteil der medizinischen Wissenschaft als suprema lex
anzuerkennen — ich erinnere nur an das so lange Zeit anderen
Einflüssen unterworfene Gebiet der Gehirnkrankheiten — , so ver-
danken wir das zum großen Teil der hellenischen Wissenschaft.
Sie ist es gewesen, wie ich gezeigt zu haben hoffe, die auch
das höchst ernsthafte Problem der Fecoudite aufgegriffen und
wenigstens theoretisch in anzuerkennender Weise gelöst hat.
W^ir wissen nicht, wer die hellenistischen Vorgänger des ephesi-
schen Arztes gewesen sind, auf die er sich beruft und denen er
zustimmt (ctg xal ruislg 6vvaLvov(isv), aber wir vermögen uns
vorzustellen, wie sie durch das Anwachsen des Beobachtungs-
materials und ihre vorwärtsschreitende Forschung dazu gelangten,
ein verständiges Kompromiß zu schließen zwischen der archaischen
Gebundenheit der Hippokratiker und dem gewissenlosen Leicht-
sinn der Decadence; schade, daß Soranos, dem Charakter seines
Buches entsprechend, nur so wenig von ihnen berichtet. Daß
religiöse Einflüsse irgendwelcher Art für sie mitbestimmend ge-
wesen wären, läßt sich nicht erkennen; anderseits jedoch darf
nicht unbeachtet bleiben, daß die beiden Kultinschriften, an die
wir am Anfang angeknüpft haben, einiges medizinische Ver-
ständnisvoraussetzen. Warum soll die heilige Stätte erst vierzig
Tage nach der Einnahme bezw. Wirkung von q:9oQ£la {— q^d^ogia)
d. h. Abtreibemitteln betreten werden, wie die rhodische Vor-
schrift verlangt, oder erst die gleiche Frist nach spontaner oder
künstlicher Fehlgeburt {(p&oQci) laut der attischen? Die vierzig-
tägige Frist begegnet, wie Wide am Schluß (S. 232) bemerkt,
noch wiederholt, und zwar in der mindestens zwei Jahrhunderte
älteren Tempelinschrift von Eresos (Leges Graec. sacr. II 1 n. 117)
Archiv f. ReligionswiseenscbAft XIII 2
13 Johannes Ilberg
mit Bezug auf eine Wöchnerin: avtav 8s \räv tstö^xoiöuv cc[iFQ(xig
TSßöccQccxovta und ferner in einer hellenistischen aus Ägypten
(Rev. arch. 1883 I 181): «ä' ixtQCJöiiov yt,'. Ziehen (a. a. 0.
S. 305, 18) hat bereits auf Censorinus, De die nat. 11, 7 hin-
gewiesen: post partum qiiadraginta diebus pleraeque fetae graviores
sunt nee sanguinem interdum continent . . . cum is dies praeteriit,
diem festum solent agitare, quod tempus appellant tseesQaxoöTcciov]
die vierzig Tage sind also der runde Zeitraum, nach dessen
Ablauf der Wochenfluß für beendet, die Frau auch physiologisch
wieder als rein gelten kann.^ Ob es sich empfiehlt, für diese
auf natürlicher Grundlage beruhende * Sechs wochenzeit' von
rund vierzig Tagen jüdischen Einfluß anzunehmen, beurteile
ich nicht weiter, besonders da die Frage von W. H. Röscher
in einer größeren Abhandlung über die Tessarakontaden bei den
Griechen mit bekannter Gelehrsamkeit behandelt ist, die in den
Berichten der Kgl. Sachs. Gesellsch. der Wissensch. (Bd. LXI) dem-
nächst erscheinen wird.^ Wer die Inschriften überblickt, wird
wohl überhaupt nicht begreifen, wie man sie als Belege für
die Verpönung der Kindesabtreibung bei den Griechen hat
ansehen können, es müßte denn auch itf}dog olxstov verpönt
sein, wodurch ebenfalls vierzigtägige Tempelsperre hervorgerufen
wird (Inschr. von Lindos Z. 13).
Eine moderne Parallele zu den geschilderten Kontroversen
des Altertums scheint mir nicht geringes Interesse zu haben;
sie ist gegeben durch einen Bericht über die vorjährige Tagung
des 'Bundes deutscher Frauenvereine '.^ 'Zwei bedeutsame Para-
* Hippokr. VII 502 f. L. etwas abweichend und genauer: ij xd^agaig
x&v Xoxlcov . . . inl (ihv tfj kovqi[] yivzxai iv xsoeaQdnovxa xai Svotv
il^iQjjGiv, inl dk rä ■kovqw iv Tpirjxo»"9'' rj^igT^atv ij XQ^vKOTärr].
" Vgl. auch den Prodromus der oben zitierten Schrift: Röscher, Die
Zahl 40 im Glauben, Brauch u. Schrifttum der Semiten, ein Beitrag zur
vergl. Religionswissenschaft, Volkskunde u. Zahlenmystik. (Abh&ndl. der
Kgl. Sachs. Ges. d. W., phil.-hist. Kl. XXVII 4, Leipzig 1909.)
^ Adele Schreiber, Die Frauen und die Strafrechtsreform (Beil. der
Münchner Neuesten Nachrichten 27. Okt. 1908 Nr. 101).
Zur gynäkologischen Ethik der <}riechen 19
graphen', heißt es darin, 'deren Härte allein die Frau triffi,
217 und 218 (Kindsmord und Vergehen gegen das keimende
Leben), \mrden in einer siebenstiindigen, ununterbrochenen
Sitzung, leider unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt.
Es ist dies besonders zu bedauern, weil die Verhandlungen
außerordentlich interessant waren, und vor allem Frau Camilla
Jellinek, die Gattin des berühmten Heidelberger Juristen, in
einem geradezu meisterhaften Referate die Straflosigkeit der
Abtreibung befürwortete ... Es stehen sich bezüglich der
Straflosigkeit der Abtreibung zwei Richtungen gegenüber . . .
Wenn die Korreferentin, Dr. Agnes Bluhm, als Arztin für die
Beibehaltung der Strafe eintrat, so hat sie wohl einer ehrlichen
persönlichen Überzeugung, nicht aber der allgemeinen Anschauung
der Ärzteschaft Ausdruck verliehen . . . Auf der Breslauer Tagung
konnte in dieser Frage leider die fortschrittliche Richtung nicht
durchdringen; eine starke Majorität, geleitet von konfessionellen
und konventionellen Gesichtspunkten, von einer die eigentlichen
Tatsachen übersehenden landläufigen Moral, und von bestimmten,
wenig haltbaren Argumenten nationalistischer Art, wehrte sich
gegen die Forderung der Straffreiheit. Es gelangte lediglich
ein Antrag zur Annahme, daß die Abtreibung straflos bleiben
soll 1. wenn Gefahr für das Leben der Mutter vorliegt, 2. wenn
zu erwarten ist, daß das Kind geistig oder körperlich schwer
belastet ins Leben treten wird, 3, in festgestellten Fällen von
Vergewaltigung.' — Das erinnert, wenn wir den juristischen
Gesichtspunkt beiseite lassen, lebhaft an Soranos. Er hätte
gewiß diese Resolution unterschrieben, und die Vertreterinnen
des sogenannten 'Fortschritts' von heute müssen ihren Tadel
auch auf ihn und seine antiken Gesinnungsgenossen übertragen.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel
Von I. Goldziher in Budapest
I
In der poetisclien Literatur der Araber wird dem be-
trauerten Verstorbenen der Wunsch gewidmet, daß seine Grabes-
stätte stets durch reichlichen Regen getränkt werden möge.
„Mögen über dir die Donnerwolken und Blitze freigebig sein."^
Dem entspricht anderseits die Verwünschung, daß die Gräber
der Feinde oder der Bösen „von den Wolken nicht getränkt
werden mögen." ^ Will jemand sich dem guten Andenken
seiner Freunde empfehlen, so kann er dies auch so ausdrücken:
„Wenn ihr vor meinem Grabe vorüberkommt, haltet an und
begrüßet es und sprechet: „0 Grab, möge Gott dich mit
Regen tränken."'^
Bis in die neueste literarische Dichtkunst, in der die
alten Formen sklavisch nachgeahmt werden, hat sich diese
Eigentümlichkeit der altarabischen Poeten unverändert erhalten.
In einer poetischen Betrachtung am Grabe Voltaires stellt
ein junger arabischer Dichter, Hilmi Efendi Misri, die Frage:
„Woher kommt es, daß niemand für dich um göttliche Barm-
herzigkeit bittet und für dein Grab niemand den tränkenden
Regenguß herbeiwünscht?"* Wir sehen, wie zäh und un-
* Aghänl XIX 86, 9 v. u. ("Abid); ibid 83, 8 v. u. Häufig mit Um-
Bchreibungen, z. B. Amäli al-Krdt (ßüläk 1324) II 329, 5 v. u. III 230,
8 —10. Einen Hinweis auf Beispiele gibt R. Geyer in Memnon I (1907) 200.
' Gerir in Nalä'id ed. Bevan II 443 ult.
* Opuscula arahica ed. Wright 115, 4 v. u.
* Arab, Zeitschrift al-Masrik IX (1906) 1061.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 21
verwüstlich der Ausdruck der altarabiscften Vorstellung in der
gebildeten Poesie^ der neuesten Zeit fortlebt.
Freilich war sie schon im V. Jhd. d. H. Gegenstand
der Kritik des feinsinnigen Abu-l-'Alä al-Ma'arri, der selbst
die Dichtkunst alten Stiles pflegte: „Was frommt es dem
Menschen — sagt er — daß die Wolken auf ihn herabströmen,
wenn er unter einer Grabesplatte liegt? Wäre die Nähe des
Wassers wirklich wünschenswert, so würden die Menschen
um ein Grab im Sumpf land wetteifern."^ Eine Antwort auf
diese Frage gibt jedoch noch heutigentages die Sitte der
Tijäha-Beduinen, die, wie P. Antonin Janssen berichtet, ihre
Toten nach Muwejlih, zwei bis drei Tage von ihren Lager-
plätzen entfernt, zu Grabe bringen: „weil es dort Wasser
gibt", d. h. nach der Erklärung der Beduinen: „weil sich die
Toten in der Nähe des Wassers besser befinden."'
Jedoch bereits in vorislamischer Zeit ist die ursprüngliche
Bedeutung der Phrase den Dichtern, die sie gebrauchen, nicht
mehr bewußt. Sie ist in ihrem Munde bereits kaum mehr als
poetischer Schmuck Man hat sie in verschiedener Weise zu
erklären versucht. Der Philologe Ihn Ginni folgert aus dem
Zusammenhang, in den der vorislamische Dichter Näbigha
den Wunsch nach Tränkung des Grabes mit dem andern setzt,
daß das Grab von üppiger, duftiger Vegetation umgeben sei*.
' In den heutigen volkstümlichen Klageliedern scheint sie nicht ver-
wendet zu werden; wenigstens ist sie in den betreffenden Proben bei
Littmann {Neuarabische Volkspoesie [Berlin 1902] 27 — 31, 44 — 56) und
Dalman (Palaestinischer D'ivcün [Leipzig 1901] 316 — 334) ebensowenig
zu finden wie in den jüngst von Besära Semäli (in Anthropos IV 37 — 53
Moeurs et üsages au Liban) mitgeteilten Klageliedern. Das Gedicht bei
Socin Dlicän aus Centralarabien (Leipzig 1900) Nr. 105 v. 1 gehört nicht
in die Reihe volkstümlicher Poesie.
- Luzüm mä lä jalzam bei Kremer Ibn Chdldün und seine Kultur-
geschichte der islamischen Beiche 61 (Sitzungsberichte der Wiener Ak. d.
W. Phil. Hist. Kl. XCni 639).
" Janssen Coutumes des Arahes au pays de Modb (Paris 1908)
99 unten.
* Ed. Ahlwardt 21, 26 — 28.
22 I- Groldziher
„daß im Sinne der alten Araber die Bedeutung des Regen-
wunsches für die Gräber darin zu finden sei, daß durch die
das Grab umgebende Vegetation die Menschen zur Nieder-
lassung und zum Aufenthalt daselbst veranlaßt werden." * Diese
Zusammenstellung ist bei Näbigha nicht vereinzelt^; als Bei-
spiel dafür kann man noch aus späterer Zeit einige Zeilen aus
dem Trauergedicht des zu Beginn des Chalifates dichtenden
Mutammim b. Nuwejra anführen, das auch in der Über-
setzung Nöldekes zugänglich ist:
„Möge Gott das Land, in dem Mäliks Grab liegt, mit den
Güssen der dunkeln Morgenwolke tränken und es frucht-
bar machen
„Und besonders dem Rinnsal der Doppelschlucht ein
Schauer geben, das als Erstling von den Pflanzen so-
gleich den Wunderbaum üppig emporsprießen läßt."^
In diesem Sinne wäre der den Verstorbenen gewidmete
Wunsch gleichbedeutend mit dem für den Lebenden häufig ge-
brauchten Segensspruch, daß er (oder sein Land*) immer „Be-
wässerung und Weide" habe (sakjan-wa-ra'jan)^; dem ander-
seits die gegnerische Formel gegenübersteht, daß der Feind
^ Bei 'Okbari, Komment, zum Diw. Mutandbll (Kairo 1308) II 24.
* Vgl. z. B. Aus b. Hagar, Gedichte und Fragmente ed. R. Geyer
32, 16—17.
' Nöldeke Beiträge zur Kenntnis der Poesie der alten Araber 100.
106 (v. 25. 26). Dieses Motiv des Wunsches scheint ausdrücklich an-
gegeben zu sein in einem Gedicht der Chansä {Anis al-gulasä — Beirut
1888 — 40, 1); die Zeile macht den Eindruck einer erklärenden Inter-
polation.
* Zu solchen arabischen Versen stellt der jüdische Exeget Moses
b. Chikitilla aus Cordova (Mitte XI. Jhd.) in seinem Psalmenkommentar
die Psalmenstelle 68, 10.
" Lebid Ditvän 17, 54 — 56 (ed. Chälidi 127, 15) Ibn Kajs al-
Eukajjät ed. Rhodokanakis 53, 4; Jäküt II 343, 22. Al-Asma'i, Kitäb
al- därät ed. HaflFner (Dix anciens trait^s de philologie arabe, Beirut 1908)
6, 5; vgl. Socin Diwan aus Centralarahien Nr. 70 v. 20. Geschichte von
Sul und Schumul ed. Seybold (Text) 4, 9. — Eine ganze Serie von Ort-
schaften aufgezählt Aghätii XVII 69. 12—14.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 23
(oder der unfreundliche Boden) dieses Segens entbehre.^ 0§^-
zu letzterem IL Sam. 1, 21). Der Wunsch gewinnt bald eine
so allgemeine Anwendung, daß der verliebte Tauba b. Humejjir
selbst der girrenden Taube den Wunsch spendet: „möge
dich Yon den hellen Morgenwolken die segenbringende tränken" -
und ein anderer Dichter, Xusajb, denselben Wunsch dem
„Adler und seinem Horst" zuruft.^
Es ist nicht wahrscheinlich, daß der den Gräbern der
Verstorbenen zugesprochene Segenswunsch ursprünglich eine
solche Bedeutung habe. Den Dichtern waren eben, wie auch
in bezug auf andere Anschauungen des alten Heidentums, die
ursprünglichen Beziehungen der Phrasen, deren tJberlieferer
sie sind, abhanden gekommen. Sie benutzen sie zuweilen bloß
im Sinne überlieferter Formeln und zeigen durch die ver-
ständnislose Art ihrer Anwendung, daß ihnen der ursprüngliche
Sinn nicht mehr gegenwärtig ist; wie wenn z. B. in unserem
Falle ein älterer Dichter den Regen für das Grab des Freundes
geradezu als verheerenden Gewitterregen herbeiwünscht.* Zu-
weilen geben sie der überlieferten Phrase metaphorische Wen-
dungen, indem sie dadurch das dem lebendigen Yorstellungs-
kreise bereits Abgestorbene durch Umdeutung dem Verständnisse
näher bringen. Die Dichter der späteren Perioden geben dem
Regenwunsche häufig die symbolische Wendung, daß das Grab
ebenso freigebig vom Regen bedacht werden möge, wie der in
demselben ruhende Wohltäter während seines Lebens den
Regen seiner Gaben — ein in der arabischen Poesie häufiges
* Ibn Kutejba Poesis ed. de Goeje 188, 6: Gamhara 130, 13; Lisän I
173, 2 ff. s. V. nau'; JäMt III 886 ult. IV 250, 12; im Trauergedicht {3Iarätj
satca'ir al-'arab, Beirut 1897, I 93 al.) wird diese Terwünschung dem
Mörder des Betrauerten zugedacht. — Der positive und negative "Wunsch
in demselben Gedichte (Kajs b. Darih) AghUnl YUI 131, 10. 20; an
letzterer Stelle ist für hagarät vorzuziehen die Lesart haragät, Lisän
8. V. hrg II 58.
- Aghänl X 69, 5 Ibn Kutejba 1. c. 270, 2.
2 Agh. I 129 ult.
* Hudajlit. 165, 6 ff.
24 I- Goldziher
Bild — spendete.' Diese Vergleichung kann sicli dann ge-
radezu zur Ablehnung des Wunsches nach dem Regen steigern:
„Ich ersehne nicht Regen für dein Grab: wie könnte es durstig
werden, da es doch ein Meer in sich schließt?"^ oder: „es
kann einem Grabe, in dem dein Körper ruht, nicht schaden,
wenn an seiner Erde der Regen nicht vorbeikommt; denn deine
reiche Freigebigkeit quillt ja in dem Sande (des Grabes) und
in deiner Nähe wird auch der Felsen blühend."^ Und die
völlige Bedeutungslosigkeit, in die sich die alte Phrase vom
Regen auf dem Grabe verflüchtigt hatte, kann auch daraus an-
schaulich werden, daß bereits in einer relativ frühen Epoche
der arabischen Poesie das Tränken nicht auf den Verstorbenen
selbst und sein Grab, sondern auf sein Gedenken bezogen werden
konnte: „Es möge jede Erinnerung, die uns an Mu'ammal
kommt, trotz der Entfernung getränkt werden durch reichlich
strömende Wolken"*, ein Beweis dafür, daß die Phrase vom
Tränken des Grabes bereits zur allgemeinen Segensformel ge-
worden war, bei der sich der Dichter wohl gar nichts Be-
stimmtes mehr dachte.^
Am stärksten hat sich die Auffassung vom Tränken des
Grabes erhalten, die damit die Erquickung der laburgs-
• Mutanabbi, Diwan (Kairo 1308) II 24, 7. Im Kommentar des
'Okbari zu diesem Vers werden für diese Wendung Parallelen aus anderen
Dichtern beigebracht. Vgl. auch das Trauerlied des Muhalhil über seinen
Bruder Kulejb in dem Volksbuch Kiiäb Bekr ua- TagJilib (Bombay 1305)
42 ult. takaka-l-ghajtu innaka kunta ghajtan. „Möge dich der Regen
tränken: du warst ja selbst ein Regen."
* Bejhal^i Mahäsin ed. Schwally 375, 6.
^ Kali Amült I 41, 13. Eine andere Ablehnung des Regenwunsches
für die Geliebte: „Ich verlange für sie nicht die Tränkung der
Wolken: in meinem Auge ist Ersatz für die Tränkung" (Thränen; Di'bil
ibid. 212, 6 v. u.).
■* Muhammed b.'Ka'b al-Ghanawi Gamhara 135, Schlußvers.
' Dies zeigen auch Wunschformeln, in denen z.B. der Wunsch des
Getränktwerdens auf den Schatten (sakjan li-zillika, Kall 1. c. 142, 1),
oder auf die vergangene gute Zeit bezogen wird: „Möge Allah tränken
Tage, die nicht mehr zurückkommen; und möge Träukuug treffen die
Zeit der 'Ämiritin" (ibid. 11.141, 9).
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 25
bedürftigen Gebeine des Toten verbindet. Sehr früh beziehen
auch die Dichter selbst die Bewässerung des Grabes auf die
Labung des in ihm ruhenden Toten oder seiner Gebeine
('izäm) als Gegenstand des Wunsches.^ Mit Recht bezweifelt
Nöldeke die Ursprünglichkeit auch dieser Deutung des Regen-
wunsches.^
Die islamische Auffassung findet in der Beregnung des
Grabes die Manifestation des göttlichen Wohlwollens und der
göttlichen Gnade.^ Dies ist als religiöse Umdeutung zu be-
trachten. Im Regen offenbare sich — und dabei handelt es
sich nicht um seinen Einfluß auf das Gedeihen der Vegetation
— die Gnade und Barmherzigkeit Allahs.^ Daher wird in den
Sprachen der islamischen Völker der Regen häufig mit Namen
benannt, die den Begriff der Barmherzigkeit (rahmat) be-
zeichnen. Für die poetische Betrachtung ist schon der Blitz
ein freundlicher Gruß, weil er das Eintreffen des Regens
verheißt.^
Die Tore des Himmels werden zur Zeit des Regens ge-
öffnet;^ darum sei es heilsam, während dieser Zeit zu beten,
da die Gebete dann die Sicherheit haben, Erhörung zu finden
^ Ganz kurz wie eine abgegriffene Formel: sakäka-1-ilähu „möge
dich Gott tränken" in Opuscula arabica ed. Wright 112, 10.
* In seinem Artikel Arabs (Äncient) in Hastings' Encyclopedia of
Religion and Ethics I 672b: Xöldeke ist geneigt, der hier im Namen
des Ibn Ginni angeführten Deutung den Vorzug zu geben.
* Satirische Behandlung solcher Traditionen bei Jäküt Mu'gam
al-udabä ed. Margoliouth I 403.
* Vgl. Wellhausen Eeste arabischen Heidentums \ 181 Anm.
® Bevue africaine 1909; 50 Anm. 2.
^ tuftahu abtcäb al-samä. Auch im Talmud ist vom Schlüssel des
Regens (mafte'ach sei gesämim) die Rede; er gehöre zu den drei
Schlüsseln, die Gott unmittelbar, nicht durch einen Boten, yerwalte
(sellö nimserü li-seli'ach) bab. Tuanlth fol. 2a. Vgl. vier solcher Schlüssel,
darunter mafte'ach sei mätär (Schi, des Regens) Midräs Tanchumä ed.
Buber, 106. 155. Die islamischen Parallelen dazu sind im Lbl. für
Orient. Philologie 1887, 91 zusammengestellt; dazu noch Musnad Ahmed
IV, 13.
26 I- Goldziher
(wakt istigäbat al-du'ä).^ Auch für die isticliära (Gebet und
zauberähnliche Gebräuche für die Erzielung heilsamer Ent-
schließungen) sei eben diese Zeit vorzugsweise geeignet: Gott
werde alsdann sicher die heilsamsten Entschlüsse eingeben.*
Man setzt sich daher gerne dem Regen aus und läßt ihn
auf sich fallen; so wird von Abu ~MOsä al-As'ari berichtet.^
Zumal wenn der Regen mit anderen weihevollen Momenten
kombiniert ist, wie z. B. beim mizäb der Ka'ba, eignen ihm die
Gläubigen besonders heilsame Wirkungen zu und lassen sich mit
Eifer von ihm treffen.^ Das Erscheinen der Regenwolke über den
Häuptern der Kriegführenden vor oder während der Schlacht
wird als Zeichen göttlichen Beistandes gedeutet,^ Als gutes
Omen für einen Verstorbenen wird es betrachtet, wenn an seinem
Sterbetage Regen fällt. Dies gilt nicht nur für Bekenner des Islam.
„Wenn von welcher Religionsgemeinschaft immer (min kuUi
ummatin) jemand stirbt — so heißt es in einer Tradition — ,
der bei AUäh einen hohen Rang einnimmt, sendet Gott Wolken
an seinem Sterbetage, als Zeichen, daß er ihm seine Sünden
vergeben hat so wie denen, die für ihn das Totengebet ver-
richten."® Deshalb wird in der Biographie des frommen
Mannes gerne als abschließender Vorzug erwähnt, daß zur Zeit
seines Begräbnisses reichlicher Regen gefallen sei.' Der Wunsch,
daß das Grab mit Regen getränkt werden möge, formt sich im
Sinne dieser Anschauung zu dem Segensspruche aus: „möge
Gott seine Ruhestätte mit den Reffengüssen der Sünden-
^ Aus Kitdb al-umm des Säfi'"i zitiert bei Nawawi, Ädkar (Kairo
1312) 82; eine Reihe von Haditen in Kenz al-ummal 1, 175 nr. 3388—44;
3389.
* Ibn Tejmijja, Rasä'il (Kairo 1323) I 237, 3.
" Ihn Sa'd, IV, I, 82, 6.
* S. die IJeschreibung bei Ibn Gubejr, Travels* 118. 119.
^ S. meine Abhandlungen zur arab. Philologie I 191.
" Bei Subki, Tabakdt al-Süfi^yja IV, 91 unten.
' Ibn Baskuivül ed. Codera 624, 3 v. u. Auch im Talmud wird es
als gutes Omen für den Verstorbenen betrachtet „wenn Regen auf seine
Bahre träufelt"; bab. Sauhedrin fol. 47a; vgl. Ad. Büchler in der
Monatöschr. f. Gesch. und Wiss. d. Judent. 1905, 80.
"Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 27
Vergebung erquicken".* Ahnlich sind formelhafte Eulogien,
die man der Erwähnung Verstorbener folgen läßt, z. B. *alejhi
saha'ib cU-rahma ual-ridtcän „(mögen) über ihn (kommen) die
Wolken der Barmherzigkeit und des (gottlichen) Wohl-
gefallens" u. a. m., die man noch heute am Schluß von Nekro-
logen in arabischen Zeitungen tagtäglich lesen kann.
In einen solchen Anschauungskreis stellt die islamisch-
religiöse Auffassung den in den alten Gedichten für den Ver-
storbenen und sein Grab ausgesprochenen Wunsch. Wir wollen
noch hinzufügen, daß wir — soweit ich das Material übersehe —
der rhetorischen Anwendung des alten Spruches nicht be-
gegnen, als ob der Regen am Sterbetage die Tränen des
Himmels um den Heimgang des Betrauerten bedeutete.*
II
Keine der soeben betrachteten Anknüpfungen bietet uns
die ursprüngliche Bedeutung des arabischen Wunsches, von
dem wir ausgegangen sind. Die primitive Vorstellung, in deren
Kreis er gehört, kann man jedoch aus Spuren, die sich noch bis
in die islamische Überlieferung hinein erhalten haben, ermitteln.
Wasser wird in den Anschauungen verschiedener Völker
als ein den Dämonen widriges, sie abwehrendes, gegen sie
Schutz bietendes Element betrachtet. Es ist ein Feind der
bösen Dämonen.^ Bei vielen Naturvölkern wird dem Wasser
* Z. B. Ibn 'Arabschäh, Panegyric on Sultan Jaqmaq ed. Streng
(Beilage zu Joum. of the Roy. As. Soc. 1907, April. 8, 10: saJcä Allah
marl-adahu sa'äblb al-ghufrän.
- Dem Ton fremder literarischer Bildung beeinflußten christlichen
Arzt Amin al-daula Ibn al-Tilmid (st. 1165) lag diese rhetorische
Deutung näher. In seinem Trauergedicht auf einen rals sagt er: „Der
Himmel trauert über seinen Verlust . . . der Regen ist sein Thranen-
vergießen, der zuckende Blitz das verzehrende Feuer des Schmerzes"
{Ibn abi Usejbi'a I 273, 3 v. u.).
' Damit kann es wohl zusammenhangen, daß bei manchen mittel-
asiatischen Völkern das Waschen verpönt war mit der Motivierung
„because they believed, that their gods punished ablutions with thunder
and Ughtning": die Belege bei Westermark The Origin and Develop-
ment of the Moral ideas II (London 1908) 355. Unter Göttern sind in
diesen Kreisen wohl dämonische Mächte zu verstehen.
28 I- Groldziher
die Kraft zugeeignet, das den Gegenständen anhaftende Tahu
zu lösen.^ Am kräftigsten kommt die Anschauung, welche
das Wasser in Gegensatz zu den Dämonen stellt, bei den Indern
zum Ausdruck. Sie nennen das Wasser in seinem Verhältnis
zu den bösen Dämonen den Donnerkeil (vajraj. „Die
Wasser sind die Töter der Rakshas, diese gehen nicht durch
Wasser hindurch; sie dienen dazu, die Rakshas zu zerstören."
„Die Wasser sind ein Donnerkeil, um die Rakshas zu ver-
nichten." Sowie sie als Angriffswaffe gegen die bösen Dä-
monen dienen, so werden sie auch als Schutzmittel gegen sie
verwendet.^ „Ist man von Geistern ergriffen — so faßt
H. Oldenberg die Anschauung der Inder zusammen — oder
von sonstigen Schädlichkeiten befallen, so gilt als ein Haupt-
mittel, sie zu entfernen, das Waschen. In den Wassern weilen
alle Heilmittel, sie führen alle Schädlichkeiten fort — wird
schon im Rgveda gesagt. So wäscht man vom neugeborenen
Kinde alle bösen Mächte hinweg" ... so wie man sich „nach
dem Sprechen von Sprüchen, welche an unheimliche Wesen
gerichtet sind, sich von der darin liegenden Berührung mit
diesen mit Wasser reinigt."^
Wir können uns dabei, um auf semitischem Gebiete zu
bleiben, der bedeutenden Rolle erinnern, die dem Wasser und
den Wassergottheiten, dem Begießen mit Beschwörimgswasser
im babylonischen Zauberritual und in den entsprechenden
^ Albert Röville La religion des peuples non civilises (Paris 1883)
II 65; 111. — Julius Lippert Allgemeine Geschichte des Priestertums 1 186.
Unter diesen Gesichtspunkt gehören auch manche der bei E. Tylor
Die Anfänge der Kultur (deutsche Übers.) II 431 ff. gesammelten
Bräuche.
* Sylvain Levi La Doctrine du Sacrifice dans les Brähmanas (Biblio-
thöque de l'I^cole des Hautes ßtudes; Sciences religieuses XI, Paris 1898)
162. Vgl. Oltramare L'Histoire des idees theosophiques dans VInde (Annales
du Mus^e Guimet. ßibl des I^ltudes XXIII Paris 1907) I 41, 6. Professor
Oldenberg verweist mich noch auf Caland Altindisches Zauberritual
(Verhandlungen der Kon. Akademie van Wfetenschapeu, Amsterdam, Afil.
Letterkunde, 1900), Register s. v. Wasserkeil.
» Oldenberg lieligion des Veda (Berlin 1894) 489 — 490.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 29
Zaubertexten zukommt.^ Wasser vertreibt Bann und Zauber;
Besprengungen werden dementsprechend als Exorzismus
verwandt.^
Es ist wohl nicht ausgeschlossen, daß der Glaube an die
heilsame Wirkung des Regenwassers, dessen Äußerungen wir
oben in ihrer islamischen Umformung sehen konnten, in solchen
Vorstellungen wurzelt. Wir können dies um so eher annehmen,
als wir in einer solchen Voraussetzung durch die indische
Analogie unterstützt werden. Unter den die dämonenfeindliche
Wirkung des Wassers kündenden Brahmanasprüchen finden
wir auch folgenden: „Das Wasser ist der Donnerkeil; wo es
vorüberkommt, zerstört es das Böse . . . darum soll man,
wenn es regnet, unbedeckten Hauptes hinausgehen;
man sagt sich: Möge dieser Donnerkeil mir das Böse zer-
stören."^
In islamischen Kreisen haben die Volksbräuche in Nord-
afrika noch manche Spur dieses Glaubens aufbewahrt. Eduard
Westermark^ und Edmond Destaing^ haben, jener aus
seinen Erfahrungen unter marokkanischen Stämmen, dieser aus
seinen Studien unter den Beni Snüs im Gebiete von Oran, sehr
eingehende Mitteilungen gemacht über die Bedeutung, die jene
Bevölkerungen dem Regenwasser, das am „Tage des Nisän"
(27. April a St.) fällt, zueignen. Wenn an diesem Tage Regen
* Tgl. Jastrow Die Beligion Babyloniens und Assyriens I 300;
319, 17; 324, 10 u. ff.; 343, 9ff.; 346, 20, besonders 375, 13 u. ff.
' W. Sehrank Babylonische Sühnriten (Leipziger Semitistische
Studien III, I, 1908) 27, 18 ff. Wir verfolgen hier nicht weiter, ob in
dem Wasseransgießen und der damit verbundenen Bußübung I. Sam.
7, 6 eine Spur dieser Anschauung bei den alten Hebräern auf-
bewahrt ist.
* Sylvain Levi La Doctrine du Sacrifice dans les Brähmanas 161,
penult.
* Midsummer Customs in Marocco (Folk-Lore, London 1904, XYi
32 — 34).
* Fetes et coutumes saisonnieres chez Jes Beni Snoiis (Revue Africaine,
Alger 1906, 252 — 258).
30 I- Goldziher
fällt, setzen sich Männer und Frauen, Knaben und Mädchen
mit unbedecktem Haupt demselben aus. Sie glauben, daß sie
dies vom Kopfschmerz heilt. Das Wasser wird auch in Ge-
fäßen gesammelt, und man besprengt damit sich und die Haus-
geräte; die Schulkinder benetzen damit ihre Korantafeln und
trinken es dann zur Stärkung ihres Gedächtnisses und ihrer
Lernfähigkeit. Heilungsamulette werden mit Tinte geschrieben,
die damit vermengt wird; gegen Zahnschmerzen spült man den
Mund mit Nisanregenwasser; Sterbende läßt man einen Schluck
von solchem Wasser trinken und besprengt damit, wenn Zem-
zemwasser nicht zur Hand ist, das Leichentuch. Besonders
am 'Ansaratag^ (24. Juni a. St., Pfingsten) übt das Nisan-
wasser seine heilsame Wirkung. Aber es bewirkt auch zu
anderen Zeiten magische Erfolge „There is haraka in it from
the beginning." Es macht giftige Schlangen und Skorpionen
unschädlich. Man mengt es mit Teer und beschmiert damit
die Torpfosten, um das Eindringen von Schlangen abzuwehren.
Westermark teilt a. a. 0. auch andere Wasserzeremonien mit,
die besonders am ^Ansaratag im Glauben au die heilsamen
Wirkungen des Wassergebrauchs (Baden in der See und in
Quellwasser) an diesem Tage geübt werden. — Bei manchen
Stämmen werden die heilsamen Wirkungen dem Wasser des
'Aschüratages (10. Muharrem) zugeeignet. Die Leute be-
sprengen sich damit gegenseitig an diesem Tage sowie auch
ihre Tiere, Zelte und Wohnzimmer. Man bewahrt das am
'Aschürä geschöpfte Wasser während des ganzen Jahres bis
zum nächstjährigen ^Aschürä auf Es wird durchs ganze Jahr
als Heilmittel gebraucht; auch die Dreschtennen werden damit
benetzt; um Geld in Sicherheit zu bringen, wird es in einem
Gefäß, in das man früher 'Aschürä- Wasser gegeben hat, in
die Erde vergraben; so wird es vor den Dschinnen geschützt.
Die Dschebälä- und Rif- Berber verwenden solches Wasser
zur Begießung der Gräber. Westermark findet in solchen
» Er ist = Alhansora bei Nestle ZATW 1908, 151.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 31
Bräuchen die Bedeutung, daß „the 'äschür- water serves as a
chann against the earth-spirits."^
Die dämonenabwendende Wirkung des Wassers wird in
diesen Fällen auf bestimmte Tage des Festkalenders konzentriert
oder zu denselben in Beziehung gesetzt.
ni
Auch in dem Kreise, mit dem wir uns hier vorzugsweise
beschäftigen, finden wir Spuren davon, daß das Wasser als
die bösen Einflüsse abwehrendes Element betrachtet wird. Durch
die Anwendung von Wasser sucht man Schutz gegen die
Einwirkung derselben zu erlangen. Ein Rest dieser Anschauung
ist in der Erzählung über die Verheiratung des 'Ali mit der
Fätimah erhalten. Vor der Vollziehung der Ehe bespritzt der
Prophet die beiden Brautleute mit Wasser, um sie von dem
gegen die consummatio matrimonii gerichteten Zauber der
Juden zu befreien.* Anders als in der traditionellen Quelle, auf
die wir uns soeben berufen, wird der Vorgang: von den Schi'iten
erzählt. Abu Bekr und 'Omar versuchen vergeblich, bei dem
Propheten um die Hand der Fätimah zu werben. Besser gelingt
dies dem 'Ali. Bevor der Prophet seine Tochter dem jungen
Ehemann übergibt, befiehlt er der Fätimah, Wasser zu holen.
Nachdem sie einen Humpen davon herbeigebracht hatte, be-
sprengte sie der Prophet von vorne und sprach: „0 Gott, ich
rufe dich um Schutz an für sie und ihre Nachkommenschaft
vor dem Satan". Dann befahl er ihr, sich umzuwenden und
sie zwischen den Schultern besprengend sprach er dasselbe
Gebet. Dasselbe tat er dann auch mit 'Ali; erst dann übergab
* Westermark 1. c. 41. Man vgl. jetzt auch E. Doutte in seinem
neuen Werke Magie et Eeligion dans VÄfrique du Nord (Alger 1909).
Besonders 'Aschürä und 'Ansara haben sich im nordafrikanischen Islam
als Träger vorislamischer Bräuche, „centre de cristallisation des vieux
rites", bewährt; Doutte 1. c. 532. 569.
* Ibn Sa'd VIII, 15, oben. ibid. 13, 6 wird die dabei angewandte
Du'ä-Formel mitgeteilt.
32 I- Goldziher
er ihm sein Weib.^ Hier ist die Besprengung nicht als Gregen-
mittel gegen eine spezielle Bezauberung gerichtet, sondern sie
soll die Leute gegen die Einwirkung des Satan im allgemeinen
schützen.^ Dieselbe Absicht hat wohl der von H. Brugsch aus
Persien berichtete Brauch, daß man hinter jemand, der eine
große Reise antritt, bei seinem Ausgang aus dem Hause Wasser
sprengt^; er soll dadurch vor bösen Zufällen geschützt werden.
Bei Gelegenheit der Bekehrung der Heiden und später der
Nichtmuslimen wird in den alten Quellen als Aufnahme-
zeremonie stets neben dem Scheren des Haupthaares auch das
dem Neophyten verordnete Bad (eine Nachahmung der Taufe,
jüd. tebilä) erwähnt.'* Als Grund wird angegeben, daß diese
Waschung als ghasl al-ganäba (Reinigung von ritueller Un-
reinheit) notwendig sei, die der Neophyt vorher nicht beobachtet
hatte. ^
Wenn der Islam an Stelle einer zerstörten Kirche eine
Moschee errichtet, wird der Ort erst durch Besprengung mit
Wasser für diese Wandlung geeignet gemacht.^ Bei Leb-
zeiten des Propheten — so wird die Sache in den hierüber
^ Fachr al-Kn al-Nagäfi dl-Muntachdb fi-l-marätl u-al-chutab (lith.
Bombay 1311) 156.
" Auch Blut wird als „Schutzmittel gegen alles Böse" betrachtet
(Musil, Arabia Petraea III 313); dieser Anschauung entspricht der Brauch,
daß die Neuvermählten vor dem Eheakt mit Blut besprengt werden,
ibid. 206.
" Aus dem Orient (Berlin 1864) II 97. Dabei wird ihm auch ein
Spiegel vorgehalten, was Alfred v. Krem er als Mittel erklärt, das
Bild des sich Entfernenden festzuhalten und seine glückliche Rückkehr
zu sichern {Studien zur vergleichenden Culturgeschichte III/IV, Wien
1890, 60).
* Fast in allen Traditionssammlungen sind zahlreiche Beispiele dafür.
Ygl Ibn Sa'd IV, I, 176, 9. 14.
* Sejbänl Kitäb al-sijar (Leidener Hschr. Warner Nr. 373, fol. 31»
unten).
® Vgl. Tacit. Histor. IV 53. Zur feierlichen Vorbereitung der durch
L. Vestinus unternommenen Wiederherstellung des durch die Truppen
des Vitellius zerstörten Kapitels gehörte es, daß die Fundamente „vir-
gines vestales cum pueris puellisque patrimis matrimisque aqxia e fon-
tibus amnibusque hausta perluere".
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 33
berichtenden Haditen erzählt — , wird dazu gern Wasser ver-
wendet, mit dem er selbst vorher seine rituellen Reinigungen
vollzogen hatte. ^ Aus Jemäma kam eine Huldigungsdeputation
zum Propheten und erbat zu solchem Zwecke Reste vom Wasser,
das er früher benutzt hatte. „Da verlangte er Wasser, vollzog
damit seine Waschungen, spülte damit seinen Mund; dann goß
er es in ein Gefäß und sagte uns: 'Nehmet dies mit euch und
wenn ihr in euer Land kommt, brechet eure Kirche ab und
besprenget ihren Platz mit diesem Wasser und machet aus der
früheren Kirche eine Moschee.' Wir entgegneten: 'Fürwahr,
es herrscht starke Hitze, und unser Land ist fern; das Wasser
wird bis dahin sicher verdunsten'. Er sagte uns: 'So helfet
mit (gewöhnlichem) Wasser nach; dies wird (^durch jenes) an
Wohlgeruch nur gewinnen."* Aus späterer Zeit besitzen wir
die orenaue Darstellung der Weihung eines dem Christentum
dienenden Bethauses zur Moschee: die Wiedererwerbung der
Felsmoschee (Kubbat al-sachra) in Jerusalem nach Eroberung
dieser Stadt durch Saladin. „Der Fürst Al-Malik al-Muzaffar
Taki al-din 'Omar b. Sähinsäh erschien in der Kirche mit großer
Begleitung, besorgte eigenhändig das Fegen des Fußbodens,
dann ^vusch er ihn wiederholt mit Wasser ab, nach dem
gewöhnlichen Wasser wendete er dazu Rosen wasser an;
dann reinigte er die Wände und wusch die Grundmauern und
beräucherte sie, hernach verteilte er viel Geld unter den
Armen."'
Bei der Neophjtenaufnahme finden wir die Anwendung
des Wassers in folgender Form dargestellt: Als Chälid b. al-
Walid den Garaga in den Islam aufnahm, besprengte er ihn
mit einem Schlauch voll Wasser und betete zwei Rak'ah.*
Dieser Vorgang, der die ursprüngliche Form der Anwendung
* Usd al-ghaba 111 64, 2; 237, 21; sehr ausführliche Erzählung bei
Nasä'I, Sunan I 62 (lith. Sähdra 1282).
* Ibn Sa'd V 402, 7—13.
c ' Mugir al-din al-Uns al-gall 302, 1 ff.
* Tabarl I 2098, 13.
Archiv f. Keligionswissenscbaft XHI 3
34 I- Groldziher
des Wassers bei ähnlicher Gelegenheit darzustellen scheint,
entspricht nicht der Forderung des ghasl al-ganäba. Dieses
ist zur Erklärung des Brauches im Sinne der Fikh- Leute nach-
träglich hineingetragen. Als ursprünglich ist dabei die Ab-
sicht vorauszusetzen, den Neophyten der Einwirkung der
schadenbringenden Dämonen oder der des bösen Auges zu
entziehen,^ gleichwie bei den Babyloniern die Besprengung
(oder Begießung) mit Wasser als hygienischer Zauber an-
gewandt wurde.^
In diesem Sinne wird der Besprengung mit Wasser auch
therapische Kraft zugeeignet. Diese veranlaßt wohl die mus-
limischen Fellähen in der Umgebung von Kerak die eingebornen
Kinder dem Akt der christlichen Taufe zu unterziehen und sie
dreimal ins Wasser tauchen zu lassen „nicht um sie zu Mit-
gliedern der Kirche zu machen, sondern um ihnen, nach
Meinung der Muslimen, ihre Gesundheit zu stärken/'^
Die magische Anwenduug des Wassers soll die Krankheits-
dämonen fernhalten oder ihre Wirkungen paralysieren. Mit
^ Unter einen anderen Gesichtspunkt gehört die Besprengung mit
Wasser, wo sie sich in volkstümlichen Regenzauberbräuchen erhalten
hat. Bei der Zeremonie mit der Regenpuppe (Ghandscha), die in Nord-
afrika zu Zeiten der Trockenheit in Prozession zu Heiligengräbem ge-
tragen wird, werden Prozession und Kapelle mit Wasser besprengt; auch
die Männer, die bei solchen Gelegenheiten den Gebrauch des Kleider-
wechselns (Frauenkleider) üben, werden bei ihrem Umzug mit Wasser
bespritzt (Alfred Bei in Becueil de Memoires et de Textes — Alger 1906
— 66 f.) Diese Bräuche gehören in die Reihe der „homoeopathic or
imitative magic" und sind zu den Daten bei Frazer Adonis Attis Osiris
(The Golden Bough'lV) 195— 197 zu stellen. Auch das festliche Wasser-
ßchöpfen und -ausgießen bei den Israeliten im Kultus des zweiten
Tempels , in Verbindung mit dem Herbstfest hatte , wie auch der
Talmud (bab. Rös ha- sänäh 16a ganz unten) andeutet, die Bedeutung,
durch die Wasseranwendung reichlichen Regen herbeizuführen. Vgl.
das Wassergießen bei den Persern, Gähiz Mahäsin ed. van Vloten
364, 6flf.
* Jastrow Jielig. Babyl. u. Assyr. 1 378 ff. ; Schrank Babylon. Sühn-
riten 60, 2; 86, 12.
' Mudil Arabia Fetraea III 92.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 35
Berufang auf ein sehr ausführlich mitgeteiltes Hadit^, in
welchem der Prophet dem 'Amir b. Rabi'a, der im Verdachte
stand, durch eine bewundernde Äußerung einem Genossen
Apoplexie verursacht zu haben (Wirkung des bösen Auges),
ein heilendes Vorgehen befiehlt,* wird gegen die schädliche
Wirkung des bösen Auges folgendes Gegenzaubermittel em-
pfohlen: Der jemand mit seinem bösen Auge getroffen hat,
soll sein Gesicht, seine beiden Hände, seine beiden Ellbogen
und Kniee, sowie die Spitzen seiner Füße und die innere Seite
seines Oberkleides waschen, indem er das Wasser in ein Gefäß
fließen läßt; dann möge er das Wasch wasser aus dem Gefäß
auf das Haupt des durch das Auge Getroffenen gießen. Dies
wird den Einfluß des bösen Auges unschädlich machen. *Abd
al-Kädir al-Dschiläni,der diese Regel mitteilt, fügt hinzu: „Wenn
er eine volle Körperwaschung vollzieht und dann das Wasser
auf den Betroffenen gießt, ist es vollkommener" (käna akmal).^
Jedoch auch bei Erkrankungen physischer Art wird der
Anwendung des Wassers Heilwirkung zugeeignet.^ Auch die
primitive Anschauung der Araber führt alle Krankheit auf
dämonische Einwirkung zurück.^ Noch der heutige Araber hat
den Glauben, daß „nicht Gott es ist, der die Krankheit will,
sondern ihre Urheber sind die neidischen Geister, die sich an
den Schmerzen der Menschen weiden."^ Die alten Araber
* Die älteste Quelle des Hadit ist Muicatta' IV 14:9 S.: al-ici*dü'
min al-'ajn.
* Dasselbe wird im einzelnen sehr genau beschrieben bei Natcaun,
Muslim Y 32 — 33; kurz 'IM (Büläk 1293) III 373.
' Äl-Ghunja li-tälibl tarlk al-hakk (Mekka 1314) 36.
* Nicht dem Hadit, sondern einer Liste von chawäxs (Specifica der
Volksmedizin) entnehme ich folgende Angabe: "Wer an Schlaflosigkeit
leidet, dem setze man, ohne daß er es merkt, an das Kopfende der
Schlafstelle ein Gefäß voll Wassers, \gl. Mufid al-'ulüm tca-mubJd al-
humüni (Kairo 1310) 204 penult.
' "Wellhausen Arab. Heidentum ^ 141 ; Edmond Doutte Magie et
Beligion dans VAfrique du Nord 221, und die daselbst gegebenen Lite-
raturnachweise.
" Musil 1. c. III 413.
I
36 I- Groldziher
nannten die Pest „Speere der Ginnen" (rimäh al-ginn)^, oder
„einen Stich (wachz) von den Ginnen".^ Diese Auffassung vom
Ursprung der Krankheit erfordert, wie dies erst jüngst hier
M. Höfler hetont hat, im Heilverfahren eine antrdämonistische
Richtung.^ Vorzugsweise gilt dies vom hitzigen Fieher. „Das
Fieber kommt von der Glut der Hölle, kühlet es ab (Variante:
löschet es) mit Wasser".* Dies ist die Verordnung des Pro-
pheten gegen Fiebererkrankung. In einer traditionellen Mit-
teilung erzählen die Frauen, die ihn während einer fieber-
haften Erkrankung besuchten, daß sie ihn unter einem auf-
gehängten Schlauch liegend fanden, aus dem er Wasser auf
sich träufeln ließ.^ Aber wir erfahren auch, daß in späteren
Zeiten die Vertreter der medizinischen Wissenschaft^ gegen
die im Hadit enthaltene Heilanordnung des Propheten, vom
Standpunkt ihrer therapischen Erfahrungen ernstliche Oppo-
sition erhoben,^ die jedoch von den Theologen durch den Hin-
weis darauf beschwichtigt wurde, daß der Rat des Propheten
„nicht im Sinne eines natürlichen Heilverfahrens, sondern in
dem eines übernatürlichen Wundermittels zu verstehen sei."*
Nicht das kalte Wasser an sich übe die heilende Wirkung,
^ L. A. s. V. rmh HI 279. Aghäm X 65, 14. Das ursprüngliche
rimäh dl -ginn wird in anderer Version erleichternd in sujüf al-kaum
(Schwerter des Volkes) verändert. L. A. s. v. Jcjd IV 375.
* Ihn Kutejba 'üjün al-achbar ed. Brockelmann, 495, 20.
» Archiv XII 340.
* Buchäri Tihh no. 28 (ed. Krehl - Juynboll IV 58), eine Reihe von
Varianten Kenz äl-'wnmäl V 177 f.
^ Usd al-ghäba V 669 oben.
® Damiri s. v. nahl, II 405 zitiert eine ganze Reihe von Einwürfen,
die von ,, Ketzern, in deren Herzen Krankheit ist" gegen die in den
Haditen empfohlenen Heilmittel vom Standpunkte der medizinischen
Erfahrung gemacht werden; auch das hier behandelte Hadit wird er-
wähnt. Damiri widerlegt natürlich alle diese Einwürfe.
' Zurkäni zu Muwatta' IV 159 — 60, wo die Einwendungen der
Ärzte reproduziert sind ; sehr interessante Auseinandersetzung mit letzteren
bei Gelegenheit desselben Hadit, Nawawi- Muslim V 44 ff.
* Kastalläni Ylll 426 saj' chärig 'au kawä'id al-tibb däclii] fi kism
al-mu'gizät al-chärikat lil-'ädat.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 37
diese erfolge vielmehr durch die besondere Art seiner An-
wendung. Damit scheinen sie den ursprünglichen Sinn des im
Hadit angeordneten Verfahrens zu erraten.
Andere Berichte aus der islamischen Tradition bieten
gleichsam die nähere Erklärung jener Anweisung. Ein Hadlb
um dessen Anerkennung sich spätere Theologen viel Mühe
gegeben haben ^, das jedoch diese Form gewiß nur in der
Absicht erhalten hat, um der populären Gewohnheit religiöse
Berechtigung zu verleihen, empfiehlt dem Fieberkranken
folgendes Mittel: Er möge zeitig morgens zu einem
Brunnen gehen und aus demselben einen Schöpfeimer voU
Wasser nehmen, sich damit begießen und dabei die Worte
sprechen: „0 Allah heile deinen Diener und mache wahr die
Worte deines Propheten." Hilft dies Mittel nach dreimaliger
Anwendung in frühen Morgenstunden nicht, so wiederhole man
es sieben Tage lang zur selben Zeit; dann wird das Fieber, so
Gott will, sicher weichen. — In einer anderen Version wird in
derselben Weise das Untertauchen in einen Strom vor Sonnen-
aufgang empfohlen und die Zahl der Tage als 3, eventuell 5,
7 und 9 angegeben; die letztere Zahl möge nicht über-
schritten werden.- Der alten Volksübung entspricht sicherlich
die an ersterer Stelle angeführte Modalität: das Begießen mit
Quellwasser. Der Nachdruck, der auf die Wiederholung in
ungeraden Zahlen gelegt wird^, ist ein Zeichen für den
* Sibghat AUcüi al-Madräsi im Anhang an Ibn Hagar al-'Askaläni:
al-Kaul al-mussadad fi-1-dabb 'an al-Musnad (Haidaräbäd 1319) 53f.
* Mu^nad Ahmed Y 281. Dieser Aberglaube gehört in dieselbe
Gruppe, für die bei J. G. Frazer 1. c. 204 ff. eine große Zahl von Bei-
spielen zu finden ist.
' Für diese Bedeutung der ungeraden Zahl im Heilungsverfahren
8. Revue des Trad. pop. XX (1905) 367: „On trouve par contre, des pro-
cedes de guerison dont les pratiques medicales doivent etre poursuivies
pendant trois, cinq, sept ou neuf jours, ou repetees un meme nombre de fois
consecutives." Im Zauber der jakutischen Schamanen spielt auch die An-
wendung der ungeraden Zahl an den Zaubermitteln eine wichtige Rolle, Bevue
de l'Hist. des Relig. XLYl (1902) 322. Vgl. auch B. Means Lawrence The
Magic of the Eorse-shoe vith other Folklore notes (Boston-New York 1899);
jetzt auch E. Doutte Magie et Religion dans VAfriqiie du Xord 190.
38 I. Goldziher
zauberischen Charakter dieses Brauchs.^ Das Begießen mit
Wasser hat seinen Grund in dem Glauben, daß dadurch die
krankheiterregenden Dämonen verscheucht werden.
Von einem Krankenbesuch des Propheten wird erzählt,
daß er bei dem Kranken die rituelle Waschung vollzogen und
ihn hernach mit dem Wasser begossen habe. Dies wird dann
als nachahmenswertes Beispiel für Krankenbesucher empfohlen.^
Daß eine solche Sitte bei den Arabern volkstümlich vorhanden
war, und daß sie im Vorgehen des Propheten nur in eine
religiöse Form gekleidet ist, könnte man daraus folgern, daß
der liebeskranke Dichter *Urwa b. Hizäm von den Zauber-
ärzten, die ihn in seiner Krankheit besuchen, sagt, daß sie
„sein Antlitz mit Wasser besprengen."^ In einer Version des
betreffenden Gedichtes wird dies ihr Vorgehen als rukja (Zauber)
bezeichnet.* In demselben Sinne sagt ein anderer liebeskranker
Dichter^ von sich: „Sie kommen zu ihm mit Amuletten und
Zaubermitteln (bilta^äwid wal-rukä) und besprengen ihn mit
Wasser wegen der Schwere seiner Krankheit; sie sagen, die
Augen der Dschinnen haben ihn mit dem Blick getroffen;
würden sie die Wahrheit sagen, sprächen sie: die Augen der
Menschen." Das Besprengen mit Wasser wird also als Zauber-
mittel gegen dämonische Einflüsse angewandt. Auch der Liebes-
schmerz werde durch diese verursacht,®
In diesen Zusammenhang gehört auch die aus der letzten
Krankheit des Propheten mitgeteilte Nachricht,^ daß man ihn
^ Globus LXXX (1901) nr. 2: Über Zahlendberglauben im Islam.
* Buchäri Mardä no. 21 (ed. Krehl-Juynboll IV 49).
' Aghäni XX 165, 16.
* Ibn Kutejba, Poesis ed.de Goeje 396, 2 Kali IJI 169, 10; 161, 12.
vgl. Agh. II, 6, 6 V. u. der liebeskranke Magnün findet keinen räkt gegen
seinen Liebeszauber. Zu dem im selben Verse erwähnten salwa als
Zaubermittel vgl. 3Iuh. Stud. I 260 Anm. 5.
* Aghäni VI 80, 13 dem späten Dichter 'Ukäsa al-'Ammi, bei Däwüd
al-'Antäki, Tazjin al-asiväk (lith. Kairo 1279) 126, 4 v. u. dem Magün
Lejlä zugeschrieben.
" Liebeskrankheit durch den se^tän verursacht Ibn Kutejba 1. c. 364, 20.
' Ibn Sa'd XI 29, Uff.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 39
auf seinen eigenen Wunsch „aus sieben Schläuchen, deren
Spünde früher nicht gelöst waren" mit Wasser begoß. Wenn
auch — im Sinne der Erzählung — mit der Begießung zu-
gleich der Wunsch nach Erfrischung verbunden sein mag, so
deuten die angeführten Modalitäten auf die Voraussetzung
zauberischer Wirkung.
Solche Voraussetzung ist auch bei der Anwendung von
Wasser bei Sterbenden anzunehmen. In seiner Sterbestunde
taucht der Prophet seine Hand in ein Wassergefäß und be-
streicht dann sein Antlit«.^ Man denke dabei an die zauberische
Wirkung, die dem Bestreichen (mash) zugeeignet wird^: hier
soll sie durch Mitwirkung von Wasser gesteigert werden. Nach
einer Mitteilung Musils herrscht unter den Arabern, deren
Gebiet er bereist hat, der Brauch, dem Sterbenden tropfen-
weise Wasser in den Mund zu träufeln.^ Auf diese Gewohnheit
ist auch in einem der von Martin Hartmann in der libyschen
Wüste gesammelten Lieder Bezug genommen, mit der von den
Einheimischen gegebenen Erklärung: „nicht durstig darf der
Mensch ins Jenseits gehen". Hartmann bezweifelt mit Unrecht
die Tatsächlichkeit der Beziehung auf einen solchen Brauch
in jenem Gedicht'*; freiHch ist den Arabern, die ihm die Er-
klärung lieferten, die ursprüngliche Bedeutung der Sitte nicht
mehr klar.
Die islamische Volksanschauung hat femer die alte Vor-
stellung von der zauberischen Wirkung des Wassers auf das
vom Zemzembrunnen konzentriert, von dem der Muslim
in seiner Sterbestunde einige Tropfen in den Mund träufeln
läßt. Es wird als Mittel betrachtet, dem auflauernden
> Die Stellen s. in Nöldeke- Festschrift 327 Anm. 7.
* Die Ausführung dieser Tatsache aus der arab. Literatur würde
hier zu weit führen; vgl. Völlers Die Symbolik des mash in den semi-
tischen Sprachen, Archiv für Religionswiss. VIII 97 ff.
* Arabia Petraea III 423.
* Lieder der libyschen Wüste (Abhandl. für die Kunde des Morgen-
landes, herausg. von der DMG. XI Xo. 3 ; Leipzig 1899) 69, 2 ff.
40 I- Groldziher
Satan entgegenzuwirken.^ Aus Nordafrika wird berichtet:
„Man gibt sich alle Mühe, daß der Sterbende davon trinke;
ist er dies nicht mehr imstande, so besprengt man damit seine
Kleider (in denen er begraben wird)^; das Feuer der Hölle
könne ihm dann nichts mehr anhaben."^
IV
Auch vom Verstorbenen will man die bösen Einflüsse
durch Anwendung von Wasser abwehren. Dies gehört in die
Reihe der Mittel „performed for the purpose of preventing evil
spirits from doing härm to the dead".^
Auf Malta hat sich der Brauch erhalten, daß man täglich,
möglichst auf einem von der Sonne beschienenen Ort, frisches
Wasser ausgießt, um den abgeschiedenen Seelen Erleichterung
zu verschaffen. Schüttet jemand unwillkürlich Wasser aus,
sagt er: „es möge zum Nutzen der abgeschiedenen Seelen ge-
reichen."^ Dieselben Anschauungen zeigen sich noch deutlicher
in Beduinenbräuchen, über die P. Antonin Janssen aus dem
Gebiete von Moab berichtet. „Wenn ein Ritter fällt, wird ihm
Wasser auf das Haupt gegossen; man besprengt auch die Stelle
des Bodens, auf der er gefallen ist^; auch schüttet man Wasser
hinter einem Leichnam, den man zu Grabe bringt „um das
* Burton Personal Narrative of a Pilgrimage to Mecca and Medina
(Leipzig 1874 Tauclinitz - Edition) III 42; vgl. Snouck Hurgronje De Hadji-
Politiek der Indische regeering (holländ. Zeitschrift Onze Eeuw, Jahrg.
1909 ; Heft 6) 22 des SA.
* Vgl. Lane Manners and Custoius of the modern Egypiians^ (London
1871) I 322.
» Achille Robei-t L'Arahe tel qu'il est (Alger 1900) 67.
* S. die Literatur bei E. Westcnnark The Origin and Development
of the Moral Ideas II 52.3 Anm. 7.
* Magri Precis de mythologie maltaise (in Actes du XlVe Congres
internat. des Orientalistes — Alger 1906 — II. Sect. II, JJl).
^ Die Besprengung der Stelle des Bodens, auf dem ein Unfall vor-
gekommen ist, finden wir in folgender aus Syrien berichteten Sitte: „Wenn
bei den Juden ein Kind zu Boden fällt, so schütten seine Eltern, nach-
dem sie es aufgehoben haben, Wasser auf die Stelle, auf welche es ge-
fallen", Eyüb Abela Beiträge zur Kenntnis abergläubischer Gebräuche in
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 41
Böse abzuwehren" („pour couper le mal").^ Und auch sich
selbst schützen die Hinterbliebenen durch dieselben Mittel vor
den den Toten umgebenden bösen Geistern. Von den Xawär
(Zigeunerstamm auf demselben Gebiet) teilt Janssen mit: „Als
das Totengeleite vor dem Lager vorbeizog, besprengte eine
Frau den Boden und die vorbeiziehenden Leute mit Wasser
„damit — so sagte sie — das Böse mit dem Toten sich ent-
ferne und nicht wiederkehre, um uns anzugreifen". Derselbe
Brauch wird auch von den Arabern geübt, wenn sie einem
Leichenzug begegnen.- Bei den Schanaka auf Madagaskar^
werden nach einem Begräbnis sowohl die Wände des Sterbe-
hauses als auch die zu diesem Zweck versammelten Angehörigen
des Verstorbenen mit eigens zu diesem Zweck präpariertem
Wasser besprengt.* Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß
durch ähnliche Bräuche der Wiederkehr des Geistes des Ver-
storbenen vorgebeugt werden soll, daß sie die Lossagung vom
Geiste des Verstorbenen symbolisieren, welche Bestrebung be-
Syrien nr. 120 (Z DP V 1884, VII 99). Die vom Verf. angegebene Mo-
tivierung „um den unsichtbaren Feen, die dieser Fall könnte belästigt
haben, zu beweisen, daß das Kind aus Ungeschick und nicht mit Vor-
bedacht hingefallen sei" ist wohl mißverständliche Variante der ur-
sprünglichen Ursache (Abwehr der den Unfall verursachenden Dämonen).
* Coutumes des Arabes au pays de Moah 71.
» ibid. 105.
' Frazer 1. c. 423. Ein ähnlicher Brauch wird aus China angeführt
bei E. Tylor Anfänge der Kultur (deutsche übers.) II 438 zu Anm. 3.
* Vgl. auch den jüdischen Brauch, beim Eintreten eines Todes-
falles im Sterbehaus, sowie in den benachbarten Häusern alles vorfind-
liche Wasser auszugießen (Brück Eabbinische Zeremonialgebrüuche 48,
Eusebe Vassel La Litterature populaire des Israelites tunisiens, Paris
1904—1907, S, 125). Es kann nicht ermittelt werden, ob diese Sitte mit
Anschauungen zusammenhängt, die dem oben behandelten Vorstellungs-
kreis verwandt sind. Wie mich Dr. Immanuel Low belehrt, ist der
jüdische Brauch in der Literatur erst seit dem XIII. Jahrh. nachweisbar
{Buch der Frommen ed. Wistinetzki, Berlin 1891, nr. 562) und sicherlich
externen Ursprunges. Bei Dieudonne Dergny Usages, coutumes et cro-
yances I (Abbeville 1885) 34 wird, wie ich aus einem Zitat bei Vassel
(a. a. 0.) entnehme, derselbe Brauch aus verschiedenen anderen Kreisen
nachgewiesen.
42 I- Goldziher
kanntlich nach J. G. Frazer^ als der Grund eines großen Teils
der Leichen- und Trauerriten der verschiedenen Völker zu be-
trachten ist.- Jedenfalls dient die Besprengung auch im Sinne
dieser Auffassung zur Abwehr widriger Geister.
Wir finden in den Dokumenten des Islam Spuren des alten
Glaubens, daß die Anwendung des Wassers am Grabe den
Verstorbenen vor den bösen dämonischen Einwirkungen be-
schützt. Man wird es nicht auffallend finden, wenn solche
Spuren im Islam eine den Vorstellungen dieses Glaubens ent-
sprechende Umdeutung erfahren.
In einem Hadit wird erzählt^: Der Prophet ging einmal
— zweifelhaft, ob in Mekka oder in Medina — vor Grabstätten
vorüber und glaubte jammernde Menschenstimmen herauszuhören;
er sagte, es wären zwei Menschen, die kleinerer Sünden wegen die
Grabesqualen erleiden. Darauf nahm er einen frischen Palmen-
zweig, brach ihn in zwei Hälften, und steckte jede derselben
auf je ein Grab. Er erklärte diese Handlung mit den Worten:
Vielleicht wird ihnen Gott Erleichterung schenken, so lange
diese Zweighälften noch nicht ausgetrocknet sind (mä lam
jajbasä).* Es wird also von dem saftigen Palmzweig eine Ein-
wirkung auf den Zustand der Verstorbenen erwartet. In der
islamischen Darstellung erhält die Erzählung eine Beziehung
zu den Qualen, die die sündigen Menschen im Grabe von den
^ Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ire-
land (1885) XV 64—100.
^ Auf das Vorhandensein einer solchen Anschauung in arabischem
Kreise läßt die bei einigen Stämmen in Arabia Petraea gebräuchliche
Sitte schließen, daß die Leute, die dem Verstorbenen das Grab lier-
gerichtet haben, darüber die Hände waschen, wobei sie die Worte
sprechen: „wir sagen uns los vom Bündnis mit dir (ehna mu-
brijjin demmatak)"; dieselbe Formel sprechen sie nach der ihnen ver-
anstalteten Mahlzeit. Wir glauben, daß dies der Sinn der Formel ist,
die Musil {Arahia Fetraealll 425, ö; 429,2) anders erklärt („wir reinigen
deine Schuld").
' Buch. Wudü' nr. 57, Adab nr. 45, Muslim 1358. Vgl. den bei
Ihn Sa'd VI 73, 3. 6 erwähnten Brauch.
* Dies Hadit wird sehr weitläufig behandelt in den Fatäwl hadi-
tijja von Ibn Hagar al-Hejtami (Kairo 1307) 200—201.
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 43
beiden Plageengelu erleiden. Von diesen Qualen sollen die
saftigen Palmzweige Erlösung gewähren. Dies ist islamische
Umdeutung der alten Vorstellung, daß das feuchte Element
Schutz vor den bösen Geistern bietet, einen Schutz, dessen
auch die Verstorbenen bedürfen.
In gesteigertem Maße kommt diese Vorstellung zum Aus-
druck in dem islamischen Brauch Wasser auf das ge-
schlossene Grab auszugießen (al-mä'u jurassu ''alä kabrihi).^
Nach der islamischen Tradition wurde dieser Brauch im
Islam zuerst am Grabe Ibrahims, des Sohnes des Pro-
pheten, durch seinen Vater geübt.* Dies hat wohl den Sinn,
daß der heidnische Brauch nicht aufhörte, im Islam fort-
zuleben. Nach einer ÜberKeferung habe die Besprengung
des Grabes des Propheten sein Mn eddin Biläl b. Rabäh vor-
genommen, und die Prozedur wird näher beschrieben: „er be-
sprengte es aus einem Kübel, und begann bei der Stelle des
Kopfes, bis daß er bei der der Füße endigte".^ Man hat diesem
Brauch im Islam in der Tat stets große Wichtigkeit zugeeignet;
wir haben sogar ein Beispiel dafür, daß ein frommer
Mann in seiner letztwilligen Verfügung (wasijja), in der er
nebst der Darlegung seines Glaubensbekenntnisses auch die
Modalitäten seiner Grablegung anordnet, nicht vergißt, seinen
Hinterbleibenden ans Herz zu legen, daß die Wassersprengung
am Grabe nicht verabsäumt werde.^ In einer Instruktion für
' Auf Muhammads Grab Ibn Sa'd XI 79,26. auf das des Abu Bekr
il>id. III, I 149, 8, auf das des Chäriga b. Zajd ibid V 194, 17; vgl. auch
Janssen 1. c. 98,13 v. u., Musil Arabia Petraea III 425: „Das Grab wird
womöglich immer mit Wasser begossen".
* Usd al-ghäba I 40 wa-rassa 'alä kabrihi mä'an wa-'allama 'alä
kabrihi bi-alämatin wa-hua awwalu kabrin rus'sa 'alejhi fi-1-
isläm.
* Dijärbekri (Chamis), zitiert aus Bejhaki Ddlä'ü al-nubutctca (Mit-
teilung Schwally's). In dem bezüglichen Artikel des Ibn Sdd EI, I 165 ff.
sowie auch in anderen alt^n Traditionswerken wird dies Detail nicht
erwähnt.
* Subki Tabakät lU 128, 5 v. u. Abu Ismä'il 'Otmän al-Säbüni,
genannt Sejch-al-isläm (st. 1057, Prediger in Nisäbür).
44 !• Goldziher
den Polizeidirektor (muhtasib) aus dem XIII. Jahrhundert
werden auch die Übungen aufgezählt, deren Einhaltung dieser
Beamte bei Beerdigungen zu überwachen hat. Unter anderem'
muß er dafür sorgen, daß Wasser auf das Grab gegossen werde.^
Wie wir hieraus sehen, ist der altarabische Brauch vollends
in den Islam eingezogen und als hervorragendes Element der
religiösen Begräbniszeremonien betrachtet worden. Allerdings
finden wir ihn, soweit ich sehe, weder in gesetzbestimmenden
Haditen, noch auch in den Gesetzkodifikationen berücksichtigt;
die angeführten Daten zeigen jedoch die Wichtigkeit, die ihm
trotz der Abwesenheit bindender Verpflichtung volkstümlich
zugeeignet wurde.^ Die Motivierung, die auch die heutigen
Beduinen diesem Brauch geben, ist als die ursprüngliche zu
betrachten, und es ist nicht anzunehmen, daß er ein Überrest
von Libationen ist, die man bei verschiedenen Völkern den
Gräbern der Angehörigen widmete.^
Wenn wir nun in Betracht ziehen, daß, wie wir oben
sehen konnten, dem Regen eine das Böse abwendende Wirkung
zugeeignet wird^, so können wir den Wunsch, daß das Grab des
^ In dem Kitäb nihäjat al-rutba fi talab al-hisba aus
welchem Cheikho interessante Mitteilungen gemacht hat, Masrik X,
1085, 8 V. u. In einer Abhandlung über die „hisba im Islam", Muktabas III
537 — 554; 609 — 618, werden vier handschriftliche Werke dieser Gruppe
ausführlich beschrieben; von diesen ist Nr. 4 mit dem von Cheikho be-
handelten identisch.
* Snouck Hurgronje führt die Besprengung des geschlossenen
Grabes unter den Begräbnisbräuchen des Gajö -Volkes an (Het Gajöland
en zijne hewonei's, Batavia 1903, 313, 6 v.u.).
' S. darüber Charles A Critical History of the Doctrine of Future
Life (London 1899) 24 note 2. Bei Babyloniem: Keüschr. u. A. T.' 638
Anm. 1 ; 640, 17. Auch bei Arabern kommt es vor, daß Zecher Wein auf das
Grab des Freundes gießen; dafür sind die Stellen bei Lammens Etudes
sur le regne du Calife Mo'^üwia 341 (M<51ange8 Beyrouth III 205) gesammelt.
* Die Araber hielten den Regen besonders am Ende des
Monates für erwünscht. Es wurde als segenverheißend angesehen, wenn
in der letzten Nacht des Monates Regen fiel. LA s. v. hr\ I 24 ult.
Mit dem Neumond tritt man bis zur Zeit des Vollmondes fortschreitend
in die günstige Periode des Monates; die Abnahme des Mondes (zumal
der mihäk, das Ende des Monates, die letzte Nacht oder nach anderen
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel 45
Freundes des Regens nicht entbehre, mit der hier behandelten
Gruppe von Vorstellungen in Verbindung setzen. Durch die
häufige Anwesenheit des Regens am Grabe mögen von dem-
selben die bösen Einwirkungen verscheucht werden, vor denen
man auch den Verstorbenen schützen will. Der Regen soll
reichen Ersatz bieten für die durch den Überlebenden zu voll-
ziehende Berieselung (rass) des Grabes. „Mögen den Grab-
hügel die donnernden (Wolken) und die Regentropfen tränken;
— vermöchte ich es, würde ich es selbst tränken",
sagt Ubejrid in seinem Trauergedicht auf seinen Bruder Burejd.*
Der Gedanke des Tränkens und Labens der lechzenden Gebeine -
ist mit dem Verblassen der ursprünglichen Bedeutung sekundär
dazu gekommen.
V
In den Trauergedichten der neuhebräischen Poesie wird
am Schluß der Dichtung sehr häufig der Wunsch ausgesprochen:
Gott möge den Gebeinen des Verstorbenen Tau spenden; ein
Beispiel bei Jehuda ha-Lewi, Trauergedichte nr. 35 v. 17.^
In der karai'tischen Literatur wird bei der Erwähnung
frommer Verstorbener gewöhnlich die Eulogie angewandt:
ui'hfz br b'^T, rzrc brr „Möge die Lagerung des Taues auf
ihren Ruheort kommen", was dann in Form vollständiger
oder teil weiser Abbreviatur erscheint; in ersterem Falle: crnrp-
die drei letzten Nächte des Monates) gilt als ominös und ist für jede
Unternehmung ungünstig. Sehr interessante Beispiele für diese Volks-
Torstellung bei Gähiz Buchalä 120 oben. Man meidet das Heiraten
während des mihäk, Tabarsi Makärim al-acMäk 81,13. Der für diese
Zeit erwünschte Regen soll eine Gegenwirkung gegen die ihr inne-
wohnende Schädlichkeit hervomifen.
^ Aghänl XII 15, 6 v. u., wo al-rawäkid in al-rawä'id zu ver-
bessern ist, vgl. Amäli al-Käli III, 4. 4 v. u.
^ Sakä Allähu sadähu (z. B. .^^fÄüwi VIII 140, 16); vgl.^us b. Hagar
ed. ß. Geyer 32, 17. Vgl. das bekannte Gedicht des Abu Mihyan al-
Tfil:aß, der seine toten Gebeine mit Wein erlabt wissen will.
S. auch Jakob AUarabisehes BeduinenUbeti 142 f.; sehr bemerkenswert
Ibn Sa'd VI 56, 12.
' Diwan des Abu-l-Hasan Jehuda ha-Lewl ed. H. Brody 11 141.
46 I. Goldziher
Dies ist jedoch nicht Nachahmung der in der arabischen Poesie
gangbaren Wunschformel, die uns hier beschäftigt hat. Die
jüdische Formel ist vielmehr, wie auch aus dem Text des an-
geführten Beispiels ersichtlich ist, auf die an Jes. 26,19 an-
gelehnte Anschauung^ gegründet, daß die dereinstige Auf-
erstehung der Toten durch Tau bewirkt wird, den Gott im
siebenten Himmel ('aräböth) für diesen Zweck bewahrt.^ Es ist
auch speziell der die Auferstehung bewirkende tal öröth der
Jesajas stelle, der für das Grab gewünscht wird; d. h. der Ver-
storbene möge dereinst der Auferstehung teilhaft werden. „Am
Ende der Tage möge er dich mit seinem öröth -Tau erwecken"^;
ein Sproß der bei vielen Völkern vorkommenden Vorstellung
vom Lebenswasser, das die schwindenden Kräfte erneuert,
die Toten wiederbelebt.'*
Aus der jüdischen Eschatologie ist diese Vorstellung als
„Regen der Auferstehung"^ in den Islam eingedrungen, „Allah
öffnet eine der Schatzkammern des Gottesthrones, in welchem
sich das Meer des Lebens befindet. Daraus regnet es auf die
Erde herab . . . und dieser Regen berieselt die lechzende, ver-
storbene und ausgedörrte Erde, die dadurch wieder belebt wird".
Auch die Auferstehung der toten Menschen wird dadurch ver-
ursacht."
1 Bab. Talm. Sanhedrm 90^; jer. T. Ta'anUh I, i.
* Bab. Chag'igah 12^; unten. Über den Tau als „possessing the
magical virtue of restoring the dead to life" s. Frazer 1. c. 206.
' Jehuda ha-Lewi, Trauerged, no. 33 v. 42 (ed. Brody II 138), vgl.
Preundschaftslieder no. 75 v. 2 (I 108 ed. Brody): der Tau belebt die
verwüsteten Seelen.
* Nach der Sage der Wogulen verfügt der „Himmelsvater" (Numi-
tarem) über die Kraft, mittels des Lebenswassers, das seinen wertvollsten
Schatz bildet, Verstorbene ins Leben zurückzurufen, und er kann dies
Zaubermittel auch anderen verleihen. Auch die Ostjaken haben ähn-
liche Vorstellungen (Keleti Szemle VI 125 f.).
* Wiederbelebung der Toten durch Regen in der Legende bei
Gähiz Mahusin ed. Van Vloten 365, 2.
* Ghazäli Perle precieuse 6d. Lucien Gautier 40 unten, wo auch
auf Muhammed. Eschatologie ed. Wolff 67 verwiesen wird.
Die Serapislegende
Von E. Petersen in Berlin - Halensee
Die Kritik hat in den zahlreichen Ausführungen über den
Ursprung des alexandrinischen Serapiskultes (ich schreibe den
Namen wie Erman) in verschiedener, doch, wie mir scheint,
noch nicht in der richtigen Weise ihres Amtes gewaltet. So
auch nicht in dem, was unlängst S. Reinach und Bouche-Leclercq
veröffentlichten.^ In vielem sich dem letzteren anschließend,
hat Amelung^ die seit E. Q. Visconti herrschende Vorstellung
von dem alexandrinischen Kultbild als einer Schöpfung des
Bryaxis genauer bestimmt, indem er die zahlreichen Nach-
bildungen, voran die in Alexandria selbst gefundenen, sammelte.
Gemmenbilder und, wichtiger, die Münzprägung Alexandrias ließ
er vielleicht deshalb beiseite, weil es ihm für die kunst-
geschichtliche Entscheidung vor aUem auf die Formen des
Kopfes ankam. Freilich hatte Michaelis' gerade an späteren
Ptolemäermünzen, die den Kopf des Zeus-Serapis darstellen, eben
die Ähnlichkeit mit dem Zeustypus Otricoli betont, auf die
Amelung Gewicht legt. Die Stil Verwandtschaft der besseren
Serapisköpfe mit jenem Zeustypus ist so groß, daß Amelung
vielleicht mit Recht beide auf denselben Meister zurückführt.
Ich hatte mich vor nahezu fünfzig Jahren begnügt, jenen Zeus
in einer These als Lysippeae potiiis quatn Phidiacae — das
war damals die herrschende, auch von Brunn geteilte Meinung
— artis exemplar aufzustellen.
* J. S. Reinach in Bev. arch. 1902, II 5 = Cultes Mythes Beligions II
mit einer Bemerkung gegen Amelung am Schluß. Bouche-Leclercq,
Bev. de Vhist d. relig. 1902, 1 und kurz gefaßt Eist. d. Lagides I 113, 1
die Literatur.
* Amelung i?e»;. arch. 1903 II 177; Ausonia 1908 111120.
' Michaelis Sarapis statiding, JHS 1885 S. 291.
L
48 E. PeterseQ
In seiner hauptsächlicli auf Bouche-Leclercq fußenden
Prüfung der Nachricliten über die Einführung des Serapis,
kultes glaubt Amelung wesentlicb auch mit dem überein-
zustimmen, was er als Ergebnis von A. Dieterichs^ Ausführungen
auf der Dresdener Philologenyersammlung hinstellt: le caractere
apocrypJie de tous ces recits. Eine Hauptdifferenz zwischen
Dieterich und Bouche-Leclercq scheint nach ihm darin zu be-
stehen, daß der Deutsche den Eumolpiden Timotheos (s. unten),
der Franzose den Alexandriner Apion^ für den Hauptgewährs-
mann unserer Serapisüberlieferung ansah. Dans l'un et l'autre
cas, meint Amelung, aucun detail de ces recits ne peut ctre
considere comme ayant im caractere strictement liistorique. Etwas
weniger skeptisch äußert sich Bouche-Leclercq, der S. 24
Legenden und Tatsachen geschieden wissen will und es a
priori wahrscheinlich findet, daß die Serapisstatue a ete importee
d'une ville grecque posse'dant un culte analogue ä celui de Serapis.
Preciser davantage est impossible. Das ist eine eklektische
Kritik, die nach eigenem Belieben das Überlieferte hier annimmt
dort verwirft. Dieterichs, des so früh der Wissenschaft Ent-
rissenen, Ansichten konnte Amelung aus persönlichem Verkehre
vielleicht besser kennen, als sie aus den zu kurzen 'Ver-
handlungen' zu entnehmen sind; gleichwohl hoffe ich sie mit
der folgenden Ausführung richtiger zu erfassen.
Man verkennt die Aufgabe der Kritik, wenn man es als
ihre Sache betrachtet, jeden Wunder enthaltenden Bericht ab-
lehnen oder wenigstens der Wunder entkleiden zu müssen.
Als geschehen können Wunder freilich keinen Teil einer
vernunftgemäßen GescBichtserzählung bilden, als geglaubt
müssen sie es. Denn Wunder, wie immer sie dazu gekommen,
haben Menschen zu allen Zeiten geglaubt. Vor allem sind ge-
glaubte und erzählte Wunder eine typische Begleiterscheinung
neu sich bildender religiöser Vorstellungen und Kulte.
' Verhandlungen d. 44. Versammlung d. Ph. u. Seh. S. 31.
* Über Apion als Quelle der Schrift über Isis s. Hermes 1896, 232.
Die Serapislegende 49
Auch der Serapislegende gegenüber hat die Kritik also
nicht die Aufgabe, die Wunder säuberlich auszuscheiden. Viel-
mehr soll sie die versprengten Teile der Wundererzählung auf
ihre Zusammengehörigkeit und Einheitlichkeit prüfen, danach
das Ganze darauf ansehen, ob es dem Zwecke und der Zeit
gemäß ist. Was darin erdichtet, und was tatsächlich ist, wird
dann uns, die von keinem Serapis wahn befangen sind, von
selbst klar sein. Parthey, Krall, Lumbroso^ und wie sie alle
heißen, haben die Berichte des Tacitus hist. IV 83 (hier T),
Plutarch Isis 28 und soll. anim. XXXVI 2 (hier Pi und Ps)
und andere später besonders zu nennende sorgfältig miteinander
verglichen, doch nicht in dem Sinne, wie es hier geschehen
soll. Nicht die vermeintlichen Tatsachen nur, sondern die
Legende selbst soll als etwas Tatsächliches hergestellt werden.
Je mehr sie durch sich als in unserer Überlieferung verkürzt
und durch Verschiebungen oder Auslassungen entstellt verraten
wird, um so gewisser ist, daß die zugrunde liegende Quelle
eine einheitliche, originale ist.
Ptolemaios I. Soter, so lautete also die Legende, hatte ein
Traumgesicht, gleichwie der Pharao in der Geschichte Josephs.
Ihm erscheint ein Jüngling deccn'e eximio et maior qiiam hiimana
specie und gebietet dem König ut fidissimis amicorum in Pontum
missis effigiem siiam acciret] darauf scheint das (Jebild in cadum
igne pluriyno attolli. Träume sind bis heute eine beliebte Form
der Offenbarung, sei es die Gestalt, sei es den Versteck des
heiligen Bildes anzuzeigen. Vielleicht erinnert man sich der
Geschichte der erst unlängst in Schwung gebrachten Madonna
del rosario bei Pompeji, wie sie die Frankfurter Zeitung er-
zählte. Es war ungefähr dasselbe, was Ulrichs, Reisen und
Forschungen I 236 f., von einem Bilde der Panagia in Böotien
und anderen ähnlichen berichtet.
Wie der Pharao, anscheinend nach kurzem Wachen in
selbiger Nacht, hat auch Ptolemaios nach längerer Frist, wo-
^ Parthey zu Plutarch Isis 28; Krall Tacitus u. d. Orient; Lum-
broso Memorie B. Accad. Torino 2. ser. XXVU, 189.
Archiv f. lleligionswissenschaft Xm ^
50 E. Petersen
von sogleich, ein zweites Gesicht: eadem species terribilior iam
et instantior, Worte, die sich zu widersprechen scheinen und
erst durch Pi verständlich werden. Hier fehlt das erste Traum-
gesicht; vielmehr ist nur .eines erwähnt, dieses eine aber offen-
bar nicht gleich dem ersten von T, sondern gleich dem zweiten.
Aber daß Pi den ersten Traum kennt und nur ausgelassen
hat, um sogleich zur Hauptsache zu kommen, verrät er selbst.
Denn am Schlüsse des Kapitels bestätigt er durch einen Aus-
spruch Heraklits, daß Dionysos derselbe wie Hades -Pluton,
derselbe auch wie Osiris, worauf noch zurückzukommen ist.
Jetzt wissen wir auch gewiß, was wir sonst nur erraten hätten,
daß der jugendschöne Gott des ersten Traumes in T Dionysos
war, zu erraten allenfalls schon an dem Feuer, in dem er gen
Himmel fuhr, wie er einst, von oben herabkommend, in ihm
von Semele war empfangen worden. Dionysos war den Griechen
seit dem fünften Jahrhundert in zweierlei Gestalt bekannt:
jugendlich und bärtig, und die letztere ist es, die hier mit
dem Hades -Pluton eine Einheit bildet. Dem schlafenden König
erscheint also zuerst der heiter -jugendliche, hernach der bärtig-
ernste Gott.
Ohne weiteres ist jetzt durch den Vergleich der beiden
Träume in T zu erweisen, daß hier durch eine Verschiebung
einiges zwischen die beiden Traumgesichte geraten ist, was
erst nach dem zweiten am Platze ist. Nach jenem ersten
nämlich läßt T sogleich die ägyptischen sacerdotes vom Könige
befragt werden, und als diese im Pontus, von wo der jugend-
liche Gott sein Bild zu holen geboten, nicht Bescheid zu wissen
vorgeben, den Eumolpiden Timotheos. Auch dieser kann erst
durch Befragung solcher qui in Pontum mcassent das Rätsel
lösen, daß es sich um Pluto handle, dessen Bild mit Proser-
pina verbunden in einem Tempel unfern Sinopes stände:
Timotheus . . . cognoscit urhem illic Sinopen, nee procid templum
vetere inter accolas fama lovis Ditis; namquc et midiehrem
effigiem adsistere, quam plerique Proserpinam vocent. Dies Bild
ist dann das nach Alexandria geholte und dort als Serapis
Die Serapislegende 51
verehrte. Wie aber wäre es möglich gewesen, in diesem
bärtigen Gott den jugendschönen des ersten Traumes zu er-
kennen? Nichts ist gewisser, als daß die Erkennung erst nach
dem zweiten Traum möglich war, ebenda wo sie auch in Pi
ihren Platz hat. Das allein war ja auch Zweck und Bedeutung
des zweiten Traum gesichts, das erste zu ergänzen, ja es eigent-
lich erst zutrefifend zu machen. Vielleicht kann man dies auch
von dem zweiten Traume Pharaos sagen. Da dieser, jetzt
wenigstens, in der Genesis sogleich dem ersten folgt, bedurfte
es hier keiner Motivierung des zweiten Traumes. In der
Serapislegende dagegen erfolgt der zweite Traum, weil der
König den ersten nach einiger Zeit vergaß. Blind aber müßten
wir sein, wenn wir die Gleichgültigkeit des Königs und die
Unwissenheit seiner Theologen nicht als Maske erkennt€n, hinter
der sich das Verlangen birgt, den neuen Kult zu gründen.
Kein Zweifel, daß sie nur zu gut wußten, wo das gewünschte
Bild zu holen war, aber es zum Scheine aus dem Munde eines
Dritten, eines Unbekannten, wenn auch nachher sein Name,
Soteles, erhalten blieb, vernahmen, wie des Pharao Träume
nicht von den Berufenen, sondern von dem eingekerkerten
Fremdling gedeutet wurden. Auch die veränderte Erscheinung
des zweiten Traumgesichts, in dem der Gott nun seine wahre
Gestalt offenbart, wird durch die fingierte Gleichgültigkeit des
Königs motiviert. Diese also steht in T an richtiger Stelle,
und nur das Vorhergehende, die zur Lösung des Rätsels
führende Nachforschung muß, weil erst nach dem zweiten
Traume möglich, als verschoben angesehen werden. Nachher
ist sie in demselben Maße besser am Platze, wie die Sorg-
losigkeit des Königs nach der gewonnenen Aufklärung übel
angebracht sein würde.
Die Verschiebung der Nachforschung, mag sie nun erst
von T oder schon von einem Vorgänger vorgenommen sein,
war doch vielleicht dadurch veranlaßt worden, daß etwas Ähn-
liches, nur mit geringerem Ernst, schon nach dem ersten
Traume stattgefunden, so daß der Nacherzähler glaubte, zu-
52 E- Petersen
sammenziehen zu dürfen, was, wenn auch mit wesentlichen
Unterschieden, an zwei Stellen vorkam. Dasselbe werden wir
sogleich noch einmal zu beobachten haben. In den aus T an-
geführten Worten war es Timotheos, der durch Ausforschung
ermittelt, daß der Gott in Sinope Pluto sei; als besonderes
Kennzeichen wird die neben ihm stehende Proserpina geltend
gemacht. In Pi ist es der Kerberos mit der Schlange, der
zur gleichen Feststellung dient. So gekürzt auch die Dar-
stellung in beiden Zeugen ist, so ist doch klar, daß bei beiden
die Identität der realen in Sinope befindlichen Bilder mit dem
im zweiten Traum gesehenen Gott, der bei Pi, vorgreifend,
als der Koloß des Pluton in Sinope bezeichnet wird, övuq
slds rbv 8V SiväTtiß tov IlXovravog xoXoöööv, erwiesen werden
soll. Wie die beiden Erkennungsmittel, Proserpina und Ker-
beros, einander nicht ausschließen, sondern ergänzen, so ist
auch der Name des ägyptischen Theologen, Manetho, aus Pi
in T ein- oder vorauszusetzen. Hier birgt er sich unter den
sacerdotibus Aegyptiorum. Zu der beabsichtigten Verschmelzung
des griechischen mit einem ägyptischen Gott waren Theologen
beider Nationalitäten erforderlich, und wir erkennen durch
Vergleich von T und Pi deutlich, wann ein jeder von beiden
seine Stimme abgibt. Die Verhandlung über die Identität des
Traumbildes mit dem wirklichen findet bei T in einem früheren
Zeitpunkte statt, nach dem (zweiten) Traum, vor der Ein-
holung des Bildes von Sinope, bei P dagegen erst nach dieser:
inst ds xo[iL6d^sls G}q)d-ij (der Koloß von Sinope), öv^ßaXövrsg
ol tcbqI Tifiö&sov rbv ii.rjyrjtijv xal Mavsd^ava tbv 2JsßsvvCrrjv
nXovrcovog hv äyaX^a xa KaQßsQco rsxnaiQÖ^svoi xai rä dQoi-
xovti, jcsC&ovöi rbv UroXs^cctov, cjg krsQOv d'Säv ovdev6g,
ccXXä Hagdmöög köriv. Dies ist der andere Fall, wo nicht
etwas, das in der Legende einmal erzählt war, in T und P
an verschiedener Stelle angebracht wurde, sondern vielmehr
ein Vorgang, der sich in der Legende ähnlich, doch nicht
gleichartig wiederholte, in den abgeleiteten Darstellungen,
der Kürzung halber, je nur einmal Aufnahme fand. Nach
Die Serapislegende 53
den beiden Träumen mußte es sich zunächst darum handeln,
welcher Gott es war, der dem König erschienen war, und wo
das Bild zu finden wäre. Dafür waren die sacerdotes Äegyp-
iioriim, d. h. Manetho, natürlich nicht kompetent, und eben
deshalb wohl wird er hierbei in T nicht genannt. Auch Timo-
theos wußte es selbst, wie er sich stellte, nicht, brachte es
aber durch Erkundigung heraus. Als das Bild danach in
Alexandria angelangt war, mußten weitere Auseinandersetzungen
über Wesen und Bedeutung des Gottes folgen, von denen uns
P sagt. Hier werden nun, wie gesagt, beide genannt, zuerst
Timotheos, danach Manetho, und in derselben Ordnung folgen
zwei Urteile, von denen das erstere, daß nämlich der Gott
Pluto sei, dem Timotheos zustehend, die Voraussetzung und
Unterlage des zweiten, ebenso selbstverständlich dem Manetho
zustehenden ist, daß der Pluto kein anderer als Serapis sei.^
Was weiter folgt, daß Hades (Pluton) gleich Dionysos, aber
auch Osiris- Sarapis gleich Dionysos, liest sich zwar wie
eine angehängte Bemerkung Plutarchs, ist aber unverkennbar
ein Teil des Räsonnements jener Theologenkonferenz. Denn
hier erst schließt sich der Ring der klüglich ersonnenen Ma-
chinationen, indem jetzt endlich auch der erste Traum, der
sonst ganz bedeutungslos erscheinen würde, zur Wirkung ge-
langt. Augenscheinlich ist in der Reihe von Gleichungen
Pluton -Hades -Dionysos -Osiris -Serapis der im ersten Traum
gesehene Dionysos (mit seinem Stiersymbol) das verbindende
Mittelglied.
* Führt die Legende so unweigerlich daza, daß der aus Sinope
eingeführte Gott keinen anderen Namen mitbringen konnte als Pluton,
und ist anderseits von Wilcken Archiv für Papyrus forsch. III, 299 (vgl.
IV, 208) festgestellt, daß um die Zeit, da Serapis in Alexandria durch
Ptolemaios I. seinen Kult erhielt, die Namensverbindung von Osiris und
Apis Oserapis gelautet habe, so stehen wir vor der Frage: ist die be-
wußte und gewollte Veränderung des Namens Oserapis in Serapis für
den neuen Kult wirklich so andenkbar, daß man doch irgendwoher aus
hellenischem Gebiet den Namen geholt glauben könnte? Denn den
Babylonier läßt auch Wilcken nicht gelten.
54 E. Petersen
Nachdem das Bild und sein Standort ermittelt sind , folgt
der zweite Akt des Dramas: Gesandte werden abgeordnet,
den Gott, d. h. sein Bild von Sinope zu holen, welches damals
nach T von einem Tyrannen, Skydrothemis, beherrscht wurde.
Diese Angabe anzuzweifeln steht uns nicht zu. Bevor Alexander
die Herrschaft des Perserkönigs brach, herrschten in Sinope in
seinem Namen Machthaber, die sich auf den Münzen der
Stadt nennen. Nach Alexander, und schon unter ihm kennen
wir in so vielen Städten und Landschaften kleine Herrscher,
daß die Herrschaft des Skydrothemis, dessen Namen Krall aus
dem Persischen erklären wollte, andere mit anderen Barbaren-
namen vergleichen, als geschichtlich anzusehen ist. Doch
soUen die Gesandten vorher Delphi besuchen, ut Pythium
ÄpolUnem adeant. So kommt außer dem eleusinischen Eumol-
piden, der als solcher dem Kult des Pluton und der Pro-
serpina nahestand, und dem ägyptischen Manetho, nun auch
das zentralste aller hellenischen Heiligtümer, in Delphi ins Spiel.
Hier zeigt uns glücklicherweise Ps, wie sehr verkürzt Pi
ist, und daß wir uns den originalen IsQog Xöyog noch sehr
viel mehr im einzelnen ausgeführt zu denken haben als in T.
Von dessen kürzerer Fassung weicht Ps darin ab, daß T den
Besuch Delphis und die Befragung des Orakels kurzweg vom
König geboten sein läßt, Ps dagegen ein neues Wunder ein-
führt, das unter dem Scheine einer neuen Hemmung nur neue
Förderung bringt: widriger Wind treibt das Schiff links statt
rechts an Malea vorbei, und ein Delphin geleitet es glücklich
nach Kirrha. Das poetische Vorbild einer älteren Kultgründuug
ist unverkennbar. Übrigens hat T doch auch das mare secun-
dum, was dem etöXovs ^ccXccxovg von Ps entspricht, nachdem
der ßCaiog avs^og seine Schuldigkeit getan hat. Beide Ver-
sionen sind unschwer zu vereinen. Das Gebot des Orakels
lautet in T und Ps sehr ähnlich, aber doch nicht ganz gleich:
irent simulacrumque patris sui reveJierent, sororisque relinquerent]
dst dvotv ccyaXfiocTcov, tö ^sv rov ITlovtcovog ccvEXeid-ai xöi
xo^C^Eiv, TÖ dh tfjg KÖQ^jg dno^dtccöd'ai xal xaralinslv. Ein
Die Serapislegende 55
merkwürdiges Detail dieses Abformen, das Reinach zu einem
Exkurs veranlaßte, und das vielleicht mehr als alles andere
zeigt, wie sachlich und nüchtern trotz aller aufgebotenen
Phantastik die ganze Erzählung ist. Dieser positive Zug sagt
uns jedoch mehr. Um das Bild des Serapis, den eigentlichen
Gegenstand des neuen Kultes von vornherein mit einem
mystischen Schleier zu umgeben, ließ Ptolemaios nicht, wie
es ja sonst oft genug geschehen war, ein neues Bild an Ort
und Stelle anfertigen, sondern ein fertiges von auswärts
kommen. Sein Bild sollte, obwohl ein relativ neues, etwas
von dem Nimbus haben, den die Sage ganz alten verlieh: sie
seien vom Himmel gefallen, wie das der athenischen Polias,
oder aus Troja entführt, wie die Palladien, oder aus pon-
tischen Fernen wie die brauronische Artemis. Was bedeutet
es nun aber, daß die Göttin nicht auch, wie der Gott, im
Original, sondern nur im Abbild geholt werden sollte oder
geholt wurde? Denn daß jedenfalls auch ihr Bild fertig mit-
gebracht wurde, nicht etwa nur ein Modell, haben wir allen
Grund anzunehmen, hauptsächlich deshalb, weil die Götter-
gruppe sonst ja doch zur Hälfte vor den Augen der Alexandriner
entstanden, der Nimbus zerstört wäre. Auch zeigen zwei
Münztypen Alexandrias ^, der eine unter Hadrian, der andere
unter Antoninus Pius geprägt, die Überführung der Bilder
des thronenden Serapis und einer stehenden Göttin mit Fackel,
die man Demeter oder Persephone nennen kann. Diese steht
das eine Mal vor, d. h. zur Hechten, das andere Mal hinter,
d. h. zur Linken des Gottes. An seiner anderen Seite be-
findet sich einmal die sogenannte Isis Pharia, das kleine
Yordersegel haltend, einmal Tyche. Symbolisieren diese zwei
die glückliche Fahrt nach Ägypten, so kann das Ganze
nicht wohl anders verstanden werden als, wie Zoega Xiimmi
aeg. S. 133 deutete, die Überführung beider Götterbilder von
' Catal. Coins Brit. Mus. Alexandria 886 Hadrian, 1207 Anto-
ninus Pius.
56 E- Petersen
Sinope nach. Alexandria. Jenes änoiid^aßd'ai haben wir aber
gewiß nicht so zu verstehen, als habe man nur einen 'Abguß'
mitgenommen, was auch Amelung S. 6, 2 als unpassend
empfunden zu haben scheint: das 'Abformen' war nur das
Mittel zur Herstellung einer Kopie nach dem Abguß. Warum
aber überhaupt eine Kopie und nicht das Original? Wollten
etwa die Sinopiten nicht die ganze Gruppe hergeben? Oder
wollte man wenigstens die Göttin etwas ägyptisieren, der Isis
angleichen? Davon ist auf jenen Münzen freilich nichts zu
erkennen. Wir müssen dies dahingestellt sein lassen. Genug,
der delphische Gott gebot, nach Ps, den Pluto mitzunehmen,
die Köre dort zu lassen, nach T aber nannte er 'seinen Vater
und seine Schwester'. Dies ist offenbar die Sprache des
Orakels selbst, und zwar bezieht sich der Spruch auf den
zweiten Traum, da es zu dem ersten passend vielmehr fratrem
heißen müßte als patrem.
Den dritten Akt, der in Sinope spielt, gibt uns nur T:
eine Hemmung und Verzögerung. Das Volk will das Bild
nicht hergeben, der König schwankt: auf der einen Seite Furcht
vor dem Numen, dessen Wille ihm bekannt, auch Geschenke
und Verheißungen; auf der anderen das Volk, das sich wider-
setzt. Darüber vergehen drei Jahre, Als dann auch neues
Andringen des Ptolemaios keinen Erfolg hat, droht dem
Skydrothemis ein (Traum)gesicht; es folgen Plagen wie einst
beim Pharao, und als das Volk nicht nachgibt, treibt der
Gott selbst die Schiffe ans Ufer und besteigt spontan das
seinige ^, und in drei Tagen erreicht er mit wunderbarer
Schnelligkeit Alexandria. Wie der Vorgang in Sinope wirklich
gewesen, können wir aus der Wundererzählung nicht heraus-
1 Umgekehrt geht Asklepios nicht als Bild, sondern als Schlange
selbst vom Schiff aufs Land in Epidauros Limera, Paus. III 28, 4, in
Rom Liv. epit. XI. Das Bild hemmt oder fördert wunderbar die Fahrt des
Schiffes, auf dem es sich befindet: die samische Hera auf dem tyr-
rhenischen Riluberschiff, Athen XV 672 c, die Magna Mater auf dem
Tiber bei Ovid F. IV 298.
Die Serapislegende 57
klauben wollen: nur eine längere Zeit der Verhandlung oder
Vorbereitung der Überführung, wahrscheinlich sogar die drei-
jährige Frist dürfen wir für historisch halten. Die Ankunft
des Bildes wird von Hieronymos und Cvrill auf Olympiade
123 (124) gesetzt, also in die letzt« Lebenszeit des ersten
Ptolemaios. Es fehlt allerdings nicht an Anzeichen, die einen
erheblich früheren Ansatz zu empfehlen scheinen.^ Je früher
wir es überführt dächten, desto eher könnte man glauben, daß
das Bild, auch des Serapis, überhaupt erst für Ptolemaios in
Sinope gemacht wäre. Doch würde das zu sehr mit der Legende
streiten. Aber auch allein die Anfertigung des weiblichen
Bildes, ebenfalls einer Kolossalstatue, vermutlich in wesentlich
gleicher Technik, mußte eine längere Zeit erfordern, desgleichen
Verhandlungen und Vorbereitungen verschiedener Art.
So weit also ist die Legende im wesentlichen einheitlich und
wohl zusammenhängend, ein Gemisch von Geschehenem und
Erfundenem, wie es der Legende und dem Zweck, sowie der
Zeit der Kultgründung nicht unangemessen war. Aber wir
sind noch nicht am Ende. Es bleiben in unserer Überlieferung
noch einige Züge, die mit dem bisher Vernommenen teils in
Zusammenhang, teils in Widerspruch zu stehen scheinen, und
eben die Auflösung dieses Widerstreites hat noch ihre besondere
Bedeutung. Es muß doch auch auffallen, daß die Legende
den Kultus bis dahin als einen rein griechischen erscheinen
läßt, der nach eleusinisch- delphischem Rat aus einer ionischen
Kolonie geholt wurde.
Aber es fehlt ja auch noch der vierte, in Ägypten
spielende Akt. Templum pro magnitudine urbis extructum loco
cui nomen BJiacoüs heißt es in T, und diese Worte gestatten
* So die Inschriften im Anhang zu Stracks Dynastie der Ptolemätr
1. Arsinoe, unter Ptolemaios I., "Weihung I^äga^i ^lat und 4. Weihung
VTihg ßaaiXeag UTolBfiaiov xal x&v rixvov ZuQÜitidi %al "letdi. Wenn
die Inschrift Bei: Ärch. 1860 III richtig auf Serapis bezogen wird, scheint
hier noch älteres Zeugnis vorzuliegen. Von welchem Ptolemaios die
Athener ihren Serapis holten, sagt Paus. I 18, 4 leider nicht; er wußte
es vielleicht nicht.
58 E. Petersen
zu denken, was das Ganze heischt, daß der Tempel zur Auf-
nahme des Bildes fertig war, als dieses in Alexandria ankam.
Auch dadurch also wird jenes triennium noch besser verständ-
lich. Fuerat illic sacellum Serapidi atque Isidi antiquüus sacraüim
heißt es weiter, und wir erraten sogleich, daß dies alte kleine
Heiligtum an derselben Stelle, wo später das große stand, das
verbindende Glied zwischen ägyptischer Religion und dem neu-
eingeführten Gott bilden soll. Denn die Göttin ist die echt-
ägyptische Isis, der Gott aber ist der ägyptische Osiris unter
dem neuen Namen Serapis. Mit den Worten haec de origine
et advedu dei celeberrima scheint in T die eigentliche Legende
abzuschließen. Doch hören wir auch noch, was er als ab-
weichende Meinungen über die Herkunft und Bedeutung des
Gottes hinzufügt: nach einigen, wäre er aus Seleucia urbe Suriae
geholt, andere sedem ex qua transierit Metnphim perhibent] den
Gott selbst aber glaubten muUi Äesculapium . . ., quidam
Osirin . . ., plerique lovem . . ., plurimi Ditem patrem insignibus
quae in ipso manifesta aut per ambages coniectant. Die letzten
Worte sind wohl teils auf den Kerberos, teils auf den Modius
und die dunkle Farbe zu beziehen. Auf den ersten Blick er-
scheint ein solcher Widerstreit der Ansichten zu einem Teile
wenigstens unbegreiflich. Denn wie konnte man ernstlich im
ungewissen sein, ob ein um das Jahr 300 aufgestellter Koloß,
das Bild des berühmtesten Tempels von Alexandria, aus dem
ionischen Sinope oder aus der altägyptischen Stadt Memphis
herstamme? Wir haben uns ja aber nur des Orakels, in
welchem Apoll seines Vaters Bild zu holen hieß, zu erinnern,
sowie daß das Bild in Sinope lovis Ditis hieß, um inne zu
werden, daß diese Meinungsverschiedenheit uns keineswegs aus
der Legende selbst herausführt. Wir erkannten oben schon,
daß in ihr an zwei Stellen von der Identifizierung des im Traum
gesehenen Bildes mit einem realen die Rede war. Das zweite
Mal, zufolge Pi (oben angeführt), nach Ankunft des Bildes in
Alexandria, wo nun Ptolemaios mit dem eleusinischen Theologen
Timotheos UDd dem ägyptischen Manetho über das Wesen
Die Serapislegende 59
des neuen Gottes verhandelt. Wir sehen, daß sie die von An-
fang an übernommene Rolle weiterspielen. Der König hatte
den Gott, der sich ihm im Traum zuerst als Dionysos, danach
als Pluto gezeigt hatte, nicht zu erkennen vorgegeben. Und
nur wenn wir ein Auge zudrücken, um die Legendenbildung
nicht zu stören, wundern wir uns nicht, daß Pluton, der Zeus
X&6vLog, nicht vielmehr an seiner ganzen Erscheinung erkannt
wird. Nein, am Kerberos erkennt der weise Rat, daß es Pluton
ist, und überzeugt darauf den König, daß der Gott kein anderer
als Serapis sei. Wir. haben, vorgreifend, schon oben erkannt,
daß, was Plutarch hier scheinbar aus eigenem Wissen über
die Identität von Pluton -Dionysos -Serapis vorträgt, in Wahr-
heit nur das Räsonnement der von Ptolemaios berufenen
Theologen ist. Ihr Votum also ist auch das, was ziemlich
deutlich sich nicht als theoretische Erwägung, sondern als
praktischer Vorschlag darstellt: ßi?.riov dh xov "Oöigiv dg
tavrb övvdysiv x& ^lovväc), rä x ^OßCgidv tbv HägaTCiv^
oxE xr}v cpvöLV iisxsßaXe, xavxi,s xvfövxa xr^g XQOöiiyoQiag. Denn
damit ist ja eben die nach dem Willen des Ptolemaios voll-
zogene Verschmelzung des griechischen Gottes mit dem
ägyptischen Osiris unter dem Namen Serapis vollzogen.
Freilich eben seines Namens wegen glaubte man den
Serapis aus Babel herleiten zu müssen, wo das Ugbv xov
ZlBQä:cL8og in Verbindung mit Alexanders Sterben genannt
wurde, und zwar in den ßaGilnoi icpri^egCdeg nach Arrian VII
26, 2. Wenn Arrian dies, wie auch Wilckens' Meinung ist,
aus einem seiner beiden Hauptgewährsmänner, dem Ptolemaios
nahm, und Ptolemaios demnach den Heilgott gegenüber Babylon
schlechtweg mit demselben Namen nannte, den der von ihm
in Alexandria eingesetzte Gott führen sollte oder nach Wilcken
bereits führte, so kann man dies nur so auslegen, daß Ptolemaios
auch damit das Ansehen seiner Gründung steigern wollte.
Wir haben darin nichts anderes zu sehen als eine der von je-
* Im Philologus 1894 S. 117.
60 E. Petersen
her bei den Griechen, wie später bei den Römern beliebten
Gleichungen verschiedener Yolksgötter auf Grund gewisser
Übereinstimmungen. Im vorliegenden Falle lag die Gleichung
um so näher, wenn auch der Name jenes babylonischen Gottes
dem Serapis ähnlich lautete: Bei Zarbü oder Sarapu nach
Delitzsch und Sarapsis nach Lehmann-Haupt.^ Der Gott selbst
aber, sein Bild und sein Kult wird, wie die Legende außer
Zweifel stellt, nicht aus Babylon hergeleitet, sondern aus Sinope,
und Kralls Versuch, ihn dahin von Babel zu leiten, endet oder
beginnt S. 52, am entscheidenden Punkte, mit dem Saltomortale
eines 'ohne Zweifel', d, h. ohne Beweis.
Suchen wir also das nichtgriechische Element, das sich in
Alexandria mit dem griechischen zum Serapis verband, wie
es natürlich und selbstverständlich erscheint, in Ägypten, so
wiesen uns schon T und Pi, also wahrscheinlich eben die zu
rekonstruierende Legende, auf den Osiris. Nur er kann unter
dem Namen Serapis gemeint sein, der nach T an der Stelle
des späteren großen Serapeion, auf der Rhakotis mit Isis in
einem alten sacellum verbunden war. Nur auf ihn auch kann
vernünftigerweise bezogen werden, was T (s, oben) von der Her-
kunft des Serapis von Memphis berichtete. In dieser Ver-
bindung wird auch die Gegenüberstellung bedeutsam, mit der
Pausanias I 18, 4 bezeugt, das angesehenste Heiligtum des
Serapis sei in Alexandria, das älteste in Memphis: Isqov . . .
e7ii(favE6tatov fiiv köriv 'AXs^avÖQSvöiv, a();|jci;tdTo;Toi' Se iv
Msficpsi. Und diese Herkunft mußte man natürlich mit der
merkwürdigen Überlieferung verknüpfen, die uns Eustathios zu
Dionysios Perieg. 255 erhalten hat. Da seine Angaben im
übrigen mit Pi, d. h. mit der Legende übereinstimmen, so
haben wir auch das, was er Neues bietet, darauf anzusehen, ob
es sich nicht passend ihr einfügt. Dionysios also nennt den
Serapis 2iVGinCtris Zsvg, und Eustath sagt erklärend, dieser
' Delitzsch im Nachtrag Wilckens (Anm. 10) S. 126; Lehmanu-
Haupt im Arch. Am. 1897, S. 168a und Nachtrag, Kilo IV 396: Ea als
'König der Wassertiefe' wäre danach Serapis.
Die Serapislegende 61
Beiname sei gleich dem 'Zeus von Memphis', da Sinopion ein
Berg von Memphis sei, 2]iv(OJCiov yuQ OQog Mificpidog, ^ axb
21ivG>7irig. Also eine doppelte Herkunft des Gottes im Serapeion:
von dem griechischen Sinope oder (^und?) der altägyptischen
Hauptstadt Memphis. Das ist aber gerade das, worauf wir die
Legende bereits zustreben sahen: die Verschmelzung einer
ägyptischen Gottesidee mit einer griechischen. Sollte dabei
Erfundenes mit Wirklichem gemischt sein, so wäre das, wie
wir zur Genüge gesehen haben, dem Wesen unserer Legende
durchaus nicht zuwider. Prüfen wir also jetzt, was es sowohl mit
dem einen wie mit dem anderen Ursprung des Serapis auf sich hat.
Sinope heißt eine Tochter des Asopos, den wir, gleichwie
Acheloos, als Wassergott überhaupt verstehen dürfen. Wäre es
nun etwa gewagt, den für Pylos, Athen, Milet bezeugten
Neleus auch in der müesischen Kolonie vorauszusetzen? Neleus
aber oder seine ionische Namensform Neileus (nach v.
Wilamowitz^ Neileos) stellte üsener, Göttemamen S. 12 mit
dem Götterstrom Neilos zusammen, nicht ohne auf die in
(Aristoteles) mirah. 170 gegebene Beziehung des Neleus zum
Dunkel hinzuweisen. Wichtiger ist Useners Hinweis auf den
für Attika bezeugten Kult von Neleus und Basile. Denn
Basile, schon damals als Name der Unterweltskönigin bekannt,
wurde als solche gleich darauf noch bekannter durch das
schöne athenische Relief, das die Entführung der Basile durch
einen Jüngling zu Wagen, unter Geleit des Hermes darstellt
Hades würden wir trotz seiner Jugend den Entführer nennen,
wenn nicht die Namen Echelos und Basile, wie auch Hermes,
beigeschrieben wären. Echelos, bisher nur als Heros des Demos
Echelidai bekannt, kann also nur als lokale Nennung und
Auffassung des Unterweltsgottes, der dann zum Heros ward,
angesehen werden, nicht anders als Neleus. Das erkannte mit
Robert sogleich E. Meyer'. Die allgemein menschliche Be-
^ Die ionische Wanderung, Akad. S. B. 1906 S. 67.
* Hermes 1895 S. 286, vgl. H. D. Müller, Myth. d. gr. Stämme.
62 E. Petersen
deutung, welche die Darstellung, so aufgefaßt, erhält, macht
auch ihr häufigeres Vorkommen verständlich.^ Das Bild der
anderen Seite glaubte v. Kekule^ mit jener nicht innerlich
zusammenhängend. Das ist um so unwahrscheinlicher, als wir
nicht von dem Entführungsbilde, sondern von dem anderen aus-
zugehen haben, über dem die Weiheinschrift steht, wodurch
sie, was v. Kekule nicht verkannte, als vordere bezeichnet wird.
So schwer diese Szene als der Entführung folgend zu ver-
stehen, so leicht scheint sich ihr allgemein menschlicher Sinn
zu erschließen, wenn man sie als voraufgehende ansieht. Was
kann der junge Mann, der vor die beiden älteren tritt, wohl
andres begehren als eine der Nymphen, die hinter den Alten
stehen, und von denen die mittlere nicht so wie ihre beiden
Schwestern dem Ankömmling gerade, mit unverhüllter Neu-
gier entgegenblickt, sondern mit reizvoll verschämter Bewegung
zur Seite sich wendet und den Kopf neigt. Der Vater der
Nymphen ist augenscheinlich der ihnen zunächst Stehende, der
ja auch durch zwei kurze Stierhörner als Flußgott gezeichnet
ist. So wird denn der andere. Voranstehende, der die Kopf-
binde hat, allerdings kein Zepter hielt, etwa als König ge-
dacht werden müssen, der, in solcher Eigenschaft, wohl auch
dem Flußgott verwandt, den Freier zunächst empfinge. Doch
nicht freundlich, willfährig, mit Handreichung scheint er ihn
zu empfangen, vielmehr Abweisung mit der Bewegung seiner
Linken auszudrücken. Da erfolgt denn die gewaltsame Ent-
führung im anderen Bilde. In verblümter Weise erzählt uns
Pausanias III 16,2 dieselbe Geschichte von den Dioskuren,
die den Spartiaten Phormion besuchen und zur Unterkunft
das Zimmer begehren, in dem die Tochter, nagd-ivog, wohnte.
Dies wird ihnen von dem Vater abgeschlagen. Anderen Tags
ist das Mädchen mit den Dioskuren verschwunden. Also nicht
* 1, aus Rhodos, in Berlin; bei Kekule (s. folg. Anm.) T. 1; 2, in
Athen, Stais Marhres et bronzes du Mus. nat. I 1783; ebenda Taf. II f.
3, in Chios bei v. Kekule S. 15.
* Berliner Wiuckelmannsprogramm LXV, 1905 S. 14.
Die Serapislegende 63
Hermes, wie Stais wollte, der die Entführung ankündigt, wäre
der junge Mann der Vorderseite des athenischen Reliefs zu
nennen, sondern Echelos. Die Ankündigung wäre in der Tat
ein zu wenig bedeutsamer Vorgang, zu wenig auch in Harmonie
mit der Entführung selbst, und die Widmung des Bildwerks
an Hermes würde damit nicht besser motiviert. Es muß uns
genügen, von den Empfängern des Anathems Hermes auf dem
linken Ende der einen, die Nymphen am rechten der anderen
Seite dargestellt zu sehen.*
Auch Sinope, die Asopostochter, wird von Zeus oder
Apoll geliebt, von Apoll nach dem Pontos entführt. Doch
bleiben wir lieber bei Neleus. War dessen Zugehörigkeit zu
Milet, Athen, Pylos Tatsache oder wenigstens alter Glaubens-
satz, so darf auch an eines der seltenen Heiligtümer des Unter-
weltgottes erinnert werden, das Strabo VIH 344 am Berge
Minthe, xov nv).ov (nach Strabo des Nestorischen) xlr^dCov
erwähnt. Er nennt ^Aidov rifievos • • • xai zJrlniiTQog aköog.
Und wenn wir uns stets zu fragen haben, ob die nationalen
Göttemamen, denen wir in irgendeiner lokalen Sage begegnen,
die ursprünglichen sind, ob sie nicht vielmehr lokale Namen
verdrängt haben, so scheint diese Frage bei dem Pylischen
Heiligtum von Strabo selbst beantwortet zu werden, indem er
neben Demeter und Köre eben die Eponyme des Berges Minthe'
eine xaXXaxri xov "Aiöov nennt. Die iBgä xf^s ^EXevöiviag
^dijfir^xQos, von denen wir Pluton kaum getrennt denken können,
nennt Strabo XIV 633 unter dem, was das königliche, von
Kodros (Neleus) entsprossene Geschlecht der loner als sein
' Wilamowitz a. a. 0. (Anm. 11^ meint, die Darstellung der Ent-
führung durch Echelos habe keinen anderen Zweck als den Ort zu be-
zeichnen. Schon an sich durchaas unwahrscheinlich, wird auch diese
Meinung durch das öftere Vorkommen sicher widerlegt. Sie zeigt, daß
dieser Vorgang in Wirklichkeit der bedeutungsroUere ist. Weil aber
zeitlich nachfolgend und nur eine der Nymphen enthaltend, ist er auf
die zweite Seite der athenischen Tafel gebracht.
' Ob mit JIiv9-ri der Name JI/ötj. Herodot I 56 und orph. Hymn.
XLIl (hier Persephone und lakchos in einer Person) verwandt sein könnte?
64 E. Petersen
Erbteil und angestammtes Recht behauptete. Ein zJij^rjrQog
'Elev6ivCrjg Iq6v, von Kodros' Sohn Neileos und der Mykale
gegründet, erwähnt auch Herodot IX 97. Nicht in Sinope
endlich, aber in einer anderen milesischen Kolonie am Pontos,
in Tomi, weist Hoefer (Röscher, Pluton 2571,20 aus Oest.
AEM VIII 8 n. 21) einen spät bezeugten Kult von Pluton,
Demeter, Köre nach.
Dies alles möchte an sich nicht genügen, einen Kult des
mit Demeter oder Köre verbundenen Pluton in Sinope sicher-
zustellen. Wenn nun aber die Serapislegende ein altes
Heiligtum des Pluton und der Persephone, noch dazu mit
der individuellen, wenn auch nicht seltenen Bestimmung non
procul, bei Sinope bezeugt, so ist kein Zweifel mehr berechtigt.
Gegenüber den Fäden, die das Heiligtum von Sinope mit
Milet, Athen, Pylos verknüpfen, vielmehr die Worte von T
vetere inter accolas fama für einen in Asien heimischen, nicht
von den ionischen Kolonisten mitgebrachten Kult geltend zu
machen, wäre dagegen wenig berechtigt. Beruht ja doch auch
die von Krall S. 53 betonte Ähnlichkeit, die der Bei von
Tarsos auf den dortigen Münzen mit dem Serapis von Alexandria
zeigt, nicht auf dem inneren Wesen beider Götter, sondern
auf der äußeren Gestalt, die beiden die griechische Kuust in
Abhängigkeit von denselben- Vorbildern verliehen hat.
Und nun das Sinopion bei Memphis. Daß dieser Name,
der kein altägyptischer zu sein scheint, vielmehr nur in dem
Zusammenhang mit der Gründung des Serapeions genannt wird,
auch für diesen Zusammenhang erfunden sei, kann man mit
Fug und Recht annehmen. Aber die Erfindung wird doch
einen Zweck gehabt haben, und diesen zu erkennen wies
Brugsch den Weg, indem er, von vielen gebilligt, Sen-Hapi,
d. i. Apis-Ruh als das ägyptische Wort erriet, das zu 2Jlv(ojiiov
(pQog) hellenisiert worden sei. War also das Sinopion des
Gleichlauts mit Sinope wegen ersonnen, so dürfen wir die Er-
findung des Namens Sen-Hapi nun vielleicht dem oben S. 53
bereits vermerkten Anteil des Manetho zuschreiben. Er mußte
Die Serapislegende 65
dabei einen Zweck im Auge haben, und diesen zu erraten
dürften wir jetzt hinlänglicb vorbereitet sein. Der unterwelt-
liche Apis-Osiris von Memphis sollte sich mit dem unterwelt-
lichen Pluto von Sinope verschmelzen: war es da nicht wie
ein göttlicher Wink, wie ein Wunder, daß der Ort, von dem
die Traumgesichte und das delphische Orakel den griechischen
Gott zu holen geboten, denselben Xamen trug, den derselbe
Gott in Ägypten zu führen schien? Es ist ja bekannt, welche
Rolle in Wunder- und Orakelgeschichten die Homonymie spielt:
Pandosia im Leben des Molossers Alexander, Hoplites in dem
Lysanders, Sikelia in der Geschichte Athens mögen als Beispiele
genannt werden.
Jetzt sind wir auch gerüstet, die seltsame Nachricht zu
würdigen, die uns Clemens der Alexandriner Protr. IV, 48 aus
einer Schrift des Athenodoros von Tarsos vermittelt. Gleich
anderen Apologeten, die zum Teil noch zu nennen sein werden,
bekämpft Clemens den Glauben an Serapis, einen so spät erst
eingeführten Gott, und gibt uns, wie T, Kunde von den ver-
schiedenen Meinungen über seine Herkunft. Voran steht auch
hier Sinope, doch Ptolemaios II. wird statt des Soter genannt.
Als zweite Meinung folgt TIovxixov bIvul ßgitug xhv iMQaziv,
eine Unterscheidung, die auch durch den Zusatz über die fest-
liche Einholung des Bildes nicht besser wird, sondern auf
arger Flüchtigkeit beruht. Drittens die 'allein von Isidoros'
(von Charax, wie man vermutet) vertretene Behauptung, daß
das Bild von Seleukeia herstamme, eine Meinung, die auch in
T verzeichnet war. Glücklicherweise setzt Clemens zu Ub^lbvxsojv
hinzu rav ucgbg ^AvTiox^icf, so daß hier wenigstens kein An-
laß gegeben ist, an Babylon zu denken. Wie diese sonst in der
Luft schwebende Behauptung des Isidoros vielleicht zu er-
klären sei, wird weiterhin zu sagen sein. Als Viertes folgt die
Hauptsache, zunächst in die allgemeinen Worte zusammen-
gefaßt ulX 0 ya 'Adrivödcogog 6 tov Zccvöavog ccgxccKeiv rbv
UdgaTCLv ßovXrjd-elg ovx ofd* onag mgiimeEv iXsylag avrbv
ayul^cc sLvat ysvr^röv. Hier hat der neueste Herausgeber ein
Archiv f. ReligionswiBsenschaft XIII 5
66 E. Petersen
richtig überliefertes Wort verbessern wollen, dagegen ein
fehlerhaftes unverbessert gelassen. Er schreibt ovk otd' ot<p.
Er glaubte also ^BQiTiiitTEiv in der relativen Bedeutung, die
es meistens hat, verstehen und den die Relation enthaltenden
Begriff, tCvi jtSQisjtsös, ergänzen zu müssen. Aber nicht
genug, daß das unbestimmte otc) nicht geeignet ist, das
Yerbum näher zu bestimmen: das Partizip ßovXr^d^sCg sagt uns
ja, daß Clemens nicht einen 'Gott weiß wen', sondern eben
den Sohn des Sauden für die Angabe verantwortlich macht.
Nein, jt£QLB7ts6s ist hier nicht in relativem, sondern in ab-
solutem Sinne gebraucht, der bekannter ist durch das ver-
wandte Substantiv TiSQinsTSia. Dafür wird Polybios III, 4, 5
als Beispiel zitiert, eine Stelle, wo jenes Hauptwort zu größerer
Deutlichkeit neben dem Verbum gebraucht ist. 'Athenodor',
sagt Clemens, 'suche, in dem Wunsche, den Sarapis recht alt
zu machen, die Sache gewissermaßen umzudrehen und den
Nachweis zu führen, daß er ein ayaXiia' — was kann da nun
die nsQinBXEia sein? Die Vorhergenannten ließen das Serapis-
bild von außen kommen, von Sinope, von Pontos, von Se-
leukeia: Athenodor führt dagegen im folgenden aus, daß das
Bild in Ägypten selbst gemacht wurde. Also schrieb Clemens
ayal^ia slvav iyysvrjtöv.
Nach Athenodor^ habe Sesostris, der alte sagenhafte Er-
obererkönig von Ägypten, von seiner Unterwerfung der meisten
hellenischen Völkerschaften täv tcuq "EXIi]6l . . . ed-vc5v nach
Ägypten heimkehrend, die geeigneten Künstler mit sich ge-
bracht — gemeint sind offenbar hellenische — und befohlen,
ein kostbares Bild seines Ahnherrn Osiris anzufertigen. Mit
den Worten xaraöxsvd^SL dh uvtov BQvah^Lg usw. geht Clemens
* Auf die im Text behandelten Worte folgt: JL^'öwffreiV qpjjöi vbv
AlyvTCTiov ßaaiXia, xa ■xXelora xwv tiuq' "EXXr]6t TcaQuarriöäfisvov id'vibv,
inavtXQ'övxa sig Al'yvTtxov inccyayied'ai xs%vitas itiavovi ■ xov ovv "Oaigiv,
xov TtQOTcäxoQa xov ccixov dat.äaXd'jjvcci iK^Xsvßsv avxog jioXvxsXäg , \\ xaxa-
OKSvd^Bi dh aixbv BQva^ig 6 dT]iiiovQy6g , oi% 6 'A9'ii\vatog, &XXog Si xig
o^mvv^iog ixEivo) xä B^vä^iSf dg vXrj xarax^jfßTjTat slg drjiiiovQyiccv ftixr/)
xal noiyiiXj] usw.
Die Serapislegende ' 67
aus indirekter Kede in direkte über: das Bild, worunter in
dem gegebenen Zusammenhang nur das von Sesostris befohlene
des Osiris verstanden werden kann, fertigt Bryaxis an, der^
sich einer bunten Mischung aller Metalle und sämtlicher in
Ägypten vorhandenen (Edel-)Steine bedient, das fertige Ganze
mit Kyanos dunkel färbt und mit dem qxxQiiaxov, das von der
Totenbesorgung des Osiris und des Apis übrig war, bestreicht
und so den Sarapis bildete, der auch im Namen Osirapis die
Bestattungs- und Grabesgemeinschaft des Osiris und Apis zum
Ausdruck bringt. Hatte Clemens vorher aas einer Ansicht:
Sarapis stamme aus dem (pontischen) Sinope her, zwei ge-
macht, so sind in der Ausführung über die Yerbildlichung
des Serapis durch Sesostris, mittels einer wunderbaren Kon-
fusion zwei Dinge, zwei Vorgänge zu einem einzigen ver-
schmolzen. Was von dieser Konfusion dem Clemens selbst,
was dem Athenodor angehört, wird sich, da wir diesen hier
nur durch jenen vernehmen, schwer entscheiden lassen. Doch
wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß an bestimmter
Stelle die Form der Rede wechselt. An ebenderselben ist
auch das Hinübergleiten von dem einen der zwei amalgamierten
Vorgänge zum anderen besonders greifbar.
Nehmen wir nämlich zu dem, was ausgesprochen ist, das
hinzu, was selbstverständlich, so sind zur Einheit verschmolzen
zwei Könige, Sesostris und Ptolemaios, oder besser vielleicht,
da Ptolemaios das von Alexander Begonnene fortsetzt, Alexandros-
Ptolemaios als einer; zwei Künstler, der wirkliche Bryaxis und
der, auf welchen jener Name übertragen ist; zwei Götter,
Osiris und Serapis; zwei Bilder, das alte auf Geheiß des Sesostris
;uigefertigte und das neue aus Sinope geholte.- Die Konfusion
ist so weit gediehen, daß von den zwei Königen nur der eine
Sesostris genannt wird, Ptolemaios, unglaublich genug, jenem
sozusagen einverleibt ist. Auch Künstler werden, als im ge-
' Wer dies zuletzt schrieb, bezog og auf den oiimwiiog.
* Hier befinde ich mich teilweise in Übereinstimmung mit S. Reinach
(oben S. 47 Anm. 1).
5*
68 • E. Petersen
gebenen Falle tätig, nicht zwei, sondern nur einer genannt.
Eine unbezahlbare Naivität ist es, die den von Sesostris mit-
gebrachten, offenbar auch als Griechen vorgestellten Künstler
Bryaxis nennt und ihn in einem Atem für den bekannten und
doch nicht den bekannten ausgibt: BQvalig 6 ÖTjiiLovQyös,
d. h. doch 'der bekannte', und ovx 6 ''Ad'rjvalog, d. h. nicht
der bekannte ^. Dies lächerliche Quiproquo ist, obwohl man es
leugnen wollte, unmöglich anders zu erklären, als daß der
bekannte Bryaxis, der (aller Wahrscheinlichkeit nach jüngere)
Grenosse des Skopas am Mausoleum von Halikarnaß, wirklich
das eine der beiden konfundierten Bilder geschaffen hatte,
aber natürlich nicht das alte des Sesostris, sondern das neue
des Ptolemaios.
Von der Erwähnung des Künstlers an, in welcher allein
die konfundierte Zweiheit noch zutage tritt, steht überhaupt
das zweite der konfundierten Dinge vor uns, wie vorher das
erste. Denn das Bild, das nun beschrieben wird, ist nicht,
wie man gemeint hat, ein uraltes, gar ein 'rohes', wie man
das 'nicht von Menschenhand gemachte' verstand, das Clemens
selbst zu Anfang als Epitheton des berühmten Serapis nennt
<ov> ocxsiQOTCoCrjrov sljtslv rsroXinjzaöiv. Daß dies Beiwort
vielmehr gerade den aus Sinope geholten, 'den Serapis' be-
zeichnet, geht sowohl aus Athenodors Beschreibung bei
Clemens als aus Stellen anderer Apologeten hervor. Die
sieben Metalle^ und die vier Edelsteine (vier Farben) lassen
die pantheistischen Gedanken erkennen, die je länger je mehr
im Serapis ihre Verkörperung sahen. Verständlicher wird
dies aus den mit gleichem Eifer geschriebenen Worten des
Origenes c. Geis. V 38, der zunächst nur die [layyavsCas rov
ßovXi]9-Evtog IltoXs^ixCov olovsl h%i(pav^ d'sbv del^cci schilt,
d. h. die Wundergeschichten der Legende, die ja gewissermaßen
• Vgl. Amelung (oben S. 47 Anm. 2) S. 9.
* Vgl. Seymour de Ricci zu Amelung S. 16, 2; auch Röscher, in
seinen Lexikon, Planeten Sp. 2682. Man •wird dann auch auf die Sieben-
zahl der yQccynkaxa in den Namen ^^iQuim und JJXovtcov aufmerksam.
Die Serapislegende 69
auf die Identität von Gott und Bild hinausliefen. Weiter er-
eifert sich dann Origenes tcsqI rfjg y.ata6xsvfig avtov, cjg agu
Tcdvxcov r&v vnb qivöscog diotxov^ivav iiBxexei ovöCag ^mav
xai qpuTöi/, iva ö6i,T} ^etu t&v dreXdötcov rsXezäv xal xäv
xalov6G)v daCfiovag iiuyyavsLäv^ ovx v%b dyulfiatonoLäv
^6v(ov 'Kaxa6xsv(xt,a6^ai ^Bog dXXä xai vab iidyav xal (paQ-
Itaxäv xal xalg BTCadalg avxav xrjXovfievcav dai^övav. So
gewiß hier vom Serapis des Ptolemaios die Rede ist, so gewiß
ist, trotz aller Übertreibungen, daß es auch kein anderes als
das von Athenodor als Sesostrisch beschriebene ist, kein
anderes auch als der dxeigoTCoCrjxog des Clemens. Ebendasselbe
Bild erkennt man leicht auch bei Eustathios wieder, in dem
ayaX^a xolg ögäöLv adrjXov . . . oiag cpvöscog ^v, und deutlicher
noch in der armenischen Version des Alexanderromans, wo
die betreffende Stelle in Raabes Übersetzung lautet ov (d. i.
des i,6avov) xijv (pv6iv Q^vrixiiv^ ovx bvqbv dnayyalXai und
besser in xqi dffd-dgxa ^odva.
Daß wie zwei Könige, zwei Künstler, zwei Bilder, alt
imd neu, auch zwei Götter in dem, was Clemens aus Athenodor
wiedergibt, konfundiert sind, scheint nicht minder zutage zu
liegen. Denn vor der im griechischen Text S. 66 Anm. mit ||
bezeichneten Stelle ist von dem alten Osiris, dem Vorfahren
des Sesostris die Rede, nachher, wo nur scheinbar von dem
alten Künstler und Bild, in Wirklichkeit aber von Bryaxis
und dem Sinopischen Bilde gesprochen wird, ist der Gott der
aus Osiris und Apis gemischte Serapis. So klar hiemach die
Konfusion bei Clemens -Athenodor, so einfach scheint nun auch
ihre Erklärung. Man ersann, wie sich schon vorher aus T
usw. ergab, einen doppelten Ursprung des Serapis, in doppeltem
Bilde gegeben: das eine war der Pluton von Sinope, das
andere der Osiris vom Sinopion bei Memphis, der entweder
* Hierbei haben wir wohl der 'Kniffe' zu gedenken, die Rufinus
hist. eccl. II 23 beschreibt und Nissen Orientation S. 36 f. erläutert.
* Raabe schwankt hinsichtlich der Lesung und Erklärung, weil
er, wie es scheint, sich des Zusammenhangs nicht erinnert.
70 I^- Petersen
selbst oder im Abbild in jenes saceUum Serapidi (offenbar miß-
bräuchlicb für Osiridi gesagt) atque Isidi antiquitus sacratum
überführt war oder sein sollte.^
Im Pseudo-Kallisthenes solcher Konfusion zu begegnen,
könnte nicht weiter wundernehmen. Doch ist immerhin be-
merkenswert, daß, was wir hier finden, so anders und phan-
tastisch gestaltet es auch sein mag, doch aus ähnlichem
Grunde erwachsen, um nicht zu sagen aus derselben Quelle
geschöpft sein muß, und daß dabei das Serapeion mit seinem
berühmten Bilde noch gegenwärtig ist. Es genügt, die Haupt-
züge hervorzuheben: Alexander ist es hier, der, vom Ammo-
nischen Orakel geheißen, seine Stadt über der Proteus-Insel
(Pharos), wo der IIlovtcbvLog Aicov 7tQ0xäd-'>]tai , gründen will
und demgemäß das Heiligtum des Serapis sucht. Durch ein
Wunder findet er es und sieht das Bild, das wir nach der
kurzen Beschreibung, der nachher noch ein Wort zu widmen
sein wird, leicht und sicher als den Ptolemaiischen Serapis er-
kennen, charakterisiert außerdem mit den Worten, die schon
zum Vergleich mit denen des Eustath, Origenes, Clemens-
Athenodoros angeführt wurden. In jener Erzählung ist es
aber ein uraltes Bild; denn wie Alexander fragt, Avelche Götter
es darstelle (ganz wie Ptolemaios über sein Traumbild), da
wissen die Leute es nicht, teilen aber ix jtQonatsQcov (vgl.
"OßLQLV xov TtQondroQa oben S. 66 Anm.) ÖLrjyijöscog mit, daß es
Zeus und Hera seien. Dann sieht Alexander zwei Obelisken,
die 'bis auf den heutigen Tag' ständen £|g3 rov nsQißdXov
xov vvv ysvoiiBvov iv r<p UsqcctceCo}, mit Weihinschrift an
Serapis von Sesostris. Unnötigerweise betet Alexander dann.
* Man hat den colosseuttp Serapem e smaragdo novem cubitorum bei
Plinius n. h. XXXVII 76 für den Koloß des Bryaxis halten wollen. Das
scheint ausgeschlossen dadurch, daß Apion, der Gewährsmann des
Plinius, von ihm sagt esse etiamnunc in labyrintho Aegtjpto. Die
Agyptologen werden aber vielleicht sagen können, ob der Osiris, von
dem ein später Text (Brugsch Bei. u. Myth. d. a. Äg. S. 615) sagt: 'seine
Länge betrug 8 Ellen, 6 Palm und 3 Finger', eine Statue, und zwar
jene des Apion- Plinius und etwa die von Memphis sein könne.
Die Serapislegende 71
Serapis möge sich ihm offenbaren, und nun schaut der König,
wie Ptolemaios, den Gott im Traum und läßt danach von
Parmenion ein i,6avov %aXiiovv machen, wobei, wie dem
Pheidias, die Homerverse vorbildlich sind. Hier also sind
zwei Könige und zwei Bilder bestimmt unterschieden, aber
das alte, das nicht so direkt, aber doch durch die Obelisken
deutlich genug dem Sesostris zugeschrieben wird, ist eine
Spiegelung des neuen. Dasselbe wurde ja auch dort für das
alte ausgegeben.
Alles, was unsere Zeugen über die Gründung des Serapis
berichten, ließ eich also zu einem harmonischen Ganzen ver-
binden; selbst die Meinungsdifferenzen fanden von selbst ihren
Platz darin. Das erste Traumgesicht des Königs: der jugend-
schöne Gott (Dionysos), der Hinweis nach dem Pontus, noch
nicht genügend beachtet und verstanden. Nach dem zweiten
Traum, worin drohend der bärtige Pluton erscheint, eifrige
Nachforschung. Doch weder eleusinische noch ägyptische
Theologen wissen Rat; ein Unbekannter weiß den Ort des
Bildes, Sinope, anzugeben; und vielleicht hier schon ergab sich
den Theologen, von denen der eleusinische den Pluton und
die Proserpina, der ägyptische den Osiris und die Isis kannte,
als ein bestätigendes Omen das Zusammentreffen der Namen
Sinope und Siuopion, das Erkennen des altägyptischen Kultus,
der mit dem einzuführenden griechischen verbunden werden
sollte. Auch Delphi stimmt zu, mit genauerer für Gott und
Göttin besonderer Weisung. Nach mehrjähriger Frist, vor-
geblich durch den Kampf des göttlichen Willens mit mensch-
lichem Widerstände ausgefüllt, in Wahrheit wohl für den
Bau des Tempels hier, die Anfertigung des einen Bildes dort
gebraucht, erfolgt endlich die Einführung der Bilder in
Alexandria. Die Regelung des Kults für den neu erschienenen
Gott und seine Gemahlin konnte nicht umhin, zu theologischen
Erörterungen ihres Wesens zu führen, auch zu genauerer Be-
stimmung ihres Verhältnisses zu den schon ortsansässigen
Göttern.
72 E. Petersen
Ganz aus dem Spiele blieb die bei T, wie von Clemens
erwähnte, hier dem Isidoros zugeschriebene Herleitung des
Götterbildes von Seleukeia. Kann diese Angabe nicht wohl
ganz ohne tatsächlichen Anhalt gedacht werden, und kann
anderseits doch Seleukeia unmöglich an die Stelle von Sinope
gesetzt werden, so sehe ich keinen anderen Ausweg als den
von Amelung S. 9 angedeuteten, daß nicht das Bild, aber der
Schöpfer desselben, Bryaxis, der für Seleukeia und Antiocheia
tätig war, einst von dort hergeholt wurde, um den Pluto aus-
zuführen.
Die schon erwähnte Beschreibung des Serapisbildes im
Alexanderroman, deren Richtigkeit in so phantastischer Ein-
kleidung, nach dem, was oben auseinandergesetzt wurde, nicht
weiter befremden oder gar Zweifel erwecken darf, lautet in
der griechischen Version also: i,6avov . . . TtQoxads^ö^svov xui
tjj ds^La x^^Q^ xo^Ci,ov &rjQCov TioXviioQfpov^ rfj ds svcovv^
öxrj^tQov xcctexov, xal naQeiöttjxeL trö ^occvo) Köqt^s äyaXiia
^isyiöTov. Die Worte stehen mit der bildlichen Überlieferung
durchaus in Einklang — bis auf das Wort xo^Ct,ov, das
zweifelsohne in xoL[iCt,ov zu verbessern ist, wie Plato rep. IX
591 B sagt t6 d-rjQidödss xoL^C^srai xal rjfiSQOvraL. Der Gott
will die ihm zu Gebet und Opfer Nahenden durch das drei-
köpfige Ungeheuer zu seiner Rechten nicht schrecken, obgleich
die terribilior species bei T wohl hauptsächlich den Kerberos
begreift. In den treuesten Nachbildungen (auch in denjenigen
Darstellungen des stehenden Serapis noch, die Michaelis S. 293
als Typ voranstellt und mit Recht aus dem thronenden Bilde
ableitet) hält der Gott wie besänftigend die Rechte mit nach
unten gekehrter Handfläche über den mittelsten Kopf des
Kerberos und die Schlange darüber. Wie in der Gesamt-
haltung, so scheint auch in diesem besonderen Zuge der epi-
daurische Asklepios des Thrasjmedes das Vorbild zu sein.^
Auch dieser legte, wie beschwichtigend, die Rechte über den
' Bouchö - Leclercq vergleicht ebenfalls das Werk des Thrasymedes,
aber nicht wegen der Handhaltung.
Die Serapialegende 73
Kopf der emporgereckten Schlange. Wir erinnern uns, daß
nach T (wahrscheinlich schon von den Theologen des Ptole-
maios, oben S. 58) der Gott aach für Asklepios erklärt wurde,
und da& der bei Alexanders Tod (von Ptolemaios) genannte
Serapis bei Babylon dem Asklepios überaus ähnlich ist. Be-
stätigt wird die Besserung xoifiC^ov durch Macrobius I 20,
14, wo die den Kerberos umwindende Schlange sich ad dei
dextram, qua compescitur monstrum, emporreckt.
Macrobius sagt auch Genaueres über die drei Köpfe des
Kerberos. Den Kopf des Löwen haben wir bei dem Gott, der
zuerst im ionischen Heiligtum stand, nicht aus septischer
Vorstellung, etwa dem Löwen als Symbol des Osiria* zu er-
klären. Bekannt ist der Löwenkopf als Wappenbild Milets.
das ganze Tier als Grabes wach ter, vornehmlich in Kleinasien.
An die Löwen des Mausoleums braucht nicht erinnert zu
werden. Die beiden anderen Köpfe werden von Macrobius als
Wolf und Hund unterschieden, und wenn von den Nach-
bildungen einige- einen unterschied, in der Behaarung mehr
als in den Formen zeigen, so scheint es geboten, diesen Nach-
bildungen mehr als den anderen zu vertrauen. Trotzdem
mochte ich, solange für den Wolf keine treffende Erklärung
sich bietet, lieber an zwei Hundeköpfe glauben und den
wesentlichen Unterschied vielmehr darin sehen, daß von diesen
der eine (vgl. Macrob.) empor — der andere, wie öfters
deutlich, abwärts gerichtet ist. Vielleicht darf man dabei an
die zwei Eingänge oder an Ein- und Ausgang der Unterwelt
und an die zwei Hunde Kerberos und Orthros denken. Auf-
gang, Höhe, Niedergang, für Dis pater nicht bedeutungslos,
würden dann für Osiris noch bezeichnender.
Noch ist auch die Göttin neben Serapis gegen Zweifel zu
verteidigen. Amelung S. 6 glaubt sie durch die douteuse autorite
du Pseudo-CaUistJiines ungenügend bezeugt; vielmehr verbiete es
sich durch die von Rufinus hist. ecd. II, 23 verbürgte Tatsache
' Vgl. Brugach Bei u. Mi/Oi. d. a. Äg. S. 623.
* Vgl. Michaelis (oben S. 47 Anin. 3) S. 292 f.
74 E. Petersen
que Vimage de Serapis touchait des deux mains les murs de la cella,
die Göttin neben dem Gott aufgestellt zu denken. Beides ist
unrichtig; die Legende sagt uns doch etwas mehr als, wie
Amelung denkt, qu'on voijait dans le Sarapmm d' Alexandrie,
une statue de Köre. In Pi ist allerdings nur von Serapis oder
Pluton die Rede, aber in Ps spricht der Gegensatz tö yi,ev
tov nXovrcovog ... tö de r^g KÖQvjg deutlich genug und
sagt, was eigentlich selbstverständlich, daß in Alexandria
durch das djtonä^aöd-at dasselbe hergestellt werden soll, was
in Sinope war, d. h., wie es in T hieß, tmdiehrem figuram
adsistere. Auch Macrobius sagt Isis iuncta religione cele-
hratur, natürlich vom alexandrinischen Serapeum.
Was Amelung trieb, war nur das Zeugnis Rufins: simula-
crum Serapis ita erat vastum ut dextra unum parietem, alter um
laeva perstringeret. Aber diese Worte bedeuten nicht das, was
Amelung versteht: perstringere ist nicht ein akzidentelles 'be-
rühren', sondern beabsichtigtes gewolltes '^streichen'. Davon
kann bei Serapis, zumal bei der Bindung beider Hände, nicht
die Rede sein. Nach bekanntem Sprachgebrauch hat der
Potentiale Imperfektkonjunktiv perstringeret vielmehr den Sinn:
'er hätte die Wände bestreichen können' — wenn er die
Arme ausgebreitet hätte. Das ist eine Variation des be-
kannten Ausspruches über den Zeus des Pheidias, der da schien
iäv ögd'bs ysvrjtai Siuvaöräs ccnoörsyccöeiv xov vscov. Wir
mußten den Serapis zunächst mit einem Werk des Thrasy-
medes, d. h. indirekt mit dem Zeus des Pheidias vergleichen,
aber im Alexanderroman fanden wir, daß der Künstler des
Serapis durch dieselben Homerischen Averse inspiriert sein
sollte, in denen meist dem großen Athener die Idee des Zeus
aufgegangen war.
Seltsame Vorstellungen und Bräuche
in der biblischen und rabbinischen Literatur
Ein Beitrag zur vergleichenden Sagenkunde
Von K. Kohler in Cincinnati
Wer eine Sprache kennt, sagt einmal Max MueUer,
kennt keine. Von religiösen Vorstellungen und Bräuchen läßt
sich dasselbe sagen. Erst seitdem man anfängt, die biblische
und nachbiblische Weltanschauung mit anderen zu vergleichen,
lichtet sich so manches Dunkel. Wir geben im folgenden
einige Proben unverstandener Stellen aus der Bibel und der
rabbinischen Literatur.
I Das Erdiuännlein
Seltsamerweise gehen alle modernen Exegeten gedankenlos
an dem Satze in Hieb 5, 23: „Mit den Steinen des Feldes
hast du einen Bund und das Gewild des Feldes ist mit dir im
Frieden'* vorüber, ohne sich zu fragen, was für ein Bündnis
wohl mit dem leblosen Gestein zu schließen nötig sei. Buddes
Bemerkung „Die Steine bleiben von selbst seinem Acker fem"
ist geradezu läppisch. Aber auch die mittelalterlichen jüdischen
Erklärer lassen uns im Stiche bis auf einen, und das ist der
immer mit guter Tradition ausgerüstete Raschi. Er verweist
auf eine Stelle im Sifra zu Leviticus XI 27 und im Mischnah-
Traktat Kilaim (= „Mischverbote" nach Deuter. 22, 9—11) VIII 5,
woselbst die Lesart zwischen Ahne ha Sadeh = „Steine des
Feldes" und Adne (Adone) ha Sadeh „Feldmensch" schwankt,
aber mit Hinblick auf den Hiobvers erklärt wird, daß dieses
also genannte Tier zur Klasse des Gewilds zu zählen sei. Zur
Mischnah aber hat sich die Tradition im jerusalemischen Tal-
mud erhalten, woselbst gesagt wird, daß das der Name eines
76 K. Kohler
Waldmenschen sei, der bis zum Nabel in der Erde steckt
und durch diesen seine Nahrung aus der Erde zieht, von dieser
losgerissen aber alsbald stirbt. Die Versuche, in diesem Fabel-
wesen einen Orang-Utang oder sonst einen menschenähnlichen
Affen zu finden, wie Lewysohn „Zoologie des Talmuds", S. 64
u. 356 und andere behaupten, scheitern an der Tatsache, daß
das Fabelwesen ja mit dem Nabel an die Erde gebunden sein
soll. Es ist keine Frage, daß in der Mischnah und im Sifra
dasselbe Tier gemeint ist wie im Hiobvers. In bezug auf das
erstere sagt Maimonides in seinem Kommentar, daß es ein
Wundertier sei, das Menschenähnlichkeit, aber auch eine
menschliche Stimme besitze und im Arabischen Nasnas = Mensch-
lein oder = Zwergmensch heiße. Nach Bochart Hierozoicon
2, 6, 13, angeführt bei Lewysohn a. a. 0., ist dieses Fabeltier
ein halbmenschliches Wesen, Brust, Leib, Kopf und Schulter
zur Hälfte menschenähnlich, und mit einem Ohr und einem
Auge versehen.
Nach einem von Salomon Buber in seiner Einleitung zum
Midrasch Tanhuma S. 63 a abgedruckten Oxforder Midrasch-
Fragment, das merkwürdigerweise statt Ahne Adne oder Adme
ha Sadeh in Hiob 5, 23 las, bedeutet das Fabelwesen eine
menschengestaltige Pflanze, deren menschenähnlicher
Kopf erst mit deren Herausreißen ans dem Erdboden zutage
kommt. Seltsamer noch lautet, was Simeon aus Sens in seinem
Mischnah- Kommentar namens R. Meir ben Kalonymos aus Speier
im XII. Jahrhundert von diesem Fabeltier erzählt: es sei
identisch mit dem Wundertier Jaduä, dessen Knochen dem
biblischen Jidöni zu seinem zauberhaften „Wissen" verhilft,
weil es, von ihm in den Mund genommen, weissagt. Das
nämliche ist nach talmudischer Tradition (Sanhedrin 65 b;
Tosifta Sanhedrin X 6) die Zauberkunst des Jidöni (Leviticus
19, 31 usw.). Dieses Jadua genannte Tier also sei wie ein
Kürbis geformt und durch einen aus einer Wurzel hervor-
gewachsenen langen Strick an der Erde mit seinem Nabel
angewachsen; niemand aber dürfe sich au^ die ganze Länge
Selts. Vorstellungen u. Bräuche i. d. biblischen u. rabbinischen Literatur 77
dieses Strickes dem Tiere nähern, sonst würde er von ihm
zerfleischt. Durch Zerreißen des Strickes bloß könne man
es töten. Und das geschieht, sagt Obadia dl Bartinoro
(XV. Jahrhundert) in seinem Mischnah-Kommentar, dadurch,
daß man Pfeile gegen den Strick losschießt; ist der Strick
zerrissen, so schreit das Tier laut auf und stirbt. Nun aber
erfahren wir von einem Superkommentator zu Raschi aus
dem XYI. Jahrhundert, Simon Aschenburg ha-Levi im Debek
Tob, angeführt von Fink a. a. 0., daß dieses menschenähnliche
Wesen halb Tier und halb Pflanze im Deutschen Alraun
genannt wird.
Wir werden hier in das Gebiet uralten deutschen Aber-
glaubens geführt. Alraun oder Alruna (von Runa = Geheimnis)
bedeutet einen weissagenden Geist, gleichwie Jidoni, auch
die weise Frau, und ist ebenfalls wie der Weissagungszauber
des Jidoni an der Alraunwurzel (der Mandragora, hebräisch:
Dudaim = Liebeskraut) haften geblieben. Nach Jacob Grimm
(Deutsche Mythologie 1005 f., vgl. 334 f.) ist die Wurzel
menschlich gestaltet und beim Ausgraben schreit sie so ent-
setzlich, daß der Ausgrabende davon sterben muß. Der Alraun
gilt als Frucht des Samens eines am Galgen Aufgehängten,
woher auch der Name: Galgenmännlein, und man muß zu dem,
was Grimm hier herbeibringt, Josephus Bellum Judaicum VII, 63
vergleichen, wo von einer in Bäärah („Heiße Wasserquelle",
siehe Abr. Epstein, Beiträge zur jüdischen Altertumskunde
[Hehr] Wien 1887, S. 107 f.) wachsenden Wunderpflanze
Baarah „feurigen Glanzes" (von boer = brennend) die Rede ist,
deren Wurzel „die Kraft habe, Dämonen, die Geister verstorbener
Menschen, auszutreiben". Die Ausreißung dieser Wurzel aber
bringt augenblicklichen Tod und wird deshalb von einem
Hund nach Aufguß von Urin oder Menstruationsblut des
Nachts vollzogen. Zu letzterem vergleiche Plinius Hist. nat.
28, 23 und zum Ganzen den Artikel Alraun in Winers Bibl.
Realwörterbuch und den Artikel Aberglauben S. 51 — 67 in
Paulv-Wissowas R. E.
78 K. Köhler
Von der Weissagungskraft des Alrauns spricht aber auch
das altbabylonische Volkssagen enthaltende, von Maimonides in
seinem „Führer der Verirrten" benützte Werk „Die Agrikultur
der Nabatäer" von Ihn Wachschiya, das Chwolsohn in seinem
großen Werke „Die Ssabier und der Ssabismus" II 451 ff. be-
handelt. Siehe daselbst S. 459. Zur persischen Alraun- oder
Mandragora-Sage ist Herbelots Orientalische Bibliothek, Artikel
Abrusanam und Asterenk zu vergleichen. Auch hier wird
die menschenähnliche Gestalt der Wurzel und die gefähr-
liche Prozedur des Ausreißens, für die man daher einen Hund
gebrauche, hervorgehoben.
Wie weit der ganze Aberglaube zurück zuverfolgen sei, lehrt
Plutarch „Über Isis und Osiris" § 46, woselbst von der Zu-
bereitung des persischen Haomakrautes gesprochen wird, das
man [des Nachts] unter Anrufung des Hades und der Finsternis
im Mörser stampft und mit dem Blut eines geschlachteten
Wolfes (wofür später der Hund eintrat!) mischt. Das Haoma-
kraut aber diente zum Töten der Dämonen (Ja^na IX, 46
und X, 6), und es lag große Gefahr darin, daß man (beim Ge-
winnen des Haomakrauts ?) den Wolf, den Dieb und Räuber,
zuerst erblickte und nicht von ihm sich zuerst erblicken ließ!
(Ja9na IX, 69 — 70.) Der als Gott angebetete Haoma ist offen-
bar gleich Alraun ein Pflanzen- oder Baum -Mensch von gött-
licher Zauberkraft. In welcher Beziehung das im Gilgames-
Epos erwähnte Lebenskraut und der „Erdlöwe", der es
wegschnappt, zu dieser Sage stehen, ist schwer zu sagen.
Statt nun noch länger bei der Weiterausbildung dieser
Sage vom Wunderkraut zu verweilen, die Tobias Cohen aus
Metz in seinem Buche Maaseh Tobiah 1721 nach einem ihm
zu Gesicht gekommenen geographischen Werke in einem
tartarischen Schafkürbis unter dem Namen Baromez
(Agnus scythicus bei Linne) darbietet, worüber Fink des nähereu
sich ausläßt, komme ich zu der geradezu frappanten Beleuch-
tung des biblisch -talmudischen Adone Sadeh, die Curtiß'
äußerst wertvolles Werk „Ursemitische Religion im Volksleben
Selts. Vorstellungen u. Bräuche i. d. biblischen u. rabbinischen Literatur 79
des heutigen Orients", deutsche Ausgabe 1903 auf S. 213
bietet, ohne jedoch zu ahnen, daß er oder Doughty, den er
zitiert, die rätselhafte biblische Stelle erklärt:
.,Der fette Hedschr-Lehm" — heißt es da — „ist im Lande
wohl bekannt. Viele haben dort Ackerbau zu treiben versucht,
und eine Zeitlang schien es ihnen, so verkündeten mir die
Araber, auch recht wohl zu gehen, aber gerade immer zur
Erntezeit mußte jemand von ihnen sterben." — Man ver-
gleiche hier Mannhardts „Baumkultus" und „Mythologische For-
schungen". — „Daß er (der Boden) Tod bringt, wird seitens
der Araber den Erddämonen (Ahl el ard, d. h. Erdleute)
zugeschrieben. Daher pflegen die landbauenden Familienväter
hier das neugepflügte Land mit dem Blut eines Friedensopfers
zu besprengen."
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ahl el ard nichts
anderes sind als die Adone ha Sadeh des Buches Hiob, mit
denen der Fromme „im Bunde" steht, auch wenn er kein
O.pferblut zu deren Sühne darbringt, wie die Felahin es heute
tun. Und wir haben geradezu an die bockgestaltigen Feld-
geister, die seirim des Leviticus XVII, 5 — 7, zu denken, die
noch heute in der Arabischen Wüste als Dschinn fortleben.
Ursprünglich galt wohl der Wüstendämon Azaz-el „der bock-
gestaltige Gott" als der unheilbringende Heerführer dieser
Feldgeister, wie Ihn Ezra zu Leviticus XVI, 8 richtig gesehen.
Indem man den Sühnbock in die Felsenschlucht, worin der
Dämon hauste (^siehe Enoch X, 4 — 5 und vgl. Charles
Notes nach Geiger Zeitschrift 1864, 196 — 204), hinabstieß,
wandte man das Unheil oder die Krankheiten, die aus der
Wüste kamen, vom Volke ab; vgl. Leviticus XIV, 7, wo der
Aussatz durch den Vogel in die Wüste hinausgeschickt wird
ganz wie im assyrisch - babylonischen Ritual.
II Seltsamer Brauch hei der Wiedergeuesung
Der Talmud Berakot 58 b und demgemäß auch das Syn-
agogenritual enthält die sonderbare Vorschrift: Wenn man einen
80 K. Köhler
Freund nach zwölf Monate langer Abwesenheit wiedersieht,
so spricht man das Dankgebet: „Gelobt seist du, o Herr, König
der Welt, der du die Toten wieder belebst." Nirgendwo aber
wird ein Grund für diese Vorschrift oder diesen Brauch ge-
geben. Dem Brauche liegt offenbar eine Vorstellung zugrunde?
in die man sich späterhin nicht mehr hineinzudenken vermochte.
Folgende Zusammenstellung bei Liebrecht „Zur Volkskunde"
S. 397 war es, die mir zuerst darauf Licht zu werfen schien:
„Jemand, der von einer großen Reise heimwärts kehrt und
für tot gesagt wird (wie es mir zufällig selber erging, als
ich von Schiraz nach Teheran zurückkehrte, nachdem man
meinen Tod ausgesprengt hatte) — schreibt Brugsch „Aus dem
Orient" II, 110 — , darf beileibe nicht durch die Haustür den
Weg in das Innere der Wohnung nehmen, sondern muß über
das Dach klettern." Dasselbe mußte der für tot gehaltene
Heimkehrende nach Plutarch Quaestiones Romanae 5 tun, und
zwar vergleicht Plinius damit den griechischen Brauch, daß
der für tot Gehaltene so lange für unrein gehalten werde, bis
er eine symbolische Wiedergeburt durchgemacht hatte.
Dies nun geschieht, wie Liebrecht in seinem Werk Gervasius von
Tilburys Otia Imperialia 1856 S. 170 an vielen Bräuchen bei der
Wiedergenesung von einer Krankheit nachweist, durch eine dem
Mutterschoß ähnliche runde Dachöffnung. In Indien
läßt sich der die symbolische Wiedergeburt Suchende in eine
die große Erdmutter darstellende goldene Kuh einschließen
und durch die Geburtsteile derselben wieder herausziehen.
Aber erst aus Curtiß' Ursemitischer Religion S. 200 ward
mir der jüdische Brauch recht klar. „Wenn ein Pilger von
Jerusalem oder von Mekka oder etwa ein Soldat oder Gefangener
nach langer Abwesenheit heimkehrt — heißt es
da opfert man ein Schaf oder eine Ziege für den Heim-
kehrenden. Ehe er in die Haustür eintritt, stellt er sichl
mit gespreizten Beinen hin, so daß das Opfertier dazwischen
liegen kann. Dann legt man es auf die linke Seite, der Moslem
richtet ihm den Kopf nach Süden, beziehungsweise nach Mekka;
Selts.Vorstellungen u. Bräuche i. d. biblischen u. rabbinischen Literatnr 81
der Christ dagegen nach Osten, beziehungsweise nach Jerusalem,
und man durchschneidet ihm die Kehle entweder unmittelbar ror
oder auf der Schwelle. Wenn der Heimkehrende ein Christ
ist, wird hierauf seine Stirn übers Kreuz mit etwas Blut be-
strichen. Dann schreitet er über Opfer und Blut hinweg in
das Haus hinein und bringt darauf die Kleidungsstücke, die er
tragen soll, in die Kirche, wo sie der Priester segnet."
Alledem liegt oflfenbar der Gedanke einer Neugeburt oder,
was dasselbe ist, einer Lebenserneuerung zugrunde. Statt des
Löseopfers, Phedu, hebräisch Pidion genannt, das man für
Schwerkranke bringt, und mit dessen Blut man dem Genesenen
die Stirn bestreicht — siehe Curtiß S. 221 — , spricht eben
der Jude seinen Dank für die „Wiederbelebung des Toten" aus.
Und dies letztere führt mich zur Besprechung einer
wiederum nicht recht verstandenen biblischen Stelle mit
Bezug auf
III Blutbestreichung und die Phylakterien
Das einundzwanzigste Kapitel des Curtißschen Werkes ist
ganz und gar der vom Verfasser überall beobachteten Bestreichung
der Stirn, zuweilen auch der Handflächen dessen, für den
ein Opfer dargebracht wird, der Türe oder der Türpfosten und
der Besprengung der Tiere oder der Herden mit dem Opfer-
blut gewidmet. Das Blut dient dem bestrichenen Gegenstand,
dem Kind, dem Kranken, dem Hause oder der Herde zum
Schutzmittel, zum „Segen" und zum „Glück" oder zur
Heilung. „Das geschlachtete Lamm ist die Erlösung des
Hauses — phedu el bet — , und das in Tav- oder Kreuzgestalt
= T an der Tür angebrachte Blutzeichen schützt das Haus
oder Zelt und dessen Bewohner vor Tod und Unorlück. Jedes
neue Haus muß durch ein Tieropfer losgekauft werden, damit
die Menschenleben behütet werden (S. 228). Das Opferblut,
das man beim Einzug in ein neues Haus vor Gott — oder dem
Heiligen — hervorbrechen läßt, ist ein Lösegeld für die ganze
Familie und hält Unglück und Dschinnen ab (229)". Dieselben
Archiv f. Religionswiä3en3chaft XIII g
82 K. Kohler
Beobachtungen hat auch Clay Trumbull in seinen beiden
Werken „Blood Covenant" und „Threshold Covenant" genugsam
verzeichnet und in letzterem besonders den Ritus des Passah-
opfers als Weih- und Schutzritus für das Haus zu jeglichem
Frühjahr eingehend beleuchtet. Was Trumbull hier vom Tür-
schwellenopfer- oder Blutbund behauptet, das wird durch
Curtiß hundertfach von neuem bestätigt. Keine Frage also,
daß das vom Passahlamm genommene und an die beiden Tür-
pfosten und die Türschwelle hingestrichene Blut, das die Häuser
gegen die Plage, „den Verderber", schützen sollte, in der ur-
semitischen Religionsanschauung seinen Ursprung hat, was
auch allgemein von den Bibelexegeten zu Exodus 12, 7. 13 u. 23
seit lange erkannt worden ist.
Von keinem der Forscher aber ist bis jetzt das im Exodus
13, 9 u. 16 an das Passahopfer geknüpfte „Zeichen" für
Stirn und Hand verstanden worden. Sowohl Wetzstein
„Reisen im Orient" I, 237 wie Trumbull „Blood Covenant"
S. 232, Stanley „Eastern Church" I, 561 und viele andere teilen
die interessante Beobachtung mit, daß die Samaritaner bei
ihrem jährlichen Passahopfer auf dem Berge Gerizim das hervor-
brechende Blut der geschlachteten Lämmer in einer Schüssel
auffangen und mit demselben sowohl die Zelte — letzteres
geschah vor Wetzsteins Augen nicht, wohl aber in Gegenwart
TrumbuUs! — als auch „die Stirn bis zur Nasenspitze"
jedem Knaben bestreichen. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß von dieser Blutbestreichung ursprünglich Exodus 13, 9
gesagt war: „Und das [Blut] sei dir zum Zeichen an deiner
Hand und zum Merkmal — oder Vers 16 „zum Aetzmal" =
Totaphoth — zwischen deinen Augen." Der ganze vielfach
vom Deuteronomisten interpolierte Abschnitt handelt von dem
am Neumond — Hodesch — des Knospen- oder Prühlings-
monats gefeierten Hirtenfrühlingsfest, bei dem die Erstgeburt
des Viehes und der Menschen Gott geweiht wurde und die ganze
Passahfeier an die Tötung der Erstgeborenen der Ägypter als
Veranlassung zum Auszug des Volkes anknüpfte. Vergleiche
Selts. Vorstellungen u. Bräuche i. d. biblischen u. rabbinischen Literatur 83
Exodus 4, 22 — 23 mit 13, 1 — 2; 11 — 16. Daran hält sich
noch der Deuteronomiker (Deuteron. 16, 1) mit seiner Reform,
indem er vom Frühlingsneumond und den Schaf- and Rinder-
opfern, also noch den Erstlingen, als Passahopferfest redet.
Ursprünglich also hat man zur Passah- oder Hirtenfrühlings-
feier die Erstgeborenen der Herde an der Türschwelle der
Zelte geschlachtet und mit deren Blute die Häuser und die
— durch das Blut der Opfer ausgelösten — Knaben (viel-
leicht auch die Herden) bestrichen. Bl&s Blutzeichen
diente dann zum Schutz der Familienhäuser und der Knaben.
Erst der Deuteronomiker entzieht dem Privatleben die Wirkung
und den Gebrauch des schützenden Opferbluts und Blut-
zeichens und sucht für die Schutzzeichen am Hause und an
den Personen einen Ersatz. Statt des Blutzeichens f, das als
Tav des Lebens dem zu Beschützenden auf die Stirne gestrichen
wurde — vgl. Ezechiel 9, 4 — 6 mit 16, 6, wo das Blut-
mal Leben bedeuten soU! — soU das Wort der Lehre als
Schutzzeichen für Hand und Stirn, wie für das Haus dienen
(Deuteronomium 6, 8—9; 11, 18. 20).
Über den Ursprung der hier und an den angeführten
Exodusstellen befohlenen Denkzettel oder Phylakterien haben
Nowack und Benzinger in ihrer Hebräischen Archäologie wenig
Befriedigendes. Beginnen wir mit dem an den Haustüren an-
gebrachten Schutzzeichen, so finden wir in Jesaias 57, 8 die
Hindeutung auf eine phallische „Hand" (statt Zikronek scheint
ursprünglich Zikrutech gestanden zu haben). Für die Hand
und die Stirn waren Tätowierungen oder Eiuätzungen des Idols
als Schutzmittel gebräuchlich, wie aus Leviticus 19, 28 zu ent
nehmen, auch ist Jesaia 49, 16 zu vergleichen. Nun erfahren
wir aus Trumbull, Blood Covenant 7 ff., daß man bei den Syrern
und Arabern noch heute Tropfen des Bundesbluts, in ledernen
Kapseln aufbewahrt und an den Leib gebunden, als Amulette
mit sich herumträgt. Hier sind also die Übergänge zu den
Phylakterien = Tefillin (ein Wort,, das nichts mit Tefillah =
Gebet zu tun hat, sondern „Umwickeltes" oder „Umwickelung"
6*
84 K. Kohler Selts. Vorstell, u. Bräuche i. d. biblisch, u. rabbinisch. Literatur
[von palal] bedeutet) und den Türpfostenzeichen = Mezuzzoht
der späteren „Frommen" gegeben.
Daß beide aus Amuletten für Leib und Haus zu religiösen
Formen sich entwickelt haben, erhellt sogar aus der rabbi-
nischen Literatur, wo sie mit den Amuletten Kemeoth zu-
sammen genannt werden. Mischnah Schabbat 6, 2, Kelim 23, 1,
Tosefta Demai 2, 17. Schechters Abot d. R. Nathan, S. 165,
Targum zum Hohenlied 8, 3 und Jerusalemischer Talmud zu
Peah I 1; dazu v^l. die christlich -heidnischen Amulette bei
Kaiser, Canon des Jacob von Edessa, 130 — 132.
Zum Schlüsse sei noch auf die von Curtiß vorgefundenen
Spuren des alten Baal- und Astarte-Kultes in Syrien hingewiesen.
Man schwört dort noch heute beim Phallus des Allah, S. 118.
Kinderlose Frauen werden noch heute vom Schutzheiligen, der
im Fluß wohnend gedacht ist und zur Zeit der Dämmerung,
wenn alle Gewässer deker (= zakar = befruchtend) sind, herbei-
kommt, schwanger! (S. 113. 122 ff., vgl. Vorwort S. XXII f.
u. S. 95.) Der Wassergeist des alten Heidentums ward im
Neuen Testament, Johannesevangelium 5, 2, zum Engel, während
die heutigen Mariaquellen Palästinas mit ihrer vermeintlichen
Heilwunderkraft in der rabbinischen Literatur als Miriamquellen
gelten und dem wandernden Wunderquell Miriams, der Schwester
Moses, zugeschrieben werden (Leviticus Rabba 22).
Sonderbar ist, daß man sich im Jubiläenbuch 15, 27 die
Engel des Antlitzes und des Dienstes noch geschlechtlich vor-
stellte und die Beschneidung als Engelstypus kennzeichnete,
was noch in Abot di Rabbi Nathan nach einer Vatikanhand-
schrift ed. Schechter S. 153 nachklingt.
Daß die heißen Quellen vom Feuer Gehennas geheizt
werden (Schabbat 39 a und Enoch 47, 6 — 8), ist noch heute
syrischer Volksglaube: „Ein Dschinn unter der Erde erhält
das Feuer, wodurch das Wasser erhitzt wird" (Curtiß S. 230)
[Korrektumote : S. den Nachtrag unten S. 158.]
zoAriA
Von P. Stengel in Berlin
Eine kürzlich erschienene Marburger Dissertation, Sacrificia
Graecorum in hellis militaria betitelt, veranlaßt mich zu einigen
Bemerkxingen, die in den Kahmen einer Rezension nicht passen
würden; sie beziehen sich sämtlich auf die Appendix, die der
Verfasser, Th. Szvmanski, seiner fleißigen und übersichtlichen
Stoffsammlung (S. 72 ff.) angehängt hat, und zwar handelt es
sich hauptsächlich um zwei Stellen aus Plutarchs Vitae: Ages. 6
und Aristid. 18.
Vorausschicken muß ich, daß 6q:dyia durchaus nicht eine
einzige Art von Opfern bedeutet, und wer alle Schilderungen,
wo die Tiere als etpdyuc oder das Schlachten mit 6(fayiät,e6^ai
bezeichnet wird, zusammenwirft, muß notwendig in die Irre
gehen, etfayia heißen die Opfer für chthonische Gottheiten*,
Heroen-, Tote', femer Sühn- und Reinigungsopfer ^ und Eid-
opfer ^, kurz alle, wo es lediglich auf das Blut des Tieres an-
kommt, die man ivriiivei, d. h. schachtet, damit von dem Blut
nichts im Körper zurückbleibt und verloren gehe. Daneben
gibt es eine besondere Art ögrayia, die man in Augenblicken
großer Gefahr vollzieht. Bei ihnen allein findet Zeichen-
beobachtung statt, nur hier ist der fuivTig unerläßlich, und
nur hier scheinen die Spenden zu fehlen. Da dem Gotte nichts
zum Genüsse angeboten wird, höchstens böse Dämonen be-
schwichtigt werden sollen, wüßte man auch nicht, was sie für
einen Zweck haben sollten, V^eder Arr. Anab. VI 19, 5 noch
» Aisch. Eum. 1006. Xen. Anab. Y 5, 4. « Plut. Sol 9.
' Eur. El 515, Hei 1564. Aristoph. Av. 1559.
* Athen. XIV 626 F. Polyb. IV 21, 9. Plut Quuest. rotn. 68.
* Eur. Hiket. 1196. Antiph. 130, 12. Plut. Pyrrh. 6.
86 P. Stengel
I 11, 6 (vgl. Sz. S. 78 f.) handelt es sich um solche Opfer;
es droht keine unmittelbare Gefahr, und der Opfernde steht
vor keiner Entscheidung, die nach dem Ausfall der 6(pdyia
getroffen werden soll. Alexander befragt überhaupt keine
Zeichen, es sind Darbringungen an einen bestimmten Gott,
dessen Gunst er durch die reichen Gaben gewinnen will, selbst
die goldenen Gefäße, aus denen gespendet wurde, werden dem
Poseidon als %aQi6triQLa in die Fluten geworfen. Herodot VII 167
aber schildert ein spezifisch karthagisches Opfer, das sich
außer anderem von den griechischen dadurch unterscheidet, daß
Hamilkar Gaiiaxa oXa üatufC^si, während die Griechen die
6(fdyia zerstückelten. Die Stellen können also ebensowenig
beweisen wie Max. Tyr. XIV 2 ^vrs^hv 6(fäyia x^d^svog %oäs
dvsxaXslto ilfviriv.
Plut. Ages. 6 hat Agesilaos die Kontingente des Heeres,
das er nach Asien führen will, nach Geraistos beordert.
Während sie sich versammeln, fährt er selbst mit seinen
Freunden nach Aulis und hat dort nachts einen Traum; der
Erscheinende sagt ihm, er führe dieselben Völker von der
gleichen Stelle gegen denselben Feind wie einst Agamemnon,
«ixdg ^öTfc xal d"VöaC 6s tfj d'sq) d'vöCav, -Jjv ^xslvos svtav^a
d"v6ag ii,BnXEv6sv. Er aber verabscheut ein Menschenopfer
xai zatttöTstpas eXacpov ixsXsvöEv xaraQ^ccöd-ac rbv iavtov
fittVTLv . . . dxovöavtsg ovv ol ßoKOtdQxo^f' • • • £Ä£/i^av vTtrjQStccs
dnayoQSvovTEg tq) ^AyrjöiXdG) firj d^veiv jtaQu tovs vöfiovg xai
xd TtdtQva BoKor&v. ol dh xal ravta djiijyysiXav xal rä ^tjqCcc
diBQQi^av dnb tov ßofiov. Agesilaos aber fährt fort ysyovoag
dvöeXnig diä rbv olavöv, er fürchtet, er werde den Feldzug
nicht glücklich zu Ende führen. Die Erzählung von dem ge-
störten Opfer liegt uns noch zweimal vor, bei Xen. Hell. III 3, 3
und Paus. III 9, 3. Xenophons Bericht lautet: Nachdem Agesilaos
die vorschriftsmäßigen Opfer und vor dem Überschreiten der
Grenze die diaßari^QLa vollzogen hatte, schickte er Boten an
die Bundesgenossen, wohin eine jede Stadt ihr Kontingent senden
solle, ccvrbg dh ißovXijd^ij iXd-mv Q-vöai iv AvXiöi^ sv^ansQ
z^AriA 87
6 Aya^suvcjv, or' sls TgoCav exXsi^ ^^vexo. g)j 8s ixel iyivsro,
xv&öuevoi ol ßoKDTUQxoL, Ott &VOL, ns^t^avtsg InTcdag tov ts
koiTiov EL%ov [lii d-v£LV •/.ol olg ivstvxov IsQolg Tsd^v^svoig
duQQL^av ä:tb rov ßco^ov. Agesilaos ruft zürnend die Götter
zu Zeugen an und fährt nach Geraistos, wo er das Heer
zusammenzieht und nach Ephesos übersetzt. Pausanias III 9, 3
erzählt: 'Ayr^öClaos 8h cjg avzä . . . xb öxqccxsviuc ^&qoi6to xal
aiia al v^fg evxQBnelg rj6av, ä<pCx£TO sig AvXCda rfi ^AgriiLidi
&V6COV, wie Agamemnon es getan . . . d^vovxog 8b avxov &rjßaloi
övv o^loLs iTtsX&ovxas xäv xe iageCav y.uionsva ff8r] xä fir^gCa
dxoQQinxovöLV anb xov ßofiov xal avxbv ki,sXavvov6iv ex xov
hgov. ^Ayi]6CXaov 8a ilvaai }i£v i} ^vöCa fxri xaXaö&alöa,
8Ußaivs 8h oiiag ig xt^v ^AöCav. Xenophon ist ein Zeit-
genosse des Agesilaos, lebhaft interessiert für den Feldzug, ein
nüchterner Mann, zuverlässig vornehmlich auch in den Dingen,
auf die es hier ankommt, in der Beschreibung von Opfern.
Agesilaos ^i»«t, bringt also ein gewöhnliches Speiseopfer, von
dem er der Göttin auf ihrem Altar die üblichen Stücke ver-
brennt (vgL Hell. UI 5, 5). Was für ein Tier er geopfert hat,
sagt Xenophon nicht, man hat wohl an das gewöhnlichste
laQstov (vgl. Dittenberger Syll.^ 629, 14), ein Schaf, zu denken.
Auch bei Pausanias finden wir die Ausdrücke &v£lv und
Isgata (nicht 6(fuyiä^i6^ai und 6(pccyiov, und er wendet die
Termini sehr genau an) und die ins Altarfeuer gelegten fir^gCa-,
also auch ein gewöhnliches Speiseopfer. Auf die Zahl der
Tiere kommt es nicht an, auch nach Xenophons Schilderung
könnte man an mehrere denken. Ganz anders bei Plutarch.
Agesilaos fährt nach Aiiüs; warum, wird nicht gesagt, aber
man muß doch annehmen, um zu opfern. Dort hat er nachts
den Traum, der, wie nicht anders zu verstehen ist und wie er
selber versteht (vgl. Plut. Pelop. 21), die Opferung einer Jungfrau
fordert. Er ist sogleich entschlossen, ein Ersatzopfer dar-
zubringen, eine Hinde, wie sie Artemis einst für Iphigenie
untergeschoben haben sollte, also ein övpayLov (vgl. Pelop. 21).
Das Tier ist auch sofort zur Hand Nun aber die Ausführung:
88 ■ P. Stengel
xä ^rjQCa diBQQirpav a%o rov ßcjiiov. Von Tieren, die für
Menschenopfer substituiert sind, werden nicht nur die iir]QCa,
sie werden ganz und gar verbrannt, freilich nicht auf Altären,
am wenigsten auf dem auch zu andern Opfern benutzten Altar
eines Heiligtums. Aber das Herunterwerfen der der Gottheit
geweihten Stücke war einmal Tatsache, und wer romanhaft
ausgeschmückte Legenden damit vereinigen wollte, mußte eben
in die Brüche geraten. Das Tier wird bekränzt. Soviel wir
wissen, geschah das nur bei festlichen Speiseopfern. Aber die
Dichter erzählten, daß Jungfrauen, die sich fürs Vaterland
opferten, bekränzt zum Tode gingen^; gesehen hatte das
niemand, höchstens auf Gemälden, und die (paQfiaxoC, die an
den Thargelien zur Sühne hinausgeführt wurden, trugen nur
die kathartisch wirkenden Feigenschnüre um den Hals.^ Und
was soll der ^avrtg? Menschenopfer und die an ihrer Statt
dargebrachten Tiere werden grausamen oder zürnenden Gott-
heiten hingegeben, um sie zu versöhnen, eine Zeichenbeobachtung
hat da keinen Sinn, — aber Iphigenie war von Kalchas ge-
opfert worden, und so durfte auch hier der Seher nicht fehlen.
Zweifellos richtig ist der Grund, den der Boioter Plutarch
für die Verhinderung des Opfers durch die Behörde angibt:
'jiyrjßCXaog ixsXsvös xatdQi,a6d'cci tbv iccvtov (idvriv, ov% &6%sq
slädsL tovto noiBiv 6 vnb räv BoicaxSiv tstay^svog. Das war
in der Tat eine beleidigende Eigenmächtigkeit des Lakedai-
moniers und gegen Herkommen und Recht, denn der Fremde
durfte ohne Erlaubnis und ohne die Mitwirkung eines dazu
bestellten Bürgers in einem Heiligtum eines anderen Landes
' Eur. Iph. Aul. 1667, Heraklid. 628. Anton. Lib. VIII 4.
' Sollte Plut. Pelop. 22 die von den meisten Codices gegebene Lesart
xataatiipavree richtig sein, und nicht naraötgiipavTeg, wie der Palatinus
hat (vgl. Herrn. XXV 322), so wäre die Stelle nicht anders zu beurteilen.
Aber man fragt sich, wie kommt y.axuaxQi'\^avt£s in die Handschrift
(die übrigens öfters die beste Lesart liat)? Nach einem Schreibfehler
sieht das nicht aus, aber daß ein Späterer für das ihm in seiner Be-
deutung gewiß schon dunkle Wort das geläufige ■Kaxaexi'^^iavzeg schrieb,
wäre plausibel.
z^AriA 89
nicht opfern, das xarccQx^^^^i' mußte zuerst dieser vornehmen
(vgl. Dittenberger Ind. lect. Hai. 1889/90, Stengel Herrn. XLUI
456 ff.). Ich habe diese einzig mögliche Lesart des Matritensis
sogleich in den Text gesetzt, unsere Ausgaben haben sämtlich
mit den anderen Codices dixccQ^aöd'ai. d%dQ%B6&aL bedeutet
das Abschneiden und Darbringen der Weihegaben, der aTcaqxai^,
es kann also erst geschehen, nachdem das Tier geschlachtet
ist, und diese Handlung vollzieht niemals ein Seher, sondern
der, welcher das Opfer darbringt, der Besitzer des Tieres. Das
xaxdQxsöxfai^, d. h. das Besprengen des Tieres mit Wasser imd
das Streuen der ovXai^ nehmen alle Anwesenden vor, der Dar-
bringende nur, wie natürlich, an erster Stelle (Od. y 446), und
das ist es, was im fremden Lande der Einheimische tun muß.'
Darüber hatte sich Agesilaos hinweggesetzt und gehandelt, als
sei er Herr von Aulis.*
Plut. Arist. 18 schildert das Opfer des Pausanias vor der
Schlacht bei Plataiai. Wie wir dort Xenophon gegenüber-
stellen konnten, so hier Herodot. Bei ihm heißt es IX 61 f.:
AaxsöaifiövLOi xal TsyefiruL . . . iötpayid^ovro ag dv^ßa/.sovres
MaQÖovia) . . . y.al ov ydQ 6(fi sysvero xd Gffdyia xQV^'^^j
BTCVTCrov 8e avxäv iv xovxa xa X(>övgj :ioXXoi, y.ai :ioXXä
xXsvvsg ixQcofiaxC^ovxo . . . &6xs xu^o^isvav r&v ZlnaQXLtixicov
xal xäv Gqiaylav ov yevo^isvcov d:ioßXiil)avxu xbv IlavGavCijv
TCQog xb "Hquiov xb Ukaxaiiav i7iixaXs6cc€&ai xriv &söv . . .
xai avxCxa [lexä xiiv Bvxiiv v^v UavöavUca kyivsxo ^voiiivoiöi
xä 6(pdy la xQfl^'^d. Eine kritische Situation; vor dem günstigen
Ausfall der öcpdyia wagt man nicht anzugreifen, ja man darf
sich trotz der Verluste der Feinde nicht einmal erwehren^;
weit dramatischer aber noch ist die Schilderung bei Plutarch.
Er bewundert die Disziplin der ruhig Abwartenden und erwähnt
' Od. I 428f. Herod IV 61, ÜI 24. Xen. Cyrup. VII 1 1.
» Vgl. Plat. Thetn. 13.
' Genau also TiQOxazdQxeaQ-cn, wie Thuk. I 25
* Vgl. meine Griech. Kultusaltt.^ 106, 19.
= Vgl. Xen. Hell IV 6, 10.
90 P. Stengel
sogar eine Erzählung, nach der Pausanias und die anderen
beim Opfer Anwesenden die angreifenden Feinde mit Stöcken
und Peitschen zurückgetrieben hätten; er läßt den Seher hastig
eine ganze Menge von Tieren schlachten (aAXa rov ^dvtecog
ijc^ cclloLQ IsQsla xtttaßdXXovtos) , er weiß auch, was der Führer
der Göttin in angstvollem Gebet zurief. Danach fährt er fort
xavta Tov Ilavöavlov Q'SozXvtovvTog ä^a taig 6'i)%aLS Icpdvri
tä isQu^ ■aal vCxrjv 6 fidvng etpQa^s. Auf diese Stelle vor-
nehmlich gründet Szymanski (S. 87) seine Ansicht, daß auch
bei den 6cpdy la Eingeweideschau stattfand, denn die römischen
Opfer bei der Lustratio des Heeres Plut. Crass. 19 und Caes. 43
(an welcher Stelle übrigens einfach U^ala %^vsiv steht) kommen
nicht als Analoga in Betracht. Er erklärt IsQd seltsamerweise
als exta, wie bei Eur. El. 826 und Herod. VII 167 ^, es heißt
natürlich „Zeichen", d. i. günstige Zeichen. Denn Uqo, yCy vetai
oder IsQa yCyvBxai xaXd wird synonym gebraucht, und mit
6(pdyia ist es nicht anders.^ Was sind das nun aber für
6r][isla, die da betrachtet werden? Nach Sz. S. 88 f. schließt
die Lage, wie sie Plutarch an unserer Stelle schildert, sogar
das Verbrennen der Tiere oder der Eingeweide aus, während
die einzige Stelle, die uns die Zeichenbeobachtung bei Voll-
ziehung der 0(pdyia beschreibt, Eur. Phoin. 1255 ff., nach seiner
Meinung (S. 83 ff.) nur (pXoy(07tä öijiiata nennt. Plutarch über-
treibt eben die Spannung der Situation , wie der Vergleich mit
Herodot zeigt, und aus Euripides nur der Flamme entnommene
Zeichen herauszuinterpretieren, geht ebenfalls nicht an, denn
die Scholiasten mit der Bemerkung abzutun, daß sie auch
Falsches bringen (S. 84), ist unmöglich, das Zitat aus Soph.
MdvtSLg' tag iialkoSstag nv6xBig beweist, daß sie recht haben.'
* Statt der letzten Stelle hätte er besser andere, wie \Qn.Anab. II 1, 9 ;
Hell. III 4, 15; Plut. Ages. 9 angeführt.
» Herod. IX 61, III 112. Aisch. Sept. 379. Xen. Andb. IV 8, 19 u. a. m.
Auch (paivs6%-ai steht öfters dabei, z. B. Arr. Andb. III 1, 6. Xen.
Cyrup. VI 4, 12.
• Selbst wenn sich ivavriav auf die Beeinträchtigung der Feuer-
entwickelung durch die Feuchtigkeit beziehen sollte, wie ich Herrn.
Z^AFIA 91
Wir bleiben also leider nach wie vor anf die Enripidesstelle
angewiesen, die nns bestätigt, daß bei den öcpdyia noch andere
Zeichen beobachtet wurden als bei den Uqü^, was ja übrigens
selbstverständlich ist, da die Beobachtung beider nebeneinander
sonst nicht zu erklären wäre. Da aber, wo wir beide zu-
sammen finden, sind die 6<pciyia nicht einfache Sühnopfer
(vgl. Sz. S, 53), sondern man schließt aus ihrem Ausfall ganz
besonders auf Gelingen oder Mißlingen des Unternehmens, und
macht, wenn es noch angeht, dieses selbst von dem Befund
der Zeichen abhängig. Nur wo keine augenblickliche Gefahr
droht, genügen auch zu solcher Entscheidung die Uqu, die
man dann aber nicht d^vei, sondern ^vsrai, ein Unterschied
im Sprachgebrauch, der Sz. leider entgangen zu sein scheint
(s. Herrn. XXXI 638 f).
XXXI 479 annahm, so ist damit das durch das Sophokleszitat beglaubigte
Zeugnis, man habe das Bersten der die Flüssigkeit enthaltenden Harn-
blase beobachtet, nicht widerlegt. Sonderbar aber ist die Erklärung
des avTovg in dem Scholion, das nach Sz. S. 85 mehrere fiävTsig voraus-
setzen würde. Es steht ja deutlich den ix^goi und ivavxioi gegenüber
und bedeutet natürlich den yLÜvriq und die Seinigen.
' Sz. S. 89 kommt zu dem umgekehrten Ergebnis.
Zur Geschichte der Chadhirlegende
Von Israel Friedlaender in New-York
Die Frage nacli Ursprung und Wesen der Chadhirlegende^
die die Gelehrten so häufig beschäftigt hat, hat verschiedene,
zum Teil entgegengesetzte Lösungen gefunden. Während z. B.
ein so hervorragender Forscher des Islam wie Sprenger die
Gestalt Chadhirs für „eine unhiblische, ja unsemitische Per-
sönlichkeit" erklärt^, verficht ein so genauer Kenner des Juden-
tums wie Josef Derenbourg nachdrücklich die Ansicht, daß die
Muhammedaner die Chadhirlegende gänzlich von den Juden
entlehnt haben.^ Ethe wiederum ist der Überzeugung, daß
„diese mythische Person ganz der muhammedanischen Phantasie
angehört"*, während andere Gelehrte Chadhir mit anderen Sagen-
und Kulturkreisen in Verbindung gebracht haben. Diese
Lösungsversuche gingen fast sämtlich von der Voraussetzung
aus, daß Chadhir sich mit einer bestimmten, aus einem be-
stimmten Vorstellungskreise entlehnten legendarischen Persön-
lichkeit deckt. Einen großen Fortschritt diesen Versuchen
gegenüber bedeutet der im letzten Jahrgang dieser Zeitschrift, XII
S. 234 ff. veröffentlichte Aufsatz des durch frühzeitigen Tod der
' Wenn ich von einer Chadhirlegende oder Chadhirsage spreche,
80 ist dies com grano salis zu nehmen, da es sich hierbei vorwiegend um
literarische und gelehrte Tradition handelt. Die Sache verhält sich
ähnlich, wie beim Alexanderroman, vgl. Nöldeke Beiträge zum Alexander-
roman S. 10.
* Das Leben und die Lehre des Muhammed II 466.
' Revue des L'tudes Juives II 292 Anm. 1 : „Les Musulmans ont sans
doute empruntd aus Juifs toutes leurs legendes relatives au Khidr."
Dörenbourg spricht von der Eliaslegende.
* Sitzungsberichte der philos.-philol. und hist. Klasse der Kgl. bayer.
Akademie der Wissenschaften 1871 S. 349.
\ Zur Geschichte der Chadhirlegende 93
Wissenschaft entrissenen Karl Völlers. In dieser Arbeit, in der
Völlers zum ersten Male dem gewaltigen unter den Muhamme-
danem zirkulierenden Legendenstoff über Chadhir gerecht zu
werden versucht, ist vor allem der Gesichtspunkt wichtig, daß
die Chadhirgestalt sich nicht mit einer bestimmten Person der
Sage deckt, sondern das Produkt eines weitgreifenden Syn-
kretismus ist. Die Volksphantasie, die die Volkslegende schafft,
ist keine Mathematik, die mit scharf abgegrenzten Einheiten
operiert. Die Volksphantasie ist eben phantastisch. Sie ver-
fährt eklektisch und rafft alles, dessen sie habhaft werden kann,
zusammen, um es dem Charakterbild ihres Helden einzuverleiben.
Die Frage: „Wer ist Chadhir?", die in dieser Form mehrfach
gestellt wurde,^ erhält somit eine veränderte und erweiterte
Bedeutung. Sie ist keine einfache Frage mehr, auf die sich
leicht im Singular antworten läßt, sondern ein kompliziertes
Problem, das man etwa in dieser Weise formulieren kann:
Welches sind die mannigfaltigen, oft heterogenen Bestandteile,
aus denen sich das Chadhirbild der Sage zusammensetzt? Eine
befriedigende und erschöpfende Lösung dieses Problems setzt
eine ernste Berücksichtigung sämtlicher Kulturkreise voraus,
mit denen der muhammedanische Volksgeist in Berührung ge-
kommen ist — eine ungeheure Aufgabe, die die Kräfte eines
Einzelnen übersteigt.
Seit einer Reihe von Jahren habe ich mich mit diesem
faszinierenden Problem abgegeben und aus Druckwerken und
Handschriften die muhammedanischen Legenden zusammen-
zutragen und den ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen nach-
zuspüren versucht. Das Problem, das anfangs so einfach schien,
nahm immer größere Dimensionen und immer kompliziertere
Formen an und griff allmählich auf Gebiete hinüber, von denen
ich mir zuerst nichts hatte träumen lassen. Aus Anlaß des
Vollersschen Aufsatzes sei es mir gestattet, einige Resultate
meiner Untersuchungen hier kurz zusammenzufassen und die
^ Vgl. Lidzbarski in Zeitschrift für Assyriölogie VII S. 104 ff. und
Dyroff ibidem S. 319 S.
94 Israel Friedlaender /
Geschichte der Chadhirlegende, wie sie sich mir aus meinen
Forschungen ergeben hat, flüchtig zu skizzieren.
Auf den Ursprung der Chadhirlegende deutet eine von
den muhammedanischen Schriftstellern vielfach überlieferte
Notiz hin, nach welcher Chadhir, der ein Wesir Dü'1-Qarnein's
(des Zweigehörnten, d. h. Alexanders des Großen) war, dadurch
ewiges Leben erlangte, daß er den Lebensquell entdeckte und,
anstatt seines Meisters, von dessen Wasser trank.^ Dieser Wink
führt uns unmißverständlicherweise auf die berühmte Legende
vom Lebensquell, die sich im griechischen Pseudo - Kallisthenes
findet.^ Alexander der Große will seinen Eroberungen die
Krone aufsetzen und sich ewiges Leben erwerben. Er begibt
sich nach dem Lande der Finsternis, in dem der Lebensquell
verborgen liegt. Als einst Alexanders Koch, der in einigen
Rezensionen Andreas genannt wird, um Speise für seinen Herrn zu-
zubereiten, einen gesalzenen Fisch in einer Quelle abspülte,
wurde der Fisch lebendig und entschlüpfte seinen Händen. Der
Koch, der sofort merkte, daß es der Lebensquell war, trank von
dessen Wasser und wurde unsterblich. Als Alexander dies später
erfuhr, wurde er von Wut ergriffen und beschloß den verräterischen
Koch zu bestrafen. Da er ihn trotz mehrfacher Versuche nicht
töten konnte — der Koch war ja inzwischen unsterblich ge-
worden — , ließ er ihn, mit einem Mühlstein beladen, in der See
versenken, in der er als Seedämon ein ewiges Dasein fristet.
Es ist klar, daß Chadhir, der als Prophet nicht gut ein
Koch Alexanders sein konnte und daher passenderweise in
dessen Wesir verwandelt wurde, ursprünglich mit dem Koch
Andreas identisch ist, der, anstatt seines Meisters, aus dem
Lebensquell trank und sich dadurch ewiges Leben erwarb.
Ein Reflex der Lebensquellsage findet sich, wie Nöldeke
zuerst festgestellt hat^, im Koran, Sure XVHI, 59 — 63. Die
' Tabari Annales I 414 und viele andere.
" Ed. Carl Müller Buch II Kap. 29—41, im sogenannten Olympiasbrief.
' Beiträge zum Älexanderroman S. 82 Anm. 4.
Zur Geschichte der Chadhirlegende 95
Sage erscheint dort in sehr verstümmelter Gestalt, doch lassen
sich noch die Gnmdzüge derselben deutlich erkennen. Infolge
eines Mißverständnisses seitens Muhammeds oder seines Ge-
währsmannes wird Alexander mit Moses verwechselt*, der in
der Koranversion als die Hauptfigur erscheint. Es war daher
natürlich, daß der an der genannten Stelle erwähnte Diener des
Moses von den Kommentatoren für Josua erklärt wurde. In-
dessen liegt 88 auf der Hand, daß dieser Diener, dem im Koran
ebenfalls der Fisch auf geheimnisvolle Weise entschlüpft, ur-
sprünglich kein anderer als der Koch Andreas ist. Der
Hadith hat noch vielfache Spuren dieses Zusammenhanges
bewahrt, der in der auf eine arabische Vorlage zurückgehenden
äthiopischen Alexanderversion ^ wie auch gelegentlich sonst in
der arabischen Literatur deutlich ausgesprochen wird.
Der Name unseres Sagenhelden dürfte sich ebenfalls aus
diesem Zusammenhange erklären. Al-Chadhir (oder al-Chidhr),
„der Grüne", ist der Seedämon, in den Alexanders Koch
verwandelt wurde.' Lange nachdem ich auf diese Erklärung
gekommen war, fand ich dieselbe in etwas modifizierter Ge-
stalt in der äthiopischen Alexanderversion ausgesprochen.* Doch
wie man auch den Namen erklären mag, keinem Zweifel, nach
meiner Ansicht, unterliegt es, daß es die Gestalt des Seedämons
ist, die der allgemein verbreiteten, bis nach Indien hinreichenden
muhammedanischen Vorstellung, nach welcher Chadhir mukallaf
fi'1-bahr, „Vorgesetzter der See" ist, und den unzähligen
Legenden, die dieser Vorstellung Ausdruck geben, zugrunde
liegt.
* Ebenda. * Vgl. unten Anm. 4.
' Auf den Zusammenhang mit riavxos komme ich in der unten
angekündigten Abhandlung zurück.
* The Life and Exploits of Alexander the Great, ed. Budge, 1896, II
S. 268: Als Chadhir, der hier deutlich die Rolle des Koches Andreas
spielt, im Lebensquell gebadet hatte (ich zitiere die englische Über-
setzung): „behold, all the flesh of bis body had become bluish-green
and bis garments likewise became bluish-green and by reason of this he
was called El-Khidr, that is to say, Green."
96 Israel Friedlaender
Indem man die Chadhirlegende mit Pseudo-Kallisthenes in
Verbindung bringt, braucht man dabei nicht, wie Völlers
meint ^, an direkte Entlehnung aus dem Griechischen zu denken,
die in dieser frühen Zeit auffällig wäre. Man muß vielmehr
an die Syrer, die mit der Lebensquellsage wie mit dem Pseudo-
Kallisthenes überhaupt vertraut waren, als Vermittler denken.
Muhammed, der für die asätir al-awwalin, „die Historien
der Alten", mehr Interesse als Verständnis hatte, hat seinen
syrischen Gewährsmann schlecht verstanden und noch schlechter
wiedergegeben. Die nach Muhammed lebenden Traditionarier
hatten jedoch in viel höherem Maße die Gelegenheit und
Fähigkeit, diesen Legendenstoff kennen zu lernen. Ich kann
diese Fragen hier lediglich andeuten. Dieselben finden eine
eingehende Besprechung in meiner demnächst erscheinenden
Abhandlung „Die Chadhirlegende und der Alexanderroman",
in der ich die Entwickelung der Chadhirlegende im Zusammen-
hang mit der Lebensquellsage und dem Alexanderroman in
den verschiedenen orientalischen Versionen im einzelnen ver-
folge und auch auf die Berührungen mit dem babylonischen
Gilgameschepos und der griechischen Glaukossage eingehe.^
Auf den Zusammenhang der Chadhirlegende mit der
jüdischen, genauer rabbinischen, Eliassage ist längst von ver-
schiedenen Seiten hingewiesen worden.^ Dieser Zusammenhang
ist so frappant, daß es unbegreiflich erscheint, wie Lidzbarski,
dem doch die rabbinische Legende zweifellos bekannt war, ihn mit
einigen spöttischen Bemerkungen abweisen konnte.* Es ist
— I
^ S. 282.
* Über den Zusammenhang Chadhirs mit dem Alexanderroman
referierte ich kurz auf dem Orientalistenkongreß in Kopenhagen im
August 1908. Über die Beziehungen zum Gilgameschepos sagte ich
einiges auf der Jahresversammlung der American Oriental Society in
New -York, April 1909.
' So z. B. von Geiger Was hat Muhammed aus dem Judentum
aufgenommen S. 191, Josef D(5renbourg oben S. 92 Anm. 8, Hirschfeld
Beitrüge zur Erklärung des Qorans S. 82 und viele andere.
* Zeitschrift für Assyriologie VII, 106.
Zur Geschichte der Chadhirlegende 97
dankenswert und zugleich charakteristisch, daß Völlers, obwohl
ihm die jüdischen Eliassagen eingestandenermaßen aus zweiter
Hand bekannt waren \ diese Verwandtschaft wieder erkannte und
energisch betonte. Nicht nur lassen sich die einzelnen Chadhir-
anekdoten aus genau entsprechenden Eliaslegenden ableiten,
sondern die Grundvorstellung von Chadhir als einem allgegen-
wärtigen Ratgeber und Helfer in der Not ist ein genauer
Abklatsch der rabbinischen Auffassung. Die muhammedanischen
Gelehrten sind sich dieser Identität durchaus bewußt, wenn sie
vielfach erklären, daß Chadhir Elias sei. Doch da einerseits
das Charakterbild Chadhirs eine ßeihe von Zügen aufweist, die
einem anderen Vorstellungskreis angehören und da andererseits
Elias schon vom Koran her den Muhammedanem als selb-
ständiger Prophet bekannt war, so konnte die Identität der
beiden Personen nicht aufrechterhalten werden, und ihr beider-
seitiges Verhältnis wurde dadurch zum Ausdruck gebracht, daß
Chadhir für einen Genossen des Elias oder für dessen Schüler
Elisa erklärt wurde. Die in den muhammedanischen Ländern
wohnenden Juden hingegen nahmen diese Identifikation als
selbstverständlich hin, und zwar so sehr, daß diejenigen, die
mit ihrem jüdischen Namen Elia hießen, sich mit ihrem
bürgerlichen Namen Chadhir (genauer Chidhr) nannten.' Ja, der
von der rabbinischen Tradition mit Elias identifizierte Pinehas
wurde von den Juden für Chadhir erklärt.^ Doch die Ursprünglich-
keit der Identität von Chadhir und Elias zeigt sich bereits in
der allgemein verbreiteten muhammedanischen Tradition, nach
welcher Chadhir, dessen Name natürlich nur ein epitheton
rnans ist und als solches aufgefaßt wurde, BLJä bnu Malkän
hieß. Für die Konsonantengruppe BLJä wird von den späteren
' Der von Völlers S. 271 zitierte Artikel über Elias aus der Jewish
Encyclopedia V, 122 ff. ist nicht, wie er Anm. 1 irrtümlich angibt, von
Emil G. Hirsch, sondern von Louis Ginzberg.
* Ich gehe auf diesen interessanten Punkt in dem unten angekün-
digten Artikel ausführlich ein.
' Mas'üdi, Kitäb at-tanbth, ed. de Goeje S. 200. Ich könnte noch
eine Reihe weiterer Belege beibringen.
Archiv f. Beligionawissenschaft Xm 7
98 Israel Friedlaender
Theologen ausdrücklicli die Aussprache Baljä vorgeschrieben.
Indessen bieten Tabari^ und Ibn al-Athir^, mit unbedeutender
Veränderung der diakritischen Punkte, die Variante JLJä, die
offenbar nichts anderes als Ilijä (Elia) ist.^ Diese Form des
Namens ist ungemein bezeichnend. Während Muhammed die
Eliaslegende, wie schon die koranische Form Iljäs bezeugt, nicht
von den Juden, sondern wahrscheinlich von den Syrern ent-
lehnt hat*, schöpften die nach Muhammed lebenden Über-
lieferer aus jüdischen Quellen.
Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen und ungemein
interessanten Wechselbeziehungen zwischen der muhammeda-
nischen Chadhirlegende und der rabbinischen Eliassage ein-
zugehen. Ich behalte mir dies für eine andere Gelegenheit
vor^, bei der ich auch die anderen Gestalten der jüdischen
Haggada in Betracht ziehen werde. Hier wollen wir lediglich
auf die berühmte Erzählung im Koran Sure XVIII, 64 — 81,
die die muhammedanischen Gelehrten einstimmig auf Chadhir
beziehen und die ebenfalls der Widerhall einer jüdischen Elias-
sage ist, hinweisen. Die letztere wird zuerst von einer rabbi-
nischen Autorität des 11. Jahrhunderts zitiert®, doch dürfte
^ Annales I 415, 2.
* Chronicon ed. Tornberg I 111.
* Die persische Version Tabari's, übersetzt von Zotenberg, I 374,
hat ausdräcklich „Elie fils de Melka (sie)". Damiri, hajat al-hajawän
(sub voce hüt Müsa) hat in einer anderen Genealogie llija. In der Alexan-
derversion Codex British Museum Add. 7366 fol. 39 a antwortet Chadhir
auf die Frage: Was ist dein Name? ausdrücklich: Elia. Einige Hand-
schriften von al-Kisä'i's Qisas al-anbijä im British Museum haben aus-
drücklich ,, Iljäs b. Malkän". Ibn Hagar (starb 852/1448), zu dessen
Zeit die Aussprache Baljä längst feststand, bemerkt in seinem Kommentarj
zu Buchärl's Sahih (Kairo 1883 f. VI 309) ausdrücklich, daß er in eine
Abschrift von Wahb b.- Munabbih's Mubtada' die Lesart JLJä (mit zwei*
Punkten unter dem ersten Buchstaben) statt BLJä gefunden habe.
* Vgl. Sprenger Leben und Lehre dts Muhammed II 335.
^ In der mit Beginn des nächsten Jahres in Amerika erscheinenden
Jewish Quarterly Revieiv.
* Rabbi Nissim ben Jacob in seinem Hibbür yäfe (ed. Warschau
1898) S. 9 ff.
Zur Geschichte der Chadhirlegende 99
sie aus einem viel altem Midrasch stammen. Was der Koran
von Moses und dem ohne Namensnennung erwähnten Diener,
..dem wir unsere Barmherzigkeit gegeben und unser Wissen
gewährt haben" (Vers 64), berichtet, wird in der jüdischen
Version von Elias und Rabbi Josua ben Levi erzählt. Die
TJrsprünglichkeit der jüdischen Sage gibt sich nicht nur durch
den ganzen Ton derselben kund, sondern wird auch dadurch
nahegelegt, daß dieselbe sich vorzüglich in den Rahmen der
rabbinischen Eliasvorstellung einfügt und daß Rabbi Josua
ben Levi, ein palästinensischer Amora des 3. Jahrhunderts,
auch sonst als intimer Genosse des Propheten figuriert.^ Wir
begreifen somit, warum die muhammedanischen Theologen, die
die Identität Chadhirs mit Elias schon in dessen Namen aus-
drücken, den im Koran rätselhaft auftauchenden Diener, der in
der jüdischen Sage als Elias erscheint, mit solcher Einstimmig-
keit auf Chadhir beziehen. Die im Koran unmittelbar vorher
gehende Erzählung (Sure XVIII, 59 — 63), die, wie wir oben
gesehen haben, aus einem völlig abweichenden Sagenkreise
stammt, hat demnach, wie schon FraenkeP und Dyroff^ dar-
getan haben, mit dieser Legende nichts zu schaflFen.* Nach
dem Obigen jedoch wird man aber auch den Grund einsehen,
warum diese heterogenen Erzählungen zusammengeschweißt und
beide auf Chadhir bezogen wurden.
Vollständig unbeachtet sind bisher die christlichen Be-
ziehungen der Chadhirlegende geblieben. Und doch kann, man
' Gegen Israel Levi Bevue des Etudes Juives VIII, 71, der Ent-
ehnung aus dem Koran annimmt. Nissim sagt in der Vorrede zu
seinem Buche ausdrücklich, daß er dasselbe deswegen geschrieben habe,
damit man nicht außerjüdische Werke zu lesen brauche. Ich werde die
ferneren Gründe für meine Ansicht, die von den meisten jüdischen Ge-
lehrten geteilt wird, anderwärts ausführlicher darlegen.
* Zeitschrift der deutsch -morgenländischen Gesellschaft XLY, 326.
' Zeitschrift für Assyriologie VII, 324.
* Dadurch allein ist die Unmöglichkeit der Gleichsetzung Chadhirs
mit dem babylonischen Chasisatra (Lidzbarski ihid. YII, 109) hinlänglich
erwiesen.
100 Israel Friedlaender
nicht nachdrücklich genug auf den Zusammenhang der Chadhir-
sage wie der muhammedanischen Haggada überhaupt mit der
christlichen Überlieferung hinweisen. Vor allem muß man
dabei an das orientalische, insbesondere südarabische und abessi-
nische Christentum^ und das in diesen Kreisen so maßgebende
apokryphe und pseudepigraphe Schrifttum denken. Ein merk-
würdiges und ungemein frappantes Beispiel dieser Beziehungen
ist die Identifikation Chadhirs mit Malkisedek.
Die Gestalt Malkisedeks, der urplötzlich auftaucht, um
dem siegreich heimkehrenden Abraham seinen Segen zu erteilen,
und dann ebenso plötzlich vom Schauplatz verschwindet, hat
sehr früh die religiöse Spekulation von Juden und Christen in
Bewegung gesetzt. Das gänzliche Fehlen genealogischer An-
gaben wurde als Zeichen seines übermenschlichen Ursprungs
und Wesens angesehen. Philo identifiziert ihn mit dem Logos^,
während er den vorchristlichen Häretikern als ewige Ver-
körperung des priesterlichen Ideals gilt^, und so erscheint er
auch im Hebräerbrief VH, 3 als aTtdrcoQ dfnjrcoQ dysvsaXöytjtos,
(itIts ccqi'^v rj^sQäv ^ijts ^(ofjs teXog b%(ov. Man weiß aus
der Polemik der Kirchenväter, welch weite Verbreitung und
Bedeutung dieser Malkisedekkultus in heterodoxen christlichen
Kreisen gewann. Das ewige Leben Malkisedeks war ein
stehender Glaubensartikel, und noch im 11. Jahrhundert macht
der berühmte spanisch - arabische Theologe Ibn Hazm* die Juden
^ Vgl. Goldziher in Revue de Vhistoire des religions XLIII (1901) S. 24.
* Vgl. M. Friedländer Der Antichrist in den vorchristlichen jüdischen
Quellen, Göttingen 1901, S. 88.
' Eine reichhaltige Zusammenstellung der Daten über Malkisedek findet
man bei Epiphanius Haeresis LV. Siehe Job. Henrici Heideggeri Räshe
Ahöth, sive de historia sacra patriarcharum II (Amsterdam 1671) p. SSflF.
und Francisi Fabricii Tractatus philologico-theologicus de sacerdotio Christi
juxta ordinem Melchizedeci, Leiden 1720 p. 40ff. Derselbe, Codex pseudo-
epigraphieus Vcteris Testamenti, Hamburg und Leipzig 1713, l311tF.
Il72if.
* Vgl. mein Buch The Heterodoxies of the Shiites according to Ibn
Hazm (Abdruck aus Journal of American Oriental Society Bd. 28 und 29)
I 46; II 46.
Zar Geschichte der Chadhirlegende 101
seiner Zeit, die er höchstwahrscteinlich mit den Christen ver-
wechselt, für dieses Dogma verantwortlich.
Während die einen die Abwesenheit genealogischer An-
gaben zum Untergmnd ihrer religiösen Vorstellungen machten,
bemühten sich die anderen, sei es, daß sie der übertriebenen
Verehrung Malkisedeks entgegentreten wollten, sei es, daß sie eine
so illustre Persönlichkeit nicht bei ihrer obskuren Abstammung
belassen konnten, ihn mit anderen biblischen Persönlichkeiten
in Verbindung zu bringen. Dieser Tendenz entspringt die weit-
verbreitete, auch den Kirchenvätern wohlbekannte rabbinische
Tradition, nach welcher Malkisedek mit Sem identisch war.^
Diese Tradition wurde von den orientalischen Christen mit der
Modifikation akzeptiert, daß Malkisedek ein Nachkomme
Sems war. Verschiedene genealogische Ketten wurden zu diesem
Zwecke hergestellt. Nach der einen war er direkt ein Sohn
Sems.- Nach einer anderen war er ein Sohn Arfachschad's, also ein
Enkel Sems.^ Nach einer anderen weitverbreiteten christlichen
Überlieferung, die gegen den Massoratext und in Überein-
stimmung mit der Septuaginta nach Arfachschad Keinan einfügt*,
* Vgl. B. Beer Leben AbraJiams (Leipzig 1859), S. 142 f., der das
gesamte rabbinische Material und teilweise auch die Daten der Kirchen-
väter zusammenstellt. Siehe auch L. Ginzberg Die Haggada bei den Kirchen-
vätern (Berlin 1900), S. 103 ff. Nach Epiphanius stammte diese Identifi-
kation von den Samaritanem, wahrend die Juden Malkisedek für den
Sohn einer Hure erklärt haben sollen. Beer ib. S. 144 und Ginzberg ib.
S. 105 glauben, daß Epiphanius einfach eine Verwechslung beging. Es
iflt jedoch viel wahrscheinlicher, daß die Samaritaner, die anscheinend
die Urheber der von Epiphanius (und anderen) zitierten Ansicht waren,
nach welcher Salem im Gebiete Sichems lag. — während die rabbinische
Tradition es gewöhnlich mit Jerusalem identifizierte — , Wert darauf
legten, Malkisedek, „den König von Salem", mit dem frommen Sem zu
identifizieren. Die andere von Epiphanius zitierte Ansicht der Juden
ist wohl eine in polemischer Stimmung getane Äußerung.
* Im äthiopischen Buch von Adam und Eva, englisch übersetzt von
Malan, London 1882, S. 149. 160. Abulfarag (Barhebraeus) Ta'rlh muhtasar
'd-dmcal ed. Salhäni S. 16. Vgl. unten S. 104 Anm. 2.
' Book of Adam and Eve S. 160.
* Genesis XI, 12, 13 (vgl. die Fußnote in Kittels Ausgabe).
102 Israel Friedlaender
war Malkisedek der jüngste Sohn des letzteren^, somit Sems
Urenkel. Nacli der dem heiligen Ephraem zugeschriebenen
„ Schatzhöhle "^ war Malkisedek ein Sohn des Mälak oder
Mälach^, der ein Bruder des Schälach* und Sohn des Arfach-
schad war^, also ebenfalls Sems Urenkel. Diese Tradition
stimmt mit der Angabe des (Pseudo)-Athanasius^ überein, nach
welcher der Vater Malkisedeks (sowie auch ein Bruder des
letzteren) Melchi'^ hieß. Viel verbreiteter ist jedoch eine andere
Genealogie, die Malkisedek in der Reihe der Geschlechter noch
tiefer herabdrückt und ihn zum Sohne des Beleg macht.^ Die
genealogische Kette stellt sich somit, den arabischen Namens-
formen gemäß, folgendermaßen dar: Malkisedek^, Fälig^*^, ^Abir,
Schälih, Arfahschad, Säm. Diese Genealogie war noch im
11. Jahrhundert dem in Spanien lebenden Ihn Hazm bekannt.^^
^ Book of Adam and Eve S. 149. 160.
* Ed. Bezold S. 112. 116. 117. 120. Eine anderweitig von Ephraem
überlieferte Tradition setzt die Identität Malkisedeks mit Sem selber
voraus, vgl. Grinzberg Die Haggada hei den Kirchenvätern S. 118.
' Im syrischen wie im arabischen Text der „Schatzhöhle" sowohl
mit käf wie mit heth (arabisch mit scharfem hä) geschrieben. Eine
Variante (Text S. 116 Anm. e, vgl. Übersetzung S. 76 Anm. 193) hat
Lämek statt Mälek. Siehe unten S. 104.
* Anscheinend wegen des ähnlichen Klanges in Verbindung gebracht.
* Seine Mutter heißt in der „Schatzhöhle" Jozedek. In den
anderen Quellen erscheint sie als Salaa, Salaad, Salathiel.
8 Migne Patrologia Graeea Bd. XXVIII, S. 626.
' Als Variante ib. Anm. 15 wird MbXxi\X und M6X%ir{k (wohl ---
hebräisch Malkiel) angegeben.
^ Eutychius Annales (arabisch) Leiden 1654 — 56, S. 42; Heidegger
II 42, Fabricius de Sacerdotio Christi, S. 53.
° Als arabische Formen erscheinen Malkisidek (Ibn Hazm, oben
S. 100 Anm. 4) , Malkizediq (Schatzhöhle) , Malschisädäk (Eutychius, vor-
hergehende Anmerkung) und Malkizadäq (Schahrastäni, ed. Cureton I 173).
Vgl. über diese Transskription von x i™ Arabischen ZDMG 58, 778.
'" Auch Fäliq (Eutychius, vgl. Anm. 8), ebenso im Äthiopischen:
(vgl. Schatzhöhle, Übersetzung, S. 76, Anm. 103). Diese Form geht ohne
Zweifel auf die griechische Variante (paXsn (statt cpaXsy) zurück.
" Heterodoxies of the Shiites II 46. Die daselbst Anm. 5 verzeichnet
Variante Mälih statt Schälih mag vielleicht auf die Schatzhöhle zurück^
gehen.
Zxir Geschieht« der Chadhixlegende 103
Unter den zalilreichen Genealogien, die die Abstammung
Chadhirs zu illustrieren yersuchen, ist die am häufigsten und, je
unverstandener, desto zäher überlieferte diejenige, die Chadhir
für Baljä, den Sohn des Malkän, Fälig, 'Abir, Schälih, Arfah-
schad, Säm erklärt.^ Es springt in die Augen, daß die beiden
Genealogien identisch sind und daß Malkän und Malkisedek
eine und dieselbe Person darstellen. Wir sahen oben, daß
Blja ein alter Schreibfehler für Ilija (Elias) ist. Die Identifi-
kation Chadhirs mit Elias einerseits und mit Malkisedek
andererseits wird dadurch ausgeglichen, daß Elias als Sohn des
Malkisedek aufgefaßt wird.- Was die Form Malkän^ betrifft,
die sich auch in der Form Malkä* und Mälik oder Mälak^
findet, so ist dieselbe entweder ein Reflex der bei Athanasius
und in der Schatzhöhle überlieferten Form Melchi resp. Mälak
(oder Mälach), die als Xame seines Vaters erscheint, oder aber
eine Abkürzung von Malkisedek, dessen zweiter Bestandteil
anscheinend für den Xamen seiner Mutter verwendet wurde.®
Höchst merkwürdig und für den Einfluß dieser christlichen
* Ibn Quteiba Kitäh al-mdärif 21, Mas'üdi Murüg ad-dahab ed.
Barbier de Meynard I, 92 (nach III, 144 dagegen war Malkän ein
Bruder des Fälig und Sohn des 'Abir, ebenso in der persischen Version
des Tabari, übersetzt Ton Zotenberg I 374), Tabari I 415, Beidätci I 568,
Nawawi Tahdlb 228 und viele andere. Vgl. auch Völlers a a. 0. S. 254. 258.
Damiri Hajät al-hajatcän ^Bub voce hüt Müsa) führt diese Genealogie
auf Wahb b. Munabbih zurück.
* Es ist jedoch bezeichnend, daß eine aus dem Jahre 617/1220
stammende Handschrift von Kisä'i's Qisas al-anbijä {British 3Iusenm
Or. 3054 fol. 154b) im Xamen Ka'b's überliefert: „Was diesen al- Cha-
dhir betrifft, so ist sein Xame Malkän b. Fälig etc." Eine spätere
Hand setzt vor Malkän „Ibn" ein. Eine andere Kisäihandschrift
(Add. 23, 299 fol. 132 a) hat bloß Ibn Malkän, während wiederum andere
Exemplare (s. oben S. 98 Anm. 3) Iljäs b. Malkän haben.
' Ibn Hagar Isäba l 883 überliefert daneben die Form Kaiman.
Auch andere wahrscheinlich verstümmelte Formen werden gelegentlich
in der theologischen Literatur angeführt.
* Persische Version des Tabari, übersetzt von Zotenberg I 374 (oben
S. 98 Anm. 3).
" Tag aJ-Arüs HI 187 zweimal.
* Siehe oben S. 102 Anm. 5.
104 Israel Friedlaender
Haggada äußerst bezeiclinend ist die Tatsache, daß Mas'^üdi', der
von Lemech (LMK), dem Sohne Sems^, dasselbe berichtet, was
in allen anderen Quellen von Malkisedek (oder Malkän) erzählt
wird, dieselbe Verwechslung begeht, die wir oben in einer
Variante der syrischen Schatzhöhle gefunden haben.^
Durch die Identifikation Chadhirs mit Malkisedek werden
uns sofort eine Reihe von Chadhirlegenden- klar, die sonst be-
ziehungslos und rätselhaft erscheinen. Vor allem begreifen wir
es, daß die berühmte, im ganzen christlichen Orient verbreitete
Sage von der Schatzhöhle, in der Adams Leiche von Malkisedek,
der hierfür ewiges Leben erhielt, bestattet- wurde^, von den
Muhammedanern auf Chadhir übertragen wird^. Ein Wider-
hall dieser Legende ist der Bericht des arabischen Reisenden
Ibn Batuta (starb 1377), nach welchem im Gebirge Serendib
auf der Insel Ceylon, wohin, nach einer weitverbreiteten Über-
' Mmüg ad-ddhab I 80.
* Vgl. oben S. 101 Anm. 2.
' Oben S. 102 Anm. 3. Daß diese Variante nicht zufällig ist, kann
man daraus ersehen, daß eine Handschrift von Ibn Hischäms Kitäb at-
tigän (Lidzbarski de propheticis, quae dicuntur, legendis arabicis, S. 8
Anm. 1) ebenfalls Mälak für Lämak liest.
* Die oben mehrfach zitierte, von Bezold herausgegebene Schatz-
hohle handelt von dieser Sage (daraus im Bienenbuch des syrischen
Bischofs Schelomon [13. Jahrhundert], ed. Budge, Oxford 1886, Kap. 21);
Book of Adam und Eve übersetzt von Malan, S. 149 ff.; bei den arabisch
schreibenden christlichen Autoren, wie Eutychius Annales S. 49 und
Barhebraeus Ta'rlch S. 16 und anderen. Ebenso bei Ibn Quteiba Kitäb
al-mdärlf, S. 10, bei Mas'üdi (oben Anm. 1), der diese Legende von
Lemech erzählt, und ganz kurz bei Ta'labi, 'Arä'is (im Abschnitt über
den Tod Adams). Die Belege lassen sich bedeutend vermehren. Bei den
christlichen Autoren tritt die Tendenz klar hervor, indem die Begräbnis-
stätte Adams mit Golgotba identifiziert wird.
* Abu Hätim as-Sigistänl (ed. Goldziher, Abhandlungen zur
arabischen Philologie II Text S. 1) im Namen des Ibn Ishäq (starb 150i>).
Ibn Hagar isäba I 887 f. zitiert die Sage aus Ibn Ishäq's Kitfib al-Mubtada.
Die Sage dürfte an die Muhammedaner auf dem Wege über Südarabien
(s. oben S. 100 Anm. 1) gelangt sein. Völlers in dieser Zeitschrift XII,
S. 251 zitiert gelegentlich die Legende aus Ibn Hagar, kennt aber deren
Bedeutung und Beziehung nicht.
Zur Ueschichte der Chadhirlegende 105
Lieferung^, Adam nach dem Sündenfall vertrieben wurde, die
„Höhle al-Chadhirs" sich in der Xähe der „Höhle Sems" be-
findet.*
Vielleicht hängt es mit dieser Legende, in der Malkisedek
als fünfzehnjähriger Jüngling erscheint, zusammen, wenn Chadhir
mehrfach als Jüngling (arabisch fata°) beschrieben wird.^
Nach einer Überlieferung, die durchaus altertümlich aus-
sieht und die Fabricius* im Namen des Abulfarag Barhebraeus^
zitiert, war Malkisedek ein Nachkomme Sems, der in Chaldaea
geboren war, aber infolge des Götzendienstes der Einwohner
nach Palästina auswanderte. Diese Überlieferung liegt der
sonst unverständlichen Angabe zugrunde, daß Chadhir „der
Nachkomme eines Mannes war, der an Ibrahim, den Freund
des Allbarmherzigen, glaubte und mit ihm aus dem Lande Babel
auswanderte."^
Die Verbindung mit Abraham hatte ferner die Nachwirkung,
daß Dü'1-Qarnein, der ursprünglich ohne Zweifel Alexander
' Vgl. Grünbaum Neue Beiträge zur semitischefi Sagenkunde S. 65.
' Ibn Batuta Voyages ed. Defremery und Sanguinetti IV 179. 181.
' So z. B. in der arabischen Alexanderversion Codex British Museum
Add. 7366. In einer von Weil, Biblische Legenden der Muselmänner
(Frankfurt a. M. 1845) S. 177 zitierten Sage wird Chadhir als ein Mann ge-
schildert, ,,der blühend und kräftig wie ein siebzehnjähriger Jüngling
aussah^'. Anderswo erscheint Chadhir, wohl unter dem Einfluß der Elias-
vorstellung, als Greis. Vgl. Ibn Hagar I 891 Z. 12: „Manche betrachten
ihn als Greis, andere als reifen Mann, wieder andere als Jüngling."
* De sacerdotio Christi (vgl. oben S. 100 Anm. 3) S. 53.
° Fabricius zitiert Dynast. I p. 15. Anscheinend meint er die
Pococke'sche Ausgabe der Historia Dynastiarum, Oxford 1663. Doch
wird dort zwar von Malkisedek gesproch^, allein die obige Angabe
findet sich weder dort noch, soweit ich urteilen kann, irgendwo anders
in dem Buche.
• Tabarl I 414 und sonst sehr häufig zitiert. FreUich ist es nicht
ausgeschlossen, daß die Genealogie Chadhirs in irgend welcher Weise auf
Lot zurückgeführt wird. So heißt es von Schu'eib (Jethro) Tabarl 1 366:
„Er war der Nachkomme eines Mannes, der an Ibrahim glaubte, ihm in
seiner Religion folgte und mit ihm zusammen nach Scha'm (Syrien oder
Palästina) auswanderte". [^Korrektuma^htrag . Die letztere Vermutung
ist richtig. Ibn Quteiba, Eitäb al-ma*ärif S. 21 erklärt ähnlich von
106 Israel Friedlaender
den Großen bezeichnete^ und der durch die Vermittelung des
Pseudo - Kallisthenes zu Chadhir in Beziehung gesetzt worden
war^, in zwei Personen zerlegt wird, und der „ältere Dü'l-
Qarnein" mit Abimelech identifiziert wird, der „mit Abraham
„in Bi'r as-Sab' (Beerseba) ein Bündnis schloß."^
Schließlich darf man vielleicht die von den Kirchenvätern
überlieferte Vorstellung, nach welcher Malkisedek ein Engel
war^, als die Quelle der Anschauung betrachten, die Chadhir
für einen Engel erklärt.^
Und so wird derjenige, der mit der christlich-orientalischen
Sage besser vertraut ist, ohne Zweifel imstande sein, eine Fülle
neuer Beziehungen zwischen Chadhir und Malkisedek aufzu-
zeigen.^
Es würde uns zu weit führen, wollten wir auf die zahl-
reichen anderen Genealogien und Überlieferungen, die neue
Schu'eib, Bileam und Hiob, die sämtlich zu Lot in Beziehung gesetzt
werden, daß „sie die Nachkommen von Leuten waren, die an Ibrahim
glaubten am Tage, da er ins Feuer geworfen wurde, und mit ihm zu-
sammen nach Scha'm auswanderten" (im Namen Wahb's). Von Lot selber
erzählt Ta'labi (Kairo 1314ii) S. 58, ebenfalls nach Wahb, ,,daß er zu-
sammen mit seinem Onkel Ibrahim aus dem Lande Babel fortzog, indem
er an ihn glaubte, ihm in seiner Religion folgte und mit ihm zusammen
nach Scha'm auswanderte". Chadhir wird als ein Neffe Abraham's
bezeichnet (d'Herbelot Bibliotheca Orientalis s. v. Khedher, aus dem
Ta'rih al-muntahab), ja, mit Lot selber identifiziert (Tabari,
persische Version übersetzt von Zotenberg I 373).]
* Vgl. Nöldeke Beiträge zum Alexanderroman S, 32.
« Siehe oben S. 94fiF,
' Tabari ibidem und sonst häufig.
' Vgl. Heidegger de historia Sacra patriarcharum II 42, Fabricius
de saeerdotio Christi p. 69.
^ Dijärbekri (st. 1684) Ta'rih al-fiamls I 107 Z. 6: „Die seltsamste
Ansicht ist die, daß er zu den Engeln gehört". Vgl. Ibn Hagar 903, wo
Chadhir als einer der vier Erzengel erscheint. Freilich wird auch Elias
gelegentlich für einen Engel erklärt.
** Es wäre interessant die Quelle der von Suheili (st. 681 '>) über-
lieferten Erzählung (zitiert von Damiri, ib. und Ibn Hagar I 891 f.) auf-
zudecken, nach welcher Chadhir's Vater ein König und seine Mutter eine
Perserin namens Alhä (oder Ilhä) war. Er sei in einer Höhle (Ibn Hagar:
Zur Geschichte der Chadhirlegende 107
Identifikationen nahelegen, des näheren eingehen. Auf einiges
werden wir im Zusammenhang mit der Eliaslegende zurück-
kommen müssen. Hier wollen wir lediglich die Resultate ganz
kurz andeuten.
Die Chadhirlegende hängt ohne Zweifel mit dem m e s s i a -
nischen Yorstellungskreis zusammen. Daher heißt Chadhir
Chadhrün^, d. h. Hezron, der Sohn des Perez (Ruth 4, 18), der
ein Sohn Judas war (Genesis 38, 29)*, von dem, einer uralten
Vorstellung gemäß, der Messias abstammt.^ Andererseits wird
Chadhir mit dem in der rabbinischen Tradition so wichtigen
zweiten Messias, dem „Messias, Sohn Josefs" identifiziert.*
in einer Wüste) geboren und von einem Schafe aufgezogen worden. Sein
Vater machte ihn später, ohne ihn zu kennen, zu seinem Sekretär,
um für ihn die dem Abraham offenbarten Schriften abzuschreiben.
Chadhir wäre später entflohen und durch einen Trunk aus dem Lebens-
quell unsterblich geworden. Hier scheinen allerlei Reminiszenzen vor-
zuliegen.
^ Abu Hätim as-Sigistäni (s. oben S. 104 Anm. 5) Text S. 1, zitiert
von Ibn Hagar I 883, Z. 11, 888 Z. 4, und auch sonst oft erwähnt. Der
Name wurde natürlich durch die Lautähnlichkeit nahegelegt.
* Die Genealogie in Ruth wird im Anschluß an die Sage von Mal-
kisedek und der Schatzhöhle in Schatzhöhle ed. Bezold S. 40 und Malan
Book of Adam and Eve S. 185 angeführt. „Jetzt siehe, das Priestertum
und das Königtum wurden den Kindern Israels von Juda abgeleitet"
(Schatzhöhle S. 41). In Ibn Hischäms Kitäb at-tigän (ed. Lidzbarski,
Zeitschrift für Assyriologie VIII 284) nennt sich Chadhir den Sohn des
Chadhrün, des Sohnes 'ümüms (wohl 'Amrama, wie Lidzbarski korrigiert),
des Sohnes Jahüdas.
* Als das Symbol Judas gut allgemein (nach Genesis 49, 9) der
Löwe. Daher wird z.B. der Messias bei den Falaschas, einer jüdischen
Sekte in Abessinien, die stark unter dem Einfluß der pseudepigraphen
Literatur steht, „Sohn des Löwen" genannt (Halevy Te'ezäza sanbat,
Paris 1902, S. XXI Anm. 2). Hat die Kunja Chadhirs, die allgemein als
Abü'l-'Abbäs angegeben wird (vgl. Völlers a. a. 0. 254 Anm 3), irgend
etwas damit zu tun? 'Abbäs im Arabischen ist ^Tame des Löwen. Abu
mag ursprünglich Ibn sein: die beiden Worte sehen sich in der arabischen
Schrift äußerst ähnlich.
* Über diesen Messias vgl. Schürer Geschichte des jüdischen Volkes
n* 625 Anm. 38. Über diese Vorstellung bei den Juden in Arabien s.
Beer Ztschr. der deutschen morgenländ. Gesellschaft IX, 785 ff.
108 Israel Friedlaender
Daher wird Chadhir, wie dieser^, der Sohn des 'AmiP oder
'Amä'iP genannt und wird, gleich diesem, vom Antichrist ge-
tötet und dann wieder ins Leben gerufen.^
Chadhir wird als Sohn des Qäbil (Kain) bezeichnet^, weil
er mit He noch, dem Sohne Kains (Genesis 4, 17) identifiziert
wird^, der lebendig ins Paradies gelangte und in der jüdischen
und in noch viel höherem Maße in der christlichen Haggada
eine hervorragende Rolle spielt.
* Der in der jüdischen Literatur allgemein Menahem („der Tröster")
ben 'Ammi'el genannt wird.
* Ibn Hagar I 883 Z. 4 v. u. im Namen Mukätils (starb 150 h),
S. 886 Z. 1 (in einer Tradition Ka'b's), und bei vielen anderen Schrift-
stellern.
' Ibn Hagar 1 883 Z. 5 v, u. im Namen Ibn Quteibas. Masü'di
Murüg I 92 vereinigt die beiden messianischen Vorstellungen, indem er
Chadhir als Chadhrün, Sohn des 'Amäll bezeichnet. Die Genealogie
geht sowohl bei Mas'üdi als auch bei Ibn Quteiba auf Esau zurück.
An-nfr (Mas'üdi) und an-nür (Ibn Hagar) ist natürlich, mit Umstellung
der diakritischen Punkte, Eliphaz zu lesen. Diese Ableitung spiegelt
sehr alte Vorstellungen wider. S. unten S. 109 — Suheili (oben S. 106
Anmerk. 6) identifiziert Chadhir mit 'Amil selber.
* Ibn Hagar (892 Z. 3, vgl. 887 Z. 6 v. u.) und andere. Auch Elias wird
nach einer Tradition, die Acta Sanctorum (BoUandisten) Band V (1868)
22 D zitiert wird, vom Antichrist getötet, richtiger gekreuzigt. Nach der
jüdischen Legende wiederum ist es Elias, der den Messias, Sohn Josefs,
ins Leben zurückruft. Wahrscheinlich gehört die Identifikation Chadhira
mit Jeremia (Tabari I 415 und sonst), der als Vorläufer des Messias galt
(Matthäus 16, 14), ebenfalls hierher. — Angesichts dieses unleugbaren
Zusammenhanges zwischen der Chadhirsage und dem Messiasglauben
war ich seinerzeit geneigt, den Namen Chidhr (der von den arabischen
Lexikographen der Form Chadhir gleichgesetzt und manchmal sogar
vorgezogen wird), „Grünes", „Gewächs", „Pflanze", mit dem hebräischen
Worte Sem ah zu identifizieren, das in der Bibel {Jes. 4, 2; Jer. 23, 5;
33, 15; Zech. 3, 8) und noch mehr in der nachbiblischen Tradition und
Liturgie als Beiname des Messias erscheint. Indessen liegt die Be-
ziehung zu Pseudo-Kallisthenes (oben S. 94) näher.
** Ibn Hagar I 883 Z. 8 im Namen des Abu Hätim as-Sigistäni
(8, oben S. 104 Amn. 6), S. 888 Z. 4 (hier Käbil mit Käf geschrieben).
* Dagegen wird Idris, der mit Henoch identifiziert wird, in Über-
einstimmung mit Genesis 6, 18 als Sobn des Jered bezeichnet, Weil,
Biblische Legenden der Muselmänner S. 62. — Buchäri, Sahih ed. Krehl
I ,S35 erwähnt eine Ansicht, nach der Elias und Idris identisch sind.
Zur Geschichte der Chadhirlegende 109
Andererseits wird er der leibhafte Sohn Adams genannt',
weil er für Seth, den Stammyater der frommen Generationen,
der in der jüdischen und christlichen Haggada ebenfalls eine
bedeutende Rolle spielt, gehalten wird. Die Vorstellung, die
Seth und dessen Kinder, im Gegensatz zu Kain und dessen
Nachkommen, zu den alleinigen Empfängern des Adamschen
Testamentes macht, ist sehr alt* und auch den Muhammedanem
wohlbekannt.^
Aus Gründen, deren Auseinandersetzung uns hier zu weit
führen würde, wird Chadhir mit den Nachkommen Esaus in
Verbindung gesetzt.*
In dem die südarabische Tradition reflektierenden Kitäb
at-tigän des Ihn Hischäm (starb 834)* wird Chadhir fort-
während Müsa al- Chadhir (Moses -Chadhir oder Moses des
Chadhir?) genannt. Indessen ist diese Identifikation nicht sicher,
da eine Handschrift dieses Werkes^ „Müsa" fast überall aus-
läßt. Diese Kombination dürfte mit der in der theologischen
Literatur häufig erörterten Frage" zusammenhängen, ob „der
Moses des Chadhir" Moses ben Amram oder ein anderer
Moses war.
* Ibn 3a gar I 883 Z. 6 (und andere Schriftsteller) im Namen des
Däraqutni (starb 995) : „huwa bnu Adam li-sulbihi'*. Den genauem Isnäd
ibidem. Dijärbekri, ta'rih al-hamis I 106 zitiert dieselbe Ansicht (annahn
min waladi Adam) im Namen Kelbi's (st. 763).
' Vgl, Ginzberg ihe Legends of the Jetcs (Philadelphia 1909) I 121.
Seth wird in der Haggada ebenfalls als Stammrater des Messias be-
trachtet. Über die christliche Vorstellung von den Nachkommen Seths,
die im Paradiese wohnen, vgl. die äthiopische Alexanderversion (Budge
1896) II 129 und die ausführliche Darlegung von Wesselowsky in seinem
Werke über den sla vischen Alexanderroman (7z istoriji romana i poiciesti,
Petersburg) I (1886) p. 280 flF.
' Ta'labi 'Ara'is im Abschnitt über den Tod Adams.
* S. oben S. 108 Anm. 3. Auch Alexander der Große wird, von einem
andern Gesichtspunkte aus, mehrfach als Nachkomme Esaus bezeichnet.
* Ed. Lidzbarski, Zeitschrift für Assyriologie VIII, 263 ff.
* Codex British Museum Or. 2901.
' Vgl. Völlers in dieser Zeitschrift XIl S. 241.
110 Israel Friedlaender Zur Geschichte der Chadhirlegende
Längst bekannt ist die Identifikation von Chadhir mit dem
heiligen Georg. Dieselbe dürfte von den Kreuzzügen her
stammen und auf die Kreuzfahrer zurückzuführen sein. ^
Endlich ist auch, wie bereits Lidzbarski^ vermutet hat, der
„ewige Jude" Ahasver mit unserm Propheten identisch. Der
Grundzug Chadhirs in der populären Vorstellung der Mu-
hammedaner, in genauer Übereinstimmung mit der jüdischen
Eliaslegende, ist Beweglichkeit und die dadurch ermöglichte
Allgegenwart: „der augenblicklich erscheint, wenn man ihn
ruft".^ „Weiter gereist als Chadhir" ist eine arabische Redensart.^
Ein Mann, der sich fortwährend auf Wanderungen befindet, wird
von einem Dichter als „chalifat al-Chidhr", „Nachfolger des
Chidhr" bezeichnet.^ Das tertium comparationis mit dem ewig
wandernden Juden ist ungemein treffend. Diese Identifikation
dürfte ebenfalls aus der Periode der Kreuzzüge stammen, in
der Orient und Okzident zusammentrafen. Die Kreuzfahrer
haben den Namen des Propheten anscheinend in der türkischen
Form Chisr oder Chisir übernommen und dieselbe dann mit
dem ihnen aus der Bibel bekannten Namen Ahasver kombiniert.
^ Vgl. über diese Gleichstellung ausführlich Clermont-Ganneau
Horus et Saint Georges d' apres un bas-relief inedit du Louvre, Notes
d'archeologie oi'ientale et de mythologie semitique. Extrait de la Revue
Archeologique, Paris 1877, p. 9 ff. Clermont-Ganneau nimmt jedoch für
diese Identifikation ein höheres Alter in Anspruch. — Diese Arbeit des
berühmten Semitisten, die in der Literatur über den uns interessierenden
Gegenstand leider gänzlich unbeachtet geblieben ist, und die mir erst
während der Drucklegung dieses Artikels zu Gesicht kam, handelt
hauptsächlich von Chadhir. Sie bietet eine Reihe geistreicher, meistens
griechischer Identifikationen, darunter auch die mit Glaukos. Pseudo-
Kallisthenes wird nicht in Betracht gezogen.
* Zeitschrift für Assyriologie VII, 116. Lidzbarski ist sich jedoch
über den Zusammenhang nicht klar. Er scheint Ahasver direkt mit
Chasisatra zusammenbringen zu wollen.
' Ihn Hazm Heterodoxies of the Shiites I, 46.
* Vgl. Völlers in dieser Zeitschrift XII S. 237.
' Ibn Faqih ed. de Goeje S. 61. Mas'üdi Kitab at-tanbih ed. de
Goeje S. 7.
n Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische ^Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in etwa
vier Jahrgängen schließen. Mit Band XII (1909) beginnt die neue
Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen der Zeit
seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß des betr.
neuen Berichts referiert.
1 Die religionswissenschaftliclie Literatur über China
seit 1900
Von O. Franke in Berlin
Da ein literarischer Bericht über Cliina an dieser Stelle
noch nicht veröffentlicht worden ist, so lag es nahe, mit dem
Jahre 1900 zu beginnen. Vollständigkeit wird nicht be-
ansprucht.
Von dem größten und gründlichsten Werke über die
Religionen Chinas, das J. J. M. de Groot in Leiden unter dem
Titel „The Religious System of China" i. J. 1892 zu ver-
öffentlichen begonnen hat, sind im XX. Jahrhimdert bis jetzt
zwei neue Bände erschienen: der vierte 1901 und der fünfte
1907. Sie bilden zusammen das zweite „Buch" des ganzen
Werkes, das sechs „Bücher^' umfassen solL Während das erste
„Buch" — Bd. 1 bis III — die Toten -Gebräuche (Disposal
of the Dead) behandelte, ist das zweite — Bd. IV und V —
der Seele und dem Ahnendienst (The Soul and Ancestral
Worship) gewidmet. In engem Anschluß an die einheimische
Literatur legt es die Vorstellungen dar, die sich die Chinesen
112 O.Franke
von dem Wesen der . Seele gebildet haben , sowie die ver-
schiedenen Arten, wie dieses Wesen ihrer Ansicht nach sich
kundgibt und wie es das Leben des einzelnen sowohl, als auch
das der Gesellschaft beeinflußt. Des weiteren werden dann
die Gebräuche und Kultushandlungen erörtert, die in diesen
Vorstellungen und Ansichten ihren Ursprung haben. So erhält
der Inhalt der beiden Bände einen vorwiegend aniraistischen
Charakter: Geister- und Dämonen -Lehre, Zauberei und Fetischis-
mus bilden die Gegenstände der drei Abteilungen, aus denen
die beiden Bände sich zusammensetzen. — Eine für das große
Publikum bestimmte und naturgemäß sehr knappe Darstellung
der chinesischen Religionen mit der üblichen Einteilung in
Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus hat De Groot
inzwischen in der „Kultur der Gegenwart", Teil I, Ab-
teilung III, 1 (Berlin und Leipzig 1906) S. 162—192: „Die
Religionen der Chinesen" gegeben. Auch eine andere
wissenschaftlich gehaltene Darstellung des gleichen Gegenstandes
hat in diesem Jahrhundert ihre Fortsetzung erhalten: der zweite
Teil von Dvofäk's Werk „Chinas Religionen" ist i. J.
1903 als XV. Band der „Darstellungen aus dem Gebiete der
nichtchristlichen Religionsgeschichte" erschienen, unter dem
Titel „Lao-tsi und seine Lehre", nachdem bereits 1895
der erste Teil, „Konfuzius und seine Lehre" als XII. Band
der gleichen Sammlung veröffentlicht war. Der Verfasser stellt
sich auf die Seite derer, die Lao tse's Lehre für rein-chinesisch
und frei von allen fremden Einflüssen ansehen. Dagegen hält
er das Tao-te king, das kanonische Werk des Taoismus, das
dem Lao ts8 zugeschrieben wird, nicht für „einen zusammen-
hängenden Text"; wenn er damit einen nicht vollständigen
Text meint, so wird er bei den Sinologen auf keinen Wider-
spruch stoßen. Die Methode, die Dvofäk bei seiner Behand-
lung des Konfuzianismus angewandt hat, d. h. unter Vermeidung
jeder eigenen Kritik oder Auslegung das System des Konfuzius
„vom chinesischen Standpunkt" aus darzustellen (dieser Stand-
punktist übrigens durchaus kein einheitlicher, wie der Verfasser zu
Die religionawissenschaftliche Literatur über China seit 1900 113
glauben scheint), war in dem zweiten Teile nach Lage der
Sache nicht anfrecht zu erhalten: bei Lao tse ist ohne eigene
Interpretation nicht auszukommen, und zwar hat bisher noch
jeder der zahllosen Erklärer eine andere als seine Vorgänger
gehabt. Daß Dvorak nicht auch, wie er gern gewünscht hätte,
eine vollständige Übersetzung des Tao-te king beigefügt hat,
dürfte bei aller Hochschätzung seines Scharfsinnes nicht zu
beklagen sein: wir haben übergenug der Übersetzungen des
Tao-te kingl Wenn übrigens Dvorak meint, die Gabelentz'sche
Umschreibung chinesischer Worte empfehle sich durch Einfach-
heit und Klarheit, so wird ihm heute schwerlich noch ein
Sinologe zustimmen Mehr in das Gebiet der Religions-
geschichte als der Philosophie scheint — trotz seines Titels —
Leon Wieger's Werk „Textes philosophiques" (Ho-kien
fu 1906), der jüngste Teil seiner Sammlung „Rudiments", zu
gehören, von dem vor kurzem (1908) der zweite Teil erschienen
ist. Das Werk ist in Berlin leider nicht zu erlangen. Eine
Inhaltsangabe des ersten Teils gibt Chavannes in der T'oung
Pao Ser. II Bd. VII S. 533 f. Danach behandelt der Verfasser
— in ausgewählten chinesischen Texten — die religiösen Vor-
stellungen des alten China von den ältesten Zeiten bis zum
Ende der Ch'un-ts'iu- Periode (481 v. Chr.\ Lao tse und die
bedeutendsten taoistischen Philosophen, Konfuzius und seine
Schüler, heterodoxe Denker und den Vater der Orthodoxie,
Chu Hi (1130—1200). — Dasselbe große Gebiet, die Religion
Chinas, ist von E. H. Parker bearbeitet worden in seinem
Werke „China and Religion" (London 1905). Von den zwölf
Kapiteln sind aber nur vier den eigentlichen chinesischen
Religionen gewidmet, das erste davon der sogenannten primi-
tiven Religion Chinas (Parker versteht darunter die Lehre vom
Yin und Yang, den die Welt durchdringenden dualistischen
Kräften, und was damit zusammenhängt), die drei anderen den
Systemen des Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus. Die
übrigen acht Kapitel behandeln Feuerverehrung (aus Persien
durch die Türkvölker nach China übertragen), manichäischen
Archiv f. Beligionswissenschaft XIII g
114 0. Franke
Kult, Nestorianertum, Islam, Judentum, Christentum in römisch-
katholischer, protestantischer und griechischer Form, sowie die
Shinto - Lehre. Ungleich Dvorak hat Parker es sich nicht
nehmen lassen, seinem Werke eine Übersetzung des Tao-te
king anzufügen. Die Methode des Verfassers, in seinen Schriften
keine Quellenangabe zu machen und fremde Namen nach
Möglichkeit zu vermeiden, drückt auch diesem Buche seinen
besonderen Charakter auf Parker stellt sich damit außerhalb
der Wissenschaft, vrird aber deshalb doch nicht „populär" im
guten Sinne, da ihm das darstellende Talent hierfür abgeht.
Überdies wird jeder, der den reichen Inhalt von „China and
Religion" als Quellenmaterial benutzen will, die Angaben darin
sorgfältig nachprüfen müssen. (Vergl. die ausführliche Be-
sprechung von Pelliot im Bulletin de l'Ecole fran^aise d' Ex-
treme-Orient Bd. VI, S. 404ff.) Ein großes Verdienst kommt
indessen Parker's Werk unbestreitbar zu: es hat die Duldsam-
keit (vielleicht auch Gleichgültigkeit) der Chinesen gegenüber
allen Religionen aufs neue in helles Licht gerückt und bildet
so unausgesprochenermaßen eine Entgegnung auf das zwei-
bändigeWerk von De Groot, Sectarianism and Religious
Persecution in China (Amsterdam 1903 und 1904), in dem
der holländische Sinologe in geradezu leidenschaftlicher Weise
den chinesischen Staat, im Gegensatz zu allen bisherigen An-
nahmen, als den unduldsamsten und verfolgungsüchtigsten der
ganzen Welt brandmarkt. Das Werk ist eine bedeutende Er-
weiterung der beiden Abhandlungen: „Heerscht er in China
Godsdienstvrijheid?" in der Zeitschrift „Onze Eeuw"
(L Jahrgang 1901, S. 268—296 und 550—588) und „Is there
Religious Liberty in China?" in den „Mitteilungen des
Seminars für orientalische Sprachen" (Jahrgang V, 1902,
Ostasiat. Studien S. 103 — 151). Bei der ausgesprochenen
Tendenz von „Sectarianism usw." kann es aicht wunder-
nehmen, daß das Werk starken Widerspruch in sino-
logischen Kreisen hervorgerufen hat; selbst christlichen Mis-
sionaren, zu deren Verteidigung es geschrieben ist, geht es
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 115
vielfach zu weit. De Groot übersieht bei seinen Darlegungen
und Schlußfolgerungen zwei wichtige Dinge: einmal die unsitt-
lichen und daher Staats- und gesellschafts - gefährlichen Momente
(von politischen Umtrieben ganz abgesehen), die sich zeitweilig
in dem buddhistischen wie in dem taoistischen Klerus in China
entwickelt hatten; und dann die daraus für den konfuzianischen
Staat hervorgehende Notwendigkeit, sich dieser Momente zu
erwehren. Wenn sich der Konfuzianismus, der nicht bloß
ein religiöses, sondern vor allem ein politisches und soziales
System und in China gleichbedeutend mit der staatlichen
Ordnung ist, nicht selbst aufgeben wollte, so mußte er seine
Feinde innerhalb wie außerhalb der Klöster unschädlich machen,
selbst wenn man ihn deshalb der Unduldsamkeit beschuldigte.
Was der chinesische Staat hierbei aber etwa an Übertreibung
gesündigt hat, reicht schwerlich an das heran, was Christentum
und Mohammedanismus geleistet haben. Eigentlichen religiösen
Fanatismus, d. h. blind wütenden Haß gegen eine fremde
Religion als abstrakte Lehre ohne Rücksicht auf ihre politischen
oder sozialen Einflüsse hat man in China nicht gekannt. Von
diesem Standpunkte aus ist auch De Groot's Aufsatz „Wu
Tsung's Persecution of Buddhism" in Bd.VII (1904) dieses
Archivs S. 157 — 168 zu beurteilen. Die vom Kaiser Wu
Tsung von der T'ang - Dynastie (840—846) i. J. 844 über den
Buddhismus verhängte Verfolgung ist eine der schwersten, die
die indische Lehre in China erduldet hat. Inwieweit sie aber
etwa von den Mönchen selbst verschuldet war, und ob sie
Oberhaupt in dem Maße dem Konfuzianismus zur Last zu legen
ist, wie De Groot dies tut, würde erst noch durch eine
zusammenhängende geschichtliche Untersuchung festzustellen
sein. Der Verfasser selbst weist darauf hin, daß sie die
Folge eines Sieges über die üiguren in Turkistän war und
mit der Ausrottung des Manichäismus begann, der in den
uigurischen Gebieten herrschte. Ausgedehnt auf den Buddhis-
mus wurde sie dann infolge taoistischer Einflüsse und aus
i I wirtschaftlichen wie ethischen Rücksichten.
I
116 0. Franke
Nach einer ähnlichen Methode wie das Werk von Dvorak
ist die ausgezeichnete Abhandlung von W. Grrube, Die
Religion der alten Chinesen, in dem „Religionsgeschicht-
lichen Lesebuch" von A. Bertholet (Tübingen 1908) verfaßt.
Grube kleidet seine Darstellung in einzelne charakterisierende
Sätze und belegt diese dann mit ausführlichen Nachweisen aus
der einheimischen klassischen Literatur, vornehmlich dem
Shu-king, Shi-king, Li-ki, Lun-yü und Meng tse. Der Ver-
fasser behandelt, wie der Titel andeutet, nur die alte Staats-
oder Reichs -Religion, d. h. die amtliche Form des religiösen
Kultus, die, allerdings zum großen Teil nur noch als hohle
Form, auch heute noch in China besteht und Religion und
Staatsordnung zugleich ist. Wenn man diesen Kultus für ge-
wöhnlich als Konfuzianismus bezeichnet, so ist die Benennung,
genau genommen, falsch: er bestand in seinen Grundgedanken
schon Jahrtausende vor Konfuzius und ist von ihm lediglich
— nicht etwa kodifiziert, denn auch das war er schon vorher —
sondern in ein ausgeprägteres System gebracht und nach ge-
wissen Tendenzen zugeschnitten worden. Das eigentliche kon-
fuzianische System — das übrigens auch erst nach Konfuzius
ausgestaltet worden ist — , sowie die andern Religions- oder
Kultus -Systeme finden natürlich in der Grubeschen Schrift teils
nur eine kurze (im IV. Teil und im Anhang), teils gar keine
Berücksichtigung. Die Abhandlung selbst zerfallt in vier
Teile: die Naturverehrung, die Ahnen Verehrung, der Kultus
und die konfuzianische Moral. Im Anhang werden Auszüge 1
aus dem Tao-te king in systematischer Anordnung gegeben. —
Mehr dem Parkerschen Werke vergleichbar, aber sehr viel
kürzer ist Herbert A. Giles' kleines Buch „Religions ot
Ancient China" (London 1905), das der volkstümlichen
Sammlung: „Religions: Ancient and Modern" angehört. Der
Verfasser teilt seinen Stoff in fünf Teile: der alte Glaube (d. b.
der vorkonfuzianische Kultus), Konfuzianismus, Taoismu
Materialismus und Buddhismus nebst anderen fremden Religionei
(Mazdeismus, Islam, Nestorianertum, Manichäismus um
Die religionswißsenschaftliche Literatur über China seit 1900 117
Christentum). Die Einteilung hat etwas Unlogisches, denn ein
guter Teil Materialismus ist sowohl im konfuzianischen System
enthalten wie in den Lehren der zahlreichen heterodoxen
Philosophen, die von den Konfuzianem als Irrlehrer verachtet
werden. Giles beginnt denn auch seinen Materialismus mit dem
Konfuzianer Yang Hiung (um Christi Geburt) und dem Häre-
tiker Wang Ch'ung (1. Jahrhundert n. Chr.), um ihn mit dem Vater
der neueren Orthodoxie, Chu Hi, zu beschließen. — Genannt
werden muß hier noch ein Werk, das zwar denselben StoflF
behandelt, wie die bisher erwähnten Schriften, aber durchaus
von ihnen getrennt zu halten ist: Ferdinand Heigl, Die
Religion und Kultur Chinas (Berlin 1900). Es gehört zu
der „populären" Literatur über China, die in Deutschland
während und infolge der „Boxer "-Unruhen den Büchermarkt
überschwemmt hat, und von der man im allgemeinen nur
wünschen kann, daß sie möglichst bald im Dunkel der Ver-
gessenheit verschwinden möge. Das Buch von Heigl ist eine
Kompilation, die aus anderen europäischen Büchern mit viel
Fleiß, aber wenig Urteil zusammengeschrieben ist, voll von
Oberflächlichkeiten, Mißverständnissen und Unrichtigkeiten. Es
behandelt mehr Gegenstände, als sein Titel erwarten läßt: außer
der „Religion und Kultur" werden auch die Geschichte, die
Verfassung und Verwaltung, Sprache und Literatur (wohl der
wunderlichste Abschnitt von allen), Anekdoten und Sprich-
wörter herangezogen. Man sieht, an Mut fehlt es dem Ver-
fasser nicht, und er mag sich darauf berufen, daß viele seiner
Gewährsmänner, von denen er abgeschrieben, auch nicht mehr
von dem Gegenstande wußten als er selbst.
Wie Grube und Giles für China, so hat Maurice Courant
einen kurzen Abriß der verschiedenen Kultussysteme für Korea
gegeben in seinem im Musee Guimet gehaltenen und in der
Zeitschrift T'oung Pao (Leiden) Ser. U Bd. I, S. 295—326 ab-
gedruckten Vortrage „Sommaire et histoire des cultes
coreens". Auch er teilt seinen StofP, entsprechend den korea-
nischen mit den chinesischen eng verwandten Verhältnissen, in
118 0. Franke
vier Teile: Staatsreligion, d.h. Kultus der kaiserlichen Ahnen (an-
geblich schon einheimisch vor dem Eindringen des chinesischen
Einflusses) und der Naturkräfte (Himmel, Erde, Wind, Wolken,
Berge, Flüsse u. a.), privater Ahnenkultus, alte religiöse Ge-
bräuche (dahin gehört z. B. der nicht amtliche Kultus
des Himmels, der in Korea ursprünglich nicht dem Fürsten
allein vorbehalten war), und Buddhismus (seit dem 4. Jahr-
hundert in Korea eingeführt). — Von sonstigen Abhandlungen
über Kultformen ehemaliger chinesischer Tributstaaten seien
noch genannt: Louis Finot, La Religion des Chams
im Bulletin de l'Ecole fran^aise d'Extreme- Orient (Hanoi)
Bd. I (1901) S. 12— .33. Die Chams waren ein Volk malai-
ischen Ursprungs, das, wohl vom 2. Jahrhundert n. Chr. an,
das heutige Königreich Annam bewohnte und dem indischen
Kulturkreise angehörte. Femer Gilhodes, Mythologie et
Religion des Katchins im „Anthropos, Internationale Zeit-
schrift für Völker- und Sprachenkunde" (Wien) Bd. III (1908)
S. 672—699 und Bd. IV (1909) S. 113-138 (noch unbeendet).
Katchin ist ein bei den Engländern üblicher Sammelname für
die zahlreichen im Norden und Nordosten von Birma wohnen-
den Stämme, die sich frei von chinesischem Einfluß gehalten
haben. Der Verfasser behandelt zwar nur die Religion der
Cauris, eines Teilstammes der Katchin, meint aber, daß diese
typisch sei für sämtliche Stämme ihrer Verwandtschaft.
Unter den zahlreichen Einzelstudien auf dem Gebiete
der chinesischen Religionswissenschaft sind zunächst zwei Ab-
handlungen zu nennen, die sich mit dem Urgründe der alten,
d. h. vorkonfuzianischen Religion beschäftigen. Maurice
Courant untersucht in einem Vortrage „Sur le pretendu mo-
notheisme des anciens Chinois" in der Revue de l'histoire
dcB religions (Paris) Bd. XLI (19()0) S. 1—21 den Charakter
der ältesten chinesischen Vorstellungen von dem göttlichen
Wesen. In der oft erörterten Streitfrage, ob der alte chinesische :
Begriff „Himmel" oder „höchster Herrscher" ein monothei-
stischer sei oder nicht, entscheidet er sich für den verneinenden
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 1 ] 9
Standpunkt. Auf Grund verschiedener Textstellen aus dem
Shi-king, dem Shu-king, dem Tso-chuan, den „vier Büchern"
und dem Shi-ki sucht er zu beweisen, daß der „Himmel" den
Chinesen nur das überirdische „Gewölbe*' gewesen sei, an dem
die Gestirne sich bewegen, und in dem die Jahreszeiten ent-
stehen. Erst in zweiter Linie habe man dann mit „Himmel"
die bezeichnet, die das „Gewölbe" bewohnen, nämlich die Kaiser
der alten Dynastie und die Ahnen des regierenden Herrschers.
Aus dieser Auffassung heraus sucht dann Courant aus den
Texten — in recht angreifbarer Weise — die Wahrscheinlich-
keit herzuleiten, daß der chinesische Ausdruck für den „hohen
Herrscher" (shang ti oder ti) als Pluralis aufzufassen sei und
daß er eben die früheren Herrscher und Kaiser bezeichne, zu-
mal das Wort ti der Titel der ältesten mythischen Kaiser ge-
wesen sei. In keinem Falle, meint er, sei shang ti als ein
einheitliches Wesen, als der Gott in christlichem Sinne auf-
zufassen, vielmehr bilde er den Ausdruck polytheistischer Vor-
stellungen mit der animistischen Grundlage des Ahnendienstes.
— Ganz anders wird die Frage von Edouard Chavannes
behandelt in seinem Vortrage „Le dieu du sol dans l'an-
cienne religion chinoise'', den er auf dem internationalen
Kongreß für Religionsgeschichte i. J. 1900 gehalten und in der
Revue de l'histoire des religions Bd. XLIII, S 125 — 146 ver-
öffentlicht hat. Der Inhalt dieser scharfsinnigen Untersuchung
ist so außerordentlich wichtig und legt die tiefsten Wurzeln
der ursprünglichen chinesischen Religion so klar an den Tag,
daß es notwendig ist, ihn hier, wenn auch in aller Kürze,
wiederzugeben. Im hohen Altertume hatte jeder chinesische
Stamm, vielleicht sogar jede Sippe einen Gott des Erdbodens
■she), der die schuldigen Menschen mit Strafen heimsuchte, und
dem noch im 6. Jahrhundert v. Chr. Menschenopfer dar-
gebracht wurden. Zugleich aber war er auch der Wohltäter,
der die Menschen schützte und ihnen Nahrung gab. In dieser
Eigenschaft erscheint er schon sehr früh mit einer anderen
Gottheit, dem Genius der Ernte (tsi)j zu einem untrennbaren
120 0. Franke
Ganzen vereinigt. Dieser „Gott des Erdbodens und der Ernte"
(she-tsi) wird fast zu einer übernatürlichen Personifikation des
von einem Fürsten beherrschten Landes, und zwar hat jeder
Fürst seinen besonderen Landgott. Wie aber das Staatswesen
einerseits des irdischen Territoriums, anderseits der geistigen
Welt der Manen der Vorfahren bedarf, die über seinem Schick-
sal wachen, so verbindet sich mit der Personifikation des Landes
die Personifikation der Vorfahren in Gestalt des Ahnentempels
(tsimg-miao), und der „Gott des Erdbodens und der Ernte"
zusammen mit dem Ahnentempel (she-tsi tsung-miao) bilden
den Begriff der „Heimat" und des Heimatstaates. Wir haben
also hier einen dualistischen Begriff, bestehend aus einem
naturalistischen Moment, dem Gott des Erdbodens, und einem
animistischen, den Ahnen, der die eigentliche Grundlage der
chinesischen Religion bildet. Nun zeigt Chavannes an einer
sehr merkwürdigen Stelle aus dem Shi-ki, in dem Kapitel über
die großen Staatsopfer fmg und shan, daß der Herzog von
Chou, der eigentliche Gründer des Chou- Staates, bei seinem
Opfer den „Gott des Erdbodens" (d. h. den der Chou) mit dem
„Himmel" und seinen Ahnen Wen wang mit dem „hohen
Herrscher" (shang ti) verband. Danach sind also der „erhabene
Himmel" (hao fien) und der „hohe Herrscher" (shang ti) zwei
getrennte Dinge und nicht, wie fast alle Sinologen bisher an-
genommen haben, ein einheitliches Wesen („der hohe Herrscher
im erhabenen Himmel"); beide bilden das Gegenstück zu Dyaus
und Varuna der Inder, Zeus und Uranos der Griechen. Die
weitere Entwicklung ist nun aber in China verschieden von
der im Westen gewesen: während hier das animistische Moment
des Dualismus, d. h. der Gott, das Übergewicht erhalten hat,
ist in China das naturalistische, der „Himmel", das stärkere
geworden, bis schließlich der „hohe Herrscher" ganz darin
aufgegangen ist. Von den beiden Dualismen, „Gott des Erd^
bodens" und „Ahnen" einerseits, „Himmel" und „hoher Herrschei
anderseits ist der letztere zu einer Einheit verschmolzen, der
„Himmel". Dieser aber hat so viel Persönlichkeit von seiner
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 121
zweiten, absorbierten Momente erhalten, daß er, wie ehedem
der „hohe Herrscher", zum „Ahnen" des Fürsten wird, und
zwar des Fürsten, der die Bezeichnung „Sohn des Himmels"
führt, d. h. des Kaisers, der allein seinem „Ahnen", dem
„Himmel**, zu opfern berechtigt ist. Eine parallele Umwand-
lung ist mit dem „Gott des Erdbodens und der Ernte" vor
sich gegangen: um die Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. finden
wir diesen Teil des anderen Dualismus, den der Herzog von
Chou mit dem „Himmel" verbunden hatte, in einen weiblichen
Begriff verwandelt, und zwar mit einer erweiterten Bedeutung;
aus dem Erdboden des Fürsten ist die gesamte Erde geworden,
und der „Gott" ist die personifizierte „Erde" gegenüber dem
männlichen „Himmel". Die Opfer für beide, feng und shan
genannt, werden das höchste Vorrecht der kaiserlichen Macht.
So hat sich die Weiterbildung der ältesten religiösen Vor-
stellungen der Chinesen in engem Anschluß an die politische
Entwicklung vollzogen. Der chinesische Ackerbauer, für den
schon im hohen Altertume der Erdboden die eigentliche Lebens-
quelle war, warb um die Gunst der darin wirkenden geheimen
Kraft für seine Ernte und erflehte den Schutz seiner Vorfahren
für seine Arbeit. Die wachsende Macht des Fürsten sah dann
in dem Territorium des ganzen Staates und schließlich der
Welt (des „Reiches" nach chinesischer Auffassung) ihren Erd-
boden, so wurde der Lokalgott von ehemals zur Göttin der
Erde. Der Sitz seiner Vorfahren aber war für den Herrscher
der Himmel; er nahm die Persönlichkeit des obersten Ahnen
an, und ihm brachte der „Himmelssohn" das Ahnenopfer in
besonderer Form. Daneben aber — und das ist wohl zu be-
achten — blieben als Zeugen einer l^gen Vergangenheit der
„Gott des Erdbodens und der Ernte" und der Ahnentempel
auch als solche noch bestehen. Diesem Gotte opferte nachher
noch jeder Fürst in dem alten Feudalstaate, den Ahnen aber
jedes Famüienhaupt. Dieses religiöse System besteht noch
heute in China und bildet die eigentliche Staatsreligion, von
der Konfuzius nur ein Exponent war. Der Gedankengang, der
122 0. Franke
hier nur ganz gedrängt wiedergegeben werden konnte, wird von
Chavannes in jedem einzelnen Teile durch die älteste uns er-
haltene Literatur sicher gestützt.
Ahnliche Fragen aus der alten Religion erörtert Fernand
Farjenel in dem Aufsatze „Quelques particularites du
culte des ancetres en Chine" im Journal Asiatique (Paris)
Ser. X Bd. II (1903), S. 85 — 96. Er gibt einige liturgische
Einzelbestimmungen über den Ritus der Ahnenopfer nach dem
von Chu Hi (12. Jahrhundert) auf Grund des Li-ki und I-li zu-
sammengestellten Werke Kia-li, „die häuslichen Riten". Diese
Bräuche gelten auch heute noch beim Ahnendienst in jeder
Familie. Mit Recht bekämpft Farjenel die opportunistische
Ansicht mancher Sinologen, daß der Ahnenkultus nur eine
Erinnerungsfeier für die Verstorbenen sei; er ist ein aus-
gesprochener Gottesdienst und die eigentliche Religion der
Chinesen. — Von demselben Verfasser ist der Aufsatz „Le
culte imperial en Chine" im Journal Asiatique Ser. X
Bd. VIII (1906), S. 491—516. Farjenel geht von der richtigen
Ansicht aus, daß die Religion eines Volkes diejenige sei, die
der Gesellschaft ihre Form gegeben habe. Daher sei die
chinesisclxe Religion die Gesamtheit der Glaubenssätze und
Bräuche, die sich im culte imperial, d. h. in dem kaiserlichen
oder staatlichen Kultus des Himmels, der Erde usw., sowie in
dem culte domestique, d. h. in dem Ahnenkultus jeder Familie
offenbare, denn sie habe das gesamte Familien- und Gesell-
schafts-Recht in China bedingt und durchdrungen. Der Ver-
fasser gibt dann eine Übersetzung des 37. Kapitels der Ab-
teilung li-pu des Ta T'sing hui-tien (Staatshandbuch), in dem
das große Opfer für den Himmel am Tage der Wintersonnen-
wende beschrieben wird. Seine Behauptung, daß die alte
chinesische Religion weitere Beweise dafür gebe, daß die
chinesische Zivilisation chaldäischen Ursprungs sei, wird mehr
Widerspruch finden als seine sonstigen Angaben. — Eine von
wesentlich anderen Gesichtspunkten ausgehende Erörterung der
chinesischen Ausdrücke für „Himmel", „Himmelsherr" u. ä. ent-
Die religions wissenschaftliche Literatur über China seit 1900 123
hält die Schrift des Jesuitenpaters Henri Havret, T'ien-Tchou,
Seigneur du Ciel, die als Xr. 19 der „Varietes Sinologiques"
(Shanghai 1901) erschienen ist. Die Untersuchung des Ver-
fassers knüpft an eine bei der Stadt Chengtu in Ssechuan ge-
fundene buddhistische Stele aus der Zeit der T'ang- Dynastie
an (618 — 905), deren Inschrift den Ausdruck f/ew-c/m „Himmels-
herr" enthält. Da dies die Bezeichnung ist, die von der katho-
lischen Kirche für ihren christlichen Gottesbegriff gewählt ist,
so verfolgt Havret sie in den verschiedenen Bedeutungen und
Gebrauchsarten während zweier Jahrtausende bei Buddhisten
(hier dürfte allerdings öfters eine Verwechslung mit dem ähn-
lich geschriebenen fieti-uang „Himmelskönig" vorliegen), Mu-
hammedanern, Nestorianem, Juden, Katholiken und Protestanten
in China. Die Frage, wie der Name des christlichen Gottes
im Chinesischen zu übersetzen sei und in welchem Verhältnis
dieser zu dem chinesischen „Himmel" stehe, hat als „term-
question" zeitweilig zu lebhaften Auseinandersetzungen unter
den Missionaren geführt. Der Verfasser gibt auch hierüber
einen kurzen Überblick, sowie über die Geschichte des Aus-
drucks fien-clm in der katholischen Propaganda, bis zu seiner
endgültigen Festsetzung als Bezeichnung für „Gott" durch den
Papst Benedikt XIV. i. J. 1742.
Von den Werken, die sich mit Konfuzius und der ortho-
doxen Lehre beschäftigen, ist in erster Linie der i. J. 1905
erschienene V. Band von „Les Memoires Historiques de
Se-ma Ts^en" von Edouard Chavannes zu nennen, der die
Biographie des Konfuzius (XL VII. Kapitel des Shi-ki) enthält.
Sse-ma Ts'ien hat diese Biographie unter die den ehemals
regierenden Fürstenfamilien gewidmeten Kapitel eingereiht,
eine Tatsache, die bezeichnend ist für die Stellung, die der
große Historiker dem „ungekrönten Fürsten" im Reiche des
Geistes zuschreibt. In einem besonderen Nachtrage (S. 436 bis
445) weist Chavannes auf die Wichtigkeit der Biographie hin,
und zwar nicht bloß in geschichtlicher Beziehung, sondern auch
in dogmatischer und philologischer. Es handelt sich hierbei
124 0. Franke
vor allem um den Text und die Auslegung des Lun-yü, aus
dem Sse-ma Ts'ien große Teile zitiert und in mittelbarer Weise
erklärt, indem er sie mit bestimmten Vorkommnissen im Leben
des Konfuzius in Verbindung bringt. Einige offensichtliche
Irrtümer, die er hierbei begangen, mahnen uns zwar, seine Er-
klärungen nicht immer kritiklos hinzunehmen, aber ebensowenig
wird man der neueren chinesischen Exegese, die doch ganz im
Banne von Chu Hi's Dogmatik steht, in jedem Falle einen
Vorrang einräumen dürfen, Chavannes scheint hierin zuweilen
ein wenig zu weit zu gehen. (Vergl. die Besprechung in der
Zeitschrift der Deutschen Morgenl. Ges. Bd. LX, S. 233 ff. und
T'oung Pao Ser. II Bd. VII, S. 315ff.) Bei künftigen Über-
setzungen des Lun-yü wird jedenfalls die Biographie von
Sse-ma Ts'^ien sehr sorgfältig benutzt werden müssen. — Eine
solche Übersetzung wird jetzt vorbereitet von R. Wilhelm,
der eine Probe davon in den Preußischen Jahrbüchern Bd. 134
(1908) I. Heft, S. 27-73 im Anschluß an einen „Konfuzius"
betitelten Aufsatz veröffentlicht hat. Der Verfasser gibt neben
der wörtlichen Übersetzung für jeden Satz noch eine freie
deutsche Paraphrase und hat sich in seiner Auffassung von
der Orthodoxie Chu Hi's vollkommen frei gemacht. Gerade
im Hinblick auf die neueste Bewegung innerhalb des reforma-
torischen Konfuzianertums in China ist sein Bestreben, die
ältere und älteste Exegese wieder stärker heranzuziehen, durch-
aus berechtigt. Dagegen dürften seine Ansichten über Kon-
O DO
fuzius selbst, dem er ein gut Teil Einsicht und Weisheit
a posteriori zuschreibt, nicht überall Zustimmung finden. Die
Kultusstätten der Orthodoxie behandelt der deutsche Jesuiten-
pater A. Tschepe in zwei Werken, die als Nr. 1 und II der
von der katholischen Mission in Süd-Shantung herausgegebenen
Sammlung „Studien und Schilderungen aus China" i. J. 1906
erschienen sind. Das erste, „Der T'ai-Shan und seine
Kultusstätten", beschreibt den T'ai shan und seine Heilig-
tümer in der Provinz Shantung, jene uralte Opferstätte, an die
sich die frühesten religiösen und politischen Legenden der
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 125
mvthisclien chinesischen Vorgeschichte knüpfen. Hier läßt die
Überlieferung schon die sagenhaften Kaiser Shen-Xung, Huang-
Ti u. a. im 3. Jahrtausend v. Chr. ihre großen Opfer darbringen,
hier fanden später die Staatsopfer feng und shan für Himmel
und Erde statt, von denen oben die Rede war, und hier sollte
jeder neue Kaiser, vor allem aber jeder Begründer einer neuen
Dynastie die Anerkennung seiner Stellung durch den Himmel
erlangen. (Vergl, Charannes, Memoires Historiques, Bd. lU,
S. 413 ff.) Tschepe beschreibt die ganze Wallfahrtstraße von
der Stadt T'ai-ngan fu bis auf den Gipfel des Berges mit allen
ihren zahlreichen Toren, Hallen und Tempeln und erläutert
die Rolle, die sie einst in der Geschichte gespielt haben. Jetzt
ist der T'ai shan ein Abbild des wirren Durcheinander der
chinesischen Religionsbegriffe: taoistische wie buddhistische
Kultusstätten bedecken seine Hänge und seinen Gipfel zusammen
mit den konfuzianischen Überbleibseln der ältesten nationalen
Religion. Alles aber ist gleichmäßig verfallen und verwahrlost,
der T'ai shan hat seine Bedeutung nur noch in der Theorie.
Das zweite Werk führt den Titel: „Heiligtümer des Kon-
fuzianisinus in K'ü-fu und Tschou-hien"; es zerfallt in
drei Teile: die Heiligtümer des Konfuzius, die Heiligtümer des
Yen fu-tse (eines Lieblingschülers des Konfuzius) und die Heilig-
tümer des Mencius. Der erste Teil behandelt das Vaterland
des Konfuzius (der alte Staat Lu im heutigen Shantung), die
'Teschichte des Konfuziustempels in K'ü-fa (Shantung), den
jetzigen Tempel des Konfuzius in seiner Vaterstadt K'ü-fu und
'ias Grab des Konfuzius. Die beiden anderen Teile geben ent-
sprechend einige geschichtliche Bemerkungen über Yen Hui
und Meng tsö und eine Beschreibung ihrer Tempel in K*ü-fti
und Tsou hien (von Tschepe Tschou geschrieben). Beide
Werke sind mit zahlreichen Photographien illustriert. Daß der
wackere Pater tüchtig auf die Heiden und Ketzer schimpft, ist
seine Amtspflicht; seine Kapuzinaden sind aber zum Teil sehr
belustigend. (Vergl. die Besprechung im Journal of the North-
China Brauch R. A. S. Bd. XXXIX, S. 189 ff.) — Nähere An-
126 0- Franke
gaben über das Opferrituäl in einem konfuzianischen Tempel (dem
von Hangchou) macht G. E. Moule in einem Aufsatze: „Notes
on the Ting-chi, er half-yearly Sacrifice to Confucius"
im Journal of the China Brauch R. A. S. (Shanghai) Bd. XXXIII
(1900/01), S. 37—73. Ting-tsi heißt „Opfer am Ting(-Tage)",
d. h. an dem Tage im 2. und 8. Monat, der die cyklische Be-
zeichnung ting hat. Der Verfasser gibt eine Schilderung der
Feierlichkeit auf Grund seiner persönlichen Anwesenheit bei
einem solchen Opfer und schließt daran eine Inhaltsangabe und
Übersetzungsauszüge von dem Ting-tsi p'u, dem amtlichen
Ritualbuche für die konfuzianischen Opfer, das nach dem
Ta Ts'ing hui-tien und dem T^ung-li zusammengestellt ist. Die
Hymnen, die bei der Kultushandlung gesungen werden, ent-
stammen den kanonischen und klassischen Schriften: dem Shi-
king, dem Lun-yü, dem Chung-yung, Meng-tse und dem
Li-ki. über die Musik dazu macht der Verfasser einige kurze
Angaben in einer besonderen Zusatznotiz. Weitere Mit-
teilungen über die konfuzianische Musik und ihre Instrumente
finden sich dann aber in der ausführlichen Arbeit von
A. C. Moule, A List of the Musical and other Sound-
Producing Instruments of the Chinese in derselben Zeit-
schrift Bd. XXXIX (1908), S. 1-160 (mit Illustrationen).
Danach sind die 44 Instrumente, auf denen die — übrigens
weit leiser und harmonischer als im taoistischen Ritual oder
im Theater klingende — konfuzianische Ritualmusik hervor-
gebracht wird, zum größten Teil dieselben, wenigstens dem
Namen nach, die bei den religiösen Kultushandlungen im
Altertum gebraucht wurden. Die ritualistische Verehrung des
Konfuzius selbst ist verhältnismäßig jungen Datums. — Voi
der politischen und sozialen Seite wird das konfuzianisch«
System beleuchtet von E. Chavannes in seiner Abhandlung^
„Les Saintes Instructions de I'Empereur Hong-Wou"
(1368 — 1398) im Bulletin de l'Ecole franyaise d'Extreme- Orient
Bd. III (1903) S. 549 — 563. Diese „heiligen Ermahnungen"
(sheng-yü) aus der Ming- Dynastie sind der Vorläufer des be-
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 127
rühmten „heiligen Edikts" des Kaisers K'ang-Hi vom Jahre 1671
und decken sich im Inhalte völlig mit ihm. Im Anschluß an
die konfuzianische Ethik belehren sie die Bevölkerung über
ihre sozialen Pflichten in Familie und Gemeinde. Chavannes
hat seiner Übersetzung einen in Stein gemeißelten Text zu-
grimde gelegt, der dem Jahre 1587 entstammt und sich in der
Stadt Si-ngan fu (Shensi) befindet. Er enthält, ähnlich wie
das „heilige Edikt'', außer den Hauptsätzen eine Paraphrase,
und zwar in Prosa und Poesie, und daneben eine versinnbild-
lichende Zeichnung für jeden Hauptsatz.
Der Hauptgegner eines Fundamentalsatzes der kon-
fuzianischen Ethik, der Philosoph Sün K'ing oder Sün tsö
(3. Jahrh. v. Chr.), der gegenüber der Lehre von Konfuzius und
Meng ts6, daß die menschliche Natur ursprünglich gut sei, den
Satz aufstellte, daß sie ursprünglich schlecht sei, und diesem
Grundgedanken eine besondere Abhandlung in seinen Schriften
widmete, ist für christliche Missionare immer eine besonders
interessante Erscheinung gewesen. Schon Legge hat eine Über-
setzung der kleinen Schrift im II. Bande der Chinese Classics
gegeben. Seitdem ist eine neue Übersetzung von dem Mis-
sionar R. A. Haden, The Philosopher Shnncius (sie!), im
„North China Herald" (Shanghai) vom I.September, 29. September
und 20. Oktober 1905 veröffentlicht worden. Auch J. Edkins,
Siün King, the Philosopher, and his Relations with
Contemporary Schools of Thought im Journ. China Br.
R. A. S. Bd. XXXm (1899—1900), Heft I, S. 46-55, und
der Japaner ü. Hattori, Schun-tzu's Stellung in der
Geschichte der chinesischen Philosophie, in der Fest-
schrift der deutsch -japanischen Gesellschaft zum XHI. inter-
nationalen Orientalisten -Kongresse (1902), S. 5 — 27 haben sich
ausführlich mit ihm beschäftigt.
Die Arbeiten auf dem Gebiete des Taoismus gruppieren
sich wie in früheren Jahrzehnten, so auch in diesem noch
immer der Hauptsache nach um Lao ts6 und das Tao-te king,
ja die Begeisterung für dieses Werk der ältesten chinesischen
128 0. Franke
Metaphysik scheint sogar im XX. Jahrhundert noch an Stärke
zuzunehmen und in eine förmliche Epidemie auszuarten. Be-
rufene wie Unberufene — letztere vielleicht mehr als erstere
— haben sich seit über fünfzig Jahren in kaum unterbrochener
Folge damit beschäftigt, die Geheimnisse des Tao, jeder auf
seine Weise, zu entschleiern. Historische Untersuchungen,
Textkritik und philosophische Vergleichung hat Lao tse's Werk
in reicher Fülle erfahren; dabei ist die Zahl seiner Über-
setzungen Legion geworden, und noch ist kein Ende dieser
Flut zu sehen. Heute sind sogar die der chinesischen Sprache
gänzlich Unkundigen von diesem Ubersetzungsfieber erfaßt,
und die Art, wie sie ihre Weisheit auf den Markt bringen,
läßt an Selbstbewußtsein nichts vermissen. Es würde natürlich
über den Rahmen dieses Berichtes weit hinausgehen, wollten
wir die Fragen der Echtheit oder Unechtheit, der chinesischen
Ursprünglichkeit oder der indischen Beeinflussung des Tao-te
king erörtern, wie sie seit den Tagen Abel- Remusat's, Pauthier's
und Stanislas Julien's vou Sinologen und Nichtsinologen um-
stritten worden sind und noch heute umstritten werden; wir
können hier nur die neuen Übersetzungen und Bearbeitungen
aufzählen, die uns das neue Jahrhundert — bis jetzt! — beschert
hat. Von Dvofäk's und Parker's Werken war schon oben
die Rede. Eine englische Übersetzung mit einer ausführlichen
Einleitung und einem chinesischen Wortindex hat P. J. Maclagan
in der China Review (Hongkong), Bd. XXHI, S. 1 — 14,
75—85, 125—142, 191—207, 261—264 und Bd. XXIV,
S. 12—20, 86—92 (1898 — 1900, „The Tao-Teh King"),
gegeben. Diese Übersetzung rief Thos. W. Kingsmill auf den
Plan, der seine Ansichten in zwei Aufsätzen: „Notes on the
Taoteh King" im Journal China Branch R. A. S. Bd. XXXI
(1899), S 206—209, und „Dr. Maclagan and the Taoteh
King" in der China Review, Bd. XXIH, S. 265—270 nieder-
legte. Diesen Einleitungen folgte eine neue Übersetzunu
Kingsmill's: „The Taoteh King, a Translation with Notes'
in der China Review, Bd. XXIV, S. 147—155, 185—196. Einen
II
Die religionswissenschaftUche Literatur über China seit 1900 129
sehr interessanten Fund hat E. v. Zach in Peking gemacht;
er konnte im XXY. Bande der China Review (1900—1901),
S. 157 — 162, 228 — 234 eine mandschurische Übersetzung des
Tao-te king unter dem Titel: „Manchurian Translation
of Lao-Tzu's Tao-te-ching. Romanized Text" ver-
öflfentlichen. Zach macht leider keinerlei Angaben über
Herkunft und Art dieses Werkes. (Vergl. B. Laufer, Skizze
der manjurischen Literatur in der Revue Orientale von 1908,
S. A. S. 50.) Von den späteren Übersetzern hat meines Wissens
bedauerlicherweise keiner von diesem Texte Gebrauch gemacht.
— G. Ch. Toussaint erwarb i. J. 1904 in dem Taoisten-
kloster Po-yün kuan bei Peking Abdrücke der in Stein ge-
meißelten Texte des Tao-te king und des Yin-fu king (ein
anderes bekanntes taoistisches Werk, beide sind übersetzt von
Legge in den „Sacred Books of the East", Bd. XXXIX und XL).
Eine Reproduktion davon mit einer Beschreibung, „Le Tao
tö king grave sur pierre", ist in der T'oung Pao, Ser. II
|Bd. VI (1905), S. 229 — 236 veröffentlicht worden. Die In-
schriften sind i. J. 1858 nach einem aus dem Jahre 1316
; stammenden Originaltexte des berühmten Kalligraphen Chao
jMeng Fu (1254 — 1322) angefertigt worden und von großer
i Schönheit. Der Text zeigt zahlreiche Varianten gegenüber
dem uns sonst überlieferten, doch sind einige davon offenbar
, auf Fehler und Ungenauigkeiten zurückzuführen. — Eine neue
{deutsche Übersetzung des Tao-te king (nicht die erste!) hat
jDr. Franz Hartmann gegeben: „Theosophie in China.
Betrachtungen über das Tao-Teh-King. (Der Weg, Die
Wahrheit und das Licht.) Aus dem Chinesischen des
ML?io-tze übersetzt." Femer Alexander ülar, „Die
Bahn und der rechte Weg; der chinesischen Urschrift
des Lao-tse in deutscher Sprache nachgedacht" (Leipzig
1903). Diesem Produkte war schon eine französische Ausgabe
unter dem Titel: „Le Livre de la voie et de la ligne
I droite de Lao-tse" (Paris 1902) vorangegangen, ülar ist ein
mit hervorragender Phantasie ausgerüsteter Journalist; er er-
Archiv f. Keligionswissenschaft XIII 9
130 0- Franke
scheint deshalb besonders geeignet, Gedanken aus einer Sprach«
„nachzudenken", die er nicht kennt! Noch zwei englische Über
Setzungen sind zu erwähnen: J. W. Heysinger, „The Ligh
of China. The Tao Teh King of Läo Tsze" (Phila
delphia 1903) und Lionel Griles, „The Sayings of Lao Tzü
Translated from the Chinese, with an Introduction'
(London 1904). Herbert A. Giles, der temperamentvolh
Bekämpfer des Lao tse, der durch seine bekannte Abhandlung
„The Remains of Lao tzü", im XIV. Bande der China Reviews
(1886) die Frage nach der Echtheit des Tao-te king zuersi
aufwarf und verneinte, hat seine Argumente noch einmal zu-
sammengefaßt und vervollständigt in einem Aufsatze: „Lao tzij
and the Tao Te ching^^ in seinen „Adversaria Sinica" Nr. 3
(Shanghai 1906), S. 58—78. — Daß die Anziehungskraft des
Lao tse in Zukunft eine Abschwächung erfahren wird, ist, wie
es scheint, nicht anzunehmen, da ein Gerücht besagt, daß schon
wieder mehrere Übersetzungen in Vorbereitung sind. Die
Sinologen werden hoffentlich ihre Kräfte den zahllosen anderen
dringlicheren Aufgaben zuwenden und das Tao-te king den
philosophierenden und ästhetisierenden Dilettanten überlassen.
— Ein anderes taoistisches Werk, das in Europa wiederholt
Übersetzungen und Bearbeitungen erfahren hat (von St. Julien,
Legge, Douglas), ist das T'ai-shang kan-ying p'ien, ein in China
sehr volkstümliches Buch über taoistische Ethik, das die Be-
lohnungen und Strafen für die Guten und Bösen, sowie den
Charakter beider Menschengattungen beschreibt. Eine neue
Übersetzung nebst Erklärung haben Teitaro Suzuki und
Paul Carus geliefert unter dem Titel: „T'ai-Shang Kan-
Ying P'ien. Treatise of the Exalted One on Responsfj
and Retribution" (Chicago 1906). Von demselben Verfassei
stammt das „Yin Chih Wen, The Tract of the Quiet Way'j
(Chicago 1906). Das Yin-chi wen ist ebenfalls ein kurzes un<
volkstümliches Handbuch der taoistischen Morallehre, das abe
mit den Grundbegriffen der konfuzianischen Ethik durchsetzi
ist. Er wird dem Wen-ch'ang ti-kün, dem „Gott des (litij
Die religionswissenschaflliche Literatur über China seit 1900 131
rarischen) Wissens" zugeschrieben; tatsächlicli ist sein Verfasser
ebenso wie der des vorigen Werkes unbekannt. (Vergl. Douglas,
Confucianism and Taoism, S. 256 ff. und 272 ff.) Auch das
Yin-chi wen ist übrigens bereits früher von Klaproth und von
Leon de Rosny veröffentlicht und übersetzt worden. i^Yergl.
T'oirng Pao, Ser. II Bd. VII, S. 536 f.) Eine unausgesprochene
Weiterbildung von Lao tse's Lehre vom tao im konfuzianischen
System hat F. Farjenel nachzuweisen gesucht in seinem Auf-
satz „La metaphysique chinoise" im Journal Asiatique,
Ser. IX Bd. XX (1902), S. 113 — 131. Er sieht in dem, was
Chou Tun Yi (1017 — 1073), der Vater des späteren metaphy-
sischen Systems, fai-ki („die höchste Spitze") nennt, dasselbe,
was bei Lao tse das tao ist. Diese Vorstellung von dem fai-ki,
dem Urprinzip, ist dann ein Jahrhundert später von Chu Hi,
dem Begründer der Orthodoxie, aufgenommen und weiter ent-
wickelt, so daß sie die ganze orthodoxe konfuzianische Schule
i beherrscht. Die letztere charakterisiert Farjenel als „weder
I spiritualistisch, noch materialistisch, wie viele meinen", vielmehr
sei ein „psychologischer Pantheismus" die Grundlage ihrer ge-
samten Metaphysik. Chou Tun Yi wird von Farjenel Chou
Lien K^i genannt. Diese Bezeichnung ist nicht genau. Lien-k'i
jist der Heimatsort des Philosophen in Hunan, Chou wird des-
ihalb auch oft Lien-kH sien-sheng „der Meister von Lien-k'i",
genannt. — Zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich Chu Hi's
Philosophie wie Farjenel kommt Herbert A. Giles in seinem
[Vortrage: „Psychic Phenomena in China" in „Adversaria
ISinica" Nr. 6 (1908), S. 145—162. Er erörtert den alten chine-
sischen Dualismus von hun und po, die beide zusammen die
menschliche Seele bilden, und schließt aus der Art, wie Chu Hi
tnit dieser alten Vorstellung umgeht, daß dieser trotz seines
Materialismus an die Unsterblichkeit der Seele glaubte. —
Abgesehen von den erwähnten Übersetzungen ist leider das
• jebiet der späteren taoistischen Dogmatik von der Sinologie
: follig vernachlässigt worden. In den Untersuchungen über
? [Volkskunde und Volksreligion (s. u.) sind zwar die taoistischen
132 0. Franke
Elemente erkannt und betont worden, aber der Taoismus als
System ist bis jetzt unerforschtes Gebiet geblieben.
Besser steht es mit dem Buddhismus, obwohl auch
hier die eigentliche Dogmatik des Mahäyäna- Systems noch
ihrer Bearbeitung wartet. Im folgenden sind nur die
wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen berücksichtigt worden;
von populären Darstellungen allgemeiner Art ist abgesehen.
E. H. Parker gibt unter dem Titel „Chinese Buddhism" in
The Imperial and Asiatic Quarterly Review Ser. III Bd. XIV
(1902) S. 372—390 einen kurzen Überblick über die Ge-
schichte der Einführung und Verbreitung des Buddhismus in
China bis zum Jahre 400, d. h. bis zu Kumärajiva's Ankunft
in Ch'ang-an (Si-ngan fu) am Hofe der späteren Ts'in-Dynastie.
Parker glaubt nach wie vor, daß der Buddhismus erst infolge
des Traumes des Kaisers Ming ti i. J. 61 n. Chr. in China
Eingang gefunden habe, und daß „absolut kein Grund vorhanden
sei für den Glauben, der Buddhismus sei in irgendwelcher
Form den Chinesen vor diesem Jahre zu Ohren gekommen".
Wie dann aber ein solcher Traum und seine Auslegung möglich
gewesen sein sollen, dafür bleibt Parker die Erklärung schuldig.
Auch ist damit die Angabe der Han-Annalen nicht zu ver-
einigen, nach der es i. J. 65 n. Chr. in der heutigen Provinz
Hunan bereits buddhistische Mönche gab (vergl. T'oung Pao
Ser. II Bd. VI S. 550 Anm. 1). Die Stelle ist aUerdings Parker
anscheinend noch nicht bekannt gewesen, aber er macht sich
auch die Behandlung der anderen chinesischen Nachrichten,
die seiner Behauptung entgegenstehen (so besonders die des
bekannten Textes aus dem We'i-lio über das Bekanntwerden
indischer Sütras in China i. J. 2 v. Chr.), allzu leicht. (Vergl.,
hierzu die Abhandlung über „Die Ausbreitung des Buddhismus |
von Indien nach Turkistän und China" in diesem Archi"«|
Bd. XII S. 207 ff.) — Die Übersetzungsliteratur über die s(|
außerordentlich wichtigen und lehrreichen Berichte von dei,'
Reisen buddhistischer Pilger zwischen Indien und China, di-
sich an die Namen St. Julien, Abel-Remusat, C. F. Neumaiu
Die religionswissenschaffcliche Literatur über China seit 1900 133
Beal, Legge, Giles, Takakusu und Chavannes knüpft, ist wälirend
der letzten Jahre, namentlich durch die Arbeiten Chavannes',
wieder bedeutend bereichert worden. Der bekannteste und
bedeutendste unter den chinesischen Pilgern, Hüan Tsang,
hat eine neue Bearbeitung von dem englischen Sinologen
Thomas Watters erfahren, der aber leider starb, bevor sein
Werk gedruckt wurde. Die Herausgabe des Manuskriptes
wurde deshalb von befreundeter Seite unternommen und dem
Indologen Rhys Davids übertragen, der sich des Beistandes
des jetzt ebenfalls verstorbenen früheren Arztes der englischen
Gesandtschaft in Peking, Dr. S. W. Bushell's, versicherte.
Das Werk ist unter dem Titel „On Yuan Chwang's Travels
in India 629—645 A. D." (London 1904—05) in zwei Bänden
erschienen. Th. Watters war sicher ein ausgezeichneter Kenner
der chinesischen buddhistischen Literatur, aber er starb nach
längerem Leiden i. J. 1901, und die Herausgeber haben das
Manuskript veröffentlicht, ohne, wie sie angeben, daran zu
rühren. Wenn man nun bedenkt, welche Fülle von neuen
Nachrichten seitdem über Mittelasien und Nordindien und
deren Geschichte an das Licht gebracht ist, so daß viele bisher
dunkle und zweifelhafte Stellen in Hüan Tsang's Bericht klar-
gestellt und zahlreiche Mißverständnisse berichtigt werden
konnten, so muß man bedauern, daß die Herausgabe nicht
einem Gelehrten anvertraut wurde, der weniger ängstlich in
bezug auf Zusätze zum Text gewesen wäre als die beiden Ge-
nannten. Das dringende Bedürfnis einer Neuausgabe von
Hüan Tsang's Si yü ki ist also durch das engliche Werk nicht
befriedigt worden. Wenn übrigens Rhys Davids in einem be-
sonderen Artikel der Einleitung sich über die Aussprache des
Namens des berühmten Pilgers äußert und zu dem Ergebnis kommt,
daß die heutige Version des Peking-Dialekts, „Yuan Chwäng" (!)
als die gültige anzusehen sei, so hätte er das Urteil über diese
verwickelte Frage, bei der sehr viele und sehr verschieden-
artige Momente hineinspielen, getrost den Sinologen überlassen
sollen. Seine Ausführungen zeigen, daß er — was nicht über-
134 0. Franke
raschen kann — vollständig im dunkeln tappt. Hüan Tsang
wird nacli wie vor die wissenschaftlich gerechtfertigtste Form
des Namens bleiben. (Vergl. die ausführliche Besprechung von
Pelliot, Bull. Ec. fr. d'Extr. Or. Bd. V S. 423 ff.) Auch die
Reise eines anderen bekannten Pilgers, des Sung Yün, die in
den Jahren von 518 bis 522 ausgeführt wurde, ist neu be-
arbeitet worden. Die Arbeit von Chavannes, „Voyage de
Song Yun dans TUdyäna et le Gandhära" im Bull. Ec.
fr. d'Extr. Or. Bd. III (1903) S. 379—441 bedeutet eine wesent-
liche Verbesserung gegenüber den früheren Übersetzungen von
Abel-Remusat (unvollständig), Neumann und Beal. Sung Yün's
und seines Reisegefährten Hui Sheng Berichte sind leider ver-
loren gegangen, aber eine ausführliche Inhaltsangabe findet
sich in dem Lo-yang kia-lan ki („ Greschichte der Klöster von
Lo-yang"), das unter anderen auch in der bekannten Sammlung
Han Wei f sung shu enthalten ist. Dieser Text ist es, den
Chavannes übersetzt hat. Der Bericht über Sung Yün's Reise
ist deshalb von besonderer Bedeutung für die Geschichte der
Ausbreitung des Buddhismus nach China, weil er zeigt, daß in
Udyäna und Gandhära, d. h. in Nordindien, sich eine neue
Art des Buddhismus, das mahäyänistische System, entwickelt
hatte, das von dem in Mittelindien, besonders in Magadha
herrschenden scharf zu trennen ist. Nordindien aber war für
China zugänglicher als der Süden. In einem Anhange gibt
Chavannes eine sehr wertvolle Zusammenstellung der chine-
sischen Werke aus der Zeit vor der T'ang-Dynastie (618), die
auf Indien Bezug haben. — Des weiteren hat Chavannes
noch die Tätigkeit von zwei indischen Buddhisten beleuchtet,
die für die Verbreitung ihrer Religion in China von Wichtig-
keit gewesen sind. In dem Artikel „Gunavarman (367 — 431)"
in der T'oung Pao Ser. H Bd. V (1904) S. 193—206 be-
handelt er die Wirksamkeit dieses aus Kaschmir stammenden
Mönches, der i. J. 423 auf Java die buddhistische Lehre ein-
führte und dann auf die Einladung des Kaisers Wen ti von \
der Sung-Dynastie i. J. 425 nach China und i. J. 431 an den
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 135
Hof nach Nankiag kam. Er hat während dieser Zeit eine
Anzahl indischer buddhistischer Texte in das Chinesische über-
setzt und war (i. J. 425) der erste buddhistische Mönch
in Südchina. Die Lebensbeschreibung des Gunavarman, die
Chavannes übersetzt hat, findet sich im Kao seng chuan
(„Lebensbeschreibungen hervorragender Sramanas"). Der
Artikel „Jinagupta" (528 — 605) in der T'oung Pao Ser. II
Bd. YI (1905) S. 332 — 356 beschäftigt sich mit einem durch
seine umfangreiche Ubersetzungstätigkeit besonders ausgezeich-
neten indischen Mönche. Jinagupta kam von Kaschmir über
den Lop-nor, durch das Kuku-nor- Gebiet i. J. 559 oder 560
nach ChWg-an, wo er Chinesisch lernte und die Übersetzung
buddhistischer Sütras begann. Er hat im ganzen 37 Werke in
170 Kapiteln übersetzt, darunter, zusammen mit Dharmagupta,
das berühmte Saddharmapundarika-sütra. Die Beschreibung
seines inhaltvollen Lebens und seiner Abenteuer in Ssechuan
und bei den Türkvölkern ist enthalten in dem Sü kao seng
chuan (eine Fortsetzung des eben genannten Werkes.). — Einer
der letzten chinesischen Pilger, die nach Indien vor dem großen
Muhammedaner-Einbruch zogen, war Ki Ye, der i. J. 964 oder
966 mit über sechzig anderen chinesischen Mönchen und zwei-
hundert Uiguren durch Turkistän nach Kaschmir und weiter
nach Magadha reiste, um dann über Nepal um 976 nach China
zurückzukehren. Yon dieser Reise ist uns nur das Itinerar in
der Enzyklopädie Yuan kien lei han erhalten; das kurze Do-
kument ist neu übersetzt worden (es gibt bereits eine Über-
setzung von Schlegel) von Edouard Huber mit dem Titel
„L'itineraire du pelerin Ki Ye dans l'Inde" im Bull.
Ec. fr. d'Extr. Or. Bd. II (1902) S. 256 — 259. Einige
Zusätze dazu hat Chavannes gegeben in seinen „Notes
Sinologiques" in derselben Zeitschrift Bd. IV (1904) S.75— 81.
In der Toung Pao Ser. H Bd. X (1909) S. 199—212 endlich
veröffentlicht Chavannes die Übersetzung einer Lebens-
beschreibung des Mönches Seng Hui aus Sogdiana (Samarkand),
der um die Mitte des 3. Jahrhunderts über Kiao-chi (Tongking)
136 0- Franke
nach China kam und im Gebiete des unteren Yangtse den
Buddhismus verbreitete. Er hat die beiden Sammlungen
buddhistischer Märchen Shatpäramitä-sannipäta-sütra und
Samyuktävadäna-sütra (Bunyiu Nanjio's Katalog Nr. 143 und
1359) übersetzt und dadurch zuerst indische Volkskunde in
China bekannt gemacht. Mehrere sehr interessante Studien
über den buddhistischen Patriarchen Vasubandhu und den
Verkündiger seiner Lehre in China, Paramärtha, hat der japa-
nische Gelehrte J. Takakusu veröffentlicht. Vasubandhu ist
für das Studium der buddhistischen Dogmatik von besonderer
Wichtigkeit. Bis in sein hohes Alter hinein ein Anhänger und
Vorkämpfer der Sarvästiväda- Schule, also des Hinayäna, wurde
er später von seinem Bruder Asanga zum Mahäyäna bekehrt;
und da wir Werke von ihm aus beiden Perioden seiner Ent-
wicklung besitzen, so ist er ein lehrreicher Wegweiser für das
Studium beider Systeme. Als Hinayänist verfaßte Vasubandhu
die Paramärtha-saptati zur Bekämpfung der Sämkhya- Philo-
sophie (in der Sämkhya-saptati), aus der Buddha's Lehre hervor-
ging, während aus seiner Mahäyäna -Zeit eine große Anzahl von
Kommentaren, z. B. zum Saddharmapundarika - sütra (vgl.
Bunyiu Nanjio's Katalog Nr. 1232 und 1233), und von eigenen
Sästras, z. B. der Vijnänamätra-siddhi (ibid. Nr. 1238 — 1240),
erhalten sind. Der eifrigste Verbreiter von Vasubandhu's
L|hren und Werken in China war der indische Mönch Para-
märtha, der auch eine Lebensbeschreibung seines Meisters
übersetzt und vermutlich auch verfaßt hat (ibid. Nr. 1463).
Diese Lebensbeschreibung hat Takakusu ins Englische über-
setzt unter dem Titel „The Life of Vasu-bandhu by Para-
märtha (A. D. 499—569)" in der T'oung Pao Ser. II Bd. V
(1904) S. 269 -296. Daran schließt sich ein Aufsatz: „A Study
of Paramärtha's Life of Vasu-bandhu, and the Date
of Vasu-bandhu" im Journal R. A. S. 1905 S.33— 53. Para-
märtha kam auf Einladung des Kaisers Wu ti von der Liaug-
Dynastie i. J. 548 nach Nanking und starb in Kanton i. J. 569,
nachdem er eine große Anzahl indischer Werke in das Chine-
Die religions wissenschaftliche Literatur über China seit 1900 137
sische übersetzt hatte. Takakusu stellt aus den Angaben
Paramärtha's in Verbindung mit anderen Umständen zuverlässig
fest, daß Vasubandhu vor 546, wahrscheinlich aber etwa von
420 — 500 (er wurde achtzig Jahre alt) gelebt hat. Danach
ließe sich das Datum für Isvarakrsna, den Verfasser der Säm-
khyakärikä, auf etwa 450 ansetzen. Dieses Werk, das älteste
über die Sämkhya- Philosophie, das uns erhalten ist, hat
Paramärtha ebenfalls in das Chinesische übersetzt. Takakusu
hat diese Übersetzung zum Gegenstande einer umfangreichen
Abhandlung gemacht mit dem Titel „La Sämkhyakärikä
etudiee ä la lumiere de sa version chinoise" im Bull. Ec.
fr. d'Extr. Or. Bd. IV (1904) S. 1—65 und S. 978—1064. Der
erste Teil enthält die Untersuchungen des gelehrten Verfassers
über den Text des Werkes und seiner beiden Kommentare, über
das Leben des Vasubandhu, der einer chinesischen Überlieferung
zufolge einen Kommentar zu der Kärikä und dann eine Gegen-
schrift, die Paramärtha-saptati, darüber verfaßt haben soll, und
schließlich über das Leben des Paramärtha. Der zweite Teil
gibt dann eine französische Übersetzung der Sämkhyakärikä
oder, wie der Titel nach dem chinesischen Text wiederzugeben
ist, der Suvarna-saptati nebst Kommentar. Zwischen den An-
hängern der Sämkhya -Philosophie und den Buddhisten bestand
zur Zeit Vasubandhu's lebhafte Gegnerschaft, und die bud-
dhistische Überlieferung weiß von einer großen Disputation beider
vor dem König Vikramäditya zu erzählen, in der die Buddhisten
anfänglich unterlagen, bis Vasubandhu auftrat und ihnen den
Sieg verschaffte. (Vergl. St. Julien, Memoires etc. Bd. I S. 117f.)
Über diese Disputation hat außer Paramärtha und Hüan Tsang
auch der chinesische Mönch K'uei" Ki, ein Schüler Hüan Tsang's
(632 — 682), einen Bericht hinterlassen in seinem Kommentar zu
Vasubandhu's Vijnänamätra-siddhi. Takakusu hat diesen in
einem besonderen Aufsatze: „K'uei-Chi's Version of a
Controversy between the Buddhist and the Sämkhya
Philoso phers'S in der T^oung Pao Ser. II Bd. V (1904)
S. 461 — 466, behandelt. Mit Recht nimmt er an dem Bericht
138 0. Franke
Anstoß, daß Yasubandliu einen Kommentar zu der Sämkhya-
kärikä, also einem Werke seiner Gegner, geschrieben haben
soll, und vermutet, daß hier eine Verwechslung der beiden
Namen Sämkhya-saptati (= Sämkhyakärikä) und ParamSrtha-
saptati (Vasubandhu's Gegenschrift) vorliegt. — Eine andere
chinesische Übersetzung Paramärtha's , nämlich die von
Asvaghosa's Mahäyänasraddhotpäda-sästra (Nanjio's Katalog
Nr. 1249 — 50) hat zwei Bearbeiter gefunden. Teitaro Suzuki,
„Asvaghosha's Discourse on the Awakening of Faith
in the Mahäyäna" (Chicago 1900) gibt eine sehr lehrreiche
Einleitung und dann eine englische Übersetzung des Textes.
In der Einleitung erörtert er die Tätigkeit und das vermutliche
Datum des Asvaghosa, das von besonderer Bedeutung ist wegen der
Verbindung des Patriarchen mit dem König Kaniska, kommt aber
auch zu keinem genaueren Ergebnis , als daß Asvaghosa
zwischen der zweiten Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr. und
dem Jahre 80 n. Chr. gelebt haben muß. Von dem (verlorenen)
Sanskrit -Werke gibt es außer der Übersetzung von Paramärtha
noch eine von Siksänanda aus Khotan, der i. J. 700 nach China
kam. Suzuki vermutet, daß beiden Übersetzungen verschiedene
Redaktionen zugrunde gelegen haben. Eine zweite englische
Übersetzung desselben Werkes stammt von Timothy Richard
und Yang Wen Hui, „The Awakening of Faith in the
Mahäyäna Doctrine — The New Buddhism" (Shanghai
1907). Richard ist ein temperamentvoller Missionar und be-
trachtet daher das Mahäyäna-System von seinem eigenen Stand-
punkte aus. Er hält es für eine mittelasiatische Form des
Christentums, mit dem es zusammen aus Babylon kam, wo
„einige von den jüdischen Propheten ihre wunderbaren Visionen
von dem kommenden Reiche Gottes niederschrieben!" Über
Asvaghosa selbst sagt er nur, „alle stimmen darin überein",
daß er ein Zeitgenosse des Königs Kaniska war, der im
1. Jahrh. n. Chr. lebte, und daß er der Gründer der
Mahäyäna -Schule war. „Alle stimmen darin überein" ist eine
von den beliebten englischen Wendungen, deren man sich be-
I
Die religionswissenschaftliche Literatur über China seit 1900 139
dient, wenn man etwas sagen will, was man nicht genau kennt
oder was man nicht beweisen kann. Über die Zeit von
Kaniska ist die Übereinstimmung durchaus nicht so allgemein
wie Richard annimmt, und als Begründer des Mahäyäna-
Systems gilt für gewöhnlich Nägärjuna. Eine andere Über-
setzung von Richard, „Guide to Buddhahood, being a
Standard Manual of Chinese Buddhism" (Shanghai 1907),
ist mir leider nicht zugänglich. Ich weiß daher nicht, um
welches chinesische Werk es sich hierbei handelt. Ebenso habe
ich die beiden Arbeiten von Paul Carus, „Amithaba, a Story
of Buddhist Theology" und „The Buddha's Nirvana.
A Sacred Buddhist Picture by Wu Tao-tsze" nicht er-
halten können. — Die Übersetzung eines erst später in den
buddhistischen Kanon aufgenommenen chinesischen Werkes
kündigt H. Hackmann an in einem Aufsatz „Pai chang
ch'ing kuei, The Rules of Buddhist Monastic Life in
China" in der T'oung Pao Ser. II Bd. IX (1908) S. 651—662.
Das Pai-chang t^sing kuei ist eine Sammlung von Vorschriften
für das mönchische Leben im Kloster und zugleich eine Art
Festkalender. Die Angaben Nanjio's (Katalog Nr. 1642) über
die Entstehung des Werkes weichen wesentlich ab von denen,
die Hackmann macht. Nicht recht verständlich erscheint es,
warum Hackmann sich des Englischen bedient anstatt seiner
deutschen Muttersprache. — Dem buddhistischen Aeskulap
widmet Paul Pelliot eine Studie „Le Bhaisajyaguru" im
BuU. Ec. fr. d'Extr. Or. Bd. DI (1903) S. 33—37. Der Bhaisa-
jyaguru ist ein Buddha und führt im Chinesischen den wört-
lich übersetzten Namen Yao-shi d. h. „Herr der Heilkunde". Er
ist eine in China wie in Japan und Tibet sehr volkstümliche
Gottheit. Ein Sütra, das von ihm handelt, die Bhaisajyaguru-
vaidürya-prabhä, ist zwar im Sanskrit nicht mehr erhalten,
wohl aber in mehreren chinesischen und tibetischen Über-
setzungen. (Vgl. Nanjio Nr. 170 — 173.) PeUiot hält es nicht
für ausgeschlossen , daß sich eine Sanskritversion mit tibetischer
Schrift in den Tripitika-Sammlungen der Ming-Dynastie befand.
140 0. Franke
Übrigens hat sich, was Pelliot entgangen zu sein scheint, schon
J. J. M. de Groot über den Yao-shi und sein Sütra aus-
gesprochen. (S. Le Code du Mahäyäna en Chine S. 157 f.) —
Gleichfalls von Pelliot stammt eine Studie über zwei bud-
dhistische Sekten, die beide eine politische Tätigkeit ausgeübt
haben, und von denen die eine als berühmte Geheimgesellschaft
noch heute besteht: „La Secte du Lotus blanc et la Secte
du Nuage blanc" im Bull. Ec. fr. d'Extr. Or. Bd. III (1903)
S. 304—317 und Bd. IV (1904) S. 436—440. . Die Sekte des
„weißen Lotus", die öfters die Anstifterin politischer Umtriebe
gewesen ist und noch 1900 bei den „Boxer "-Wirren beteiligt
gewesen sein soll (vgl. Parker, China, her History, Diplomacy
and Commerce S. 291), wurde im Jahre 1133 gegründet, während
die Sekte der „Weißen Wolke" (so genannt nach einem bud-
dhistischen Kloster in der Nähe von Hangchou), die in der
Geschichte weniger hervorgetreten ist, bereits i. J. 1108 ent-
stand. Beide Sekten haben ihre Hauptwirksamkeit unter der
Sung- und Yuan - Dynastie (bis 1341) entfaltet. — Durch die
russischen und deutschen Ausgrabungen im Turfan-Gebiet von
Ost - Turkistän sind auch manche für die Geschichte des Bud-
dhismus wertvolle Denkmäler ans Licht gebracht worden. Schon
die von Klementz geleitete russische Expedition von 1898
brachte Schriftstücke in uigurischer (alt- türkischer) Sprache
mit, die von Radioff als Fragmente buddhistischer Werke er-
kannt wurden (vergl. Nachrichten über die von der Kaiserl.
Akad. d. Wiss. zu St. Petersburg i. J. 1898 ausgerüstete
Expedition nach Turfan Heft I S. 68 ff.). Das hierdurch dar-
getane Vorhandensein einer uigurischen buddhistischen Literatur
wurde bestätigt durch einen interessanten Fund, von dem
Berthold Laufer in einem Aufsatze, „Zur buddhistischen
Literatur der Uiguren", in der T^oung Pao Ser. II Bd. VIII
(1907) S. 391 — 409 Mitteilung macht. Laufer fand in einem
tibetischen Sütra ein Kolophon, wonach die chinesische Aus-
gabe dieses Sütras, das den Titel Pei-tou t^si sing king d. h.
„Sütra von dem Siebengestirn des Großen Bären" führt, i. J.
Die religionswissenBchaftliche Literatur über China seit 1900 141
1330 von Alin-Temur in das Uigurische übersetzt und in
tausend Exemplaren gedruckt wurde. Das Sütra sei von Hüan
Tsang aus Indien mitgebracht und in China übersetzt worden.
Es findet sich in Nanjio's Katalog des Tripitaka nicht auf-
geführt, scheint also nicht für kanonisch angesehen zu sein:
vielleicht ist es aber in den älteren Sammlungen der Ming
enthalten. Ein Verzeichnis der von Hüan Tsang mitgebrachten
657 Werke (vergl. Edkins, Chinese Buddhism S. 11 8 f.) besitzen
wir auch nicht, so daß sich also der Sanskrit -Titel vorläufig
nicht ermitteln läßt. Die von Radioff übersetzte Stelle eines
uigurischen buddhistischen Fragments findet sich in der tibe-
tischen Version des Sütras nicht. Inzwischen ist die von Laufer
ausgesprochene Hoffnung, daß bei der weiteren Forscherarbeit
in Turkistän der buddhistische Kanon oder wenigstens Teile
davon in uigurischer Sprache ans Licht kommen möchten,
ihrer Erfüllung näher gebracht worden. Die letzte Königl.
Preußische Turfan- Expedition hat eine Menge größerer uigu-
rischer Bruchstücke mitgebracht, und unter diesen hat F. W.
K. Müller die Teile eines anderen Sütras gefunden, die er in
einer Abhandlung, üigurica, in den Abhandig. d. Königl. Preuß.
Akad. d. Wiss. vom Jahre 1 908 S. 10—35 bekannt gibt. Es handelt
sich hier um das Suvarnaprabhäsa- sütra, und zwar um die von
I Tsing in das Chinesische übersetzt« Redaktion Suvarnaprabhä-
sottamaräja-sütra (Xanjio's Katalog Xr. 126; ich weiß nicht, woher
Müller den Titel Suvarna-prabhäsa-uttama- sütra indra-räja hat).
Ob auch diese uigurische Übersetzung nach dem chinesischen Text
angefertigt ist oder nach dem Sanskrit, wird sich erst dann
entscheiden lassen, wenn man das Datum der Übersetzung
kennt. Die von Laufer auf Grund einer Bemerkung Grün-
wedeis (Mythologie des Buddhismus S. «>6) wiederholte Angabe,
daß unter den Mönchen, die auf Befehl des Kaisers Kubilai
(13 Jahrh.) buddhistische Schriften übersetzten, auch solche
gewesen seien, die uigurisch verstanden, wird durch die chine-
sischen Historiker bestätigt. In den Yuan-Annalen (Yuan shi
Kap. 134 fol. 18r°) wird von dem Uiguren Ka-la-na-ta-sse er-
142 0. Franke
zählt, daß er auf Befehl des Kaisers Shi-tsu (Kubilai 1280 — 94)
zusammen mit dem buddhistischen Reichsprälaten (kuo-shi),
einem Tibeter, „indische und tibetische Sütras in uigurische
Schrift übertragen" mußte. Von einer anderen Übersetzung
wird aus dem 14. Jahrh. berichtet (Yuan shi Kap. 202
fol. 3v°). Ein sprachkundiger Mann aus Bishbalik, namens
Ka-le-wa-mi-ti-li, später Pi-lu-tsa-na-shi-li genannt, der seit
seiner Jugend das Uigurische und das Sanskrit verstand, erhielt
1312 oder 1313 den kaiserlichen Befehl, die Sanskrit- Sütras
zu übersetzen. Die Arbeit wurde während der Periode Yen-You
(1314 — 1320) beendet. Pi-lu-tsa-na-shi-li könnte mit dem
Prajnasri identisch sein, der in dem tibetischen Kolophon als
mongolischer Übersetzer erwähnt wird. (Vergl. auch Edkins,
Chinese Buddhism S. 149.) — Eine ebenfalls im Turfan-Gebiet
ausgegrabene große buddhistische Steininschrift ist von mir
übersetzt und erklärt worden in der Abhandlung „Eine chine-
sische Tempelinschrift aus Idikutsahri bei Turfan" in
dem Anhang zu den Abhandlungen der Königl. Preuß. Akad.
d. Wiss. vom Jahre 1907. Die Inschrift stammt aus dem
Jahre 469 und feiert den Ruhm des Maitreya Buddhn, und
eines türkischen Landesfürsten. Sie gibt ein gutes Bild davon,
wie sich die buddhistische Dogmatik jener Zeit in weitgehendem
Maße der Terminologie der Taoisten bediente.
Vom Lamaismus hat sein gründlichster Kenner, A. Grüu-
wedel, eine ausgezeichnete knappe, aber sehr klare Skizze in
der „Kultur der Gegenwart", Teill, Abt. IIl (1906), S. 136-161:
„Der Lamaismus", gegeben. Neben einem Abriß der Ge-
schichte Tibets, mit der die Entwicklung des Lamaismus vielfach
zusammenfällt, beschreibt Grünwedel mit wenigen Zügen das
Wesen dieses Religionsgemisches, „aus spätindischem Buddhis-
mus und einer überwiegenden Zutat von Mythologie, Mystizis-
mus und Magie", wie es von Padmasambhava und Säntiraksita
um die Mitte des 8. Jahrhunderts begründet und zur Bekämpfung
der älteren Bon- Religion in Tibet eingeführt wurde. Zum
Schluß erörtert er das Verhältnis zwischen Lamaismus und
Die religionswissenschaftliche Literatizr über China seit 1900 143
Europäertum. Eine grundlegende wissenschaftliche Arbeit hat
Grünwedel aber geliefert in seinem Werke: „Mythologie des
Buddhismus in Tibet und der Mongolei" (Leipzig 1900).
Das Buch beansprucht nur ein „Führer durch die lamaistische
Sammlung des Fürsten E. üchtomskij" zu sein, es ist aber in
Wirklichkeit weit mehr als das: an der Hand zahlreicher Ab-
bildungen, von denen nur ein Teil Stücke aus der genannten
Sammlung wiedergibt, führt der Verfasser seinen Leser durch
das ganze lamaistische Pantheon mit allen seinen phantastischen
Verzerrungen, und die ausführlichen Erklärungen bilden einen
wahren Thesaurus für das Studium der tibetischen Mythologie
und Ikonographie. (Vergl. die Besprechungen in der T^oung
Pao Ser. II Bd. I S. 349 ff., Journal China Brauch R. A. S.,
Bd. XXXin, Heft 3, S. 60ff und BuU. Ec. fr. d'Extr. Or.
Bd. I, S. 144 f.) — über die vorlamaistische Bon -Religion in
Tibet und Padmasambhava's Stellung dazu hat sich Berthold
Lauf er in zwei Arbeiten ausführlicher geäußert. In der einen,
„Über ein tibetisches Geschichtswerk der Bonpo" in der
T'oung Pao Ser. II Bd. II (1901), S. 24—44, behandelt er ein
tibetisches Werk, in dem der Ursprung der Bon- Religion, ihre
Dauer und Ausbreitung und ihr Verfall dargestellt werden.
Laufer gibt von dem einen Kapitel des Buches eine Über-
setzung, in dem die Kämpfe zwischen den altnationalen Parteien
und dem eindringenden Buddhismus in der Zeit von 740 — 786
geschildert werden. Eine Ergänzung hierzu bildet die andere
Arbeit: „DieBru-za-Sprache und die historische Stellung
des Padmasambhava" in der T'oung Pao Ser. II, Bd. IX
(1908), S. 1 — 46. Mit Bru-za identifiziert Laufer das heutige
Dardistän mit Giligit am oberen Indus. Die uns bis jetzt
noch verschlossene Bru-za -Sprache wird in der tibetischen
Literatur häufig erwähnt. Es hat auch vermutlich eine Bru-za-
Schrift und sicher eine Bru-za -Literatur gegeben; und zwar
sollen fast alle Schriften der Bon-Religion in diesem Alphabet
abgefaßt gewesen sein. Es scheint dies auf eine engere Be-
ziehung dieser Religion zu dem Lande Bru-za hinzudeuten,
144 0. Franke
zumal das letztere nach climesischen Quellen noch im 8. Jahrh.
unter tibetischer Herrschaft stand. Die Bon -Religion selbst,
sagt Laufer, ist keine tibetische, sondern eine fremde, die
auf persischer Grundlage ruht, mit allen möglichen fremden
Elementen vermischt in Dardistän entwickelt wurde und von
da zunächst in das westliche und schließlich in das zentrale
Tibet gelangte. Unmittelbar südwestlich an Gilgit nun schloß
sich das Land Udyäna, und hier begann die erste Wirksamkeit
des Padmasanibhava, der dann zur Bekämpfung der Bon -Reli-
gion nach Tibet berufen wurde. Auf Grund der Berichte der
tibetischen Königsannalen (rGyal-rabs) kommt Laufer zu dem
Ergebnis, daß die große Bedeutung, die Padmasambhava im
Laufe der Zeit im System des Lamaismus erhalten hat, erst
das Erzeugnis einer späteren Periode ist. Er habe den Ruf
eines gefürchteten Dämonenbezwingers gehabt und sei als
solcher populär geworden, das eigentliche fruchtbare geistige
Element aber sei ein anderer buddhistischer Lehrer gewesen,
der mit Padmasambhava gleichzeitig in Tibet gewirkt habe,
nämlich Säntiraksita. So sei dieser als der eigentliche Vater
des Lamaismus anzusehen, Padmasambhava aber habe nur zu
einer bestimmten Richtung darin den Anstoß gegeben, nämlich
zu dem formelhaften Zauberwesen und der Teufelaustreibung.
Mit chinesischer Volksreligion und Volkskunde im all-
gemeinen beschäftigen sich mehrere Arbeiten von verschiedenem
Werte. Frau E. T. Williams hat sich der dankenswerten
Aufgabe unterzogen, religiöse Volksschriften zu sammeln, von
denen sie einige in ihrem Aufsatze: „Some Populär Religious
Literature of the Chinese" im Journal China Brauch R. A. S.J
Bd. XXXIII (1900—1901), HeftI, S. 11 — 29 mitteilt. Die
Verfasserin hat festgestellt, daß diese Literatur in China außer-
ordentlich reichhaltig ist und sich beständig erneuert. SiSj
zeichnet sich aus durch eine große Duldsamkeit gegenüber allen]
herrschenden Religionssystemen im Reiche und bildet so einen
wohltuenden Gegensatz zu der eifernden Gehässigkeit, mit der
christliche Bekenntnisse sich befehden. Konfuzianische, taois-
Die religionswiflsenschaftliche Literatnr über China seit 1900 145
tische und buddhistische Elemente werden ohne Parteilichkeit
aufgenommen: wir finden die Lehren der Pietät vereinigt mit
den Mahnunoren zu freundlicher Geduld dem vorher bestimmen-
den Schicksal gegenüber und mit Lobpreisungen für die bud-
dhistische Kuan-yin, die Helferin in allen Nöten. Sehr viele
von den kleinen Schriften sind in poetischer Form gehalten,
wohl in der Annahme, daß die Yerse und Reime sich besser
dem Gedächtnis einprägen. Eine große Rolle spielt in dieser
Literatur auch der Küchen- oder Herd-Gott. Diesem chinesi-
schen Lar hat A. Xagel, .,Der chinesische Küchengott"
in diesem Archiv Bd. XI (1908), S. 23 — 43, einen besonderen
Aufsatz gewidmet, der allerdings zum großen Teil mit einer
älteren Arbeit De Groots übereinstimmt. (Vergl. De Groot,
Les fetes annuellement celebrees ä Emoui. Annales du Musee
Guimet Bd. XI— XII, S. 449 ff. und in diesem Archiv XII, S. 145.)
Der Ursprung des Küchengottes (im Chinesischen hat er die Be-
zeichnungen tsao-shefi, tsao-tcang oder tsac-kün) geht ztirück
in die mythische Vorzeit. Er ist der Gott des Herdfeuers, der
Schutzpatron des Hauses, aber auch der streuge Wächter über
die Sitten der Bewohner. Der Buddhismus hat sich dann
später seiner bemächtigt und seinen Kultus ausgeschmückt.
Nagel wie De Groot vergleicht seine religionsgeschichtliche Be-
deutung mit der des vedischen Agni. — Eine umfangreiche
Sammlung volkstümlicher Sagen, Legenden und Märchen gibt
der englische Missionar John Macgowan unter dem Titel
„Chinese Folk-lore" in einzelnen Abschnitten in der zu
Shanghai erscheinenden Zeitschrift: „The North -China Herald"
heraus. Es ist anzunehmen, daß das Werk später in Buchform
erscheinen wird. — Einen sehr wertvollen Beitrag zur Kennt-
nis des chinesischen Volkstums hat W. Grube geliefert durch
sein Werk „Zur Pekinger Volkskunde" (Veröffentlichungen
aus dem Königlichen Museum für Völkerkunde, Bd. VII,
Heft 1 — 4. Berlin 1901). Die Arbeit, der persönliche Studien
in Peking zugrunde liegen, gibt eine gründliche fachkundige
Darstellung der Gebräuche bei Geburten, Hochzeiten, Todes-
ArchiT f. Religionswissenschaft XIH JQ
146 0- Franke
fällen und Ahnenopfem, sowie der Jahresfeste und Volks-
belustigungen. Es ist eine bedauerliche Kurzsicbtigkeit der
Museums Verwaltung, dieses Werk zu einem Preise in den
Buchhandel zu geben, der eigentlich nur für Bibliotheken er-
schwinglich ist. Aus diesem Grunde hat es nicht annähernd
die Verbreitung gefunden, die es verdient. Angeregt durch
Grube's Werk, hat der Missionar Georg M. Stenz sich ähn-
lichen Studien in seinem Bezirke gewidmet und die Ergebnisse
in einer Schrift „Beiträge zur Volkskunde Süd-Shantungs"
(Veröffentlichungen des städtischen Museums für Völkerkunde
zu Leipzig, Heft I. Leipzig 1907) niedergelegt, die von
A. Conrady herausgegeben und mit einer Einleitung versehen
ist. Die Arbeit lehnt sich in ihrer Art und Einteilung an das
Werk von Grube an und sollte andere Missionare zur Nach-
ahmung anspornen. Beide Werke zeigen deutlich, wie fest
buddhistische und noch mehr taoistische Lehren und Bezeich-
nungen mit dem chinesischen Volkstum verwachsen sind. —
Etwas enger gefaßt ist der gleiche Gegenstand in der Ab-
handlung von Ernest Box, „Shanghai-Polk-lore" im Journ.
China Brauch R. A. S., Bd. XXXIV (1901—1902), S. 101—135.
Hier werden lediglich die religiösen Anschauungen und Ge-
bräuche geschildert, wie sie im Leben des Volkes, und zwar
in der Provinz Kiangsu, bei allen kleinen und großen Er-
eignissen sich geltend machen. — Lokale Totenbräuche be-
handelt Gilbert Walshe in einem Aufsatz „Some Chinese
Funeral Customs" in derselben Zeitschrift, Bd. XXX Vj
(1903—1904), S. 26—64. Hier handelt es sich um die Provii
Chekiang, namentlich die Präfekturen Ningpo und Shaohinj
Der Verfasser gibt eine genaue Beschreibung aller Riten un^
Bräuche von der Sterbestunde bis zum T'sing-ming-Tag€
d. h. bis zum Ende des ersten Jahres nach dem Tode. Aucl
hier zeigt sich deutlich, wie buddhistische und taoistische Voi
Stellungen durcheinander gehen, wie denn auch Priester beider"
Religionen vor und bei dem Begräbnis abwechselnd tätig sind.
Der oben erwähnte Dualismus der Seele tritt wieder in der
Die religionswiasenschaftliche Literatur über China seit 1900 147
Auffassung von dem Vorgang des Sterbens in die Erscheinung:
der Jnin steigt hinauf in den Äther, der po hinab in die Erde.
(Vergl. Grube, Pekinger Totenbräuche im Journal of the Peking
Oriental Society Bd. IV, S. 79 £f.) — Wie Walshe das Ende des
Lebens, so behandelt J. Dols den Anfang in „L'enfance chez
les Chinois de la province de Kan-sou" im „Anthropos"
Bd. III (1908), S. 761—770. Er schüdert die Gebräuche bei
und nach der Geburt, die Namengebung des Kindes und den
ersten Unterricht; daneben auch die von den Chinesen in Eansu
angewandten Mittel zur Verhinderung der Empfängnis, zur
Abtreibung und zur Fruchtbarmachung unfruchtbarer Frauen.
In demselben Bande der gleichen Zeitschrift S. 14 — 18 findet
sich eine kurze Notiz von A. Volpert über „Gräber und
Steinskulpturen der alten Chinesen" (mit Abbildungen),
die in Süd-Shantung aufgedeckt sind. Es handelt sich um
Steingräber oder vielmehr Steinkisten und um Grabkammem
von Zimmergröße, die aus der Zeit der Hau -Dynastie (206 v.
Chr. bis 220 n. Chr.) stammen soUen. Sehr bunten Inhalts,
aber arm an Neuem sind die beiden Bücher von Paul Carus,
„Chinese Life and Customs" und „Chinese Thought"
(beide Chicago 1907). Das erste ist eine Zusammenstellung von
chinesischen Bildern aus einem japanischen Werke mit mehr
oder weniger oberflächlichen und zum Teil mißverständlichen
Erklärungen. Das zweite enthält vermischte Angaben über
chinesische Schrift, Wahrsage kirnst, Astronomie u. a. und am
Schluß die unvermeidliche Erörterung der „chinesischen Frage".
Literatur dieser Art gibt es die Fülle über China, es war un-
nötig, sie zu vermehren. — Eine interessante kleine Studie
über die Miao-tse in der Provinz Kue'ichou, Ureinwohner im
südwestlichen China, hat Geo. Edgar Betts unter dem Titel
„Social Life of the Miao tsi" im Journal China Brauch ILA. S
Bd. XXXIII (1900—1901), Heft II, S. 1—21 veröffentlicht. Der
Verfasser, ein Missionar in Kueichou, behandelt hauptsächlich
die Sitten der Chung-kia, des zahlreichsten und anscheinend
zivilisiertesten Stammes der Miao-tse. Er erzählt von ihren
10*
148 0. Franke
Bräuchen bei Hochzeiten und Todesfällen, ihren Festlichkeiten,
ihrer Kleidung und ihrer Sprache. Die letztere scheint sehr
stark vom Chinesischen beeinflußt zu sein, so daß man zuweilen
nicht weiß, was in einem Satze ursprünglich ist. Eine eigene
Schrift haben die Miao-tse nicht; soweit sie schreiben können,
bedienen sie sich chinesischer Zeichen. Betts teilt auch mehrere
Gesänge in Übersetzung mit. — Aus einem chinesischen Be-
richte schöpft T'ang Tsai-fou seine Mitteilungen über „Le
mariage chez une tribu aborigene du sud-est du Yun-
nan^' in der T'oung Pao Ser. II Bd. VI (1905), S. 572—622. Er
gibt die Übersetzung einer chinesischen Abhandlung über die
Hochzeitsbräuche bei einem Stamme der Ho-ni im äußersten
Süden der Provinz Yünnan, die zu der großen Familie der
Thai -Völker gehören. Der Verfasser dieser Abhandlung, der
Neffe eines chinesischen Beamten in Yünnan, folgte i. J. 1660
seinem Oheim auf seinen entfernten Posten und heiratete
i. J. 1667 selbst die Tochter eines Häuptlings von einem der
Ho-ni -Stämme. Seine Erzählung kann daher auf Glaubwürdig-
keit besonderen Anspruch erheben; und da er sich nicht auf die
bloße Schilderung einer Hochzeit beschränkt, sondern auch
zahlreiche geschichtliche und ethnographische Angaben beifügt,
so ist das kleine Werk ein sehr wertvoller Beitrag zur Kennt-
nis jener Gebiete und ihrer nichtchinesischen Bewohner.
Über fremde Religionen im alten chinesischen Reiche sind
wenige, aber bedeutungsvolle Arbeiten erschienen. Die preußi-
schen Expeditionen nach Turfan unter Grünwedel und Le Coq
haben außer vielen anderen interessanten Dingen auch Frag-
mente der verloren geglaubten manichäischen Literatur zutage
gebracht. Daß die iranische Lehre des Mani in den Ländern
der üiguren ihre Vertreter hatte, war durch Nachrichten der
chinesischen Historiker bekannt (vergl. „Eine chinesische Tempel-
inschrift aus Idikutsahri bei Turfan" S. 34), aber über ihre
Schriftwerke ist erst durch die Entdeckungen F. W. K. Müllers
einiges Licht verbreitet worden, der unter den archäologischen
Funden von Turkistän die erwähnten Fragmente erkannte
Die religionswissenschafÜiche Literatur über China seit 1900 149
Seine Aufsehen erregenden Mitteilungen sind in den Berichten
der Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. in Berlin erschienen unter
dem Titel: „Handschriften-Reste in Estrangelo-Schrift
aus Turfan, Chinesisch-Turkistän" (Sitzungsberichte der
phüos.-hist. K\.. 1904, S. 348 — 352 und Anhang zu den Ab-
handlungen 1904). Die Sprache dieser Fragmente ist teils
türkisch, teils mittelpersiseh, die Schrift aber das sogenannte
Estrangelo, eine modifizierte syrische Schrift, die auf Man!
selbst zurückgeführt wird. Den von Müller veröffentlichten
Handschriften konnte A. von Le Coq ein neues Stück, und
zwar in uigurischer Schrift hinzufügen. In seiner Mitteilung
„Ein manichäisch-uigurisches Fragment aus Idiqut-
Schahri« (Sitzungsberichte 1908, S. 398—414) schreibt er
dieses Dokument der Zeit der Tang-Dynastie (618 — 905) zu.
Müller erwähnt Ln seinen VeröflFentlichungen auch einige un-
bedeutende Fragmente mit nestorianischer Schrift in syrischer
und türkischer Sprache. Das bestätigt die Annahme, daß die
Nestorianer schon in früher Zeit Gemeinden in Turkistän und
China gehabt haben müssen. Die Geschichte dieser alten, un-
gemein lebenskräftigen christlichen Sekte ist leider noch nicht
so durchforscht worden, wie sie es verdient. Ein Franzose,
Charles-Eudes Bonin, hat i. J. 1900 das nordwestliche
' liina zu dem Zwecke bereist, um die Spuren der Nestorianer
aufzusuchen, aber YeröfiFentlichungen über seine Erfolge sind
mir nicht bekannt geworden. Von Ning-hia in Kansu aus hat er
eine „Note sur les anciennes Chretientes Nestoriennes
de l'Asie Centrale" im Journ. As. Ser. IX Bd. XV (1900),
S. 584 — 592 geschrieben, in der er, in Anlehnung an Deverias
..Notes d'epigraphie mongole-chLnoise"(Joum.As. Ser.IXBd.VHI,
S. 94 ff. und 395 ff.), eine sehr klare Übersicht über die Ver-
breitung des Nestorianertums gibt. Im J. 1265 gab es in
Asien 25 und im J. 1349 26 nestorianische Erzbistümer,
darunter solche in Turkistän, Tangut (d. h. damals Ost -Tibet,
Kansu, Shensi und Ssechuan) und China. Offenbar war auch
Si-ngan fu, unter der Mongolen -Dynastie die Hauptstadt von
150 0. Franke
Tangut und Fundort der berühmten nestorianisclien Inschrift
von 781, Sitz eines Erzbischofs. Es scheint sich hiernach im
13. und 14. Jahrh. eine Kette von christlichen Gemeinden
von Baghdad durch Westturkistän, über Samarkand, Ferghana,
Kashgar, an den Rändern des Tarimbeckens entlang, durch
Kansu, Shensi und Shansi bis Peking gezogen zu haben. Die
Nestorianer sind für die geistige Entwicklung in Innerasien
von großer Bedeutung geworden: ihre syrische Schrift ist von
den uigurischen Türken angenommen und danach in veränder-
ter Form den Mongolen und Mandschus übermittelt worden.
Bonin vermutet auch, ob mit Recht, mag dahin gestellt bleiben,
daß Tsong-kha-pa bei seiner Reformation des Lamaismus im
Anfang des 15. Jahrhunderts, wenigstens im Ritual, von dem
Nestorianertum beeinflußt worden sei. — Die erwähnte große
nestorianische Inschrift von Si-ngan fu hat inzwischen eine
neue, sehr ausführliche Bearbeitung erfahren durch den Jesuiten
Henri Havret. Leider ist er vor der Vollendung seines
Werkes gestorben, so daß uns die Geschichte der Inschrift
nebst den reproduzierten Texten vollständig, die Erklärung da-
gegen nur zum Teil vorliegt. Das Ganze trägt den Titel „La
stele chretienne de Si-ngan-fou" und bildet die Nummern
7, 12 und 20 der „Variete's Sinologiques« (Shanghai 1895, 1897
xmd 1902). — Die oft erörterte Frage nach der Herkunft der
in K'ai-feng fu (Provinz Honan) vorhandenen Reste einer
jüdischen Gemeinde hat während der letzten Jahre ihre end-
gültige Erledigung gefunden. Die ältere Sinologie und zu
einem kleinen Teil auch die neuere (z. B. Cordier, Wieger u. a.)
nahm an, die Juden seien im 1. Jahrh. n. Chr. über Land nach
China gekommen, sei es nach der Zerstörung von Jerusalem
i, J. 70 n. Chr., oder infolge einer Vertreibung aus den
persischen Ländern. Eine noch ältere Lesart wollte sogar die
Einwanderung der Juden in die Zeit der Chou -Dynastie, in
das 4. oder 3. Jahrh. v. Chr. verlegen. Der ersteren Annahme
— 1. Jahrh. n. Chr. — schloß sich auch der Jesuit J^röme
Tobar an, in seinem sehr sorgfältigen Werke „Inscriptions
Die religionswissenschaftliche Literatur über CMna seit 1900 151
Juives deK'ai-Fong-Fou" Nr. 17 der „Varietes Sinologiques"
(Shanghai 1900), in dem er außer einer historischen Übersicht
über die ganze Frage eine genaue Übersetzung der Inschriften
von K'ai-feng fu mit chinesischem Text, Plänen der Synagoge
usw. gab. Tobar gründet seine Ansicht auf die eine von den
Inschriften vom Jahre 1512 und auf die mündliche Über-
lieferung der Juden selbst. Dieser bis dahin kaum bestrittenen
Ansicht trat P. Pelliot in seiner Besprechung des Tobarschen
Werkes in BuU. Ec. fr. d'Extr. Or. Bd. I, S. 263f. entgegen.
Er wies darauf hin, daß die älteste Inschrift, die von 1489, die
Einwanderung der Juden unter die Sung- Dynastie (960 — 1278)
verlegt, eine Ajigabe, die durch weitere geschichtliche Er-
wägungen sehr wahrscheinlich gemacht wird, während die
anderen Vermutungen durch keine einzige sonstige Quelle zu
stützen sind. Auch sei es willkürlich, anzunehmen, daß die
Einwanderung über Land stattgefunden habe, vielmehr weise
alles auf Indien hin als das Land der Herkunft und auf den
Seeweg über Süd -China als die Straße, auf der die Juden ge-
kommen seien. Unabhängig hiervon wurde dieselbe Ansicht
mit noch größerer Sicherheit von E. Chavannes in der
Revue de synthese historique Bd. I (1900) und später in der
Toung Pao Ser. II Bd. V, S. 482f. vertreten. Eine zusammen-*
fassende Arbeit lieferte dann B. Laufer: „Zur Geschichte
der chinesischen Juden" im Globus "Bd. LXXXVII (1905),
S. 245 — 247. Danach kann es keinem Zweifel mehr unter-
liegen, daß die Juden während der Sung- Dynastie, und zwar
wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 12. Jabrh., aus
Indien auf dem Seewege nach Nord -China gekommen sind.
Die Veranlassung zu dieser Einwanderung waren zunächst
Handelsgeschäfte, hauptsächlich mit BaumwoUstoflFen; später
mögen auch die Angriffe der Muhammedaner in Indien gegen
die Juden dazu beigetragen haben. Angelockt durch die großen
Handelsfahrten der Araber, schlössen sich die unternehmenden
Händler deren Zügen nach dem Osten an und gelangten so
zuerst nach Süd -China. Für das J. 878 wird hier bereits
152 0. Franke Die religionswissenschaftliclie Literatur über China seit 1900
die Anwesenlieit von Juden in einer arabischen Quelle bezeugt.
Allmählich drangen sie weiter über T'süan-chou fu (nicht weit
von Amoy in Fukien), Hangchou, Ningpo, wo in der 2. Hälfte
des 15. Jahrhunderts eine jüdische Kolonie bestand, vielleicht
auch Nanking nach K'ai-feng fu und selbst nach Peking vor.
Sie sind also später als die Christen und Muhammedaner in
China bekannt geworden. Bemerkenswert ist es, daß das Juden-
tum in China ganz von dem Einflüsse des Islam abhängig ge-
worden ist, in der Architektur seiner Bauten sowohl, wie auch
in der chinesischen Terminologie seiner Schriften. Es bildet
dies ein Seitenstück zu dem Verhältnis zwischen dem ein-
wandernden Buddhismus und dem älteren Taoismus im 4. und
5. Jahrh. — Wenn nach dem Gesagten Giles in seinem
Artikel „Moses" in den „Adversaria Sinica" Nr. 3 S. 55 — 57
(Shanghai 1906) doch wieder davon ausgeht, daß die Juden
i. J. 72 n. Chr. eine Kolonie in Honan gegründet hätten, und
wenn er an diese vermeintliche Tatsache die sehr gewagte
Hypothese knüpft, die Chinesen hätten schon um 300 n. Chr.
eine Kenntnis von der Legende über Moses gehabt, so ist dies
wohl nur durch seine Unbekanntschaft mit der vorhandenen
Literatur zu erklären.
III Mitteilungen und Hinweise
Diese verschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesern hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und be-
sonders neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke
und Nachweise oder auch anregender Fragen würde sich zwischen den
verschiedenen religionsgeschichtlichen Forschern hier u. E. entwickeln
können, wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung
widmen würden. Sog. Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig ent-
halten als sie „Berichte" enthalten soll.
Verbot des Knochenzerbrechens
(Nachtrag zu oben S. 84)
Wie die vergleichende Religionsforschung biblische Vorschriften
und Vorstellungen in eine neue Beleuchtung rückt, mag noch
folgendes zeigen: Vom Passahmahl betont das Gesetz zweimal das
Verbot, daß beim Genuß desselben kein Knochen zerbrochen werde
(Exodus 12, 46 u. Numeri 9, 12), und eine genügende Erklärung
dafür sucht man vergebens. Im vierten Evangelium, das hier
einer älteren Sckrift angehört, wird bekanntlich besonderer Wei-t
darauf gelegt, Jesus den Charakter des Passahlammes dadurch zu
verleihen, daß erzählt wird, man habe bei seinem Leichnam die
Beine nicht zerbrochen (Johannesevangelium 19, 33 — 36). Nun
erzählt uns Curtiß a. a. 0. 201, daß, wenn die Fellahim Palästinas
ein Erlösungsopfer für ein neugeborenes oder krankes Kind dar-
bringen, sie sich davor hüten, dem Tiere einen Knochen zu zer-
brechen, „damit nicht auch des Kindes Knochen brechen"!
Ebenso darf dem am Heiligtum des Ortsheiligen (TVeli) zum
Jahresfest dargebrachten einjäkrigen Schafbock kein Knochen
zerbrochen werden (S. 242 das.).
Dieselben Vorstellungen nun herrschten offenbar auch im alt-
deutschen oder indogermanischen Religionsleben vor, wie des aus-
führlichen in Mannhardts Germanischen Mythen S. 57 — 74 zu lesen.
Die Kinder durften von der vom wütenden Heer geschlachteten
Mastkuh mitessen, aber keinen Knochen zerbeißen, sonst wird
bei der Wiederbelebung die Kuh lahm. So darf der heilige
Garmon oder Germanus an dem ihm vorgesetzten Kalb keinen
Knochen zerbrechen, damit er es für seinen Wirt wieder beleben
154 Mitteilungen und Hinweise
kann. Ebenso dürfen an den Böcken Thors in der nordischen
Sage die Schenkelbeine nicht zerbrochen werden, sonst werden sie
bei der Wiederbelebung lahm. Ob nicht bereits dem neutestament-
lichen Bericht von den unverletzten Knochen des Leichnams Jesu
die Idee der Wiederauferstehung in unversehrter Gestalt zugrunde
liegt? Wahrscheinlich geht die Sage von dem wiederbelebten
kostbaren Pferde, das ein allzu freigebiger Gastwirt seinem Gast
zum Essen vorgesetzt hat (siehe Gervasius Otia Imperialia, heraus-
gegeben von Liebrecht, S. 47, vgl. Anmerkung 70, S. 158) und
die Sage von Abu Hatim bei Dunlop, S 519, auf morgen-
ländischen Ursprung zurück, wie ja bereits im Testament Abrahams,
das dem ersten christlichen Jahrhundert angehört, von der Wieder
belebung des von Abraham den Engeln vorgesetzten Kalbes die
Rede ist (siehe meinen Artikel in Jewish Quarterly Review V 584).
Wie die an Virgil den Zauberer, an Maimonides und an Theophrastus
anknüpfenden Wiederbelebungslegenden auf persische Sagenkreise
zurückweisen, soll in einem späteren Artikel auseinandergesetzt werden.
Cincinnati K. Kohler
Nachtrag zu Archiv XIII S. 102 Anm. 5: Die beiden
Mutternamen stimmen merkwürdigerweise mit dem Vatersnamen
der beiden Gründer des zweiten Tempels überein: Zerubabel ben
Sealthiel und Jesua ben Jozadak. Dies Zusammentreffen kann
nicht zufällig sein, sondern setzt gewisse theologische Spekulationen
voraus. Der im zehnten Jahrhundert lebende, sehr gut informierte
karäische Schriftsteller Qirqisäni berichtet (ed. Harkavy, Petersburg
1894, p. 306 oben), daß die Christen behaupten, „daß der Tempel,
dessen Wiederaufbau die Propheten verkündeten und Ezekiel voraus-
sah, derselbe ist, den Zerubabel baute. Es gibt keinen anderen."
Dieselbe Ansicht teilt er (p. 319 Z. 5) im Namen der Karäer
Mediens und Chorasans mit, indem er hinzufügt, daß nach deren
Meinung „der verspi'ochene Messias bereits gekommen und in
Wirklichkeit getreten ist". Mit anderen Worten, es gab eine
Ansicht, die von Christen ausgesprochen oder geteilt wurde, daß
der zweite Tempel die Erfüllung der messianischen Weissagungen
bedeutete und die Zerubabel eine messianische Rolle zuweist.
Malkisedek wurde wohl mit Zerubabel als Messias oder Jesua als
Hohepriester in Verbindung gebracht.
New York J. Friedländer
Zu Archiv XII 46 ff.: Zu der verdienstlichen Materialien-
sammlung von Hellwig über mystische Meineidszeremonien
sei es gestattet, einige Nachträge zu liefern. Bei den oberschlesi-
Mitteiluugen und Hinweise 155
sehen und posenschen Juden werden, wie ich von einigen von
dort stammenden Zöglingen unseres Predigerseminars höre, um das
Zustandekommen des Eides überhaupt zu verhindern, die Sehwur-
finger entweder mit Lehm oder einer sonstigen Masse bestrichen
oder man schneidet sich in einen oder mehrere der Schwurfinger
und überklebt diese dann mit Heftpflaster. Dadurch soll die Be-
rührung der Schwurfinger mit der Thora, auf die der schwörende
Jude bekanntlich die Hand legt, verhindert werden. Anderseits
wird mir von einem Fall in Posen erzählt, wo ein meineids-
verdächtiger Jude ohne weiteres sich bereit erklärte, die Schwurfinger
auf die infolge zahlloser Fingerabdrücke mit Schmutz bedeckte
betreffende Thorastelle zu legen, aber sofort zurückschreckte, als
ihm der Richter auf den Rat des Rabbiners ein sauberes Exemplar
der Thora zvur Ableistung des Schwures vorlegte. Hier scheint man
also bestrebt, das durch die Berührung zwischen Schwurfingem und
Thora bedingte Zustandekommen des Eides überhaupt zu verhindern.
In Posen soll der Glaube herrschen, man könne ruhig einen Mein-
eid schwören, wenn man während des Schwures mit der linken
Hand etwa einen Rockknopf festhalte und an diesen ausschließ-
lich denke. In Posen, wie im Rheinland, soll der Schwörende
sich auch einen Stein in die Tasche stecken. Wenn er an diesen
während der Eidesleistung denkt, so kann er ruhig etwas Un-
wahres beschwören. Ob hier der Knopf oder Stein als „Sünden-
bock" gedacht ist, scheint mir zweifelhaft. Ich möchte eher glauben,
daß durch das intensive Ablenken der Gedanken von der
Gottheit das Zustandekommen eines rituellen Eides überhaupt
verhindert werden soll. Bekanntlich lesen wir in den Evangelien,
daß die Juden zur Zeit Christi einen Eid bei dem Brandopferaltar
oder Tempel als ungültig, dagegen bei dem, was auf dem Altar
liegt oder bei dem Golde des Tempels als gültig betrachteten
(Matth. 23, 16 ff). Auch das Schwören bei Jerusalem, bei dem
Himmel, bei dem eigenen Haupte liigt der Heiland doch gewiß nur
deshalb, weil bei solchen Schiivüren nur ein Scheineid herauskommen
konnte. — Im Schwarzwald herrscht der Glaube, daß die
Schwurfinger eines Meineidigen bei lebendigem Leibe ver-
faulen oder doch vor dem Tode schwarz werden. Auch findet der
Meineidige nach dem Tode keine Ruhe. Letztere Sage findet
sich auch in Angeln (in Schleswig): Ein Ritter, der mit Laub von
seinen eigenen Bäumen unter seiner Kopfbedeckung und mit Erde
von seinem eigenen Felde in den Schuhen auf einem strittigen
Stück Land stehend geschworen hatte, er stehe auf seiner eigenen
Erde unter dem Schatten seiner eigenen Bäume und dadurch das
Land widerrechtlich an sich brachte, soll noch jetzt in Gestalt
eines schwarzen Pudels auf einem zu dem betreffenden Felde hin-
führenden Stege jede Xacht um die Geisterstunde sitzen.
156 Mitteilungen und Hinweise
Zum Schluß noch eine Bemerkung! Zur Zeit meiner Kindheit
wollte man in meiner Heimatprovinz (Holstein) nichts von Eiden
wissen und betrachtete jeden, der überhaupt einen Eid geschworen
hatte, als sozusagen gebrandmarkt. Unsere Gesetzgeber sollten mit
solcher Abneigung des Volkes gegen den Eid rechnen und
ihn nicht durch übermäßige Vermehrung zu einer alltäglichen Kleinig-
keit machen, die man en bagatelle behandelt. Ich glaube, die Zahl
der Meineide würde dann ganz beträchtlich zusammenschwinden.
Krepp (Schleswig) H. Stocks
Zu Archiv XII 577 f.: M. P. Nilsson bemerkt, ich habe
in meiner Dissertation (Die kultische Keuschheit im Altertum,
Heidelberg 1908) S. 40 f. zum Beweise für die Behauptung, daß
der erste Beischlaf als besonders gefährlich gelte, u. a. die Tobias-
nächte angeführt. Aus Troels Lund Bd XI ^ S. 220 ff. ist nach
Nilsson-^ ersichtlich, daß die Sitte der Enthaltung in den ersten
Tagen der Ehe in die germanischen Länder von der Kirche
eingeführt worden ist, die altgermanische Ehe aber gerade durch
das Beilager rechtlich vollzogen wurde. Daraus schließt Nilsson:
„Die Sache liegt also für die nordischen und germanischen Völker
anders als Fehrle will."
Ich will nur erweisen, daß der Beischlaf, weil mit dämonischen
Wirkungen verknüpft, für verunreinigend gilt und besonders der
erste Beischlaf. Dieser Verunreinigung, d. h. diesem gefährlichen
Zusammentreffen mit dämonischen Mächten, sucht man durch ver-
schiedene Mittel zu entgehen: entweder verschiebt man wie in
den Tobiasnächten den Akt der geschlechtlichen Vereinigung und
führt somit die Dämonen irre, „indem man ihnen Unterlassung der
Ehevollziehung vorspiegelt" (H. Oldenberg, Die Religion des Veda,
Berl. 1894, S. 271 u. 464f.), oder Braut und Bräutigam müssen
die erste Nacht wachend mit Erzählungen hinbringen (ebenda
S. 411), oder sie dürfen nicht in das Ehebett, wo die Dämonen
sie erwarten, sondern müssen am Boden schlafen^, oder die bösen
Dämonen müssen aus dem Ehebett und der Brautkammer ver-
• Ich selbst habe Troels Lunds Werk nicht einsehen können.
* So erklärt Oldenberg die Sitte \S. 411, 417, 590). Man könnte
bei der Vorschrift, daß Braut und Bräutigam in den ersten Tagen der
Ehe am Boden schlafen müssen, zunächst auch an einen Ritus der
Fruchtbarkeit denken (vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte I S. 480 ff.;
A. Dieterich, Mutter Erde S. 97) und sich daran erinnern, daß durch
das Beilager auf der Erde die Ehe fruchtbar werden solle; doch wenn
man die parallelen Fälle betrachtet, die Oldenberg anführt, wird man
seine oben erwähnte Deutung billigen. Vgl. besonders auch die zahl-
reichen Belege bei L. v. Schröder, Hochzeitsbräuche der Esten und einiger
anderer finnisch-ugrischer Völkerschaften in Vergleichung mit denen
der indogermanischen Völker (Berlin 1888) S. 176 ff.
Mitteilungen und Hinweise 157
trieben und Bett und Kammer gesegnet werden, wie bei der christ-
lichen Brautbettbenediktion (s. unten), oder man vertreibt die
Dämonen durch Lärmen, daher die Sitte des Polterabends (s. meine
Diss. S. 41, 1), oder Braut und Bräutigam wechseln die Kleider,
damit die Dämonen die Braut nicht kennen, oder die Braut
hängt einen Bart um (ebenda) usw.
Daß die Sitte, die Dämonen zu vertreiben, bei den Germanen
existiert hat und in irgendeiner Form ausgeübt worden ist, scheint
mir sicher \ ist aber hier nicht von Belang. Aber daß „die nordischen
und germanischen Völker" gerade diese eine Art des Schutzes
gegen Dämonen, die sog. Tobiasnächte vor dem Eindringen der
katholischen Kirche schon gekannt hätten, will ich in meiner Diss.
weder beweisen noch bestreiten." Das ist für mich hier gleich-
gültig. Es kommt mir bei meinen Austührungen nicht darauf an,
ob die Germanen diese Sitte seit alter Zeit gekannt oder aus einem
anderen Anschauungskreise übernommen haben, sondern ich will —
und so ist überhaupt der erste Teil meiner Arbeit über die kultische
Keuschheit angelegt — nur zeigen, daß solche Anschauungen bei
den verschiedensten Völkern und zu den verschiedensten Zeiten in
Geltung waren, und habe deshalb absichtlich neben Naturvölkern
Juden und Christen angeführt, daß die Sitte germanisch sei aber
mit keinem Worte erwähnt.
Weiter bemerkt Nilsson, diese Sitte der Römerkirche biete
gegen jene Gefahr keinen Schutz. Aber ziemlich allgemein ist
anerkannt, daß die Tobiasnächte ein Schutz gegen die Gefahr des
ersten Beilagers sein sollen. Und wer das Material übei-sieht, wird
dies kaum mehr bestreiten.^
^ Vgl. Schröder a.a.O. S. 57 fF. ,,Da8 Verleugnen und Verstecken
der Braut, Verschließen und Verrammeln des Brauthauses u. dgl. m."
Es ist schon gelegentlich betont worden, daß Schröder mit Unrecht all
diese Bräuche auf Raubehe zurückführe , manche erklären sich eher aus
der Furcht vor den drohenden Dämonen; S. 72 ff : Verhüllen der Braut;
S. 166 ff. : man nimmt einen Degen mit ins Bett als Schutzwehr gegen
die bösen Dämonen; S. 192ff. : Enthaltungen.
* Da die Germanen die Dämonengefahr kannten, wäre es möglich,
daß die christliche Kirche die Sitte bei den Germanen angetroffen und
in ihr Machtbereich gezogen und, weil sie für die Tendenz der Kirche
paßte, gefördert habe. Damit ist nicht gesagt, daß sie vorher überall
bei den Germanen verbreitet war. Vgl. SchwaUy, Aegyptiaca in den
Orientalischen Studien Th. Nöldeke gewidmet S. 419 A.
* Ich verweise neben den in meiner Diss. S. 40 f. angeführten Belegen
noch auf A. H Post, Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz S 41,
der viel Literatur über solche Enthaltungen bei Völkern der ganzen
Erde zusammenstellt, dann auf K. Schmidt lus primae noctis Freiburg
i. B.) S. 148 ff., Wintemitz, Das altindische Hochzeitsritnell, Denkschriften
der Kaiserlichen Akademie, Philos histor. Classe, 40. Bd. iWien 1892)
S. 87 ff, Schwally, Or. Stud. f. Nöldeke S. 418 ff. Schwallys Sem. Kriegs-
altertümer, die Nüsson erwähnt, hatte ich schon in der Dissertation S. 40, 2
angeführt.
J58 Mitteilungen und Hinweise
Es sei hier erwähnt, daß die Kirche noch einen weiteren
Schutz gegen die Gefahr des ersten Beischlafes bietet durch die
Brautbettbenediktion. Diese ist keineswegs nur eine Bene-
dictio thalami. Wie fast immer vor Einweihungs- oder Segens-
riten werden auch hier zuerst die bösen Dämonen vertrieben und
damit das ^laö^a beseitigt, das die guten Geister fernhalten oder
dem religiösen Akt schaden könnte. Dies ist deutlich aus den nach
dem Augsburger Diözesanritus bei der Brautbettbenediktion gebrauchten
Worten^: Omnipotens aeterne Deus, . . . quaesumus, nt Jiaec indu-
menta^ pro tui nominis lionore purificare et ienedicere digneris . . .
Da quoque, Domine, ut famuU tui, qui haec vestimenta portaverint,
coelestis gratiae plenitudinem et tuae protectionis munimen mereantur
accipere: atque ah omnibus inimicorum insidiis incolumes permaneani.
Nach einem Straßburger Ritual vom Jahre 1742 (abgedruckt
bei Schmidt lus primae noctis S. 147 Anm. 4) besprengte der Priester
die Brautleute und das Ehegemach mit Weihwasser und sagte u. a.:
Visita . . . Domine, hdbitationem istam et omnes insidias ab ea
lange repelle.
Nach Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben II S. 401 (Nr. 349)
wurde in Konstanz die Brautbettbenediktion folgendermaßen vor-
genommen: „Wenn man sich verehelichte und das Ehebette zurecht
machte, so ließ man den Herrn Pfarrer oder einen Mönch zu sich
bitten, dasselbe einzusegnen, welche Handlung meistens abends
vorgenommen wurde. Man zündete zwei Lichter an, der Geistliche
legte seine Stola um und betete aus einem lateinischen Buche.
Hierauf nahm er das Weihwasser, und segnete das Bett ein, wo-
durch die Teufel, Hexen und Schrättle (Alp) verhindert wurden,
den Eheleuten schaden zu können."
Auf Nilssons anderen Hinweis, der die Pythia betrifft, will ich
jetzt nicht näher eingehen, weil ich im zweiten Teil meiner
„kultischen Keuschheit" ausführlich darüber zu sprechen habe,
sondern nur kurz folgendes bemerken: Ob das yaa^a in Delphi
vorhanden war oder nicht, ist für meinen Beweis gleichgültig; es
kommt mir nur darauf an, daß der Glaube an die aus einem
Erdspalt aufsteigenden Dämpfe existiert hat oder sogar nur darauf,
daß man die Begeisterung der Pythia als Liebesverkehr mit Apollon
auffaßte. Daß dies der Fall war, konnte Nilsson schon aus dem
von mir S. 7 f. angeführten Beleg ti£qI vipovg 1 3,2 ersehen. Denn
diese Stelle kann man nicht als „boshafte Auslegungen der christ-
lichen Schriftsteller" erklären.
Heidelberg Eugen Fehrle
^ Der Katholik, Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirch-
liches Leben (1903, 2) N. F. 28. Bd S. 81.
* Gemeint sind die Kleider des Brautpaares, die im Schlafzimmer
auf die Betten gelegt sind.
Mitteilungen und Hinweise 159
Zum Sarkophag von Hagia Triada (Archiv XII I6lff,):
Das Leidener Museum bewahrt eine dem Flötenspieler von Taf. 2
in der Haltung ganz analoge kretische Bronzefignr. Sie ist bis
zu den Knien erhalten, etwa 12 cm hoch und stellt einen mit
dem bekannten kretischen Schurze bekleideten Jüngling dar, dessen
Kopf ein petasosartiger Hut bedeckt. Die Beugung der Arme ist
genau die gleiche wie bei der Figur des Sarkophags, nur daß die
Unterarme ganz parallel nebeneinander liegen. Flöten sind keine
mehr vorhanden. Dieser Umstand, sowie die starke Ausbeugung
des Überkörpers nach hinten gab wohl den Anlaß, die Figur in
Leiden als „Wagenlenker" zu bezeichnen, der sein Gespann zu-
sammenreißt.* Wissenschaftlich publiziert ist die Figur noch nicht,
eine ungenügende Abbildung findet sich im „ Führer durch das
Reichsmuseum für Altertümer zu Leiden", Leiden 1908 S. 7 Abb. 4.
Diese aus Kreta stammende Bronze hat also mit der anderen bis-
her bekannt gewordenen, der Berliner Klagefrau (mit der unser
Flötenspieler in der Größe zusammengeht) das sepulchrale Motiv
gemein.
Die kleinere Bildung des Toten auf Taf. 3 läßt vielleicht
noch eine andere Erklärung zu, als die von Duhn gegeben hat.
Durch die angezogenen Knie des Hockers ergäbe sich eine ziemlich
starke Verbreiterung des Unterkörpers in der Profilansicht, die
kaum vorhanden gewesen sein kann, da der vordere Gewandrand
gradlinig und fast genau senkrecht verläuft Dagegen ließe sich
diese Gewandbildung und die kleinere Gestalt vereinigen mit der
Darstellung eines aus der Erde emportauchenden Toten, der erst
zum größeren Teil sichtbar geworden ist und nur auf diese Weise
von den Lebenden im Gemälde unterschieden werden konnte.
OfiFenbach Ad. Abt
Vampirglauben in Bulgarien
In seinen ausgezeichneten „Slavischen Volksforschungen"
1 Leipzig 1908) handelt Fr. Krauß auch über den Vampir
(S. 124 fg.). Wir gestatten uns hier eine interessante bulgarische
Parallele mitzuteilen. Im Dorfe Kestric (Bezirk von Varna) hat
bis zum Jahre 1885 folgender Brauch bestanden: Bei dem Tode
eines nicht einheimischen Dorfbewohners, der kein eigenes Haus
besessen hat, wird sein Leichnam mit neuen Kleidern angetan
und in einem Zimmer bei der Kirche zur Übernachtung unter-
gebracht. Am folgenden Tage wird er zum Begräbnis hinaus-
getragen; nachdem man den Leichnam ins Grab heruntergelassen
' Vgl. dazu die ganz andere Ajmhaltung der zügelnden Wagen-
lenker auf Taf. 4.
160 Mitteilungen und Hinweise
hat, bevor man ihn mit der Sargdecke zugedeckt hat, zieht einer
von den Anwesenden ein altes Messer aus seiner Tasche heraus und
sticht dasselbe in den Hals des Toten an der linken Seite hinein.^
Dieser Brauch wurde von den Dörflern selbst folgendermaßen
erklärt: da der Verstorbene, als nicht Einheimischer, niemanden
hatte, der bei seiner Leiche während der Nacht Wache hielte,
so wäre man nicht sicher, ob nicht etwa eine Katze über den
unbewachten Leichnam geschritten wäre^; darum muß man den
Verstorbenen zum zweitenmal töten, sonst verwandele sich seine
Seele in einen Vampir, der alle vierfüßigen Tiere des Dorfes durch
Aussaugen des Blutes tötet und darauf auch die Kinder angreift. —
Es ist noch hinzuzufügen, daß vor der Durchstechung des Halses
der Tote mit einem Gurt von wilden Dornrosen umgürtet wurde,
wodurch seine Erhebung aus dem Grabe unmöglich gemacht wird.
(Nach Mitteilung des Popen Antonov, in den Mitteilungen der
archäol, Gesellsch. in Varna, II 1909, 74).
Sofia Gawril Kazarow
Zu Archiv XII 579: Der "^Lörracher Segen' gegen das Bett-
zaierle ist auch von mir veröffentlicht (in etwas anderer Fassung
aber gleichfalls aus Lörrach) im Schweizer Archiv für Volks-
kunde XIII 151.
Basel B. Hoffmann - Krayer
Zu Archiv XII 579: Zum ^Bettzaierle' ist mein Krankheits-
namenbuch S. 844 heranzuziehen; außerdem Straßburger Post
24. IX. 1905.
Tölz • M. Höfler
^ Vgl. Krauß, a.a.O. 139: „Einige behaupteten in meiner Gegen-
wart, man dürfe den Vampir auch mit einem Messer durchstechen, mit
dem man noch nie ein Brot geschnitten."
* Vielerorts in Bulgarien glaubt man, daß der Verstorbene sich in
einen Vampir verwandelt, wenn eine Katze liber seinen Leichnam geschritten
ist; um das zu verhüten, hält man strenge Wache bei der Leiche.
[Abgeschlossen am 9. Dezember 1909.]
I Abhandlungen
Alexanders Zug nach dem LebensqueU
und die Chadhirlegende
Von L Friedlaender in New York
I
Fseudokallisthenes
Die Legende von Alexanders Zug nach dem Lebensquell
findet sich zuerst in jenem Werke, aus dem die Aleiander-
dichtung aller Zeiten und Länder geschöpft hat, in dem so-
genannten Fseudokallisthenes.^ Dieses Werk, dessen Anfange
in die Ptoleraäerperiode hinaufreichen* und das in der uns
überkommenen Gestalt das Produkt eines langsamen literarischen
Prozesses bildet, ist uns in drei Hauptrezensionen überliefert,
die durch verschiedene Handschriftentypen repräsentiert sind.'
Die für uns erreichbar älteste* Redaktion des Romans liefft
in der sogenannten Rezension a vor, die spätestens um
* Herausgegeben von Carl Müller als Anhang zu Dübners Ausgabe
Fon Arrian, Paris 1846. Müllers Text geht auf drei Pariser Kodizes
zurück, die von ihm Ä, B und C genannt werden. Diese Eodizes
repräsentieren drei verschiedene Rezensionen, die mit A', B' und C
oder besser mit a, ß und y bezeichnet werden. Über die ungemein
komplizierten literarkritischen Probleme des Pseudokallisthenes , die im
Texte nur gestreift werden konnten, siehe Müller in der Einleitung zu
seiner Ausgabe, p. XV ff.; Zacher Psettdo-Callisthenes Halle 1867, p. 5 ff.,
102 ff.; Rohde Der griechische Boman und seine Vorläufer Leipzig 1876,
p. 184 ff.; Kampers Alexander der Große und die Idee des Weltimperiums
in Propheti« und Sage Freiburg i. Br. 1901, p. 55 ff. und 184 ff.; Ausfeld
Der griechische Alexanderroman Leipzig 1907, p. 8 ff.
* Rohde a. a. 0. p. 184, Anm. 1. ' S. oben Anm. 1.
* Vgl. Rohde p. 185, Anm. 2.
Archiv f. Keligionswissenschaft XHI jj
162 I- Friedlaender
300 n. Chr. abgeschlossen war.^ Die Rezension ß ist eine
etwas jüngere Fassung, „welche aus jener älteren großenteils
durch eine mit bestimmter Absicht ausgeführte Revision her-
vorging"^ und dieselbe „teils durch selbsterfundene Züge, teils
aus anderen Quellen"^ ergänzte. Die Rezension y ist nach
dem Urteile Zachers* „eine ungeschickte, kritik- und geschmack-
lose Erweiterung von ß. Einzelnes wurde zu vermeinter Ver-
schönerung durch bloßen Aufputz angeschwellt, vieles aus ver-
schiedenen Quellen, wie sie gerade der Zufall darbot, zu ver-
meinter Vervollständigung eingeschaltet, namentlich in Be-
ziehung auf die wunderbaren Erlebnisse und Begegnisse
Alexanders im fernen Osten." Es muß jedoch energisch be-
tont werden, daß die Rezensionen ß und y, wenn auch jünger
als cc, so doch gelegentlich ältere Materialien benutzen und
daher auch „ältere Sagen und ältere Textüberlieferungen ent-
halten können".^ Für unsere Zwecke endlich müssen wir
noch der Leidener Handschrift^ gedenken, die im allgemeinen
ß folgt, aber mehrfach auch mit y zusammengeht.
Die Episode vom Lebensquell findet sich in Alexanders
Brief an seine Mutter Olympias, der in Müllers Ausgabe
Kapitel 23 — 42 des zweiten Buches umfaßt.^ Dieser Brief
findet sich in a überhaupt nicht, ß bietet ihn in kürzerer, y
in bedeutend ausführlicherer Gestalt. In der letzteren Re-
zension ist überdies die Briefform in die Erzählungsform auf-
gelöst. Kodex L geht auch in diesem Teile des Werkes im
allgemeinen mit ß zusammen. Allein an mehreren Stellen,
^ Ibidem Anm. 1 und Ausfeld a. a. 0. p. 10, Anm. 2.
* Zacher a. a. 0. p. 12.
» Ausfeld p. 16. * a. a. 0. p. 13.
^ Wilhelm Kroll bei Kampers a. a. 0. p. 58.
* Herausgegeben von Heinrich Meusel, Leipzig 1871 (Sonderabdruck
aus dem 6. Supplementband der Jahrbücher für klassische Philologie).
Über die Handschrift selber siehe die Einleitung des Herausgebers. Ich
bezeichne die Handschrift im folgenden mit L.
' Vgl. über die Komposition dieses Briefes Rohde a. a. 0. p. 189.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 163
die für unseren Gegenstand von grundlegender Bedeutung sind,
stimmt er mit y überein und weist mehrfach sehr altertüm-
liche Züge auf.^
Ich gebe im folgenden eine kurze Übersicht über den
Inhalt des Briefes, wie er sich in den verschiedenen Rezen-
sionen darstellt.^ Die in demselben enthaltene Episode vom
Lebensquell gebe ich, soweit es für unseren Gegenstand not-
wendig erscheint, in wortlicher Übersetzung wieder.' Ich lege
die im Kodex C niedergelegte y-Rezension, die bei weitem die
ausführlichste ist, zugrunde, merke jedoch die Abweichungen
der anderen Rezensionen an Ort und SteUe an. Um späteres
Zitieren in dieser Abhandlung zu erleichtern, teile ich den
folgenden Auszug in Paragraphen ein. In den Anmerkungen
deute ich die mannigfachen inhaltlichen und literarkritischen
Schwierigkeiten dieses außerordentlich komplizierten Stückes an.
§ 1. Der Brief, der an Alexanders Mutter Olympias und
seinen Lehrer Aristoteles* adressiert ist, beginnt (Kapitel 23)
mit der Mitteilung von Alexanders Sieg über Darius. C fügt
noch die Nachricht über seine Heirat mit Roxane hinzu, ver-
läßt sodann plötzlich, ohne Schlußformel, die Briefform und
setzt den Bericht in der dritten Person fort. 5 und L da-
gegen behalten die Briefform im Verlaufe des ganzen Ab-
schnittes bei.
' Müllers Ausgabe folgt in diesem Teile des Werkes dem Kodex C.
Den Text des Olympiasbriefes nach B samt französischer Übersetzung
bietet Berger de Xivrey Traditians Teratologiques Paris 1836, p. 350ff.
Eine kritische Übersetzung und Rekonstruktion dieses Abschnittes
nach ß bietet Ausfeld a. a. 0. p. 80flF.
* Eine Analyse dieses Abschnittes findet man bei Zacher a. a. 0.
p. 132 ff. Für unsere Zwecke jedoch ist sie durchaus unzureichend.
' Ich lege die Übersetzung von Weismann Alexander, Gedicht des
12. Jahrhunderts vom Pfaffen Lamprecht Band II, Frankfurt a. M. 1850,
zugrunde, folge ihr jedoch nicht im einzelnen, da sie keineswegs frei
von Irrtümern ist.
* C läßt Aristoteles aus, vgl. Müllers Ausgabe Kap. 23, Anm. 1.
11*
164 I- Friedlaender
§ 2. Die folgenden acht Kapitel (24— 31) finden sich nur in C
Kap. 24 handelt von Alexanders Zug nach Judäa, Kapp.
25 — 28 von seinen Erlebnissen in Ägypten.
§ 3. Nachdem^ Alexander die gesamte bewohnte Erde
erobert, will er in die unbewohnte ziehen. Er begibt sich mit
seiner Armee, die sich auf seinen Befehl auf sechs Monate
hinaus verproviantiert, auf den Weg. Während des Zuges
stoßen sie auf allerlei Ungeheuer, die ihnen viel zu schafi'en
machen (Kap. 29).
§ 4. Alexander gelangt an einen Sandstrom, der drei
Tage von Wasser und drei Tage von Sand fließt. Derselbe
wird vermittelst steinbeladener Holzkästen überschritten (Kap. 30).
§ 5. Jenseits des Stromes findet er eine andere Welt.^
Die Menschen sind nicht mehr als anderthalb Ellen groß. Sie
werden wegen ihrer winzigen Gestalt in Frieden gelassen.
§ 6. Vorwärtsschreitend findet Alexander eine Inschrift
des Königs Sesonchosis, die verkündet, daß dieser Herrscher
hier umkehren mußte, weil er nicht weiter vordringen konnte.
Alexander verhüllt die Inschrift und zieht weiter (Kap. 31).
§ 7. Die folgenden zwei Kapitel (32 — 33) finden sich
auch in B und L.
Nachdem^ Alexander mehrere Wegweiser^ in Dienst ge-
nommen hatte, wollte er in die entfernteren Teile der Wüste'
nordwärts^ ziehen.
' Man hat entschieden den Eindruck, daß mit Kap. 29 eine neue
Quelle beginnt.
* Unten dagegen (§ 16) findet Alexander die andere Welt nach
Überschreitung der Schlucht.
' Hier scheint wiederum eine neue Quelle vorzuliegen.
* jcXsiovag odriyovg, L einfach odrjyovj, B tovg TiXslovag öd/jyovf.
Der Artikel zeigt, daß der Brief fragmentarisch ist.
* Der armenische Pseudokallisthenes, ebenso die Version des
Josippon, die mit jenem hälfig zusammengeht, fügen hinzu: der Moder,
siehe Ausfeld p. 81 zur Stelle.
^ xuTu trjv a/xalav roU nöXov „nach dem Wagen des Polarsternes",
vgl. unten S. 171, Anm. 7.
Alexanders Zag nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 165
§ 8. Alexander und seine Begleiter gelangen in einen
Ton Riesen bewohnten Wald, dessen Früchte (nach den meisten
Rezensionen Apfel) ihnen als einzige Nahrung dienen (Kap. 32).
§ 9. Kap. 33, das JB und L in etwas abweichender Ge-
stalt bieten, berichtet von allerhand Kämpfen mit menschlichen
Ungeheuern, zu dem Kap. 34, das sich nur in C findet, fernere
Abenteuer hinzufügt
§ 10. Kap. 35, das sich an dieser Stelle nur in C findet*,
berichtet von Alexanders Zusammentreffen mit den Brahmanen
auf deren Insel.
§ 11. In Kap. 36 setzen B und L wieder ein.
Alexander stößt auf die Eintagsbäume, die im Laufe
eines Tages aufblühen und verschwinden, und ähnliche Aben-
teuer mehr (Kap. 36).
§ 12. Am darauffolgenden Tage ziehen sie irrend umher. Die
Wegweiser remonstrieren: „Wir wissen nicht, wohin wir kommen;
laß uns umkehren, damit wir nicht in schlimme Gegenden ge-
raten". Alexander jedoch schlägt ihre Warnungen in den Wind.
„Nachdem er nun zehn Tage weiter gezogen war, zeigte
sich kein Tageslicht mehr, sondern bloß während einer Stunde
ein schwacher Glanz." ^ Sie stoßen auf allerlei gräßliche
Ungeheuer. „Seine Freunde redeten dem Alexander dringend
zu, er möge umkehren. Aber er wollte nicht, weil er das
Ende der Welt zu sehen wünschte"^ (Kap. 37).
§ 13. Sie ziehen durch eine tierlose Wüste am Meere
hin. „Die Sonne ^ erblickten sie nicht mehr, sondern dunkel
war die Luft zehn^ Tage lansr.""
' Den Inhalt dieses berühmten Kapitels bietet die Rezension a
und die von ihr abhängigen Bearbeitungen im dritten Buche Kap. 5 ff.
* Dieser Satz nur in C.
' Ähnlich auch B und L. * B ovgavöv.
^ Weismann S. 130 irrtümlich 12.
^ Ist dies eine Doublette des Satzes oben, Z. 20—22, und ist jener
Satz, der sich nur in C findet, in den anderen Rezensionen absichtlich
beseitigt?
166 I- Friedlaender
§ 14. Er versucht nach einer geheimnisvollen Insel, die
sich in nächster Nähe befindet, hinüberzusetzen, aber der
Versuch nimmt einen kläglichen Ausgang.
§ 15. Die Entdeckung von Perlen im Bauche eines
Krebses veranlaßt Alexander, in einem gläsernen Fasse in die
Meerestiefe zu steigen^, aus der er nach vielen Gefahren ans
Licht kommt 2 (Kap. 38).
§ 16. Man gelangt in eine Ebene, die von einer Schlucht
geteilt ist. Alexander überbrückt die letztere und bringt eine
Inschrift an, des Inhalts, daß er dieselbe mit seinem ganzen
Heere überschritten habe, „um das Ende der Welt zu erreichen,
wie es die Vorsehung beschlossen hat".^
§ 17. Nach drei* Tagen gelangt man an einen Ort, wo
die Sonne nicht schien. Dort ist das sogenannte Land der
Seligen.^
^ Der Sachverhalt ist hier anscheinend verdunkelt. Als Beweg-
grund figuriert hier Perlenfischerei, während er in Wahrheit Wißbegierde
ist, vgl. unten S. 181 f.
* Den Abstieg in die Tiefe läßt B aus.
' Alles dies nur in C. Das folgende auch in B und L.
* BL: zwei.
^ C, B (vgl. Berger de Xivrey p. 366) und L haben gleichmäßig
'Eaet oiv iörlv tj KaXovfisvT] ^laKccgcov jjföga. Das Land der Seligen liegt
demnach innerhalb des Landes der Finsternis, und so heißt es auch
ausdrücklich in dem Resume des Oljmpiasbriefes (s. über dasselbe
unten S. 176 flF.), daß es im Lande der Seligen völlig Nacht war (unten
S. 177, Z. 15). Indessen liegt hier ohne Zweifel ein sehr altes Mißverständnis
vor. Denn nach einer anderen Stelle (S. 170) gelangt Alexander, erst
nachdem er dreißig Schoinoi im Dunkeln vorwärtsgeschritten war, ins
Land der Seligen und sieht daselbst „einen Glanz ohne Sonne, Mond
und Sterne" (§ 27). Das Land der Seligen liegt demnach, wie man
von vorne herein erwartet, jenseits des Landes der Finsternis. Unser
Text will demnach besagen, daß die Sonne zwar dort nicht schien, daß
es aber, im Unterschied von der irdischen Welt, ohne Sonne hell war,
und der Autor hat seine Quelle mißverstanden. — Woher Ausfeld (p. 83)
seine Übersetzung: „von dort wollte ich mit meinen Dienern das Land
der Seligen aufsuchen" — ein Satz der freilich die erörterte Schwierig-
keit beseitigen würde — , geschöpft hat, ist nicht recht ersichtlich.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadliirlegende 167
§ 18. Alexander^ woUte das Fußvolk, die Greise und
Frauen samt deren Gepäck- zurücklassen und^ nur mit aus-
erwählten Jünglingen^ in jene Gegenden eindringen.^ „Kalli-
sthenes aber, einer seiner Freunde, riet ihm, mit 40 Freunden,
100 Knaben und 1200^ Soldaten in das Land zu ziehen."
„Der' König Alexander brach also mit diesen auf* und gebot,
daß kein Greis ihm folgen solle." Ein Greis jedoch, dessen zwei
Söhne Alexander begleiteten, verstellt sich und zieht heimlich mit.
§ 19. „So zogen sie mit Alexander^ und fanden einen
nebligen Ort.^° Da sie, weil der Ort unwegsam war, nicht
weiter vordringen konnten, so brachen sie ihre Zelte ab."
§ 20. „Am folgenden Tage aber nahm Alexander die
tausend Bewaffneten^^ und drang mit ihnen in das Land ein,
um zu erforschen, ob dort das Ende der Welt sei."^'
' Hier beginnt anscheinend ein neuer Bericht.
* Weismann p. 132 1. Z. übersetzt die Stelle falsch.
' Die Worte: „Das Fußvolk . . . und" fehlen in B. Dies ist auch
logischer, da der Rat, nur Jünglinge mitzunehmen, erst von Kallisthenes
kommt. L bietet dieselben Worte inhaltlich an einer anderen Stelle
(unten Anm. 8). * B und L rovg idiovg {lov dovXovs.
* Ausfelds Übersetzung ist hier gekürzt und verdunkelt den Sinn.
^ B -\- ixXsxTOig; L -j- ^lovoig yvriaioig.
' Das Folgende bis S. 169, Anm. 1, fehlt in B.
* L anstatt dessen: „Indem ich nun daa Fußvolk samt den Greisen
und Frauen zurückließ, nahm ich alle jungen auserwählten Soldaten
und zog mit ihnen." Vgl. oben, Anm. 3. ^ L -{- drei Tage.
" xoTcov outjjltö^rj. Was soll dieser neblige Ort im Lande der
Finsternis oder im Lande der Seligen (letzteres Josippon, unten S. 180,
Anm. 3)? Ist damit das Paradies gemeint, das nach der sehr alter-
tümlichen syrischen Alexanderlegende (s. über dieselbe Kap. III) von Nebel
umgeben ist und das dem Alesander wie überhaupt jedem Sterblichen
unzugänglich ist? (vgl. Budge The History of Alexander the Great beitig
the Syriac Version of PseudocaUisthenes , Cambridge 1889 p. 152 und
unten p. 198ff.). Überhaupt hängt dieser Paragraph sowohl mit dem Tor-
hergehenden wie mit dem Folgenden schlecht zusammen. Er schwebt gänz-
lich in der Luft und scheint das Fragment eines anderen Berichtes zu sein.
" C xovg xilLovg ivönXovg mit Artikel, den L ausläßt. Torher
(§ 18) waren es 1200 Soldaten, außerdem 40 Freunde und 100 Knaben.
Hier liegt anscheinend eine andere Quelle vor.
** ftT^itcog ivTav9d elet rä Sxga (L ro tiXog) x^g yfjff.
168 I- Friedlaender
§ 21. „Und da er eingedrungen war, da sah er zur Linken einen
heilem Raum und zog durch wüste und felsige Gegenden bis zur
Mitte des Tages. Dieses erkannte er aber nicht nach der Sonne,
sondern mit Schnüren {pxolvois) maß er den Weg nach der Geo-
metrie und erkannte daraus die Zeit. Nachher aber ward Alexander
bange und er kehrte um, weil der Weg ungangbar war."^
§ 22. „Als er aber wieder hinausgelangt war, wollte er
nun nach rechts ziehen. Denn es war eine flache Ebene, aber
finster und dunkel."^
§ 23. „Er war nun in Verlegenheit, weil keiner der Jünglinge
ihm riet, in das finstere Land einzudringen, aus Furcht, daß wenn
die männlichen Pferde durch die Dunkelheit des langen Weges
erschöpft würden, sie nicht wieder zurückkehren könnten."
Alexander sehnte sich nunmehr nach dem Rate eines
Greises. Der Greis, der heimlich mitgezogen war, stellt sich
sodann Alexander vor und spricht ihn folgendermaßen an:
„Das kannst du einsehen, o König Alexander, daß wenn die
Pferde hineingegangen sind, du das Licht nicht mehr sehen
wirst. Wähle also die Stuten^ aus, welche Fohlen haben und
lasse die Fohlen hier.^ Wir aber wollen mit den Stuten in
das Land eindringen und dieselben werden uns wieder hierher-
bringen." Alexander folgt dem Rate des Greises.
§ 24. „Der Greis aber befahl seinen Söhnen, das, was
sie nach dem Eindringen auf der Erde finden würden, zu
sammeln und in ihre Säcke zu stecken."
' Dieser Paragraph nimmt sich etwas seltsam aus. Er scheint fast
eine Doublette von § 19 zu sein.
* Das heißt wohl: sie hatten die dunkle Ebene vor sich und sie
waren nun darauf bedacht, in dieselbe einzudringen.
' B (s. unten S. 171, Anm.6) hat Eselinnen statt Stuten. L liest
wie C, doch eine Bemerkung am Rande von L (ed. Meusel p. 765, Anm. 76)
weist auf die Variante hin. Der armenische Pseudokallisthenes, ed. ßaabe
p. 72, hat bloß eine Eselin (s. unten S. 180, Anm. 2). Dieser Unterschied
ist ein wichtiges Merkmal der Rezensionen.
* Dies heißt anscheinend: am Eingang zum Lande der Finsternis. Sie
sind also noch nicht im Dunkeln. Dagegen war es schon § 18 und § 21 dunkel.
Alexanders Zug nach dem Lebensqnell und die Chadhirlegende 169
§ 25. „Und es zogen mit Alexander 360 Krieger,"^
§ 26. „So* drangen sie auf einem finstem Wege fünf-
zehn Schoinoi vor. Da sahen sie einen Ort und an demselben
war eine durchsichtige Quelle, deren Wasser blitzte wie der
Blitz. ^ Die Luft aber dort war wohlriechend und sehr lieb-
lich.* Da aber der König Alexander hungrig geworden war
und etwas genießen wollte, so rief er den Koch namens
Andreas^, und befahl ihm Speise^ zurechtzumachen. Dieser
nahm einen gedörrten Fisch ^ und ging zu dem durchsichtigen
Wasser der Quelle^, um denselben zu waschen. Wie er aber
' Dies stammt anscheinend aus einer anderen Quelle, die möglicher-
weise mit der des folgenden Paragraphen identisch ist. Über die Zahl 360
vgl. später. L fügt noch den Satz hinzu: „und ich befahl, daß die
(rovs) sechzig Fußsoldaten vorausschreiten." Dies kann nur aus einem
älteren Berichte stammen, der nicht mehr erhalten ist. — Anstatt dieses
ganzen Abschnittes, der oben S. 167, Anm. 7, beginnt, bietet B einen
einzigen Satz, der stark verstümmelt ist xmd nach Ausfelds Rekon-
struktion (p. 84, Anm. 1) folgendermaßen lautet: „Außerdem ließ ich
Eselinnen mitführen, deren Fohlen unterdessen im Lager angebunden
waren." Ygl. die Übersetzung Berger de Xivreys p. 367.
* Hier beginnt höchstwahrscheinlich eine von den übrigen Berichten
verschiedene Quelle, s. darüber unten S. 182 f. § 25 mag derselben Quelle
entstammen.
' i -f- xßi sztQu nXtlera vddrav. Vgl. unten S. 170, Anm. 4.
* Der Satz fehlt in B. Anstatt „und sehr lieblich" L: „und nicht
im geringsten dunkel."
* Die "^'orte övoftari xaXov^vov kvdgiav fehlen in B. In L (cf. ed.
Meusel p. 765, Anm. 33) sind die Worte dvofuxTi 'Avdqiav von gleich-
zeitiger Hand am Rande nachgetragen. Der Xame dürft« von dem
Koche Andreas abgeleitet sein, der nach Diodor 8, 24 der Stammvater
der sikyonischen Herrscher war. Prof. Carl DjroflF in München machte
mich in liebenswürdiger Weise auf die Stelle des Diodor auf-
merksam.
^ Genauer „Zuspeise", ,,Zuk^t": TtQoetpäyiov (nach Stephanus s. v.
ist der Ausdruck vulgär). Der Unterschied ist nicht gleichgültig. Vgl.
unten S. 205, Anm. 2.
" C dioTUQixov, das Müller in avov raptjror verbessert. B und L
bloß TÜQixov, das wohl auch in der Lesart von C vorliegen dürfte. Vgl.
Stephanus Thesaurus s.Y.ruQixog. Ausfeld übersetzt „Salzfisch".
* Jtriyfis, L yfis. Letzteres dürfte ein bloßer Schreibfehler sein.
170 I- Friedlaender
in dem Wasser hin und her geschüttelt wurde, ward er sofort
lebendig und entschlüpfte den Händen des Koches. Der Koch
sagte ^ niemandem, was geschehen war, sondern nahm von
diesem Wasser^ und bewahrte es in einem silbernen Gefäße.^
Es hatte die ganze Gegend eine überreiche Fülle von Wasser.*
Davon tranken alle und nahmen Nahrung zu sich'^^ (Kap. 39).
§ 27. „Nachdem sie Speise zu sich genommen hatten,
zog® Alexander dreißig'' Schoinoi weiter. Da sah er nun
einen Glanz ohne Sonne und Mond und Sterne." Zwei^
Vögel mit menschlichen Gesichtern treten ihm in den Weg
und befehlen ihm umzukehren. Einer derselben ruft ihm zu:
„Das Land, welches du betrittst, o Alexander, gehört Gott
allein. Kehre um, Elender, denn das Land der Seligen^ wirst
du nicht betreten können. Kehre also um, o Sterblicher, ziehe in
dem Lande, das dir gegeben ist, umher und füge dir^" keine Trübsal
* L -\- cpoßrjd-sig „aus Furcht". Wovor? vgl. unten S. 188, Anm. 1.
* i -f trank davon, s. fg. Anmerkung. Dies scheint im Kodex C
bloß ausgefallen zu sein, da an einer anderen Stelle darauf Bezug ge-
nommen wird, vgl. unten § 31.
'Der ganze Satz fehlt in B. Danach machte der Koch keinen
widerrechtlichen Grebrauch vom Lebensquell, s. unten S. 188, Anm. 2.
* ßgiav vSarcc, L : ß. v. jtoXXd, vgl. unten S. 187, Anm. 1.
^ Dieser Satz fehlt in B. — L bietet folgenden Zusatz: w rijg
ifi^S SvöTvxl-ciS Ott, ovK ?x£iTO (loi Ttislv ix T^g ad'avdrov ixBivrjg JtTjy^s
rfis ^(poyovovßrjs rä cctpvxcc , t]s o ifiog (läysiQog Tsxv%riv,sv. Derselbe Zu-
satz findet sich inhaltlich in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden
byzantinischen Alexandergedicht, vgl. Christensen in den Sitzungsberichten
der philosophisch -philologischen und historischen Klasse der Kgl. bayerischen
Akademie der Wissenschaften zu München 1877, p. 50f. Über die
Wichtigkeit dieses Zusatzes s. unten S. 189, Anm. 1.
^ Mit diesem Worte beginnt eine andere Quelle, die wahrscheinlich
mit § 17 zusammenhängt. Siehe darüber unten S. 178 flf.
' Der Armenier hat bloß 15, s. S. 180, Anm. 2.
^ So BL. C ungenau: drei.
^ C: Mccxägav x^Q'^fi S' -M". yrjv; L: M. v-^aovg. Siehe unten
S. 197, Anm. 1.
'" .B -f „und denen mit dir". — Weismanns Übersetzung dieser
Stelle (p. 185) ist unzuverlässig.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 171
zu." „Alexander erbebte und gehorchte in höchst lobenswerter
Weise ^ der Stimme, die durch die Vögel an ihn gelangte."*
§ 28. Alexander aber, „nachdem er sich mit der Yor-
sehung im Himmel versöhnt hatte", ließ verkünden, daß ein
jeder mitnehmen solle, was ihm in die Hand komme, „sei es
Stein, oder Kot, oder Holz". Doch nur ein Teil gehorchte.
Sein Freund Philon, dem er denselben Rat erteilt, versieht
sich mit einem scheinbar unbrauchbaren Steine. Besonders die
Söhne des Alten versahen sich reichlich.^
§ 29. „Alexander aber* schickte den Wegweiser*^ mit
den Eseln ^ voraus und zog wieder nordwärts.' Den Stimmen
der Stuten^ folgend, gelangte er in einigen^ Tagen wieder aus
dem Lande."
„So kamen sie aus dem mit ewiger Nacht bedeckten
Lande heraus" ^"^ (Kap. 40).
' Vgl. Müllers Ausgabe Kap. 40 Anm. 4 und die Lesart von L.
* Die armenische Version (s. unten S. 180, Anm. 2) lautet anstatt
dessen: „da wurde ich von Zittern und Zagen ergriffen und, voller Furcht
und Demut, gehorchte ich mit Notwendigkeit der göttlichen Stimme, die
durch die zwei Vögel sprach". — Nach Nöldeke Beiträge zum Alezander-
roman p. 25, Anm. 2, ist dieser Paragraph aus einem anderen Teile
eingeschoben. Allein, wie unten (S. 199) nachgewiesen wird, ist gerade
dieser Paragraph der Kern der ganzen Erzählung.
' Der ganze Paragraph fehlt in BL. Er ist anscheinend eine
Dublette von § 24 und ist in C wohl aus einer anderen Quelle ein-
geschoben, 8. unten S. 188, Anm. 4.
* BL -\- i^iXswöduevos , vgl. den ersten Satz des vorhergehenden
Paragraphen.
' L und C Singular, ebenso die armenische Version (cf. L ed. Mensel
p. 766, Anm. *). B, dem Müllers Text folgt, hat den Plural. Vgl. oben
S. 164, Anm. 4. Diese Differenz ist nicht ohne Belang, s. unten S. 213,
Anm. 8 und S. 214, Anm. 1.
® BC tag ovovs; L ras iitTtovg. Die erstere Lesart stimmt mit
der von B (oben S. 168, Anm. 3) überein.
" xarä T^v aucc^av . . . twv aericav, vgl. oben S. 164, Anm. 6.
* BL: „der Fohlen und deren Mütter".
® BL: 22; Josippon Kap. 10: zwanzig.
•" Dieser Satz fehlt B und L. Vgl. S. 166, Anm. 5.
172 I- Friedlaender
§ 30. Ans Licht angelangt, „da, wo die anderen Soldaten
waren" ^, entdeckten sie, daß sie Perlen und Edelsteine in
Händen hatten, „Da bereuten es die, welche nichts genommen
hatten; diejenigen aber, welche etwas genommen hatten,
dankten alle dem Alexander und dem Greise^ für ihren guten
Rat".^ Auch der Stein, den Philon mitgenommen hatte, er-
wies sich als reines Gold.*
§ 31. „ Jetzt ^ erzählte auch der Koch, wie das Essen
(t6 sdsö^a) lebendig geworden war.*' Da ward Alexander zornig
und befahl ihn fürchterlich zu peitschen.^ Dieser sprach jedoch
zu ihm: Vas nützt dir die Reue über eine vergangene Sache?'
Er sagte aber nicht ^, daß er von dem Wasser getrunken oder davon
' Die in Anführungszeichen eingeschlossenen Worte fehlen in BL.
Dies ist vielleiclit nicht unbeabsichtigt. Denn wenn Alexander auch
jetzt (§ 29), wie am Beginn der Reise (§ 7), nordwärts zieht, dann kann
er nicht gut ins Lager zurückgekehrt sein, -von dem aus er die Reise
begonnen hatte. Es gibt aber eine Gestalt der Sage (s. unten S. 204),
nach der er durch das Land der Finsternis hindurch auf demselben
Wege, auf dem er gekommen war, zurückkehrte.
* Dies ist für das eklektische Verfahren von C charakteristisch.
Nach § 24 war es der Greis, der diesen Rat erteilte. Nach einer anderen
Vorlage von C (§ 28) war es vielmehr Alexander: also müssen hier beide
figurieren. L (s. folgende Anmerkung) spricht auch hier lediglich vom Greise.
^ L ist hier pointierter: „Als sie dies sahen, bereuten diejenigen,
die etwas genommen hatten, daß sie nicht mehr nahmen; diejenigen
aber, die nichts genommen, (bei-euten es), daß sie nichts nahmen. Wir
alle aber waren dem Greise dafür dankbar, daß er uns einen derartigen
Rat gegeben." Über B s. Anm. 7. * Fehlt BL.
^ Hier liegt wiederum eine andere Quelle vor, s. unten S 188, Anm. 4.
® L anstatt dessen: „erzählte auch der Koch, was ihm an der
Quelle zugestoßen war".
' L: „als ich aber dies hörte, da wurde ich von Schmerz ergriffen
und bestrafte ihn fürchterlich". — B gibt den Inhalt dieses Paragraphen
in viel kürzerer Fassung: „als wir ans Licht gelangten, da fanden sie,
daß sie reines Gold genommen hatten. Da erzählte auch der Koch,
wie das Essen lebendig geworden war. Da wurde ich zornig und be-
strafte ihn. Lebe wohl!" Hier schließt der Brief und unmittelbar
darauf folgt das dritte Buch. Alles übrige fehlt in B.
* X, wo die Briefform beibehalten ist (oben §1): „ich wußte
aber nicht".
Alexanders Zug nach dem Lebensqaell und die Chadhirlegende 173
aufbewahrt habe. Dies konnte der Koch sich nicht entschließen zu
gestehen, nur daß der Salzfisch ^ wieder lebendig geworden war."
§ 32. „Es ging aber der schlechte Koch zu der Tochter
des Alexander, welche vom Kebsweib üne' geboren war und
Kaie hieß, und verführte sie, indem er ihr versprach Wasser
aus dem Unsterblichkeitsquell zu trinken zu geben, und dies
tat er auch. Als Alexander dies erfuhr, mißgönnte er ihnen^
die Unsterblichkeit. Und er rief seine Tochter zu sich und
sprach zu ihr: 'Nimm deine Kleider und hebe dich hinweg;
denn siehe, du bist ein göttliches Wesen (da^/tov) geworden,
da du unsterblich geworden bist. Du wirst Nere'is heißen, da du
durch das Wasser* Unsterblichkeit gewonnen hast und dort^
wirst du wohnen.' ^ Weinend und klagend ging sie hinweg von
seinem Angesicht und ging in die Wüste hin, unter die Dämonen."
' C oxuqüqixov, danach Müller xo tagixiov; L to TUQtxog (vgl. oben
S. 169, Anm. 7).
* Müllers Text Ovpris, L olv vag (dazwischen scheinen zwei Buch-
staben zu fehlen). Ausfeld p. 84 (Kap. 41, Anm. 2) emendiert xoivfis
„einem gewöhnlichen Kebsweib".
' X + iQöi TO uXri^ig. * Vgl. die Lesart von L in Anm. 6.
' Also im Wasser, s. dagegen L in der folgenden Anmerkung.
^ i in abweichender Fassung: lußoveä eov xbv 'utaTiciiov l^sX9s
TOÜ TtQ06a)7C0v fiov ISov yccQ yiyovag daiynav ccnad'avaTißd^sieu. xaXt] [liv
zä ovöuati ixXi^Q'Tis' ccqticos dh xaXiaco es xaXi]v zwv ogiwv, ort iv airoig
TOÜ Xoijtov xccTOixjjöstff' fffjj ök xsxXfi^vTi NriQuida, mg ix tov vrjpoü xcc
iSia (lies cctdia? vgl. die Lesart von C) ds^auivri, rovreeziv zu cc9dvaxa.
xal xavxa ziniav ngoßsza^a xov Xomov (irj olxsiv iv avO^gäitoig, alV iv
zolg oQsaiv. Nach C (s. jedoch folgenden Satz im Texte) soll Kaie ein
Seedämon, nach L hingegen ein Berg- oder Wüstendämon sein. Hier
liegen anscheinend zwei alte Vorstellungen vor. Der Name Nereis läßt
kaum einen Zweifel darüber, daß die erstere Vorstellung die ursprüng-
lichere ist, denn die Erklärung von L, die C, der ^x toü vdaxog statt
ix zov vTiQov liest, schon mißverstanden zu haben scheint, sieht wie ein
exegetischer Notbehelf aus. Es ist bemerkenswert, daß in der ost-
europäischen Sage Kaie als Seedämon fortlebt, s. darüber die inter-
essanten Ausführungen Wesselowskys in seinem Buche Iz istoriji romana
i poiciesti (russisch, über die slawische Alexandersage), Band I (1886),
p. 377 f. So erzählt man sich auf Zacynthus, daß die Herrscherin der
Nereiden die Schwester Alexanders sei, und man beschwört sie bei
174 I- Friedlaender
§ 33. „Dem Koch aber ließ er einen Stein ^ um den Hals
binden und ihn ins Meer werfen. Der Hinabgeworfene aber
wurde ein Dämon und wohnte dort in einem Teile des Meeres,
der danach der Andreantische genannt wurde." ^
,ySo ging es mit dem Koch und dem Mädchen."
§ 34. „Alexander aber entnahm aus diesen Zeichen^, daß
dort das Ende* der Welt sei."
§ 35. „Als sie an die Brücke gelangten, die Alexander
erbaut hattet ließ er wieder eine Inschrift einhauen: „diejenigen,
die das Land der Seligen betreten wollen, müssen den Weg
nach rechts nehmen."^
§ 36. C fährt unvermittelt fort: „Er befahl nun von den
Vögeln jener Gegend zwei zu fangen."'' Er wird von ihnen
seinem Namen. Eine ähnliche Beschwörungsformel wird in Mazedonien
gebraucht, wenn sich ein heftiger Sturm erhebt, für den die Nereiden
verantwortlich gemacht werden. Auf dem Schwarzen Meere ist es eine
Gorgone, die die Schiffe Halt machen läßt und dann sich erkundigt, ob
Alexander noch lebe. Wenn man die Frage bejaht, dann beruhigt sie
die See; sonst bringt sie die Schiffer um. — Fast scheint es, als ob Kaie
in einen Bergdämon verwandelt wurde, um dem Koch Andreas, der in-
folge der ihm zugefügten Strafe (s. im Text später) nichts anderes als ein
Seedämon werden konnte, keine Konkurrenz zu machen. Über die
ganze Kaieepisode s. unten S. 189, Anm. 4 Anfang. * X: Mühlstein.
* acp' ov i^X'^d'r} 6 rönog XvSQsavri,K6g. L: äcp' ov nal to ovo[ia
iKXij&ri 'AvSqias. Danach also erhielt im Gegenteil der Koch seinen
Namen vom Meere.
' Aus welchen Zeichen? Doch nicht aus der Verwandlung des
Koches? Wahrscheinlich beziehen sich die Zeichen auf die Warnungen
der göttlichen Vögel. § 34 schließt wahrscheinlich an § 27 an. Siehe
unten S. 179, Anm. 3.
* C za axpa; L xo riXog (vgl. oben S. 167, Anm. 12).
" Vgl. § 16.
^ L: „nehmet den Weg nach rechts, auf daß ihr nicht zugrunde
gehet". — Auch in § 22 ziehen sie auf dem Wege zum Lande der
Seligen nach rechts. Wahrscheinlich hat ursprünglich § 21, wo sie links
ziehen, viel ausführlicher von den sie bedrohenden Gefahren und Hinder-
nissen berichtet.
' L dagegen: „Wiederum überlegte ich in meinem Innern, ob dort
überhaupt das Ende {xh xiQ^a) der Erde sei und der Himmel sich dort
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 175
in die Höhe gehoben, so daß ihm die Erde und das Meer wie
eine von einer Schlange umringte Tenne erscheint. Aber ein
geflügeltes Wesen in Menschengestalt tritt ihm in den Weg
und machte ihm Vorwürfe darüber, daß er das Himmlische
zu erlangen begehrt. Weit weg von seinem Heere kommt er
auf die Erde herunter. Von einem seiner Satrapen erhält er
dreihundert Reiter, die ihn zu seinem Heere geleiten. „Nun
ließ er sich nicht mehr darauf ein. Unmögliches zu unter-
nehmen." ^
§ 37. Die Soldaten, die mit ihm ins Land der Finsternis
gezogen waren, kehren gleichfalls ins Lager zurück und finden
ihn dort.
§ 38. Auf dem Rückwege treten Alexander menschenähnliche
Vogel entgegen, die verkünden: „Wer auf dem Wege rechts
zurückkehren wird, wird Wunderbares schauen'^^ Alexander
tat also (Kap. 41).
§ 39. Alexander und sein Heer gelangen an einen See mit
honigsüßem Wasser. In dem Bauche eines Fisches von ge-
waltigen Dimensionen wird ein Stein von ungeheurer Leucht-
kraft gefunden, den Alexander einfassen läßt und des Xachts
als Leuchte benutzt.
neige. Ich wollte nun die Wahrheit erforschen. Ich gab daher Befehl,
von den Vögeln jener Gegend zwei zu fangen." Siehe unten S. 180,
Anm. 3.
^ L -\- „Lebe wohl!" Hier schließt in L der Brief und damit das
zweite Buch. Das Folgende nur in C.
* "Worauf bezieht sich das Wunderbare, das ihm die Vögel in
Aussicht stellen? Doch kaum auf die Abenteuer im folgenden Kapitel?
Denn für die Verkündigung dieser im Pseudokallisthenes recht gewöhn-
lichen Abenteuer sind die göttlichen Vögel doch etwas zu gut. Nach
§ 35 (vgl. § 22) führt der Weg zum Lande der Seligen rechts. Ist dies
das Wunderbare, das ihm die Vögel versprechen und stellt dieser Para-
graph ein Fragment aus einem anderen Berichte über Alexanders Zug
nach dem Lande der Seligen dar? Freilich der Auszug (s. über den-
selben unten S. 176 ff.) begünstigt die erstere Vermutung, denn auch nach
ihm zieht Alexander, nachdem er das Land der Seligen verlassen,
rechts.
176 - ^- Friedlaender
§ 40. In der Nacht steigen Weiber aus dem See, die
wunderschön singen.
§ 41. Nach einem Kampf mit Roßmenschen (Hippo-
zentauren) kehrt Alexander mi4; seinem Gefolge in sechzig
Tagen in bewohnte Gegenden zurück und ruht von seiner An-
strengung aus (Kap. 42).
Unmittelbar auf diesen Bericht folgt in C noch ein be-
sonderer Abschnitt (Kap. 43 in der Müllerschen Ausgabe),
der, ebenfalls in die Form eines Briefes an Olympias gekleidet,
den Inhalt des vorhergehenden längeren Briefes (Kapp. 23 — 42)
kurz rekapituliert. Da das Kapitel sich lediglich in C findet,
würde man von vornherein erwarten, daß es die Rezension
C (oder y) repräsentiert, und in der Tat wird in demselben
mehrfach auf Dinge angespielt, die sich ausschließlich in C
finden. Anderseits aber läßt der Auszug eine Reihe von
Dingen aus, die in C (und BL) eine zentrale Stellung annehmen,
und gibt, infolge dieser Auslassungen, eine bedeutend ver-
änderte Darstellung von Alexanders abenteuerlichem Zuge. Wie
dem auch sei, in jedem Falle kann kein Zweifel darüber be-
stehen, daß Kap. 43 eine Gestalt der Legende voraussetzt, die
viel älter und, wie wir unten sehen werden, viel ursprünglicher
ist. Wegen der Kürze des Auszuges läßt sich manches nicht
mehr mit Sicherheit feststellen. Allein auch in seiner jetzigen
Gestalt ist das Resume von großem literarkritischem Werte
und setzt uns in den Stand, den ursprünglichen Zusammen-
hang der Legende, der in den ausführlicheren Darstellungen
verdunkelt ist, viel klarer zu erkennen.^
Der Auszug beginnt, wie der große Olympiasbrief, mit
dem Siege über Darius (Kap. 23; § 1)* und erwähnt sodann
' Die Ausführungen Rohdes Der griechische Boman p. 189 über
Kap. 43 sind vielfach nicht überzeugend.
* Die Angabe der Kapitel bezieht sich auf die MüUersche Ausgabe,
die der Paragraj^hen auf die oben gegebene Synopsis. C bedeutet, daß
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 177
den Einzug in Judäa (Kap. 24) und den Aufenthalt in Ägyp-
ten (Kap. 25 — 28; § 2 [C]). „Dann beschloß ich nach dem
Ende (tijv ccxquv) der Welt zu ziehen (vgl. § 12 Ende und
§ 16 Ende [C]), und der Gedanke wurde zur Tat. Nachdem
wir das bewohnte Land unter der Sonne durchzogen hatten,
kamen wir in wilde unwegsame Gegenden'* (vgl. Kap. 29 ; § 3).
Die Abenteuer werden kurz gestreift. Kapp. 31 — 33 (§§ 4 — 8)
fehlen. Kap. 34, das sich nur in C findet (vgl. § 9) und Kap. 35,
das sich an dieser Stelle nur in C findet (vgl. § 10), werden
gestreift. Kapp. 36—38 (§§ 11—15) fehlen wieder. „Wir er-
reichten eine sehr große Ebene, in deren Mitte eine Kluft war.
Diese überbrückte ich und zog mit dem ganzen Heere hinüber
(§ 16 [C]). Von da an hatten wir kein Tageslicht mehr und,
nachdem wir in gewöhnlicher Weise einige^ Tage umhergezogen
waren, erreichten wir ein Land, in dem es vöUig Nacht war.
Dort ist das sogenannte Land der Seligen (§ 17). Es kamen
mir aber zwei^ Vögel in Menschengestalt entgegengeflogen
und rieten mir also: 'Es ist dir nicht gestattet, o Alexander,
durch dieses Land zu ziehen' (§27; §§18 — 26 fehlen). Wir
kehrten also von dort um und ich forderte aUe auf, irgend-
welche Gegenstände von da mitzunehmen. Aber nur wenige'
erfüllten den BefehL Als wir nun ans Licht kamen, da be-
reuten es alle, die nichts mitgenommen hatten (§§ 28 und 30*;
§ 29 fehlt). Nun zogen wir aus diesem Lande, indem wir die
Richtung nach rechts^ einschlugen (vgl. §38; §§31 — 37 fehlen).
der betreffende Paragraph eich nur in C findet. Die unbezeichnet ge-
lassenen Paragraphen finden sich auch in den anderen Rezensionen.
* r,u.iQug zivdg. Oben § 17, vgl. S. 166, Anm. 4, las C: drei; BL:
zwei. Die Lesart von C steht dem Auszuge näher.
* Stimmt mit BL überein. C hat drei (§ 27, S. 170, Anm. 8).
' Tgl. dagegen § 28.
* Der Auszug steht demnach § 28 näher (vgL auch vorhergehende
Anmerkung), da es Alexander ist, der den Rat erteilt, Gegenstände
mitzunehmen. In § 30 ist es der Greis, der im Auszug überhaupt nicht
erwähnt ist. * Vgl. oben S. 174, Anm. 6.
Archiv f. Beligionswisseiischaft Xni 12
178 !• Friedlaender
Nach einem Marsche von einigen Tagen hatten wir mit den
Hippozentauren zu kämpfen. Wir schlugen sie in die Flucht
und erreichten dann in fünfzig^ Tagen unter vielen Gefahren
das bewohnte Land (§41 [CJ; §§39—40 [C] fehlen). Jetzt
rüsten wir uns zum Kriege gegen Porus, den König der Inder
(siehe Kap. 44 der MüUerschen Ausgabe). Die Schilderung
dessen, was wir gesehen haben ^, werdet ihr^ in der Einlage
dieses Briefes finden. Wenn ihr diese leset, so werdet ihr
über alle unsere Erlebnisse belehrt werden".
Ein Blick auf den Olympiasbrief in der obigen Wieder-
gabe — um von dem Auszug für eine Weile abzusehen —
genügt, um erkennen zu lassen, daß derselbe keine einheitliche
Komposition, sondern eine ungeschickte Kompilation darstellt,
die sich aus den verschiedenartigsten Bestandteilen zusammen-
setzt. Die Schilderung wimmelt nicht nur von Unklarheiten*,
sondern auch von Widersprüchen.^ Die einzelnen Teile der
Erzählung werden zusammenhanglos aneinandergereiht; oft
lassen sich noch die Nähte erkennen, die die Erzählung künstlich
zusammenflicken. Der Verfasser oder, wohl richtiger, Redaktor
des Olympiasbriefes hatte augenscheinlich zahlreiche Quellen
von durchaus heterogenem Ursprung und Charakter vor sich,
die er, weil sie alle von Alexander handelten, kritiklos durch-
einander würfelte, wodurch er in den ihm vorliegenden Grund-
^ Kap. 41 hat sechzig.
* Es ist nicht recht klar, -was damit gemeint ist, die Erlebnisse
in Kap. 44 oder die in Kapp. 23—42 erwähnten Einzelheiten, die im
Auszug nur kurz gestreift werden.
' Obwohl an Olympias adressiert, richtet sich der Inhalt des Briefes
ebensowohl an Aristoteles, vgl. oben S. 163, Anm. 4.
* Man vergleiche die verworrene geographische Darstellung des
Zuges, aus der man unmöglich klug werden kann.
^ Vgl. die verschiedenen Zahlenangaben §§ 18, 25 und S. 169,
Anm. 1 oder die Angaben über die Finsternis, §§ 12 und 13, 17, 19 usw.
und vieles andere.
Alexanders Zug nacli dem Lebenequell tmd die Chadhirlegende 179
bericht „vieles aus verschiedenen Quellen, wie sie gerade der
Zufall darbot, zu vermeinter Vervollständigung eingeschaltet*'
hat.^ Es würde uns zu weit führen, wollten wir auf die literar-
historische Struktur dieses außerordentlich komplizierten Stückes
des Alexanderromans im einzelnen eingehen; manches Hierher-
gehörige ist bereits oben in den Anmerkungen angedeutet
worden. Allein ein Moment, das für unseren Gegenstand von
der größten Tragweite ist, muß an dieser Stelle gebührend
betont werden, wir meinen die Tatsache, daß die ganze
Lebensquellepisode, die den Ausgangspunkt unserer Unter-
suchungen bildet, ursprünglich dem Olympiasbrief fremd
ist und erst nachträglich in denselben eingeschoben
wurde. Denn der Versuch Alexanders, die Unsterblichkeit zu
erlangen, der der Natur der Sache gemäß, in einer jeden
Lebensdarstellung den Höhepunkt bilden müßte, trägt hier
einen durchaus episodenhaften Charakter und hebt sich in
keiner Weise von den sonstigen zahlreichen und oft recht
blöden Abenteuern ab, die Alexander dem Großen auf seinen
Wanderungen zustoßen. Von Alexanders Sehnsucht nach
Unsterblichkeit findet sich keine Spur. Als er durch die Schuld
des Koches um Haaresbreite den Lebensquell verfehlt, stößt er
keinen Hauch der Klage aus.' Die ganze Legende nimmt sich
wie ein Fremdkörper aus, der sich, ohne eine Lücke zu hinter-
lassen, restlos entfernen läßt.^ Diese Beobachtung wird, man
könnte fast sagen, dokumentarisch von den literar kritischen
Indizien bestätigt. Der Auszug, der die meisten Abenteuer
auf diesem abenteuerlichen Zuge, darunter auch solche, die
sich lediglich in C finden, getreulich registriert, läßt die
ganze Episode vom Lebensquell aus. Ebenso verhält es
sich mit der armenischen Alexanderversion. Diese altertüm-
' Vgl. oben S. 162.
* über den Zusatz von i, der eine ursprünglichere Form der Sage
voraussetzt, s. oben S. 170, Anm. 5 und später S. 189, Anm. 1.
' §§ 26, 31—33.
12*
180 I. Friedlaender
liehe Rezension, die dem griecliischen Roman am nächsten
verwandt ist^ und, obwohl sonst a folgend, den Olympiasbrief
nach ß reproduziert, erwähnt den Lebensquell und den Koch
mit keiner Silbe.^ Ähnlich verhält es sich mit der hebräischen
Rezension des Josippon, die sich mehrfach mit der armenischen
Version berührt.^
Wenn wir etwas genauer zusehen, erkennen wir auch, daß
die Tendenz, die dem Olympiasbrief, wie dem Gesamtroman
^ Siehe Zacher a.a.O. p. 85 ff.; Auefeld a.a.O. p. 12 ff.
* Ich setze, um den ursprünglichen Pragmatismus der Sage zu
illustrieren, den betreffenden Passus der armenischen Version nach der
griechischen Rekonstruktion von Raabe (1896) p. 72 hierher: "HX%-oilsv
8h slg roitovs iv övalv rmigccig onov 6 ^Xiog ov IdfiTcei. xal ^eXovrog
[lov letogfiöcci xai ijtixsiQTJCavrog idsiv Sicc r&v SovXav, 5itov rj r&v
^laxägav xaga rjv, KalXißd'ivrjg (usw., vgl. § 18). ^^co Öh fistä xr]v oSbv
insvorjßaiisv ovov ^rjXEiccv ^jjouöav naXä^iov fjg id^öanfv svQ'iwg ro
naXdgiov iv rfj JtagsiißoXy. ElosQXOii^vmv dh r}[iwv inl 6%oLvovg dExajtevrs
OQVsa Svo usw. (vgl § 27). kccI tqouco Ttal cpQiKr] KccrocXricpd-Elg iv (poßa
nccl dsiXicc ysvo^svog ävayKaimg ijxovöcc ttjs &SLag q)a>vrjg tfjg V7t6 r&v
Svo OQvecüv XaXriQ'Blarjg.
' Die Darstellung des Josippon (Kap. 10) ist der des Armeniers
sehr ähnlich. Ich führe die betreffende Stelle an: „Er wanderte von
dort (gemeint ist die geheimnisvolle Insel, oben § 44) zwei Tage lang
und gelangte an die Berge der Finsternis. Dort aber scheint nicht die
Sonne am Tage (d. h. es ist hell ohne Sonne, vgl. oben § iä7). Er
wünschte aber bis zum Aufenthaltsort des Jonadab ben Rechab
(Jeremiah 35; die Rechabiten werden mit den Gymnosophisten oder
Brahmanen und diese mit den Seligen identifiziert) und einiger Stämme,
die zusammen hinter den Bergen der Finsternis wohnen, vorzudringen,
und er rief aus seinem Heere 1300 Helden auf (vgl. § 18: 40 + 100 + 1200)
und begab sich auf den Weg. Er nahm mit sich eine Eselin, die ein
Eselsfüllen säugte (dieses Detail findet sich nur noch beim Armenier),
band das Füllen, ihr Junges, am Eingang zum Orte an und ging hinein.
Er fand die Luft des Ortes verdunkelt durch Finsternis imd Nebel (§ 19),
80 daß der eine den zweiten nicht sehen konnte, und die Erde daselbst war
mit Schmutz bedeckt. Sie begegneten aber großen Vögeln, die Menscheu-
gesichter hatten und griechisch sprachen, und sie redeten zu ihm also:
0 Alexandros! Kehre zurück, denn das Land der Gottesanbeter darfst
du nicht betreten. Du vermagst nicht ins Haus Gottes und ins Haus
seiner Diener zukommen. Denn du kannst die Inseln (vgl. oben S. 170
Anm. 9), woselbst die Heiligen Gottes und die Nachkommen seines
i
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende Igl
des Pseudokallistlienes zugmnde liegt, von der der Lebensquell-
sage durchaus verschieden ist. Der Impuls, der Alexander
vorwärts treibt, ist nicht Unsterblichkeitssehnen, sondern Herrsch-
sucht und Wissensdrang. Wie im ganzen Roman, so soll auch
im Olympiasbrief Alexander als der Übermensch geschildert
werden, der alles sehen, alles erforschen, alles erobern will und,
in Übereinstimmung mit seinem Charakterbild, wie es in der
Vorstellung des Orients fortlebte, als der Held, „der an die
Enden der Erde gelangte "\ zur Anschauung gebracht werden.
Immer wieder tritt dieses Motiv im Pseudokallisthenes wie in
der von demselben abhängigen Alesanderdichtung hervor.
Alexander schwört bei seinem eigenen Bilde, daß er nicht eher
umkehren wird, bis daß er an den Ort gelangt ist, „wo man
weder rechts noch links sich wenden kann".* Er gibt sich daher
mit dem Besitz der bewohnten Erde nicht zufrieden, sondern muß
in die unbewohnte ziehen.^ Er will nichts unerforscht lassen.*
Dieners Abraham wohnen, nicht betreten. Bemühe dich nicht, in die
Himmelshöhe zu steigen, wie du versucht hattest. Ein anderer Vogel
aber (daher wohl die drei Vögel in C, oben S. 170, Anm. 8) sagte
zu ihm: Empfange die frohe Botschaft, daß du Porös, den König von
Indien, besiegen wirst. Alexander aber erzitterte vor den Vögeln. Er
wanderte zwanzig Tage rückwärts und erreichte das Lager, das er ver-
lassen hatte." Auch der Schluß des Kapitals stimmt auffallend mit der
armenischen Version überein, vgl. Ausfeld p. 84 zu Kap. 41, Anm. 1.
* Vgl. I. Makkabäer 1, 3: xal difil9sv ioag axgwv r^g y^S (auch C
gebraucht axga, vgl. oben S. 174, Anm. 4).
* So in dem hebräischen Alexanderroman, herausgegeben von Israel
Levi in Steinschneiders Festschrift (1896) p. 156 oben; übersetzt von
Gaster Journal of the Royal Asiatic Society 1897, p. 531.
' Vgl. Kampers a a. 0. p. 25 unten: „Ein Jahr nach der Schlacht
bei Arbela läßt Äschines ihn über das Sternbild des Bären (vgl. oben
S. 164, Anm. 6 und S. 171, Anm. 7) und die Grenzen der bewohnten
Welt hinausgelangen."
* Vgl die altertümliche syrische Alexanderlegende (über dieselbe
unten S. 210 f.), ed. Budge p. 145: „Ich begehre" zn wissen, wie groß die
Ausdehnung der Erde, wie hoch der Himmel, wie zahlreich die Länder
meiner Mitkönige, worauf die Himmel ruhen und was die Schöpfung
umgibt." Ähnlich die von der Legende abhängige Homilie (s unten
182 I- Friedlaender
Er fliegt in die Höhe^, dringt in die Tiefe ^ und ist felsenfest
entschlossen, bis ans Ende der Welt zu gelangen.^ Erst als
er aus gewissen Zeichen entnimmt, daß der von ihm erreichte
Ort das Ende der Welt sei, tritt er den Rückweg an.*
Neben diesem Motiv geht ein anderes einher, das ur-
sprünglich durchaus selbständig ist, aber in der Darstellung
des Olympiasbriefes mit dem obigen zusammengeschlossen ist,
wir meinen Alexanders Zug nach dem Lande der Seligen.
Diese Sage, die uralten Ursprungs ist und, wie wir unten sehen
werden, lange vor und ebenso lange nach Pseudokallisthenes
eine selbständige Existenz führte, ist in ihrer Tendenz von
der Legende von Alexanders Zug nach dem Ende der Welt
durchaus verschieden. Das Ende der Welt vermag Alexander
wohl zu erreichen; das Land der Seligen bleibt ihm verschlossen.
In der ersten Sage soll Alexander verherrlicht werden; in der
letztern soll er in seine Schranken verwiesen werden. In
unserem Berichte aber werden beide Sagen miteinander ver-
schmolzen, indem das Ende der Welt mit dem Lande der
Seligen in Verbindung gebracht wird. Die Welt oder die
S. 211 f.). Ähnlich äußert sich Alexander im koptischen Alexander-
roman (etwa 6. Jahrhundert), Oscar v. Lemm Der Alexanderroman bei
den Kopten Petersburg 1903, p. 94: „Ich werde mich nicht zutrieden
geben, bis daß ich finde, was ich suche."
* Oben § 36. Vgl. die Lesart von L oben S. 174, Anm. 7, und den
hebräischen Alexanderroman (S. 181, Anm. 2), ed. Levi p. 156 (Gaster
p. 532): „Noch bin ich nicht zufrieden mit dem, was ich bisher getan
habe." Ähnlich äußert er sich beim Abstieg in die Tiefe (ibidem):
,,denn noch habe ich nicht genug an dem, was ich in der oberen Welt
getan und gesehen habe". Siehe folgende Anmerkung.
* Oben § 15, wo der Kompilator das Motiv verdunkelt, vgl. S. 166,
Anm. 1 und vorhergehende Anmerkung gegen Ende.
' Vgl. oben § 12 Ende, § 16. Ähnlich motiviert Josippon Kap. 13
die Wanderungen Alexanders: ,,Nach diesen Begebenheiten wollte
Alexander noch ferner die Welt erforschen Er ging bis an die Enden
der Erde, der Wüsten und der Meere und er beschloß, in der Luft in
die Höhe zu steigen und bis auf den Grund des großen Meeres zu
dringen. Er gelangte an die Enden der Erde, der Wüsten und der
Meere. Dann wandte er sich nach Babylon." * Oben §§ 34, 35.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 183
Erde ist, nach der anscheinend damals gangbaren geographischen
Vorstellung, vom Lande — ursprünglich vom Ozean ^ — der
Finsternis umgeben*, hinter dem das Land — ursprünglich
die InseP — der Seligen eich befindet*; dieses Land oder diese
Lisel gehört nicht mehr den Menschen, sondern Gott* Als
die göttlichen Vögel Alexander den Eintritt in jene Gegend
verbieten, da erkennt dieser, daß er am Ende der Erde an-
gelangt sei^ und kehrt, da ja sein Wunsch erfüllt ist, ge-
horsamst hinter die der Menschheit gezogenen Schranken zurück.^
Woher und in welcher Weise hat nun der Olympiasbrief,
um auf den Gegenstand unserer Untersuchung zurückzukommen,
die Legende vom Lebensquell aufgenommen? Doch wohl in
derselben Weise, in der der Brief andere, ihm ursprünglich
fremde Bestandteile sich einverleibt hat. Der Verfasser oder
Redaktor des Olympiasbriefes hat anscheinend verschiedene
Sagenstoffe, die unabhängig voneinander in Umlauf waren,
zusammengearbeitet. Auch die Legende vom Lebensquell muß
der Redaktor des Olympiasbriefes — um hier Späteres vor-
wegzunehmen — als selbständiges Produkt, wahrscheinlich
bereits in verschiedenen Versionen vorgefunden haben. Die
Tendenz dieser Legende war von der des übrigen Berichtes
verschieden. Allein der eklektische Bearbeiter des Briefes
konnte sich einen so interessanten Stoff unmögflich entgehen
» Vgl. unten S. 197, Anm. 1.
* Vgl. die Bemerkung Ausfelds a. a. 0. p. 170f.
» Unten S. 197, Anm. 1.
* Vgl. oben § 17 und S. 166, Anm. 5. * Vgl. oben § 27.
* Vgl. oben § 34. Im hebräischen Alexanderroman ed. Levi p. 156
(Gaster p. 531) wird unmittelbar nach dem Lebenswasser das Paradies
erwähnt. Doch in dem folgenden Abschnitt (ib.) dauert es nicht
weniger als sechs Monate, bis er dorthin gelangt. Hier liegt augen-
scheinlich eine Dublette vor (nach der einen Version trägt das Tor des
Paradieses als Überschrift Psalm 24, 7, nach der andern Psalm 118, 20).
^ Vgl. § 27 Ende und S. 171, Anm. 2. Die armenische Version
reflektiert sicherlich die ursprüngliche Form der Legende vom Lande
der Seligen, nach der er umkehren muß. Siehe unten S. 199.
184 I. Friedlaender
lassen. So schob er die Legende in seinen Bericht ein, in-
dem er sie mehrfach, aber keineswegs konsequent, zustutzte
und modifizierte. Aus dieser selbständigen Sage haben aber
unabhängig voneinander /3, y und L^, aber nicht minder spätere
Bearbeitungen der Lebensquellsage geschöpft, die an Alter zwar
dem Pseudokallisthenes nachstehen, aber durchaus unabhängig
von ihm sind^ und mehrfach ihm gegenüber ursprünglichere
Züge aufweisen.
Die Lebensquellsage, wie sie uns im Olympiasbrief ent-
gegentritt, erscheint demnach nicht in ihrer ursprünglichen
Gestalt, sondern als das Produkt einer redaktionellen Bearbeitung.
Allein der Verfasser oder Kompilator des Olympiasbriefes hat
sich nicht darauf beschränkt, die Legende zu überarbeiten und
seinem Berichte anzupassen; er hat dieselbe mehrfach direkt ver-
stümmelt und deren Sinn verdunkelt. Es ist bereits angedeutet
worden, daß die Legende vom Lebensquell unter den plumpen
Händen des Bearbeiters von der Höhe einer philosophischen
Erkenntnis zu einem nichtssagenden Abenteuer herabsinkt.
Allein der Kompilator hat nicht nur die tiefsinnige Tendenz
der Sage, die von der des übrigen Berichtes verschieden ist,
verkannt; er hat auch eine Reihe von Einzelzügen, die für
das Verständnis der Sage unerläßlich sind, sei es aus Nach-
lässigkeit oder Unkenntnis, sei es weil seine Vorlage bereits
schwankend war, verwischt und unkenntlich gemacht. Wir
werden die Veränderungen, die die Sage unter seinen Händen
erlitt, am besten erkennen, wenn wir auf Grund allgemeiner
* y ist keine „Erweiterung" von p, wenigstens in diesem Teile
nicht, wie Zacher (oben S. 162, Anm. 4) annimmt. Denn y kann die
Legende, wie er sie bietet, nicht aus den Fingern gesogen haben. Auch
L weist, wie oben gezeigt wurde, eine Reihe von durchaus selbständigen
und meistens ursprünglichen Zügen auf. Dies Verhältnis kann nach
meiner Ansicht nur so erklärt werden, daß alle diese Rezensionen aus
der Sage, die ihnen in verschiedenen Gestalten vorlag, unmittelbar ge-
schöpft haben.
» Vgl. unten S. 206 ff., 218 ff. und sonst.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 185
Erwägungen, einer genauen Prüfung der verschiedenen Rezen-
sionen und* einer vorsichtigen Benutzung der späteren Bear-
beitungen^ die ursprüngliche- Form der Legende zu rekonstruieren
versuchen.
Alexander von Mazedonien, der große Welteroberer, dessen
Macht die Grenzen des Menschlichen erreicht hat, will die
letzte Schranke des Menschlichen durchbrechen und ewiges
Leben erlangen.' Er erfährt^, daß irgendwo in der Nähe des
Landes der Finsternis^ sich ein Quell befinde, dessen Wasser
' Von diesen sind der Talmud (unten S. 202 ff.) und die syrische
Homilie (unten S. 210 ff.) die wichtigsten.
' Wenn ich „ursprünglich" sage, so ist dies cum grano salis zu
nehmen. Denn bei einem Sagenstoffe, der ohne Zweifel Jahrhunderte
hindurch hin und her gewandert ist, ist „ursprünglich" ein sehr dehn-
barer Begriff. Insbesondere ist die Rekonstruktion der Legende von
Alexanders Zag nach dem Lebensquell so schwierig, weil sie mit der
ähnlichen Legende von Alexanders Zug nach dem Lande dfr Seligen
zusammengearbeitet worden ist und infolgedessen eine Reihe von Zügen
erhalten hat, die ,, ursprünglich" der Schwesterlegende angehört haben
mögen. Worauf es uns hauptsächlich ankommt, ist, die Tendenz der
Sage hervortreten zu lassen und sodann diejenigen Züge zu fixieren, die
die späteren Bearbeitungen und mittelbar auch die Chadirlegende be-
einflußt haben.
' Im PseudokaUisthenes tritt dieser Wunsch Alexanders vollständig
zurück. L hat eine Spur dieses zweifellos ursprünglichen Zuges bewahrt
(oben S. 170, Anm. 5). In der Homilie (unten S. 216 f.) tritt er scharf
hervor.
* In vielen späteren Bearbeitungen, wahrscheinlich auch bereits
im Talmud, erfährt er dies auf Befragen. Auch diesen Zug, der im Pseudo-
kaUisthenes verwischt ist, wird man auf Grund allgemeiner Erwägungen
für ursprünglich halten: Alexander kennt das Ziel, nach dem er strebt
(die Unsterblichkeit), aber nicht das Mittel. Dieses wird ihm — in den
verschiedenen Versionen auf verschiedene Weise — angegeben. In der
Homilie (unten S. 211 f.) weiß Alexander von vornherein, woher wird
nicht gesagt, von der Existenz der Lebensquelle.
* Das Land der Finsternis erscheint mit dem Lande der Seligen
unzertrennlich verbunden, so im Resume (oben S. 177) und in der arme-
nischen Version (S. 180, Anm. 2), ebenso im Josippon (S. 180, Anm. 3),
ja sogar schon im altbabylonischen Mythus (unten S. 197, Anm. 1). Daß es ur-
sprünglich auch zum Lebens quell gehört, ist zwar nicht unzweifelhaft
(die Wanderung durch die Finsternis erscheint unabhängig im Pseudo-
186 I. Friedlaender
ewiges Leben verleilie. Alexander begiebt sich, nachdem er
sich für die gefahrroUe Reise entsprechend mit Proviant ver-
sehen, mit auserlesenen Jünglingen, deren Tapferkeit und
Ausdauer den Gefahren des Zuges gewachsen sind^, auf den
Weg. Nachdem er das Land der Finsternis erfolgreich durch-
quert hat^, gelangt er in eine quellenreiche Gegend. Es gilt
kallisthenes III, 27, 28), aber durchaus wahrscheinlich. Im Olympias-
brief, in welchem das Land der Finsternis in beiden Sagen figuriert,
ebenso wie im Talmud, in der Homilie und in den späteren Formen der
Sage wird diese Verbindung überall vorausgesetzt. Das geheimnisvolle
dunkle Land war eben ein bequemer Unterschlupf für alles Geheimnis-
volle und Abenteuerliche. Auch „im altpersischen Mythenkreise liegt
die Quelle des Lebens gegen Osten in einem unbekannten dunklen
Lande" (Wünsche Die Sagen vom Lebensbaum und Lebensivasser Leipzig
1905, p. 74).
^ Dies ist der Grund, warum kein Greis mitkommen darf. Dieser
Zug, der -im Pseudokallisthenes verwischt ist, erscheint viel deutlicher
in jüngeren Bearbeitungen, vgl. Weismann Alexander (1850) I, p. 363.
Die ursprüngliche Tendenz tritt in kurioser Weise in einem späten
christlich-äthiopischen Alexanderroman hervor (Budge Life and Exploits
of Alexander the Great London 1896, 11,472): Alexander nahm bloß
erwachsene Männer, die einen Bart hatten, mit. Bartlose durften da-
gegen nicht mit, ,, damit sie nicht von Furcht ergriffen würden, während
sie durchs Land der Finsternis wanderten".
* Die Episode vom Greise, der heimlich mitkommt und durch
seinen Rat (Stuten resp. Eselinnen mitzunehmen, deren Junge draußen
bleiben), erst den Eintritt ins dunkle Land ermöglicht, ist ein
selbständiges Motiv, das ebensogut für die Legende vom Lande der
Seligen wie für die vom Lebensquell verwendet werden konnte, bildet
aber, wie es scheint, keinen integrierenden Bestandteil dieser Sagen.
Der Auszug z. B. (oben S. 177 f.) läßt die ganze Episode vom Greise und
seinem Rate aus. B (oben S. 169, Anm. 1) kennt den Rat, der Alexander
selbst zugeschrieben wird, aber nicht den Greis, ebenso die armenische
Version (S. 180, Anm. 2). — Das Motiv mit dem Füllen ist im Pseudo-
kallisthenes bereits einigermaßen verwischt. Der ursprüngliche Sinn ist
natürlich der, daß die weiblichen Tiere, trotz der Finsternis, den Weg
zu ihren Jungen instinktiv zurückfinden würden und daher als Wegweiser
vorzüglich geeignet sind, vgl. z. B. Marco Polo ed. Yule II, 485. Daher
hat wohl die armenische Version (oben S. 180, Anm. 2), ebenso Josippon
(S. 180, Anm. 3), bloß eine Eselin mit ihrem Jungen, da ja ein Tier genügt,
um den Weg zu zeigen. Nach Pseudokallisthenes (oben § 23) scheint
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 187
nun unter den vielen Quellen jener Gegend den Lebensquell
ausfindicr zu machen.* Einst traf es sich, daß Alexander
hungrig wurde und von seinem Koche zu essen verlangte.
Dieser nahm einen gesalzenen oder gedörrten Fisch* und ver-
es jedoch, als ob es eich um die Ausdauer der Tiere (die wohl auch
als Lasttiere gedacht werden) handelte, die auf dem dunklen und
schwierigen Wege zusammenbrechen könnten und nur, wenn vom Mutter-
instinkt getrieben, ans Licht zurückgelangen würden. Diese Ver-
schiedenheit der Motivierung spiegelt sich auch in den späteren Be-
arbeitungen wider. So schon im Talmud, wo die Füllen überhaupt
nicht genannt werden, sondern bloß von „Libyschen Eseln, die im
Dunkeln marschieren können" und deren Ausdauer bekannt ist
(unten S. 204, Anm. 3), gesprochen wird, und als Orientierungsmittel
daneben der Ariadnefaden erscheint. In der Homilie (unt^n S. 214)
scheint das ursprüngliche Motiv vorzuherrschen. Es ist interessant,
daß diese Verschiedenheit der Motivierung sich in der arabischen
Alexandersage in einer sprachlichen Variante widerspiegelt: es handelt
sich darum, ob die in die Finsternis mitziehenden Tiere 'absar', 'am
scharfsichtigsten' oder, mit L'mkehrung der mittleren Konsonanten,
'asbar*, 'am ausdauerndsten' sind. Vgl. später.
* „Viele Quellen gibt es in der Gegend, und niemand weiß, welche
der Born des Lebenswassers ist" (Homilie, ed. Hunnius, ZDMG 60, Zeile
168 — 169). Nach dem alten französischen Alexanderroman (vgl. Weis-
manu Alexander I, 338; Meyer Alejcandre II, 175) gab es in der Wüste
hundert Quellen. Dasselbe Motiv liegt der Bemerkung des Pseudo-
kallisthenes zugrunde, daß die Gegend, in der sich der Lebensquell
befindet, ßgimv vdccra (L nachdrücklicher: ß. v. itoXXd, vgl. S. 170,
Anm. 4) war. Der Kompilator hat diesen Zug vollständig verkannt.
Man begreift nach seinem Berichte (§ 26 Anfang) nicht, wie Alexander
den Lebensquell verfehlen konnte. Die Lesart von L (S. 169, Anm. 3)
ist von diesem Gesichtspunkte aus bedeutsam.
• TdQi,xog (oben S. 169, Anm. 7) bedeutet beides. — Dieser Zug ist
ungemein treffend. Salzfische oder Dörrfische sind nicht nur als Proviant
für eine längere Reise am geeignetsten; sie veranschaulichen auch am
besten die belebende Kraft der Quelle (vgl. ixsivrig «Jiy^s ^^s t<poyovov6riS
TU aipvxccy S. 170, Anm. 5). Die späteren Bearbeitungen akzentuieren
diesen Zug noch schärfer. Nach der Homilie (ed. Hunnius, Zeile 189)
war der Fisch „gesalzen und getrocknet seit vielen Tagen". Nach
einer arabischen Version (siehe später) war es ein gebratener Fisch,
nach einer andern sogar ein halb gegessener. Nach einer äthiopischen
Darstellung (S. 189 ff., Anm. 4, Absatz 3) war es ein gekochter Fisch,
nach dem altfranzösischen Roman (Meyer Alexandre II, 175) sogar zwei
gekochte Fische, die zufällig in den Lebensquell hineinfielen.
188 I Friedlaender
suchte ihn in einer der Quellen zu reinigen. Da wurde der
Fisch lebendig und entschlüpfte seinen Händen. Der Koch
sprang dem Fische nach, um ihn zu fangen^, und nahm auf
diese Weise ein unwillkürliches Bad.^ In seiner Beschränktheit^
merkte der Koch die Bedeutung des Vorganges nicht und er-
zählte daher keinem, was ihm passiert war. Erst als sie nach
vergeblichem Suchen durch das Land der Finsternis hindurch
zurückgekehrt waren und ein jeder seine Erfahrungen in diesem
merkwürdigen Lande zum Besten gab*, da fühlte sich auch der
' „Der Koch fürchtete, der König könnte von ihm verlangen, daß
er den Fisch zurückgebe . . . und er sprang in den Born herab, um ihn
zu fangen" (Homilie Zeile 105 f.). Dieser Zug, der für das Verständnis
der Sache unerläßlich ist, fehlt im Pseudokallisthenes. Vielleicht liegt
dasselbe Motiv der Lesart von L (S. 170, Anm. 1) zugrunde: der Koch
fürchtete etwas zu sagen, damit Alexander nicht den Fisch zurück-
verlange.
* So nach der Homilie (unten S. 215) und vielen späteren Be-
arbeitungen. Nach dem Talmud spritzte er sich das Wasser ins Gesicht
oder, nach einer Variante (unten S. 205, Anm. 5), wusch sich damit, ein
Zug, der der Homilie nahekommt. Daß der Koch, und zwar mit Ab-
sicht, vom Wasser getrunken, berichten bloß C und i, aber nicht B.
Nach B (vgl. S. 170, Anm. 3 und S. 172, Anm. 7) wurde der Koch
anscheinend nur deswegen bestraft, weil er den Vorgang nicht rechtzeitig
meldete. Diese Verschiedenheit hängt mit der Frage zusammen, ob der Eoch
in den Besitz des Lebenswassers absichtlich oder unbewußt gelangte, eine
Frage, die die verschiedenen Formen der Sage verschieden beantworten.
Daß letzteres das richtige ist, ergibt sich aus dem Verlauf und der
Tendenz der Legende, vgl. S. 191, Anm. 1. — Daß der Koch etwas
Lebenswasser aufbewahrt, um die Gunst der Kaie zu gewinnen, ist dem
Rest der Erzählung gegenüber sekundär: Über die Kaieepisode vgl.
unten S. 189, Anm. 4, Anfang.
* Ursprünglich ist der Koch beschränkt, nicht, wie im Pseudo-
kallisthenes, böswillig, s. vorhergehende Anmerkung und unten S. 219 f.
* Die Perlen und Edelsteine, die Alexander und sein Heer im
Lande der Finsternis auflesen, gehören anscheinend zum zweiten Zuge
durch die Finsternis auf dem Rückwege (vgl. §§ 28, 30). Diese Episode
kann ebensogut zur Legende vom Lande der Seligen wie zu der vom
Lebensquell gehören (§ 28 gehört wohl zur ersteren, § 30 zur letzteren),
aber die Legende ist auch ohne sie durchaus verständlich. Die armenische
Version (oben S. 180, Anm. 2) und Josippon Kap. 10 lassen die Episode ans.
Alexanders Zug nach dem Lebensqnell und die Chadhirlegende 189
Koch gedrungen, die Begebenheit mit dem Fische zu erzählen.
Alexander wird Ton wildem Schmerz ergriffen^, als er aus dem
Berichte seines Koches erfährt, daß ihm durch dessen Nach-
lässigkeit die heißersehnte Gelegenheit, sich ewiges Leben zu
verschaffen, so nahe an der Verwirklichung entschlüpft ist.
Sein Arger entlädt sich nun auf das Haupt des unglückseligen
Koches. Zwar sucht dieser ihm die Nutzlosigkeit der Reue
vor Augen zu halten.* Aber dieser philosophische Einwand
vermag die Wut des enttäuschten Welteroberers nicht zu be-
sänftigen. Alexander gibt Befehl, seinen Koch hinzurichten.
Allein — der Tod hat keine Gewalt über ihn: er ist ja, ohne
es zu wissen, durch das Bad in der Lebensquelle unsterblich
geworden.' Alexanders Mißgunst und Beschämung kennt nun-
mehr, da er sich bewußt wird, daß sein Koch mühelos erlangt
hat, was er selber mit heißem Bemühen vergeblich erstrebt
hatte, keine Grenzen. Um den garstigen Koch endlich los zu
werden, läßt er ihm einen Stein (nach L einen Mühlstein) um
den Hals hängen und ins Meer versenken. Sterben kann der
Koch, der mit dem Lebenswasser in Berührung gekommen,
nicht. Aber auch die Unsterblichkeit fruchtet ihm wenig.
Er wird zu einem Seedämon, der bestimmt ist, in dem Teile
des Meeres, in dem er versenkt wurde, in alle Ewigkeit hinaus
ein freudloses Dasein zu fristen.*
* Vgl. die lebhafte SchUdenmg der Homilie Zeile 221 £F. Auch L
setzt diesen ursprünglichen Zug voraus (oben S. 170, Anm. 5). In C
fehlt er gänzlich. B ist zu kurz, um ein sicheres Urteil zu ge-
statten.
* Nur 80 ist der Einwand des Koches (§ 31) verständlich: meine
Bestrafung ist nutzlos; dein Zorn kann den Lebensquell ja doch nicht
zurückbringen. In der Darstellung des Pseudokallisthenes schweben die
Worte des Koches in der Luft.
' AU dies ist im Pseudokallisthenes vollständig verwischt, tritt da-
gegen in den anderen Versionen scharf hervor. S. unten S. 217.
* VgL Nöldeke Beiträge zum Alexanderroman p. 25: „Der Koch
Alexanders und seine Tochter, denen es geglückt ist, vom Lebenswasser
zu trinken, gelangen doch nicht zu wirklichem Heil, sondern werden zu
190 I- Friedlaender
Die Tendenz der Sage tritt in dieser Form in scharfen
Umrissen hervor. Die Unsterbliclikeit ist für den Sterblichen
nicht nur nicht erreichbar; sie ist für ihn nicht einmal be-
gehrenswert. Mit dramatischem Effekt, ich möchte fast sagen,
mit dramatischem Hohn wird diese Wahrheit am Schicksal
Alexanders zur Anschauung gebracht. Der große Welteroberer,
dem die gesamte Erde zu Füßen liegt, lechzt vergebens nach
Seedämonen." Kaie, die in einen Dämon verwandelt wird, geht „weinend
und klagend" von Alexanders Angesicht hinweg (§ 32 Ende), Im Pseudo-
kallisthenes ist all dies fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. — Die
Episode mit Kaie (§ 32) sieht altertümlich aus, dürfte aber ursprünglich
kaum zur Legende gehört haben. Sie fügt nichts Wesentliches zur
Ökonomie der Sage hinzu und hat auf die orientalische Alexanderdichtung
keinerlei Einfluß ausgeübt.
Interessant und für unseren Gegenstand wichtig sind diejenigen
Parallelen zur Verwandlung des Koches, die vom Pseudokallisthenes
unabhängig sind und sehr altertümliche Züge aufweisen. Ich führe
zunächst den hier mehrfach zitierten hebräischen Alexanderroman an
(oben S. 181, Anm. 2), von dem auch Harkavj (im Sbornik otdielenia
russkawo jazyka i sloiviesnosti , herausgegeben von der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften zu Petersburg, Band 53, 1892) eine aus-
führliche Analyse nach einer Handschrift aus Damaskus gibt (vgl. auch
die Bemerkungen Wesselowskys und Gasters in demselben Bande). Der
Roman dürfte kaum, wie Gaster behauptet, vormohammedanisch sein,
aber er ist jedenfalls vom Pseudokallisthenes unabhängig. Es beißt
dort: Der König und seine Armee gelangen an einen großen Fluß,
dessen Wasser jedoch untrinkbar ist. Sie graben Quellen in der Nähe
des Flusses und finden in denselben vorzügliches Wasser. Sie lassen
sich daher in jener Gegend nieder Am zehnten Tage tötete ein könig-
licher Jäger einige Vögel, die aber, als er sie in jenem Flusse reinigen
wollte, ins Leben zurückkamen und davonflogen. „Als der Diener des
Königs dies sah, eilte er an den Fluß und trank von dessen Wasser.
Er meldete dies dem Könige, der ausrief, daß es das Wasser des
Paradieses sein müsse (vgl. unten S. 205) und daß jeder, der aus dem-
selben trinke, ewig leben werde. 'Gehe hin und bringe mir etwas Wasser
zum Trinken!' Der Diener nahm ein Gefäß und ging hin, um etwas
Wasser zu holen. Aber er suchte den Fluß und konnte ihn nicht
finden. Er kehrte zurück und sagte zum König: 'Ich war nicht im-
stande, das Wasser jenes Flusses (Ms. Damascus; jener Quelle, vgl. unten
S. 207, Anm. 4) zu finden, denn der Herr hat es vor mir verborgen.' Als
der König dies hörte, geriet er in solche Wut, daß er sein Schwert er-
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 191
Unsterblichkeit. Seinem Koche fällt sie durch puren Zufall^
in den Schoß, vermag aber nichts, als ihn in einen elenden
Seedämon zu verwandeln.
Die Legende von Alexanders Zug nach dem Lebensquell
zeigt sovrohl in Tendenz wie in Form eine so frappante
Ähnlichkeit mit der griechischen Glaukossage, daß ein Zu-
fall ausgeschlossen erscheint. Die Glaukossage, die im alten
griff und dem Diener den Kopf abschlug. Der kopflose Diener begab
sich aber nach dem großen Meere. Menachem der Schreiber (derselbe
figuriert im Roman als Alexanders Sekretär; berichtet im Namen der
Weisen, daß es kopflose Menschen in der See gebe, die die Schiffe um-
stürzen. Doch wenn sie sich einem Schiffe nähern, um es umzustürzen
und die Passagiere ausrufen: 'Flieh! flieh! Dein Herr Alexander!' dann
fliehen sie auf der Stelle und das Schiff ist gerettet" (zum letzteren
Tgl. oben S. 173, Anm 6).
Die von Budge herausgegebene und übersetzte äthiopisch -christ-
liche Alexanderlegende (Budge Life and Exploits of Alexander the Great,
London 1896), die sonst tou wildester Natur ist, bietet die obige Episode
(p, 481 ff., Kap. XI) in einer Form, die sich teilweise sehr altertümlich
ausnimmt: Ein Fischer fing in einem Teiche, dessen Wasser weiß wie
Milch war, Fische, die unter keinen Umständen, selbst wenn sie gekocht
wurden, getötet werden konnten. Alexander, der davon hörte, befahl
dem Fischer, ihm den Weg zu jenem Teiche zu zeigen, damit er in
demselben bade (vgl. oben S. 188, Anm. 2). Aber der Fischer verirrte
sich und konnte den Teich nicht finden. Alexander will den Fischer
töten, aber dieser kommt immer wieder ins Leben zurück. Schließlich
legt er ihn in Ketten und wirft ihn ins Land der Finsternis, ,,weil kein
Mensch ihn mit irgendeiner Todesart töten konnte".
Interessant ist die Variante im altfranzösischen Alexanderroman
(Meyer Alexandre II 175 f.): Enoc (d h. Henoch, der ewig lebt) findet
die Lebensquelle und badet, trotz Alexanders Verbot, in derselben. Da
Alexander ihn nicht töten kann, läßt er ihn lebendig in eine Säule
einmauern.
* „Indes Iskender (= Alexander) ihn (den Lebensquell) nicht sah
trotz seines Strebens,
WardChiser (= Chadir) ungesucht zuteil der Quell des Lebens."
So der Dichter Nizänü (s. unten). Diese Antithese zu Alexanders
fieberhaftem Suchen ist notwendig. Sie ist wohl im Zusatz von L
(oben S. 170, Anm. 5) angedeutet: T,g 6 i^og iiäysigos rervxriyisv. Siehe
oben S. 188, Anm. 2 und unten S. 215.
192 I- Friedlaender
Grieclienland weit verbreitet war, wird in verschiedenen
Fassungen überliefert.^ Nach der gangbarsten Version war
Glaukos ein Fischer aus Anthedon in Böotien.^ Als er einst
vom Fischfang am Meeresufer ausruhte, bemerkte er, daß einer
der erbeuteten Fische, der von ungefähr mit einem Kraute in
Berührung gekommen war, wieder lebendig wurde und ins
Meer sprang. Glaukos genoß von demselben Kraute, sprang,
von göttlicher Begeisterung ergriffen, ins Meer, und wurde
hierauf von den Göttern in einen Seedämon verwandelt. Nach
einer andern Version^ gelangte Glaukos in den Besitz der
Unsterblichkeit, indem er zufällig* auf den Lebensquell stieß
^ Siehe Gaedechens Glaukos der Meergott, Göttingen 1860 (im
folgenden als „Gaedechens" zitiert) und den Artikel Glaukos von dem-
selben Verfasser in ßoschers Ausführlichem Lexikon der griechischen und
römischen Mythologie p. 1678 vorl. Z. ff., bes. p. 1679 unten (im folgenden
als „Röscher" zitiert). Vgl. auch Wünsche Die Sagen vom Lebensbaum
und Lebenswasser, Leipzig 1905, p. 17.
* „Im jagdliebenden Aitolien ward Glaukos zu einem Jäger, das
Tier zu einem Hasen," Röscher p. 1679, 61. Vgl. die Parallele im
hebräischen Alexanderroman oben S. 189, Anm. 4 Absatz 2.
' Scholia in Platonem ed. Bekker, London 1824, p. 88 (zu Republik
Kap. 10, p. 611 C). Ich setze die sehr interessante Stelle, auf die ich
unten mehrfach zurückkomme und auf die mich eine Bemerkung Dyroffs
in der Zeitschrift für Assyriologie VII 321 führte, hierher: Tov FXavyiöv
(pccGi, 2/i6vq>ov Kai MsQOTCrjg slvai viov, ysvieO'ca Sh Q'aXätTLOv daifiova.
ovTog yccQ TtSQirvxoiv zjj ccd^aväro) nriyfj k<xI Karsi.Q'cbv slg avxr]v icd'avaeLag
^Tvxs, (ii] dvvrid'Elg dk Tavxr\v naiv inidst^ai slg d'dXaCöav iggicpri. xal
neqUiGi rovg alyiaXovg nävtag xal tag vrjGovg aitcc^ rov ivuxvrov a^LU
TOtg XJJT6CI. fiavrsverai, Sh nävta (pavXa. y,al yag intxriQOvaiv ol aXistg
vvKxa, KaO"' i)v a'brolg XQ9^ ''^'^ i^arayo} TCoXXä, nal KaraSvvrsg slg to
KoiXov rfig vsag ioTQU^ifiivrig avrfjg (aogatog yag 6 öaiyiav avtotg)
d'Vfii&öiv, insvxoiisvoi a7taXXayi]v cov TtQoayoQSvsi. 6 Si Ttgoevri^ä^isvog
ry nivQcc dXocpvQStai, ttjv äO'avaaiav 'EXXdcSt cpav^ aloXi^ovciD, xal TcgoXiysi
Saxov xal xuQn&v (p&OQav. oi 3h &Tisvxovxai &7t6cixoi xai &Jtoxoi dia-
xsXovvxsg. Vgl. über diese Stelle Gaedechens p. 197 f., der diese Fassung
der Sage aus Korinth ableitet; cf. ib. p, 43, Anm. 2.
* Dies liegt wohl in dem Verbum :tsQi,xvxmv (vorhergehende An-
merkung). Vgl. oben S. 191, Anm. 1.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 193
und in denselben kinunter stieg. ^ Doch stimmen alle Versionen
der Legende darin überein, daß der Besitz der Unsterblichkeit
Glaukos keineswegs zum Heile gereicht. Alljährlich einmal
durchzieht er des Nachts alle Meere und Inseln, laut klagend,
daß er nicht sterben könne.' Seine Prophezeiungen sind düster
und unheilvoll. Aber die Fischer und Schiffer, deren Schutz-
patron er ist^, vermögen durch Opfer und Fasten die drohende
Gefahr abzuwenden.*
Es muß den Kennern der griechischen Mythologie über-
lassen bleiben, den feineren Beziehungen zwischen dem griechi-
schen Glaukosmythus und der Lebensquellsage nachzuspüren.
Aber so viel steht fest, daß die wesentlichen Merkmale der
beiden Legenden identisch sind: Lebensquell, Auffindung des-
selben vermittelst eines toten Fisches, Sprung ins Meer, Ver-
wandlung in einen Dämon, Unerquicklichkeit des ewigen
Lebens.^
* Um zu baden oder zu trinken? Vgl. oben S. 188, Anm. 2.
' Gaedechens 176, 189, Röscher 1682, 54. Vgl. oben S. 189,
Anm. 4 Anfang.
' Gaedechens 39, 187 f., Röscher ibid.
* Vgl. oben S. 192, Anm. 3 gegen Ende
® Vielleicht hängt auch die merkwürdige Motivierung im Scholion,
daß Glaukos deswegen ins Meer stürzte, weil er die errungene Un-
sterblichkeit Zweifelnden nicht beweisen konnte, irgendwie mit unserer
Legende zusammen, nach welcher die Unsterblichkeit des Koches auch
nach der Berührung mit der Lebensquelle unerkannt blieb und sich
erst bei dem Versuche, ihn hinzurichten, herausstellte (vgl. S. 217). Nach
Bergk, bei Gaedechens p. 197, Anm. 3, können die betreflFenden Worte
des Scholiasten auch bezeichnen, „daß man verlangte, er solle diesen
Quell anderen zeigen, und da er dies Verlangen nicht erfüllen konnte,
ward er ins Meer geworfen, oder stürzte sich selbst hinein". Diese
Fassung, falls sie richtig wäre, würde lebhaft an die oben S. 189, Anm. 4
erwähnten Versionen und an die Homilie unten S. 215) erinnern. —^ Ich
verweise noch femer darauf, daß, ähnlich dem Andreas (oben § 33),
auch Glaukos dem Orte, an dem er ins Meer stürzte, den Namen gibt
(Gaedechens 185, Röscher 1679 unten), daß er sich aufs engste an
Nereus (Gaedechens 56, Röscher 1680, 65) und die Nereiden (Gaedechens
69ff , Röscher 1681, 1) anschließt (vgl. Andreas und Kaie, die Nereide)
Archiv f. Beligionswissenschaft XTTT 13
194 I- Friedlaender
Es liegt auf der Hand, daß der Verfasser des Olympias-
briefes, der gelegentlich jüdischen oder christlichen Einfluß
verrät^, hier, wie sonst^, aus einer griechischen Quelle ge-
schöpft hat. Das ganze Kolorit der Lebensquellsage, die
Figur des Koches Andreas, der überdies in einem andern Zu-
sammenhange in einer alten sikyonischen Tradition erscheint^,
die Gestalt der Kale^ vor allem aber die Grundtendenz — das
Leben ist der Güter höchstes nicht, wenn es nicht mit dem
Genuß von Ambrosia und Nektar verbunden ist^ — ist durch
und durch hellenisch. Die Alexanderdichtung® verfuhr eben
unkritisch. Sie bemächtigte sich eines jeden Sagenmotives,
das ihr in den Weg kam, um es in ihren Schleier zu ver-
weben. Sie griff auch den Glaukosstoff auf und verwertete
ihn, wie wir gestehen müssen, mit großem Geschick für das
Charakterbild ihres Helden.'
und, gleich Andreas, sich durch seine Neigung zum weiblichen Ge-
Bchlechte auszeichnet (Gaedechens passim. Röscher 1684, 12). Manche
Berührungspunkte mögen in der Darstellung des Pseudokallisthenes
bereits verdeckt sein. In der ursprünglichen Fassung der Lebensquell-
eage waren wohl die Zusammenhänge klarer.
* Vgl. Müller Einleitung zu seiner Edition p. XVI a. Zacher
Pseudokallisthenes p. 132, Meißner Alexander und Gilgamos p. 8 ff.
* Vgl. Rohde Der griechische Roman p. 190, Nöldeke Beiträge zum
Alexanderroman p. 25, Dyroff in Zeitschrift für Assyriologie VII, 321.
' Siehe oben S. 169, Anm. 6. * Vgl. Nöldeke a. a 0. p. 25 unten.
' Vgl. dagegen Ecclesiastes 9, 4. Treffend sagt Hopkins in seinem
Artikel The Fountain of Youth im Journal of the American Oriental
Society 26, p. 37: „the real quest of the Semite is for life immortal;
of the Hindu for renewed youth . . . Nor does the Semite lay stress
on 'youth and beauty', as does the Hindu. The Hindu, in a word,
seeks to secure the whole charm of life; the Semite seeks to avoid death".
® Ich sage absichtlich Alexanderdichtung, nicht Pseudokallisthenes,
weil dieser ohne Zweifel die fremden Sagenstoffe in ihrer Übertragung
auf Alexander bereits vorgefunden hat. Soviel Originalität, als zu einer
solchen Übertragung notwendig ist, darf man dem Verfasser des Pseudo-
kallisthenes nicht zutrauen. Die Unklarheiten und Widersprüche in
seiner Darstellung wären auch kaum verständlich.
' Ungemein treffend und sowohl fiir das Obige als auch insbesondere
für die unten zu erörternden Probleme beachtenswert sind die Worte, mit
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 195
In neuerer Zeit ist von assjriologischer Seite ^ mehrfach
die Behauptung aufgestellt worden, daß die Lebensquellsage,
wie die Alexandersage überhaupt, aus Babylonien entlehnt sei.
Was den letztern weitergehenden Anspruch betrifft, so scheint
er uns auf zwei irrigen Voraussetzungen zu beruhen: einer
allgemeinen, die das Wesen der Sagenbildung verkennt und
derselben zu viel Methode und Bewußtsein zuschreibt*, und
denen B. Beer in seinen Beiträgen zur Ahxatidersage (ZDMG 9 [1855]
p. 787) das kompilatorische Verfahren der Sage überhaupt und ins-
besondere der Alexandersage charakterisiert: „Es kömmt hierbei gar
nicht darauf an, ob diese Ereignisse mit einem und demselben Helden
sich zutrugen, ob sie überhaupt in derselben Weise vereinigt irgend-
einem Sterblichen zukamen, ob sie einen geographischen oder historischen
Halt haben oder nicht; es sind einzelne Data aus verschiedenen in
Umlauf gewesenen Volkssagen, die vielleicht aus ganz verschiedenen
Zeiten und Quellen stammen, in ganz verschiedenen Kreisen und
Gegenden ans Licht traten, ursprünglich von ganz verschiedenen Heroen
erzählt wurden und hier auf das eine Haupt zusammengetragen sind,
das mit unvergleichlichem Lorbeer geschmückt werden soll. Die Über-
tragung solcher Tatsachen von einer Individualität auf eine andere,
zuweilen um Jahrtausende davon getrennte Persönlichkeit ist in der
jüdischen und überhaupt in der morgenländischen Sage so häufig, daß
es eigentlich gar keiner weiteren Beispiele hiervon bedarf ... Es bilden
also die einzelnen Fakta durchaus kein Kriterium, den Mann und sein
Zeitalter daraus zu erkennen, der ims vorgeführt wird. Der Charakter,
der ihm in dem Berichte aufgeprägt, der höhere Wirkungskreis,
der ihm angewiesen ist, dies vielmehr sind die Hauptargumente, die
über ihn entscheiden."
» Lidzbarski in Zeitschrift für Assyriologie VII (1892) p. 109;
Meißner Alexander und Gilgamos 1894, passim. Vgl. Kampers Alexander
der Große 880^., der aber bloß referiert.
^ Nach Meißner könnte es so scheinen, als hätte die Alexander-
sage das Bild des Mazedoniers dem des babylonischen Nationalhelden
systematisch nachgezeichnet (vgl. den Titel und insbesondere den Schluß-
satz seiner Abhandlung). In Wirklichkeit aber dürfte es sich so ver-
halten, daß die uralten Sagenmotive, die auf Gilgamesch, weil er der
Nationalheros war, (aber auch auf andere babylonische Helden) über-
tragen wurden, auch in der Zeichnung der Gestalt Alexanders zur Ver
Wendung gelangten, weil er der Heros des späteren Orients geworden
war (vgl. Kampers a. a. 0. p. 134). Die Ähnlichkeit erklärt sich daher
nicht aus bewußter Nachahmung, sondern aus einer unbewußten Ver-
la*
196 I- Friedlaender
einer speziellen literarhistorischen, die den babylonischen Tal-
mud wegen seines Ursprungsortes als die Quelle des Pseudo-
kallisthenes oder eines Teiles desselben auffaßt.^ Es unterliegt
keinem Zweifel, daß die Alexanderdichtung vielfach mit Sagen-
motiven operiert, die in letzter Instanz auf Babylonien zurück-
gehen.^ Bei dem hohen Alter der babylonischen Kultur und,
was damit vielfach identisch ist, der babylonischen Mythologie
und bei dem überwältigenden Einfluß derselben auf das ge-
samte Altertum, wie er sich immer großartiger vor unseren
Augen entrollt, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir auch
im spätem Mythus Elemente entdecken, die wir in ähnlicher
Form in Babylonien wiederfinden. Babylonische SagenstoflFe
oder Sagenmotive waren ohne Zweifel, in unzähligen Varia-
tionen überliefert und durch unzählige Kanäle vermittelt, im
ganzen Altertum verbreitet, und keine neue Sagendichtung
vermochte es, sich deren Einfluß zu entziehen und sie unbenutzt
beiseite zu lassen. Denn auch die menschliche Phantasie folgt
dem Gesetze vom geringsten Widerstände und erfindet nicht,
wo sie entlehnen kann. Aber eine babylonische Parallele
braucht daher noch nicht eine direkte babylonische Ent-
lehnung zu sein. Jene Elemente sind vielmehr als Material
aufzufassen, das auch für einen andern Zweck verwertet werden
kann; sie sind nichts als „einzelne Data aus verschiedenen in
Umlauf gewesenen Volkssagen, die vielleicht aus ganz ver-
schiedenen Zeiten und Quellen stammen, in ganz verschiedenen
Kreisen und Gegenden ans Licht treten, von ganz verschiedenen
Heroen erzählt wurden"^, die aber einer neuen selbständigen
arbeitung umlaufender Sagenstoffe. Siehe die Ausführungen im Texte
und die oben S. 194, Anm. 7 zitierte Bemerkung Beers. Der Unterschied
zwischen diesen beiden Auffassungen ist der, daß nach der letzteren
auch für nichtbabylonische, in unserem Falle hellenische, Einflüsse
genug Raum übrig bleibt. * Vgl. darüber unten S. 206 ff.
* Vgl. Meißner a.a.O. p. 13tf., wo jedoch einzelnes zum Wider-
spruch reizt. Siehe auch S. 198
» Oben S. 194, Anm. 7.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 197
Idee oder Tendenz dienstbar gemacht werden. Und gerade
diese Idee oder Tendenz ist es, die das Wesen, den Charakter
einer Sage ausmacht. Was nun speziell den Gegenstand unserer
Untersuchung betrifft, so ist, infolge der ungenügenden Er-
kenntnis der Struktur des Olympiasbriefes, übersehen worden,
daß die babylonischen Parallelen und Berührungs-
punkte sich auf die Legende vom Lande der Seligen
beschränken^, während die Lebensquellsage mit dem baby-
lonischen Mythos nichts gemeinsam hat. Der Quell im 6il-
gameschepos- ist doch recht problematisch. Der Lebensquell
' Nach der Darstellung im Pseudokallisthenes liegt das Land der
Seligen hinter dem Lande der Finsternis (vgl. oben S. 166, Anm. 5).
Nach dem Talmud (unten S. 203, Anm. 7) und der syrischen Homilie (unten
S. 213, Anm. 8) sind es Berge der Finsternis (vielleicht ist damit auch
der Berg in der syrischen Alexanderlegende identisch, vgl. Meißner p. 13).
Statt des Landes der Seligen liest i an einer Stelle (oben S. 170, Anm. 9)
die In.seln der Seligen (vgl. auch Wilhelm Herz Gesammelte Abhand-
lungen Stuttgart und Berlin 19ü5, p. 93 und besonders Anm. 1). Statt des
Landes der Finsternis liest ein Kodex der Homilie, der auch sonst alter-
tümliche Züge aufweist, Meer der Finsternis (vgl. auch den arabischen Namen
'bahr az-zulumät', 'Meer der Finsternisse' für den Atlantischen Ozean).
Demnach Hegen hier zwei Anschauungen vor. Nach der einen lagert
vor dem Lande der Seligen das Land (oder die Berge) der Finster-
nis. Nach der anderen liegt die Insel (oder Inseln) der Seligen hinter
dem Meer der Finsternis. Von beiden Auffassungen finden sich deut-
liche Spuren im Gilgameschepos. Vgl. einerseits das Gebirge Mäschu
und den Götterpark, den Gügamesch, nachdem er aus der Finsternis
ans Licht getreten, findet (s. Jensen Das Gilgameschepos in der Welt-
literatur I, Straßburg i. E. 1905, p. 24 und 27), anderseits die Gewässer
des Todes (den stinkenden Ozean in der syrischen Legende, vgl. Meißner
p. 15) und den Aufenthaltsort des Xisuthros (Jensen ib. 32, 33). — Den
Park, dessen Bäume Edelsteine tragen (Jensen ib. 27; derselbe in Keü-
inschriftliche Bibliothek [= KB.] VI, 209), möchte ich (gegen Meißner p. 14)
mit den Edelsteinen identifizieren, die Alexander und sein Heer im
Lande der Finsternis finden (oben § 30). — Über die geographische
Lage des Landes der Seligen vgl. unten S. 223, Anm. 4. — Über die
Tendenz der Sage im Pseudokallisthenes im Gegensatz zu der im
Gilgameschepos, vgl. später S. 198, Anm. 3.
* Jensen a. a. 0. 47; KB. VI, 249.
198 I. Friedlaender
ist er jedenfalls nicht.^ Die charakteristischen Züge der
Lebensquellsage, wie der tote Fisch, die Verwandlung in einen
Seedämon, die für das Verständnis der Sage unentbehrlich ist^,
und vor allem die Tendenz sind dem babylonischen Mythos
fremd.'' Jedenfalls aber scheint es uns durchaus verkehrt, aus
dem Vorhandensein babylonischer Parallelen in der Alexander-
sage auf eine direkte babylonische Abhängigkeit zu schließen
oder gar auf diesen Umstand weitgehende Identifikationen mit
viel jüngeren Formen der Sage zu gründen.*
Wir haben oben gesehen, daß in der Darstellung des
Pseudokallisthenes das Land der Seligen eine sekundäre Rolle
spielt und gewissermaßen als eine Dekoration für Alexanders
Zug nach dem Ende der Welt verwendet wird. Als ihm eine
■ Das Kraut (KB. 252f.; Gilgameschepos 49) scheint die Funktion
eines Lebenskrautes zu besitzen und würde dann an das Glaukoskrant
(oben S. 192) erinnern. Aber Jensen (Gilgameschepos p. 49, besonders
Anm. 2) bestreitet diese Ansicht.
* Meißner p. 10 und nach ihm Kampers p. 89, die diesen Zug für
sekundär halten, verkennen vollständig Zweck und Bedeutung der Sage.
' Andreas wird ein elender, lebensüberdrüssiger Seedämon. Xisuthros
dagegen wird nicht nur unsterblich, sondern auch selig. Daß der
Mensch sterblich ist und Alexander ebensowenig wie Gilgamesch ewiges
Leben erringen kann, ist doch zu sehr eine Binsenwahrheit, als daß
daraus ein Abhängigkeitsverhältnis erschlossen werden könnte. Dagegen
findet sich vielleicht ein Anklang an unsere Sage im Adapamythua
(KB. VI, 93 f., vgl. Jensen Das Gilgameschepos p. 75). Adapa, ein
Fischer und Schiffer der Stadt Eridu (erinnert an Glaukos, oben
S. 192 f.), zerbricht dem Südwind, der ihn einst angriff, als er, um Fische
zu fangen, aufs Meer hinausfährt, die Flügel. Er wird vor Anu zitiert,
der ihm Speise des Lebens und Wasser des Lebens anbietet. Aber auf
den Rat des Gottes Ea schlägt er die ihm angebotene Gabe aus und
kehrt als Sterblicher zur Erde zurück. Falls die Tendenz hier ist, daß
die Unsterblichkeit dem Menschen kein Heil bringt, würde der Mythus an
die Lebensquellsage, besonders an die Glaukoslegende, erinnern. Doch ist
hier auch eine andere Deutung möglich (s. Jensen Gilgameschepos p. 76 Z. 1,
vgl. p. 122 Z 5). Jedenfalls aber liegen hier nichts als Anklänge vor.
* Wie ea Lidzbarski Zeitschrift für Ässyriologie VII, 104 ff. ver-
aucht hat. Vgl. noch unten S. 206 ff.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 199
höhere Stimme den Eintritt in dasselbe verwehrt, zieht sich
Alexander ohne weiteres zurück, indem er daraus entnimmt,
daß er am Ende seiner Wanderung, das für ihn mit dem
Ende der Welt zusammenfällt, angelangt ist. Allein es liegt
auf der Hand, daß hier eine Form der Legende durchschimmert,
in welcher dieser Rückzug, der im Oljmpiasbrief als etwas
Natürliches und Freiwilliges erscheint, als eine Demütigung
des Welteroberers gedacht war und in welcher der herrsch-
süchtige Mazedonier, der in seinem Übermut die Grenzen des
Irdischen zu überschreiten wagt, nachdrücklich an die mensch-
liche Ohnmacht gemahnt wird.^ Hier lag ein Motiv vor, das
wegen seiner religiösen Färbung auf Juden und Christen den
gleichen R^iz ausüben mußte. Diesem Motive' entsprang wohl
die berühmte Sage von Alexanders Zug nach dem
Paradies. Das Land — oder die Lisel — der Seligen wird
begreiflich genug mit dem Paradies identifiziert' und der ehr-
' Vgl. bereits die Ausdrucksweise der anneniscben Version oben
S. 180, Anm. 2, die ein ähnliches Motiv widerspiegelt. Siehe auch Pseudo-
kallisthenes ed. Müller II, 41 (oben § 27, S. 170).
* Die Überhebung Alexanders wird bereits I. Makkabäer 1, 3 {xal
v\l)m9r] xal iTf^Q&r} rj Kugdia avrov) vorausgesetzt. Vgl. S. Fraenkel
ZDMG 45, 324.
' Diese Identifikation wurde vielleicht durch die Brahmaneninsel
(oben § 10) vermittelt, die schon früh (vgl. Wesselowsky Jz istoriji ro-
viana i powiesti I [1886], p. 280 ff.) mit der Insel der Seligen identifiziert
wurde. Denn bereits nach PseudökaXlisthenes ed. MüUer III 7 liegt die
Brahmaneninsel am Ganges, der für den Paradiesfluß Pison erklärt wird.
Die Brahmanen werden unter anderem auch mit den im Paradies
wohnenden Nachkommen Seths identifiziert (vgl. Wesselowsky ibidem und
Budge Life and exploits of Alexander the Great, in der äthiopischen
Alexandersage II 129). Nach einer hebräischen Alexanderversion, die
von der oben mehrfach zitierten verschieden ist (vgl. Gaster in dem oben
S. 189, Anm. 4 zitierten SbomiJc otdielienia etc p. 48) „zieht Alexander
nach dem Flusse Pison, d. i. dem indischen Ganges, aus dem der ägyp-
tische Nil fließt." S. unten S. 201. Vgl. Gaster im Journal of the Royal
Asiatic Society 1897, p. 497, und Hopkins im Journal of the American
Oriental Society 26, p. 20 f. — Die Verquickung der Lebensquellepisode
mit der Paradiessage tritt deutUch im koptischen Alexanderroman (etwa
200 I- Friedlaender
geizige Held wird, abweichend vom Pseudokallisthenes, in seine
Schranken verwiesen und von seiner unersättlichen Herrsch-
sucht geheilt.^
Diese Legende, die verdientermaßen in zahlreichen Varia-
tionen in die Weltliteratur eingedrungen ist, findet sich bereits
im Talmud.^ Doch läßt die Form der Darstellung darauf
schließen, daß sie hier nicht ursprünglich, sondern aus einer
anderen und natürlich älteren Quelle entlehnt ist.^ Eine aus-
führlichere und teilweise ursprünglichere Form der Sage findet
sich in der lateinischen Schrift „Alexandri Magni iter ad
Paradisum"^, die zwar dem zwölften Jahrhundert angehört,
aber ohne Zweifel auf eine alte jüdische (oder christliche)
Aggada zurückgeht.^
Nach dieser Fassung der Sage, um deren Inhalt kurz zu
skizzieren, wandert Alexander nach dem Paradiese, um das-
selbe zu unterwerfen^ und so seinen Eroberungen die Krone
6. Jh.) hervor, vgl. Oskar von Lemm Der Alexanderroman hei den Kopten,
Petersburg 1903, p. 94: Alexander gelangt an die vier Paradiesströme,
die mit Namen genannt werden. „Sie tranken aber aus ihnen und jubelten,
denn jene Wasserquelle (!) war süß. Darauf sahen sie eine große
Finsternis." Hierauf folgt der Zug ins Land der Finsternis. — Herz
Abhandlungen p. 94 f. ist sicherlich im unrecht, wenn er annimmt, daß
das Paradies ursprünglich ist und durch das bekanntere (!) Land (oder
Insel) der Seligen ersetzt wurde,
^ Vgl. den Satz am Ende von § 36 (oben S. 176).
« Unten S. 206.
' Mit dem höheren Alter der Sage würde auch die Tatsache
korrespondieren, daß die syrische Alexanderlegende, die um 514 n. Chr.
entstanden ist (unten S. 211), dieselbe wohl als bekannt voraussetzt
und gegen sie leise polemisiert (unten S. 211).
* Ed. Julius Zacher, Königsberg 1859. Vgl. über diese Schrift
Israel Lövi in Bevue des Etudes Juives [= E. E. J.] II 299 ff. und XIII
117 f.; Herz Abhandlungen 84 ff.
* Vgl. Nöldeke Beiträge zum Alexanderroman p. 29, Anm. 1.
^ Im Pseudokallisthenes ist der Zweck seiner Wanderung nach dem
Lande der Seligen bereits verdeckt, wenn auch die Rede des Vogels
(oben § 27) denselben erraten läßt. Der in der lateinischen Legende an-
gegebene Zweck klingt durchaus natürlich und ursprünglich. Auch der
Talmud, der diese Sage in fragmentarischer Gestalt bietet, läßt in der
Alexanders Zug nach dem Lebenequell and die Chadhirlegende 201
aufzusetzen. In Begleitung von fünfhundert tapferen Jüng-
lingen^ steigt er auf dem Ganges oder dem Paradiesfluß Pison^
zu Schiff und, unter furchtbaren Schwierigkeiten und Gefahren
stromaufwärts segelnd, gelangt er endlich ans Paradies, Ton
dessen Einwohnern er eine Tributleistung verlangt. Auf diese
Aufforderung hin wird ihm durch eine kleine Öffnung, die
einzige, durch die das Paradies mit der Außenwelt in Be-
rührung kommt, ein St^in gereicht', der einem menschlichen
Auge ähnlich sieht. Nach seiner Rückkehr erbittet und er-
hält Alexander von einem weisen Juden* die Erklärung dieses
seltsamen Geschenkes. Wenn auf eine Wagschale gelegt, kann
der Stein von keinen Schätzen aufgewogen werden. Doch
springt die Wagschale federleicht in die Höhe, wenn man
etwas Staub über den Stein streut. Dieselbe Bewandtnis habe
es mit dem menschlichen Auge. Solange der Mensch am
Leben ist, kann es nicht gesättigt werden. Aber der Tod
setzt aller menschlichen Gier ein rasches Ende. Alexander ist
tiefbewegt. Er sieht die Eitelkeit seines Strebens ein und
zieht sich von allen seinen Unternehmungen zurück. Bald
darauf stirbt er, von einem seiner Diener vergiftet.^
Diese Legende, die, wie man sieht, Jahrhunderte hindurch
unabhängig vom Alexanderroman als selbständiger SagenstofF
tradiert wurde, wurde den orientalischen Versionen des
Alexanderromans einverleibt und bildete von nun an einen
Aufforderung Alexanders an die Paradiesbewohner: „Gebt mir etwas!"
dieselbe Auffassung durchschimmern. — Der Besuch des Gilgamesch auf
der Insel der Seligen gilt eigentlich XiButhros, nicht der Insel.
' Vgl. oben § 18.
» Vgl. oben S. 199, Amn. 3.
' Der Stein ist als Tribut gedacht. In den späteren Bearbeitungen
wird er als Andenken aufgefaßt.
* Derselbe wird in der lateinischen Legende Papas genannt, ein
Xame, der in Babylonien heimisch ist, Tgl. Israel Levi E. E. J. II 299,
Anm. 4.
* Die verschiedenen Versionen Tom Wunderstein vgl. bei Herz Ab-
handlungen p. 73 ff
202 I. Friedlaender
integrierenden Bestandteil desselben. Wir werden später sehen,
in welcher Gestalt sie in der orientalischen und insbesondere
arabischen Alexandersage wieder erscheint und in welcher
Weise sie mit der Lebensquellsage und der Chadirlegende
kombiniert wird.
II
Der Talmud
Die Legende von Alexanders Zug nach dem Lebensquell
findet sich auch im babylonischen Talmud. Aus dieser Tat-
sache sind weitgehende Schlüsse über Entstehung und Über-
lieferung dieser Legende wie des Alexanderromans überhaupt
gezogen worden.^ Um diese Schlüsse, die auch für den
Gegenstand dieser Abhandlung von einschneidender Bedeutung
sind, richtig beurteilen zu können, müssen wir auf die be-
treffende Talmudstelle des genaueren eingehen. Wir geben
die Stelle, die häufig^, aber kaum erschöpfend behandelt
wurde, in wörtlicher Übersetzung wieder^ und prüfen sodann die
literarhistorischen Folgerungen, die sich aus derselben ergeben.
Die Legende findet sich im Traktat Tamid fol. 31^ am
Ende eines Abschnittes, in Übereinstimmung mit einer tal-
mudischen Gewohnheit, einen Abschnitt mit einem aggadisahen
oder legendären Stoff abzuschließen. Sie schließt sich —
und auch dies ist im Talmud gang und gebe — an das Vor-
hergehende nur lose an.* Sie beginnt folgendermaßen: „Zehn
» S. unten S. 206 ff.
* Vogelstein Adnotationes quaedam ex litteris orientalibus petitae
ad fabulas, quae de Älexandro Magno circumferuntur, Breslau 1866,
p. 16 f., 20 f, 26. Israel Lävi R. JE. J. II 299 ff. Vgl. ferner die von Herz
Abhandlungen p. 83, Anm. 3 verzeichnete Literatur.
' Ich benutze die große Wilnaer Ausgabe (1880—1886). Die im
folgenden angeführten Kommentare finden sich in dieser Ausgabe, und
zwar teils am Rande des Talmudtextes, teils am Ende des Traktates.
■* Die Überleitung scheint durch die vorher erwähnte Zehnzahl her-
gestellt zu sein. Nach S. Rapoport Erech Miliin 68 b, 69 a ist die
Talmudstelle ein Zitat aus einem verloreneu selbständigen Werke
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 203
Fragen stellte Alexander der Mazedonier an die Altesten des
Südens."^ Darauf werden die Fragen spezifiziert, deren Inhalt
wir aus dem im Pseudokallisthenes überlieferten Gespräch
Alexanders mit den Gymnosophisten (vgl. oben § 10) kennen.
Wie Nöldeke' nachgewiesen hat, sind diese Fragen und Ant-
worten „weder aus dem Roman (d. h. dem Pseudokallisthenes)
genommen, noch bilden sie eine Quelle desselben", da sie im
einzelnen eher mit Plutarch als mit Pseudokallisthenes über-
einstimmen.^ Unmittelbar auf dieses Stück, das ein palä-
stinensisches Kolorit trägt und sich sprachlich vom Idiom
des babylonischen Talmuds abhebt *, folgt eine andere Alexander-
sage, die den sonstigen Sprachcharakter des babylonischen
Talmuds verrät. Ich übersetze wörtlich: „Er sagte zu ihnen ^:
'Ich wünsche in die Provinz" Afrika zu ziehen'. Da sagten
sie zu ihm: 'Du kannst nicht (hin)gehen, da die Berge der
Finsternis dazwischen lieoren'.' Da sagte er zu ihnen: 'ich
' Nach Rapoport a. a 0. 69 a soll der Süden (Negeb) hier für Indien
stehen. * Beiträge zum Alexanderroman p. 7, Anm. 1.
» Vgl. Beer, ZDMG9, 788 und S. Fraenkel ibidem 45, 323.
* Fraenkel ib. 45, 322 unten und Israel Levi a. a. 0. II 293 f.
^ Im Zusammenhange des Talmuds können damit nur die „Ältesten
des Südens" gemeint sein. Doch kann kein Zweifel darüber bestehen,
daß dieses Stück mit dem Vorhergehenden nichts zu tun hat und daß
ursprünglich die Greise gemeint sind, die Alexander über den Weg nach
dem Lande der Finsternis befragt. Vgl. unten in der Homilie S. 211 f.
® "'"■'"IDN m7:b. über Afrika in diesem Zusammenhang vgl. S.Krauß
in Jeicish Encyclopedial 226; Harkavy in Sbornik otdielienia (oben S. 189,
Anm. 4) p. 95ff. ; Nöldeke Beiträge p. 26 unten; Wesselowsky Jz istoriji
romana i potciesti I 291. — Über die Richtung des Alexanderschen
Zuges vgl, unten S. 223, Anm. 4.
' ycn ■'-irj ■'pOST, vgl. oben S. 197, Anm. 1. Die „Berge der
Finsternis" werden auch sonst in der rabbinischen Alexanderlegende
erwähnt, vgl. Harkavy a. a. 0. p. 94 und unten S. 204, Anm. 6). Auch
der hebräische Alexanderroman (oben S. 181, Anm. 2) spricht (ed. Levi p. 149
oben. Gaster p. 516 oben), sicherlich nicht in Abhängigkeit vom Talmud, von
den Bergen der Finsternis. — Es ist bemerkenswert, daß der hebräische
Ausdruck ^'CT\ "'"iri mitten in einem aramäischen Texte festgehalten wird.
Er macht den Eindruck einer starren vielsrebrauchten Bezeichnung.
204 I- Friedlaender
kann nicht anders als hingehen.^ Deswegen frage icli euch
(um Rat): Was soll ich tun?'^ Da sagten sie zu ihm: 'Nimm
libysche EseP, die im Dunkeln marschieren können.* Nimm
ferner einen Knäuel Stricke^ und befestige denselben auf
dieser Seite (d. h. am Eingang zur Finsternis). Wenn du
nun in den Weg ziehst, halte sie (die Stricke) fest, dann
wirst du an deine (gegenwärtige) Stelle (zurück)gelangen/
Er tat also und begab sich auf den Weg. Er gelangte an
eine Stadt, die ganz aus Weibern bestand." Hier folgt die
bekannte Episode mit den Amazonen.^ Sodann fährt der
Talmud fort: „Als er weiter ging, setzte er^ sich an jene
* Nj"ibTN Nbl N-»5D Nb, wörtlich: „es ist nicht möglich, daß ich
nicht hingehe."
* l-^nyn ■^H'72 NbN IDb Üjb'^^'O^ "«Dr; r^lOH. Raschi (starb 1105)
las anscheinend NbN nicht.
* Die wegen ihrer Ausdauer auch sonst im Talmud erwähnt werden,
vgl. Levy Neuhebräisches Wörterbuch s. v. "^N^ib.
* N'^3|j3 ";IJ"1D1. Nach Jastrows Dictionary, der N^?n punktiert,
bedeutet es „Dunst, Nebel". Die Haggadoth ha -Talmud, eine alte
anonyme Sammlung von Talmudlegenden (im folgenden mit Hagga-
doth bezeichnet), gedruckt mit Kommentar Konstantinopel 1611, lesen
N"im"a ■'OIC „auf denen man das Feld (oder den Wald) durch-
zieht". Der Kommentar folgt der gewöhnlichen Lesart. Der Rabbenu
Gerschom (starb 1040) zugeschriebene Kommentar, der jedenfalls älter
ist als Raschi (vgl. über denselben Epstein in Steinschneiders Festschrift
p. 115 ff.), liest N"'i3n3 (mit Heth) und übersetzt: „welche marschieren,
wenn man ihnen zuredet".
* Da das ursprüngliche Motiv mit den Tieren (oben S. 186, Anm. 2)
vergessen ist und die Esel anscheinend als Reit- oder Lasttiere gedacht
werden, so tritt notwendigerweise das Motiv vom Ariadnefaden hinzu,
um das Wandern im Dunkeln zu ermöglichen. — Nach Fraenkel
ZDMGr 46, 323 stammen die Stricke von den exoivoi her (oben § 21),
mit denen Alexander in der Finsternis die Länge des Weges mißt.
® Vgl, Nöldeke Beiträge p. 26 unten. Dieselbe Geschichte von
den Amazonen, die hinter den Bergen der Finsternis hausen, findet sich
auch, aber ohne die Erwähnung der Esel vorher und des Lebensquells
nachher, in der Pesiqta (etwa V. — VL Jahrhundert), ed. üuber, p. 72 a f.,
und im Leviticus Babba (etwa VII. Jahrhundert) Kap. 27 gegen Anfang.
^ Anscheinend ist Alexander gemeint. Doch liegt hier ein Miß-
verständnis vor, vgl. unten S. 207 f.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 205
Quelle und aß Brot. Er hatte in seiner Hand^ kleine Salz-
fische.^ Während man sie wuscht kam in sie der Lebens-
odem .^ Da sagte er: ^hieraus folgt, daß dieser Quell aus dem
Paradiese kommt'. Einige behaupten: er nahm von jenem
Wasser und spritzte es sich ins Gesicht.^ Andere dagegen
behaupten: er ging an demselben seiner ganzen Länge nach
* Haggadoth besser JT'l^ts *bei sich' statt rfT'n.
* ar'-Dtz-i ■'nb-'i, Haggadoth "'mb?: ■'rNnb-J. Vgl. über diesen
Ausdruck Immanuel Low in Xöldekes Jubelschrift (Orientalische Studien)
p. 552. — Die Fische sind hier offenbar als Zukost gedacht. Vgl.
itgoGcpäyiov im Pseudokallisthenes (oben S. 169, Anm. 6). Dieser ohne
Zweifel ursprüngliche Zug kehrt in der arabischen Alexandersage wieder.
' "^-ninT:"!. Levi a.a.O. 298 Anm. 2 liest den Singular: -.■.in'cn.
(Ebenso scheint Rosch [Ascher b. Jechiel, starb 1328] gelesen zu haben,
obwohl er den Plural übersetzt.) Diese Emendation ist unnötig. Levi
vergißt, daß im Talmud nicht der Koch, sondern Alexander die handelnde
Person ist. Das wußte wohl auch der Talmud, daß nicht Alexander
selber die Fische reinigte.
* Nn**". "17:2 Vd;. Unser Talmudtext, so schon editio princeps
(Venedig 1522), liest 'Reha', 'Wohlgeruch', und Raschi erklärt dem-
entsprechend: „während man sie im Wasser wusch, um das Salz zu
entfernen, fiel in die Fische ein guter Geruch, da die Quelle aus dem
Paradiese kam". Dagegen der Rabbenu Gerschom zugeschriebene
Kommentar, Rosch und die aggadische Sammlung des Jakob ben Habib
('En Jakob, editio princeps Saloniki 1516), ebenso wie Haggadoth lesen
'Rühä', 'Wind, Odem'. Auch R. Bezahl Aschkenazi (16. Jahrhundert) in
seinem Schittah Mekubbezeth verzeichnet dieselbe Lesart. Ebenso kennt
R. Samuel Edels (starb 1631) dieselbe und polemisiert gegen sie. —
Manche der angeführten Kommentare paraphrasieren 'Rühä' durch
'Ru*h hajjim', 'Lebensodem'. Der Kommentar zum 'En Jakob (editio
princeps faßt es dagegen als 'Wind' auf und erklärt rationalistisch:
„Ein Wind kam von der Quelle und brachte die Fische ins Leben
zurück". — Es braucht kaum bewiesen zu werden, daß 'Rühä' die ur-
sprüngliche Lesart ist. Der Ausdruck kehrt merkwürdigerweise mehr-
fach in der arabischen Alexandersage wieder. — Freilich war auch nach
Pseudokallisthenes (oben § 26) die Luft in der Xähe der Lebensquelle
wohlriechend.
^ rfSNn ir-a. Rosch gibt die zweifellos ursprünglichere Lesart
-■"DN "im NCt: „wusch sich damit das Gesicht". Der Rabbenu Gerschom
zugeschriebene Kommentar und Raschi, die 'r'z yrr. paraphrasieren,
hatten vielleicht dieselbe Lesart vor sich.
206 I- Friedlaender
aufwärts^, bis er an die Pforte des Paradieses gelangte." Hier
wird ihm eine Augenkugel ^ geweiht, die alles aufwiegt, bis
man Staub über sie streut.
Der Versuch ist vielfach unternommen und auch nach
dem energischen Einsprüche Nöldekes^ wiederholt worden*,
die obige Talmudstelle als das Original der Lebensquellsage
des Pseudokallisthenes hinzustellen und aus der Priorität des
babylonischen Talmuds auf den babylonischen Ursprung der
Sage zu schließen. Allein es genügt, den in Frage stehenden
Passus aufmerksam zu lesen, um die völlige Unhaltbarkeit
dieser Ansicht zu erkennen. Zunächst sind die Differenzen
zwischen der Darstellung des Talmuds und der des Pseudo-
kallisthenes doch zu zahlreich und charakteristisch^, als daß
die eine als eine Entlehnung aus der anderen aufgefaßt
werden könnte. Der Verfasser des Pseudokallisthenes hätte
sich kaum das Motiv vom Ariadnefaden, der in seiner Dar-
stellung eine empfindliche Lücke ausfüllen würde", vor allem
aber die ebenso anziehende wie erbauliche Episode von der
wundersamen Augenkugel entgehen lassen. Auch ist es kaum
denkbar, daß der Autor des Pseudokallisthenes, dessen jüdische
Tendenzen die Vertreter jener Ansicht so nachdrücklich her-
^ Die Kommentare ergänzen als Subjekt Alexander: er folgte der
Strömung der Quelle, bis er ans Paradies gelangte. Natürlich paßt in
diesem Falle eine Quelle durchaus nicht. Daher sprechen Rabbenu
Gerschom und Rosch von einem Flusse statt einer Quelle, s. oben die
Variante im hebräischen Alexanderroman S. 189, Anm.4 und unten S.207.
Harkavy (oben S. 189, Anm. 4) will als Subjekt den Quell ergänzen: der
Quell stieg (iTT'bia?) hinauf, bis er an die Pforte des Paradieses gelangte.
Diese Auffassung läßt sich jedoch kaum aufrecht erhalten.
* Raschi übersetzt irrtümlich 'Schädel', vgl. Levi II, 298 Anm. 3.
R. Samuel Edels gibt die richtige Erklärung.
' Beiträge zum Alexanderroman im Kapitel „über die angeblich
jüdischen Einflüsse auf den Alexanderroman" p. 25 f.
♦ Lidzbarski Zeitschrift für Assyriologie VII (1892), 109, 111;
Meißner Alexander und Gilgamos (1894) p. 7 ff. Vorher schon Vogel-
Btein (oben S. 202, Anm. 2), p. 18, und andere. ^ Vgl. S. 207 f.
« Vgl oben S. 186, Anm. 2.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 207
vorheben ^, das Paradies, das er auch sonst (Buch IIT, Kap. 7)
erwähnt, durch die heidnische Insel der Seligen ersetzt haben
sollte. Die heidnischen Elemente der Sage wurden bereits
von Nöldeke hervorgehoben und Harkavy* wies mit Recht
darauf hin, daß eine jüdische Tradition die Legende mit
dem Lebensbaum in Verbindung gebracht hätte, nicht aber
mit dem Lebens quell, von dem sich in der jüdischen Literatur
keine Spur findet.' Allein die Darstellimg des Talmuds, an
und für sich betrachtet, schließt die Möglichkeit ihrer ür-
sprünglichkeit aus. Der Talmud ist sich allem Anscheine
nach des Sinnes und Zusammenhanges der Legende nicht mehr
bewußt. Er verquickt die Sage von Alexanders Zug nach dem
Lebensquell mit der Legende von dessen Zuge nach dem Para-
diese: Alexander findet das Paradies, indem er der Quelle
entlang nach demselben hinaufmarschiert, was natürlich ein
Ding der Unmöglichkeit ist. Hier liegt anscheinend die Vor-
stellung von einem Flusse vor, den Alexander, wie im Iter
ad Paradisum, hinaufzieht.^ Sodann ist sich der Talmud über
' Vgl. insbesondere Meißner p. 8flF.
• a. a. 0. (oben S. 189, Anm. 4) p. 122 oben.
' Das biblische 'Meqor hajjim' ist ein erstarrter Ausdruck, eine
Formel, aber keine lebendige Vorstellung. — Bemerkenswert ist, daß
der oben mehrfach zitierte Rosch, der, nebenbei gesagt, aus Deutschland
stammte und später als Rabbiner in Toledo tätig war, die beiden Vor-
stellungen miteinander verknüpft, indem er erklärt, daß der Lebens-
quell dem Lebensbaum entströmte.
* Es ist bezeichnend, daß mehrere Kommentare (oben S. 206, Anm. 1)
den Quell als Fluß interpretieren. — Es ist meines Wissens nicht be-
achtet worden, daß von den zwei Versionen, die der Talmud als solche
anfuhrt, die erstere die Lebensquellsage, die letztere die Paradieslegende
reflektiert. Nach der ersteren, wie Raschi scharfsinnig bemerkt, „wusch
er sein Gesicht und that nichts mehr", d. h. damit war die Geschichte
zu Ende und das im folgenden vom Paradies Erzählte fand nicht mehr
statt. Xaeh der anderen Version wusch er sich überhaupt nicht, sondern
die Quelle diente ausschließlich als Wegweiser, Ursprünglich hieß es
wohl in dieser Version: er zog den Fluß hinauf, und der Talmud hat
diese Verbindung mit dem Quell künstlich hergestellt.
208 I- Friedlaender
die eigentliche lebenspendende Funktion der Quelle, um derent-
willen diese von Alexander gesucht wird, nicht mehr klar;
daß Alexander sich mit deren Wasser das Gesicht wäscht —
statt zu trinken oder zu baden — , erscheint ganz zwecklos.
Alexander wird mißverständlich mit seinem Koche verwechselt.
Mit der Ausschaltung des Koches kommt auch dessen Ver-
wandlung in einen Seedämon in Wegfall, die, wie wir oben
sahen, die eigentliche Pointe der Sage bildet. Durch ein
anderes Mißverständnis werden die Gymnosophisten mit dem
Zug nach dem Lande der Finsternis in Verbindung gebracht.^
Dieser Zug selber gilt nicht der Lebensquelle, sondern den
Amazonen.* Das ursprüngliche Motiv für das Mitnehmen der
Esel ist vergessen; die Fohlen werden nicht einmal erwähnt.
Und so erscheint die ganze Darstellung „unzusammenhängend
und zum Teil verstümmelt, so daß nur der sie recht verstehen
kann, welcher die vollständige Geschichte kennt".^ Unter
diesen Umständen ist es kaum begreiflich, wie man die tal-
mudische Fassung, die offenbar nichts als eine Kompilation
verschiedenartiger mündlich überkommener und von außen her
aufgegriffener Alexanderepisoden darstellt^, als die ursprüng-
liche Gestalt ansehen oder gar für die Quelle des Pseudo-
kallisthenes erklären kann, der eine vielfach abweichende, un-
verhältnismäßig ausführlichere und im ganzen und großen
ursprünglichere Version darbietet.
Noch ein Wort über die für die talmudische Version vor-
auszusetzende Vorlage. Dieselbe war höchst wahrscheinlich
> Oben S. 203, Anm. 5.
* So im Talmud und noch viel deutlicher in den S. 204, Anm. 6
zitierten rabbinischen Quellen.
' Nöldeke Beiträge p. 26 oben. — Wie man dies durch die kürzere
Fassung des Talmuds erklären kann, wie es Lidzbarski a. a. 0. p. 109
tut, ist mir unerfindlich.
* So unabhängig von einander Nöldeke p. 26 und Lävi M. E. J. II,
300. Derselbe ibid. p. 299: „c'est un ramassi des diverses l«$gendes
prises de tous les cötäs".
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 209
ein mündlich überKeferter Sagenstoff. ^ Bei der vagen Dar-
stellung der Legende dürfte sich Genaueres kaum feststellen
lassen. Doch darf man wohl auf Grund der ,^byschen Esel"
mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine gewisse Verwandtschaft'
mit der /3- Rezension schließen.^ Vielleicht läßt sich dadurch
auch das gänzliche Verschwinden des Koches erklären. Denn
auch in ß kommt der Koch wenig zur Geltung/ Wäre die
talmudische Vorlage der Rezension y (oder L) verwandt, in
der die Figur des Koches einen so breiten Raum einnimmt,
so wäre wohl ein Reflex derselben auch in der talmudischen
Sage zu finden. Die Einzelheit, daß sich Alexander mit dem
Lebenswasser das Gesicht wäscht (oder sich dasselbe ins Gesicht
spritzt), stimmt weder zu y und L, die den Koch vom Lebens-
wasser trinken lassen^, noch zu der /3- Rezension, nach der er
das Wasser überhaupt nicht gebraucht®, noch zu der ursprüng-
lichen Form, nach der er im Lebensquell badet", steht aber
der letztern merklich näher. Eine entschiedene Verwandtschaft
mit der sofort zu besprechenden syrischen Homilie zeigen die
Berge der Finsternis*, eine Verwandtschaft, die sich auch
sonst nachweisen läßt." Es ist von vornherein unwahrschein-
lich, daß die Alexandersage, oder genauer die Alexander sagen —
' Vgl. oben S. 207, Anm. 4. Falls Rapoports Annahme (oben S. 202,
Anm. 4) richtig ist, gilt das Gesagte für die talmudische Vorlage.
* Mehr als dies sicherlich nicht, denn der Talmud läßt die in ß
figurierenden Fohlen (oben § 23) aus.
' Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, daß der Talmud
aus dem Pseudokallisthenes oder überhaupt aus dem Griechischen ge-
schöpft hat, was nach meiner Ansicht äußerst unwahrscheinlich ist. Ich
glaube vielmehr an eine orientalische Vermittelung, s den folg. Abschnitt.
Dagegen nehme ich an, daß die Quelle des Talmuds in letzter Instanz
— in wievielter läßt sich nicht mehr bestimmen — auf ein griechisches
Original zurückgeht — denn die Sage ist griechisch — , welches seiner-
seits der Stammvater — in welchem Grade läßt sich nicht mehr ent-
scheiden — unseres Pseudokallisthenes ist. ,
* Oben S. 172, Anm. 7. ^ Oben S. 170, Anm. 2.
« Oben S. 188, Anm. 2. ' Ibidem.
8 Oben S. 203, Anm. 7. » Unten S 219 f.
Archiv f. Beligionswissenscliaft Xm n
210 I. Friedlaender
denn*an einen zusammenliängenden Alexanderroman darf man
in dieser frühen Zeit wohl kaum denken — zu den Rabbinen
direkt aus dem Griechischen gelangt ist. Es ist sehr viel
wahrscheinlicher, daß die Vermittelung durch den Osten statt-
fand. Vielleicht haben die Syrer Babyloniens, denen die
griechischen Quellen direkt zugänglich waren, hierbei als Ver-
mittler gedient.
III
Die syrische Homilie
Eine ausführliche Darstellung der Lebensquellsage findet
sich in der sogenannten Homilie^ des syrischen Bischofs Jakob
von Sarüg, einem Bezirk am Euphrat (starb 521 n. Chr.).^
Diese Homilie^ ist eine metrische Bearbeitung der syrischen
' Ich folge der Bezeichnung Nöldekes Beiträge zum Alexander-
roman p. 30.
* Vgl. über diesen Dichter, der später Bischof seines Bezirkes wurde und
von dem nicht weniger als 763 metrische Homilien stammen, Brockelmann
in Geschichte der christlichen Literaturen des Orients Leipzig 1907, p. 25 f.
' Der syrische Text wurde zuerst nach einer Pariser Handschrift
(= P) von Knös, Göttingen 1807, sodann nach einem Manuskript des
British Museum (= Lo) von Budge Zeitschrift für Assyriölogie VI (1901)
p. 359 ff. und endlich, mit Zuhilfenahme einer zweiten Pariser Hand-
schrift (= P') von Carl Hunnius nebst einer deutschen Übersetzung
ZDMG 60, 169 ff. herausgegeben. Eine englische Übersetzung der Homilie
gibt Budge in seinem Buche The History of Alexander the Great being
the Syriac Version of Pseudo-Callisthenes Cambridge 1889, p. 163 ff. —
Hunnius (a.a.O. p. 171; seine dort zitierte Dissertation war mir leider
— auch im British Museum — nicht zugänglich) bestreitet die Echthiit
der Homilie und möchte sie um ein Jahrhundert später ansetzen.
Brockelmann a. a. 0. p. 26 Anm. 1 schließt sich dieser Ansicht an. Doch
scheint dieser zu vergessen, daß die „Geschichte vom gläubigen König
Alexander" und seiner Errichtung des Tores gegen Gog und Magog in
den Augen Jakobs keineswegs ein „weltlicher Stoff" war, sondern, wie aus
dem ganzen Tone des Gedichtes hervorgeht, als ein durchaus erbauliches
Thema erschien. — Nöldeke (vgl. Beiträge p. 30, Anm. 5) hält, einer
privaten Mitteilung zufolge, nach wie vor an der Echtheit der Homilie fest.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 211
Alexanderlegende^ die nach den Untersuchungen Nöldekes-
kurz vorher — um 514 oder 515 n. Chr. — entstanden sein
muß. Indessen findet sich in der Legende, die Jakob einer-
seits mit großer Treue, anderseits mit ziemlicher Freiheit
reproduziert', die Episode vom Lebensquell nicht, und ist von
ihm in die Homilie aus einer andern Quelle eingeschoben.
Anscheinend war der syrischen Legende die Sage vom Lebens-
quell unbekannt^, während sie die Paradiessage wahrscheinlich
kennt, ja vielleicht gegen dieselbe polemisiert.^
Im Mittelpunkt der Legende sowohl als auch der Homilie
steht das von Alexander errichtete eiserne Tor gegen Gog
und Magog®, das bereits in älteren Quellen erwähnt wird.^
Doch macht sich daneben sehr stark das Motiv von Alexanders
Wissensdrang geltend.^ Die Episode vom Lebensquell ist so
eingeschoben, daß sie sich leicht und lückenlos abtrennen läßt.
Alexander^ versammelte einst ^° seine Heeresobersten und
Weisen und tat ihnen seine Absicht kund, sich auf Wande-
rungen zu begeben. „Groß ist meine Begier hinauszuziehen
' Im folgenden einfach als 'Legende' bezeichnet. Text und Über-
setzung von Budge History of Alexander the Great p. 255 ff. (Text) und
144 ff. (Übersetzung). Eine ausführliche Inhaltsangabe und eingehende Be-
handlung der Legende bei Nöldeke Beiträge p. 27 ff. * a. a. 0. p. 31.
» ib 30. * So urteilt Nöldeke p. 31 oben.
* Vgl. ib. p. 29, Anm. 1. « Nöldeke, p. 30.
^ Fseudolallisthenes ed. Müller, KI, 26.
* So schon im Titel der Legende (Budge Text p. 255) und der
Homilie in der Variante von P' (ZDMG 60, 170, Anm. 1). Vgl. ins-
besondere den Anfang der Legende.
® Ich zitiere die Homilie nach Hunnius' Text und nach seiner
Verseinteilung. Ich bemerke hier gleich, daß Kodex P' nicht nur einen
ausgezeichneten Text (Hunnius a. a 0. p. 169), sondern auch sehr häufig
viele altertümliche Züge bietet. In meinen Zitaten lege ich, soweit
tunlich, Hunnius' Übersetzung zugrunde. Die Legende zitiere ich,
soweit nicht auf den Text verwiesen ist, nach der Seitenzahl der Über-
setzung von Budge.
*" Nach der Legende im zweiten (oder siebenten) Jahre, vgl. Nöldeke,
p. 27, Anm. 5. In der Homilie ist anscheinend der Anfang seiner Re-
gierung gemeint.
14*
212 I- Friedlaender
und Länder zu sehen und (zu erfahren), wie es sich mit den
fernen Gegenden verhält. Ich will hinausziehen, um die Meere,
die Enden (der Erde) und alle Himmelsgegenden zu sehen,
vor allem aber ins Land der Finsternis^ einzudringen und zu
erfahren, ob es in Wahrheit so ist, wie ich gehört habe"
(W. 39 — 41).^ Seine Räte suchen ihn von seinem Vorhaben
abzubringen, insbesondere drohen sie ihm mit dem stinkenden
Meere, das voller Entsetzen sei (V. 50 f.).^ Allein der König
besteht auf seinem Vorsatz. Er läßt nun eine ungeheure Armee
und Flotte ausrüsten und schlägt, nachdem er vom ägyptischen
König, zwecks Errichtung des eisernen Tores gegen Gog und
Magog, eine große Anzahl von Erz- und Eisenarbeitern erhalten
hatte, den Seeweg nach Indien ein (V. 98)^, wo er nach vier
Monaten^ landet. Der Versuch, sich dem stinkenden Ozean ^
zu nähern, scheitert. Alexander wendet sich schleunigst nach
Norden (V. 109).'^ Die Bewohner fliehen in Schrecken. Allein
Alexanders Boten verkünden überall seine friedfertigen Ab-
* )'>"'•- ^«2>\ in allen Manuskripten. Jn Vers 62 haben zwei
Handschriften )\.\l\ „Land" (vgl. Hunnius ib. p. 176, Anm. 6), während
P' ).aju.j )^Ä^ „Meer der Finsternis" hat, eine Bezeichnung, die
dieses Manuskript mit Vorliebe gebraucht (Hunnius ibidem). Vgl. oben
S. 197, Anm. 1.
* Ahnlich, nur noch ausführlicher, die Legende am Anfang. Vgl.
oben S. 181, Anm. 4. Das Land der Finsternis erwähnt die Legende nicht.
' Vgl. Legende p. 146 (Text 266): „Die schrecklichen Meere, die
die Welt umgeben, werden dir den Durchzug nicht gestatten. Denn
es gibt elf helle Meere, die die Schiffe der Menschen befahren. Aber
jenseits derselben gibt es ein Stück Felsen, zehn Meilen lang, und
hinter demselben befindet sich das stinkende Meor Okeanos, das die
gesamte Schöpfung umgibt."
* Der Seeweg nach Indien fehlt in der Legende (p. 147).
' Legende, ibid. genauer: „vier Monate und zwölf Tage". Ebenso
in der äthiopischen Alexanderversion, die die Legende reproduziert,
Budge Life and Exploits of Alexander the Oreat being a series of
Ethiopic texts London 1896, II, 223.
* Der eich also im Osten befindet. Vgl. unten.
' Vgl. oben S. 164, Anm. 6 und S. 171, Anm. 7.
Alexanders Zng nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 213
sichten (V. 113 ff.)^, so daß er schließlicii imstande ist, die Vor-
nehmen und Greise des Landes bei sich zu Tersammebi, „um
von ihnen die geheimnisvollen Verhältnisse des Landes zu er-
fahren" (V. 124). „Und als sich dreihundert hochbetagte Greise
versammelt hatten, verständige Männer, der Geheimnisse (fremder)
Länder^ kundig^' ^ (V. 125 f.), da rückt er mit seinem Anliegen
heraus.* »Nur eine Sache verlangt meine Seele, daß ihr mir
kundtut: wo ist das Land^ der Finsternis, das ich sehen will?"
(V. 137 f.).^ Als die Greise sich nach dem Zwecke seiner An-
frage erkundigen, werden sie kurz abgefertigt; „Seinetwegen
sind wir in diese Gegend gekommen. Es ist nicht anders
möglich, als daß ich es sehe" (V. 144).' Daraufhin bequemen
sich die Greise zu einer Auskunft: „Es gibt ein großes Gebirge*
zwölf Tagereisen von hier entfernt" (V. 145 f.). Der König
verlangt ortskundige Führer, woraufhin sich einer der Greise,
„der weise und in den Geheimnissen des Landes bewandert
war" (V. 150) als Wegweiser anbietet.^ Der König begibt
' Ist dies ein Reflex von Pseudokallisthenes, ed. Müller, 11, 31 (oben
§ 5, S. 164)?
* lioVlji lifi. Budge und Hunnius übersetzen gleichmäßig: die Ge-
heimnisse des Landes.
* Legende p. 147 unten.
* Legende p. 149 unten folgen die von Alexander gestellten Fragen,
die durchaus vernünftig klingen: wer seid ihr? wem zahlt ihr Tribut?
wer herrscht über das Land? usw. Diese Fragen finden sich in der
Homilie, Zeile 237 ff. Dazwischen ist recht geschickt die Lebensquell-
episode eingeschoben, von der sich in der Legende keine Spur findet.
* Ursprünglich wohl: das Meer. Vgl. die Varianten Hunnius,
p. 186, Anm. 17 und oben S. 212, Anm. 1. Vgl. oben S. 197, Anm. 1.
® P' -j- „und um dessentwillen ich ohne Zaudern gekommen bin".
Hunnius, p. 187, Anm. 18.
^ i».*) U jcuSoa ojiwi*. Ujo. Vgl. die frappant ähnliche Antwort
Alexanders im Talmud oben S. 204, Anm. 1.
' Also Berge der Finsternis, oben S. 203, Anm. 7.
® Also ein 6dT]y6g, wie wohl ursprünglich im Pseudokallisthenes oben
§ 23 und S. 171, Anm. 5.
214 I- Friedlaender
sich mit den Greisen und Edlen ^ auf den Weg. Als sie vom
Lande der Finsternis eine Tagereise^ entfernt waren ^, dringt
jener Greis** wiederum in Alexander, ihm den Zweck seines
Zuges ins finstere Land zu offenbaren. Alexander läßt sich
schließlich herbei, ihm seine wahre Absicht, den Lebensquell
zu erreichen, zu erkennen zu geben. Als ihm der Greis ent-
gegenhält, daß es viele Quellen in der Gegend gebe, ohne daß je-
mand wüßte, welche darunter die Lebensquelle sei^, schneidet ihm
Alexander das Wort ab. „Streite nicht mit mir deswegen.
Es gibt keine andere Möglichkeit, als daß ich ins Land ein-
dringe^ und es in Augenschein nehme" (V. 171). Hierauf
gibt der Greis Anweisungen, wie man ins Land der Finsternis
eindringen könne. Dementsprechend läßt Alexander, gemäß
der Anzahl seiner Begleiter, fünfhundert^ Eselinnen auslesen,
deren Füllen am Eingang in die Finsternis zurückgelassen
werden. Vor Eintritt in die Dunkelheit schärft Alexander,
einer Anregung des Greises folgend, seinem Koche® ein, in
jedweder Quelle einen Salzfisch ^ zu waschen (V. 182) und.
' liLo JüqqV (Vers 154). Also zieht der König mit vielen den
Weg. Der Bericht schwankt zwischen der Einzahl und der Mehrzahl
der Führer. Vgl. vorhergehende Anmerkung.
* Ijo^qq» »a- (156), was am Rande von P' durch o)iA..',x> = RJL>y«
erklärt wird (Hunnius, p. 189, Anm. 17 weiß mit der Glosse nichts an-
zufangen).
" P liest den Singular. Soll dies heißen, daß die Greise und Edlen
(oben Anm. 1) nicht weiter mitzogen?
* oo) J^QD (157). P liest »*. jziCD „ein gewisser Greis", will also damit
andeuten, daß der Greis, der das folgende Gespräch führt iind Ratschläge
gibt, mit dem Wegweiser nicht identisch ist. Vgl oben S. 213, Anm. 9.
0 Vgl. oben S. 187, Anm. 1.
« Vgl. oben S. 204, Anm. 1.
^ Dieselbe Anzahl von Begleitern im Iter ad Paradisum oben S. 200.
* Anstatt .^;^yis. „deinem Koche" (iidysiQog) liest P .^yi\\ o»^
„deinen Leuten". „P vermeidet stets den Ausdruck Icdvod" (Hunnius,
p. 192, Anm. 4). Dies ist wichtig, s. unten S. 215 Anm. 8.
' Vers 189 nachdrücklicher: ^odo. ys^ ^ .^•3.0 -.-A»? „gesalzen
und gedörrt seit vielen Tagen", P jo^j )jqj „einen getrockneten Fisch".
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 215
falls dieser lebendig wird, ihm sofort Bericht zu erstatten,
da dies das Kennzeichen des Lebensquells sei (V. 192).^ So
drang Alexander mit seinen „auserlesenen Leuten"* in die
Finsternis ein, in der sie planlos umherirren, während der Koch
gewissenhaft, aber vergeblich die Waschungen des Salzfisches
vornimmt. Endlich stößt er auf die richtige Quelle. „Und
er nahte sich und wusch den Fisch im Wasser und dieser
lebte auf und entwischte. Der Koch' fürchtete, der König
werde von ihm verlangen, daß er den Fisch zurückgebe, der
ungehindert losgezogen war*, und er sprang in den Quell hinab,
um ihn zu fangen. Er versuchte auf alle mögliche Weise ihn
zu greifen, vermochte es aber nicht" (VV. 204 — 207). Darauf
stieg er aus dem Wasser und lief dem König eine Strecke^
nach, um ihm das Vorgefallene pflichtschuldigst zu melden.
Voller Freude macht der König kehrt, um im Lebensquell zu
baden (V. 216). Aber der Koch konnte den Weg zum Lebens-
quell nicht zurückfinden.^ „Er (der König) wanderte eine
Strecke^ in der Finsternis und traf nicht auf ihn. Denn nicht
ward es ihm vom Herrn gewährt, ewig zu leben" (VV. 217 — 218;.
Tgl. oben S. 187, Anm. 2. Die Variante von P', die Hunniua (p. 193
Anm. 14) sehr zögernd als ..»'»aXM liest (das jedoch keinen passenden
Sinn ergibt), ist vielleicht jl.',di , gefroren" zu lesen.
' P' -\- „damit ich hinabsteige, um in demselben zu baden, und
durch ihn ewiges Leben erwerbe". Vgl. auch den Zusatz Ton P\
Hunnius, p. 192, Anm. 8.
* ooo) ^;mm^? |ij| (196). Lo liest Irioa, also zogen nach ihm die
Oreise in die Dunkelheit mit. Ursprünglich natürlich waren es bloß
Jünglinge, oben § 18. Die Greise, mit Ausnahme des Wegweisers,
dürfen nicht mit. Vgl. oben S. 186, Anm. 1.
' P (vgl. oben S. 214, Anm. 8) anstatt dessen l^oll „der Armselige,
der Elende".
* Vgl die Variante Hunnius, p. 194, Anm. 16.
5 Vgl. Nestle ZDMG 60, 820, der taura „Strecke" statt türa
„Gebirge" liest. Freilich spricht die Homilie von einem Gebirge,
oben S. 213, Anm. 8.
® Dies wird ohne Zweifel vorausgesetzt. Vgl. die oben S. 189, Anm. 4
zitierten Versionen. ^ Oder ins Gebirge, oben Anm. 5.
216 I- Friedlaender
Des Königs Schmerz ist grenzenlos.^ Der Greis ^ bemüht sich
vergebens, ihm Trost zuzusprechen. Schließlich gelangen sie
mit Hilfe der Eselinnen ans Licht. Die „Greise und Edlen"^
finden sich mit ihren Huldigungen und Mitleidsbezeugungen
ein. Alexander stellt hierauf allerlei Fragen an sie, die mit
denen der Legende übereinstimmen und durchaus vernünftiger
Natur sind.* Die Homilie fährt sodann ähnlich wie die
Legende fort.
Am Schlüsse der Homilie^ bietet die Pariser Handschrift
P'® einen längeren Zusatz, der vom fernem Schicksal des
Koches berichtet. Der Zusatz, der im Metrum der Homilie
abgefaßt ist, ist sicherlich authentisch.' Er dürfte in den
anderen Handschriften absichtlich weggelassen worden sein,
einerseits weil die Figur des Koches in der Darstellung der
Homilie überhaupt in den Hintergrund tritt ^, anderseits weil
er zu sehr der Ökonomie des Gedichtes widerstreitet, dem ja
ohnehin die ganze Lebensquellepisode ursprünglich fremd ist.^
Ich gebe im folgenden den Zusatz, den der Herausgeber
unübersetzt läßt, inhaltlich wieder.
Alexander, der über seinen Mißerfolg tief betrübt ist,
macht seinem Schmerze in bitteren Klagen Luft. „Ich wollte
im Quell des Lebens baden. Aber nicht wollte der Herr meine
Bitte gewähren, noch meinen Wunsch erfüllen. Siehe, in der
Schlacht verlieh der Herr mir Sieg, wohin ich mich kehrte
' Vgl. Vers 219 ff.
• Hier wiederum nur ein Greis, vgl. oben S. 214, Anm. 4.
" Die oben S. 214, Anm. 1 mit dem König mitgezogen waren,
während sie sich hier (vgl. auch oben S. 214, Anm. 3) anscheinend erst
nach der Rückkehr des Königs aus der Finsternis einstellen. Lo läßt
„und die Kdlen" aus, weil nach ihm (oben S. 215, Anm. 2) die Greise
allein mitgezogen waren. * Vgl. oben S. 213, Anm 4.
" ZDMG 60, 817 ff. « Vgl. oben S. 210, Anm. 3.
' Dies ist auch (einer privaten Mitteilung zufolge) Nöldekes Ansicht.
8 Siehe unten S. 219 f.
^ Wahrscheinlich trug auch die heidnische Tendenz des Zusatzes
zur Unterdrückung desselben bei, vgl. unten S. 219 f.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 217
und wandte. Aber das, worum icli bat, gewährte er einem
andern, nicht aber mir. Meinem Koch gewährte er es, daß er
lebe für ewig."^ Voller Grimm gibt er Befehl, den Koch zu
enthaupten. Aber der Henker hat keine Gewalt über den Koch,
der unsterblich geworden war. Er wird auf eine Anhöhe ge-
stellt und von geübten Schützen beschossen- Aber die Pfeüe
prallen wirkungslos an ihm ab. Endlich ersinnen die Weisen
Alexanders ein Mittel, den unzerstörbaren Koch loszuwerden.
Auf ihren Rat verfertigen die Erzgießer- aus 900^ Pfund Erz
„ein großes Gefäß auf vier Seiten"*, an dem zwei Ringe und
eine Kette befestigt werden. Hierauf wird der Koch auf ein
Schiff gebracht-, das sich sieben Tage im Meere auf und ab
bewegen soll.^ „Fahret auf dem Meere, bis ihr die Berge aus
den Augen verliert. Wenn ihr bemerkt, daß ihr ins Meer
Rom gegenüber eingefahren seid^, dann fesselt seine (des Koches)
Hände mit den Ringen und der Kette, und nachdem ihr seine
Hände und Füße sorgfältig gefesselt, dann laßt ihn in den
Abgrund im großen Meere" hinabsinken, auf daß er nicht
seinen Sinn ändere und keinem Sterblichen sich wieder zeige,
weil er jene Quelle vor mir verbarg, damit ich darin nicht bade."
Hier bricht die Erzählimg stumpf ab. Man erwartet die
Ausführung des Befehles, wohl auch die Verwandlung des
Koches in einen Seedämon. Ebenso vermißt man die Über-
leitung zur Homilie, mit der der Zusatz ursprünglich verknüpft war.
* Vgl. oben S. 191, Anm. 1.
* Die ja für den Bau des eisernen Tores gegen Gog und Magog
zur Hand waren. ' Später sind es bloß 300.
* ^3) ^\^'|j tii |jfco zweimal p. 819. Der Ausdruck ist mir nicht
recht klar. Ist vielleicht damit Quadrat oder Kubus gemeint? „Mänä"
könnte eventuell auch „SchifF" heißen Doch wird letzteres im Gedicht
durch l'=>>\ f wiedergegeben.
^ p. 819, 1 Z. ,^;X>Q.)j l\:i«. ba.r> «Ao^io ]y>i )2ik.)o.
ö ix>o> W^oo.'s bio v^l^yj p. 820. In der Rede der Weisen, p 819,
heißt es |sV booo)!. ^^nods. „gegenüber dem großen Abgrund".
' Jra» bo^zj. Auch in der hebräischen Alexanderversion (oben S. 189,
Anm. 4'' begibt sich der Diener, dem Alexander den Kopf abgeschlagen.
218 I. Friedlaender -
Die Darstellung der Homilie zeigt die Lebensquellsage in
einer Form, die sicli auf den ersten Blick als die ursprünglicliere
zu erkennen gibt. Sinn und Zusammenbang der Legende treten
bier, im Gegensatz zu den vorber erörterten Versionen, scbarf
und deutlicb bervor. Alexander ist vom Wunscbe nacb Un-
sterblicbkeit beseelt. Er bestebt energiscb auf seinem Vorsatz.
Sein Mißerfolg erfüllt ibn mit bitterm Scbmerze, der durcb den
Erfolg des Kocbes nocb verscbärft wird.^ Das Motiv mit den
Eselinnen und deren Füllen ist vollkommen durcbsicbtig.^
Der Rat bezüglicb derselben wird rechtzeitig vor Eintritt in
die Dunkelbeit erteilt.^ Es gibt viele Quellen und es gilt, den
Lebensquell unter ibnen ausfindig zu macben.^ Der Kocb fübrt
nichts Böses im Schilde. Er trinkt vom Lebensquell nicht.
Er badet ^ lediglich in demselben, und zwar ohne es zu wollen,
ja ohne es zu wissen. Seine Unsterblichkeit stellt sich erst
bei der Hinrichtung heraus. Daher die Notwendigkeit, ihn ins
Meer zu versenken.
Es liegt auf der Hand, daß diese Züge, wie die Gesamt-
darstellung überhaupt, im Vergleiche mit Pseudokallisthenes,
viel durchsichtiger und ursprünglicher sind, daß also die Homilie
oder deren Vorlage unmöglich aus dem griechischen Roman
geschöpft haben können." Aus der Art und Weise, wie Jakob
von Sarüg die ganze Sage in die von ihm bearbeitete syrische
Legende fein säuberlich einschaltet, läßt sich erkennen, daß
die ihm vorliegende Version der Lebensquellsage keinen Bestand-
teil eines Alexanderromans bildete, sondern, gleich der Legende
iinjn w^ „ins große Meer". In der Homilie ist anscheinend das Mittel-
meer gemeint, obwohl die Bestimmung „Rom gegenüber" etwas merk-
würdig klingt. ' Vgl. oben S. 191, Aum 1. * Vgl. oben S 186, Anm. 2
* Vgl. Pseudokallisthenes oben § 23, S. 168, während es schon §§ 13
und 21 dunkel war.
* Vgl. oben S. 187, Anm. 1, * S. 188, Anm. 2.
* Ebenso urteilt auch Kampers Alexander der Große p. 34. Hier
zeigt sich bereits, was später noch schärfer hervortreten wird, wie
wenig im einzelnen das kategorische Urteil von Rohde Der griechische
lioman p. 186, Anm. 1 begründet ist. „Es kann, sagt Rohde, als voll-
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 219
vom Lande der Seligen (oder dem Paradiese) ^, als unabhängiger,
für sich allein tradierter Sagenstoff in Umlauf war.-
Die Ausführlichkeit der Darstellung gestattet uns einen
Einblick in die ungefähre Gestalt der von Jakob von Sarüg
benutzten Vorlage. Hier wiederum zeigt die Erwähnung der
Eselinnen' Verwandtschaft mit ß. Damit hängt wohl auch
der Zug zusammen, daß der Koch vom Lebenswasser nicht
trinkt.^ Er wird bestraft, weil er den Weg nicht finden kann^
Eine Unsicherheit besteht bereits'' über die Zahl der Weg-
weiser, die Alexander ins Land der Finsternis begleiten.^
Ebenso schwankend ist das Verhalten dieser Version dem
Koche gegenüber. Sämtliche Handschriften der Homilie stellen
übereinstimmend, im Gegensatz zu Pseudokallisthenes, den Koch
als musterhaften Knaben dar, der pflichtschuldigst den Fisch
wäscht und dessen Aufleben dem König gehorsamst meldet
und der lediglich das Pech hat*, den Weg zum Lebensquell
zu verfehlen. Dagegen scheint der Gedanke, daß ein Koch in
den Besitz der Unsterblichkeit gelangt sein soll, die der fromme
kommen bewiesen angesehen werden, daß alle bis jetzt bekannt ge-
wordenen orientalischen Versionen der Alexandersage auf den Roman
des Pseudokallisthenes zurückgehen."
» Oben S. 200 f.
* Für die Unabhängigkeit vom Pseudokallisthenes oder von irgend-
einem anderen zusammenhängenden Alexanderroman würde auch der
Umstand sprechen, daß Jakob weder vom Lande der Seligen noch von
den im Lande der Finsternis aufgelesenen Kdelsteinen — Dinge, die
im Pseudokallisthenes einen breiten Raum einnehmen — spricht.
' Vgl oben S. 168, Anm. 3 und S. 171, Anm 6.
* Vgl, S 188, Anm 2.
* Oben S. 189, Anm. 4. Alexander hingegen (vgl. den Schluß des
Zusatzes von P', oben S. 217) glaubt, daß der Koch ihm absichtlich den
Weg nicht zeigen will.
J Wie im Pseudokallisthenes, vgl. S. 171, Anm 5.
' Vgl. S. 164, Anm. 4; 171 , Anm. 5; 213, Anm. 9; 214, Anm. 4;
215, Anm. 2; 216, Anm. 2.
* Die Variante von P (oben S. 215, Anm. 3) bedeutet nichts anderes
als Pechvogel.
220 I- Friedlaender
christliche Weltherrscher ^ nicht erringen konnte, Anstoß erregt
zu haben. Daher wissen die Handschriften Lo und P nichts
über die Unsterblichkeit des Koches oder über dessen Verbleib.
Hier sinkt der Koch lediglich zum Statisten herab, der nichts
als den Fisch zu bedienen hat.^ P' dagegen läßt den Koch zu
seinem Rechte kommen, ohne jedoch seine Verwandlung in einen
Seedämon zu erwähnen.^ Die Episode mit Kaie, die ja für das
Verständnis des Romans entbehrlich ist^ und überdies einen
typisch heidnischen Charakter trägt, mag schon in der Vorlage
gefehlt haben. Die Bestrafung des Koches, über die nur
P' zu berichten weiß, weicht von der Darstellung des Pseudo-
kallisthenes wesentlich ab. Dagegen läßt die Umständlichkeit,
mit der der Fisch sowohl als gesalzen wie als gedörrt bezeichnet
wird^, auf eine Abhängigkeit vom griechischen xdQi%os^ schließen.
Nichts hindert uns anzunehmen — und diese Annahme gewinnt
an Wahrscheinlichkeit, wenn man den Ursprung der Lebens-
quellsage sowie die literarischen Verhältnisse im syrischen
Schrifttum in Betracht zieht — , daß die Homilie oder deren
Vorlage die Lebensquellsage aus einem griechischen Original
entlehnt hat.
In einem wichtigen Detail, das uns noch später be-
schäftigen wird, weicht die Homilie von den bisher erörterten
Versionen ab. Während in allen Rezensionen des Pseudo-
kallisthenes und im Talmud der Fisch zufällig auflebt, in-
dem Alexander hungrig wird und zu essen verlangt, wird in
* Denn als solcher figuriert er sowohl in der Legende als auch in
der Homilie und in vielen späteren Bearbeitungen, vgl. oben S. 210,
Anm. 3.
' Höchstwahrscheinlich hängt damit die Tendenz von P (oben
S. 214, Anm, 8) zusammen, den Koch überhaupt nicht zu erwähnen.
Vielleicht hatte die Vorlage des Talmuds, der vom Koch nichts weiß
(vgl. S. 208), eine ähnliche Tendenz.
' War dieser Zug vielleicht in der Vorlage weggelassen, weil er
zu heidnisch war?
* Vgl. oben S. 189, Anm. 4 Anfang.
* Oben S. 214, Anm. 9. « Oben S. 169, Anm. 7.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 221
der Homilie der Fisch von vornherein als Mittel zur Auf-
findung des Lebensquells benutzt und daher mit Vorbedacht
in einer jeden Quelle ad hoc gewaschen. Es ist jedoch sehr
wohl denkbar, daß dieser reflektierende Zug, der dem Charakter
der Sage^ und der sonstigen Darstellung der Homilie* wider-
streitet, vom Dichter der letzteren in. seine Vorlage hineininter-
pretiert wurde
IV
Der Koran
Eine Anspielung auf die Lebensquellsage findet sich im
Koran, Sure 18 Vers 59 — 63. Die Stelle ist rings von Legenden
umgeben, die deutlich christlichen Ursprung verraten. Sure 19,
die in diesen Zusammenhang gehört^, gibt sich ohne weiteres
als christlich. In Sure 18 ist die Siebenschläferlegende, die
unserer SteUe vorangeht, christlich.* Die dieser nachfolgende
Erzählung von Alexander = Du'l-Qamein (Vers 82 ff.) ist, wie
Nöldeke^ nachgewiesen hat, aus der christlich-syrischen Legende
geflossen. Was nun unsere Stelle selbst betrifll, so wird
sie allgemein sowohl von muhammedanischen wie auch von
europäischen® Koranforschern mit den unmittelbar folgenden
Versen 64 — 81 verbunden und für eine zusammenhängende
Geschichte erklärt. Es ist jedoch vermutet worden" und kann
unwiderleglich nachgewiesen werden^, daß die Verse 64 — 81,
' Vgl. oben S. 191 Anna. 1. » Ibid. 215.
' „Sie hat denselben Reim wie Sure 18 und hat vielleicht ur-
sprünglich eine Einheit mit ihr gebildet", Fraenkel in ZDMG 45, 326.
* Vgl. Fraenkel ibidem. Sie wurde von Jakob von Sarüg bearbeitet.
Nach Xöldekes Ansicht (Beiträge p. 32, Anm. 5) war Jakob vielleicht die
Quelle des Korans. — Auch die matte Legende Sure 18, 31 ff. ist wohl
christlich, vgl. Fraenkel ibidem. * Beiträge p. 32.
^ Zuletzt auch von Völlers im Archiv für Eeligionsicissensch<ift XII
(1909), p. 238 ff.
' Fraenkel a. a. 0. p. 326 und Dyroff Zeitschrift für Assyrio-
logie VII, 324.
* Eine Andeutung darüber in meinem Artikel im Archiv für Re-
ligiotmcissenschaft XIII 98 f.
222 I- Friedlaender
die nach Inhalt und Tendenz durchaus verschieden sind, mit
unserer Stelle (Vers 59 — 63) ursprünglich nicht das Geringste
zu tun haben ^, sondern eine durchaus selbständige Legende
enthalten, die nachweisbar^ in jüdischen und christlichen Kreisen
als unabhängiger Erzählungsstoff in Umlauf war. Ich gebe
die Koranstelle in wörtlicher Übersetzung wieder. Die exegetische
und traditionelle Literatur, die oft nicht auslegt, sondern
unterlegt, lasse ich vorläufig mit Absicht beiseite.
Vers 59. „Und da Moses zu seinem Diener sprach: 'Ich
will nicht eher rasten, als bis ich die Vereinigung der beiden
Meere erreicht habe, und sollt' ich auch eine Ewigkeit^ wandern.'
Vers 60. Als sie jedoch die Vereinigung der beiden*
erreicht hatten, da vergaßen sie ihren Fisch, der seinen Weg
durch einen unterirdischen Gang ins Meer genommen hatte.
Vers 61. Als sie weiter gewandert waren, da sprach er
(Moses) zu seinem Diener: 'Bring uns unser Mahl, denn wir
sind von dieser unserer Reise ermattet.'
Vers 62. Er (der Diener) sprach: 'Siehst du wohl (was
mir passiert ist)? Als wir beim Felsen einkehrten, da vergaß
ich den Fisch, und nur der Satan war es, der mich den Fisch
vergessen ließ, so daß ich seiner nicht gedachte. Er hatte
aber auf wunderbare Weise seinen Weg ins Meei ge-
nommen.'
Vers 63. Er (Moses) sprach: 'Dies ist es, was wir suchten.'
Und sie kehrten, ihren eigenen Spuren folgend, zurück."
Die Episode ist mit der dem „Deutlichen Buche" eigen-
tümlichen Undeutlichkeit erzählt. Doch läßt uns der Fisch,
' Ich will hier bloß darauf hinweisen, daß die Verse 59 — 63 fast
durchweg den Reim „ba^", dagegen Vers 64fif. fast durchweg den Reim
„ran" aufweisen.
* Vgl. Israel L^vi in Eevue des Etudes Juives VIII (1884), p. 64flF.
Ich komme auf diesen Punkt in anderem Zusammenhange zurück.
' LJjv wörtlich „achtzig Jahre".
•• Wörtlich: „Die Vereinigung dessen, was zwischen ihnen beiden
liegt." Vgl. unten S. 223, Anm. 4,
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 223
der auf wunderbare Weise seinen Weg ins Meer genommen,
keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß wir es hier mit
der Lebensquellsage zu tun haben. Wie sonst, so war Mu-
hammed auch hier auf mündliche Berichte angewiesen und,
wie in unzähligen anderen Fällen, hat er auch hier schlecht
gehört und schlecht wiedergegeben. Er verwechselt Alexander
mit Moses ^ und bringt manches hinein, was nicht dazu gehört.-
Allein trotz dieser Verschwommenheit können wir dennoch,
wenn wir die oben erörterten Darstellungen der Sage fest im
Auge behalten, die Grundzüge der Erzählung, die dem Propheten
dunkel vorschwebte, wiedererkennen und die verwitterten Linien
mit einiger Sicherheit nachzeichnen.
Alexander (Moses) erklärt^, er werde nicht eher rasten
als bis er (den Lebensquell) ^ erreicht habe, und sollte er noch
' Vgl. Nöldeke Beiträge p. 32 1. Z. — Für die Verwechslung, die
man sehr wohl auf Muhammeds Konto setzen darf, könnte man ver-
schiedene Gründe anführen Der Name Du'1-Qamein 'der Zweigehömte',
unter dem Alexander im Koran und in der arabischen Legende er-
scheint, mag auf Moses 'den Strahlenden oder Gehörnten' {Exodus
34, 29 ff., vgl. Geiger Was hat Muhammed aus dem Judentum auf-
genommen? p. 172) gedeutet worden sein. Man denkt auch an die
Legende (vgl. Weil Biblische Legenden der Muselmänner p. 181), nach
der Moses, wie Alexander, die gesamte Erde bereiste und, wie schon
Josephus Antiquitates II, 9, § 2 ff. berichtet, auch in Äthiopien — die
Verwechslung von Äthiopien mit Indien (vgl. Fraenkel ZDMG 45, 311)
gab in der Alexandersage zu unendlichen Verwirrungen Anlaß —
König war. — Ob die Angabe der syrischen Legende (Budge p. 147),
daß Alexander und seine Armee am Beginne ihres Zuges nach dem Berge
Sinai gelangen, irgend etwas damit zu tun hat, ist schwer zu entscheiden.
* So den unterirdischen Gang oder Graben (Vers 60). Über die
Vereinigung der beiden Meere und den Felsen vgl. Anm. 4.
' Der Koran ergänzt: seinem Diener. Doch sind ursprünglich
wohl die Ratgeber gemeint, die er zu diesem Zwecke versammelt,
Homilie Vers 30fF., 51 ff. und wiederum 125 ff. (vgl. oben S. 213). Viel-
leicht dachte Muhammeds Gewährsmann an den einen Greis, dem
Alexander eine ähnliche Antwort gibt, Homilie Vers 170, oben S. 214, Z. 9.
* Der Lebensquell, der in der Tradition zur Geltung kommt, ist
im Koran ausgefallen, und an seine Stelle tritt „magma' al bahrein",
224 I- Friedlaender
„die Vereinigung der beiden Meere", die wohl ursprünglich als Ort der
Quelle gedacht war. Bezüglich dieser mysteriösen Bezeichnung möchte
ich mich der Ansicht Fraenkels (ZDMG 45, 325) anschließen, der sie
aus der syrischen Legende ableitet und für den Berührungspunkt der
hellen Meere mit dem stinkenden (und dunklen) Ozean erklärt (vgl. die
Stelle in der Legende oben S, 212, Anm. 3). Lidzbarski {Zeitschrift für
Assyriologie VII 111) wendet dagegen ein, daß ja das in der Legende
erwähnte Stück Landes die Meere nicht vereinige, sondern trenne. Allein
80 genau darf man es mit der syrischen Legende, die sich auch sonst
keineswegs durch übergroße Klarheit auszeichnet, nicht nehmen. Der
zehn Meilen lange Landstreifen braucht nicht unbedingt eine Landenge
zu sein. Es kann sich ebensogut um einen Landvorsprung handeln.
Vielleicht spielen auch die Worte l^gÄ.^> «.^j^v^ „ die Vereinigung dessen,
was zwischen ihnen liegt" (Koran, Vers 60) auf diese Vorstellung an
Der geographische Hintergrund der syrischen Legende, der auch für die
Alexandersage im allgemeinen von großem Interesse ist, läßt sich mit
ziemlicher Sicherheit feststellen. Die elf hellen Meere, die die Schiffe
der Menschen befahren, können sich in der Hauptsache auf die ver-
schiedenen Teile des mittelländischen Meeres beziehen. Der Landstreifen
ist sodann höchstwahrscheinlich der Vorsprung des Gibraltar, und das
dahinterliegende stinkende (und dunkle) Meer ist der Atlantische Ozean oder,
gemäß der alten Anschauung (vgl. die lichtvolle Darstellung in Istachri,
ed. de Goeje, p. 5 ff.), der unbekannte, geheimnisvolle Ozean (syrisch
5DQj|ajdo), arabisch (w„»iL3.t, Jäqüt I, 504), der die gesamte Schöpfung
umgibt und daher im Arabischen „al-bahr al-muhit", „das allumgebende
Meer" (Jäqüt ib., Istachri ib.) genannt, auch als „bahr az-zulumät",
„das Meer der Finsternisse" (Qazwini, ed. Wüstenfeld , I 126) bezeichnet
wird. Diese geographische Bestimmung der Wanderungen Alexanders
würde sehr gut zu der Schilderung der Fahrt des Gilgamesch im baby-
lonischen Epos stimmen. Denn wie Jensen Das Gilgameschepos in der
Weltliteratur I 33, Anm. 3 ff., eingehend nachweist, wandert der baby-
lonische Held nicht, wie man bis jetzt allgemein glaubte, nach der
Mündung des Euphrat und Tigris, sondern nach dem Westen. Er
zieht auf genau demselben Wege wie sein griechisches Nachbild durch
das Mittelmeer und die Straße des Gibraltar hindurch nach den
stürmischen Wassern des Todes westlich derselben, wo sich im fernsten
Westen die Insel der Seligen befindet. Über „ina pi näräti", das ge-
wöhnlich als das Vorbild des koranischen „magma' al-bahrein" be-
trachtet wird, 8. Jensen a. a. 0. p. 37, Anmerkung. Auch in vielen
späteren Alexanderversionen wandert Alexander nach dem Westen.
Was nun die muhammedanischen Gelehrten betrifft, so waren die-
selben schon früh über die Bedeutung des Ausdrucks im unklaren, den
manche in ihrer Verlegenheit sogar allegorisch — als Meer des
inneren und Meer des äußeren Wissens — erklären und auf Moses und
Alexanders Zug nach dem Lebensqnell und die Chadhirlegende 225
al-Chadir beziehen (Beidäwi, starb 685/1286, ed. Fleischer 1 567, Damiii,
Hajät al-bajawän s. v. -*«•-« v:y».>- Kairo ISll^i I 234, auch sonst oft
zitiert). Unter den geographischen Erklärungen des Xamens ragen zwei
besonders herror, von denen die eine „die Vereinigung der beiden Meere''
mit der Gibraltarstraße, die andere denselben Ausdruck mit der Suezenge
verbindet. Die erst^re Ansicht wird von Qazwini (ibidem; und Damiri
(ibidem) verfochten, die einen ausführlichen Bericht reproduzieren, nach
welchem der Fisch des Moses (Koran 18, 60) noch in einer an der
Küste von Ceuta befindlichen Fischart fortlebt. Nach der anderen
Ansicht, die auf den Basrier Qatäda (starb 117 h) zurückgeführt
wird (Damiri ibidem und bei anderen, anonym Beidäwi ibidem)
„bedeutet die Vereinigung der beiden Meere den Ort, an dem die
Meere von Persien und Rom, und zwar in östlicher Richtung, znsammen-
treffen": sJj-S^( Ja U* (.jyJjj j-yli ^j,y^ J^^ Crlr=^'!^' ^*^?^J •
Das „Meer von Persien" wird als Zweig des indischen Ozeans be-
trachtet (Jäqüt I 502) und umfaßt sämtliche Meere der asiatischen Süd-
küste, einschließlich des Roten Meeres (vgl. Istachri p. 7, Z. 1
^j-.li ysvj ,jL*wJ ^ ,^_^vX!f i«jB ,^\j und anderseits Jäqüt I 503
lXjl^^^^^j ^^ S-»ju; Li,!.! ja *jAjÜ(yS'j) Das „Meer von Rom" ist
einer der vielen Namen für das Mittelländische Meer, vgl. Istachri p. 6 und
Laue 8. V. *»j . (Ob diese Erklärung mit der anderweitigen Angabe
Damiris f^\ r*^J O'^J^' y^^ '"*^ v^^j identisch ist, ist mir nicht
klar.) Diese Verschiedenheit der Erklärung scheint mit der verschiedenen
Auffassung von der Richtung, die Alesander bei seinen Wanderungen
einschlug, zusammenzuhängen. Die Anschauung, nach der Alesander
durch die Gibraltarstraße zieht, ist nach dem Vorangegangenen die
altertümlichere. Dagegen ist es sehr wohl denkbar, daß Muhammed,
der Moses für Alesander einsetzt, eher an den Suez und die Sinai-
halbinsel dachte.
Vielleicht sind diese Ausführungen geeignet, einiges Licht auf die
rätselhafte Erwähnung des Felsens in V. 62 und des unterirdischen
Ganges in V. 60 zu werfen. Der Felsen, bei dem Moses und sein
Diener einkehren und bei dem sich anscheinend die Meere vereinigen,
könnte der Gibraltarfelsen sein. Er dürfte schon in dem Berichte des
Gewährsmannes von Muhammed figuriert haben. Er mag mit dem
Gebirge in der Homilie (oben S. 213 Anm 8 und 215 Anm. 5) und
den 'Bergen der Finsternis' im Talmud, der Alexander ebenfalls nach
dem Westen (über Nordafrika) ziehen läßt, identisch sein.
Der unterirdische Gang mag sich auf den Suez beziehen und auf
die Legende anspielen, nach welcher Alexander der Große das Rote
und Mittelländische Meer durch einen unterirdischen Gang zu vereinigen
Archiv f. B«Ugionswi88enscIi»ft YTTT jg
226 I- Friedlaender
SO viele Jahre wandern.' Als sie an der Stelle angelangt
waren, da entsprang der Fisch (der mit dem Lebensquell in
Berührung gekommen war). Der Diener aber, der den Auf-
trag hatte, einen Vorfall dieser Art zu melden^, vergaß es.^
unternahm. Vgl. Wesselowsky im Journal des Ministeriums für Volks-
aufldärung (russisch) Petersburg 1885, p. 171 f.: Daniel, der Metropolit von
Ephesus, der in den Jahren 1493 — 1499 Ägypten und Palästina be-
suchte, berichtet, daß er am Gestade des Roten Meeres „einen unter-
irdischen Graben sah, den Alexander von Mazedonien begann, indem er
die beiden Meere, das Eote und das nördliche (anscheinend das Mittel-
ländische) Meer, zwischen denen die Entfernung nicht groß und ungefähr
drei Tage beträgt, miteinander vereinigen wollte. Doch brachte er das
Unternehmen nicht zu Ende, durch welches er, seinem Wunsche ent-
sprechend, Ägypten gewissermaßen in eine Insel verwandelt hätte. Ich
weiß nicht, was ihn daran verhindert hat". Eine andere Erklärung,
die jedoch die Schwierigkeiten nicht löst, s. bei Wahl Der Koran 1828,
p. 247 Anmerkung.
^ Vgl. die ähnliche Äußerung Alexanders, als er von der großen
Entfernung des Landes der Finsternis hört, in der Homilie Vers 146 f.:
,,Wa8 aber den Weg betrifft, so kommt es mir auf seine Länge nicht an."
* Dies geht aus Vers 61 hervor.
' So verstehen das „Vergessen" in Vers 60 und 62 die meisten
Kommentare. So Beidäwi ed. Fleischer 1,568, der die Worte ^^
cyjjs\J| c;,o«**i (in Vers 62) durch »ULc c^^jK Uj Vjfö c/-iy-*i erklärt:
„ich vergaß zu erwähnen, was ich am Fische beobachtet habe". Die Worte
„sie vergaßen beide ihren Fisch" (Vers 62) erklärt er ^\ ^c**'^^ i?*^
.^tvaJI ,, Moses vergaß, ihn (den Fisch) zu verlangen und sich nach ihm
zu erkundigen; Josua dagegen (vergaß), ihm mitzuteilen, wie er auf-
lebte und ins Meer fiel". Bagawi (starb 516/1122) in seinem Kommentar
(Ma'älim at-tanzil, Bombay 1879) I, 555 erklärt die Stelle in sehr ähn-
licher Weise. Zui:yj-:^J( c>^A-w*i^li sagt er ausdrücklich: s::,^a*«j -ili
cyj.^( j^l ,s^Jy'>3! jjl c.yj-*Ö^L4.>öl 5^'^f ^ J^: 'deun ich habe
vergessen' (Vers 60). Es wird behauptet, daß der Vers subintelligiert
werden muß: „ich habe vergessen, dir die Geschichte mit dem Fische
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 227
So wanderten sie weiter.^ Alexander, von der langen Wanderung
hungrig und ermüdet, verlangt zu essen. Da erinnert sich der
Diener des Yerschwindens des Fisches und teilt es Alexander
mit. Erfreut ruft dieser aus: „Dies ist es ja, was wir suchten."
Und sie kehrten, ihren eigenen Spuren folgend, zurück, um den
Lebensquell, an dem sie vorbeigegangen waren, wiederzufinden.
Hier bricht die Erzählung ab. Sie bleibt ein Torso. Der
weitere Verlauf der Legende, den wir von anders woher kennen,
wird dem Leser vorenthalten.
Die Darstellung des Korans zeigt mehrfache Berührungen
mit der Version der Homilie. In beiden besteht Alexander
energisch auf seinem Vorsatz.* In beiden wird das Wieder-
aufleben des Fisches erwartet und der Diener (oder Koch)
erhält den Auftrag, Bericht zu erstatten.' Koran Vers 63 setzt
dieselbe Situation voraus wie Homilie Vers 215 — 217:* Ale-
xander (Moses) ist über die Mitteilung erfreut und kehrt auf
demselben Wege zurück, um den Lebensquell zu suchen.^
mitzuteilen". Vgl. Bagawis anderweitige Bemerkungen zur Stelle und
Tabaris Korankommentar (Kairo 1321h) XV, 163. — Mubammed hatte
offenbar keine klare Vorstellung vom Hergang der Geschichte. Jeden-
falls hat er sich sehr schlecht ausgedrückt.
* So fasse ich |;jl-^ Uü in Vers 61 auf. Vgl. unten S. 229 Anm. 1.
» Koran V. 59; Homilie V. 144, 171, oben S. 211 flF Vgl. auch
die Äußerung im Talmud oben S. 204, Anm. 1.
* Koran V. 62: Homilie V. 192, s. oben S. 215. Ganz anders im
Pseudokallisthenes. * Vgl. oben S. 215.
^ Vielleicht erklärt sich durch diese Verwandtschaft mit der Homilie
auch die fragmentarische Gestalt des Korans, der über Alexanders
Mißerfolg und den Verbleib des Dieners nichts aussagt. Denn wäre
Muhammed über das Schicksal des Koches nach dem Bericht des Pseudo-
kallisthenes oder der P'-Version der Homilie unterrichtet gewesen, so
hätte er sich kaum ein so interessantes Spezimen der 'Geschichten der
Alten' entgehen lassen. Dagegen wäre sein Stillschweigen verständlich,
wenn ihm die Sage in der gewöhnlichen Gestalt der Homilie, wie sie
die Handschriften Lo und P bieten, vorgelegen hätte. Denn auch hier
wird nichts über den Verbleib des Koches gemeldet (s. oben S. 220).
In P kommt er sogar um seinen Beruf (oben S. 214, Anm. 8). Auch
15*
228 I- Friedlaender
Somit könnte man geneigt sein, die Koranschilderung aus der
Homilie abzuleiten/ und dies um so eher, als die rasche Auf-
einanderfolge der Lebensquellsage (Koran 18, 59 — 63) und
der Alexandersage (Vers 82 ff.) den Gedanken nahelegt, daß
Muhammed aus einer Quelle schöpfte, die beide Sagen ver-
einigte.^ Allein in einem charakteristischen Detail weicht der
Koran von der Homilie ab. Denn, abweichend von dieser
und übereinstimmend mit der Darstellung des Pseudokallisthenes
und des Talmuds, wird (Vers 61) Alexander (Moses) hungrig
und verlangt zu essen. Muhammed, wohl seinem Gewährs-
mann folgend, versucht anscheinend beide abweichenden Dar-
stellungen miteinander in Einklang zu bringen: der Diener
war beauftragt, über das Wiederaufleben des Fisches, der als
Orientierungszeichen dienen sollte, Bericht zu erstatten (Vers 62,
wie in der Homilie). Allein der Koch vergaß seinen Auftrag.
Er erinnerte sich an denselben erst dann, als Alexander
Alexanders Mißerfolg wird verschwiegen. Da Muhammed nicht
mehr wußte, daß es sich um Alexander und um den Lebensquell
handelte, so hatte auch der Mißerfolg Alexanders seine Pointe
verloren.
^ Nöldeke scheint dieser Ansicht zu sein, wenn er Beiträge p. 32
(vgl. daselbst Anm. 5) darauf hinweist, daß Sure 18, deren Erzählung
von Alexander (Du'l-Qarqein, Vers 82 ff.) von der syrischen Legende ab-
hängig ist, sowohl die Geschichte mit dem (gesalzenen) Fisch als auch die
ebenfalls von Jakob von Sarüg bearbeitete Siebenschläferlegende ent-
halte. Fraenkel, ZDMG 45, 325, ist zu der Annahme geneigt, daß
Jakobs Homilie „die Grundlage einer verlorenen ausführlicheren Rezen-
sion der Legende" vrarde, aus der sodann Muhammed sowohl die Sage
von Du'l-Qarnein als auch die Lebensquellsage schöpfte. Diese An-
nahme würde zugleich die Tatsache erklären, daß auch in der Lebensquell-
sage einige Züge auf die Legende hindeuten (oben S, 223, Anm. 4).
Natürlich muß man dabei immer im Auge behalten, daß die Sage,
woher sie auch stammen mag, Muhammed in mündlicher Form
zukam.
* Dies trifft auf die Homilie zu, die die Sage vom Zweigehörnten
nach der Legende bietet und auch über den Lebensquell berichtet,
von dem die Legende nichts weiß. Siehe vorhergehende An-
merkung.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 229
(Moses), die Reise fortsetzend^, hungrig wurde und Speise ver-
langte (wie im Pseudokallisthenes und Talmud). Wenn man
daher auf die Ableitung aus der Homilie Wert legt', so wird
man annehmen müssen, daß Jakobs Gedicht, das zur Zeit
Muhammeds bereits auf ein volles Jahrhundert zurückblicken
konnte, demselben in einer Form zukam, in der der ursprüng-
liche Zug der Sage und die reflektierende Umwandlung des
Dichters' eklektisch vereinigt waren. Wie dem aber auch sei,
jedenfalls beweisen die angeführten Tatsachen zur Genüge, daß
die Legende vom Lebensquell zur Zeit Muhammeds vielfach
tradiert wurde und durch syrische Yermittelung in Arabien
eingedrungen war.
V
Chadir und der Koch Alexanders*
Nach der einstimmigen Behauptung der muhammedanischen
Theologen, die sich sämtlich auf Ihn 'Abbäs* berufen, enthält
* Nach der Homilie ging Alexander dem Koch voraus, so daß
dieser ihm nachlaufen mußte. Nach dem Koran (18, 61, vgl. oben S. 227
Anm. 1) wanderten sie auch weiter zusammen. Allein der unterschied
ist nicht wesentlich. Muhammed hat sich unklar ausgedrückt. Der
Dual in fjjL^ ist ebensowenig zu pressen wie in I «.■,i.>> (Vers 60).
* Die literarhistorischen Schwierigkeiten könnten auch durch die
Annahme behoben werden, daß der Passus vom Du'1-Qamein (Koran
18, 82 ff.) aus der syrischen Legende stammt, dagegen die Lebensquell-
episode (Vers 59 — 63) aus einer selbständig tradierten Sage (vgl. oben
S. 219), die von der Version der Homilie unabhängig ist und auch von
ihr abweicht. Allein diese Annahme wäre, in Anbetracht der oben S. 228,
Anm. 2 angedeuteten Tatsache, doch recht unwahrscheinlich.
» Vgl. oben S. 221.
* Mangel an Raum und der Charakter dieser Zeitschrift ließen es
ratsam erscheinen, den Abschnitt über „die muhammedanische Tradition",
in dem die zahlreichen Versionen der Lebensquellsage des Hadith zu-
sammengestellt und erörtert wurden, beiseite zu lassen.. Derselbe wird
in anderer Form binnen kurzem zur Veröffentlichung gelangen. — Das
folgende Kapitel, das die Resultate gibt, ist auch nach jener Ausschaltung
verständlich. "Wo sich ein Verweis auf „oben'' ohne beifolgende
Seitenzahl findet, bezieht sich derselbe auf den hier ausgelassenen
Abschnitt. ' Den Vetter des Propheten. Siehe oben.
230 I- Friedlaender
die im vorstehenden behandelte Koranstelle eine Beziehung
auf Chadir, und somit hätten wir in der 18. Sure die früheste
Spur der Chadirlegende vor uns. Zwar wird Chadir ohne Aus-
nahme mit dem in Yers 64 erwähnten „Knecht" identifiziert,
„dem Allah seine Barmherzigkeit gewährt und sein Wissen
verliehen hat" und dessen Belehrung zu erlangen Moses die
beschwerliche und ereignisvolle Reise unternimmt. Doch wird
uns der ursprüngliche Sachverhalt durch die Behauptung der
muhammedanischen Gelehrten selber nahegelegt, die mit der-
selben Entschiedenheit erklären^, daß Chadir ein Vezier und
Begleiter Du'1-Qarneins (Alexanders) war, der den LebensquelP
fand und sich auf diese Weise ewiges Leben erwarb.^ Kom-
binieren wir diese Erklärung mit der oben zitierten Behauptung
des nämlichen Ibn 'Abbäs, daß es der Diener des Moses war,
der widerrechtlicherweise durch einen Trunk aus dem Lebens-
wasser in den Besitz ewigen Lebens gelangte, und rufen wir
uns die oben mehrfach berührte Tatsache ins Gedächtnis zu-
rück, daß an der genannten Koranstelle Moses, infolge eines
Mißverständnisses, statt Alexander erscheint, dann bleibt
auch nicht der Schatten eines Zweifels übrig, daß ursprünglich
Chadir nicht der rätselhafte Knecht in Vers 64 ist — der
einem durchaus verschiedenen Vorstellungskreise angehört — ,
sondern der um den Fisch besorgte Diener Moses' (Alexanders)
in Vers 59 ff., mit anderen Worten, mit dem uns aus
Pseudokallisthenes und der syrischen Homilie wohl-
bekannten Koche Alexanders identisch ist. Somit wäre
- Tabari I 414, 16 ff, dessen Notiz mit und ohne Quellenangabe
außerordentlicti häufig zitiert wird. Vgl. Ta'labi 'Arä'is 126, 15 ff. Daß
Chadir aus dem Lebensquell getrunken, wird imzählige Male erwähnt.
Auch die persischen Dichter spielen häufig auf diese Tatsache an, vgl.
August Wünsche Die Sage vom Lehensbaum und Lebenswasser, Leipzig
1906, p. 82
■ Genauer „den Lebensfluß" (nähr al-hajät). Vgl. oben.
' Für Tabari steht diese Tatsache so fest, daß er, von ihr aus-
gehend, die anderen Identifikationen des Chadir zurückweist; vgl. I 414 f.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 231
die Gestalt Chadirs, die in der Legendengeschichte des Islam
eine domiaierende Stellung einnimmt und einen integrierenden
Bestandteil des muhammedanischen Volksglaubens bildet, ein
Abklatsch der typisch heidnischen Figur des Koches Andreas,
der mit der Lebensquelle in Berührung gekommen und der
als Seedämon ein ewiges Dasein fristet.
Wenn wir diese Tatsache, an der nicht zu rütteln ist, fest
im Auge behalten, dann dürfte es uns gelingen, auch den
Namen Chadirs aus demselben Vorstellungskreise, dem er
seinen Ursprung verdankt, abzuleiten. Der Xame oder genauer
das Attribut, al-Chadir „der Grüne" — denn als solches wird
er von den muhammedanischen Gelehrten empfunden^ — hat
von jeher ein Rätsel gebildet, um das sich der Scharfsinn
muhammedanischer und europäischer Gelehrter eifrig aber ver-
gebens bemüht hat. Die muhammedanischen Gelehrten bieten
nicht weniger als drei Erklänmgen für den Namen unseres
Sagenhelden. Nach einer vielzitierten- Überlieferung, die nicht
* Es ist interessant, daß der Name sowohl mit wie ohne Artikel
gebraucht wird. Letzteres scheint ursprünglicher zu sein; vgl. oben.
(Auch riavxog, s. u. S. 235, wird ohne Artikel gebraucht.) Daß die Be-
zeichnung durchaus als epitheton omans galt, ersieht man nicht nur aus
den verschiedenen Erklärungen derselben, sondern auch aus den zahl-
reichen Versuchen , den eigentlichen Namen Chadirs ausfindig zu machen.
* Z. B. Ta'labi 124, Damiri I 235, Nawawi, Tahdib 228, Sibt Ibn
al-Gauzi (starb 654 1257), Mir'ät az-Zamän, Ms. British Museum
Or. 4215 (im folgenden als „Sibt Ibn al Gauzi" zitiert) fol. 124 b, ebenso
Abü'1-Fath Muhammad b. Muhammed b. 'Ali as-Sikandari (zehntes
Jahrhundert der Hidschra) in seiner handschriftlichen Heiligengeschichte
Ibtigä'l-qurba bi'l-Hbäs wa's-sahba, Ms. der Leipziger Universitäts-
bibliothek fol. 116». Das zuletzt genannte Werk, das ich im folgen-
den mit ,,Abü'l-Fath" zitiere, enthält unter anderem einen sehr
ausführlichen Abschnitt über unsem Propheten (fol. 116» — 149*), von
dem ich eine Kopie besitze. YoUers gab seinerzeit eine kurze Be-
schreibung des Werkes {Katalog der Handschriften der Universitäts-
bibliotheli zu Leipzig 11, Leipzig 1906. Nr. 252), machte jedoch keinen
Gebrauch von demselben in seinem hier mehrfach zitierten Artikel über
Chadir.
232 I- Friedlaender
nur von den beiden kanonischen Hadithsammlungen^ son-
dern auch von der schiitischen Tradition ^ adoptiert und
von Tabari^ unabhängig tradiert wird, und die, wenn auch
nicht auf den Propheten zurückgehend^, so doch durch
ihre Sprache einen altertümlichen Eindruck macht ^, „wurde
er al-Chadir genannt®, weil er auf einer weißen „Farwa"^
* Buchäri ed. Krehl II 357, 9. Muslims Versionen werden von Ibn
Hagar, Isäba I 884 zitiert und besprochen. Beide haben dieselben
Gewährsmänner: Ibn al-Mubärak aus Merv (starb 181>i, Huffäz VI, 30)
nach Ma'mar aus Basra (starb 153 ii, Hutf. V, 26) nach Hammäm, dem
Bruder des berühmten Wahb b. Munabbih, aus Jemen (Tabari III 2554, 7
Appendix) nach Abu Hureira im Namen des Propheten.
* Ibn Bäbüje (starb 381/991) in seinem Kitäb 'ilal as-sarä'i"
« .^
(Ms. British Museum Add. 23261 fol. 25 b: ^ ,jL^ 2<öf JüC^f c^L<^
^\yh£ä- cy^l '3\ = Laöjo ij^A "^ X*<*iU XaäS^ ^ j*Jjs\^ „sein(al-Chadir8)
Wunderzeichen war, daß er sich auf kein trockenes Holz oder weiße
Erdscholle setzte, ohne daß sie grünend aufblühten". Die Tradition,
die auch in seinem Werke Kamäl ad-din, Ms. Berlin (Ahlwardt Nr. 2721)
fol. 173b, zitiert wird, wird, wie die meisten schiitischen Traditionen,
auf Ga'far as-Sädiq, den Schutzpatron der Si'a (starb 146h) zurück-
geführt. Doch ist sie zweifellos nichts als ein Widerhall der kano-
nischen Tradition, deren Wortlaut sie zu erklären sucht.
' I, 429, 4, mit demselben Isnäd wie oben. Auch in seinem
Korankommentar XV, 168.
* Die Berufung auf den Propheten, wie auch auf den Genossen
Abu Hureira, ist sicherlich bloße literarische Fiktion (vgl. oben).
Es ist unbegreiflich, wie Lidzbarski {Zeitschrift für Assyriologie VIII, 264
unten) den Propheten für diese Namenserklärung verantwortlich machen
kann, der doch augenscheinlich den Namen Chadirs überhaupt nicht
kannte und über seinen Ursprung nur die verworrensten Vorstellungen
hatte.
^ Vgl. unten Anm. 7.
® Muslim und Tabari: „wurde al-Chadir Chadir genannt", vgl. oben.
' Muslim bloß „auf einer Farwa". Auch die Lesart bei Buchäri
schwankt. Vgl. Nawawi, Tahdib p. 229,1, der ebenfalls ^L^äo ausläßt.
Die eigentliche Bedeutung von „Farwa" war anscheinend schon früh in
Vergessenheit geraten Die muhammedanischen Gelehrten schlagen
allerlei Erklärungen vor. Nach 'Abdarrazzäq (b. Hammäm aus San'ä,
Btarb 211h, Mizän n, 114£f.) bedeutet es [Jaxii\ jÄuyÄ-srvJI „trockenes
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 233
saß* und dieselbe plötzlich hinter ihm — oder unter
ihm- — grünend wogte ".^ Nahe verwandt und muslimisch
gefärbt ist eine andere auf den Mekkaner Mugähid (starb
ca. lOO^y zurückgeführte Tradition^ nach der Chadir so
genannt wurde, „weil, wo immer er auch betete, es um
ihn herum — oder unter ihm — grün ward*'.^ Eine dritte,
anscheinend spätere Erklärung, die vielfach zitiert wird,
leitet Chadirs Namen „von der Schönheit und dem Glänze
seines Antlitzes" ab.^ Nicht minder vielfältig und unannehm-
weißes Gras" (bei Ibn Hagar ibidem), Nawawi erklärt es als |»jyiy4i(
cyL-JI ^^ „vertrocknete Pflanze", nach Abü'1-Fath, ebenso Nawa-wi und
Damiri, bedeutet es bloß {jOj^^ »>*5 „Erdoberfläche". Ibn Bäbüje
(oben S. 232, Anm. 2) bietet zwei Erklärungen (im Zitat im Eamäl ad-
din bloß ''L^ä-o jj^;l}- Ihn al-Gauzi (ibidem) erklärt es gar als
!woU jyt*j::sv« ?j^J>jL« V^V* **^ „Stück (Ausschnitt?) von herrlichen
verbundenen (?) trockenen Gewändern". Die letztere Erklärung deutet
wohl auf den Gebetsteppich hin, vgl. unten Anm. 6. Das Wort ist
jedenfalls alt. Vielleicht ist es jemenisch. Denn die Tradition rührt
vom Jemeniten Hamm am her, oben S. 232, Anm. 1.
^ jjwuLs*. Tabari Jmä. * Tabari außerdem so „durch ihn".
' Ibn Bäbüje scheint o'^ji „blühte" gelesen zu haben.
* fluf^z lU, 18.
^ Ta'labi 124, Damiri I, 235, Sibt Ibn al-Gauzi ibidem, Abü'l-
Fath ibidem, Lisän s. v. _*ä^. Tag al-'arüs s. h. v. (III, 181, 10), und
sonst häufig.
^ Ahnlich erklärt Ja'la am Ende seines oben zitierten Be-
richtes (Buchäri III, 279) im Namen des mir sonst unbekannten 'Otmän
b. Abi Suleimän, daß Chadir auf einer grünen Matte (tanfasa) mitten
in der See saß. Nach Ta'labi (127 oben) stand er betend auf einer
grünen „tanfasa" auf der Oberfläche des Wassers. Nach Eisäl fand ihn
Moses auf einer Meeresinsel sein Gebet verrichtend (oben). Es dürfte
die Idee vom Gebetsteppich zugrunde liegen. Chadir ist natürlich
ein orthodoxer Muhammedaner. Vgl. Völlers in dieser Zeitschrift
Xn 278.
' ».g^j '^^Ir^ ?üU«js\J. So z. B. Ta'labi p. 124, Sibt Ihn al-
Gauzi, Abü'1-Fath fol. 124a, Lisän und Tag al-'Arüs (III, 181, 12), letzterer
mit der erklärenden Glosse: „wegen dessen Ähnlichkeit mit der grünen
234 I- Friedlaender
bar sind die Erklärungsversuche der europäischen Gelehrten.
Die vielfach beliebte Deutung des Namens Chadirs als des
Grünen, des Immergrünen, des Ewiglebenden ist nichts als
philologische Spiegelfechterei.^ Yon den anderen modernen Er-
klärungen ist die ansprechendste sicherlich die von Völlers^,
der al-Chadir „den Grünen" als den Genius der Vegetation
auffaßt, eine Erklärung, die lebhaft an die kanonisch- muham-
medanische Deutung^ erinnert. Doch wenn auch, nach den
Darlegungen von Völlers, dieser Zug in der vielseitigen Gestalt
Chadirs, dem anscheinend jene muhammedanische Erklärung
Ausdruck zu verleihen sucht, nicht abzuleugnen ist, so ist er
doch nicht hervorragend genug, um ihn für den Namen in
Anspruch zu nehmen. Überdies leidet diese Namenserklärung
an dem schwerwiegenden Fehler, daß sie keine historische
Vorlage für die muhammedanische Bezeichnung nachweisen
kann; denn an eine Neuschöpfung ist bei dem völligen Mangel
an Originalität, der die muhammedanische Chadirvorstellung
charakterisiert^, durchaus nicht zu denken. Wenn wir uns
frischen Vegetation". Abü'1-Fath (fol. 121a) läßt sich über diese Er-
klärung in einer interessanten Notiz aus: „Gott, gepriesen sei er,
zeichnete al-Chadir durch das Lebenswasser (mä' al-hajät) aus, welches
vom Springbrunnen (janbü') des Paradieses (kommt) — vgl. oben S. 205 —
und aus welchem keiner außer ihm (je) getrunken hat. Die Lebens-
quelle ('ain al-hajät) aber befindet sich an der Vereinigung der beiden
Meere, verborgen vor den Augen, unter Gottes Geheim(wis8en) und
Allmacht (stehend). Sein (Chadirs) Name weist auf sein (ewiges) Leben
hin. Denn das Grün (hudra) ist ein Attribut der grünen Pflanze, und
es ist bekannt, daß das Grün der Pflanze deren vitales Element ist."
^ Vgl. Lidzbarski in Zeitschrift für Assijriologie VII, 105.
* Archiv für Beligionsivissenschaft XII, 278 f. » Oben S. 231 f.
* In der gesamten Chadirlegende dürfte es kaum ein einziges
Moment geben, das sich nicht aus nichtislamischen Quellen ableiten
ließe, vgl. meinen Aufsatz im Archiv für EeUgionswissenschaft XIII, 92 ff.
Wenn für Völlers ib. XII 237 1. Z. Chadir „recht eigentlich ein Erzeugnis
des islamischen Synkretismus" ist, so ist dies nur insofern zutreffend,
als der Islam viele alte Legendenstoffe adoptiert und aus diesen die
Chadirlegende zusammengesetzt hai Neuschaffend war der Islam auch
hier nicht.
1
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhixlegende 235
dagegen auf die oben nachgewiesene Identität Chadirs mit dem
in einen Seedämon verwandelten Koche Alexanders erinnern,
dann drängt sich die Erklärung des Namens von selbst auf:
al-Chadir „der Grüne" ist der Seedämon. Eine passendere
Bezeichnung für einen Seedämon dürfte sich schwerlich finden
lassen. Daß die Figur des Seedämons auch in der muhamme-
danischen Lebensquellsage einen Platz hatte, konnten wir oben
feststellen. Daß diese ursprüngliche Bedeutung des Namens
den muhammedanischen Gelehrten früh abhanden kam, ist be-
greiflich und verzeihlich. Sie hätten diese Erklärung, die ihren
ewiglebenden Propheten auf einen heidnischen Dämon reduziert,
auch wenn sie ihnen bekannt gewesen wäre, mit Entrüstung
zurückgewiesen. Allein es zeugt von der beispiellosen Zähig-
keit sagengeschichtlicher Überlieferung, daß die viel spätere
äthiopische Alexanderversion, die, auf eine arabische Vorlage
zurückgehend, ein kurioses Gemisch der verschiedenartigsten
Rezensionen darstellt und durch ihr fromm christliches, gelegent-
lich auch fromm muhammedanisches Gewand hindurch häufig
heidnische Einflüsse verrät, die von uns verfochtene Namens-
ableitung voraussetzt.^
Die Bezeichnung des in einen Seedämon verwandelten
Dieners als al-Chadir, „der Grüne", erinnert unwillkürlich an
den Namen des einem ähnlichen Schicksal verfallenen
Glaukos, und so wurde schon von anderer Seite* die Ver-
mutung ausgesprochen, daß die Benennung Chadirs lediglich
eine Kopie von rXavxos sei. Diese Vermutung gewinnt an
Wahrscheinlichkeit, wenn wir die oben' nachgewiesene Tatsache
* S. unten 245 Anm. 1.
' Zuerst von Clennont-Ganneau Eorus et Saint Georges d" apres un
has-relief ine'dit du Louvre. Notes d'archeologie Orientale et de mytho-
logie semitique. Extrait de la Revue Ärcheologique Paris 1877, p. 31 ff.,
besonders p. 33. Sodann, unabhängig von ihm, Dyroff in Zeitschrift für
Assyriologie VII (1892) p. 327.
» S. 191 ff.
236 I- Friedlaender
in Betracht ziehen, daß die Lebensquellsage, der die Chadir-
konzeption ihren Ursprung verdankt, mit der Glaukoslegende
auf das engste verwandt ist. Gegen diese Identifikation sind
philologische und historische Argumente ins Feld geführt
worden. Es wurde darauf hingewiesen^, daß die Wurzel
„chdr" nicht die grüne Farbe des Wassers, sondern die der
Vegetation bezeichne. Allein dieser Einwand, der nebenbei
nicht ganz den Tatsachen entspricht^, geht von falschen Vor-
aussetzungen aus. Die Bezeichnung des in einen Seedämon
verwandelten Sagenhelden als FXavxos oder Chadir (der Grüne,
genauer der Dunkelgrüne)^, geht eben nicht von der Farbe
des Wassers, sondern von der der Vegetation aus: es
ist der den Seedämon bedeckende Seetang, der zuerst in die
Augen springt und jener populären Bezeichnung zugrunde
liegt.* Man braucht nur das herrliche platonische Gleichnis^
zu lesen, in dem der Seegott Glaukos, gleich der Wahrheit,
„überwachsen mit einer Oberschicht von Seetang und Muscheln
und Steinen" erscheint, „so daß er eher irgendeinem Ungeheuer,
denn seiner eigenen ursprünglichen Gestalt ähnelt", um zu er-
kennen, wie gang und gäbe diese Vorstellung von der äußeren
Erscheinung des Glaukos war, die auch die antiken Bildwerke
^ Lidzbarski Zeitschr. für Ass. VIII, 268.
* Ibn al-A'räbi (starb 231/844ii) sagt ausdrücklich, daß „chdr" auch
auf Wasser anwendbar ist (zitiert im Tag al-*arüs, III. 179) Vgl. auch
Völlers in dieser Zeitschrift XII p, 282.
' Über yXavv,6s in dieser Bedeutung vgl. Gaedechens Glaukos der
Meergott p. 38. Daß diese Bedeutung nach Gaedechens erst in späterer
Zeit, namentlich bei römischen Schriftstellern, nachweisbar ist, kommt
für unsere Legende, die viel später ist, nicht in Betracht. Über Chadir
als dunkelgrün vgl. Lane s. v. Tag al-'arüs III, 179 definiert die
durch chudra bezeichnete Farbe als „zwischen Schwarz und Weiß"
stehend. Auch die äthiopische Wiedergabe von Chadir durch „hamalmil"
deutet dieselbe Farbennüance an.
* yXavKOi wird auf alle meerfarbenen Gegenstände, unter anderem
auf das Schilf und das Sumpfgras, angewandt, Gaedechens p. 38.
" Bepublik X, p. 61lC.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 237
fast durchgängig zur Anschauung bringen.^ Dieselbe Erklärung
des Namens scheint der Angabe der äthiopischen Alexander-
legende- zugrunde zu liegen und sie schimmert auch in der
muhammedanischen Vorstellung durch, nach welcher Chadir in
grüne Gewänder gekleidet ist.'
Viel schwerer wiegt das historische Argument*, das sich
gegen die unmittelbare Ableitung einer muhammedanischen,
dazu noch einer so alten muhammedanischen Vorstellung aus
einer griechischen Sage geltend machen läßt. Es ist kaum
zulässig, daß man Chadir schlecht und recht für Glaukos er-
klärt^ oder den Namen des einen als eine „Übersetzung" oder
gar eine „sachgemäße Übersetzung" des Namens des andern
betrachtet.' Wohl aber lösen sich die Schwierigkeiten, wenn
man das Ergebnis der vorstehenden Untersuchungen in Betracht
zieht, nach welchem die Syrer die Hauptrermittler der Lebens-
quellsage waren. Die syrische Form der Lebensquell-
sage bildet die Brücke, die nicht nur die Lebens-
quellsage des Pseudokallisthenes, sondern auch die
* Gaedechens p. 79: „zottige Brust, besetzt mit Moos und Meer-
tang"; p. 167: „denn da Glaukos fischschwänzig wurde, wie Schrift-
steller und Bildwerke ihn fast durchgängig schildern, sein Leib mit
Muscheln und Seetang bewachsen, so ist sein Aufenthalt ohne Zweifel
im Meere zu denken". Vgl. auch pp. 212, 216.
* S. unten 245 Anm. 1.
' Ta'labi p. 127, 1; 1001 Nacht (ed. Büläq U, U; 304»« Nacht);
Laue Arabian Nights (1865) I, 20, Anmerkung. Nach einigen soll gar
sein Name von den grünen Gewändern herkommen (Lane, ibidem).
Nach einer anderen Vorstellung, die nicht hierher gehört, trägt Chadir
weiße Kleider. — Mit der äußeren Erscheinung des Glaukos mag die
Beobachtung Sa'id b. Gubeirs zusammenhängen (Buchäri HI, 279 in der
Version Ja'las Muslim IX, 242 f. in der Version des Abu Ishäq), daß
Chadir „musagga° bi-taubihi" „in sein Gewand eingehüllt" war, vgl.
Völlers p. 246. — Auch die oben S. 234 f. zitierte Namenserklärung
mag Ahnliches andeuten.
* Vgl Völlers a. a. 0 p. 282.
" Clermont-Granneau a. a. 0. p. 31flF.
^ Dyroff Zeitschr. f. Assyr. VII, 327.
238 I- Friedlaender
Legende des Glaukos mit der muhammedanisclien
Chadirvorstellung verbindet. Unter den zahlreichen Ge-
stalten der syrischen Lebensquellsage, die unter dem direkten
Einfluß der hellenischen Sagenwelt stand, mag es auch solche
gegeben haben, in denen der Koch Alexanders mit den Zügen
seines Leidensgenossen Glaukos ausgestattet erschien. In einer
dieser Versionen war vielleicht der Koch Alexanders, passender-
weise, wie wir oben^ sahen, als „der Grüne" charakterisiert,
und von den Syrern ist diese heidnische Figur des Glaukos-
Andreas zu den Muhammedanern gedrungen, um Namen und
Gestalt des Chadir zu erzeugen und kurz darauf in dem
Strudel der theologischen Spekulationen des Islam zu ver-
schwinden.
Doch wie sich auch der Name des Chadir zu dem des
Glaukos verhalten mag, unzweifelhaft ist es, daß die Gestalt
Chadirs Züge enthält, die mit Sicherheit auf Glaukos hin-
weisen. Nirgends tritt dieser merkwürdige Zusammenhang
frappanter hervor als in der Umwandlung, die die muhammeda-
nische Chadirvorstellung im Norden Indiens, der schon früh der
Waffengewalt des Islams unterlag, erfahren hat, eine Umwand-
lung, die zugleich die wunderbare Lebensfähigkeit mytholo-
gischer Motive grell illustriert. Denn im Norden Indiens^ ist
Chadir, „Chwäga Chisr", „Herr Chidr", wie er von den Muhamme-
danern, oder „Räga Kidär", wie er von den Hindus tituliert wird,
schlecht und recht eine Wassergottheit geworden oder, richtiger,
— geblieben. Genau so wie Glaukos, ist Chadir im Bengal
„die Schutzgottheit der Schiffer, die ihn anrufen, um ihre
Schiffe vor dem Zusammenbrechen und Versinken zu bewahren,
oder um ihnen den Weg zu zeigen, wenn sie denselben ver-
' S. 236.
* Die folgenden Daten entnehme ich W. Crooke Tfie populär
religion and folk-lore of Northern India, London, 1896, Band I,
p. 47—48.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 239
loren haben "^ Als sein Gefährte wird ein Fisch angesehen,
der über den Türen von Muhammedanem und Hindus gemalt
wird und der auch das Wappen des früheren Königshauses Ton
Ud bildete.* Im Zusammenhang mit dem Chadirkultus ist es
üblich, ein Schiffchen in einem Flusse oder Wasserbehälter
vom Stapel zu lassen oder ein winziges, mit Gras überdecktes
Floß, auf dem ein Licht angezündet wird, im Dorfteich in
Bewegung zu setzen. An die Haarlocke, die dem Glaukos als
Opfer besonders willkommen ist', erinnert die bei den Muhamme-
danern übliche Sitte, bei dem ersten Haarabnehmen eines Jungen
ein Gebet an Chadir zu richten, eine Sitte, die sich sogar bei
den eingeborenen Juden in Bombay und Umgegend erhalten zu
haben scheint* Mag auch einzelnes im indischen Chadirbild
sich aus anderen Vorstellungskreisen ableiten lassen: als Ganzes
ist es ohne Zweifel ein Abklatsch der Glaukosfigur, der al-
Chadir auch seinen Namen verdankt.
Dieser Zusammenhang mit Glaukos tritt im Zentrum des
Islams, wo die heidnischen Elemente früh abgestoßen wurden,
* Auch die Seeleute von Beirut in Syrien rufen noch heute, wenn
ein Sturm im Anzug ist: „Ja, Chidrl", Clermont-Ganneau a. a. 0. p. 33,
Anm. 2. Freilich, für sich allein betrachtet, könnte letzteres all-
gemein die Hilfsbereitschaft Chadirs ausdrücken. „Unser 'zu Hilfe
kommen' wird im Türkischen auch ausgedrückt: 'wie ein Chizr kommen'*'
(Völlers a. a. 0. p. 272, Anm. 1).
* Der Fisch kann natürlich sowohl von der Glaukoslegende als
auch von der LebensqueUsage herrühreu.
' Gaedechens p. 185; Röscher p. 1679.
* Vgl. den Reisenden Jakob Saphir, der um 1870 Indien besuchte,
in seinem Reisewerke Eben Saphir U (Mainz 1874) 47*: Die so-
genannten Bene Israel, von denen dort die Rede ist, lassen ihren Kindern
nicht vor dem vierten oder fünften Lebensjahr das Haar abnehmen. „Der
Tag, an dem diese zuerst geschoren werden, gilt als Fest- und Freudentag,
gleich dem Tage, an dem sie in den heiligen Bund CAbrahams) auf-
genommen werden." Die Sitte, die Saphir ausführlich beschreibt, wird
von ihm als „uralt" bezeichnet. Die Bene Israel haben sich auch in
vielen anderen Dingen den Hindus assimiliert.
240 I- Friedlaender
gänzlich zurück. Indessen zeigt sich auch hier der ursprüng-
liche Charakter al-Chadirs als Seedämon in der Vorstellung,
die ihn als einen Schutzgeist der See auffaßt und die im
gesamten Bereiche des Islams herrschend geworden ist.
Diese intime Beziehung Chadirs zum Meere und den
Meerfahrern tritt bereits im Hadith hervor, obwohl Chadir
hier mit dem frommen Knecht des Korans (18, 64) identifiziert
und infolgedessen in einen Gottesmann verwandelt worden war.
In der Portsetzung des Berichtes des Sa^id b. Grubeir über die
Lebensquellepisode, den Sufjän b. 'üjeina nach 'Amr b. Dinar
überliefert \ heißt es: „Als sie beide (d. h. Moses und Chadir)
am Meere ^ zu wandern begannen, da fuhr an ihnen ein Schiff
vorbei. Sie sprachen sie (die Schiffsleute) an, damit die
letzteren sie beförderten.^ Diese aber erkannten al- Chadir und
beförderten ihn ohne Fahrgeld."* In etwas anderer Wendung
wird dasselbe in Ja^las Version des Sa'idschen Berichtes^ aus-
gedrückt: „sie bestiegen beide ein Schiff und fanden kleine
Küstenbote, die die Leute von dem einen Ufer nach dem
1 Buchäri 11 355, III 277, 281; Muslim IX 234£F.; Tabari I 417 f.
Vgl. oben.
* Daß sie am Meere wandern, war bereits durch den Koran nahe-
gelegt, der den Schauplatz ebenfalls nach dem Meere verlegt.
' Deutlicher bei Tabari, I, 425 in al-Hakam b. 'Uteibas Version
des Sa'idschen Berichtes: „sie (beide) begegneten allerlei Volk, indem
sie jemand suchten, der sie befördern sollte, bis schließlich ein Schiff
an ihnen vorbeifuhr ... Da ersuchten sie beide die Leute auf dem-
selben sie zu befördern".
* Buchäri, III, 278, 1. Bei Ta'labi 127, 13, wo diese Tradition
zitiert ist, ist dreimal der Dual statt des Plurals zu lesen. Bei Buchäri,
II, 356 und Tabari, I, 418, 8 scheint mir die Tradition etwas poliert
zu sein: „Da stieß er (Chadir) plötzlich auf einen Kapitän in einem
Schiffe. Dieser aber erkannte al-Chadir und beförderte ihn ohne Fahr-
geld." In allen bisher zitierten Versionen wird „Fahrgeld" durch
„naul" (= vavXov) ausgedrückt (vgl. Völlers a. a. 0. p. 246). Siehe
dagegen unten S. 241, Anm. 3.
" Buchäri III 278 f.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 241
andern hinüberführten. Sie erkannten ihn und sprachen: (hier
ist) der fromme Gottesknecht I — wir fragten Sa'id b. Gubeir:
(ist damit) Chadir^ (gemeint)? Er sagte: jawohl I- — wir
werden ihn nicht um Zahlung' befördern." In dieser Eigen-
schaft als Vorgesetzter der See* wird Chadir seinem Zwillings-
propheten Elias entgegengesetzt, der, unter dem Einfluß einer
alten jüdischen Vorstellung^, als Schutzengel der Wüsten und
Einöden, sodann auch des Festlandes erscheint. So erklärt
eine auf den berühmten al- Hasan al-Basri (starb 110*) zurück-
gehende Tradition", daß Gott „Iljäs über die Wüsten, al-
Chadir aber über die Meere eingesetzt hat". Ahnlich über-
liefert al-Härit b. üsäma (starb 282/895) in seinem Traditions-
werk', „daß al- Chadir auf dem Meere und Elisa* auf dem
Festland sich befindet".^ „Zwei (ewiglebende Propheten) gibt
es auf Erden: al- Chadir und Iljäs. Was al- Chadir betrifft, so
ist er auf dem Meere. Was aber seinen Genossen betrifft, so
1 Ohne Artikel. Vgl. oben S. 231. Anm. 1.
* Der eingeschobene Satz rührt, wie der Kommentator Ibn Hagar
richtig zur Stelle bemerkt, tou Ja'la her. Man sieht, daß damals die
Identität des frommen Knechtes mit Chadir noch nicht für ausgemacht
galt. Vgl. auch oben.
' „bi-agrin". „agru»" steht hier, wie Ibn Hagar (auch Qastalläni)
zur Stelle bemerkt, für „ugratun". Es ist wohl das aramäische „agrä".
Ob dies auf Ja'la, der aus dem "Iräq (Basra) stammte, zurückgeht, ist
schwer zu sagen. Der Mekkaner 'Amr b. Dinar gebraucht „naul".
* Arabisch mehrfach „mukaUaf fi'1-bahr".
" Vgl. Pirqe Aboth, Kap. 6: im babylonischen Talmud Berachoth 3»,
Sanhedrin 98». Siehe die Bemerkung in meiner Abhandlung The
Heterodoxies of the Shütes according to Ibn Hazm II (= Journal of the
Avierican Oriental Society XXIX) p. 48.
* Zitiert bei Ibn Hagar Isäha I, 889
' Vgl. über dasselbe Goldziher Muhammednnische Sttidien II, 228.
* Elisa steht hier, wie sonst oft, für Elias, weil Chadir häufig mit
letzterem identifiziert wird. Vgl. meinen Artikel Archiv für Beligiom-
tcissenschait XIII 97.
* Zitiert bei Ibn Hagar ibidem 889 f.
ArclÜT f. Beligionswissenschaft YTTT jg
242 I- Friedlaender
ist er auf dem Festlande." ^ „Was al-Chadir anlangt, so ist
er der Schutzengel des Meeres, und, wenn jemand den Tod im
Wasser findet, wäscht al-Chadir seine Leiche und spricht das
Totengebet über ihn. Elias dagegen ist der Schutzengel der
Wüsten."^ „al-Chadir umkreist die Meere, indem er den
Irrenden den Weg zeigt, während Iljäs die Berge ^ umkreist,
diejenigen zurechtweisend, die von einem Gül (Irrgeist) ver-
führt wurden."* Ein Seefahrer, der sich auf dem Wege
zwischen Indien und China befindet, wird von zwei auf den
Meereswellen einherreitenden Männern besucht, von denen der
eine sich als Elias offenbart, während der andere, der al-Chadir ist,
als „der über die Meeresinseln gesetzte Engel" vorgestellt wird.^
Als Schutzherr des Meeres beherrscht al-Chadir die Seetiere
und kontrolliert die Winde." Er schreitet auf dem Rücken
des Meeres einher^ und wird „Durchwater der Meere" tituliert.^
Sein Aufenthaltsort ist eine Insel im Meere, auf der er Gott an-
betet^ und auf der ihn auch Moses zuerst findet.-'*' Sein Kultus
* Ibidem 890 aus Ibn Sabin (starb 385 ii). — Ebenso Dijärbekri,
Ta'rih al-hamis I 107 (aus Zamahiaris [starb 638/1143] BabV dl-dbrär):
„Iljäs ist auf dem Festlande, al-Chadir auf dem Meere".
* In der persischen Version Tabaris ed. Zotenberg I 374. Die Version
wurde im 10. Jahrhundert angefertigt.
' Ob wohl der Urheber dieser Anschauung in einer gebirgigen
Gegend wohnte? Sie erinnert an Kaie als Dämon der Berge oben S. 173,
Anm. 6.
* Sibt Ibn al-Gauzi (oben S. 231, Anm. 2) fol. 124b. Vgl. Lane
Arabian Nights 1 (1865), p. 20. Sibt Ibn al-Gauzi gibt als seine Quelle
Wahb b. Munabbiha Buch dl-Mubtada an.
^ Abä'1-Fath fol. 125», aus der Schrift Manäqib al-Imäm Ahmad.
* Ibn Hagar 890 aus 'Uqaili (starb 322 h), angeblich auf Ka'b
zurückgehend.
' Abü'1-Fath fol. 1276. Vgl. die Darstellung 'Omäras und die
äthiopische AlexanderTersion.
* Curtiss Ursemitische Religion III.
® Kisäl oben. Abü'i-Fath fol. 125b. Auch sonst häufig.
'" Mehrfach in den oben zitierten Traditionen.
Alexanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 243
ist auf der ganzen Ausdeimung der syrischen Küste verbreitet,
an der zahlreiche Heiligtümer seinen Namen tragen ^ Daher
wird Chadir als al-Bahri „der Seeische" bezeichnet, während
sein Genosse Elias al-Barri „der Festländische" tituliert
wird.^
Wie tief diese Vorstellung von Chadir' in die islamischen
Kreise eingedrungen ist, kann man aus der Tatsache ersehen,
daß sie sich selbst dem Hadith gegenüber zu behaupten ver-
mocht hat. Ein auf Muhammed zurückgeführter Ausspruch
' Clermont-Ganneau a. a. 0. p. 34, Anna. 3.
* Ibn Hagar I 903, 7, im Namen des Ibn Gureig (starb löOh);
Abü'l-Fath fol. 123». [Die Handschrift ist hier falsch gebunden,
123» gehört nach 117^, während 118» nach 125^ folgen sollte]. —
Im Gegensatz zu allen eben angeführten Stellen stehen zwei Zitate
des Abü'l-Fath, die aber wohl tendenziös sind Als Elias und Chadir,
die 4000 Jahre auf die Offenbarung der Eröffnungssure des Korans ge-
wartet hatten, nunmehr, da sie dieselbe aus dem Munde Muhammeds
vernommen, zu sterben wünschten, da hielt ihnen Muhammed ent-
, ^i .
gegen: ^^^ ^f J-Jt ^j-'-^JLäj JjLaJI ^ ^i q**^" o' «^^y^^ U
,«j:s\xJ( ^i JC*! „0 Chadir! Dir liegt es ob, meiner Gemeinde in den
Einöden behilflich zu sein, und dir, o Iljäs, liegt es ob, meiner Ge-
meinde auf den Meeren behilflich zu sein" (fol. 118^ aus dem Werke
Kitäh bahgat al-anwär des Abü'r-Rabi' Suleimän b. Däwüd ,jJU*»JL*J(
(sie)). Ebenso heißt es (fol. 121 1) im Namen des Scheichs 'Isä
BjjIjJs^ .j_srJU (jJ-JLjaJL v^ftlX* yirs^f „al-Chadir ist über das
Trockene gesetzt, Iljäs dagegen über das Meer und dessen Inseln".
Doch verrät sich diese Tendenz, den unter den Süfis besonders populären
Chadir gegen Elias auszuspielen, in den Worten: ^LaJI rj* ji^^ y^^
^_i^^:viLaiL Lc.Ltaa*(jiJ'( „er (Chadir) ist bekannter als Elias und kommt
häufiger mit den Frommen zusammen". — Zahlreiche Reflexe des
maritimen Charakters Chadirs finden sich in den Darstellungen der Lebens-
qnellsage, die wir an anderem Orte (s. unten S. 246) zitieren werden.
' Aus diesem Zusammenhang Chadirs mit dem Meere dürfte es
sich auch erklären, daß er es ist, der von einem Engel Aufschluß
über Ebbe und Flut erhält, Muqaddasi ed. de Goeje p. 12 (angeblich
von Ka'b).
16*
244 I- Friedlaender
lautet: „Am Beginn des (zweiten) Jahrhunderts (der Hidschra)
wird keiner von denen, die sich heute auf der Erde befinden,
am Leben sein".^ Dieser als wohlbekannt^ bezeichnete Hadith
ist ohne Zweifel aus Opposition gegen den, insbesondere unter
den Mystikern^, überhandnehmenden Glauben an die Fortdauer
Chadirs entstanden, gegen welchen hervorragende muhamme-
danische Autoritäten auch offen protestierten.^ Da sich jedoch
die Erfinder jenes Hadith unvorsichtigerweise verklausulierten,
indem sie das ewige Leben nur denen absprachen, die sich
auf der Erde befinden, so haben sie ihren Zweck verfehlt.
Denn die Chadirgläubigen durften ihnen mit Recht entgegen-
1 lX»-( L^aJLc^j.^ q.*^ {J^P>^ J^ i5^ ^ '^'^'^ ^^'^ U^l> J^- ^'^56r
diesen kanonischen Hadith und dessen verschiedene Rezensionen vgl.
Ibn Hagar I 892 und 896 (vgl. Damiri s. v. hüt Müsa). In abvsreichender
Form bei Abü'1-Fath fol. 136»: HjUw RjLe lXji^ iJc3\ «>ä-. J*. ^J^, ^
G ^
kXt-f fy^\ l^xJL. j.S> Q,4»« „nach hundert Jahren wird kein einziger auf
der Erde am Leben sein, der sich heute auf ihr befindet."
* Abü'1-Fath ibidem.
' Der Chadirglaube ist besonders unter den Süfis gang und gäbe;
vgl. Ibn Hazm Tlie Heterodoxies of ilie Shiites according to Ibn Hazin
I 46, Nawawi, Tahdib p. 229, 9, Ibn Hagar I 891, 9 und sonst oft.
* Vgl. die bei Ibn Hagar I 895 ff. (im Kapitel „Erwähnung derer,
die da glauben, daß Chadir tot ist") und in Tag al-'arüs III 187 zitierten
Autoritäten. — Es gab auch andere gegen den Chadirglauben ge-
richtete Hadithe , vgl. Ibn Hagar ibidem. So sucht Sa'räni (starb
973/1565), der mit Chadir häufige Zusammenkünfte zu haben behauptete,
in seinem Latä'if al-minan (Kairo 1903) I, p. 86, den Hadith ^^If jJ
_i.|jJ Lx^i yÄs^Jf „wäre Chadir am Leben, so würde er mich (den
Propheten) besuchen", zurückzuweisen. Auch Abü'1-Fath, fol. 136»,
spielt auf solche Hadithe an. Es gab natürlich ebenso zahlreiche Pro-
Chadirhadithe. Im Namen des Ibrahim at-Teimi (starb 92 ii) wird
erzählt, daß er den Propheten im Traume gesellen und von ihm folgenden
Ausspruch vernommen habe: oä.>. ybJ^\ qc. ^-Xjst^ Ui/ „alles, was
von Chadir erzählt wird, ist wahr" (Sibt Ibn al-Qauzi fol. 125«, zitiert
von Abü'l Fath fol. 124iJ unten).
Alezanders Zug nach dem Lebensquell und die Chadhirlegende 245
halten, daß Chadir sich nicht auf der Erde, Bondem auf dem
Meere befinde/*
Wir haben oben gesehen, daß, infolge der allmählichen
Abstoßung der heidnischen Elemente der Lebensquellsage und
der hierdurch bedingten Ausschaltung der Figur des Seedämons,
die ursprüngliche Identität Chadhirs in Vergessenheit geriet
und sich lediglich in einigen verschwommenen Erinnerungen
» Abü'1-Fäth fol. 125» ^^Jf Jt ,^1/ jül Jt v>aO»-*^l OJ^^^J
ijcp^ Jx., ebenso fol. 136« Jws-j Jx. ^\J wL sJLi^f ^^ jOc fjjL&.lJ
.^'^\ ■ — Ich möchte zum Schlüsse auf die interessante Stelle bei Ihn
Faqih, ed. de Goeje, 88flF. (vgl. Jäqüt IV 455 ff.), hinweisen, die mir ein
dunkles Echo der Lebensquellsage zu sein scheint. Sie betrifft den
Bericht des Abu Müea b. Nuseix an den Chalifen 'Abdalmalik über die
sagenhafte Stadt al-Baht in Andalus (vgl. über diese Stadt die letzten
Kapitel in Nizämis Iskendemäma. Sie scheint der Beschreibung des
äthiopisch -christlichen Romans bei Budge Zj/ie and Exploits of Alexander
the Great, London 1896, II 457, zugrunde zu liegen). Nach erfolgreichen
Versuchen, die Stadt zu betreten, „erreichte ich den See (gleichfalls
sagenhaft) in der Nähe des Sonnenunterganges, und wir blickten hin
und siehe, da stand ein Mann. Wir riefen ihm zu: wer bist du? Er
sagte: ich bin ein Mann von den Genien (Ginn). Suleimän, der Sohn
Däwüds, hat meinen Vater in diesem See angebunden, und ich kam,
um zu sehen, wie es ihm gehe. Darauf sagten wir: warum stehst du
denn über dem Wasser? Er sagte: ich hörte eine Stimme und ich
glaubte, daß dies die Stimme eines Mannes war, der an diesen See
kommt [Jäqüt: der jedes Jahr einmal an diesen See kommt, und dies
ist die Zeit seines Kommens], um am Rande desselben einige Tage zu
beten und Gott zu lobpreisen und zu lobsingen. Da sagten wir: wer
mag er wohl sein? Er sagte: ich glaube, es ist al- Chadir" (Ibn
Faqih 91, 3 ff.). Natürlich ist hier vieles durcheinandergewürfelt. Aber
irgendwie hängt diese Erzählung mit dem Alexanderroman zusammen,
da Alexander (Dü'1-Qamein) als der Erbauer der Stadt gilt (Jäqü
rV 355, 12) und die letztere als Ort der Lebensquelle gepriesen wird
(b. das Gedicht bei Jäqüt ibidem^. Ibn Faqih p. 90 erinnert lebhaft
an die Amazonen und deren Geschenk. Vgl. noch Jäqüt I 268 s. v.
246 I- Friedlaender Alexanders Zug n. d. Lebensquell u. d. Chadhirlegende
der Sage erhielt. Die Verbindung der Chadhirlegende mit einer
anderweitigen Koransage, in der der namenlose Held als frommer
und allwissender Gottesmann erscheint, machte es aber auch
notwendig, Chadhir aus seiner untergeordneten Stellung als
Koch (oder Diener) Alexanders zu befreien und ihn in einen
höhern, ihm angemessenem Rang zu befördern. Es war daher
nichts natürlicher, als daß unser Held, der bereits im Koran
als der Führer und Mentor des Moses erscheint, nach dieser
Transformation als der Vezier Alexanders emportauchte, der,
gleich den allmächtigen Yezieren der orientalischen Wirklich-
keit, die Geschäfte des Welteroberers verrichtete und der
eigentliche Urheber seiner Großtaten war. In dieser Funktion
wird die Gestalt „des Veziers al- Chadhir" ein integrierender
Bestandteil des orientalischen Alexanderromans und nimmt
einen immer breitern Raum in demselben ein, während der
gewaltige Mazedonier allmählich zur Schattenfigur herabsinkt.
Es ist eine außerordentlich anziehende Aufgabe, diese Umbildung,
in der die Dichtung über die Wahrheit triumphiert, in den
mannigfaltigen Verzweigungen der orientalischen Alexandersage
des nähern zu verfolgen. Allein der Rahmen dieser Zeitschrift
verbietet ein weiteres Eingehen auf diesen faszinierenden Gegen-
stand. Der Verfasser hofft, die Resultate seiner Studien, die
dieses seltsame Verhältnis zwischen dem gigantischen Heros
der geschichtlichen Wirklichkeit und einem luftigen Phantasie-
gebilde der Sage ins Klare setzen, denen, die sich für die Fort-
entwicklung des Alexanderromans und die Geistesgeschichte
des Morgenlandes interessieren, binnen kurzem in Buchform
vorlegen zu können.
Zur neuplatonischen Theologie
Von Konrat Ziegler in Breslau
Firmicus de errate prof. rel. c. V (p. 12 ed. Ziegler):
Persae et Magi omnes qui Persicae regionis incdunt fines
ignem praeferunt, et omnibus ele^nentis ignem pufant debere
praeponi. Hi itaqiie ignem in duas dividunt potestates, naturam
eins ad iitriiisque sexus transferentes, et viri et feyninae simulacro
ignis substantiarn depidantes. Et midierem quidem triformi
vultu constitiiimt, monstrosis eam serpentibus inligantes.
Es folgen einige Bemerkuncren über Mithras, unterbrochen
durch den Ausfall von 2 Blättern in der einzigen Handschrift,
die uns den Traetat erhalten hat, wonach der Text folgender-
maßen wieder einsetzt:
quae armata clypeo Jorica tecta in arcis summae vertice^
consecratur. Tertia etiam pars est quae in asperis secretisque
silvarum' agrestium ferarum sortitur imperium. Ultima pars
tripertitae istius divisionis est quae libidinum vias, qiiae prava
desideria, quae praeposterae ciipidiiatis monstrat inlecebras. Ideo
unam partem capiii adsignant, id hominis iram qiiodammodo
teuere videatur. Aliam in corde statuunt ut diversarum cogitatio-
nnm varietatem, qiias multiplid intentione concipimus, in modum
silvarum tenere videatur. Tertia pars constituitur in iecore, unde
libido nascittir et voluptas. lUic etiim goiitalium seminum
cöüecia fecunditas. naturalibus stimidis desiderium cupiditatis
exagitat Quid ergo perficit ista divisio, düigenter aspicite, ut
facile commentum ratio veritatis inpugnet. Si dimditur anima et
' Dies die einzusetzende richtige Lesung Alfons Müllers in
seiner ausgezeichneten Schrift Zur Überlieferung der Apologie des Firmicus
Matemiis Tübingen 1908, S. 69.
248 Konrat Ziegler
substantia sua diverso efficaciae gener e separatur, dissdluto
ordine suo f incipit^ esse quod fuerat. Aliud enim mens est' aliud
ira' aliud lihido.
Im folgenden sucht Firmicus zu erweisen, daß durch diese
Dreiteilung das einheitliche Wesen der Seele aufgehoben und
damit, da nur Körperliches teilbar, alles Körperliche aber
sterblich sei, die Unsterblichkeit der Seele geleugnet werde.
Bisher hat man sich vergeblich um das Verständnis dieser
merkwürdigen Stelle bemüht. Was die Commentatoren (Wower,
Muenter, Oehler) geben, ist völlig unzureichend, wenn auch
Oehler wenigstens den rechten Weg schon gesehen hat. Neuer-
dings haben sich Th. Friedrich (In lulii Firmici Materni de
errore profanarum religionum libellum quaestiones, Bonn 1905,
p. 8) und Alfons Müller a. a. 0. S. 70—78 mit der Frage
beschäftigt, beide aber haben sich (ebenso wie ich im Rhein.
Mus. LX 419) von der durch Oehler schon angedeuteten
richtigen Lösung hinweg auf Abwege verirrt. Friedrich sucht,
auf einer falschen Textgestaltung fußend, durch Vergleich von
Macrobius Sat. I 17, 66 der Stelle beizukommen. Dieser Ver-
gleich ist, wie wir sehen werden, nicht unfruchtbar, berührt
aber noch nicht das eigentliche Problem. Müllers durch-
geführte Deutung wird dadurch genügend charakterisiert, daß
sie, in dem unmotivierten Bestreben, nationalrömische Gott-
heiten wiederzufinden, zu der Absurdität gelangt, in der
kriegerischen Gottheit, quae armata clypeo lorica tecta in arcis
stimmae vertice consecratur , die Juno Moneta von der Arx des
Kapitols, und in der göttlichen Vertreterin der lihido Diana,
speziell die dea nemorensis von Aricia zu erkennen, ein Sprung,
der dadurch möglich gemacht wird, daß Müller die "Agts^ig
Xofjia der ^AtpgodCri] Ttccvdrjßog gleichsetzt: haben sie doch beide
mit Frauen und mit geschlechtlichen Dingen zu schaffen. Wenn
' 'incipit <esse quod non erat, desiuit^ esse* ergänzt jetzt sehr
wahrscheinlich S kutsch, vgl. seinen Aufsatz 'Ein neuer Zeuge der alt-
christlichen Liturgie' in diesem Jahrgang des Archivs, unten S. 305.
Zur neuplatonischen Theologie 249
dazu kein Wort der Widerlegung nötig ist, so will ich be-
züglich der ersten Gleichsetzung doch noch darauf hinweisen,
daß die Parallelen, durch die Müller sie zu stützen sucht,
nichts besagen können. Allerdings steht bei Ovid Fast. I 262 und
VI 183 summa arx zur Bezeichnung der römischen Arx, aber
au beiden Stellen kann nach dem Zusammenhang über die
Lokalität kein Zweifel bestehen, und diejenige (von Müller
S. 69 beigebrachte) Parallelstelle, die Firmicus wirklich vor-
geschwebt zu haben scheint, Lucrez VI 749 est ut Athenaeis in
moenibus, arcis in ipso vertice bezieht sich vielmehr auf die
Akropolis von Athen. Nach allem scheint es mir nicht un-
nützlich, wenn ich die kurzen Andeutungen, die ich über den
wahren Sinn der Stelle in der Praefatio meiner Ausgabe
p. XXXI V ff. gegeben habe, hier durch eine eingehendere Inter-
pretation ergänze, zumal dadurch unsere Kenntnis der in den
Kreisen der Xeuplatoniker gepflegten theosophischen Speku-
lationen eine Bereicherung erfährt.
Wir hören, die Perser und Magier hätten als ürelement
das Feuer angesehen und es in zwei göttlichen Gestalten ver-
bildlicht und verehrt, einer männlichen, Mithras, und einer
weiblichen, die sie triformi vidtu, dreigestaltig, und von Schlangen
wimmelnd darstellten. In dem verlorenen Stück muß nach
Besprechung des männlichen Gottes von seinem weiblichen
Seitenstück noch genauer die Rede gewesen sein. Wo der
Text einsetzt, wird von der bekannten pythagoreisch-platonischen
Seelenteilung mens ira lihido = vovs ^vpLos STCi&v^Ca gehandelt,
derartig, daß jeder dieser Teile zu einem göttlichen Wesen in
Beziehung gesetzt wird, das in einer dem zu ihm gehörigen
Seelenteil innerlich entsprechenden Weise charakterisiert er-
seheint.
Die richtige Erkenntnis, wie Sache und Bild zusammen-
gehören, ist nun der Schlüssel zum Verständnis des Folgenden.
Hier ist Müller gescheitert, und eine ausführliche Erörterung
250 Konrat Ziegler
erscheint darum gerade wegen der sonstigen Gediegenheit seiner
Arbeit und ihrer Ergebnisse geboten.
Alles hängt ab von der richtigen Auffassung der Worte:
Tertia etiam pars est quae in asperis secretisque silvarum agre-
stium ferarum sortitur imperiuni. Ultima pars tripertitae istius
divisionis est quae libidinum vias, quae prava desideria, quae
praeposterae cupiditatis monstrat inlecebras. Ich übersetze sie:
'Das zweite DritteiP ist diejenige (Göttin), welche in der
rauhen Öde der Wälder die Herrschaft über die wilden Tiere
übt^. Der letzte Teil dieser Dreiteilung ist diejenige (Gottheit),
welche die Wege der Lüste usw. weist '. Müller nimmt — veranlaßt
wohl durch das später folgende tertia pars constituitur, welches
allerdings diese Bedeutung hat — das tertia etiam pars für den
dritten Teil der Reihe und bezieht also das ganze obige Stück
auf die Vertreterin des dritten Seelenteils, der lihido. Das
nötigt ihn, die vorangehenden Worte quae armata clypeo lorica
tecta in arcis summae vertice consecratur für die Verbildlichung
des zweiten Seelenteils in Anspruch zu nehmen und die Be-
schreibung des personifizierten ersten Teils für gänzlich in der
Lücke ausgefallen zn betrachten. Abgesehen nun davon, daß
durch diese Auffassung die oben bezeichnete Absurdität —
Diana als mater libidinum — zustande kommt, so wird auch
die materielle wie formelle Struktur des sprachlich klar und
kunstvoll gebauten Stücks dadurch zerstört. Wir haben drei
parallele Relativsätze: quae . . . consecratur — quae . . . sortitur
* Daß dies tertia etiam pars heißt, hat Oehler gesehen, welcher
erklärt h. e. altera pars tertia; Bursian konjizierte altera.
* sortitur = Xay%ävBt,: das ist typischer Ausdruck zur Bezeichnung
des Herrsch aftsgehiets einer Gottheit. Hom. hymn. VI 2 Abel (Aq)QoSLxri)
ri 7tä6T]s KvitQOv v.Q-q8£[iva Xiloyxe. XIX 6. XXIX 8. Find Ol. XIV 1
Kacpialav vdatav Xa^oiöai . . . Xägirsg. Nem. XI 1. Eurip. Or. 819.
Trag. fg. adesp. 17 Nauck». Callim. hytmi. II 43. IV 74. etc. Plat. The-
aetet 149 B rr]v "Agrefiiv, ori äXoxos ovßa ttjv Xoxsiccv sUrixe. Phaed.
107D. Phileb. 6lC. Tim. 23 D. Grit. 109 B. Axioch. 371 B. etc. etc.
Zur neaplatoni8chen Theologie 251
Imperium — quae . . . monstrat inlecebras^ . Vor dem zweiten
und dritten stehen die parallelen Vordersätze tertia . . . est —
ultima ... est, und vor dem ersten ist zweifellos (am Ende der
Lücke) ein analoges una pars est ausgefallen. Das gibt ein
woMgefügtes tqCxcoXov aus dCxcoXa von sprachlich wie sachlich
gleichem Wert. Ständen Glied 2 und 3 nicht zueinander in
diesem korrespondierenden Verhältnis, sondern brächten sie
nur zwei Aussagen über dasselbe Subjekt, wie Müller will, so
wäre das ultima pars etc. eine sachlich sinnlose Anapher von
rein dekorativem Charakter. Firmicus ist aber in der Apologie
— wenn man die barocke Gespreiztheit dieser verkünstelten
Sprache, für die er selbst ja nichts kann, als eijimal gegeben
hinnimmt — ein ganz sorgfältiger Stilist; er ist es auch in
den literarischen Teilen der Mathesis, nur das Fachliche darin
ist ohne die geringst« Spur von stilistischer Feile zusammen-
geschrieben.
Weiter folgt in einem ähnlichen, eleganten xqCxcjXov die
Lokalisierung: ira Kopf, mens Herz, lihido Leber. Die Reihen-
folge muß dieselbe sein wie im vorigen Absatz; das ist bei
dem unmittelbaren Anschluß und der Übereinstimmung des
stilistischen Baus unerläßlich. Dort war am Schluß die Ver-
treterin der lihido geschildert, die gerüstete Göttin am Anfang
kann nur der ira entsprechen-: also müssen wir zwischen
beiden die Charakterisierung des göttlichen Wesens suchen, das
der mens seinen Stempel aufgeprägt hat; das tertia etiam pars etc.
muß sich auf diese beziehen. Man wende nicht ein, daß in
dem später kommenden Satz aliud enim mens est' aliud ira'
' Müller rechnet allerdings noch mit der alten, unrichtigen und
unverständlichen Lesung aestimat (libidinumj statt est quae.
* Müller schwankt zwischen mens und ira Daß es nur diese sein
kann, beweist abgesehen von der unverkennbaren Beziehung der Waffen
zur ira die typische Parallelisierung von arx und caput: Cic. Tusc. I 20
Plato . . . rationem m capite sicut in orce posuit. Lactant de opif. dei
VIII 3. (Müller S. 73). Weitere Parallelen bei Bünemann zu letzterer
Stelle.
252 Konrat Ziegler
aliud libido die Folge der Müllersclien Auffassung günstig sei.
Hier haben wir eine nachlässige Rekapitulation, bei der es auf
die Folge der Teile nicht mehr ankommt; wenn libido ira mens,
ja wenn nur zwei daständen, das täte gar nichts zur Sache.
Dort aber lag engste Bezüglichkeit vor, die scharfes Gleichmaß
des Ausdrucks forderte.
Soviel lehrt uns die Logik der Form: wie steht es mit
dem Inhalt, mit der Beziehung der göttlichen Person zur be-
züglichen Sache, zur mens? Diese Beziehung ist nun aller-
dings so unsäglich gequält und naiv zugleich, daß sie kaum
glaubhaft klingt. Aber es steht doch mit nicht zu über-
bietender Deutlichkeit da: die deöTtoiva d-}]Qäv herrscht in
asper is secretisque süvarum, in der rauhen Öde der Wälder,
und das Herz faßt die diversarum cogitationum varietatem, quas
multiplici intentione concipimus, das vielfältige Gewimmel der
Gedanken, in modum silvarum, wie wildes Waldgebüsch ^ Die
vielgestaltige Wirrnis ist das Tertium comparationis. Die silvae
der Artemis und die silvae der Gedanken des Herzens sind zu-
einander in Parallele gesetzt wie die Burghöhe der gewappneten
Göttin und das die ira bergende Haupt.
Für das dritte Paar ist dem Firmicus oder vielmehr seiner
Vorlage diese bizarre Phantasie freilich ausgegangen. Aber es
bedurfte auch keines Spintisierens, um die Verknüpfung der
libido mit ihrer olympischen Vertreterin zu begründen; ist diese
doch nichts anderes als eine Personifikation jenes Begriffes.
Wir dürfen nunmehr mit Sicherheit die Namen einsetzen:
Athena — d-vfiög, Artemis — vovg, Aphrodite (oder ein Aphro-
dite-artiges Wesen) — ijtid'v^iCa heißt die Trias der Seele.
Wie diese ein Ganzes ist, so sind auch jene drei Gottheiten
zu einer Einheit zusammengeschmolzen, deren partes sie ja
geradezu genannt werden. Damit ist die Verbindung mit der
* silvae = Wälder in eigentlicher Bedeutung, nicht = vXtj, wie
Müller meint; nur der Singular silva könnte das heißen, b. Marie Gothein
im Rhein. Mus. LXIII 476.
Zur neuplatonischen Theologie 253
vor der Lücke bezeichneten dreigestaltigen Göttin hergestellt.
Sie ist es, die diese drei göttlichen Wesen in sich faßt, sie
ist es, in der als Ganzheit die philosophisch-theologische Spe-
kulation eine Verbildlichung — um zunächst diesen Ausdruck
zu brauchen — der Seele erblickt hat, deren Teile jenen Teil-
gestalten wesensverwandt sind. Nach seiner Gewohnheit (vgl.
Osiris, Isis, Typhon im Kap. II, Attis Kap. III) hat unser
Apologet zuerst von der Gottheit und ihrem Kult, sodann von
der seitens der Verteidiger der alten Kulte gegebenen physica
ratio, der natürlichen oder philosophischen Deutung der reli-
giösen Gebilde gesprochen.
Hierüber zur Klarheit gelangt, haben wir der Frage näher
zu treten, was das für eine Gottheit ist, der man diese psycho-
logische Deutung gegeben hat, und in welche Gedankenkreise
diese Spekulation gehört.
Der ganze Charakter der vorgetragenen Lehre weist sogleich
auf die Neuplatoniker, gegen die ja so vielfach in dem christ-
lichen Traktat, einmal unter Anführung eines ihrer philo-
sophischen termini (cap. VII p. 23, 2 tbv äfisQLörov xai rbv
^snsQi6^evov vovv), ein andermal auch mit Namensnennung
gegen ein bestimmtes Werk (cap. XIII p. 33, 6 Porphyrios^
negl r^g ix XoyCav cpiXo6o(flas) geeifert wird. Und wirklich
finden sich bei ihnen eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die
es möglich machen, die von Firmicus fragmentarisch überlieferte
* Gegen diesen, den er einst (im Prooemium des VII. Buchs der
Mathesis) noster Porphyrius genannt hatte, scheint sich auch an unserer
Stelle der Nachweis zu richten, daß die Dreiteilung der Seele mit ihrer
Einheit unvereinbar sei. Denn Porphyrios gerade hat sich bemüht,
durch eine sublimere Auffassung dieser 'Teilung' den Begriff ihrer Ein-
heit zu retten (Zeller III 2' S. 653 ff.). Firmicus ist freilich außerstande,
wirklich auf die Frage einzugehen: er begnügt sich damit, die alten,
abgenutzten und unzulänglichen Argumente zu wiederholen. Müller
zitiert Tertull. De anima c. 14; direkte Beziehung hat die Firmicus-
stelle zu Amob. YII 5.
254 Konrat Ziegler
Lehre als ein neues Detail in den Bau der neuplatonischen
Philosopheme einzufügen.
Wir lenken unser Augenmerk zunächst aaf Proklos. Wenn
dieser — der als Quelle natürlich schon aus chronologischen
Gründen ausscheidet — auch in der Ansetzung seiner Drei-
heiten nicht konstant ist, sondern sie nach eigener Willkür
und nach dem Bedarf des Augenblicks variieren läßt, so daß es
im allgemeinen nicht angeht, seine Anschauungen ohne weiteres
in frühere Perioden des Neuplatonismus hinaufzuprojizieren ^,
so bietet er doch zu unserer Stelle so deutliche Parallelen, daß
man in diesem Falle sicher sein darf, nicht seine eigenen
Kombinationen vor sich zu haben, sondern eine mehr oder
"weniger getreue Wiedergabe solcher Vorbilder, wie sie auch
Firmicus benutzt hat.
Im System des Proklos erscheint als zweite Trias der
d-Eol ijye^ovLxol oder acpo^oia^arixoC, der ^ ähnlichmachenden'
Götter, welche Mas Geschäft haben, dem Sinnlichen das Bild
der Idee aufzuprägen' (Zeller, d. Philos. d. Griechen III 2^, 805),
eine Dreiheit von weiblichen Gottheiten, dazu bestimmt, 'die
Ströme des Lebens in seine einzelnen Teile zu leiten', darum
^aoTtoibg und ^aoyövog genannt (Hauptstelle Plat. theol.YI 11;
vgl. besonders p. 373, 40 [ed. Portus] ... 17 vXrj ^aoyövog iv
sttvty nsQLsixs tag nrjyäg tijg ts ccQSTfjg xai rfjg ^v;u^g; über
Prokl. in Grat. s. unten). Die einzelnen Glieder dieser Trias
{[lovddsg) nennt Proklos a. a. 0. "AQTe^ig Koqixi], ÜSQöscpövr],
lA&rjvä KoQixij. Dies seien die Namen, welche die griechischen
Theologen anführten, die ßccQßaQoi hätten statt dessen die
Namen ^Exdrr}, ^v^^, ccqeti] (372, 4fiF.). Diese, hier nur bei-
läufig von Proklos eingefügte Notiz führt uns zu verwandten
Gleichungen hinüber. Mit den ßccQßaQOi hat Proklos die so-
genannten chaldäischen Theologen im Auge, deren theosophische
^ Auf diesen Gesichtspunkt macht mich Herr Prof. Kroll auf-
merksam, der die Güte hatte, diesen Absatz der vorliegenden Abhandlung
noch im Manuskript zu revidieren.
Zur neuplatonischen Theologie 255
Spekulationen seit Porphyrios und lamblichos eine bedeutsame
Rolle in den neuplatonischen Systemen spielten. In der neu-
platonischen Literatur, welche sich mit der Ausdeutung der
sogenannten chaldäischen Orakel befaßt — die selbst, wie
Kroll hervorhebt, nur Keime zu diesen Vorstellungen enthalten,
noch nicht die systematisch entwickelten Dreiheiten — erscheint
Hekate regelmäßig wie in der zitierten Notiz des Proklos als
dxQÖtrjg, führende [loväg der rgiäg ^aoyövog, deren fießöxTjg
die i>vxi] ccQxt>ii] ist, während die ägerri ägif-^V ^^^ nsgäzoGig
die Reihe beschließt. So liegt die nriyr] ^vx^g in der Hekate.
Vgl. die weiteren Belege bei Kroll, de orac. Chaldaicis, Breslau
1894, p. 28^ (Bresl. phUol. Abhdlg. VII 1). Dazu Augustin.
serm. 242, 7.
Es ist klar, daß es diese lebenschaffende Gottheit der
Chaldäer und Neuplatoniker, die 'Quelle der Seele*, ist, von
der Firmicus an unserer Stelle gesprochen hat. Etwas Neues
aber gegenüber den angezogenen Parallelen ist bei Firmicus
die ausgeführte Beziehung der einzelnen Gestalten der gött-
lichen Trias auf die einzelnen Seelenteile. Um diese Korre-
spondenz ermöglichen zu können, ist die Trias offenbar in
dieser Weise zusammengestellt und gedeutet, verschieden von
der chaldäischen Trias, die nur die eine göttliche Person Hekate
gibt, abweichend aber auch von der bei Proklos a. a. 0. genauer
behandelten griechischen Version. Mit dieser Trias deckt sich
die des Firmicus zwar in den beiden Gestalten der Athena
und Artemis — über die dritte, Persephone, s. unten — ,
doch die Deutung ist eine verschiedene. Bei Proklos sind
die beiden noch nicht eigentlich differenziert und ihre
Funktionen nicht scharf voneinander getrennt. Gemäß der
platonischen Etymologie (Cratyl. 406 B) bezeichnet Proklos ein-
mal dL\e"AQrEnig KoQixr} als ccQsrfig idroga (p. 372, 28), während
sonst regelmäßig dieses und ähnliche Prädikate der 'Ad-rjvä
KoQixij gegeben werden: 372, 14 tfjg olrjg ägsriig altCav; 38
vovg 9£tog xai axQccvTog, iv ivl rag oXag ccQ6Täg ijysnovLxag
256 Konrat Ziegler
nsQisxcov; 373, 7 rö fisv toivvv rfjs 6o(pCag TiQÖdtjlov oti r^g
'Jld-rivag k6ti 0'6vd-rjfia tcccI rijg ccQsrfjs tb axQÖratov; 11 tj tcav
ccQST(3v 7Ca6(Sv 7CQC3tovQ'yog altCa etc.'
Besser als die weitschweifigen Ausführungen der 'plato-
nischen Theologie' informieren die knapperen und klareren Dar-
legungen des Proklos über diese Trias im Kommentar zum
Platonischen Kratylos. Ausschließlich und konsequent wird
hier (p. 95, 4 und 105, 22 Pasquali) der Athene die agsT-^ zu-
gewiesen, die ja auch in der chaldäischen XQiäg die dritte Stelle
einnimmt. Da theol, Plat. 372, 42 dafür ävdQsla gesetzt ist
(Athena heißt cpiXo^dXsiiog . . . xal r^g olrjg avdgsCag sq^ogog;
q)iXon6XB^og steht auch 372, 15), so ist damit eine Brücke zu der
kriegerischen Burggöttin des Firmicus, die die ira vertritt, ge-
schlagen. Ferner wird die iiso'ötrjg Persephone, die il^vxi^'f} ccQXVt
{ij^vxi} die chaldäische ^sßorrjg) regelmäßig als erzeugendes Prinzip
den beiden sie umgebenden Göttinnen Artemis und Athena, deren
Jungfräulichkeit betont wird, gegenübergestellt: 95, 2 xatä dh
tijv ^EßrjV dvvccniv xal ysvvrjnxrjv xcov oXov. cf. 95, 9. 106, 5
od'Ev dij xccl rj KÖQr] xatä fihv tijv "Agtsfiiv xiiv hv euvrij
xccl tijv y4d"r]väv nccQd'Svog Xeystai pisvsLv, xara de f^v r^g
ÜEQösqiövrjg yönfiov dvvccfiiv xai TCgoöisvat xccl ßvvdnxeG&ai
rq) XQlxca dr]fiiovQyq) (d. i. Pluton) xal tCxxsiv . . . Dazu stimmen
etliche Stellen der Plat. theol.: 373,19 xb ds ^(paxxsöd^ai tov
(fSQO^svov xal xfig ysvsßscog ilfvxrjg ccv sirj dicccpSQÖvtcog oixslov.
314,21 ilfvxfj yocQ dij XQoG^xei xb yevväv, 34 Sib xal nsQöscpövrj
xaXatxai, öiä xb i3taq)(o^Evov dyg slgrixai tfig yeviöBcog xal
tG)v (pegofievcov. iTCsl xal xolg (ihv axgoig xb dfiiyhg 1]V
TtQOßfjxov xal xb nagd-sviov, xq) öh ^£6g), ngoöSoig x^^^Qovxl xal
3CoXXajtXa0ia6fiolg , r} ^liig olxela xal ^ x&v ysvvrjxäv ijcaifrj.
' Über die enge Verwandtschaft zwischen Athena und Artemis vgl.
Prokl. in remp. I p. 18,18 Kroll: O'^xoüv &nq><o (ihv itatdeg Jiog, fifiqpo)
naq&ivoi, TtgoöKsiöd-a} dh ort kccI ä^cpco (pcoacpOQOi, sl xal i] ^ikv ms slg qprö?
äyovou Tovs u(pavEls loyovg x^g (pvcemg iati (p(ooq>6Qog, i] Sk atg t6 vosqov
&vdntovaa tp&g talg i/jvjjafg ktX.
Zur neuplatonisclien Theologie 257
Hiermit tritt diese nsöötris Persephone dem dritten Seelenteü,
der libido näher, wie Athena der ira. Vergeblich aber suchen wir
nach einer solchen Verbindung für Artemis, die Führerin der
Trias. Von ihr heißt es nur in Crat. 105, 24: xal iiaXiöxa
T&v tQi&v -fj nQCitri icfaQfiö^ec trj rfis ^£ov 7CQo6d<p, xaO'' i]v
kv xfi t,Gioy6v(a räv aqyßiv tgiciSL xriv vjtaQ^tv eXa^sv, slrs
'Exutixi} jCQOöayoQSvoiisvTj d-sörtjs^ ^S ol dsovQyoC (die Chaldäer)
qpatftv, «l'r« "Aqxs^ls^ ag 'Oq^svs- Für sie hat freilich auch
der Gewährsmann des Firmicus nur einen rein äußerlichen und
gewaltsamen Zusammenhang mit der mens zu konstruieren
gewußt.
So fehlt von der Lehre des Proklos zu der des Firmicus
nur noch ein Schritt: die Seele mußte nicht nur aus dem
{leöov yJvxQov Persephone, sondern aus der ganzen Trias ab-
geleitet und hierbei, in Fortbildung der vorhandenen Keime,
die durchgeführte Parallelisierung der altbekannten Seelen-
trichotomie mit der dreifachen Gliederung der rptdg t,G)oy6vos
vollzogen werden. Irgendein Neuplatoniker hat diese Kom-
bination gemacht, und Firmicus ist ihm gefolgt. Seinen
Namen weiß ich nicht zu nennen; man mag am ehesten an
lamblichos^ tceqI t^x^S denken; Porphyrios scheint es diesmal
nicht zu sein nach Macrob. Sat. I 17, 70.
Ein Moment spielt bei dieser Kombination noch mit, das,
wie es scheint, auf den Geist unseres Neuerers befruchtend ge-
wirkt hat: die einzelnen Göttinnen haben nicht nur Bezug auf
die Seelenteile, sondern auch auf die körperlichen Organe, in
denen diese wohnen. Nur auf diesem Wege konnten Artemis
und mens glücklich zusammengebracht werden, und für die
Gleichung Athene — ira ist die Parallele arx — Caput min-
destens von gleichem Belang wie die innere Verwandtschaft.
* Auf ihn führt Niggetiet De Comelio Labeone, Münster 1908, auch
die Orakeldeutungen bei Arnobius zurück (nach Mitteilung Krolls; mir
selbst war die Dissertation noch nicht zugänglich; vgl. die Besprechung
von Tolkiehn in der Wchschr f. kl. Phil. 1909, 432).
Archiv f. ReligioDSwiBsenschaft Xm 17
258 Konrat Ziegler
Was bedeutet und woher schreibt sich diese Art zu kon-
struieren? — Wir finden Analoges über die verglichene 'chal-
däische' Trias 'Exdti] ipv%ri aQStri (oben S. 254) gesagt; ihre
^ovädsg werden aus einzelnen Körperteilen der Führerin der
Trias Hekate abgeleitet. Ein Orakel (Psell. 1136 a. Kroll p. 28)
lautet:
AaLfjg iv Xayößiv 'Exdtrjg aQSXTig nsle mqyri
"Evdov oXri ^C^vovßa tb xccq&bvov ov TCQoulöa.
Dazu bemerkt Psellos: ocal sv ^hv rolg ds^iolg avtf}s
IIBQB61 tid-aaöL xriv Tcrjyiiv r&v ijjvx&v.
Auf eine andere Variation der rgiäg ^a)oy6vog, in der die
(pvöig als ^oväg gestanden haben muß (cf. p. 256 Anm. und unten
im Macrobiusbericht S. 268 die natura), bezieht sich der Vers
(Prokl. in Parm. 821, 5. Kroll p. 29):
VGJTOig S* a^Kpl d'säg (pv6ig ccTtXstog ^(OQTjtccL.
Weiteres derart bei Kroll a. a. 0.; vgl. auch Procl. in Crat. 92, 2,
Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand, aber es ist doch gewisser-
maßen eine ümkehrung zu konstatieren: hier werden die Kräfte
und Erscheinungen der sinnlichen Welt {tj^vxr} ägsrij (pv6ig etc.^
hergeleitet aus den Körperteilen einer kaum noch als Per-
sönlichkeit empfundenen Göttin; bei Firmicus sind die einzelnen,
noch durchaus individuell gefärbten göttlichen Gestalten die
Xfjyai der in gewissen menschlichen Körperteilen stationierten
Seelenteile. Verschiedene Gottheiten als Schöpfer verschiedene!
(physischer oder psychischer) Teile oder Eigenschaften des
Menschen: damit rühren wir an einen Vorstellungskreis von
weitester Verbreitung, in den als wichtigstes Material die zahl-
reichen Variationen des Märchenmotivs von guten oder bösen
Dämonen gehören, die dem neugeborenen Kinde ihre guten
oder schlimmen Gaben mit auf den Weg geben. In der philo-
sophischen Umbildung des Motivs treten Elemente an die Stelle
der Gottheiten, und das bekannte Dogma von der Erschaffung
des Menschen, des Mikrokosmos, aus den gleichen vier TeileUj
die den großen Kosmos bilden, führt gerade auch unser Fir-
Zur neuplatonischen Theologie 259
micus, der Heide wie der Christ, ständig im Munde (s. meinen
Kommentar zum Anfang Ton de errore). Ein Gebiet, wo dieses
allgemein -ethnische Motiv besonders üppig gewuchert hat, ist
kürzlich wieder behandelt worden von Max Foerster 'Adams
Erschaffung und Namengebung' in dieser Zeitschrift XI 477.
Speziell auf unsere Frage führt uns zurück der Nachtrag, den
Wuensch zu dem genannten Aufsatz ebenda XII 160 gibt. Er
berichtet über eine Erzählung, die sich in der Excerpten-
sammlung des Maximos Planudes ^ findet, worin neben Hephaistos
als Menschenschöpfer sieben andere Gottheiten mitwirken und
einzelne Teile seines Körpers bilden. Unter ihnen ist Aphrodite,
welche ihm die Leber gibt: unde libido nascitur et voluptas,
fahren wir mit Firmicus fort. Diese Erzählung ist, wie Wuensch
bemerkt, eine nach platonischem Muster gemachte Fortbildung
des Hesiodischen Pandoramythos (Op. 60 ff.). Dort sind neben
dem Bildner, dem Feuergott Hephaistos, drei andere Gott-
heiten beteiligt, Athene, Aphrodite, Hermes. Daß Aphrodite
auch hier das Amt hat,
xai xuQiv äiKpLxiai xstpakf^ . . .
xal :i6d^ov ocQyaXsov xat yvio/.ÖQOvs pisXsdcövag,
liegt notwendig in ihrem Wesen und begründet keinen Zu-
sammenhang, um so mehr als Athenes und Hermes' Funktionen
nichts mit denen der anderen Monaden des Firmicus zu tun
haben. Aber daß Aphrodite und Athene hier wie da zu
gleichem Wirken vereinigt sind, und daß eine göttliche Dreiheit
zum Behuf des Schaffens dem Gott beigesellt ist, dessen
Wesen das Feuer ist, wie bei Firmicus die tgiäg taoyövog
mit Mithras verbunden erscheint, das ist vielleicht nicht mehr
Zufall, und im ganzen haben wir hier sicherlich eine der
Wurzeln bloßgelegt, aus der, wenn auch durch viele Zwischen-
glieder, die Version des Firmicus hervorgewachsen ist.
' Gedruckt von E. Piccolomini in der Riv. di filol. 11 (1874), p. 152,
wie ich, einem Hinweis von R. "Wuensch folgend, nach S. Kugeas, Ana--
lecta Planudea, Byz. Ztschr. XVIII (1909) S. 126, feststellen konnte.
260 Konrat Ziegler
Ein Sondergebiet, auf dem diese Kombinationen vorzüglich
grassiert haben, anzuschneiden erfordert nicht so sehr die Sache,
als der Schriftsteller, der sie berichtet. Wir können sagen,
wie er dazu kam, jene uns sonst nirgends belegten Detailzüge
neuplatonischer Psychologie in sein Werk aufzunehmen: aus
seiner astrologischen Praxis war Firmicus gerade die Vorstellung
einer Sonderbeziehung zwischen einzelnen Körperteilen des
Menschen und einzelnen Göttern geläufig. Bouche-Leclercq
hat in seinem großen Werk L'astrologie grecque (Paris 1899)
ein interessantes und auch amüsantes Kapitel diesem Thema
gewidmet (X. Proprietes et patronages terrestres des astres p. 311).
Es gibt kaum einen Kreis irdischer Erscheinungen, dessen
einzelne Glieder die Astrologie nicht unter die himmlischen
Lenker aufgeteilt und dem Patronat der einzelnen unterstellt
hätte. Minerale, Metalle, Edelsteine, Farben, Pflanzen Und
Tiere werden wie das All und die Zeit teils nach mechanischen,
mehrenteils aber nach raffiniert erklügelten Gesichtspunkten
klassifiziert; so bildet natürlich auch der Mensch, die Welt im
kleinen, ein Hauptstück in diesem Kapitel, und zwar sowohl
in der Zodiakalastrologie als in der planetarischen. Beide
Disziplinen haben den Menschen der Zahl ihrer Götter gemäß
zerlegt, die einen in zwölf, die andern in sieben Teile. Die
ersten verfahren dabei rein äußerlich, indem sie "^so zu sagen
den Menschen über den aufgerollten Tierkreis ausbreiten'
(B. L. 319), so daß der Kopf in den Widder, die Füße in die
Fische zu liegen kommen. Qualitativ nicht komplizierter wird
die mit Hilfe der 'Dekane' (der Herren von je 10 Graden)
zuwege gebrachte Teilung in 36 Teile gewesen sein. Wahre
Orgien aber hat die ausschweifende Phantasie gefeiert in der
Erfindung immer neuer, feinster Beziehungen bei der Auf-
teilung des äußeren und inneren Menschen unter die sieben
Planeten. Hier finden sich in der Art der Vergleichung von
Gott und Körper- oder Seelenteil reichliche Analogien zu Fir-
micus. Erwähnt sei aus diesem unendlichen Wust der uns
Zur neuplatonisclien Theologie 261
besonders interessierende Proklos, der (in Tim. p. 348a = III
355, II ff. Diehl) gemäß seiner spirituellen Richtung das
Körperliche ignoriert und die mit leichter Mühe gesiebenteilte
Seele {^eoQrjXLXöv, tcoXltixÖv, ^vfiosidsg, alöd-rjTixov , km-
■O'u/iTjTixdv, qicovrjTLxöv, (pv6Lx6v) den Planeten unterwirft. Daß
das iyCLd^v^Tjtixbv der Aphrodite zufällt, welche bei Demo-
philos die Galle (die in der Leber sitzt), im Dialog Hermippos
die Geschlechtsteile und Umgebung regiert, versteht sich; auch
Ares, die männliche Athena, als Repräsentant des ^vfioeiöhg
war selbstverständlich; wie er denn bei anderen zu den er-
regenden Organen des Körpers in Beziehung gesetzt wurde.
Firmicus hat in der Mathesis nur vom Standpunkt der
Zodiakalastrologie über die Verteilung des Körpers unter die
Zeichen des Tierkreises gehandelt (II 24 = 72, 24 Kr. Sk.), gewiß
aber ist ihm auch die melothesie planetaire nicht unbekannt
gewesen. In Erinnerung an diese Studien, die er mit unzu-
länglichem Können, aber mit heißem Eifer betrieben hatte,
brachte er mit noch wachem Interesse in der Apologie jene
obskure SpeziaLnotiz über die göttlichen Urbilder, Quellen und
Beherrscher der einzelnen Seelenteile und ihrer Sitze aus einem
Autor, der die neuplatonische Lehre von der rgiäg t,cioy6vo<s
mit dem zuletzt besprochenen körperlicheren Kombinations-
prinzip kontaminiert hatte. Freilich tat er es nur, um — nicht
das einzigemal in der Apologie — zu verhöhnen, was er einst
verehrt hatte.
Aber auch einen direkten Gewinn wirft diese Betrachtung
für unsere Stelle noch ab. Die Darstellung der Seelendrei-
teilung im Firmicus weicht nämlich in zwei Beziehungen von
der üblichen Lehre, wie sie seit Piaton ständig, noch von
Plotin und lamblichos vorgetragen wird, ab. In dieser herrscht
erstens stets die Anordnung vovg, -^-v/iög, hm^vnCa, während
Firmicus die beiden ersten Glieder vertauscht, und zweitens
ist auch bezüglich der Sitze dieser Seelenteile dieselbe Um-
kehrung vorgenommen: Piaton ordnet vovg — Kopf, und &v^bs —
262 Konrat Ziegler
Herz, Firmicus dagegen ira — Kopf, und tnens — Herz. Die
Parallelstellen, durch die Müller (der übrigens S. 73 dieses
Verhältnis genauer aufklärt) zeigt, daß auch anderwärts eine
von Piaton abweichende Stationierung vorkommt, können nichts
beweisen, da an allen diesen Stellen, wie Müller selbst bemerkt,
nicht von der platonischen Trichotomie, sondern von anderen
psychologischen Theorien die Rede ist. Sein erklärender Hin-
weis 'auf die Wirkungen, die die ira am Kopf hervorbringt',
genügt auch nicht zur Erklärung. Diese ergibt sich aus der
erkannten Identität der die Seele repräsentierenden Götter-
dreiheit mit der tQuäg ^cjoyövog Artemis- Köre -Athena. Der
Mann, der die Gleichsetzung vollzog, konnte die avÖQsCas
eg)OQog Athena nicht wohl anders als mit dem d-v^iög iden-
tifizieren. Damit aber war ihm sogleich auch die Versetzung
des d'v^bg in den Kopf vorgezeichnet, einmal durch die Be-
ziehung Caput — arx, denn Athena ist ja die Burggöttin xar'
s^ox^jv, und zweitens wohl noch mehr durch den nicht aus-
gesprochenen^, aber sehr nahe liegenden^, sicher wirksam ge-
wesenen Gedanken an die Geburt Athenas aus dem Haupte des
Zeus. Die Reihe Athena, Kriegs- und Burggöttin — Mut —
Haupt gefiel dem glücklichen Finder zu wohl, als daß er um
ihretwillen nicht leichten Herzens von der hergebrachten
Doktrin hätte abweichen sollen. Es könnte nun scheinen, daß
er dieser wenigstens in der Ordnung der körperlichen Zentren
treugeblieben sei, und um die Reihe capiit — cor — iecur
retten zu können, die ira und die mens umgestellt habe. Viel
wahrscheinlicher aber ist es mir, daß nicht die Ehrfurcht vor
der Überlieferung ihn dazu bestimmt hat, sondern der oben
bei dem astrologischen Abstecher erkannte Grundsatz, beim
Verteilen der Organe des Menschen an die entsprechenden
Götter von oben, beim Kopfe anzufangen. In der S. 259 er-
' Er könnte übrigens in der Lücke gestanden haben.
' Muller denkt (S. 77) auch sogleich daran.
Zur neaplatonischen Theologie 263
wähnten Erzählung bei Maximos Planudes ist er auch be-
folgt: Zeus als Bildner des Kopfes eröffnet den Reigen, es
folgen Hermes — Zunge, Athene — Schultern und Hände,
Poseidon — Brust, Ares — Herz, Aphrodite — Leber ^, und
nur der siebente, Eros, der die Lippen schafft, fällt aus der
Rolle. Eben dieses Prinzip hatte schon auch den Finder der
üblichen platonischen Trichotomie geleitet, und er hatte den
äußerlichen Abstieg vom Kopf zur Leber mit dem qualitativen
Niedersteigen vom Denken zum Begehren zusammengehen
lassen. Nicht konservativer Anschluß, sondern Zurückgreifen
auf denselben naiven Grundgedanken ist es also wohl, daß in
diesem Punkte der Gewährsmann des Firmicus mit der alten
Lehre übereinstimmt.
Wir sind über Wesen und Herkunft der metaphysischen
Psychologie des Firmicus und ihrer transzendentalen Quelle zu
genügender Klarheit gelangt. Die letzte Aufgabe, die unser
noch harrt, ist eine nähere Betrachtung des Kultes, dessen
philosophische Deutung hier vorliegt.
Zunächst ist der Beweis zu geben, daß die psychologisch
gedeutete Götterdreiheit wirklich — wie S. 252 schon ge-
schlossen wurde — identisch ist mit der im Anfang des Kapitels
genannten dreigestaltigen Gottheit, die die weibliche Seite des
Feuers repräsentiert; denn von vornherein wäre die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, daß in dem verlorenen Stück Firmicus
von ihr auf eine andere dea triformis übergegangen sein könnte,
auf die sich dann das Folgende bezöge. Nun hat er aber im
Einleitungskapitel eine Widerlegung der heidnischen Elementen-
* Zeus — Kopf — vovs, Ares — Herz — 9vu6g, Aphrodite —
Leber — i:zi9vni<x scheinen nicht ohne Rücksicht auf die übliche plato-
nische Verteilung so verbunden. Sind doch auch Hermes — Zunge,
Eros — Lippen, Athene (Meisterin der Handarbeit) — Schultern und
Hände mit deutlicher Absicht in Beziehung gesetzt. Nur was Poseidon
mit der Brust zu tun hat, sehe ich nicht. Wünsch verweist auf ComutuB
c. 22: xalftrai d'avQvörsQvos 6 Uoesidäv.
264 Konrat Ziegler
kulte angekündigt, liat in Kap. II — IV Wasser, Erde, Luft
erledigt und im Kap. V das einzige noch übrige Element, das
Feuer, vorgenommen. Im Beginn des Kap. VI wird der Ab-
schnitt über die Elemente beschlossen und zu einem neuen
Teile übergegangen: Sic sunt sacratissimi imperatores elementa
a perditis hominihus consecrata. Sed adhuc siipersunt aliae
superstitiones quarum secreta pandenda sunt. So muß also der
von der Seelenteilung handelnde Schluß des Kap. V noch auf
das letzte besprochene Element, das Feuer, bezüglich und die
Trias der Seele mit der besagten Kultgenossin des Mithras
identisch sein.
Nun wird von dem berufensten Kenner^ die Möglichkeit,
daß Mithras ein weibliches Seitenstück habe, bestritten und für
einen Irrtum des Firmicus erklärt, obwohl derselbe doch sonst, wie
gerade die jüngsten Forschungen gezeigt haben, eine Autorität
ersten Ranges in diesen Dingen ist und seine intime Kenntnis auch
des Mithraskultes sogleich durch Anführung eines liturgischen
Verses aus diesem Kult verrät, der uns von keinem andern
Zeugen überliefert ist. Untersuchen wir, ob und inwieweit der
erkannte Zusammenhang mit dem Folgenden und dessen er-
reichtes Verständnis diese Beurteilung zu modifizieren ge-
eignet ist.
Die angebliche Genossin des Mithras vereinigt in sich
Artemis, Athene und eine Gottheit der animalischen Frucht-
barkeit, deren Name — Persephone oder Aphrodite — nichts
zur Sache tut. Für ein solches Wesen finden wir eine An-
knüpfung im persischen Anaitiskult.* Gewöhnlich wird diese
Gottheit von den Griechen ihrer Artemis gleichgesetzt. Aber
Berosos fg. 16 (bei Clem. Alex. Protr. V 65, 4 = p. 50, 2 ff.
' Cumont Textes et monuments figure's relatifs aux mysteres de
Mithra, Bd I S. 29. II S. 14 Anm.
* Ed. Meyer in Roschers Lexikon I 830. Cumont hei Pauly-Wissotca
I 2030. — Auch Kroll a a. 0. p. 68 u. 69 setzt die ' chaldäische' Hekate
schon mit Anaitis in Verbindung.
Zur neuplatonischen Theologie 265
Stählin) und Agathias II 24 (= bist. Gr. min. ed. Dindorf 11
221, 9) bezeichnen ^AvKlxig als 'A(fQo8irri, Ton einer 'AcpgodCrrj
Tdvuig^ spricht lamblichos im ÖQa^arLxbv (bei Pbot. bibl. cod.
94 S.75b 15), Hesych gibt die Glosse Tlsgöi^ia- ii 'AtpQoöCxri^ und
hinzu tritt sachlich Herod. I 131 xaXiovöi 81 'Aöövqiol ti^v
'A(pQo8Ctriv MvXixxa, Agdßioi 8h ^A/.ü.c'ix., Tligöui 8s MCxgav,
gleichgültig ob man den Namen MCrgav beläßt oder mit
Ed. Meyer a. a. 0. eine Verwechslung mit *AvaCxa annimmt.*
Endlich der Athena gleichgestellt wird Anaitis von Plutarch
Artax. III. Artaxerxes begibt sich nach Pasargadai, um dort
die königlichen Weihen zu empfangen: löxi 8e d-eäg jioXefiLxrig
isQÖv, TJy 'A&r^väv <CaVy> xt,g slxaGsuv.^ Später heißt es ebenda
c. XXVII (V 132, 7 Sintenis) wiederum: t^s yäg ^AQXEfii8og
xfjg hv ^Exßaxdvoig, t^v ^Avatxiv xakovßLv, und wir entnehmen
dieser Stelle, daß die Priesterin dieser Anaitis von Ekbatana
zur Keuschheit verpflichtet war. Hiernach dürften sich die ver-
schiedenen griechischen Umbenennungen der Anaitis von den
Verschiedenheiten der Kulte an den einzelnen Kultorten her-
schreiben, Konfundierung dieser verschiedenen Eigentümlich-
keiten, wie sie beispielsweise bei Gründung eines neuen Kultes
nahe gelegt wurde, konnte alsdann in hellenistischer oder noch
späterer Zeit leicht eine Anaitis schaffen, die auch in ihrer
äußeren Bildung verriet, daß sie jene drei göttlichen Wesen
in sich vereinigte. Dazu kam, daß für diejenige griechische
* ravatSos steht auch an der eben genannten Stelle des Clemens
in der (einzigen) Handschrift; 'Avatridog ist Emendation von Bochart.
* Die Aphrodite -artige Auffassung und Bildung der Anaitis ist auf
babylonischen Einfluß (Angleichung an Astarte) zurückzuführen. Ed. Meyer
a. a. 0. 332.
' Ed. Meyer a. a. 0. 333 bezweifelt, daß diese Göttin von Pasargadai
Anähita sei. Aber nach G. Hoffmann (Auszüge aus syrischen Erzählungen
von persischen Märtyrern = Ahhandlgn für d. Kunde des Morgenlandes
VII 3 S. 136) ist diese Göttin es gerade, 'welche nach dem Äbänjast
(passim) die Könige Eräns um die Verleihung des Kavaem h'^arenö an-
flehen: und, was davon unzertrennlich ist, sie ist Sieges- und Kampfes-
göttin'.
266 Konrat Ziegler
Göttin, der sie am häufigsten gleichgesetzt wurde, Artemis,
durch ihre nahe Verwandtschaft mit Hekate eine derartige Auf-
fassung und Bildung nahe gelegt wurde. Eine Gottheit, ge-
wöhnlich als Artemis angesehen und benannt, aber auch als
Aphrodite und Athena auftretend: diese Bedingungen forderten
fast ihre Hekate -artige Ausgestaltung.
Bilder der Anaitis gab es seit Artaxerxes IL (404 — 362) im
ganzen persischen Reiche. Dieser selbe Artaxerxes hat aber
für ihren Kult weiter auch die Bedeutung, daß sie von ihm
zur offiziellen Gottheit erhoben wird^ und zwar gemeinsam mit
Mithra. Er ist der erste, welcher in den Inschriften der
Achaemeniden ^ neben Ahuramazda den Mithra und die Anahita
anruft' (Ed. Meyer a. a. 0. 331). Daß beide zugleich dieser
Ehre teilhaftig wurden, kann entweder beweisen, daß sie schon
in einem gewissen näheren Verhältnis zueinander standen, oder
aber es konnte zum Anlaß dienen, daß ein solches sich bildete
und schließlich da oder dort zur Kultgemeinschaft führte. Diese
konnte dann leicht eine Assimilation des Wesens der Anahita
an ihren Kultgenossen bewirken, zumal ihr eigentliches Wesen
als Wassergöttin, wie die griechischen Benennungen erweisen,
längst zu einem für die Praxis des Kultes bedeutungslosen,
bloß theologischen Lehrsatz verblaßt war.
Wenn wir nach dieser Betrachtung wieder den Bericht
des Firmicus ins Auge fassen, so fügt sich diese Über-
lieferung so wohl in die erkannten sonstigen Verhältnisse,
daß es bedenklich scheint, sie länger für einen Irrtum des
Firmicus zu erklären. Wenn wir anderwärts keinen Bericht
über eine Kultgemeinschaft des Mithras mit einer weiblichen
* Vielleicht hängt damit zusammen, was Plut. Artax.XXII (V 128, 8;,
natürlich aus Ktesias, erzählt, daß Artaxerxes, als seine geliebte Tochter
und Gattin Atossa an einem Ausschlag erkrankt war, um ihretwillen
der Hera einen eifrigeren Dienst als allen anderen Göttern dargebracht
und ihren Tempel mit den reichsten Weihgeschenken habe schmücken
lassen.
Zur neuplatoniachen Theologie 267
Dublette haben, so genügt das noch nicht, um den erhaltenen
unzweideutigen Beleg einer solchen zu diskreditieren, zumal in
einer im Gründen neuer Kulte durch Vereinigung Torher ge-
trennter so außerordentlich fruchtbaren Zeit.
Aber auch unser positives Beweismaterial ist noch nicht
erschöpft. Ein archäologisches Argument von erheblicher Be-
deutung für die Authentizität des Firmicusberichts hat v, Römer ^
beigebracht. An einer kapitolinischen Bronzestatuette (ab-
gebildet bei Röscher in Röscher s Lexikon I 1905) der Hekate ist
eine der drei Gestalten mit phrygischer Mütze und Sonnenstrahlen
versehen, weshalb schon Wolters (ohne auf unsere Firmicusstelle
Bezug zu nehmen) das Vorhandensein einer Beziehung zu Mithras
konstatierte. Beachtung verdient auch im Hinblick auf die
Deutung der Mithrasgenossin als xQiäg ^aoyövog Wolters' spon-
tane Bemerkung: 'Hekate scheint als eine das ganze All durch-
dringende Göttin aufgefaßt zu sein.' Eine mit den gleichen
Attributen (phrygischer Mütze und großen Strahlen) versehene
Hekatebüste besitzt das British Museum (Abbildung in der
Archäol. Ztg IV 222).*
Endlich lenken wir unsern Blick nunmehr auf die Macro-
biusstelle, die Friedrich beigebracht, aber nicht in unserm
Sinne verwertet hat (Sat. I 17, 66 [nicht 16] = 101, 21
Eyssenhardt). HieropoUtani praeterea, qui sunt gentis Ässyri-
oruni, omnes solis effectus atque virtutes ad unius simtdacri har-
• 'über die androgynische Idee des Lebens' im Jahrbuch für sexuelle
Zicischenstufen Y li p. 725 — 727 (Leipzig 1903).
* V. Römers zweites Argument, daß die Beinamen ÜBgerig und
Usgesia (auch Usgeia und UeeöTji's, s. Bruchmann Epitheta deorum S. 98)
zu Mithras und Hekate eine Beziehung verrieten, ist abzulehnen wegen
der verschiedenen Herkunft des Beinamens für jeden: für Mithras ist er
offenbar eine nationale Bezeichnung 'der Perser', wie Anaitis- Aphrodite
ÜBQei&sa heißt (oben S. 265), Hekate hingegen heißt so als Tochter des
Titanen nsQar,g (Hesiod theog. 409 ff.). Der so tatsächlich vorhandene
Parallelismus der Beinamen mag freilich als beförderndes Moment für
ihre Vereinigung im Kult mitgewirkt haben, eine solche ist aber nicht
aus ihm zu erschließen.
268 Konrat Ziegler
hati speciem redigunt, eumque ÄpolUnem appellant . . . (102, 2)
ante pedes imago feminea est, cuius dextra laevaqiie sunt Signa
feminarum, ea cingit flexuoso volumine draco. Gedeutet werden
letztere zwar als terra, hyle, natura^, die von der Sonne be-
leuchtet werden, aber nichtsdestoweniger springen die Ver-
gleichspunkte in die Augen: dem männlichen Sonnengott
ist, wenn auch in untergeordneter Stellung, eine Dreiheit
weiblicher Gottheiten beigeordnet mit dem Attribut der
Schlange, d. h. kein wesentliches Merkmal des bei Firmicus
angezweifelten Kultes fehlt.
Die letzte Stütze für die Autorität des Firmicusberichts
gibt die chaldäisch- neuplatonische Theologie. Die rgiäg
t^gyoyövos Hekate, welche wir als identisch mit der drei-
gestaltigen Kultgenossin des Mithras erwiesen haben, steht in
ihr in enger Verbindung mit männlichen göttlichen Prinzipien,
und zwar als ^söörrjg zwischen den TCr^yaioi natsQes (vgl. Kroll
a. a. 0. p. 16. 27), welche als dualistische Fassung des :jtatQixbg
vovSj wesensverwandt untereinander, das fortzeugende weibliche
Prinzip in derselben Weise einschließen, wie dieses wieder aus
zwei, die ysvvTjtizrj dvva^ig Persephone als lisöörtjs umfassen-
den Wesen komponiert ist, welche miteinander korrespondieren
(z. B. Procl. in Grat. 105, 24 ff.: rcov tqkSv tj n:Q(xirrj . . . slts
'Exatixrj TtQOöayaQevo^svrj d'söri^s • • • ^'-^^ "AQte^Lg ... slg dh
xiiv tfig aQStfig ßXsnu Ttrjyijv (d. i. Athena) /mI xriv naQ^svCav
avxfig a6%dt,sxai). Bedeutungsvoll ist auch die Stelle Psell.
1152c: x(5v 8s ävd-QcuTtCvcav ipvxcdv aixia dixxä nriyala xlQ^svxai
(seil, ol laXdaloC)' x6v xe naxQixbv vovv xccl xijv JctjyaCav tjjvxtjv.
xal nQOBQ%Bxai fihv ccvxotg ^ ^s^mi] ccnh xijg yirjyaCccg xaxä
^ Daß vXt) an die silvae der Artemis, natura, wenn man es im
sexuellen Sinne nehmen könnte, an Aphrodite erinnern würde, ist ein
Zufall, in dem man sich hüten möge, einen Sinn zu suchen. Denn die
natura ist vielmehr mit der cpvaig (S. 256 Anm. u. S. 258) zu vergleichen,
und die silvae haben nichts mit dem philosophischen Begriff der CItj zu
tun (S. 262 Anm.).
Zur neaplatonischen Theologie 269
ßovXriOiv xov TcatQog. Das Wesen des TCUTQixbg vovg wie das
der Hekate ist feurig. So ergibt sich auch von hier aus das
Postulat: der Kult, an den diese Lehre geknüpft werden konnte,
mußte das Feuer in männlicher und weiblicher Auffassung kon-
sekriert haben, d. h. er mußte wesentlich die Elemente in sich
schließen, welche Firmicus an der fraglichen Stelle dem Mithras-
kult gibt.
Die Torstehenden Darlegungen — dies sei zum Schluß
bemerkt — stehen zu dem Satz Cumonts, daß der reine
Mithraskult nichts mit einem weiblichen Parallelwesen zu
schaffen habe, in seinem Kern nicht im Gegensatz. Derselbe
behält seine wesentliche Richtigkeit. Nachgewiesen aber ist,
daß eine Vermischung dieses ursprünglich rein männlichen
Kults mit einem weiblichen in Gegenden, die dafür geeignete
Bedingungen boten, tatsächlich stattgefunden hat, also nicht
als Irrtum des Firmicus aus der Reihe der religionswissen-
schaftlichen Tatsachen zu streichen ist.
Mythologische Studieii aus der neuesten Zeit
Von Richard M. Meyer in Berlin
Die Zeit ist vorbei, in der man die Mythologie ausschließ-
lich längst überwundenen Epochen der Menschheit zuwies;
und wenn noch Auguste Comte ein besonderes mythologisches
Zeitalter annahm, erscheint uns darin heute der Positivist selber
mythologisch. In der Tat: jene Zeit, die ganz anders ge-
dacht und zumal ganz anders gesehen und gehört haben soll
als die unsere — sie ist selbst ein großes Mythologem. Wohl
hat die neuere Zeit und zumal die neueste andere Kontrollen
der Wahrnehmung, andere Kategorien der Verknüpfung, andere
Schemata der Einteilung geschaffen, als die Yorwelt sie kannte;
die ursprüngliche Art aber, die Sinne und den ordnenden Ver-
stand zu gebrauchen, hat niemals aufgehört, eben weil sie die
ursprüngliche ist. Sind positive Definitionen des Mythologischen
schwierig, so darf man statt ihrer vielleicht eine negative
wagen: der mythologischen Anschauungsweise und
Denkart gehören alle Gebilde an, die nicht durch ver-
standesmäßige Kontrollapparate hindurchgegangen
sind. Sie ist nicht etwas Sekundäres, was zu der gewöhnlichen
Anschauung hinzutritt, sondern im Gegenteil das Primäre, aus
dem diese herausgearbeitet werden muß. Wie noch heute jeder
Abkömmling einer hochkultivierten Rasse, der alle moralischen
und sozialen Hemmungen von sich wirft, ein „Wilder" werden
kann, ja wie Mängel der Erziehung den Unterschied von Natur-
und Kulturmenschen fast völlig zu verwischen imstande sind,
so produziert noch heute der Mensch Mythen, wo er sich gehn
läßt, sei es unter welchen Umständen immer.
In drei Typen vor allem tritt uns der mythenbildende
Mensch der Gegenwart entgegen. Das Kind kennt jene Kon-
Mythologische Stadien aus der neuesten Zeit 271
trollmaßregeln noch nicht, oder doch nicht recht; der Fanatiker
wirft sie von sich; der Phantast verliert sie. In der Kinder-
stube, bei den religiösen Sektierern und bei den politischen,
sozialen, wissenschaftlichen Konsequenzmachem finden wir die
sichersten und überraschendsten Analogien zu den Mythen-
schöpfungen ganzer Völker.
Freilich ist dennoch eine Verschiedenheit nicht zu über-
sehen. Die ursprünglichen Mythen sind zwar auch nicht so alt
wie die Menschheit, sind auch einmal entstanden und haben
sich gegenseitig beeinflußt; aber eine relative Ursprünglichkeit
wird man ihnen zugestehen müssen. Dem gegenüber wird
eine wenn auch noch so geringe Beeinflussung moderner durch
ältere Mythenbildungen vielleicht nicht einmal bei dem Kind,
gewiß aber nicht bei dem Sektierer oder gar bei dem Gelehrten
angezweifelt werden können. Natürlich müssen wir jedes-
mal prüfen, wie weit eine solche Beeinflussung nachzuweisen
oder doch zu vermuten ist; im übrigen jedoch ist dies für uns
eine Nebenfrage, da sekundäre Mythenbildung eben auch Mythen-
bildung ist. Der psychologische Prozeß, der unter Anleitung
alter Messiasverkündigungen in irgendeinem Häresiarchen des
18. oder 19. Jahrhunderts den Messias erscheinen läßt, ist von
jenen antimythischen Hemmungen gerade so frei, wie das Ver-
fahren, das die erste Messiasgestalt erschuf. Oder mit andern
Worten: beide Prozesse sind nach der negativen Seite, die uns
hier zunächst berührt, identisch, mag auch ein verschiedenes
Maß tätiger Phantasie sie in positiver Hinsicht unterscheiden.
Am merkwürdigsten verquicken Nachahmung und spontane
Gleichartigkeit sieh (wie in der Kindersprache, so) in der
Kindermvtholocrie. Mein einer Sohn beschäfticrte sich etwa vom
sechsten bis achten Jahr mit einer Phantasiegestalt „PruUi".
Sie war undeutlich, bald männlich bald weiblich gedacht, starb
und ward wieder lebendig; fest war nur ihr Heim: sie wohnte
in Erdlöchern, in Höhlungen unter Wurzeln und dgl. Dieser
,, Dämon" war von ihm selbständig entwickelt, wahrscheinlich
272 Richard M. Meyer
aus irgendeinem bestimmten Anlaß heraus (vgl. den Roman
„Mao" von Friedrich Huch); aber eine Einwirkung der Märchen,
die er gern las, mit ihren Erdmännchen ist sicher. Er glaubte
nicht fest an PruUi; aber auf dem Weg zu einem „Anpassungs-
mythus" war er doch schon.
Sehr häufig aber sind sogar überraschende Überein-
stimmungen nicht aus Übertragung und Anpassung, sondern
aus der Wirkung gleicher Ursachen zu erklären. Zu einer
solchen Übereinstimmung führen nämlich einerseits psycholo-
gische, andererseits logische Notwendigkeiten.
Die psychologischen Ursachen übereinstimmender
Mythenbildung sind längst bekannt und anerkannt. Sie liegen
darin, daß die mythenbildende Anschauung sich hemmungslos
einem bestimmten Anstoß hingibt. Namentlich sind es zwei
Gruppen von Veranlassungen, die einen solchen Stoß geben:
in der Sache, und im Ausdruck liegende Anlässe.
In der Sache ist jenes mythische Element begründet,
das wir vom rationalistischen Standpunkt aus als Übertreibung
bezeichnen. Wenn die indische Mythologie einem Gott zahl-
lose Köpfe gibt, wenn die altgermanische den Gott Thor das
Meer nahezu mit einem Schluck austrinken läßt, wenn sogar
die maßvolle griechische des Homer die goldene Kecte des
Zeus bildet, an der er alle andern Mächte allein aufwiegt, so
ist das jedesmal nur der schrankenlose Ausdruck für die Macht
und Größe, die der Gläubige seinem Patron zutraut. Nichts
anderes ist die märchenhafte Wunderkraft, mit der die merk-
würdig atavistische Legende der russischen Sektierer ihre
Häresiarehen feiert. „Aber Suslow ging durch alle Foltern
unversehrt hindurch, das Feuer berührte ihn nicht . . . Am
Donnerstag hauchte er seine Seele aus, und die Wache nahm
ihn ab und begrub ihn . . . Aber am Sonnabend auf Sonntag
stand er wieder auf" Er wird gekreuzigt und geschunden,
steht wieder auf und wird frei (K. Graß, Die russischen Sekten
1, 20). Gewiß hat hier in der Form — Kreuzigung, Auf-
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 273
rstehung — die Bibel eingewirkt; inhaltlich aber würde diese
)hantasti9che Art, die Unverletzlichkeit des Heiligen in allen
Jartern auszudrücken, ohne dies Vorbild auch ihr Recht ge-
ordert haben, so gut wie bei den Anbetern des Osiris oder
les vielleicht ursprünglich heidnisch - mythischen Sankt
jeorg.
In der Form liegt nicht minder ein Anstoß zu hemmungs-
osem Ausmalen. Hat doch einst Max Müller, freilich ohne
illes tiefere psychologische Verständnis, alle Mythen aus
iprachlichen 'Mißverständnissen' ableiten wollen. Wie in den
schwanken unseres Eulenspiegel hätten die Menschen Metaphern
vörtlich genommen und etwa aus der Wendung „die Sonne
jeht unter" ein Herunterschreiten des Helios gefolgert. Wir
Verden doch wohl annehmen müssen, daß in der Regel die
Anschauung älter ist als das Mißverständnis, ohne doch so weit
;u gehen, wie das neue religionsgeschichtliche Dogma, welches
autet: „Wortbilder stammen durchweg aus ursprünglichen
liealitäten" (Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel,
3. 41, nach Dieterich, Eine Mithrasliturgie, S. 94). Aber
vie immer die Metapher entstanden sein mag — ist sie einmal
la, so kann sie unzweifelhaft für den sie prüfungslos ge-
)rauchenden Menschen zur Quelle von mythologischen Ge-
)räuchen, d. h. Riten, werden. Hierfür ist wiederum das
Sektierertum die beste Fundgrube von Beweisen. Fast jede
jhristliche Kirche hat sich um ein 'Zentraldogma' angebaut,
las sie wörtlich deutete und wörtlich befolgte. So beruht
las Skopzentum darauf, daß die Anhänger dieser Sekte sich
selbst verschneiden in wörtlicher Befolgung der biblischen
Vorschrift: „Wenn dich dein Auge ärgert, so wirf es von dir''
[Marc. 9, 47, zgl. Math. 5, 29 und 18, 9), die schon der große
Kirchenvater Origenes ebenso ausgelegt und angewandt haben
soll. (Über die Selbstentmannung in anderem Zusammenhang
Nöldeke, Arch. f. Rel-Wiss. 10, 150.) Eine ganze Reihe von
Sekten verbietet, Arzte zu befragen oder Arzneimittel zu ge-
Archiv f. BeligionAwiaaeiischaft "yrrr j^g
274 Richard M. Meyer
brauchen, weil das dem Gebot widerspreche: „Widerstehe nichl
dem Übel" — einem Satz, den auch Tolstoi zum Mittelpunkl
seiner Lehren gemacht hat. Matth. 5, 37 ist für die Menno-
niten ein Zentraldogma: sie erleiden lieber Strafen, als da£
sie einen Eid leisten; und in Altona und Rendsburg hat mar
Musketiere zu je einem Jahr Gefängnis verurteilt, die ah
Adventisten an dem alttestamentarischen Sabbathgebot fest-
hielten und sich weigerten, Sonnabends eine Arbeit zu ver-
richten. Kann man nun in all diesen Fällen noch sagen, du
Sektierer unterschieden sich von den Orthodoxen nur durct
die Strenge, mit der sie Gebote befolgen, die im Prinzip odei
in anderer Form (mit bibelwidriger Verschiebung von Sonn-
abend auf Sonntag) auch die Kirche anerkennt, so wird dag
mythologische Element der unbegrenzten Hingabe an der
Wortlaut an individuellen Exzessen ganz deutlich; so an jenem
Kapuziner, der (wie K. J. Weber berichtet) die Mahnung Jesu:
„So ihr nicht seid wie die Kinder" — dahin deutete, daß ei
sich in eine Wiege legte und alle Unarten der Kinder nach-
ahmte, oder an dem hl. Benoit Labre, der die Liebe zu allei
Kreatur (wie indische Büßer) so weit trieb, sich von Ungeziefer
verzehren zu lassen (vgl. Joly, Psychologie des Saints, S. 67).
Den Paradefall solcher hemmungslosen Wortanschauungeu
können aber die talmudischen Vorschriften über Rein und
Unrein abgeben.
Psychologische Ursachen also können aus der Sache oder
der Form heraus leicht zu Anschauungen führen, die der
prüfende Verstand als unverträglich selbst mit dem Geist der
ganzen Religion ansehen kann: Christi Meinung kann es nicht
gewesen sein, daß Gott die Menschen heranwachsen lasse,
damit sie wieder sich selbst in die Kinderschuhe zwängen. Er
dachte an bestimmte Eigenschaften des Kindergemüts; der
fanatische Mönch verallgemeinert und unterwirft sich deshalb,
mythologisch ausgedrückt, einem Ritus, der uns kindisch an-
mutet und nicht kindlich.
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 275
Denn nicht nur Anschauungen, sondern auch Gebräuche
entstehen aus der ungehemmten Einwirkung von Sache oder
Form.
Seit Robertson Smith ist es ein Dogma geworden, der
Kultus sei älter als der Mythus. In dieser Allgemeinheit ist
auch das wieder nichts Besseres als ein wissenschaftlicher
Mythus. Denn daß Kulte und Riten sekundär entstehen, ist
in zahllosen Fällen nachzuweisen. Ich habe schon früher auf
den ganz jungen Ritus der Anbetung des Herzens Maria hin-
gewiesen, der innerhalb der katholischen Kirche eine neue
Kultform darstellt und von den Marienlegenden herstammt,
ihrer keine aber erzeugt hat. Noch lehrreicher ist ein anderes
modernes Beispiel: die Kulteinsetzungen der Französischen
Revolution. Aulard (Le culte de la raison) hat soeben ein-
gehend dargetan, wie der „culte de la raison" und der „culte
de l'Etre supreme" entstanden. Philosophische Grund-
anschauungen, wie die von der „Xatürlichen Religion", gingen
voraus; die antikisierende Neigung zu Nationalfesten mit Altar,
Festrede und Tanz folgte, die politische Tendenz in der Hand
von einzelnen (erst Hebert, dann Robespierre) gab den Aus-
schlag. So ist erst die, wenn man will, mythische Personi-
fikation der „Göttin Vernunft" da, dann erst erwächst ihr ein
bestimmter Kultus, und zwar in Anlehnung und Umdeutung
früherer Riten (katholischer und hellenischer Form), wie die
Sitte sich so leicht „Bedeutungsänderungen" preisgibt (vgl.
Vierkandt a. a. 0. S. 28); so entstehen denn auch gleich
jakobinische Dreieinigkeiten (Marat — Chalier — Le Peletier,
vgl Aulard S. 61. 99. 102), zwölf Apostel werden ernannt
(ebd. S. 127), die Taufe wird parodiert (S. 139), usw.
Die Regel freilich wird die sein, daß zuerst eine all-
gemeine, unbestimmte mythologische Anschauung erstanden ist
und daß aus dieser „Dumpfheit" (wie Goethe es nennen
i würde) gleichzeitig und aneinander gestickt sowohl Mythus
als Kultus erwachsen: der Mythus als ein Versuch, mit dem
18*
276 Richard M. Meyer
Wort die Anschauung zu verdeutliclien, der Kultus als ein
Versuch, sie in Tat umzusetzen. Gehören doch Wort und
Tat bei dem Zauber, jener uralten, sonst freilich überschätzten
Form des „Gottesdienstes", untrennbar zusammen, und jedes
Begleit wort einer rituellen Handlung hat bereits Elemente des
Mythus zur Voraussetzung, wenn nicht einen fertigen Mythus.
Ich erinnere an jenen über die ganze Welt verbreiteten Typus
der Heil- und Segenssprüche, die mit einer epischen Einführung
beginnen. So unser berühmter Merseburger Zauberspruch: er
erzählt, wie der Gott Wodan ein krankes Götterpferd heilte
und reproduziert dann Wodans Segen, um ihn unmittelbar
auf ein vorhandenes krankes Pferd zu übertragen. Das ist
eine rituelle Handlung auf mythischer Grundlage. Aber jede
Libation, jedes Gebet setzt doch mindestens die Vorstellung
voraus, daß etwa Indra den Soma schon einmal getrunken
hat, den man ihm wieder anbietet.
Wie aus der sogenannten „chorischen Poesie" Epos, Drama,
Lyrik sich entwickeln, so gehen aus der ungehemmten, grenzen-
losen Stimmung der Andacht (in ruhigeren Momenten) oder
Ekstase (in erregten Augenblicken) Mythus und Kultus hervor
(vgl. Joly, Psychologie des Saints S. 135 f und S. 90^.). Die
Andacht verdichtet sich zu der Meditation, wie sie heute wieder
von Spiritisten und Halbspiritisten (z. B. Mitchell, Meditation)
gerade wie einst von Buddhisten und Mystikern als der „große
Weg" zu Gott gepredigt wird; sie steigert sich zur Vision und
aus dem Bericht von der Vision wird der Mythus. (Keineswegs
will ich behaupten, daß er nur so entstehe; davon bin ich
weit entfernt. Aber es ist Eine Form seiner Entstehung.)
Der Mönch sieht in angestrengter Andacht das Fegefeuer des
heiligen Patricius; eine russische Nonne sieht einen heiligen
Bischof, der ihr verbietet, sich mit zwei Fingern zu bekreuzen
(Grass, Die russischen Lehren 1, 103).
Solche Visionen kann leidenschaftliche Erregung gewiß jeder
lebhafteren Natur bringen, aber für den „Visionär" ist kennzeich*
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 277
nend, daß er sich ihnen ohne Widerstand hingibt. Der Feldmarschall
V. Steinmetz berichtet (v. Krosigk, Feldmarschall v. Steinmetz
S. 146), wie der Tod seiner geliebten Tochter ihn in furcht-
baren Schmerz versetzte und wie sich deutlich die Vision der
Verlorenen einstellte: „Alles, worauf mein Blick sich richtete,
besonders im Zwielicht oder im Dunkeln, selbst des Abends
bei Licht, nahm Gestalt an, wenn irgend möglich die meines
Kindes. Wenn ich eine Stelle der Wand besonders fixierte,
so dauerte es nicht lange, so fing diese Stelle an hin und her
zu wanken, und es löste sich davon ein geistiges Xebelbild
los, welches bald nach dieser, bald nach jener Richtung hin
schwebte, oft meinem Kinde ähnlich, oft aber auch in anderer
Gestalt, mehr oder minder schwarz oder verschleiert. Oft auch,
wenn ich ins Dunkle sah, entstieg der Erde wie ein Dampf,
der nach einiger Zeit ebenfalls zu einer Gestalt wurde." —
Nicht anders sah Saul den Geist Samuels bei der Hexe von
Endor. Der alte General widerstand aber spiritistischen Aus-
deutungen und war nur von der Vision beglückt, ohne an ihre
Realität zu glauben.
Ja diese Kraft, Gestalten zu sehen, kann kunstmäßig
entwickelt werden, wie manche Romantiker, E. T. A. Hoff mann
voran, sie geübt haben: sie suchten aus Falten in der Gardine,
aus Tintenklexen sogar — hier übte es Justinus Kern er
mehr als Sport — Gesichter herauszulesen, wie Hamlet Figuren
aus der Wolke; aber sie blieben Herren des Spiels.
Andererseits entsteht aus der Ekstase, aus der leidenschaft-
lich erregten Stimmung der Verehrung, eine Kulthandlung, und
zwar wieder mit psychologischer Notwendigkeit eine bestimmte
Kulthandlung, weshalb sich über die ganze Welt hin die
Riten so ähnlich sehen wie die Visionen. So ist für die russi-
schen Chiliasten das „Drehen" charakteristisch (Grass a. a. 0.
S. 67. 73. 103. 106. 110; zum Ursprung S. 63. 65) d. h. das-
selbe erregende, betäubende Umdrehen im Kreis, nach dem
auch die tanzenden Derwische benannt sind. Es kann sich
278 Richard M. Meyer
mit solchen Bewegungen, bei denen der ekstatische Mensch
sich willenlos dem Mechanismus der Rotation hingibt, noch
Singen, Schreien, Musizieren verbinden, oder auch bei weiterer
Hingabe an die fast bewußte Entäußerung von allen Hemmungen
die Selbstzerfleischung: was die antiken Korybanten, was die
Derwische übten, übt heut wieder, in gemäßigteren Formen
freilich, der Enthusiasmus der Heilsarmee oder, fast epidemisch,
die amerikanischen revivals (C. H. Hahn, Die große Erweckung
in den Vereinigten Staaten von Amerika, Basel 1859; Brückner,
Erweckungsbewegungen, Hamburg 1909).
Man darf annehmen, daß in solchen Fällen die Entäußerung
vom eigenen Willen geradezu als Wohltat empfunden wird.
Destojewski erzählt in seinen „Brüdern Karamasan" von einer
wunderbaren russischen Sitte: daß fromme Menschen, die ihren
Willen gepflegt, ihn sich gleichsam aus der Brust nehmen
und einem geistlichen Berater übergeben. Was der „directeur
de conscience" der vornehmen Welt Frankreichs im 17. und
18. Jahrhundert nur in gewissen Fragen tut, tut dann dieser
Mund -Fetisch jederzeit: er verfügt nicht nur über das Tun,
sondern sogar über das Wollen seines Akolyten. Diese unbe-
dingte Hingabe erreicht ihren Gipfel in jenen Zeremonien, in
denen sich die Derwische oder Chiliasten um ihr Oberhaupt
drehen: als seien sie leblose Sterne geworden, Himmelskörper,
die ohne Hemmung den Gesetzen der Gravitation folgen.
Wie nun aus der psychologischen Nötigung heraus Mythus
und Ritus erwachsen und an sie eine ganze „Religion" mit den
schlimmsten Auswüchsen sich ansetzt, lehrt anschaulich ein
neueres Beispiel der Sektiererei.
Thomas Pöschl (vgl. A. F. Ludwig, Neue Untersuchungen
über den Pöschlianismus 1906; Beiträge zur Geschichte des
Pöschlianismus 1907; meinen Aufsatz Österreichische Rund-
schau 12, 113) war ein unbedeutender österreichischer Geist-
licher. Sein mystisches Gemüt erhält den ersten Anstoß zur
Häresie durch ein Andachtsbüchlein. „Hier war in sehr krasser
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 279
Weise das Herz des Sünders dargestellt, in welchem der Teufel
und die durch Tiere (Pfau, Bock, Schwein, Löwe, Schlange,
Kröte) symbolisierten Leidenschaften dargestellt waren, während
in dem Herzen des Bekehrten teils der von Feuerzungen um-
gebene Heilige Geist in Gestalt einer Taube, teils der Ge-
kreuzigte von Leidenswerkzeugen umrahmt sich zeigten."
Diese Bilder faßt eine Schwärmerin seiner Gemeinde wörtlich
und bildet sich danach eigene Visionen. La ihnen spielt der
verehrte Seelsorger eine Hauptrolle. Dies wieder steigert ihn
selbst zur Ekstase, zum Gefühl des berufenen Propheten. Auch
er hat sein Zentraldogma: durch die Bekehrung der Juden soll
die Kirche vollendet werden. Er will sie in die Hand nehmen.
Widerspruch der Oberen macht ihn zum Haupt einer fanatischen
Sekte. Unter ihnen entwickelt sich ein Kultus: bei brennender
Kerze erwartet man die Ankunft des Herrn. Ein Mädchen
stört die leidenschaftliche Erwartung durch ihr angstvolles
Geschrei; sie wird von dem bis zur Tobsucht erregten Vater
getötet und als Reinigungsopfer, mit brennendem Werg um-
geben, dargebracht. Bis zu einer furchtbaren Steigerung des
Ritus, die man als Menschenopfer deuten könnte, geht die
psychologisch notwendige, hemmungslos fortschreitende Ent-
wicklung!
Chamisso schildert in einem Gedicht einen Bildhauer,
der sein Modell ans Kreuz schlägt, um die Gebärden des
Crucifixus zu studieren. Leu au schreibt einmal, er wolle sich
selbst kreuzigen, wenn es nur ein gutes Gedicht gebe. Hier
sehen wir symbolisch die beiden Stufen: eine furchtbare
Handluncr, die sich in die Phantasie eines seiner Siime immer
noch mächtigen Menschen als bloßes Gleichnis drängt, kann
von einem bis zu völliger Verleugnung alles sonstigen Gefühls
erregten Menschen wirklich vollzogen werden. Der Ritus ist
eine in Handlung umgesetzte Metapher: wenn Hedwig in
Ibsens „Wildente" das mit liebender Scheu gehegte Tier er-
schießen soll, ist die Meinung von Gregers Werle, daß sie ihrem
280 Richard M. Meyer
Vater „ihr Liebstes opfern" soll. Selbstverständlich, wird aber
auch umgekehrt (im Sinn jener Formel von Dieterich und
Vierkandt) die Opferhandlung zur bloßen Redewendung.
Dieser beständige Umtausch ist für das sprachliche Leben
überhaupt kennzeichnend: es werden keineswegs nur, wie man
zu behaupten pflegt, Concreta zu Abstractis, sondern auch das
Umgekehrte kommt fortwährend vor, und „die Macht", die
abstrakte „potestas", sitzt als sehr leibhaftiger „podesta" zu
Florenz auf dem Markte I
Die unbegrenzte Hingabe an einen Eindruck also ist die
psychologische Voraussetzung zahlloser mythologischer Gebilde
in der Gegenwart. Mythen, Kulte, Religionen entstehen so
noch heute, natürlich nicht ohne Anlehnung an schon Vor-
handenes; das größte Beispiel ist das Mormonentum (Busch,
Geschichte der Mormonen). Aber wir betonten schon, daß
die Forderung der absoluten Ursprünglichkeit in der Mytho-
logie (wie in der Kunst oder Wissenschaft auch!) durchaus
unberechtigt ist. Wenn die eddischen Mythen so stark von
irisch -katholischem Einfluß durchdrungen wären, wie Bugge
(schwerlich mit Recht) annahm, würden sie so wenig aufhören
Mythen zu sein, wie ein eingeführter Kult, etwa der Gottes-
mutter von Pessinunt in Rom, oder der rheinischen Wasen
in Norwegen, ein Kult zu sein aufhört. Hat doch Gruppe
neuerdings die gesamte außerbabylonische Mythologie auf
Adaptation zurückgeführt! und ist nicht selbst innerhalb einer
geschlossenen nationalen Mythologie die Übertragung von
Mythen und Kulten eine alltägliche Erscheinung?
Die Ursprünglichkeit ist so wenig Postulat der Mythologie,
daß vielmehr gerade die Nachahmung eine Hauptquelle von
Mythen werden kann.
Über die Psychologie der Religionsstifter und Heiligen
ist neuerdings vielfach gearbeitet worden. Peschels all-
gemeine Betrachtungen, Görres' ungemein fleißige aber allzu
kritiklose Sammlungen in der „Christlichen Mystik" werden
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 281
in modernerem Geist fortgeführt von Henry Joly (Psychologie
des Saints) und besonders William James (The varieties of
religious experience); Brauchbares neben viel unbrauchbarem
Material bringt seit zwei Jahren auch die „Zeitschrift für Re-
ligionspsychologie". Unzweifelhaft ist es dabei wiederholt ge-
lungen, Phänomene der „mythologischen Epoche" an Lebenden
zu beobachten. Man nehme das Wunder der Bekehrung des
Saulus (vgl. Edv. Lehmann, Mystik S. 61): hat man Grund
anzunehmen, daß es sich von modernen Konversionen wesent-
lich unterscheidet, wie sie Huguet (Celebres conversions
contemporaines, Paris 1852) analysiert (vgl. auch M. Prince,
Zeitschr. f. Religionspsychologie I 59, Hahn, Die große Er-
weckung S. 38 f.)? Eine intensive Beschäftigung mit der
gegnerischen Gedankenwelt geht vorher; sie führt unmerklich
dazu, daß man sich auf den Standpunkt des Gegners versetzt
— und plötzlich bemächtigt sich die bekämpfte Anschauung
des so lang Widerstrebenden! So braucht die Wandlung des
Saulus zu Paulus nicht anders erklärt werden als die berühmte
des Alphonse Ratisbonne am 20. Januar 1835 (vgl. Huguet
S. 359, James S. 223. 257). Eine Vision als Zwischenglied
zwischen der noch unter der Schwelle des Bewußtseins
bleibenden Vorbereitung und dem Moment, den man theologisch
als „Durchbruch der Gnade" bezeichnet, ist in beiden Fällen
bezeugt und hat, abgesehen von der augenscheinlichen Wahr-
haftigkeit beider Aussagen, noch alle psychologische Wahr-
scheinlichkeit für sich. Aber ein Moment wird bei den Kon-
versionen zumeist übersehen, das mir von großer Wichtigkeit
scheint: die Nachahmung im engeren Sinne, die Anpassung an
das Wesen einer bestimmten Persönlichkeit.
Daß bei Ratisbonne ein gewisses Eingehen auf die Art
seines Bekehrers, des H. de Bassierre, mitgewirkt hat, scheint
auf der Hand zu liegen. Aber für die gesamte Heiligenwelt des
Christentums wie des Buddhismus spielt vor allem die unmittel-
bare Nachahmung des Religionsstifters eine fundamentale
282 Richard M. Meyer
Rolle. Jene „Nachfolge Christi", die das unsterbliche Andachts-
buch des Thomas a Kempis predigt, ist von Heiligen wie
Franz von Assisi als so greifbare Wahrheit erlebt vrorden, daß
die Suggestion der Stigmata, man möchte fast sagen, gar nicht
unterbleiben konnte. Freilich gehört zu solchem Maß der
„Einfühlung" (um einen wichtigen Kunstausdruck der deut-
schen Ästhetik in die Religionspsychologie zu übertragen), des
Hineinversetzens in eine fremde Individualität, um wieder
theologisch zu reden, „Gnade"; und die innere Verwandtschaft
des Pater Seraphicus mit Christus beruht eben darauf, daß er
ein „religiöses Genie" war; ein typischer Religionsstifter, bietet
er deshalb der Legende Gelegenheit zu den wunderbarsten
„conformitates" wie mit Christus, so mit Buddha (vgl. meinen
Aufsatz in der „Nation" 24, 392). Aber die penetration des
sentiments d'autrui bezeichnet Joly (S. 23) sehr treffend als
ein Hauptelement im Wesen auch der geringeren Heiligen; von
hier aus erklärt er die Prophetengabe der hl. Katharina von Siena.
Man wird auch für die Wunderheilungen dies Moment nicht
außer acht lassen dürfen; nur wirkt es da auf beiden Seiten,
Der Thaumaturg steigt hinein in die Seele des Gelähmten,
und indem er gleichsam von dort aus den Gestus des Genesen-
den vornimmt, hilft er dem Kranken, der seinerseits die Ge-
bärden des Wundertäters instinktiv wiederholt, sich erheben.
Der Arzt holt aus der Seele des Kranken die Vorbereitung,
der Kranke aus der des Arztes den „Heilwillen", wie unsere
Romantiker sagten: durch Entschluß, aufzustehen und zu
wandeln. Die körperliche Heilung wird ganz so behandelt
wie die moralische, bei der auch der Prediger unverständlich
bleibt, wenn er sich nicht in die Seele des Sündigen versenkt,
und der Hörer ungeheilt, wenn er sich nicht an die Seele des
Predigers anklammert Nicht wenige Zeugnisse, die unmittel-
bar auf diese „Rettung durch den Glauben" deuten, findet man
noch bei den neuesten Thaumaturgeu, bei Mrs. Eddy, bei dem
Propheten Doure; wobei noch daran erinnert werden muß.
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 283
welche starke Rolle die Autosuggestion sogar bei einem
Scharlatan spielt. In dem Augenblick, da er Wunder tun
wollte, glaubte wahrscheinlich Cagliostro selber daran: so stark
durchdrang er sich mit der Yorstellung eines Wundertäters.
Diese Nachahmung verehrter Persönlichkeiten hat nun
aber wiederum ihren Hauptsitz in den religiösen Sekten. Sie
beginnt mit der äußeren Nacbahmung einzelner, bezeichnender
Taten. Auf manchem ^\ allfahrtsweg schleppen die Gläubigen
Kreuze; aber es kommt noch anderes vor: Prof. Balz teilte auf
der Stuttgarter Naturforscherversammlung (21. Sept. 1906) mit,
daß sich eine Frau 1731 — 34 jedes Jahr am Karfreitag „ganz
nach der Art des Heilands ans Kreuz nageln ließ und so voll-
kommen in Ekstase war, daß sie keinen Schmerz fühlte." —
Indessen sind das erst Vorstufen: Nachahmung nicht der Per-
sönlichkeit, sondern einzelner Kundgebungen Nichts ist aber
häufiger, als daß der Verehrer die verehrte Persönlichkeit un-
mittelbar und als Ganzes^ zu reproduzieren versucht, oder viel-
mehr, da dieser Ausdruck viel zu viel bewußten Willen an-
deutet: daß infolge jener „Einfühlung" in seinen Willen er
sich völlig mit diesem eins fühlt. So entsteht eine der häufigsten
Formen moderner Mythologie: die des „falschen Messias".
In allen Zeiten hat die Sehnsucht gläubiger Menschen einen
Vollender all ihres Sehnens erhofft und in der Gestalt eines
Messias realisiert (C. Scholl, Die Messiassagen des Morgenlandes
Hamburg 1852). Selbst die nüchternen Chinesen sollen am
Ende der Tage einen vollendenden „großen Heiligen" erwarten
(ebd. S. 12). Dieses Verlangen nach einem Erfüller aller
Sehnsucht vereinigt sich bei christlichen Sekten mit dem
Glauben an Christus als den Messias. Während also in den
„falschen Propheten" des Islams — noch zuletzt in dem von
Lord Kitchener im Sudan besiegten Mahdi — nur die allgemeine
Idee des Messias verkörpert wird, nimmt sie bei den christlichen
Ketzern spezifisch die Gestalt des wiedergeborenen Christus an.
Hierfür gerade sind die russischen Sekten mit ihrer archaischen
284 Richard M. Meyer
Einfaclilieit ungemein bezeichnend. Der Stifter des Chlüstentums
erklärt sich für Christus und den Sohn Gottes (Grass, Die
russischen Sekten 1, 57 u. ö.); der Begründer der Skopzen hält
sich für den göttlichen Erlöser und Sohn Gottes (Grass, Die
geheime heilige Schrift der Skopzen S. 1 u. ö.); und eben jetzt
berichten die Zeitungen, daß die „Johanniten" den bekannten
Priester Johann von Kronstadt für den auferstandenen Christus
in Persien halten (s. Vossische Zeitung 1. Nov. 1907). In
weiterer Nachahmung des Vorbildes findet sich zu dem Gottes-
sohn fast regelmäßig eine Gottesgebärerin; so bei Pöschl, bei
Skopzen und Chlüsten, bei den Johanniten und eben jetzt wieder
bei der polnischen Sekte der Mariaviten (verdammt durch Dekret
der Inquisition am 4. Sept. 1904 und durch Enzyklika an die
polnischen Bischöfe vom 26. Mai 1906; vgl. allg. B. Merwin,
Österr. Rundschau 8, 484, Zs. f. Rel. Psychol. 1, 469). Und
weiter führt diese Nachahmung des Vorbildes dahin, daß die
ganze Passion wirklich nacherlebt wird; wofür der arme italie-
nische Prophet Lazzaretti ein typisches Beispiel ist. Nicht aus
innerer Verwandtschaft heraus wie bei Franz von Assisi sondern
aus dem „Nachleben Christi" heraus finden sich da Einzelzüge,
wie der Judas, der angekündigte Tag der Vollendung, der feier-
liche Einzug; auch die gut mythologischen Zahlen (E. Ras-
mussen. Ein Christus aus unseren Tagen S. 160 u. ö.), die
sich natürlich auch z. B. bei den Chlüsten einstellen (400
Jahre: Grass a. a. 0. S. 400; 33 Jahre: S. 24; im hundertsten
Jahr S. 26, 27). Als letztes Siegel der Göttlichkeit kommt
dann die „Trauer der ganzen Natur" hinzu — ein so uralt
mythischer Zug, daß er bei den russischen Gottesleuten
(„und so lange war ein Nebel über der ganzen Erde,
wie lange Danila Philipo witsch im Kerker saß" S. 13) so
wenig aus dem biblischen Bericht entlehnt zu sein braucht
wie bei Osiris oder bei Balder — bei dem wieder Bugge das
behauptet hat. Dagegen sind natürlich die Jungfrauengeburt
(durch eine Greisin S. 16: die hl Anna mit der hl. Maria
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 285
kombiniert) oder die zwölf Gebote (S. 15) eine Folge des
Wiedergeburtsmythus.
Natürlich kann das Maß des Mystischen in diesen „Xach-
folgem Gottes" sehr verschieden sein (vgl, Joly a. a. 0. S. 45 f.).
Daß die russischen (und polnischen) Häresiarchen so unmittelbar
mythologisch anmuten, daß in ihnen nicht nur Apollonius von
Tyana erneut scheint, sondern viel Älteres: die uralte Gleich-
setzung von Gott und Priester, ein Hauptstück im Kultus der
alten Azteken wie der alten Germanen und in Tibet wie in
Rom — das liegt freilich an der Kulturlosigkeit dieser
slawischen Bauern, die fast Geschichtslosigkeit heißen dürfte.
Aber wo immer der Verstand, die Sitte, die täglichen Be-
dürfnisse aufhören, Hemmnisse für das freie Ausleben der An-
schauungen zu sein, da haben wir Mythologie. Die Ducho-
borzen, deren sich Tolstoi so tapfer annahm, sind in ihrer
Lebenshaltung viel normaler als die Skopzen; aber auch sie
erwarten so heiß den Messias, daß die Zeitungsnachricht (am
23. November 1906, Vossische Zeitung), auch sie hätten einen
leibhaftigen Christus unter sich gefunden, nicht unwahrscheinlich
klingt. Ebenso mußte die glühende Sehnsucht der Juden nach
einem Messias Erfüllung finden: sie verkörpert sich in histo-
rischen Gestalten wie Sabbathai - Zewi oder dem Baal Schem
der Chassidim im 18. Jahrhundert, dessen höchst interessante
Legenden (von Martin Buber 1907 und 1908 übersetzt)
noch lehrreicher wären, wenn man den Grad der wissenschaft-
lichen Genauigkeit bei dem Bearbeiter kennte. Aber Analogien
zu Kriterien christlicher Heiligkeit wie dem Erraten fremder
Gedanken (Joly S. 23) stehen fest — Das einfache Liedchen
der Spohnianer, deutscher Chiliasten im Kaukasus (vgl. Moritz
Busch, Wunderliche Heilige, Leipzig, 1879, S. 128) steht
weit ab von den ekstatisch verzerrten Gesängen der Chlüsten;
aber die Visionen und die Anbetung einer Gottesmutter teilen
sie mit jenen. Und der sachliche Bericht Hyram Smiths über
die Verfolgungen der Mormonen (M. Busch, Geschichte der
286 Richard M. Meyer
Mormonen, S. 98) sticlit von dem Selbstbericht des Skopzen
Seiiwanow so stark ab wie der „Amerikanismus" von dem
Wesen der russischen Orthodoxie; aber das mythische Element
befehlender Offenbarungen und die Herrschgewalt des Pro-
pheten teilen die sehr weltlichen Heiligen der Letzten Tage
mit den asketischen Selbstverstümmelern.
Und dies mythologische Element läßt sich nicht einmal durch
ein großes Maß von Wissenschaftlichkeit allein vertreiben. Des
ist Zeuge der gelehrte Visionär Swedenborg, dessen Neue Kirche
noch heute Missionare aussendet, die die unmittelbare Realität
seiner Offenbarungen predigen. Gerade diese Lehren sind sehr
interessant, weil dieselben Männer, die so Eigentümliches über
die Natur der Engel verkündigen, die wörtliche Auslegung von
Bibelstellen öfters ablehnen (die Lehren der Neuen Kirche
in der Deutschen Synode der Neuen Kirche, S. 9. 27). Des ist
Zenge aber auch ein so großer Gelehrter und Denker wie
Nietzsche, wenn er sich am Ende seiner Laufbahn mit be-
wußter Hemmungslosigkeit dem Mythologem der „Ewigen
Wiederkehr" hingab.
Aber selbst wo Phantastik oder Leidenschaft nicht mit-
wirken, führt die unbegrenzte Hingabe an eine Anschauung
zum Mythus. Denn in solchen Fällen ist der Atavismus der
mythologischen Begriffsbildung zwar nicht, wie in den bisher
besprochenen Fällen allen, psychologisch, wohl aber logisch
bedingt.
In einem Aufsatz über „Die Grenzen des Irrtums"
(wieder abgedruckt in meinen „Gestalten und Problemen",
S. 299) habe ich zu erweisen gesucht, daß dem Menschen nicht
einmal im Irren unbegrenzte Freiheit gegeben ist. Es bleibt
ihm auch für die kühnsten Phantasien, für die tollsten Hypo-
thesen, für die unglaublichsten Kombinationen nur ein be-
schränkter Spielraum. Deshalb kommt auch die geschulte wissen-
schaftliche Phantasie, wenn sie das ihr abgesteckte Gebiet über-
fliegen will, über mythische Anschauungen und Ideen nicht heraus.
Mythologische Studien ans der neuesten Zeit 287
Diese Seite ist fast so wenig beachtet worden, wie die
psychologische häufig. Gewiß ist auch ihre praktische Be-
deutung um so viel geringer, wie gelehrte Phantasten seltener
sind als sektiererische Visionäre. Theoretisch aber ist die
Wichtigkeit kaum weniger groß.
Ich spreche hier nicht von den „gelehrten Legenden", in
denen auf wissenschaftlichem Wege unrichtige Ergebnisse ge-
wonnen werden, die sich dann wie Tatsachen in unserer An-
schauung festsetzen. Hier könnte man ein mythologisches
Element höchstens in dem festen Glauben finden, in dem
etwa Goethe mit den unrichtigen Ergebnissen seiner Farben-
lehre beharrte. Aber hier handelt es sich nur um die Kano-
nisation eines Irrtums; dieser selbst aber ist ohne jene
hemmungslose Hingabe an eine Anschauung erzeugt, die uns
für das Mythologische wesentlich und charakteristisch schien
Für diese dagegen scheinen mir zwei besonders lehrreiche
Gruppen die Meditations- und die Schöpfungsmythen
Die Meditation, die Versenkung in andächtige Stimmung,
die wir als eine HauptqueUe der Mythologie ansahen, ist bei
den Mystikern aUer Zungen zum Gegenstand gelehrter Schulung
und künstlicher Technik geworden. Am weitesten geht dies
„Training" im Yoga der Inder (vgl. z. B. James S. 400 f.;
K. Schmidt, Fakire und Fakirtum passim). Von irgend-
welcher ürsprünglichkeit ist bei der mit allen Hilfsmitteln
genährten „Loslösung von der Existenz" gewiß nicht die Rede.
Auch kann man ohne gewaltsame Ekstase durch sie hindurch-
gehen, wie Max Müllers schönes Buch über den edlen und
reinen Ramakrishna (London 1898) lehrt. Ramakrishna
(1833 — 1886) erreicht durch fromme Versenkung die höchsten
Stufen der Meditation: die Einheit mit dem weltdurchdringenden
Brahman (Ekam advitigam a. a. 0. S. 79) und die Identi-
fikation mit allem was lebt {Tat tvam asi S. 91). Aber was
ist beides anders als jene urmythologische Gleichsetzung von
Priester und Gott (s. oben) oder als jene Übertragung der
288 Richard M. Meyer
eigenen Überkraft in unbelebte Dinge, die wir Fetischismus
nennen (vgl. meinen Aufsatz, Arcb. f. Rel.-Wiss. 11, 320).
Noch seltsamer zeigt sich auf einem anderen Gebiet der
Zwang des Mythischen.
Über nichts pflegten sich unsere Aufklärer so grenzenlos
zu verwundern, wie über die „Abgeschmacktheit" der heid-
nischen Schöpfungssagen. Und in der Tat: sieht man Lukas'
gutes Buch (Die Grundbegriffe in den Kosmogonien der alten
Völker, Leipzig 1893) durch, so erschrickt man zuerst vor
einem Höllenbreughel phantastischer Anschauungen. Die Welt
entsteht, indem aus dem ürwasser ein Ei hervorgeht (bei den
Ägyptern, a. a. 0. S. 59) oder der Sohn eines Eies (bei den
Indern, S. 89); oder sie blüht aus der Knospe auf (ebenfalls
bei den Indern, S. 91). Häufig wird sie, was begreiflich ist,
als Produkt eines geschlechtlichen Aktes dargestellt (auch bei
den Indern, S. 91). Doch schon früh tritt an die Stelle solcher
rasch aus der Vermutung in den Glauben übergegangener
Hypothesen die wissenschaftliche Arbeit: Hesiod schon kommt
(nach Zeller) auf dem Wege „der stufenförmigen Abstraktion"
zu dem Chaos als Urprinzip (S. 158) — wohin altindische,
altgermaniscbe, vor allem auch altbabylonische Kosmogonie
längst auch gelangt war.
Die Kosmogonie hat die Forscher nicht wieder losgelassen:
Lucrez, Descartes, Kant (verglichen von A. Ho ff mann.
Vossische Zeitung, 29. Febr. 1908), Haeckel, Svante Arrhenius
(Das Werden der Welten, S. 107, vgl. allg. Troels-Lund,
Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten,
Leipzig 1908; Svante Arrhenius, Die Vorstellung vom
Weltgebäude im Wandel der Zeiten, Leipzig 1908). Über-
wiegend haben diese sich wohl noch in wissenschaftlichen
Grenzen gehalten, d. h. Hemmungsmaßregeln walten lassen,
obwohl Ostwald in seiner Naturphilosophie alle kosmogonische
Spekulation an sich für unwissenschaftlich erklärt. Sicher
aber ist sie das wenigstens oft geworden.
Mythologische Studien aus der neuesten Zeit 289
Im Anhang zu seiner Streitschrift gegen den Materialisten
Carl Vogt („Der Kampf um die Seele vom Standpunkt der
Wissenschaft", Göttingen 1857) teilt Rudolf Wagner in
ironischer Absicht drei „Ansichten über Menschenschöpfung
aus den Kosmogonien deutscher Gelehrten im 19. Jahrhundert"
mit. Schelver, der Botaniker, vermutet (a. a. 0. S. 136), daß
in Afrika noch „der Keim und der Embryo der körperlichen
Natur des Menschengeschlechts" zu entdecken sei. Da haben
wir den Urmenschen der Mythologien und Schöpfungssagen,
der sich noch größtenteils in den Hau den der Natur befindet
— die Natur also gut mythologisch als eine Gottheit, ein
Prometheus gedacht, die formt und fertig Geformtes aus ihrer
Hand entläßt! — Der Zoolog Oken erklärt i^S. 139) das Meer
für den Uterus, in dem sich der erste Mensch als Fötus ent-
wickelt habe, aus dem Schleim, das Infusorien bildet (^S. 141),
in einer bestimmten Temperatur (S. 143). Da haben wir die
Entstehung aus dem „Urschlamm" (vgl. R. Wagner S. 121),
wie sie auch Phönizier und Orphiker (Lukas S. 193) verkünden!
— Der Physiker Rötgen kombiniert diesen Urschlamm mit dem
Menschenei (S. 144) und legt dies Ei auf den Himalaya (S. 166).
Auch zahlreiche Kosmogonien (Lukas S.250) kombinieren Ei und
Urmaterie, und die Bibel kennt den Ort der Menschenschöpfung.
Man wiederhole nicht einfach Goethes Verse:
Man kann nichts Kluges, kann nichts Dummes denken,
Was nicht die Vorwelt schon gedacht,
sondern man erkenne die logische Notwendigkeit an, die bei
jeder hemmungslos ausgedachten und ausgesprochenen Hypo-
these den über die Entstehung des Lebendigen grübelnden
Gelehrten in die Nähe uralter Kosmogonien und somit „in
innigste Beziehung zu Mythus, Religion und Ritus" der Ur-
völker (Lukas S. 256) treten läßt!
Auch dies ist kein neuer Gedanke, und Carl Haupt-
mann hat schon ein Buch über die Mythologie in der
modernen Physiologie geschrieben, und einst hat Alexander
Archiv f. Beligionsinrigsenschaft XIII jg
290 Richard M. Meyer Mythologische Studien aus der neuesten Zeit
V. Humboldt den physiologischen Gedanken der Lebenskraft
(in den „Ansichten der Natur "j in einem Mythus verkörpert.
Oder Gottfried Keller erzählt, wie seine Dichterphantasie
die „Blut wellen" bei Jakob Huches anatomischem Vortrage
fließen und wogen sah. Aber nicht darauf kommt es uns hier
an, Rückfälle in die Vergötterung oder Substantialisierung
von BegriflFen vorzuzeigen. Vielmehr sollten unsere Beispiele
aus dem Treiben neuerer Sekten, aus dem Leben moderner
Propheten, aus dem Denken unlängst verstorbener Gelehrten
die ungeschwächte Fortdauer des mythenbildenden Triebs und
seine psychologische oder logische Notwendigkeit zeigen. Die
Seele und der Verstand des Menschen besitzen nur ein be-
grenztes Maß von Möglichkeiten, ihre Anschauungen oder
Stimmungen zum Ausdruck zu bringen; wer bis an die Grenzen
dieser Möglichkeiten geht, wird immer mit denen zusammen-
treffen, die in Urzeiten bis zu diesen Grenzen gegangen sind.
Was Seh er er die Methode der wechselseitigen Erhellung
nannte, das hat in der Religionsgeschichte, Religionspsycho-
logie, Mythologie noch eine weite Laufbahn vor sich. Es
würde sich wohl verlohnen, moderne Thaumaturgen wie Mr.
Dowie und Mr. Eddy systematisch auf die Elemente ihres
Prophetentums zu prüfen: was ist hier Nachahmung christ-
licher Vorbilder, was psychologischer Zwang zum Mythischen?
Nicht minder dankbar wäre eine systematische Prüfung philo-
sophischer Spekulationen über das unserer Beobachtung Ent-
zogene; denn etwa die Spekulationen über das Weltende be-
rühren sich nicht minder unvermeidlich mit alter Eschatologie,
als die über die Weltentstehung mit alter Kosmogonie. Den
Spielraum der menschlichen Phantasie auszumessen ist eine
so lockende als dringende Aufgabe der Psychologie — Ribots
bekanntes Werk über die Phantasie hat das Problem nicht
einmal gestreift; kennen wir erst ihre Bewegungsfreiheit, so
werden wir auch über „Ähnlichkeiten" und „Entlehnungen"
in der Mythologie vorsichtiger zu urteilen lernen!
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie
Von F. Skutsch in Breslau
In seiner Besprechung von Zieglers Firmicus (Berl. phil.
Woch. 1909 Nr. 25) erwähnt Weyman eine ihm von mir brief-
lich mitgeteilte Vermutung. Ich hätt« sie lieber noch zurück-
gehalten und künftig in etwas größerem Zusammenhang be-
gründet; nachdem sie aber einmal das Licht der Öffentlichkeit
erblickt hat, mochte ich ihr doch ein paar Geleitworte mit-
geben, so gut mir das im Augenblick möglich ist. Nach zwei
Seiten muß ich dazu etwas weiter ausholen.
I
Bereit« im Jahr 1870 hat F. Probst (Liturgie der drei ersten
christlichen Jahrhunderte)^ die Beobachtung gemacht, daß das
eucharistische Gebet im 8. Buch der apostolischen Konstitutionen
(CA) mit Stellen namentlich bekannter christlicher Autoren so
genau übereinstimmt, daß an einer gemeinsamen Quelle kein
Zweifel sein kann. Diese Quelle fand er unter Berufung auf
Justin apol. I 13 u. 65 in einem von alters her bei der Kom-
munion üblichen Gebete: Justins Inhaltsangabe eines solchen
stimmt genau zu jenem aus den CA und den anderen Autoren
erschlossenen Gebete (Preis Gottes für die Schöpfung, Dank
für die daraus sich ergebenden Vorteile, für den Wandel der
Jahreszeiten).
Nur allmählich hat sich die Forschung entschlossen, Probst
zu folgen und hier wirklich an ein Stück altchristlicher Liturgie
' Ich bin auf die ganze Frage an^erksam geworden durch den
nachher zu zitierenden Aufsatz von Weyman. Diesem Aufsatz verdanke
ich auch viel von meiner Literatuxkenntnis.
19*
292 F. Skutsch
zu glauben. Aber die rasch aufeinanderfolgenden Entdeckungen
des gleichen Gebetstextes in älteren christlichen Schriftstellern
müssen nachgerade jeden Zweifel beheben. Ich führe hier
diejenigen Gelehrten auf, die sich (ohne freilich immer die
Konsequenz mit voller Entschiedenheit zu ziehen) durch
Heranziehung neuen Materials und in anderer Weise um die
Frage verdient gemacht haben. Gelegentlich behandelt ist sie
von Kattenbusch (Das apostol. Symbol II 348 ff.), von Wilpert
(Fractio panis, Freiburg 1895, S. 48 ff.) und von Gregoire in
seiner Ausgabe des Martyriums der Drillinge Speusippos, Ela-
sippos und Melesippos (Saints jumeaux et dieux cavaliers,
Paris 1905, S. 32 ff.), energisch in Angriff genommen von Drews
(Untersuchungen über die sog. dement. Liturgie, Tübingen 1906)-
Dann hat neuestens Weyman einen neuen Zeugen (Ps.-Cyprian
= Novatian de spect.) vorgeführt und bei der Gelegenheit sehr
förderliche Einzelbemerkungen gemacht (Histor. Jahrbuch d.
Görres-Gesellschaft 1908 S. 575ff.).^
n
Unter dem Namen des Julius Firmicus Maternus besitzen
wir bekanntlich aus dem 4. Jahrhundert ein umfängliches
astrologisches Werk 'mathesis' und eine christliche Schrift ^de
errore profanarum religionum'. Frühere Philologengeschlechter
glaubten die beiden Erzeugnisse nicht einem und demselben
Firmicus zutrauen zu dürfen; seit Kroll und ich die Identität
der Verfasser zuerst bestimmt ausgesprochen haben (Herm. 29,
519), haben sich die Beweise so gehäuft, daß heute kein
Zweifel mehr sein kann: es genügt dafür hier ein Verweis auf
BoUs vorzüglichen Artikel 'Firmicus' im Pauly-Wissowa.
Die Verschiedenheit der Anschauungen in beiden Werken
schien ein Blick auf die Chronologie genügend aufzuklären.
Buch II der Mathesis fällt ins Jahr 336 oder in den Anfang von
* E. V. d. Goltz Das Gebet in der ältesten Christenheit (Leipzig 1901)
ist auf diese Fragen nicht eingegangen.
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie 293
337 (Mommsen Herrn. 29, 470 ff.); die christliche Schrift fällt
sicher nicht vor 343, wahrscheinlich 346 (siehe z. B. Boll a. a. 0.).
Firmicus hätte also Zeit gehabt, sich inzwischen zum Christen-
tum zu bekehren.
Tatsächlich war man auf irgendwie bedeutsame Spuren
des Christentums in der mathesis nicht gestoßen. Denn KroUs
Beobachtung, daß die Mathesis den hebraisierenden Ersatz des
ablativus comparationis durch a kennt (Rhein. Mus. 52, 588),
konnte an sich Bekanntschaft des Astrologen Firmicus mit
christKcher Literatur nicht überzeugend beweisen Schwerer
fäUt schon ins Gewicht ein merkwürdiger Satz, der der Mathesis
mit der christlichen Schrift gemeinsam ist, unter den zahlreichen
sprachlichen Berührungen beider die auffallendste, trotzdem aber
Ziegler in seiner trefflichen Ausgabe des Christen entgangen
und erst ganz neuerdings von Weyman (in seiner Besprechung
Zieglers) und von mir beobachtet. ,,Was Gott will, ist schon
geschehen" drückt der Christ (S. 68, 11 Z.) so aus: volunius dei
perfedi operis snhstantia est. Wörtlich dasselbe steht S. 280,
17 f. unserer Ausgabe des Astrologen, und zwar nicht etwa bei-
läufig, sondern in dem feierlichen Gebete an den quicumque es
deus, mit dem er sein fünftes Buch erööhet.
Aber dies selbe Gebet zeigt noch in weit umfassenderer
und sichrerer Weise, wie nahe schon der Astrologe Firmicus
dem Christentum stand; denn es deckt sich mit wesentlichen
Teilen jenes alten liturgischen Gebets, dessen Spuren Probst
uns verfolgen gelehrt hat. Und um jeden Gedanken an Zufall
auszuschließen, ein wiederum ganz ähnliches Gebet eröffnet
auch das siebente Buch der Mathesis und ergänzt sich mit dem im
fünften Buch zu einem vollkommenen Ebenbild des christlichen.
III
Der Beweis für diese Behauptung wird hier einfach durch
Zusammenfassung der so verschiedenartig gebrochenen Strahlen
geliefert. Ich zerlege die Gebete des Firmicus in ihre einzelnen
Sätze und schreibe jedem die christlichen Parallelen bei aus
294 F. Skutsch
jenen Stellen, deren liturgisclier Charakter schon von den oben
genannten Gelehrten durch Vergleich mit den CA erkannt
worden ist oder die ich hier zum erstenmal auf Grund des
gleichen Indiciums beiziehe (insbesondere Theophilus an Auto-
lycus). Die Sätze des ersten firmicianischen Gebetes habe ich
fortlaufend numeriert. Wo die des zweiten sich damit inhaltlich
decken oder berühren, habe ich die beiden Fassungen als
a und b unter dieselbe Nummer gesetzt; diejenigen Sätze des
zweiten Gebets aber, für die im ersten eine Entsprechung fehlt,
habe ich als 10 — 12 zwischengeschoben.
Im übrigen habe ich meiner Zusammenfassung nur noch
wenig Torauszuschicken. Ich habe nicht zu erschöpfen versucht.
Nicht nur, daß sich gewiß noch bei andern christlichen Schrift-
stellern als den hier herangezogenen Benutzung der Liturgie nach-
weisen lassen wird^ — ich hätte auch aus den von mir angeführten
noch mehr beischreiben können. Anderseits bin ich daraufgefaßt,
daß man vielleicht nicht alle meine Vergleiche berechtigt finden
wird. Man möge aber .hierbei folgendes bedenken. Ich muß
des Vergleiches halber aus dem Zusammenhang reißen, und
diese Isolierung verringert bisweilen die unmittelbare Verständ-
lichkeit eines Satzes und damit die Ähnlichkeit des Verglichenen,
die sich im Zusammenhang ohne weiteres ergibt — daher ich
auch den Leser dringend bitten möchte, wenigstens einige der
Stellen (namentlich etwa CA, Theophilus und Novatian) im
Original nachzulesen. Dies gilt besonders, wo etwa der Schrift-
steller die Liturgie für seine Zwecke so umformt wie Irenaeus,
der sie in Frageform umsetzt: „was haben die Heidengötter
getan, das der Schöpfung unseres Gottes sich vergleichen ließe?
quos caelos firmaverunt? quam terram solidaverunt?" usw. Auch
die größere oder geringere stilistische Eleganz des einzelnen
Benutzers kann natürlich äußerliche Difi'erenzen hervorbringen.*
* Ähnliches z. B. bei Lactant. inst. II 9.
* Siehe z. B. über den stilistischen Charakter des ersten ClemenS'
Briefes Harnack Sitz.-Ber. d. Berl Akad. 1909 S. 69.
Ein neuer Zenge der altchristlichen Liturgie 295
Endlich ließ es die verschiedene Zerlegbarkeit der Sätze oft
zweifelhaft, zu welchem Firmicussatz eine Parallele am prak-
tischsten beizuschreiben war. Zwar habe ich darum einige
Wiederholungen nicht gescheut; aber ich rechne doch vor allem
darauf, daß der Leser das Ganze zu überblicken versucht
Indes es soll nicht scheinen, als ob ich für meinen Beweis
Nachsicht erbitte; die braucht er nicht, denn er verträgt manchen
Abstrich. Die Reihenfolge der Exzerpte habe ich belassen, wie
sie sich mir zuföllig ergeben hatte; nur daß ich die CA voran-
stellte, war selbstverständlich.
1 Qui per dies singulos caeli cursum celeri festinatione con-
tinuas.
CA VII 34 S. 426 Z. 27: Jta^tpatig tf cpoiax^qti; . . . &mtQußaxov
öco^ovTEg TOP öokixov usw., s. zu Nr. 9.
Min. Fei. 17,5: caelum ipsum vide quam late tenditur, quam rapide
volvitur.
Clem. Rom. ad Cor. I 20 (Patres apostoL ed. F. X. Funk I» S. 126
Z. 4): Ol ovQavol zy öioixrjaei avvov Galevofievoi iv et^^vy
{moxuOßovrai avrtp.
Novatian de trinit. Anfang: qui caelum alta sublimitate suspenderit.
Es folgen Sonne, Mond und Sterne, dann: haec omnia legi-
timis meatibus circumire totum mundi ambitum voluit etc.
(vgl. Nr. 9).
Novatian (= Ps.-Cjprian Bd in H.) de spect. 9 S. 11 Z. 13:
astrorum micantes choros et assidue de (?) summa mobilitate
fulgentes.
Theoph. ad Autol. I 6: Gtoiieicov zbv iVTay.rov ögöfiov . . . t^v ovqu-
vicov Tta^TioiKiXov Ktvtjöiv usw., s. Nr. 9.
MuQz. £rt£vG. S. 12 Z. 22 Gre?. : äözigcov lOQohg iv ovQavä <patSQvvag
usw. usw. (lat. S. 11 Z. 22: lunae cursum certis metarum
anfractibus per plateas caeH ire constituit etc.).
2a) Qui maris fluctus mobili agitatione perpetuas.
b) Qui maris fluctus intra certos terrae terminos coartavit.
CA TU 35 S. 430 Z. 1: d^älaößa Kvuaivo^tvri rtertiörjzai afiiicOy
rrjv ßT}v ßovXriGiv TtetpQixvia. YIII 12 S. 498 Z. 27: o t^v
fieydkyjv d^dlaGßav j;taptffag r^g y^g. 500, 4: 6 avazrjßccfisvog
aßvößov y.al ^iya xvzog ctvzrj 7t£qt.9sig, aXuvQäv i'ödzotv
296 F. Skutsch
öEöcoQSv^sva Ttsldyti . . 6 nvevfiaöl Ttors fiev avzriv xoQvq)S)v
elg OQicov fieys&og, Ttore 6s ötqcovvvcou avrriv elg nsöiov, xul
nore ^ev infiatvcov %£i^&vi^ noxe dl n^avvav yaXi^vri.
Das. VII 34 S. 426 Z. 12: 6 öia'/^coQiöag vöaru vödrcov öregsco-
(luri', Z. 21: avxrjv Ss t-^v &(iXa6Gav n&g av rig i'K(pQd6EUv;
^xig eQ%sxai (lev ano TiEXdyovg ^atvofiivrj, TtaXivÖQOfist 6e änb
ipdfifiov usw.
Min. Fei. 17, 9: aspice oceanum: refluit reciprocis aestibus.
Clem. Rom. S. 126 Z. 14: t6 xvxog xi]g ccTteiQOv &ald66r}g %axd xrjv
öri(iiovQytav avxov ßvöxad'sv slg xdg Gvvaycoydg ov itaQEKßatvei
XU TtSQtxs&eifisva avxrj kIsi&qu usw.; cf. S. 140 Z. 12 ff.
Novatian trin.: qui . . . maria soluto liquore diffuderit . . . fines
(maris) litoribus inclusit, quo cum fremens fiuctus et ex alto
sinu spumans unda venisset, rursum in se rediret nee ter-
minos concessos excederet, servans iura praescripta.
Ders. de spect. S. 11 Z. 17: extensa maria cum suis fluctibus
atque litoribus.
Theoph. 17: 6 ßvvxaQdößcov xb Kvxog xfjg d-aXdßörjg kuI iiypv xa
KVfiaxa avxrjg, 6 öeöito^cov xov xgdxovg avxrjg etc.
MaQX. Sjtive. S. 12 Ti. 2b: neXdyrj övv aiyiaXoig 'Kv^axovGi xexeiitö-
fiivcc b vofio&ixrjg XQtGxbg övveöxrjßaxo.
3a) Qui terrae soliditatem inmoto fundamentorum robore ro-
borasti.
b) Qui terram in medio collocatam aequata moderaiione
sustentat.
CA S. 498, Z. 15: xrjv yi^v iit ovdevbg tÖQVöag ... 6 niq^ag 6xE-
Qicona; 500, 10: 6 . . . xbv . . . xdffftov . . . TtSQißcpiy^ag sig
eÖQav dxQefirj yrjg aöcpaXsßxdxrjv.
Das. S. 426 Z. 12: 6 yrjv sÖQdßag.
Clem. Rom S. 140 Z. 10: yrjv . . . ijÖQaaev enl xbv ccatpccXrj xov
ISlov ßovXi]fiaxog ^SfiiXiov.
Novatian trin.: qui . . . terram deiecta mole solidaverit.
Ders. de spect. S. 11 Z. 16: terrae molem libratam cum montibus.
Iren, contra haer. 11 30, 3: quos caelos firmaverunt? quam terram
solidaverunt?
Theoph. I 7: 6 xavvöag xbv ovQavbv ftovog xat d'elg xb svQOg xijg
KyV?y '^'^ ovQUVov . . 6 d'e^eXi-coßag r^v yrjv inl x&v {^ddxcov . . .
6 ■9'fog xfj öocpitt i&E^eXtooßs xrjv yrjv.
MuQx. Z%EvG. S. 12 Z. 24: oixovfiivrjg nXdxog ccitEQavxov avv xoig
OQEÖtV OQOd-EXT^aag.
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie 297
■t Qui laborem terrenorum corpomm noctumis soporibus re-
creasti.
CA S. 498 Z. 16: xul vvv.xu x«i fifiJQav yMxaaKtvdöag (auch zum
folgenden); S. 498 Z. 18: xci z^ xovrov {(patibg) 6v6ioi.fj
Inayuyiüv xb öKOxog £tg ccvaTcavhtv x&v tv xä xöofioi xtvov-
(livcov ^cocov.
Das. S. 426 Z. 18: xai vv^ ayvofiü^ixo Kai rmiqa 7iQ06riyoQ£vexo
(auch zum folgenden; hier besonders muß man den ganzen
Zusammenhang in den CA beachten).
Min. Fei. 17, 6: quid tenebrarum et luminis dicam recursantes
vices, ut sit nobis operis et quietis altema reparatio?
Novat. de spect. S. 11 Z. 11: solis ortum aspiciat, rursus oecasum
mutuis vicibus dies noctesque revocantem (auch zum folgenden).
5 Qui refectis viribus rursus gratiam dulcissimi luminis reddis.
CA S. 499 Z. 17: 6 i^ayccyatv q>&g ix d^rjGavQäv; 19: ö xbv ffkiov
xcc^ag sig aQ'iag r^g i]uiQag iv oi'Quvä.
Das. S 426 Z. 17: <pä)g de nal ^iiog eig rifugag xai nutqnCov
yovi]v yeyivrjvxut.
Min. Fei. 17, 6 (siehe oben).
Clem. Rom. S. 126 Z. 5: >;uf?a xe xai vv| xbv xnayuivov vii
avxov ÖqÖ^ov öiavvovoiv, ftTjötv aXXi]koig i^-xo6i^ovxa.
Novatian (s. zum vorigen).
Clem. Alex, tlg xbv naiS. V 13: 6 Sei^ag avxbg i]^iQav xe xai cpäog.
Iren. 1. 1.: quae luminaria elucidaverunt? (wohl eher auf Schaffung
der Sterne zu beziehen).
Theoph. I 6: i^äycnv xb <pä>g xb yXxmv xai xb Tto&scvbv xai Irtt-
XEQ'xhg ix d^rjOavQ&v ai'xov.
MaQX. 2%£v6. S. 12 S. 19: og ju.fr« xrjv ^ocpiQccv xai yvocpüSi]
vvxxa 'Öq&qov civixBiXtv usw. (lat. S. 11 Z. 20: qui post
tenebrosam et caecam noctem lumen prodire iussit),
6 Qui fragiiitatera corporis divina mentis inspiratione sustentas.
CA S. 500 Z. 20: xai ov uovov xbv xoöuov idijuiovgyt^öag, cdXä
xai xbv xo6uo:toXixj]v uvd'Qa:rov . . . -xfxoi^xag avxov ix '^v]lf^g
ad^avüxov xai ödo^caog öxsöaöxov.
Das. S. 428 Z. 7: ix juv xäv xsaac'iQcov öcofidxcov öianXdöag avx(5
to eäfia, xaxaaxevccöag d' at»Tc5 tj^v ipvir]v ix xov (lij bvxog.
Min. Fei. 17, 4: numen praestantissimae mentis quo omnis natura
inspii-etur moveatur alatur gubernetur.
Novatian trin.: hominem quoque mundo praeposuit et quidem ad
imaginem Dei factum, cui mentem et rationem indidit et
298 F. Skutsch
prudentiam, ut Deum posset imitari, cuius etsi corporis
terrena primordia, caelestis tameu et divini halitus in-
spirata substantia.
Theoph. l 7 : ov Tj Ttvorj ^moyovst xb nav' og iav Gvßxy ^o nvev^a
TtccQ eccvroä mksiipsi ro n&v. rovrov ^«Aerg, äv&QcaTie, xovtov
xb TCVEVficc ccvaTCveig.
7a) Qui omnem operis tui substantiam salutaribus yentomm
flatibus vegetas.
b) Qui ventorum flatus cum quadam facit necessitatis mode-
ratione variari.
CA S. 498, 22: 6 Ttotrjöag . . . ccsqu fcouxöv; 500, 18: axa&iibv
avsfjicav SiaTtveovxcov ote TtQOöxay^&wGiv Ttaqä 6ov.
Das. S. 426 Z. 12: 6 öia'ji^coQißag vdaT« vödxav Gre^fwftart aal
Ttvsvfia ^(OTtKov xovtoig ifißaXcov.
Clem. Rom. S. 126 Z. 21: avificov ava&fiol naxcc xbv löiov KuiQbv
xrjv XsixovQyiav ccvx&v ccjtQOßKOJtcog iittrslovCtv.
Novat. S. 11 Z. 19: extensum aerem medium tenuitate sua cuncta
vegetantem.
Theoph. I 7: 6 d'EiiEXcdoGag xrjv yfiv . . . Kai dovg nvsvfia xb xoicpov
wiixTijv, 0-5 '^ Ttvor) ^(ooyovsi xb näv, og iav ()v6')(rj xb nvsvfia
naq' iavxä inXeitpei xb Jtäv.
MuQX. Z%Ev6. S. 12 Z. 27: atQu . . . dioin&v, jfoxe ftev iq)aitx6^£vov
vs(peXS)v, OfißQOvg xe aal ii^si^&vag iitifisxQOvvxa xrj yrj., noxe
yaXrjvi&vxa Kai svSiov (lat. S. 11 Z. 29: laxavit nubibus cur-
sum, ut illic influant pluviam ubi ipso iubente eas distinxerunt
flabra ventorum, quae nunc tepenti molliore temperant sae-
culum, nunc rigenti algore penetrant mundum, ut fertilitatera
agris impertiant et viventium omnium muniant sospitatem).
8 a) Qui fontium ac fluviorutn undas infatigabili necessitate
profundis.
b) Qui terram perennibus rigat fontibus.
CA 498, 22: 6 noitjöag iidcoQ ngbg nöatv kuI Kcc&aQaiv, 500, 10:
6 Ttoxafiotg Sia^coßag xbv . . . KOdiiov Kai ')^sifidQQOig iitiKXvöag
Kai nriyalg äevdoig (is&vöag.
Min. Fei. 17, 9: vide fontes: manant venis perennibus; fluvios
intuere: eunt semper exercitis lapsibus.
Clem. Rom. S. 126 Z. 23: aivaol xs nriytti, n^bg dnöXavGiv kuI
'hydav 6rjiiiovQyf]&£taai^ dl^a iXXsliltecag Ttagixovxai xovg tt^oj
^mfjg dv&QCoitoig fia^ovg.
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Litorgie 299
Novatian trin.: fontium ora reseravit et lapsuris fluminibus infadit.
Ders. de spect. S. 11 Z. IH: profusa flumina cum suis fontibus.
Iren. 1. 1.: quae flumina abundare fecerunt? quos autem eduxerunt?
Theoph. 1. L: Tttjyäv rs ykvueQ&v xat Tcorafiäv asvdcav Qvaiv.
MaQt. Znsvö. S. 12 Z. 24: noxa^ovg äiväovg avv nrjyalq a<p96voig
TtaQSxcav (lat. S. 11 Z. 24: fontes aperuit . . . perpetuos cursus
fluminibus contulit).
9 a) Qui varietatem temporum certis dierum cursibus reddis.
b) Qui solem formavit et lunam, qui omnium sidenim cursus
ordinesque disposuit.
CA S. 426 Z. 27: itaficpaeig rs qiaaxiiQsg xovtodv (divögav xal
^(ocov seil.) ri&t]voi, aTtuqußcaov aco^ovreg zbv döXixov xat tuci^
ovösv TtaoaXXdaöoircsg tTj? öTig Tr^oöray^g, cdX^ otit] uv mXevOrjgf
xavTt] civiGfpvQL Kul övovßtv sig örjfieia xuigwv %ai iviavx&v.
CAS. 498 Z. 19: o xbv rjXiov rd^ag eig d^idg r^g Tifiigag kv
ovQuvä «al TTjv GsXiQvrjv sig ccQiag xT]g vvKzog.
CAS. 500 Z. 13: iTcXriQcaöag xbv aoöfiov xat öunoöfiijöag avzbv . . .
iviavx&v KVTiXoig, (x.rjväv rjuegäv KQi&fioTg, xqotiSiv xd^sGiv.
Min. Fei. 17, 5: caelum ipsum vide . . . quod in noctem astris
distinguitur vel quod in diem sole lustratur . . . vide et annum
ut solis ambitus faciat, et mensem vide ut luna auctu senio
labore circumagat; ib. 7: quid cum ordo temporum ac frugum
stabili varietate distinguitur . . . qui ordo facile turbaretur,
nisi maxima ratione consisteret.
Clem. Rom. S. 126 Z. 6: i^Xiog xe nal ösXi^vr}, döxegcov x£ x^Q'^'' ''«t^
xriv Öiaxayrjv avxov iv Ofiovota dix^ Ttdörjg naQSKßdöecog i^eXiö-
GovGiv xovg imxsxayfiivovg avxoig OQißfiovg.
Novatian trin. 1: in solidamento caeli luciferos solis ortus excita-
vit, lunae candentem globum ad solacium noctis mensurnis
incrementis orbis implevit, astrorum etiam radios variis fulgori-
bus micantis lucis accendit et haec omnia legitimis meatibus
circumire totum mundi ambitum voluit, humano generi dies
menses annos signa tempora utilitatesque factura.
Ders. de spect. S. 11 Z. 11 ff.: solis ortum aspiciat . . ., globum
lunae temporum cursus incrementis suis detrimentisque
signantem, astrorum micantes choros assidue de (?) summa
mobilitate fulgentes, anni totius per vices membra divisa et
dies ipsos cum uoctibus per horarum spatia digestos.
Clem. Alex. V. 15: 6 öel^ag avxbg rjuigav xs xal g}dog, aal xbv
noXovGiv aGxqa vr}(i£Qxij Sq6(iov . . . xgo^mv xe Kaigbv evßxoxcag
ÖT^Gag kvkXo).
300 F. Skutsch
Iren. 1. 1.: quas emiserunt Stellas? . . . quibus autem circulis in-
frenaverunt ea?
Theoph. I 6: xaxavörjöov, d) av&QcoTCS, xa egya avrov, kuiq&v ^sv
%axa i^övovii akXay'r\v v.ca ccGxeqodv XQOTtccg, Gxotj^slcov xbv svxanxov
öqohov r]^eQü)v xe nul vvkxwv xal ^tjväv aal iviaxn&v xrjv
evxaKTOV noqdav . . . oicd xrjv x&v Xom&v äöxQov ypqdav
ytvo^ivtjv iv xä hvkIo) xov ovqkvov.
Magx. Unevö. S. 12 Z. 20 ff.: avaxoXag rjUov Kai övGsig ccvapxi^aagj
TjfiSQag XE Kai vvuxbg aXdXovg ötaXlayccg OQißag, ßsXiqvrjg Kvakcav
KQt&fibv SiavE(i(ov, ')(^q6vcov TCQOoöovg^ iviavx&v oiccl fxtjv&v
öxdaeig dtaaxrjöag, äßxeQcov ')(^OQOvg sv ovQccvä cpatögvvag (lat.
S. 11 Z. 21: qui . . . ortum solis et occasum segregavit, dies
constituit, tempora dispunxit, lunae cursum . . . per plateas
caeli Ire constituit, stellis quoque splendentibus varia claritate
caelum ornavit).
10 (Buch VII). Qui ignem ad sempiternam substantiam divinae
perpetuitatis inflammat.
CA VIII 12 S 498 Z. 25: 6 noiriaag tivq . . . ngog ivöetag avaTtkrjQCDGiv
v,ai xb d'EQfialvsö&ai '^fiäg aal (pcoxC^eßd-at vn avxov.
11 (Buch VII). Qui omnes homines feras alites et omne ani-
mantium genus divina artificii maiestate composuit.
CAVini2S. 500 Z. 1: koI xrjv fihv (^d'dXaxxav) ^cooig fiiKQOig '/.al
^eyccXotg nXrjd'vvag , xriv 6e (yJjv) 'q^iigoig aal aiid'ccßoig TzXrjQCo-
Oag. Alinlich Z. 13ff. , Z. 20: aal ov ^6vov xbv xoöjttov iörj-
^LOVQyrjßag , öcXXa xal xbv aoG^OTtoXixrjv ard-gconov iv avxm
ETtoirjöag.
Clem. Rom. S. 140 Z. 11 ff.: xd xe iv avxfj ^&a (poix&vxa xrj iavxov
öiaxd'^Ei iyiiXEvßEv slvai' &dXa66av aal xd iv avxfj ^&a nQOExoip.d-
6ag ivEY.XEiGEv xrj iavxov övvd^Ei . inl näßt, xb i^oitaxaxov . . .
avd'QfOTtov xatg UQaig Kai dfico^oig ;(£^<>iv STiXaGEv.
Min. Fei. 17, 10: quidue animantium loquar adversus sese tutelam
multiformem? . . . aut pedum celeritate liberas^ aut elatione
pinnarum? ipsa praecipue formae nostrae pulchritudo deum
fatetur artificem usw.
Novatian trin. 1 spricht von den multimoda animalia des Meeres:
. . . Post quae hominem quoque mundo praeposuit, et
quidem ad imaginem dei factum.
' Die Vermutun<; libratas Hegt nahe und wird durch die Klausel
empfohlen , scheint aber dem Zusammenhang nicht angemessen.
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie 301
Iren. 11 30, 3: quam multitudinem animalium formaverunt partim
quidem rationabilium partim autem irrationabilium, univer-
sorum forma ornatorum?
Theoph. I 6: yxcxavörjßov . . . r^v xs TiolmoiKilov yovr,v y.Ti}vä)v mQa-
:t66(ov YMi ■xvciivSiv '/Ml BQ'xexäv y.al vrjKxäv.
MuQX. ETitvö. 8. 12 Z. 30: Iv aiqi uiv fiixitogov oqutjv. ev vöaßi
Se vi]Kzöiv KuruXXrilov (pvGiv, ^(ocov 6k Siacpöoav tujcI iorc£z&v
Tuxl KvoaddXcov uvaQi^urjfia yivrj ini yijsi Ttoila de jiXtj&i}
ävdQConav iTtiÖEi^s (^lat. S. 1 1 Z. 28 ff.).
12 (Buch VII). Qui ad fabricationem omniam quattuor ele-
mentorum diversitate composita ex contrariis et repugnanti-
bus cuncta perfecit.
CA All 34 S. 428 Z. 7: ix fiiv xäv xeGsägcav öcouccxav 6ia:tXu6ag
uvxä (scU. Tü5 uvd'QcoTioi) xb eäfia. VUI 12 S. 500 Z. 22:
(xbv av&QcoJiou) xoß^ov Koötiov avaöei^ag . . . dib %ai junoitj-
Ttag avxbv ir. ^pv^f^g ■a^aväxov y,ai öäucaog öxedaßxov . . . xov
de ey. xäv xeöGaoav Gxoiyeiav.
Novatian trin. 2: in concordiam elementorum omnium discordantes
materias sie conectens, ut ex disparibus elementis ita sit unus
mundus ista coagmentata conspiratione solidatus, ut nulla vi
dissolvi possit usw.
13 Solus omnium gubernator ac princeps, solus imperator ac
dominus.
CA S. 496 Z. 18: xbv fiovov c.yevvijxov xal avaqjpv aßaßiXevxov
■Kai äöeGTCoxov u. ä. ö. S. 428 Z. 18: TtavxoKQccxog.
Min. Fei. 18, 7 cum palam sit parentem omnium deum nee princi-
pium habere nee tenninum, qui nativitatem Omnibus praestet,
sibi perpetuitatem . . . qui universa quaecumque sunt verbo
iubet, ratione dispensat, virtute consummat (auch zu allen
folgenden Stellen des Firmicus).
Clem. Rom. S. 126 Z. 26: 6 fuyag öjjfiiovgybg xai 8e6:i6xi]g xa>v
ccTidvxcov. S. 140 Z. 6: avxbg yccg b dtjuiovQybg y.a.1 öeßTtoxtig
xü)i' ciTtavxfov.
Theoph. I 7: 6 x&v bXav y.voiog. I 4: Ofo? 8e Xiyetat Sut xb xe-
Q'eiy.ivui xu nävxa . . . y.ai öia. xb d-ieiv iöxlv xb xQeieiv tuxl
xiveiv y.al ivegyeiv xal xgicpeiv y.al nqovoelv yxu xvßeoväv
xal ^aoTioeiv xä navxa. xvQiog öi iöxiv 6ia xb xvoieveiv avxbv
xäv oXtov . . . Tiuvxoxodxcoo 6s oxi usw. usw.
14 Cui tota potestas numinum servit.
CAS. 498 Z. 10: 6 öt* avxov ngb navxtov jrot^öcg xu XsQOvßlfi
yxcl xä SeQacpiu, ai&vdg xe xai axocexucg. dwccueig xe xai
e^ovaiag, u^x'^S t£ xai ^Qovovg, ägxj'^yyeXovg xe xai ayyeXovg.
302 F. Skutsch
1 5 Cuius voluntas perfecti operis substantia est (siehe oben S. 293).
CAVn 35 S. 430 Z. 25: örs yccQ d^iXstg, nd^tGti aoi rb 6vvaö9ai.
16 a) Cuius incorruptis legibus con venia natura cuncta sub-
stantia perpetuitatis ornavit.
b) Qui omnia necessitate perpetuitatis excolit (excoluit?).
CA 496, 26 ff?
17 Tu omnium pater pariter ac mater, tu tibi pater ac filius
uno vinculo necessitudinis obligatus.
S. z. B. CA 498, 9: 6 d-sbg Kai narriQ rov ^ovoyevovg vtov 6ov.
Vgl. Dieterich Mithrasliturgie S. 156.
IV
Man muß ähnliche Stellen der klassischen Profanliteratur,
wie sie auch Weyman heranzieht, vergleichen, um die ganze
Festigkeit der Verbindung zwischen Firmicus und den Christen
zu erkennen. Bei Cicero de nat. deor. II 91 f. und 98 (d. h. doch
wohl Poseidonios) z. B. findet sich wohl eine ähnliche Lob-
preisung des Schöpfers in den Einzelheiten der Schöpfung und
die Übereinstimmung geht gelegentlich bis in die Worte
(z. B. 98: adde huc fontium gelidas perennitates, liquores perluci-
dos amnium), aber ganz fremde Dinge stehen dazwischen, andere
fehlen; es ist eine gewisse Familienähnlichkeit, die ja ihren
natürlichen Grund haben wird,^ aber nicht jene sprechende in
jedem Zuge, die das Gebet des Firmicus und das christliche
geradezu zu Zwillingen stempelt. Ahnliches gilt von Seneca
Marc. 18 und Helv. 9, 6. Vor allem fehlt an diesen rein kon-
templativen Stellen die Gebetsform, die die einzelnen Schöpfungs-
akte in Form von Relativsätzen oder Partizipien als Apposita
von Deus (oder wie der Schöpfer sonst genannt wird) bringt.
Gerade hierin zeigt sich dagegen eine gewisse Verwandt-
schaft des Firmicusgebets mit Formeln der in die Zauberpapyri
' Vgl. über den Zusammenhang griechischer und christlicher Gebete
neuestens Th. Schermann, Griech. Zauberpapyri und das Gemeinde- und
Dankgebet im I. Klemensbriefe (^Texte und Untersuchungen XXXIV 26).
Ein neuer Zenge der altchristlichen Liturgie 303
eingeschobenen Gebete und Beschwörungen wie ogxCtco 6b ^bov
(pcaötpoQov ädäficcötov . . . tov tivxvovvxu tu Vc'gcjj xai vsxlZovxa
rrfV yrjv . . . bv vy.vil 6 ovQUVog täv ovQuväv . . . xbv :i£qi-
^ivzu ogtj rfi &ttXä66ri rstxos i^ amiov xal ixLzä^avra avtfj
yuil vxsQßfivav . . . tov ewösCovra Tovg reöeagag ävsiiovg . . .
xbv icpogävxa ini yf^g xai Tioiovvxa exxgofiu xä Q^eusXia
avx^g usw. (Pap. Paris. 3009, bei Dieterich Abraxas S. 138) oder
xCg d* ävBiiovg ixiXsvösv ix^iv iviavöia igyw,
slg ^sbg ad'dvaxog xdvxav ysvaxag 6v 3CS(fvxag
xai xgonBovöLV
ovgBa 6vv :tadCoig TCVjyäv Ttoxo-iiäv xb xä gal^ga
xai ßv66oi yaCrjg xai nvBvnaxa %dvxa xä g:vvxa.
oi}gttvbg v^ifparig 6b xgBfiSL xai aäöa &ttXu66a^
xvgiB aavxoxguxag üyiog xai Siönoxa xdvxcov,
6fi övvdiiBi öxoixBia hbXbl xai q^vBd-' dzavxa,
rjBXCov ^r^vr^g xb dgöiiog vvxxög xb xai i]Ovg
(nach dem Leydener Papyrus von Dieterich hergestellt Fleckeis.
Jahrb. Suppl. XVI 778f.)^. Aber auch hiermit (um auf die
Anlehnung der Pariser Beschwörung an Formeln des Alten
Testaments" u, dgl. nicht erst einzugehen) hat Firmicus weder
im Ausdruck noch in der Anordnung noch in der Auswahl der
einzelnen Aussagen solch starke Verknüpfungen wie mit der
Liturgie der CA.
V
Firmicus war entweder Christ in aller Form, bereits als er
seine Astrologie schrieb, oder mit dem Christentum mindestens
innig vertraut, wie er sich ja auch von anderen Kulten seiner
Zeit nach Ausweis der apologetischen Schrift genaue Kenntnis
' Papyr. Brit. Mus. XL VI i^bei Kenyon) Z. 473 ff.: inixalov(iai os
TOV XTLGavTa yfiv . . . xai Tt&v TtvBv(ia xai tov 6V6Ti^0avra tt]V 9oila66av xai
ßaXsvtov ZOP ovgavov, 6 xagieaq xo cpmg &no zov exörovg. Auch in
Schermanns oben S. 302 Anm. zitierter Schrift finde ich nichts "weiter, was
hier in Betracht käme.
* Siehe Dieterichs Nachweise.
304 ^^- Skutsch
verschafft hatte. Welche von beiden Möglichkeiten man an-
nimmt, jedenfalls haben wir es mit einem höchst charakte-
ristischen Fall von religiösem Synkretismus zu tun. Neben dem
christlichen Formular, mit dem zu Anfang von Buch V (S. 280,
4) und Buch VII der quicumque es deus angerufen wird, steht
nicht nur die Bezeichnung des Astrologen als antistes Solis ac
Lunae et ceterorum deoruni, per quos terrena omnia guhernantur
(1130,2 S. 85, 21), sondern auch das große Gebet für Kaiser
Constantin am Schlüsse von Buch I, das sich an die sieben Tla-
neten' richtet, zu denen Sol optimus maximus (S. 38, 6) und
luppiter Tarpeiae rupis hdbitator (S. 38, 16) zählen.
Und darin liegt das Eigenartige dieses Falles. Denn daß
gläubige Christen sich der Astrologie ergeben, ist trotz Augustin s
ebenso scharfer wie glänzender Polemik oft genug dagewesen —
nur haben sie dann eben den Planeten die göttliche Natur ab-
gesprochen.^) Ich möchte keine Beispiele dafür häufen: an den
Hermippus z. B. denkt jeder; anderes bei Krumbacher, Byzant.
Liter.^ S. 627. Auch auf den Stephanus philosophus im
Catalogus cod. astrol. II 181 ff. sei verwiesen (Anfang des 8. Jahrb.),
der den Satz aufstellt: ei Sd tig tag rovrcov hvsQyeCag avu-
XQBTtsiv k%i%£iQri6oci, £v&vg tilg tov dsov öocpiag ccovi]tiiQ
yCyvetav. tavtb yaQ iötL tovxG) t6 XiyBiv ravra ^dtrjv TCagä
tov dsCov Xoyov nQorJx&cci usw. (S. 183, 34 ff.), worauf
S. 185 ein Abschnitt folgt: ort ovx avt e^ovöla ol adtSQsg
IvEQyovGiv, all' äitb tilg tov dij^LovQyov dvvd^sag. Aus
neuerer Zeit habe ich Entsprechendes in den Mitteilungen
der Schles. Gesellschaft für Volkskunde IX S. 38 erwähnt und
setze hier wenigstens einiges aus der Widmung eines in seiner
Zeit hochberühmten Werkes, der Astrologia Gallica des Jean
Baptiste Morin (Haag 16(il, darin das Horoskop Ludwig XIV.,
Richelieus usw.), her: Epistula dedicatoria ad regem regum et
dominum dominantium lesum Christum filium dei. ... Tu enim
* Vergl. Boll Neue Jahrbücher 1908 I S. 109 (besonders Anm. 2).
Ein neuer Zeuge der altchristlichen Liturgie 305
me fecisti . . . non Atheum, non Idololatram, non Mahumetanum,
non ludaeum, sed Christi anum ; non Haereticum, non Schisma-
ticum, sed Catholicum ... Tu hoc opus Astrologiae ... ad
honorem tuae infinitae sapientiae . . . absolvere mihi dedisti
mentemque meam ad te perpetuo attendere voluisti, ne quid
contra supercoelestem tuam doctrinam veramque Religionem
scriberem usw.*
* Cardanus hatte das Horoskop Christi aufgestellt und Morin ver-
teidigt das in seiner Vorrede S. XXI. Die Vorrede ist überhaupt das,
was an dem fürchterlichen Wälzer allein noch ein gewisses Interesse
bietet, z. B. in der Polemik gegen GassendL, der die Astrologie angegriffen
hatte wie einst die Akademiker. — Um zum Schluß noch einmal zu
Firmicus zurückzukehren, sei die Stelle S. 14, 2 ff. Ziegl. hier verbessert.
Die platonische Dreiteilung der Seele ist undenkbar, sagt F.: si di-
viditur anima . . ., dissoluto ordine suo incipit esse quod fuerat. Den
richtigen Sinn gibt desinit statt incipit, aber wer wird das glaublich
finden? Weyman bringt in der Rezension von Ziegler drei Stellen aus
christlichen Schriftstellern mit incipit esse quod non erat, desinit esse quod
fuerat (Optat. Milev. V 7) u. ä. und schlägt daher vor incipit esse quod
non fuerat. Das ist unannehmbar, weil es den Rhythmus des Satz-
schlusses stört (— o — — o). Das Richtige geben Weymans Parallelen
ohne weiteres an die Hand: incipit <^esse qi*od non erat, desinity esse
quod fuerat.
Archiv f. BeligionfwisBenachaft XIII
Spekulation und Volksglaube in der ionischen
Philosophie
Von Otto Gilbert in Halle a. S.
Daß die ionischen Philosophen — Thaies, Anaximander,
Anaximenes von Milet, Heraklit von Ephesus — einen Hylo-
zoismus und Pantheismus vertreten, ist die allgemeine Annahme.
So bezeichnet z.B. Zeller, Philosophie der Griechen 1^, 672 f.
Heraklits Spekulation als „ausgesprochenen Pantheismus".
Doch hat man noch niemals im einzelnen nachzuweisen unter-
nommen, wie jene Forscher in ihren Schriften diese ihre
pantheistische Grundanschauung in deren Konsequenzen ent-
wickelt und zum Ausdruck gebracht haben. Es wird daher
ein Versuch, die grundlegenden Gedanken und deren logische
Folgerungen aus den eigenen Aussprüchen der ionischen
Denker, wie aus den über ihre Lehre erhaltenen Referaten
wieder herzustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen, als
berechtigt anerkannt werden müssen.^
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Grundgedanken,
auf den sich das ganze System der vier Denker aufbaut, so
wurzelt derselbe in der Einheit, der Einheitlichkeit der Materie.
Die ganze Erscheinungswelt in all ihrer Verschiedenheit und
Wandelbarkeit ist aus einer einzigen Grundsubstanz hervor-
gegangen, deren Entwicklung aus sich selbst die mannigfachen
Stofformen hervorbringt, in denen die Materie tatsächlich ge-
' Ich zitiere im folgenden nach Diels Fragmente der Vorsokratiker,
1. Aufl. Berlin 1903; 2. Aufl. 1906/07. Ich verweise zugleich im allgemeintn
auf meine Abhandlungen: lonier und Eleaten im Rhein. Mus. Bd 64, 181 fi".
und Heraklits Schrift jtsgl (pvctog in den Jahrb. f. d. Mass. Altertum Bd 23,
161 flF.
Spektilation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 307
schieden erscheint. Die entscheidenden Definitionen des Ari-
stoteles ovQ. ri. 298^ 29 ff.; nstaq). A 5. 983* 24 ff. betonen
bestimmt diese Lehre von der Einheit einer, allen Dingen zu-
grunde liegenden, Substanz, eines sv, aus dem alles, was exi-
stiert, entsteht: es ist somit alles, d. h. alle Dinge der Welt,
nur die y.Bxu6xriiidTi6ig oder die %a^ri dieser einen ovöCa oder
9?v(?iS, als des i :tox£C^svov , des stofflichen Substrats. Der
Stoff ist und bleibt demnach einheitlich: er unterscheidet sich
in seinen einzelnen Entwicklungsphasen nur durch die sich
wandelnde Struktur, indem er — aus eigener Kraft — sich
bald fester zusammenschließt, bald loser sich gestaltet, und,
diesen verschiedenen Zuständen entsprechend, mit verschiedenen
Namen, als Erde, Wasser, Luft, Feuer, bezeichnet wird. Daher
alle Berichterstatter gleich dem Aristoteles stets das ylyviö^at
aller Dinge J| iv6s betonen So sagt Theophrast bei Aetius
1, 3, 1. 3. 4. 11, daß nach der Lehre der lonier alles aas dem
einheitlichen Grundstoffe entstehe und in eben diesen sich
seinerzeit zurückbilde; der Verfasser der Schrift thqI q:v6Log
ttvd-Qchxov (Hippokrates ed. Littre 6, 32) sagt gleichfalls von
den loniern iv xi slvui 6 tC l6xi xal tcvt* slvai xo Iv xal xo
näv, Diogenes von Apollonia, der auch seinerseits das ionische
Dogma vertritt, betont (fr. 2 Diels) Ttdvxu tu 5vxa utc'o xov
avxov ix£QOLov69ai xal xb avxb etvai; Sextus Emp. adv. mathem.
10, 315 definiert die ionische Lehre mit den Worten i| ivbg
de ysysvfje^ai xä ndvra ^iXovöiv. Daher es nach der Lehre
der lonier überhaupt kein wirkliches Entstehen und Vergehen
gibt, sondern alles nur auf dkXoC(o6ig oder 6X€QoCc)6ig eben
jenes Grundstoffs beruht: vgl. darüber meine meteorologischen
Theorien 254 ff.
Wenn sich hiernach die ionische Weltanschauung als ein
konsequenter Monismus darstellt, so gestaltet sich derselbe nun
dadurch zum Pantheismus, daß die aller kosmischen Ent-
wicklung zugrunde liegende einheitliche Substanz zugleich
als das Göttliche, die Gottheit schlechthin, erfaßt worden ist.
20*
308 Otto Gilbert
So sagt Aristoteles von dem ä^tsiQov des Anaximander <pv6. F 4.
203^ 13 tovt' slvai xh %^£lov; die Luft, welche Anaximenes
als die Urform der Materie und als die bleibende Substanz
aller Stoffentwicklung ansieht, wird von Theophrast bei Aetius
1, 7, 13 bestimmt als 6 d^ed? charakterisiert; und dem Anaxi-
menes schließt sich hierin wieder Diogenes von ApoUonia an,
der von seinem Luftstoffe, als der Grundsubstanz, (fr. 5 Diels)
sagt: ai^TÖ yaQ iioi rovto d^ebg doxsl slvai (hdschr. l'-O-og, von
Usener in -S-fdg verb.; vgl. dazu Aetius 1, 7, 17); für Heraklit
wird das Feuer — weil in seiner Lehre die Weltsubstanz
bildend — das Göttliche schlechthin (Aetius 1, 7, 22); die Schule
des Thaies endlich erkennt in dem Wasser (Aetius 1, 7, 11) die
göttliche Substanz aller Dinge {dvva^iiv d'sCav zLvr]Tixi]v)
Indem sich also diese göttliche Grundsubstanz der Welt — sei
dieselbe als Wasser, Luft oder Feuer, oder sei sie als ein noch
ungeschiedener Urstoff {ansiQov oder ccoQiötov) gefaßt — aus
sich heraus entwickelt und somit alle Stoffwandlungen nur
Entwicklungsphasen und verschiedene Zustände jener göttlichen
ovöCa sind, gestaltet sich die ganze kosmische Evolution zu einer
Entfaltung der Gottheit; alle Dinge, weil aus demselben ein-
heitlichen göttlichen Grundstoffe hervorgegangen, haben Anteil
an der Substanz und damit zugleich an der Gottheit. Der
ionische Monismus wird damit zum Pantheismus.
Ist hiermit der Grundgedanke gezeichnet, aus dem alle
ionischen Lehrsysteme, trotz ihrer Verschiedenheit in der Auf-
fassung des Grundstoffes, hervorgegangen sind, so fragt es sich
nun, ob wir noch genauer den Weg erkennen können, auf
dem die ionischen Denker die göttliche Substanz sich allmählich
in die Einzeldinge umbilden lassen. Hierfür ist ein Ausspruch
Anaximanders entscheidend, den uns Simplicius in seinem
Kommentar zu Aristoteles' Physik (p. 24, 18 ff. Diels) aus
Theophrasts cpvöixal dd|afc (Doxogr. p. 476) erhalten hat und
welcher uns einen tiefen Blick in die Weltanschauung jenes
Forschers tun läßt. Die Worte lauten: i^ av dh ij ysvsöCg
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 309
86X1 Tolg ovöi, xai xfjv (p&OQav slg xavrcc yCveö&ai xaxä xb
XQ£(ov. didövai yuQ avxä öCxr^v xal xCöiv «XAtjAois? t^s ädixCag
xaxä Tjjv xov xQOvov xd^iv. Sehen wir, was Anaximander in
diesen Worten sagen will. Zunächst ist klar, daß xä üvxa,
d. h. die Einzeldinge der Erscheiniingswelt, in ihrer Existenz
auf andere Faktoren zurückgeführt, aus anderen Substanzen
oder Stoffen hergeleitet werden. Denn daß unter den Dingen, aus
welchen («| av) die Zvxa entstehen und in welche {slg xavxa) sie
sich wieder auflösen, Stoffe oder Substanzen zu verstehen sind,
welche über den Einzeldingen stehen, und nicht etwa andere
Einzeldinge, ist klar: denn alle Einzeldinge — namentlich die
organischen Bildungen von Pflanze und Tier — gehen tatsächlich
bei ihrer (p^oga nicht in andere Einzeldinge über, sondern
lösen sich in ihre Urbestandteile, in ihre Elemente auf. Es
kann also der Ausspruch Anaximanders nur den Sinn haben,
daß die Einzeldinge aus den Grundstoffen, den Elementen ent-
stehen und in eben diese sich wieder auflösen. Als Grund-
stoffe Anaximanders, welche sich zunächst aus dem einheitlichen
ccTtsiQov entwickeln, kennen wir aber die vier Elemente: vgl.
meine meteorol. Theorien S. 44 und Aristot. cpv6. Fo. 204^ 22S.
Denn da die Worte J| öv — slg xavra bestimmt auf die
Existenz mehrerer Stoffe hinweisen, aus welchen die Einzel-
dinge hervorgehen und in die sie sich wieder auflösen, so
kann nicht an das äzsigov selbst gedacht werden, sondern es
können nur die aus diesem in einer ersten Evolutionsphase
ausgeschiedenen vier Elemente verstanden werden, welche
so als die Mittelstufen zwischen die Grundsubstanz des axeigov
und die Einzeldinge treten.
In dieser Auffassung stuft sich die Existenz der aus der
Ursubstanz entstehenden Gebilde gradweise ab. Denn da
Anaximander ein Vergehen des ganzen Kosmos annahm (Aetius 1,
3, 3), indem sich alles wieder in das ajcsigov, als in die ein-
heitliche Substanz, zurückbildet, so können die vier Elemente,
als die Grundformen der entwickelten Materie, nur so lange be-
310 Otto Gilbert
stehen bleiben, als der Kosmos selbst Bestand hat. Es ist also
allein die Grundsubstanz, das anEiQov, ewig und unvergänglich
[ad-dvatov xal ävaXsd'Qov^ &s (pTqöiv 6 'Ava^CficcvdQog Arist.
(pv6. r4:. 203^ 13); nach Bildung des Einzelkosmos sind es
sodann die vier Elemente, welchen eine bleibende Existenz
zukommt, solange eben der Kosmos in seinem Bestände sich
erhält; die Einzeldinge dagegen, welche wieder aus den vier
Elementen hervorgehen, haben nur Anspruch auf eine vorüber-
gehende Existenz, da sie nach einer längeren oder kürzeren
Spanne Zeit sich wieder in die elementaren Grundstoffe, aus
denen sie hervorgegangen, zurückbilden. Sie zerfallen in
ihren Zusammenhängen und werden wieder, was sie einst ge-
wesen, Erde und Wasser, Luft und Feuer.
Dieses stufenweise Abwärtssteigen der Substanz, wie es
sich in der Absolutheit der Existenz einerseits — im änsiQOv —
in der größeren oder geringeren zeitlichen Begrenzung ander-
seits — in den Elementen und in den Einzeldingen — aus-
spricht, tritt noch schärfer und charakteristischer uns entgegen,
wenn wir auf das persönliche Leben der Stoffgebilde und auf
ihren Anteil an der Gottheit blicken. Aus der Fassung der
Worte Anaximanders ergibt sich, daß derselbe durchaus noch
auf dem Standpunkte animistischer Weltanschauung steht;
jedes Einzelgebilde führt noch ein persönliches Leben. Und
ebenso nimmt alles und somit auch jedes Einzelding, wie wir
gesehen haben, teil an der Gottheit. So konnte Anaximander
den ganzen Kosmos oder ovgavög in seiner Gesamtheit als
d-eög bezeichnen (Aetius 1, 7, 12; Cic nat. deor. 1, 10, 25). Aber
es ist anderseits doch klar, daß die vergänglichen Dinge, von
denen Anaximander als charakteristisch nur die dÖLxCa aus-
zusagen weiß, einen weit geringeren Rang beanspruchen dürfen
als das äitaiQov in seiner Göttlichkeit schlechthin. Die Folgerung
ist unab weislich, daß die Substanz in ihrer Entwicklung in die
Einzelelemente und aus diesen wieder in die Einzeldiuge an
ihrer Absolutheit graduelle Einbußen erleidet: je tiefer sie
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 311
hinabsteigt in die irdische Welt, desto mehr büßt sie an
persönlichem Leben wie an Göttlichkeit ein.
Um das zu verstehen, müssen wir auch den zweiten Teil
des Ausspruchs Anaximanders einer genaueren Betrachtung
unterziehen. Es heißt hier von den bvta: didövai yäg avvä
dCxrjv xul rCöiv dX>.r}XoLg Tfjg ädixCag y.arä ttjv tov ;|jpdrou
tdhv. Die Dinge, als lebende und persönliche Wesen gefaßt,
stehen gegeneinander im Zustande der Feindschaft: das dXX^loig
wird zwar in der Aldina ausgelassen, steht aber handschriftlich
fest und ist unantastbar. Der Sinn der Worte kann also nur
der sein, daß die Dinge sich gegenseitig schädigen und be-
rauben. Wie dieses zu verstehen, scheint mir klar zu sein.
Denn fast immer treten uns die Einzeldinge in der Welt als
aus verschiedenen Grundelementen zusammengesetzt entgegen,
und diese Hereinziehung fremder Stoffe in die eigene Wesen-
heit erscheint wie ein widerrechtliches Aneignen fremden Guts,
eine ddixCa. Von diesem Standpunkte aus hat Anaximander
das ganze Getriebe der Welt aufgefaßt: es ist ein Kampf- und
Raubzustaad, welcher das ganze kosmische Werden beherrscht.
Kann überall da, wo die Einzelelemente nicht geschieden für
sich erscheinen, sondern die Dinge aus verschiedenen Grund-
stoffen zusammengesetzt sind, von einer Aneignung fremden
Stoffs gesprochen werden, so läßt sich diese Auffassung eines
Raubes überall durchführen. Im animalischen Körper z. B.
eignet sich der Erdstoff, den man als das eigentliche Substrat
und als den ersten Grundstoff bezeichnen kann, die übrigen
Elemente im Aufbau des Leibes an (vgl. dazu meine meteorolog.
Theorien S. 332 ff.): im Tode muß er dieselben wieder frei-
lassen, indem sie sich nun wieder mit ihren Grundstoffen
vereinen, Wasser mit Wasser, Luft mit Luft, Feuer mit Feuer.
Die Bildung der Wolke vollzieht sich — um noch ein anderes
Beispiel anzuführen — in der Weise, daß das Luftelement
einen Teil des Wassers an sich zieht, das letztere also um
einen Teil seines Stoffes und Volumens beraubt, um denselben
312 Otto Gilbert
für sich zu verwenden. Dieser Raub aber soll nicht bleibend
sein: die Luft oder die Wolke muß nach der Ordnung der Zeit
ihren geraubten Wasserbestandteil wieder hergeben und um-
gekehrt in der Umbildung von Luftteilen in Wasser Buße für
ihr widerrechtliches Tun geben. Die Zeit ist es, welche einen
Ausgleich aller dieser ä8iy,iai vornimmt, daher Anaximander
eben die Ordnung der Zeit entschieden betont. Die (p%-OQä
xarä tb XQsav wird im folgenden aaTic tijv tov %q6vov xd^iv
erklärt; die (p%-OQ(x. ist eben dCinri xal tCöig xfis ddixCag: weil
die kosmischen Gebilde für ihr Unrecht Strafe und Buße geben
müssen, gehen sie zugrunde. Damit tritt aber dem tatsächlich
bestehenden Kampf- und Raubzustande der Welt eine höhere
sittliche Ordnung gegenüber und diese letztere kann nur auf
t6 d^stov schlechthin, das absolut Göttliche des änsiQov, zurück-
geführt werden.
So vollzieht sich die ganze kosmische Entwicklung in
abstufender Folge. Zwar ist der Kosmos in seiner Gesamtheit
von Bewegung und Leben, wie von persönlichem Wesen und
Anteil an der Gottheit erfüllt: aber dieses persönliche und
göttliche Leben stuft sich, je weiter es sich von dem Urquell
der Gottheit entfernt, mehr und mehr ab. Denn indem sich
das göttliche anuQov in die vier elementaren Stoffe scheidet,
und indem es diesen, als Einzelpersönlichkeiten, die Freiheit
des Handelns läßt, öffnet es damit dem Unrechte, der vßQig,
Tor und Tür. Ist und bleibt die ewige Einheitssubstanz der
göttliche Gesamtwille der höheren Weltordnung, so treten ihm
nun in den Einzelwillen der Elemente und weiterhin in den
freien Entscheidungen der aus diesen sich bildenden Einzeldinge
Widerstände und Hemmungen entgegen, die damit zugleich zu
sittlichen Verfehlungen dieser Sonderpersönlichkeiten werden.
Dieselbe Weltanschauung, wie wir sie hier von Anaximander
haben nachweisen können, vertritt auch sein Schüler Anaximenes.
Hippolytus berichtet ref. 1, 7, 1 von seiner Lehre aiga üneiQOv
scprj rijv oiQX'^v slvai, il oi rä yivönsva xal rä ysyovöta xal
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 313
rä sGÖfisva xai d^sovs xai &Ha yCvsä&ai, zä 6b Xoi%a ix xäv
rovTov dnoyovcov. In dem Ausspruche, daß aus dem göttlichen
Urstoffe alles, was je geworden ist, wird und werden wird,
entsteht, wird mit voller Klarheit zum Ausdrucke gebracht,
daß der ganze Kosmos in all seinen Einzelerscheinungen eine
Evolution der Gottheit ist. Da aber die Worte tä yivopLEva
xai rä yeyovöta xal tä eöö^sva schon alles umfassen, was
existiert und je existieren wird, so kann man in den folgenden
Worten xai ^sovg ff. nicht etwas Neues und Weiteres erkennen:
sie können nur als Erklärung und Scheidung jener ersten
Worte verstanden werden. Während der Ausspruch rä yivötieva ff.
die kosmischen Gebilde einfach nach ihrer Existenz allgemein
charakterisiert, erklärt der zweite Teil des Satzes xai ^tovg ff.
dieselben nach ihrer näheren oder entfernteren Stellung zur
göttlichen Grundsubstanz, dem ärJQ. Hier werden offenbar
zwei Phasen unterschieden: einmal d'eoi xai d^sta, sodann tä
koind. Die erste Entwicklungsphase aus der uqx^^ ^^^ ^'^P
schafft &soC (xai d-£la), dagegen gehen tä Xoina, d. h. tä 5vta,
die Einzeldinge, aus den ä:iöyovoi, d. h. aus eben den d^{o£,
hervor. Damit werden die ^soC als die unmittelbar von dem
aijp erzeugten, als seine Söhne charakterisiert, während tä
Xoixd, die Einzeldinge, erst in zweiter Linie aus der Grund-
Bubstanz stammen, da sie nicht direkt vom äi^Q selbst, sondern
von den aus diesem hervorgegangenen &eol abgeleitet werden.
Wer sind nun diese ^boC, die als Söhne und Erzeugte des
göttlichen äriQ bezeichnet werden? Da wir wissen (vgl. meine
meteorol. Theorien 44 f.), daß Anaximenes die andern drei
elementaren Grundstoffe in direkter Evolution aus der Grund-
substanz hervorgehen ließ, so ist damit von selbst eine Identifi-
kation eben dieser Elemente mit den ^boC gegeben: jedenfalls
müssen dieselben in erster Linie unter den %^boC verstanden
werden. Und diese unsere Auffassung des Berichtes Hippolyts
wird durch Ciceros Angabe bestätigt, welcher Acad. 2, 37, 118
sagt: Anaximenes infinitum aera, sed ea quae ex eo orerentur
314 Otto Gilbert
definita: gigni autein terram, aquam, ignem, tum ex his omnia.
Man wird unschwer in dieser Scheidung der drei Grundstoffe
einer-, der omnia anderseits die beiden von Hippoljt hervor-
gehobenen Phasen d'soC xccl d^sia und tä Xoltccc erkennen. Und
damit stimmen wieder die Worte Augustins de civit. dei 8, 2
überein, welcher von Anaximenes sagt: qui omnes rerum causas
aeri infinito dedit, nee deos negavit aut tacuit; non tamen ab
ipsis aerem factum, sed ipsos ex aere ortos credidit. Die
Grötter, welche hier aus dem aer als ihrer ocq^V hervorgehen,
können wieder nur die andern drei Elemente — wenigstens
in erster Linie — sein: da aber zugleich omnes rerum causae
auf die Grundsubstanz zurückgeführt werden, so können die
res, rä 'dvra des Anaximander, eben nur als von den Elementen
in einer zweiten Entwicklungsphase hervorgebracht erklärt
werden. Auch Anaximenes faßt also alle Dinge als persönlich,
d. h. er steht gleich dem Anaximander auf dem Standpunkte
animistischer Weltanschauung; und er läßt nicht minder auf
dem Wege einer stufenweisen Evolution alle kosmischen
Bildungen aus der göttlichen Grundsubstanz entstehen. Damit
wird wieder der ganze Kosmos mit der Gottheit verknüpft
und erhält selbst, da alles auf einer Umbildung des göttlichen
Einheitsprinzips beruht, Anteil an der Gottheit: aber dieser
Anteil stuft sich ab, je weiter die Entwickluug von der ccqxi^
selbst sich entfernt.
Und dem Anaximenes folgt wieder Diogenes von Apollonia.
Ist für ihn gleichfalls der äriQ (fr. 5 Diels) der alles regierende
und beherrschende und gibt es nichts, was nicht teilhat an
ihm, da der ganze Kosmos in all seinen Einzelteilen wieder
nichts anderes ist als die Umbildung und Ausgestaltung eben
jenes einen Grundstoffs, so wird damit bestimmt ausgesprochen,
daß die ganze kosmische Entwicklung die Selbstentfaltung des
Gottesprinzips ist. Anderseits aber hebt auch Diogenes den
Unterschied der Einzeldinge gegenüber der Grundsubstanz her-
vor, der sich vor allem (fr. 2) in der zeitlichen Begrenzung
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 315
der Existenz jener ausspricht, während die ccQx^i allein (fr. 7)
ewig und unsterblich ist. Auch Diogenes muß also den Kosmos
sich stufenweise aus der einheitlichen göttlichen Grundsubstanz
haben entwickeln lassen: aber je tiefer diese sich entfaltende
ccQxV i^ *ii® Dinge herabsteigt, desto mehr büßt sie von ihrer
Absolutheit und Göttlichkeit ein.
Dieselbe Weltanschauung findet endlich auch in Heraklits
Schrift ihren Ausdruck. Ist nach seiner Lehre das Feuer,
d. h. in antiker Auffassung die Materie in ihrer losesten und
feinstteiligen Struktur, die aQxij, aus der alles was überhaupt
existiert^ durch allmähliche Verdichtung entsteht, so wird
damit der Kosmos in all seinen Einzelbildungen wieder zu
einer Entwicklung des Gottesprinzips, der göttlichen Grund-
substanz selbst. So kann es vom Feuer Heraklits Simplic.
cpvö. 24, Iff. heißen ix xvqos :toisl tu ovxa TCvxvaöSL xai /*«-
vadsL] Aetius 1, 3, 11 ix xvQog ndvxa y(v£69aL] 1, 7, 22 tö
nvQ — dy]niovQybs t&v 5vrcov] wie auch Heraklit selbst fr. 90
sagt stvQÖg re ävTafioißrj rä Tiävta xccl xvq axavtav. Wenn
so die ganze kosmische Entwicklung auf einem aXloLovö^at
des zvQ beruht (Hippol. 9, 10), so treten doch wieder die
Elemente selbst — Luft, Wasser, Erde — als die ersten und
unmittelbarsten Schöpfungen der Feuersubstanz und als die
lebendig und persönlich gefaßten Grundstoffe uns entgegen.
So kann es heißen fr. 76 ^/J ^^Q ^ov äagos &ccvatov xal ccriQ
^fl rbv avQog &ccvatov, vöoq ^ij rbv yfjs d^dvavov, y^ xov vdarog.
Damit soll nicht gesagt werden, daß der eine Grundstoff als
solcher, in seiner Gesamtheit, dem andern Platz macht, sondern
nur, daß Teile des einen Grundstoffs in dem ewigen Kreislaufe
des Naturprozesses in den andern Grundstoff übergehen. In-
dem aber Heraklit hier die elementaren Grundstoffe wieder als
einheitliche und persönliche Bildungen faßt, stellt er dieselben
offenbar gleichfalls als Mittler und Vermittler zwischen die
Einheitssubstanz und die Vielheit der Einzeldinge, bvtu und
Tidvra', er muß also auch seinerseits, gleich dem Anaximander
316 Otto Gilbert
und dem Anaximenes, diesen Grundformen der Stoffevolution
in erster Linie göttlichen Charakter gegeben haben. Wie sehr
aber Heraklit gerade das Abwärtssteigen der göttlichen Sub-
stanz und damit ihr Verlieren an Kraft und Göttlichkeit be-
tont hat, das habe ich in den Jahrbüchern für das klassische
Altertum Bd 23, 166 ff. nachzuweisen gesucht.
So dürfen wir als die Einheitslehre aller ionischen Forscher
das Dogma von der einen und einheitlichen göttlichen Grund-
substanz und ihrer allmählichen und stufenweisen Evolution
in die Gebilde des Kosmos aufstellen. Aus dem göttlichen
Urquell, in dem die höchste Potenz schaffenden Energiestoffes
in persönlicher Konzentration vereinigt ist, flutet ein schöpfe-
rischer Strom belebten und belebenden Stoffes und bildet
zeugend und formend in einem ersten Schöpfungsakte die
Grundstoffe, welche damit zu den persönlichen Erzeugten und
Trägern der Gottheit werden. Und indem aus diesen persön-
lich gefaßten Strömen göttlicher Substanz wieder alle Einzel-
bildungen des Kosmos in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit
hervorgehen, gestaltet sich die Welt zu einer Selbstentfaltung
und einheitlichen Schöpfung der Gottheit. Es hat somit zwar
alles teil an der Gottheit und an der Persönlichkeit: aber je
weiter der Gottesstrom persönlichen Lebens seine Wellen
treibt, desto mehr trübt er sich. Es ist nicht mehr die volle,
unmittelbar göttliche, nicht mehr die ungetrübt reine Substanz,
welche sich in den vielen Einzeldingen offenbart: dieselbe ver-
liert von ihrer göttlichen Kraft und Wesenheit, sie sinkt zu
unvollkommeneren Formen herab und gibt so zugleich, indem
sie jedem Einzelwesen und Einzeldinge die Freiheit des WoUens
und Handelns läßt, Raum der vßQig, der ädixCa, dem Bösen.
Wenn so in der Lehre der lonier die einheitliche Grund-
substanz der Welt als das absolut Göttliche, die elementaren
Grundstoffe als göttliche Persönlichkeiten erscheinen — Ana-
ximenes nennt sie d^eoC — , so liegt die Frage nahe, ob diese
als Einzelgötter gefaßten Stoffbildungen mit bestimmten
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 317
Göttern des Volksglaubens in Beziehung gebracht worden
sind. Um die Beantwortung dieser Frage zu ermöglichen,
mag es gestattet sein etwas weiter auszuholen.
Die Gleichsetzung der Grundstoffe oder bestimmter sich
gleich bleibender Stoffverbindungen mit einzelnen Göttern des
Volksglaubens war zur Zeit der ionischen Denker keineswegs
unbekannt oder ungewöhnlich. Wir haben hierfür das inter-
essante Beispiel des Theagenes von Rhegium, dessen axfir]
in die Regierungszeit des Kambyses 529 — 522 gesetzt wird.
Porphyrius berichtet über ihn in den Scholia B zu Homer T 67
(ed. Schrader 1, 240, 14), daß derselbe — die Götterkämpfe
der Ilias allegorisch durch die ivavricoGig aller der Groix^la,
J| rav TÖ TCäv övvsGxrjXSv, erklärt habe, wie er nicht minder
schon einzelne Gottesgestalten als Abstraktionen — so Athene
als (pQÖvrjöig, Ares als d(pQ06vvrj, Aphrodite als ixi&vfiCa,
Hermes als köyog — gedeutet habe. Denselben Standpunkt
vertreten auch die Kosmologen. Auf alle diese einzugehen,
würde zu weit führen: nur die Schrift des Pherekydes von
Syros möge hier etwas näher betrachtet werden, die durch
den Fund der GrenfeU-Hunt Greek Papyri Ser. H no. 11 (über
den Diels Berl. Sitzungsber. 1897, 144ff.; Fragm. d. Vorsokr.
2. Aufl. 507 f.) ein besonderes Interesse gewonnen hat. Seine
Schrift nsvTefivxos (vgl. dazu die tcsvxs "xxvytg 21 481) ist
offenbar nach den fünf Welträumen benannt, die er als \x.vioi
xccl ßo&QOi xai avxQu^ mit Türen und Toren versehen, auffaßte
(Porphyr, antr. nymph. 31), in denen er sich die Weltstoffe
und Weltpotenzen verborgen hausend dachte. Den fünf
Welträumen entsprechen die fünf Weltmächte, die aber ihrer-
seits wieder den fünf Stofformen entsprechen, in welche der
Kosmos geschieden ist. An die Spitze aller kosmischen Ent-
wicklung stellte Pherekydes Zag und X&ovCi], in denen wir
unschwer die personifizierten Ovgavög und rij erkennen können
(über deren Bedeutung vgl. meine Meteorolog. Theorien 327 ff.).
Gleichzeitig mit diesen Weltprinzipien setzte Pherekydes Kgovog,
318 Otto Gilbert
d. h. das Prinzip aller zeitlichen und genetischen Evolution:
aus ihm gehen (Eudemus fr. 117 bei Damasc. 1, 321 Ruelle)
xvQ xal nvEviia 'xal vdcoQ hervor. Damit sind die fünf
Weltenstoffe und Weltenpotenzen, und damit zugleich die
fünf (ivxoC oder Weltenräume gegeben: außer der Erde er-
scheinen hier die Elemente Wasser, Feuer, Luft {nvsv^a).
Wenn außer diesen vier, später allgemein anerkannten, Ele-
menten als fünfte Macht noch Zeig, von Hermias irris. 12
(Doxogr. 654) als alQ-iJQ erklärt, erscheint, so ist das nicht
auffallend: auch die Pythagoreer haben den Äther als wesent-
lich verschieden vom Feuer aufgefaßt, und Aristoteles ist den
letzteren hierin auch seinerseits gefolgt. In Zds — aid-rJQ wird
offenbar die höchste Weltregion erkannt, der dann im ^vq
die Feuersphäre der Gestirne untergeordnet wird, während die
Sphären der Erde und des Wassers gegeben sind. Nur betreffs
des nvBvna scheint Pherekydes eine Auffassung zu vertreten,
die sich von der gewöhnlichen Fixierung der Luftregion in
interessanter Weise unterscheidet. Denn die von Origenes c.
Geis. 6, 42 aus Pherekydes' Schrift überlieferten Worte xaCvr^g
dh rijg iioiQccs £VSQd-sv iötiv rj tagt ccgCrj ^otga' (pvldööovöLV
d' avTYiv Q-vyat BQsg Boqsov "AQXviaC xs yial QvsXXa' sv&a
Zsvg ExßccXXsL d'S&v otav rig s^vßQCöy werden sich schwerlich
anders deuten lassen, als daß der Tartarus, d. h. die unter
dem Erdkörper befindliche Sphäre, der eigentliche [ivxög des
stvsv^a — des als fünfter Weltstoff bei Damascius a. a. 0.
genannten Luftelementes — sei. Aus dieser ihrer eigentlichen
Wohnstätte kommen die Winde — d. h. die Luft in ihrer
Bewegung — zeitweilig auf die Oberwelt, daher Pherekydes
die d-vQag und nvXag hervorhebt (Porphyr, a. a. 0.), durch
welche eben die nv^oC gegeneinander abgeschlossen oder ge-
öffnet werden können.
Jedenfalls scheint es mir sicher zu sein, daß wir in der
Darstellung des Pherekydes den Versuch zu erkennen haben,
die gegeneinander geschiedenen Einzelsphären des Kosmos —
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 319
die unterirdische und die irdische, die Hydro-, Atmo- und
Feuersphäre — in engere Beziehung zu den verschiedenen
Stoflformen, Erde, Wasser, Luft, Feuer, zu bringen. Er ist
darin ein Vorgänger aller späteren Physiker, die gleichfalls
— als der erste nachweisbar Anaximander [Plut] Strom. 2 —
die Elemente an bestimmte Einzelsphären des Kosmos binden.
Wenn Pherekydes hierbei die von den loniern einheitlich ge-
faßte Feuersphäre in die Räume des aW^iJQ und des xvq
scheidet, so kann das, wie schon bemerkt, nicht auffallen.
Jedenfalls ist Zag oder Z«v5 der Vertreter des uIQ-iIq, und die
Anjgabe Laur. Lyd. mens. 4, 3 "HXios a-örbg (näml. Zsvg) xar«
^SQSxvdi^v beruht auf einem Irrtume: Lydus hat nachweisbar
(vgl. mens. 2, 7 und dazu Diels Fragm. d. Vors. 2. Aufl. 510, 19)
ein gefälschtes Exemplar der Pherekydischen Schrift benutzt,
aus der auch jene Identifikation des ijhos mit Zeus stammt.
Pherekydes hat nun aber, wie die Fragmente und Referate
ergeben, die Hauptpunkte der Göttermythen in seine Dar-
stellung hereingezogen: wir können also nicht zweifeln, daß
er das Wesen der Götter physikalisch gedeutet hat. Daher
kann Theopomp bei Diog. L. 1, 116 (Fr. Hist. Graec. 1, 287
= fr. 66) von ihm sagen xovxov ng&Tov tisqI tpvöscog xul
&säv ypa^at; während seine Schrift anderseits (Suidas s. v.
^fpfxvdijs; ApoUon. Dysk. de pron. fr. 65, 15 Schneider) ge-
radezu als &so/.oyCa bezeichnet wird. Wenn daher Aristoteles
von den :tQ&toL ^soXoyilöavrsg ^eratf. A 3. 983** 29 spricht,
die zugleich %b^\ xf^g (pvösag handeln; B 4. 1000* von den
negi ^HäCodov xal xdvxsg o6oi &£olöyoL, welche die a^xmi der
Dinge mit bestimmten ^fhoi identifizieren; A 6. 1071*» 27 ferner
die %BoX6yoi oX ix vv/cxog ysvvävxsg erwähnt und AlO. 1075^27
die d-EoXöyoL und die cfvßixoi TtdvxBg zusammenfaßt; endlich
yL£xs(DQ. B 1. 353* 35 die dQxc^lot xal diaxgCßovxsg tisqI xäg
d^soXoyCag wieder mit physikalischen Fragen beschäftigt sein
läßt und den Pherekydes und sxegoC rivsg ^Bxatp. N 4. 1091^4
als diejenigen bezeichnet, welche Mythisches und Physikalisches
320 Otto Gilbert
zu vereinigen suchen, so dürfen wir aus all diesen und anderen
Angaben den Schluß ziehen, daß die eigentliche physikalische
Forschung — wie sie von den ionischen Philosophen scheinbar
zuerst vertreten wird — aus der theologischen hervorgegangen
ist: die ältere, als theologisch charakterisierte Forschung hat
schon ihrerseits in den verschiedenen Stofformen des Kosmos
göttliche Persönlichkeiten erkannt und diese letzteren mit be-
stimmten Einzelgöttem des Volksglaubens identifiziert. Sehen
wir nun, ob auch die ionischen Philosophen selbst noch diese
Tendenz vertreten.
Pherekydes hat aus dem Grunde für uns noch ein be-
sonderes Interesse, weil wir es als sicher ansehen dürfen, daß
Heraklit die Schrift desselben in Händen hatte. Denn die
enge Beziehung des Pherekydes zu Ephesus geht aus der
Legende über sein Grab Diog. L. 1, 11 7 f. hervor: mit Ephesus
war aber auch Heraklits altes königliches Geschlecht unlöslich
verknüpft. Wenn daher Heraklit einen besonderen Teil seiner
Schrift als Xöyos d^sokoyixög Diog. L. 9, 5 bezeichnete, so ist
es von vornherein wahrscheinlich, daß er hier die Schrift des
Pherekydes, die gleichfalls Tcagl (pvöiog xal dsäv handelte,
vor Augen hatte. Denn man kann die Gottheit, auf die sich
dem Titel nach dieser Xöyog Q^soXoyixög Heraklits bezog, nicht
in dem Heraklitschen Sinne des ^vq ccsC^coov verstehen, da
der erste, über rö Ttäv handelnde Teil der Schrift die eigent-
lich physikalische Betrachtung der Welt vorweg genommen
hatte. Denn da Welt und Natur nach Heraklit nichts anderes
waren als eine Manifestation der Einen Gottheit, so war auch
der ganze Welt- und Naturprozeß ohne Begründung und Aus-
legung des göttlichen Wirkens, d. h. eben der Tätigkeit des
Feuers und seiner Wärmeenergie, unverständlich: Heraklit
muß also schon im ersten Teile seines Werkes die Bedeutung
und das Wesen, wie die Entwicklung und die Metamorphosen
der Gottessubstanz gezeichnet haben (vgl. hierzu meine Ab-
handlung in den Jahrbüchern f. d. klass. Altertum Bd 23, 164 ff.).
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 321
Hat er daneben noch in einem besonderen Teile die Theologie
behandelt, so kann die letztere nur in Beziehung zu den
nationalen d^soC stehen, die er somit einer erklärenden oder
kritischen Betrachtung unterzog. Nun existiert aber, wie wir
sahen, für Heraklit nichts anderes als die Materie: alle Er-
scheinungen und Zustände der Natur sind die verschiedenen
Entwicklungsphasen des einheitlichen Grundstoffes und deren
Wirkungen. Hat also Heraklit bestimmte Einzelgötter des
Volksglaubens in der Natur und deren Erscheinungen und
Zuständen erkannt, so können dieselben nur in Beziehung zu
der ursächlichen Gottessubstanz selbst und deren Einzel-
hypostasen, wie dieselben in den wechselnden Stofformationen,
in den elementaren Bildungen und in den verschiedenen Ge-
bieten und Teilen der Natur und der Welt zur Erscheinung
kommen, verstanden werden. Als solche göttliche Hypostasen
bezeichnet Epicharm (fr. 8 Diels) ävsfiovg, vdoQ, yrjv, ilhov,
jcvQ, aäTsgas, wo also außer den Elementen selbst, Erde,
Wasser, Feuer, Luft, für welche letztere die Einzelwinde ge-
nannt werden, noch Sonne und Gestirne als ^soC erscheinen:
auch Heraklit, wie die ionischen Philosophen überhaupt,
müssen für ihre Bestimmungen der ^eoL von diesen und ähn-
lichen feststehenden Bildungen ausgegangen sein.
Wir haben nun noch bestimmte Anzeichen, daß und wie
Heraklit die Volksgötter mit seiner Gotteslehre in Verbindung
brachte. Es ist nämlich mit Recht darauf hingewiesen worden,
daß Piatos Dialog Kratylos sichere Spuren einer Beeinflussung
durch Heraklits Lehre aufweist. In dem Streite, ob die Namen
der Dinge (pvöu, oder ob sie ^vvdiqxri xai byioXoyla, bzw.
v6^Gi xai sd-si (383 AB; 384 D), entstanden anzunehmen seien,
vertritt Kratylos die erstere Alternative, wonach die Namen und
Bezeichnungen der Dinge die getreuen Abbilder und Wieder-
gaben (/tt^Tj/tata 414 D; 423; slxövsg 432 B; ^vfiqxova 436 C
und ähnlich) der nQKynaxa oder ^vra seien. Und diese Auf-
fassung der Namen wird wiederholt und bestimmt als Stand-
Archiv f. Beligionswissengcbaft Xm 21
322 Otto Gilbert
punkt Heraklits und der Heraklitschen Scliule bezeichnet,
daher immer von neuem die Übereinstimmung mit Heraklit
betont wird: vgl. 401 D xad-' 'HqccxXsltov] 402 A XsysL 'Hqcc-
xXsitos; B 'HQaxXsltov, 440 C ol ttbqI 'HqüczIsitov, 440E ag
'HQccxXsLTog Xsysi. Man hat von anderer Seite diese Erklärung
der Namen als ein von der Schule der Herakliteer später auf-
gebrachtes Novum deuten wollen. Es ist aber schwer glaub-
lich, daß die unter Heraklits Namen später blühende Schule
völlig neue Lehren sollte aufgebracht haben, die keinen Zu-
sammenhang mit dem Lehrsystem ihres Meisters und keine
Begründung in dessen eigenen Ideen und Aussprüchen fanden.
Tatsächlich bieten denn auch die Bruchstücke, welche wir von
Heraklits Werk besitzen, deutliche Spuren einer Verwertung
der Namen für seine Lehre; und diese Überzeugung, daß die
Namen und Bezeichnungen der Dinge der echte und wahre
Ausdruck des Wesens dieser seien, fügt sich so naturgemäß in
seine allgemeine Weltanschauung ein, daß wir nicht zweifeln
können, hier tatsächlich die Lehre Heraklits vor uns zu haben.
Das wird sich aus folgendem ergeben.
Die in allen Dingen, wenn auch in verschiedenen Graden,
lebendige und schaffende Feuer- und Wärmesubstanz ist zu-
gleich die psychische, die vernünftige, die denkende Kraft,
welche, dem Kosmos in seiner Gesamtheit wie den Einzelwesen
immanent, das Seelen- und Vernunftleben aller zu einem ge-
meinsamen und einheitlichen gestaltet. Wie aber das Denken
des einzelnen in der Rede, in der zusammenhängenden Sprache,
im Xöyog, seinen naturgemäßen Ausdruck erhält, so muß nach
Heraklits Auffassung auch die in allen Wesen gemeinsam und
einheitlich wirkende und schaffende Gottesvernunft ihren sprach-
lichen Ausdruck erhalten: und diese natürliche Äußerung ihrer
immanenten Wirksamkeit schafft sich die göttliche Denk-
tätigkeit in den Begriffen und in der vernünftigen Rede. Der
Xöyog wird so die Bezeichnung des vernünftigen Denkens,
sowie seines Ausdruckes in der Sprache. Die Schöpfung der
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 323
Sprache in den feststehenden, von allen angenommenen Be-
griffen und Bezeichnungen der Wesen und Dinge, der Hand-
lungen und Zustände, ist so die eigenste Tat der in den Seelen
der Menschen gemeinsam und gleichmäßig wirkenden einheit-
lichen Gottes Vernunft, die somit in der von allen gleich ge-
brauchten Sprache ein gemeinsames Band, einen köyog ivvog,
d. h. xoivos, schafft (fr. 2). Diese Auffassung der Sprache,
und in erster Linie der sie zusammensetzenden Begriffe und
Namen, gibt dem Heraklit das Recht, die övouara der ^rpay-
fiata als cpvöSL geschaffen, d. h. als den natürlichen Ausdruck
der immanenten göttlichen Vemunfttätigkeit zu fassen und zu
erklären. So kann Kratylos, der Herakliteer, im Sinne seines
Meisters sagen 438 C: oi^iui ^hv iya rbv äkrj^iötarov Xoyov
nsQl xovtcjv slvai, a» 2^c)XQaTsg, ^leC^co tivcc dvvaiiiv elvui ^
ävd-QcoTCsCav ri^v d-£[isvrjv tu ngara dvo^ata roig TrQccypiaötv,
&6r£ ocvayxalov slvai uvzä ÖQ&äg sx^iv. Es ist nicht mensch-
liches Machwerk, wie es in der Sprache zum Ausdruck kommt,
sondern eine höhere Kraft, eben die immanente Gottesvemunft,
schafft sich in ihr den natürlichen und damit zugleich not-
wendigen Ausdruck. So dürfen wir mit Recht behaupten, daß
die Lehre, die övoiiara seien cpvßsi, geschaffen und demnach
ein Mittel, das Wesen der Dinge zu erkennen, organisch mit
der allgemeinen Weltanschauung Heraklits zusammenhängt.
Von diesem Gesichtspunkte aus muß Heraklit in den
Namen der Volksgötter zugleich eine Bestätigung für ihre
Realität und nicht minder ein Mittel für die Erschließung ihres
inneren Wesens erkannt haben. Dementsprechend werden im
Kratylos die Göttemamen selbst, 395 E — 408 D, wie nicht
minder die Begriffe Sonne, Mond, Sterne, Äther, Luft, Feuer,
Wasser, Erde, Hören, Jahr, 408 D — 410 D, einer Betrachtung
unterzogen, um aus der etymologischen Deutung ihrer övönata
Schlüsse auf ihr Wesen zu ziehen. Da hier aber jede Sicher-
l^eit fehlt, was auf Heraklit selbst, was auf die Deutungen der
späteren Schule zurückgeht, und jedenfalls die meisten dieser
21*
324 Otto Gilbert
Erklärungen späterer Zeit angehören, so müssen wir es uns
versagen, auf diese Deutungen näher einzugehen: wir halten
uns an die geringen, aber sicheren Spuren, die uns die Bruch-
stücke Heraklits selbst liefern.
Hier ist es vor allem bedeutsam, daß Heraklit sein höchstes
Gottesprinzip mit dem höchsten Gotte des Volksglaubens identi-
jBziert und hierfür ausdrücklich auf den Namen des letzteren
sich beruft. ^'Ev tö 6o(pbv fiovvov Xsysöd'ai ovy, id-iXsi xal
hd^iXsi Zrjvbg ()vo(ia heißt es fr. 32. Das Zögernde dieses
Ausspruchs, „es will nicht und will doch", darf man dahin
erklären, daß der Hinweis auf rö ^ijv, der in dem Namen Zi/jv
liegt, nicht genügend ist, um das Wesen dieses höchsten Welt-
prinzips zu erschöpfen. Auch Sokrates erklärt in Kratylus'
Sinne 396 Af. Zfjva — o<?rtg ^ötlv aitiog ^äXXov rov ^fiv —
dl* ov t,f}v ccsl Tiäöi tolg ^caöiv vTtaQiEi. Daß auch Heraklit
tatsächlich auf das t/fiv anspielen will, erkennt man daraus,
daß er sonst (fr. 120) den gebräuchlicheren Namen Zeus an-
wendet, gleichfalls zur Bezeichnung seines höchsten Gottes,
wie auch die Referate von Zeus als dem höchsten Gotte
Heraklits wie selbstverständlich sprechen.
Und in gleicher Weise redet Heraklit von anderen Gott-
heiten des nationalen Kults in einer Weise, die den Glauben
an die wirkliche Existenz derselben voraussetzt. Apollon,
Dionysos — Hades treten in bestimmten Aussprüchen als reale,
leibhafte und lebende Göttergestalten uns entgegen, deren
Wirklichkeit für Heraklit keinem Zweifel unterliegt. Von
Dionys und Hades sagt Heraklit fr. 15 hvxog dh 'Al$r}g xal
^diöwöog, 8t£C) fiaCvovTccL xal Xr^vat^ovöiv: und diese Identi-
fizierung der beiden Götter bedarf der Erklärung. Nun ist es
bekannt, daß Dionys in Mythus und Kult ebenso Beziehungen
zum Lichte wie zum Dunkel, zur Oberwelt wie zur Unterwelt
zum Ausdruck bringt. Er heißt Xu^jiti^q Paus. 7, 27, 3 und
zugleich vvxTÜLog Paus. 1, 40, 6; Plut. Ei 9. 389 B; er ist
^tvQiysvTjg Diod. 4, 5; Str. 13, 628 und nicht minder x^oviog
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 325
Orph. hy. 53, 1. Sein unterirdisches Dasein wurde namentlich
in Delphi während der Wintermonate gefeiert, wofür es genügt,
auf Praller -Robert 1, 686 ff. zu verweisen. Anderseits aber er-
klärt Heraklit wiederholt (fr. 57. 67) 6 dsbs W^QV «vqppdvjj,
mit der bestimmten Motivierung aXkoiovtai öh oxag tisq <Ät;(»>:
Tag und Nacht sind also nur die wechselnden Erscheinungs-
formen einer und derselben Gottheit. Und weiter sagt er von
der Sonne (fr. 100), daß sie die Trägerin aller yaraßolai der
Natur sei. Aller Wandel von Tag und Nacht sowie aller
Wechsel der Jahreszeiten besteht in der aXXoCcoöis der einen
göttlichen Feuer- und Lichtsubstanz. Der Schluß liegt nahe,
daß Heraklit — durchaus im Rahmen seiner Gesamtwelt-
anschauung — Dionysos und Hades als die alternierenden
Phasen des göttlichen Lichts gefaßt hat. Während Dionysos
das letztere in seiner himmlischen Erscheinung und Wirksam-
keit darstellt, bringt Hades die Periode des verschwindenden,
des sich verbergenden Lichts zum Ausdruck. So wird Dionysos
und Hades (dutoV, wie auch rj^SQrj und svtpgovt] derselbe -d^fcg
ist. Es ist demnach auch wahrscheinlich, daß Heraklit schon
die später gebräuchliche etymologische Deutung des bvofia
'ACdrjg als äsidrjg (Plato Kratylos 403 A) gebilligt und ver-
treten hat.
Mit besonderer Ehrfurcht spricht Heraklit von Apollon,
dem die Worte gelten (fr. 93) 6 äva^, ov t6 fiutnslov iöri
t6 iv ^sXcpolg, ovt£ Xsysi ovrs xQvntSL äXXä Gr^ftaCvei. Daher
die Sibylle (fr. 92) ^aLvo[isv<p Gto^ati ayeXaära xai axaXXä-
niöta xai äßVQLöta (pd^syyonsvrj xiXlav irav i^ixvstrai Tfj
(pcivfi diä röv d-eov. Auch in diesen Worten spricht sich der
unerschütterte Glaube an die Realität der hehren Gottheit
Apolls und an die Wahrheit seiner Verkündigungen aus. Im
Tempel der Artemis femer legte Heraklit als Weihegabe seine
Schrift nieder (Diog. L. 9, 6), und nichts deutet an, daß diese
Beziehung zu der nationalen Göttin als Widerspruch mit seiner
Überzeugung empfunden wurde. In den unter Heraklits Namen
326 Otto Gilbert
gefälschten Briefen, die aber manche Reminiszenz an echte
Aussprüche Heraklits enthalten (vgl.Bernays Heraklits Briefe 3 ff.),
findet sich (Ep. 7 Zeile 53 ff.) eine Polemik gegen die 'Ad-tjvä no-
Xs^CöTQia und den Ares evvciXtos'' auch hier wird nicht die
Existenz dieser beiden Gottheiten geleugnet, sondern nur ihre
traditionelle Auffassung bekämpft. Zur Eleusinischen Demeter
stand Heraklits Geschlecht (Strabo 14, 633) in alter Be-
ziehung: schon Pherekydes hatte dieselbe, soweit wir urteilen
dürfen (fr. 1. 2; Paus. 3, 14, 5), als Erdgöttin gedeutet. Wenn
Heraklit das königliche Priesteramt, welches eng mit diesem
Kulte verknüpft war, später an seinen Bruder abtrat (Diog.
L. 9, 6), so weist doch nichts darauf hin, daß er diesen Schritt
deshalb tat, weil er in seiner religiösen Überzeugung in Zwie-
spalt mit dem Glauben an die Existenz der Göttin gekommen
war. Von der Dike und den Erinnyen redet Heraklit (fr. 23.
28. 94) wie von Realitäten, und betreffs der ersteren betont
er wieder ihr '6vo[ia in Deutung ihres Wesens, wie er auch
fr. 48 das ovona eines Dinges als bestimmend für das Wesen
desselben hervorhebt.
So tritt uns in dem, was wir von der Götterlehre Heraklits
erfahren, nichts entgegen, woraus wir auf eine Mißachtung der
Götter des nationalen Glaubens zu schließen ein Recht hätten.
Freilich wollen christliche Schriftsteller von einer Klage wissen,
die gegen ihn wegen döeßsia anhängig gemacht sei: kein altes
Zeugnis aber bestätigt diese Nachricht, die nichts als eine
Kombination ist (vgl. Bernays a. a. 0. 35 f.). Hat Heraklit an
den Volksgöttern Kritik geübt, so kann sich das nur auf die
Form beliehen, in der die unverständige Menge diese heiligen
Persönlichkeiten auffaßte und verehrte. Daher der Ausspruch
(fr. 5): ovTS yiväöxovöLv &£ovg ovd' iJQNccg oitives elöi.
Nicht die Existenz der Götter und Heroen wird hier bezweifelt,
nur die Auffassung ihres Wesens wird bekämpft. Denn für
die Menge sind die Götter beschränkte, menschenähnliche
Geschöpfe, die, wenn auch mit mehr als gewöhnlichen Kräften
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 327
begabt, nur in äußerlicher Beziehung zur Natur und zum Leben
stehen: für Heraklit aber sind sie die lebendigen Natur-
erscheinungen selbst, die vernünftigen immanent schaffenden
Normen und Ordnungen der Dinge und Geschehnisse, die in
allem wirkenden und über allem waltenden Gott^skräfte.
Und der Naturordnung, welche alle diese, auf eine einzige
agyi] zurückgehenden, Einzelhypostasen der Gottheit vertreten,
entspricht wieder die Sittenordnung, welche die Welt beherrscht.
So verschieden auch die vönoi der einzelnen Staaten sein
mögen, sie gehen als Ordnungen auf die einzige Gottesordnung
zurück. Daher das schöne Wort (fr. 114): Tgscpovrai yäg
:iävt6g ol avd-Qäxeioi voaot vno ivbg rov ^sCov HQUxil yäg
Toöovtov öxoöov l&iXu xal i^agxsl nä6L xal asQiyCvBxai.
Dieser innigen Wechselbeziehung zwischen der göttlichen Natur-
orduung und dem Sittengesetze der Staatsordnung hatte Heraklit
einen besonderen Teil seiner Schrift, den Xdyog nohrixög, ge-
widmet, Diog. L. 9, 5.
Die tiefe Auffassung der Gottheit als der immanenten
Welten Vernunft und Sittenordnung erklärt es, daß Heraklit
mit einem so leidenschaftlichen Zorn alle frivole und ober-
flächliche Erfassung der Götter bekämpft. Wenn er erklärt
(Diog. L. 9, 1), Homer und Archilochus hätten verdient, aus den
Preiswettkämpfen verwiesen und mit Ruten gezüchtigt zu
werden, so kann sich ein solches scharfes Wort nur aus der
sittlichen Entrüstung über die unwürdige Art erklären, mit
der namentlich der erstere die Götter dargestellt hat. Und aus
diesem sittlichen Zorn erklärt sich auch der Haß und die Verach-
tung, aus denen heraus er immer wieder gegen die vernunftlose
Menge die Pfeüe seines Grimms richtet. Die Menschen beten,
sagt Heraklit voU Entrüstung, zu den Götterbildern, wie wenn
jemand mit Gebäuden Zwiesprache halten woUte (fr. 5.): denn
für Heraklit ist das Walten der Götter unabhängig von Bildern
und Kultstätten. Die polemischen Bemerkungen gegen die
räumliche Fixierung der Gottheiten und ihr Gebundensein an
328 Otto Gilbert
Tempel und Altäre in Ep. 4, Zeile 9 ff. {vaolg ccTtoxsxXsLö^svos —
iv 6x6teL — im neQCßoXog und als Statue) scheinen wieder
auf tatsächlichen Aussprüchen Heraklits zu beruhen. Sein
Eifern gegen Bakchen und Mysten (fr. 14. 15) geschieht nicht,
weil er den Kult als solchen verwirft, sondern nur weil Mysterien
und Dionysien in schamloser Weise gefeiert werden. Auch
hier also kann sein Tadel sich nur auf die Form beziehen,
in welcher der Kult vollzogen wird. Und so verlangt er auch
von den Opfernden innerliche Reinheit; die Sühngebräuche gelten
ihm nur dann als wirkliche Heilmittel der Seele, wenn sie in
rechtem Sinne geschehen (fr. 68, 69); die Blutrache geißelt er
(fr. 5), weil dieselbe unter religiösem Deckmantel nichts ist
als die Betätigung von Rache, Haß und Ungöttlichkeit.
Man ersieht aus alledem, daß Heraklits Polemik nicht
den Göttern selbst und auch nicht der Götterverehrung an
sich gilt: nur die verständnislose Auffassung der Götter als
toter Götzen und die rohe, sinnlose und unsittliche Form des
Kults ist es, gegen die sein Haß und sein Tadel gerichtet ist.
Denn für Heraklit sind die Götter die Hypostasen bestimmter
lebendiger Stofformationen und Phasen des Naturprozesses,
die als Sonderbildungen der einen Grundsubstanz denselben
Charakter, wenn auch in abgeschwächter Wesenheit, tragen
wie die letztere selbst. So kann Heraklit vom d-sög und dem
»slov schlechthin (Aetius 1, 7, 22-, fr. 11; 33; 67; 78; 83;
102) und von den d^soC und den d'sta (Aristot. part. anim.
A 5. 645» 20 f.; fr. 5; 24; 86) sprechen. Ist 6 »eög identisch
mit der Vernunft, dem Logos (Sext. matli. 7, 129), der Har-
monie (fr. 51) und der (pvGig, als der lebendigen Natureinheit,
so sind die Einzelgötter, als die bestimmten Einzelphasen und
Zustände der lebenden Materie, nicht minder Träger der ver-
nünftigen Weltordnung. So kann Heraklit ferner vom Blitz
des Zeus sagen (fr. 64) xä dh ndvxa olaxC^Bi xBQavv6g und
doch den Prozeß der Gewitterbildung in ihren Einzelphaseu
festzustellen suchen (Aetius 3, 3, 9): denn Blitz und Donner
Spekulation tind Volksglaube in der ionischen Philosophie 329
und was mit ihnen zusammenhängt ist für Heraklit der un-
mittelbare Lebensprozeß, die sich wandelnde Körperform der
Gottheit selbst und die Ordnung jener ist die Manifestation
eben der Gottes Vernunft. Und ferner: wenn in Heraklitscher
Auffassung Helios täglich stirbt (fr. 6), so ist das kein Hindernis,
in ihm zugleich diejenige Erscheinungsform der Gottheit zu
erkennen, welche die für das kosmische Leben höchste und
entscheidendste Bedeutung hat. Sein wechselseitiges Leben und
Sterben ist eben die für den Kosmos notwendige Ordnung, der
sich der Gott bereitwillig unterzieht. Die Aussprüche Heraklits
über Helios (fr. 94; 100) lassen die zentrale Bedeutung des
letzteren erkennen: nichts steht der Annahme im Wege, daß
Heraklit den allgemeinen Glauben teilt, welcher auch Apollon
als Kultnamen des Sonnengottes faßte und erklärte.
Für Heraklit steht es fest, daß es nur einen gemeinsamen
Seelenstoff, als die feinste und die eigentlich ätherische Form
der Weltmaterie schlechthin, gibt, welche den Kosmos erfüllt
und in seinem ewigen Auf- und Abwogen die Götter ebenso
bildet wie die irdischen Wesen: nur mit dem Unterschiede,
daß jene reiner und unvermischter die ursprüngliche Wesenheit
bewahren, während die tellurischen Gebilde, durch den Erde-
stoff des Leibes beschwert, ihre göttlichen Seelen nicht rein
zu erhalten vermögen. So kann Heraklit Götter und Menschen
prinzipiell gleichsetzen (fr. 62); von Seelen und Dämonen ist
ihm die Welt erfüllt (Diog. L. 9, 7); es ist derselbe Stoff,
welcher die Sonne täglich neu bildet und welcher die Seelen
gestaltet. Aber die Götter, als die sich ewig gleich erneuernden
höheren Bildungen von Äther und Licht, von Luft und Winden,
von Sonne, Mond und Gestirnen, werden als Träger der Natur-
ordnung zugleich zu sittlichen Gewalten, deren Verehrung reine
Hände und reine Seelen verlangt.
Es ist nur eine Konsequenz der Weltanschauung Heraklits,
in der Materie und Vernunft in unlöslichem Bunde vereinicrt
sind, daß Heraklit am Glauben an die Wahrheit der Mantik
330 Otto Gilbert
festhält. Denn sind alle Naturerscheinungen die Manifestationen
der Gottheit und steht ferner die menschliche Seele, da sie
selbst eine stoffliche Bildung und zugleich ein Teil der all-
gemeinen Weltvernunft ist, in intensivstem geistigen Verkehre
mit der göttlichen Außenwelt, so ist damit von selbst die
Möglichkeit gegeben, daß ein auf die Zeichen der Gottheit
achtender Sinn dieselben auch zu verstehen und zu deuten
weiß. Heraklit spricht sich denn auch (fr. 92. 93) entschieden
für die Wahrhaftigkeit des Apollinischen Orakels aus, und
Chalcidius in Tim. 249 sagt allgemein: asserit (Heraclitus)
divinationis usum, et praemoneri meritos, instruentibus divinis
potestatibus. Auch hierfür verweise ich auf meine Abhandlung
in den Jahrbch. f. d. kl. Altert, a. a. 0.
So dürfen wir unser Urteil über die Lehre Heraklits dahin
zusammenfassen, daß dieselbe keineswegs gegen die Volks-
religion selbst gerichtet gewesen ist. Gleich dem Pherekydes,
welcher in seiner Schrift die Betrachtung der (pv6is mit der
Deutung der &soC, der Volksgötter, als der Personifikationen
stofflicher Formbildungen und räumlicher Sphären, verband,
hat auch Heraklit im ersten Teile seiner Schrift eine Darstellung
der einheitlichen Kosmosbildung und der Stoffevolution ge-
geben, um im zweiten Teile eine Kritik der religiösen Vor-
stellungen anzuschließen, die an der Realität und der physi-
kalischen Wesenheit der Volksgötter keinen Zweifel erhob,
wohl aber gegen die fetischistische und unsittliche Auffassung
derselben und die rohe Art ihres Kults entschiedenen Protest
einlegte.
Daß wir über die älteren lonier — Thaies, Anaximander,
Anaximenes — nichts erfahren, was uns berechtigte, in ihrer
Auffassung der Gottheit und der Götter Beziehungen auf die
Tatsachen des Volksglaubens zu erkennen, kann bei der Dürftig-
keit unserer Quellen nicht auffallen. An und für sich liegt
kein Grund vor, eine solche Wechselbeziehung zwischen ihrer
Spekulation und dem Volksglauben zu bezweifeln. Denn haben
Spekulation und Volksglaube in der ionischen Philosophie 331
sie, Avie wir sahen, die aus dem ürprinzipe abgeleiteten
elementaren Bildungen bestimmt als einzelne göttliche Per-
sönlichkeiten aufgefaßt, so ist die Möglichkeit, ja die Wahr-
scheinlichkeit, daß sie diese Einzelgötter mit bestimmten Ge-
stalten des Volksglaubens identifiziert haben, nicht ausgeschlossen.
Beachtenswert bleibt es jedenfalls, daß Diogenes von Apollonia,
dessen Abhängigkeit von Anaximenes in allen wesentlichen
Punkten feststeht, auch seinerseits das höchste Gottesprinzip
mit Zeus identifiziert, Philodem, de piet. 6^ (Doxogr. 536). Wie
schon Homer O 192 in den Worten
Zevg d' Ivl«;^' oi'Quvbv evgvv iv ald'eQi y.ul vecpskrjoiv
als die in dem Begriffe des Zeus geeinten Teile des Himmels
den ald-ijQj die Feuerregion, einerseits, und den ai^'p, die Luft-
region, anderseits hervorhebt, so hat Heraklit ebenso seine
Feuersubstanz, wie Anaximenes — Diogenes ihre Luftsubstanz
mit dem nationalen Himmelsgotte Zeus zu identifizieren
vermocht.
Hiernach haben wir ein Recht zu behaupten, die ionische
Gottes- und Götterlehre sei kein Bruch mit dem Volksglauben
gewesen, sondern der Versuch, den letzteren tiefer zu erfassen
und zu begründen. Hatten die Götter des griechischen Poly-
theismus, wie Zeller a. a. 0. P, 54 sagt, in Wahrheit nur die
Teile und Kräfte der Welt, die verschiedenen Gebiete der
Natur und des Menschenlebens zum Inhalt, so sehen wir die
ionischen Denker dieser Auffassung der Gottheit und der Götter
sich anschließen. Aber in dem Ringen ihrer Seelen nach einer
einheitlichen Weltanschauung gestaltet sich ihnen der ganze
Kosmos zur Entfaltung einer einheitlichen Gottessubstanz, aus
der die einzelnen Phasen der Stoffevolutipn in organischem
Werden hervorgehen. Mit dieser Gottessubstanz und mit den
aus ihr hervorgegangenen Stofformationen, Entwicklungsstufen
und Zuständen der Materie den höchsten Gott und die ihm
untergeordneten Einzelgötter des Volksglaubens in Beziehung
332 Otto Gilbert Spekulation u. Volksglaube in der ionischen Philosophie
zu bringen, ja jene mit diesen zu identifizieren, haben sie kein
Bedenken getragen. So wird ibre Spekulation zu einer Recht-
fertigung des Volksglaubens : nur aus diesem religiösen Gesichts-
punkte ist die ionische Forschung verständlich, die hierin
durchaus als die Portsetzung der älteren theologischen Spekulation
erscheint. Wie die scholastische Philosophie mit ihrer subtilen
Dialektik, tiefen Spekulation und großartigen Gelehrsamkeit
nichts anderes ist als die Rechtfertigung des christlichen Dogmas
vor dem Verstände, so gelten auch die Anfänge der griechischen
Philosophie — in der ionischen, eleatischen und pythagoreischen
Forschung — in erster Linie der Frage nach dem Wesen der
Gottheit und der Götter. Es ist nur der eine bedeutsame
Unterschied zwischen der Scholastik und der älteren griechi-
schen Philosophie, daß jene, von den eisernen Banden des
Dogmas festgehalten, niemals in die reinen Höhen der freien
Forschung gelangt, während die griechischen Denker, selb-
ständig und unbefangen dem Glauben gegenüberstehend, aus
seinen Fesseln sich in immer freieren und kühneren Spekulationen
zu lösen wissen.
San Lucio
Hagiographisches nod Ikonographisches
Von E. A. Stückelberg in Basel
Mit drei Abbildnngen im Text
Hart an der Schweizergrenze, 1545 m über Meer liegt auf
der Paßhöhe zwischen dem tessinischen Val Colla und dem
italienischen Val Cavargna das einsame Bergkirchlein San Lucio.
In kirchlicher Beziehung ist das Gebiet maüändische Enklave,
umgeben vom Bistum Como, heute angrenzend an die 1888
errichtete Diözese Lugano.
Zu diesem Heiligtum pilgerte man seit vielen Jahrhunderten
jeweilen am 12. Juli, dem Festtag des heiligen Lucio; im neun-
zehnten Jahrhundert hat man die Feier auf den Rochustag,
den 16. August verlegt.
Den Heiligen und die Wallfahrt nach San Lucio zu er-
forschen, erschien dem Verfasser als eine schöne und lohnende
Aufgabe. Vor allem galt es Person, Namen und Lebens-
zeit San Lucios festzustellen; er hat nichts zu tun mit dem
bekannten heiligen Bischof von Chur, dem heiligen Papst und
den vielen anderen Konfessoren und Märtyrern des Namens
Lucius. Er ist vielmehr ein Hugo bzw. Uguccio gewesen. In
Ober- und Mittelitalien finden wir zahlreiche Varianten dieses
Namens: 1150 zu Vercelli, 1190 zu Ferrara, im 12. Jahrhundert
zu Lodi, 1256 und 1268 zu Pesaro und Jesi, 1297 zu Sini-
gaglia, um 1300 zu Lucca, 1302 zu Sarsina, um 1304 zu
Novara. Viele dieser Personen mögen ihren Namen von dem
heiligen Uguzo herleiten, insbesondere die Prälaten, die als
Uguccio, Ugutio, Huguitio oder Ugucius urkundlich und offiziell
auftreten. Mit Recht nennen die Bollandisten unsem Heiligen
Uguzo; sie widmen ihm eine halbe Seite und zwar auf Grund
334 E. A. Stückelberg
gedruckten oberitalienischen Materials.^ Aus Uguzo wurde nun
durch Vorsetzung des italienischen Artikels il Luguzon (Dasio
1516), Luguzonus (Lugano 1280 und Giornico), Lugutionus
(Semione), Lugutio (B. Giovio 1545) und Luguzzone (Giussani
1582). Durch Zusammenziehung entsteht aus dieser Namens-
form dann Luzzono (Carlazzo 1496) und Luzzon (Tavordo 1628),
Luzone (Scaria 1588). Eine weitere Abkürzung macht hieraus Lüz,
Lüzi, Luci und schließlich Lucio (seit 1700), Lucius (seit 1612).
Aber nur der Name des Heiligen hat sich verändert; sein
Charakter und sein Patronat ist dasselbe geblieben. Das be-
weisen uns nicht literarische — diese setzen erst im 17. Jahr-
hundert ein — , sondern ikonische Quellen. Lucio wird nämlich
dargestellt als der Schutzherr der Älpler; das älteste Bild
zeigt ihn mit dem Bergstock, neben ihm einen Ochsen und zwei
Ziegen (Lugano 1280). Das Zweitälteste Gemälde stellt drei
Schafe (Semione) und Berge neben den Heiligen. Diese Attri-
bute charakterisieren S. Lucio deutlich als einen anderen
Wendelin, einen Viehpatron in den Bergen. Aber noch ein
weiteres, ganz spezielles Kennzeichen findet sich seit dem
15. Jahrhundert ausnahmslos auf allen Bildern des Heiligen;
es ist ein Käse. Der Schreiber dieser Zeilen ist diesen Bildern
auf zahlreichen Fahrten in Berg und Tal nachgegangen und
hat sie sorgfältig skizziert, gezeichnet, gepaust oder photo-
graphiert; eine Sammlung von etwa vierzig authentischen
Bildern, vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag reichend,
kam zustande. Sie zeigt, Avie das Patronat sich gleich bleibt,
die Darstellung sich aber erweitert. Das Vieh wird nicht
mehr abgebildet, aber dafür treten die Empfänger des Käses
neben S. Lucio auf: in Carona 1486, in der S. Luciokapelle
auf der Paßhöhe im 16. Jahrhundert (Deckenfresko mit einem
Manne, Ölgemälde mit zwei Frauen). In Medeglia 1687 und
> Die ganze — recht spärliche — Literatur über S. Lucio findet
sich, zusammengestellt vom Verfasser dieser Zeilen, im Schweiz. Archiv
für Volkskunde 1910 Heft 1.
San Lacio
335
in Mailand (um 1840) sehen wir Arme beider Geschlechter
und Kinder vor dem Heiligen. San Lucio wird in der älteren
Zeit jugendlich und bartlos, fast als Knabe (Yerscio, Fig. 1)
und Semione (Fig. 2), seit dem 15. Jahrhundert regelmäßig
(fe lu^unon^
Fig. 1
Uguzo mit dem angeschnittenen Käse
Fresko in Verscio -Pedemonte
(Originalseichnong des Verfassers)
Fig. 2
Uguzo, den Käse anschneidend
Fresko in Semione
(Originalzeichnung des Verfassers)
mit blondem Barte abgebildet. Seine Tracht besteht aus
einem breitkrempigen Alplerhut aus Wolle; er trägt eine Jacke
oder ein Hemd, darüber einen dunklen Mantel, lange meist
ganz anliegende Hosen, niedere Schuhe oder Sandalen; am
Gürtel ein Messer, seltenerweise auch ein Leck- oder Salz-
täschchen (Puria, Mailand). Auf einzelnen Bildern sieht man
das Innere einer Alphütte, oder deren Geräte (Medeglia, Kirche
und Bildhaus, sowie S. Annakapelle auf dem Luciopaß). Alle
mittelalterlichen Bilder sowie einige des 16. und die des 19. Jahr-
336 E. A. Stückelberg
hunderts legen dem Heiligen den Nimbus bei. Nur beiläufig
erwähnt sei, daß S. Lucio auch dargestellt wird in betender
Haltung, entweder mit erhobenen Händen (S. Lucio) oder vor
dem Bild des Gekreuzigten (S. Lucio, Gewölbefresko des 16. Jahr-
hunderts, und Isone 1901). Auch Blinde und Lahme erscheinen
vor dem Heiligen.^
Diese Bilder geben deutlich zu verstehen, was sich das
Volk von S. Lucio dachte und was es von ihm wünschte.
Er ist der Patron der Alpwirtschaft, im besonderen der Seunen,
die Milch und Käse erzeugten und verkauften; dann ist er der
Spender, der Wohltäter der Armen, endlich der fromme Beter
und Fürbitter.
Die urkundlichen, literarischen und monumentalen Quellen
fügen noch einige Züge bei. Schon im 15. Jahrhundert heilt
S. Lucio Augenleidende: ein Pilger aus Puria eilt zu seinem
Heiligtum; Brautio^ singt: fons ortus medicis rubescit aquis.
Damit ist der Teich auf S. Lucio gemeint, in dessen trübem
Wasser man sich die Augen wusch oder das man sich zu Tale
bringen ließ, wenn man selber die mühevolle Wallfahrt nicht
unternehmen konnte. Die Bollandisten erwähnen die Augen,
die ex voto in Silber und Wachs ins Heiligtum von S. Lucio
gestiftet wurden. Es ist klar, daß die Namensformen Luzzon
und Lucio so gut wie Lucia an Lux, das Augenlicht, erinnerten.
Als der Schreiber voriges Jahr das San Luciofest mitmachte,
war der von den Augenkranken sonst besuchte Teich des
Heiligen ausgelaufen und vollständig trocken; und Votivgaben,
die auf Augen bezüglich waren, fehlten sowohl in der Kirche
als in den Verkaufsständen. Dafür gilt S. Lucio gleich den
benachbarten Bergheiligen S. Mirus, S. Donatus, S. Amatus
als Wetterpatron; Frauen aus dem Cavargnatal, deren Felder
und Bäume nach Regen lechzten, wandten sich noch voriges
Jahr am Luciofest an unseren Heiligen.
* Heilungen von Blinden und Lahmen finden sich in Dutzenden von
italienischen Heiligenlegenden. ' S. unten S. 340.
San Lncio
33:
Der Heilige hat jedenfalls vor dem zwölften Jahrhundert
gelebt; er muß im Geruch der Heiligkeit gestorben sein und
an seinem Grab geschahen Wunder. In jedem Fall wallte
man schon im Mittelalter aus vielen italienischen, zum Teil
recht entlegenen Diözesen zu seinem Heiligtum. Von welcher
Richtung man auch kommen mag, die Reise ist beschwerlich,
denn nur auf überaus steilen und nicht ohne weiteres findbaren
Fußwegen* erreicht man die Paßhöhe, auf der St Lucio's
Kirchlein steht. Es ist ein grauer langgestreckter niederer Bau mit
kurzem und stumpfem Turm ;
der Chor und das einschiffige
Langhaus sind von derselben
Höhe und Breite, beide nur
durch Bogen in einige Kom-
partimente, die eingewölbt
sind, geschieden. Ein Gitter
trennt Altarraum und Schiff.
Auf dem Hochaltar steht
eine hölzerne Statue . des
Heiligen, vielleicht 10 oder
20 Jahre alt. Das ehemalige,
aus dem 15. Jahrhundert
stammende Standbild wird
in der Sakristei aufbewahrt.
Es ist behängt mit Rosen-
kränzen und anderen kleinen
Gaben (Fig. 3).
* Sie waren früher noch
weit schlechter; denn daß S. Carl
mit heiler Haut die Reise
Porlezza-Cavargna-San Lucio-
Sonvico überstand , betrachtet
sein Biograph Guissano als
Wunder.
Fig. 3
UgQZo mit dem Volikäse
Statue auf detä S. ItnciopaB
(OriginalphotOirrarhie)
Archiv f. Religionswissenschaft XIII
338 E. A. Stückelberg
Die Pilger ziehen in der Nacht zum Heiligtum empor,
geistliche Lieder singend, in größeren oder kleineren Gruppen,
die zum Teil vom Ortsgeistlichen geführt oder begleitet sind.
Voriges Jahr waren 6 Pfarrer und etwa 1500 Pilger oben. Gleich
nach der Ankunft pflegen diese, einer hinter dem andern, den
Rand des ehemaligen Lucio -Teiches, ein paar Schritte nörd-
lich von der Kirche abzuschreiten. Sie ziehen mehrmals im
Kreis herum, den Rosenkranz betend, um sich dann in zwei
weitere Kreise, nördlich davon, etwas höher gelegen, zu be-
geben, wo derselbe Umgang stattfindet. Dann gehen die Wall-
fahrer in die Kirche, oder wohnen unter der Tür der Messe
bei. Nachher kaufen sie Kerzen, welche beim Lucio -Altar
auf einem eisernen Gestell herunterbrennen; am Rochustag er-
hält auch die Rochuskapelle derartige Gaben.
Am Hochaltar und in der Sakristei pflegen Priester ver-
schiedene Gegenstände zu segnen, welche die Andächtigen in
ihren Bündeln zu Berge getragen haben. Es sind meistens
Kleidchen von Kindern und Windeln. Auch Eheringe
werden präsentiert. Viele Pilger bitten je nach dem Be-
dürfnis um Regen oder Trockenheit. Daß viele Wünsche in
Erfüllung gegangen sind, bezeugten mir zahlreiche Aussagen
von Geistlichen und Laien, bewies die als Votivgaben auf-
gehängte Krücke, ein wächsernes Bein, ein Arm. Und als
1909 tausend Gebete um Regen gen Himmel gestiegen waren,
ballten sich Wolken und es kam der ersehnte Regen; die
Alpler waren vollauf befi.odigt von ihrer Wallfahrt,
Doch es gilt nun die Bilder des Heiligen zu erklären;
sind dieselben doch die ältesten sicheren Zeugnisse über
S. Uguzo.
Das stehende Attribut ist der Käse (Fig.* 1 — 3); an der alten
Statue der Luciokirche ist es eine volle, runde Scheibe, später
sind es stets angeschnittene Scheiben und das weggeschnittene
Dreieck ist in der gebenden Hand des Heiligen oder in der
ausgestreckten Hand eines Armen. Die Absicht der Bildner,
San Lucio 339
den Heiligen als Wohltäter, als Schenker des Landesprodukts
darzustellen, ist klar. In gleicher Weise wird als Patron des
Weins und der Reben S. Morand im Elsaß, S. ürban in der
Champagne, S. Theodul im Wallis mit einer Traube abgebildet.
Überall sind dann aus dem Bilde volkstümliche Legenden
entstanden.
Im Kultgebiet S. Uguzos wird erzählt — seit dem 17. Jahr-
hundert wird die Legende auch aufgezeichnet — , der Heilige
habe als armer Knecht so viel Käse verschenkt, daß sein Brot-
herr ihn unter dem Verdachte, er verschenke nicht das Er-
sparte, sondern des Herrn Gut, davonjagte. Uguzo habe ver-
standen, aus den übrig gebliebenen Molken ein zweites Mal
Käse zu machen*; dadurch brachte er die Sennerei seines neuen
Brotherrn zur Blüte, während die Habe des frühern Herrn
abnahm. Voll Neid habe dieser ihn getötet; nach einer Version
ist er erdolcht worden, nach anderer* ist er von bösen Knechten
in siedender Milch zu Tode gebracht worden.
Ein Quell entsprang an der Stätte des Martyriums.'
Der blutige Leib sei in den Teich geworfen worden und
dessen Gewässer färben sich alljährlich rot^ am Todestag des
' Wunderbare Vermehrung von Speisen begegnen in vielen Heüigen-
legenden.
* Diese Version wurde Rahn im Bleniotal mitgeteilt. Ob sie nun
ludividuelle Meinung eines Pfarrers oder Volkstradition ist, in jedem
Fall hängt sie mit den Darstellungen S. Uguzos, die neben den Heiligen
einen großen Milchkessel (über dem Feuer) stellen, zusammen. Vgl. die
Gemälde zu Medeglia (in der Pfarrkirche und einem Bildhaus an der
Straße), sowie in der S. Annakapelle auf S. Lucio. Gesottene Heilige
waren dem Volk aus den Legenden von S. Johann und S. Veit geläufig.
' Das ist ein dem Hagiographen geläufiger Zug der Legenden;
erinnert sei nur an die Quellen von Tre Fontane und Zürich (Marter-
stätte von SS. Felix und Regula bei der Wasserkirehe), in Carrara,
Aquileia.
* Auf eine heidnische Parallele zur Blutfarbe weist mich Wünsch:
den alljährlich sich rotfärbenden Adonisfluß; vgl. dessen Schrift Das
FrvMingsfest der In^el Malta S. 22 f. Ein Beispiel aus der italie-
22*
340 E. A. Stückelberg
Heiligen. Dieser Zug tritt besonders in den Versen der Dichter,
die den Heiligen im 17. Jahrhundert besangen, hervor. Im
Martyrologium poeticum des Brautius lesen wir:
dann;
A primo pulsus, quoniam benefecit egenis
Alterius Domini Pastor adauxit oves,
Invidia dominum rebus stimulante minutis
Insons Uguzo damna cruore luit,
und schließlich:
Sanguis ubi cecidit Pastoris caede perempti
Föns ortus medicis sponte rubescit aquis.
Bulzius singt in seinem Sacrarium poeticum (Como 1665 H 23):
(Annua die, qua caesus est, fons
ortus in eius obitu rubescit).
Nox ubi funestis illata est improba talis
Saxea fontanas terra profundit aquas.
Annua sacrilega cum lux necis atra recurrit
Viscere de gravido, quae fluit, unda rubet.
Deflet humus, cum fundit aquas, fretus, anxia fundens
Rubras; sanguineis deflet humus laehrymis.
-Beide Lieder sind in Boscas Martyrolog von Mailand 169.")
(mit orthographischen Variationen) abgedruckt (p. 190 und 191).
Der rote Teich ist abgebildet auf einem Freskogemäldo
an einem Privathaus zu Tavordo vom Jahre 1628.
Der Heilige wurde mit einem Dolch (pugio), der landes-
üblichen Waffe, getötet. Ein Wandgemälde zeigt diesen Dolch
in der Hand des Mörders (Pfarrkirche zu Puria); auf zwei
Bildern (Deckengemälde auf San Lucio' und Wandbild zu Puria"^
sieht man die blutige Seitenwunde an der rechten Brust de.-
Märtyrers.
nischen Hagiographie bietet Ferraris Catalogus p. 75 im Leben dos
h. Gemulus Martyr: lapides fontis, in quem sanguis »irirtyris profluit . . .i
inrubescunt quasi sanguinc tincti.
San Lucio 341
Die große Zahl der Bilder aber zeigt ein Messer in der
Hand des Heiligen: die Scheide hängt am Gürtel. Erwähnt
seien nur die Fresken des 15. Jahrhunderts in Semione, Verscio
und Carona, femer die Statuen Ton Sonvico und Puria, alles
Denkmäler in Kirchen. Überall aber hat der Künstler das
Messer in die Hand des Heiligen gelegt, als Käsemesser, d. h.
mit der Gebärde des Schneidens, und regelmäßig ist der Käse,
von dem der Heilige verschenkt, angeschnitten. Ist wohl das
Marterinstrument, das dem Heiligen nach normaler, allgemeiner
Sitt« der Heiligen -Ikonographie beigelegt wurde, im Laufe
der Zeit als Käsemesser verstanden worden?
Die Frage verlangt zusammen mit der Behandlung der
anderen Attribute erklärt zu werden.
Käse ist das Hauptlandesprodukt auf den Alpen, wo
S. Lucio verehrt wird. Nichts ist natürlicher, als daß man,
da bares Geld rar war, die Opfer in Form von Käsen dar-
brachte. Solches bezeugen auch die Bollandisten. Man hat
nun den Heiligen mit den zu seinen Füßen niedergelegten
Gaben, eben den Käsen, gesehen; man hat das Bild wiederholt
Man hat das Attribut nach allgemeiner Sitte in die Hand des
Heiligen gelegt, wie die Traube den Weinbeschützern, wie das
Haupt den enthaupteten Heiligen.^ Die Statue in der Wall-
fahrtskapelle repräsentiert diesen Typus: der volle (unan-
geschnittene) Käse in der Linken des Heiligen. Die anderen
Bilder gehen einen Schritt weiter: sie geben den Heiligen den
Käse anschneidend. Dann den Käse angeschnitten. Ein
Armer empfängt ein Stück, ein zweiter geht mit einem
empfangenen Stück davon (Carona 1486). Spätere Bilder zeigen
den Heiligen inmitten seiner Molkereigeräte in der Sennhütte,
unter deren Tür die Bedürftioren erscheinen. Die Entwickeluns
* Beispiele: Urs, Victor, Felix, Regula, Exuperanz, Placid von
Disentis, Victor von Tomils, Dionys von Paris, Eleutherius und ßusticus,
Boetius (Pavia), Dalmatius, Ursicin (Ravenna). Domneo (Bergamo).
Emygdius (Äscoli).
342 E. A. Stückelberg
der Legende aus dem Bild dürfte einleuchtend sein, und aus
der Legende entstehen wiederum die ausführlicheren Bilder.
Das Messer, ein Instrument, das seit langem^ und heute
noch als Gerät und als Waffe bei den Italienern gebraucht
wird, ist vielleicht ursprünglich das Marterinstrument gewesen.
Im Verlauf der Zeit wird es aber, seitdem der Käse in die
eine Hand des Heiligen gelegt wird, als Käsemesser zu dem
Käse in Beziehung gesetzt. Das Bild des Heiligen fängt an
zu erzählen: es zeigt, wie er Käse zerschnitten, um ihn den
Armen zu geben. Und seit dem 17. Jahrhundert tauchen diese
Armen auf den Bildern auf, in Carona, auf San Lucio (Decken-
bild und Ölgemälde), in Medeglia (1687) und in Mailand
(um 1840).
Es bleibt noch der rote Teich. Das Cavargnatal stand
seit dem 15. Jahrhundert wegen seiner Eisenindustrie mit
Mailand in reger Verbindung. Sollte schon das eiserne Messer,
dieses stehende Attribut des Heiligen, ursprünglich eine Gabe,
ein Specimen der Landesproduktion gewesen sein? Sollte die
rote Farbe des Teiches vom Eisengehalt der Erde herrühren?
Für beides fehlen alle Beweise. Vielmehr scheint durch ein
naturgeschichtliches Phänomen der Teich nur zu bestimmter
Zeit — im Hochsommer, am 12. Juli — die rote Farbe ge-
zeigt zu haben. Jetzt liegt er trocken und der Boden unterscheidet
sich in nichts von dem der Umgebung. Ohne Zweifel aber
handelte es sich bloß um rote Spaltalgen, wie sie in den Berg-
gewässern häufig vorkommen. Der Verfasser hat sie schon
auf dem St. Gotthard, aber auch in der Ebene, im Züricher-
und im Murtenersee wahrgenommen. Die oscillcUoria rubescen^
im letzteren See, an dessen Ufer die Schlacht gegen Karl den
Kühnen getobt hat, hießen die Murtener „Burgunderbhit".
* Als S. Carl Borromaeus das Cavargna- und Collatal visitiertr
brachten die Einwohner ihre Stöcke und Messer mit ihm in Berühruu;^
und bewahrten sie fortan als Keliquien. Guissano Vita di S. Carlo,
Brescia 1611 p. 293,
San Lucio 343
Auch Millionen winziger roter Krebschen pflegen die Alpen-
seen gelecrentlieh rot zu färben.
SoUte die rote Farbe nicht nur an Blut erinnert haben,
sondern die Legende vom blutigen Tod des Heiligen erzeugt
haben? So weit darf man nicht gehen; man wird dabei stehen-
bleiben müssen, daß zuerst das Wasser da war, Quelle oder
Teich. An dieser Stelle mag man sich niedergelassen haben,
hier entstand vielleicht eine Hütte, in jedem Fall die Kapelle,
die heutige Wallfahrtskirche. Die Phantasie des Volks, immer
auf der Suche nach einer Erklärung, die sich von den Tat-
sachen, von der Wahrheit entfernt, bracht« das Wasser und
seinen Heiligen in Verbindung. An der Marterstätte soll ein
QueU entsprungen sein, oder in den Teich habe man den Mär-
tyrer geworfen; deshalb färbe sich das Wasser. Die Tötung
des Heiligen erinnert an die blutigen Grenzzwistigkeiten, die
im Mittelalter auf den Bergeshöhen der Gegend ausgefochten
worden sind; man denkt auch an die Streitigkeiten, bei denen
das Messer am Abend der Luciuswallfahrt selbst, wenn der
starke rote Wein die Gemüter erhitzt hatte, seine Rolle gespielt
hat. Und gerade um dieser Konflikte willen haben geistliche
Behörden im Bistum Como die Wallfahrt nach San Lucio ein-
stellen lassen. Nur noch die nahe gelegenen Dörfer, fast alle
zu den Bistümern Maüand und Lugano gehörig, beteiligen sich
heutzutage an der Feier.
Die Archäologie des Heiligen aber dürfte ein Schulbeispiel
für die wechselseitige Beeinflussung von Bild und Legende
darstellen und um so interessanter sein, als keine kirchliche
Behörde korrigierend in freies volkstümliches Schaffen ein-
gegriffen hat. S. Uguzo ist auch insofern eine merkwürdige
Erscheinung, als die Legende eine ganze Sammlung von
Legendenzügen auf sein Haupt vereinigt hat.
II Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VlI, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in etwa
vier Jahi-gängen schließen. Mit Band XII (1909) beginnt die neue
Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen der Zeit
seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß des betr.
neuen Berichts referiert.
2 Ägyptische Religion (1906-1909)
Von A. Wiedemann in Bonn^)
Allgemeines. Beziehungen zu anderen Religionen.
Die große Anzahl von Textpublikationen und Bearbeitungen,
welche über die ägyptische Überlieferung in den letzten Jahren
erschienen ist, hat vielfach die Kenntnis der altägyptischen
Religion gefördert. Da das vorliegende Material so gut wie
ausschließlich aus Tempeln und Gräbern stammt, so enthält
fast jeder Text und seine Erörterung Angaben, welche für die
Erkenntnis der Religion in Betracht kommen. So würde nur
eine vollständige Übersicht der ägyptologischen Literatur, wie
sie die großen Jahresberichte^ geben, auch die religions-
1 y^\. Archiv für Bel.-Wiss. VII S. 471—486, IX S. 481-499.
* Wiedemann Ägypten im Jahresber. der Geschichtsicissenscha/t für
1905, 1906, 1907. Berlin 1906—1908; und Griföth Archaeological lieport
Ägyptische Keligion (1906—1909) 345
geschichtlichen Studien erschöpfen. An dieser Stelle soll das
hervorgehoben werden, was für den Religionsforscher, nicht
ausschließlich für den ägyptologischen Spezialisten, von be-
sonderer Bedeutung sein kann.
Zunächst seien einige Gesamtdarstellungen der ägyptischen
Religion genannt. Eine ebenso anregende wie lehrreiche
Schilderung derselben unter besonderer Hervorhebung der auf
die Unsterblichkeitsvorstellungen bezüglichen Gedankengänge
und der Kultzeremonien gab E. Naville^ in einer Reihe von
Vorträgen. Die Behandlung der ägyptischen Religion durch
Erman erschien in einer zweiten, vom Verfasser umgearbeiteten
und im Umfange erweiterten deutschen und in einer englischen,
durch eine Reihe von Illustrationen vermehrten Ausgabe.-
Amelineau verfaßte ein größeres Werk über ägyptische
Religion^, und Petrie stellte in einer interessanten Schrift*
eine Reihe von Vermutungen über ägyptische religiöse Vor-
stellungen zusammen, für welche freilich vielfach der Beweis
noch aussteht.
Von verschiedenen Seiten ist im Verlauf der letzten Jahre
der Versuch gemacht worden, die Ergebnisse der ägypto-
1905/06, 1906 07, 1907/08 (Egypt Exploration Fund). London 1906 bis
1908. Auf wichtigere Erscheinungen beschränkt sich G. Röder Ägypto-
logie in Zeitschr. der Deutsch. Morgen}. Ges. LXU S. 185 — 202, LXIII
S. 239—251. Insbesondere über Religion handelt J. Capart Bulletin des
religions de VEgypte 1905, 1906 — 1907 (aus Rev. de THist. des Religions).
Paris und Brüssel 1906, 1909.
* La religion des anciens Egyptiens (Annales Musee Guimet. Bibl.
de Tulgarisation XXIII). Paris 1906.
* A. Erman, Die aegyptische Beligion. 2. Auflage. Berlin, G. Reimer.
— A Erman A handbook of Egyptian religion, translated by A. S. Griffith.
London, A. Constable, 1907.
* Prolegomenes ä l'etude de la religion Egyptienne (Bibl. Ecole des
Hautes Etudes. Sciences religieuses XXI). Paris 1908. Derselbe Ver-
fasser polemisierte gegen Erman: La religion egyptienne d'apres
M. A. Erman in Bev. de l'Hist. des religions LYII 3. 204—221.
* The Beligion of Ancicyü Egypt. London, A. Constable, 1906.
346 A. Wiedemann
logischen Forschung für die Religionswissenschaft in weiterem
Umfange nutzbar zu machen. Vor allem geschah dies durch
G. Foucart^, der die ägyptische Religion für eine Typus-
religion erklärte, deren Entwicklung und Einzelerscheinungen
ein Schema ergäben, in welches man die sonstigen religions-
geschichtlichen Vorgänge einzuordnen vermöge. Aus Ägypten
könne man die Grundlagen für die Erkenntnis befremdender
Gottheiten und Lehren bei anderen Völkern gewinnen. Dieser
Gedanke wird in geistvoller Weise durchgeführt und wird
weitere Kreise darauf aufmerksam machen, daß in dem schein-
baren Wust ägyptischer Religionslehren manches Wertvolle
enthalten ist. Andererseits setzt aber das Werk von Foucart
eine größere Sicherheit unserer Kenntnis der ägyptischen
Religion voraus, als sie tatsächlich bisher vorhanden erscheint.
Ein großer Teil der ägyptischen Texte enthält magische
Formeln, deren Verständnis durch zahlreiche Anspielungen auf
bisher unbekannte mythologische Vorgänge sehr erschwert
wird. Hierzu treten philologische Schwierigkeiten. Wie über-
all, so hat man auch im Niltale für Zaubersprüche absichtlich
eine sprachlich dunkle Ausdrucksweise gewählt, und diese hat
bereits im Altertume den Abschreibern große Schwierigkeiten
bereitet, viele Schreibfehler und Mißverständnisse in der text-
lichen Überlieferung veranlaßt. So sind denn umfang-
reiche Teile der religiösen Literatur, von den Pyramiden-
texten an bis zu den Inschriften der Ptolemäerzeit, nur mit
Zuhilfenahme oft kühner Vermutungen übersetzbar. Dabei
handelt es sich häufig gerade um die Abschnitte, welche
besonders wichtige Angaben über die Lehre und ihren Sinn
zu enthalten scheinen, während die mehr tatsächlichen Be-
merkungen über den Kultus und sein Zeremoniell leichter ver-
ständlich sind.
' La methode comparative dans l'histoire des religions. Paris,
A. Picard et Fils, 1909.
Ägyptisclie Religion (1906—1909) 347
Ein weiterer Übelstaoid liegt in der Lückenhaftigkeit des
vorliegenden Materials. So groß auch die Zahl der ägyptischen
Texte sein mag, vollständige Reihen ergeben dieselben nicht.
Es fehlen beispielsweise Aufschlüsse über die Übergangszeiten
vom Alten zum Mittleren und vom Mittleren zum Neuen Reiche,
also über die 7. bis 11. und die 13. bis 17. Dynastie. Gerade
diese Perioden sind für die Religionsentwicklung von größter
Bedeutung gewesen. In der ersten ist die Lehre von Osiris
als dem Verbürger der Unsterblichkeit des Menschen und König
der Toten, welche die ganze Folgezeit beherrscht, für das Nü-
tal maßcrebend geworden. In der zweiten ist die Durch-
dringuDg der ägyptischen Religion durch die solaren An-
schauungen erfolgt. Damals wurden aus den wichtigsten
Gottheiten Gestalten, welche in erster Reihe die Eigenschaften
des Sonnengottes zeigen, ein Zug, der in der Verbindung ihrer
Namen mit dem des heliopolitanischen Rä auch seinen äußer-
lichen Ausdruck gefunden hat. Endlich ist die erhaltene Über-
lieferung einseitig. Sie beschäftigt sich so gut wie ausschließ-
lich mit dem Glauben der höheren Stände, welche die Tempel
errichteten und inschriftoreschmückte Gräber anleorten. Die
volkstümlichen Kulte, welche gerade für religionsgeschichtliche
Zwecke vor allem in Betracht kommen, treten dem gegenüber
überall zurück. Der Tierkult wird kaum erwähnt. Den
Amuletten, deren ungemein große Zahl ihre Bedeutung für den
Volksglauben erweist, sind nur wenige, sich durch ihre Un-
klarheit auszeichnende Kapitel des Totenbuches gewidmet.
Erscheinen derartige Bedenken auf Grund unserer einst-
weilen noch unzureichenden Kenntnis der ägyptischen Religion
und ihrer Geschichte einem Fachmanne gegenüber berechtigt, so
müssen sie auch bei einem umfangreichen, von einem Philosophen
herrührenden Werke geltend gemacht werden. H. Schneider^
' Kultur und Denken der alten Ägypter. Enticicklungsgeschichte
der Menschheit (Phylogenetische Psychologie). Erster Band. Zweite
Ausgabe. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1909.
348 A. Wiedemann
unternimmt den Versuch, von einem geschichtsphilosophi-
schen Standpunkte aus eine Entwicklungsgeschichte der
Menschheit zu schreiben. Er setzt dabei mit Herder und
Hegel voraus, daß sich die Menschheit als Ganzes entwickelt.
Diese Entwicklung der Menschheit solle herausgearbeitet
werden in Gestalt einer Entwicklung des Menschengeistes.
Zu diesem Zwecke will er die einzelnen Völker untersuchen,
dabei voraussetzend, daß in all ihren Einzelentwicklungen der
gemeinsame Kern der Menschheitsentwicklung verborgen liege.
Er beginnt mit Ägypten und betont dabei, für seine Zwecke
sei es nicht nötig, sich auf das Studium der ägyptischen
Sprache einzulassen. Dies hätte geradezu ein Hindernis, Zeit-
verlust und die Gefahr der Verwirrung durch unzählige Einzel-
fragen bedeutet. Der frische Mut wäre ihm vergangen, der
unentbehrliche Weitblick durch die Übung philologischen
Nahesehns getrübt worden. So habe er es sich denn an der
Garantie der Fachleute für ihre Übersetzungen genügen lassen.
Auf dieser Grundlage wird eine Übersicht gegeben über die
Geographie und Geschichte des Landes, die Verfassung und die
Gliederung der Stände, die Kunst und die Schrift, die Dichtung
und die Geschichtschreibung, die Wissenschaft, die Religion.
Vor allem sucht der Verfasser zum Schlüsse eine große un-
mittelbare Bedeutung der ägyptischen Glaubenssätze für den
Ausbau der christlichen Lehre nachzuweisen. Das Buch ist
anregend geschrieben und enthält brauchbare Kombinationen,
andererseits geben aber manche Ausführungen, vor allem die
Aufstellungen über die Beziehungen zum Christentume, Anlaß
zu erheblichen Bedenken. Im ganzen faßt es die Entwicklung
der ägyptischen Religion weit einheitlicher, als es das vor-
liegende Material verlangt. Zahlreiche Lücken werden, um
eine logische Folge zu gewinnen, durch Vermutungen aus-
gefüllt, deren Beweis noch erbracht werden muß.
Während Schneider im allgemeinen versucht, Züge der
Lebensgeschichte Christi mit ägyptischen mythologischen Be.
Ägyptische Religion ^1906 — 1909) 349
richten in Verbindung zu bringen, hat dies Ißleib^ bei einem
Einzelpunkte getan. Er meint, die Geburtsgeschichte Christi
gehe auf die Auffassung und Darstellung der Erzeugung und
Geburt des ägyptischen Königs zurück, wie sie in dem Tempel
von Luxor für Amenophis III. auftrete. Dabei gelangt er aber
über rein äußerliche Punkte nicht hinaus und gibt vor aUem
keinerlei Erklärung für den fundamentalen Unterschied, daß
in Ägypten der Gott, um Vater des Königs zu werden, die
Gestalt des irdischen Vaters anzunehmen hat, während die
absolute Ausscheidung Josephs der biblischen Erzählung einen
ganz andersartigen Charakter aufdrückt. — Ein eigenartiges,
umfangreiches Werk verfaßte Massey.* Er wollte zeigen, daß
alle mythologischen Vorstellungen, alle arischen und semi-
tischen Märchen und Volkserzählungen, die israelitische und
christliche Religion auf die aus dem Innern Afrikas stammende
kamitische Religion zurückgingen, welche verhältnismäßig am
reinsten in den ägyptischen Glaubenslehren erhalten geblieben
sei. Brauchbar in dem Buche sind die Parallelen zur ägyp-
tischen Religion aus andereji Mythologien und volkskundlichen
Erzählungen, die hieraus gezogenen Schlüsse dagegen sind in
zahlreichen Fällen rein hypothetischer und phantastischer
Natur, der Grundgedanke der Darlegungen ein verfehlter.
Eine sehr große Bedeutung wurde von verschiedenen
Seiten einer vorläufigen Mitteilung von H. 0. Lange ^ beigelegt
Dieser hatte vorgeschlagen, in einem aus der 19. Dynastie
* .Sjnd die Geburtsgeschichte Christi und die christliche Dreieinig-
keitslehre von Ägypten beeinflußt? in Klio IX, S. 383 f. — D. Voelter
Ägypten und die Bibel 4 Aufl., Leiden, E. J. Brill 1909, sucht nach-
zuweisen, daß ein großer Teil der israelitischen Urgeschichten von
Abraham, Jaköb, Moses, Simson auf ägyptische, mythologische Vor-
stellungen und Erzählungen zui-ückgehe.
* Ancient Egypt, the light of the tcorld. A werk of reclamation
and restitution in twelve books. 2 Bde. London, T. Fisher ünwin, 1907.
' Prophezeiungen eines ägyptischen Weisen aus dem Papyrus
•T 344 in Leiden in Sitzungsber. der Bert Akad. 1903, S. 601 ff
350 A.. Wiedemann
stammenden, wenig gut erhaltenen Papyrus Prophezeiungen
wieder zu erkennen. Der Text sage kommendes Unheil, so-
ziale Umwälzungen und Einfälle fremder Völker voraus und
verkünde dann einen Erretter, der das Volk wieder sammeln,
Heil und Hilfe bringen werde. Man glaubte darin einen Be-
weis für ein in Ägypten in früher Zeit nachweisbares^ Vor-
kommen messianischer Prophezeiungen vor sich zu haben.
Hiervon ausgehend ließ man das Schema der Prophetie aus
Ägypten nach Palästina wandern und an dieses die großen
israelitischen Propheten anknüpfen.^ Aus der seither er-
schienenen Publikation und Bearbeitung des Papyrus durch
A. H. Gardiner ^ geht hervor, daß derselbe tatsächlich in sehr
phrasenhafter Weise einen unglücklichen Zustand Ägyptens
schildert, in den innere Zwietracht und, wie es scheint, ein
Einfall äußerer Feinde das Land gebracht hatten. Im An-
schlüsse daran fordert der Verfasser König und Volk auf,
diesen Verhältnissen ein Ende zu machen, vor allem den
Göttern Opfer und Gaben darzubringen. Dann scheint die
Rede davon zu sein, daß der Sonnengott Rä keine Hilfe
* Bei den daneben angeführten Prophezeiungen des Lammes unter
König Bocchoris (unter Augustus geschrieben), des Toepfers und des
weisen Amenophis (hellenistisch) läßt sich älterer Ursprung zwar ver-
muten, aber bisher nicht beweisen, daß diese Texte auf ältere ägyptische
Originale zurückgehen. Für den Petersburger Papyrus bei Golenischeff
Äg. Zeitschr. XIV, S. 109 f, Bec. de trav. rel. ä l'Egypt. XV, S. 89, muß
eine Publikation abgewartet werden, ehe sich sichere Schlüsse ziehen
lassen. Das von Daressy, Ostraca. Cat. du Musee du Caire S. 52flF. pu-
blizierte, von Ranke in Greßmann Altorientalische Texte zum Alten Testa-
ment S. 204 ff. übersetzte Duplikat enthält nur einen Teil des Textes,
der zur Feststellung seines Zweckes nicht genügend erscheint. Ein
Ostrakon in Liverpool (Spiegelberg Bec. de trav. rel. etc. XVI, S. 26) gibt
nur wenige Worte von seinem Anfang.
* Eduard Meyer Die Israeliten und ihre Nachbarstämme S. 451 ff.
Vgl. H. Lietzmann Der Weltheiland Bonn, A. Marcus, 1909.
' The Admonitions of an Egyptian Sage. From a hieratic papyrus
in Leiden (Pap. Leiden, 344 recto). Leipzig, J. C. Hinrichs, 1909.
Ägyptische Religion (1906—1909) 351
bringe, und dem Könige schuld an dem Unglück gegeben zu
werden, welches im Gegensatze zu den wünschenswerten fried-
lichen Zuständen stehe. Keiner der verschiedenen Abschnitte
zeigt, wie Gardiner mit Recht ausführt, einen prophetischen,
vor allem keinen messianischen Charakter, auch nicht das von
Lange seinerzeit herangezogene Stück, dessen richtiges Ver-
ständnis durch zahlreiche Lücken erschwert wurde. Damit
müssen auch die weitreichenden Schlüsse, welche man auf die
erste Interpretation des Textes aufgebaut hat, aufgegeben
werden.
Li den bisher aufgeführten Arbeiten wurde Ägypten zum
Ausgangspunkte der Forschung genommen. Li einem ge-
wissen Gegensatze dazu sucht A. Jeremias die ägyptische Re-
ligion in den Kreis der nach Winckler von Babylonien aus-
gehenden und so gut wie alle Länder beherrschenden Astral-
mythologie einzuordnen.^ Es muß diesen Bestrebungen gegen-
über betont werden, daß die siderischen Kulte in Ägypten eine
verhältnismäßig geringe Rolle spielen. Zwar wird der Kult
des Sonnengottes häufig erwähnt und galt demnach im Niltale
für äußerst wichtig. Der Nachdruck lag aber dabei, mit Aus-
nahme der Zeit Amenophis' IV., auf der anthropomorph ge-
dachten in der Sonne verkörperten Gestalt, nicht auf dem
Himmelskörper selbst. Noch stärker als bei der Sonne ist
das Betonen des anthropomorphen Herrn bei den anderen
Himmelskörpern, dem Monde und den Sternen. Ihre astrale
Natur kommt erst in zweiter Linie in Betracht, wird sogar in
den meisten Fällen völlig außer acht gelassen. -
' A. Jeremias Die Panbabylonisten: Der Orient und die ägyptische
BeJigion. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1907. — Vgl. A. Jeremias Das Alte
Testament im Lichte des alten Orients. 2. Aufl. Leipzig, J. C. Hin-
riclis, 1906.
* "Weit wichtiger als für den Kultus und den Glauben des täglichen
Lebens waren die Gestirne bei der Orientierung der Tempel. Vgl. die
grundlegenden Untersuchungen von H. Nissen Orientation Heft 1. Berlin,
Weidmann, 1906.
352 ^- Wiedemann
Auf die zahlreichen Untersuchungen und Darstellungen
einzugehen, welche dem Fortleben der ägyptischen Kulte im
Kreise des griechisch-römischen Isis- und Serapisdienstes ^ und
besonders im Bereiche der hellenistischen Magie ^ gewidmet
worden sind, verbietet der zur Verfügung stehende Raum.
Dieselben sind meist von philologischer Seite verfaßt und
kamen der hellenistischen Religionskenntnis zugute. Vom
ägyptologischen Standpunkte gingen nur wenige, kurz zu
nennende Schriften aus. In einem anregend geschriebenen
Buche besprach Flinders Petrie^ den wesentlichen religiösen
und religionsphilosophischen Inhalt der sogenannten Herme-
tischen Schriften, der Schrift Piutarchs über Isis und Osiris
und des Apollonius von Tyana von Philostrat. Er sieht dabei
etwaige Anspielungen auf Ereignisse als historische Tatsachen
an und sucht von ihnen ausgehend die wichtigeren Herme-
tischen Schriften zu datieren. So findet er in der Köqtj
xöö^ov einen Vergleich mit einem guten Satrapen, der die
Frucht seiner Erfolge den Besiegten zukommen lasse. Der
Ausdruck Satrap zeige, daß die Schrift in die Perserzeit ge-
höre, und, da um 518 der Satrap Aryandes seine Beute von
Kyrene nach Ägypten brachte, so werde die Schrift in dieser
Zeit, um 510 entstanden sein In ähnlicher Weise wird die
Entstehungszeit für andere Schriften gegeben und dann eine
Entwicklung in den in ihnen enthaltenen Lehren aufzuzeigen
* F. Cumont Les religions Orientales dans le Pagänisme Homaiti
{Ann. Musee Guimet. Bihl. de Vidgarißation XXIV), Paris, Leroux, 1907;
A. Rusch De Serapide et Iside in Graecia cultis. Berlin 1906.
* R. Wünsch Antikes Zaubergerät von Fergamon in Jahrb. des
Deutsch. Archäol. Inst. Ergänzungsheft 6. Berlin, 1905; R. Wünsch
Antike Fluchtafeln (Kl. Texte für theol. Vorlesungen, herausg. von
H. Lietzmann, Heft 20). Bonn, 1907; R. Wünsch Deisidaimoniaka im
Arch. f. Ecligionswiss. XII, S. 1 ff. ; A. Abt Die Apologie des Apuleius von
Madaura. Gießen, Toepelmanu, 1908.
* Personal Ecligion in Egypt before Cliristianity. London, Harper
and Brothers, 1909.
I
Ägyptische Religion (1906—1909) 353
gesucht. Wie hypothetisch solche Datierungen sind, und wie
bedenklich es ist, eine so frühe Entstehung für die genannte
Schrift anzunehmen, braucht nicht weiter betont zu werden.
Auch in den übrigen Ausführungen finden sich stark sub-
jektive Vermutungen, die der Kritik um so mehr Angriffs-
punkt« darbieten, als dem verdienten Agvptologen die aus-
gedehnte Literatur über die philosophischen Gedankengänge
und Religionsentwicklungen der hellenistischen Zeit nur in
sehr beschränktem Maße zugänglich gewesen zu sein scheint.
Eine der spätesten Nachrichten über das Vorkommen der
ägyptischen Kulte in den westlichen Provinzen findet sich bei
Ammian. Marcellin. XVI, 12, 25, demzufolge der Alemannen-
könig Chnodomar als Eingeweihter in griechische Mysterien
seinen Sohn Serapio nannte. Auf diese öfters angeführte
Stelle^ hatErman- neuerdings wieder hingewiesen. Gnostische
Gemmen mit griechischen Inschriften veröfientlichten Barry'
und Smolenski.* Einzelne Motive aus der ägyptischen Götter -
lehre haben in koptische Legenden Eingang gefunden, wenn
deren Hauptbestandteile auch auf griechische Quellen zurück-
gehn. Unter den Publikationen dieser Legendentexte ist eine
Schrift von Xoel Giron^ zu nennen, welche Bruchstücke vom
Gespräche Evas mit der Schlange, vom Opfer Abrahams, von
der Geschichte der Marina, der der Tochter des Königs Zenon und
der der Tochter des Kaisers Basiliskos enthält, dieselben über-
setzt und bespricht.
^ Z. B. Schaaff hausen über den römischen Isis -Dienst am Bhein
in Bonner Jahrbücher LXXVI, S 53.
* Ein Deutscher als Verehrer ägyptischer Götter in Äg. Zeitschr. XLIJ,
S. 110.
' Notice sur quelques pierres gnostiques in Ann Serv. des Antiquites
VII, S. 241 ff.
* Une intaille gnostique provenant du Fayoum in Ann. Serv. Ant. IX,
S. 92 f.
* Legendes Coptes. Paris, P. Genthner, 1907. Scharf ablehnende
Kritik, besonders der Übersetzung, von Andersson in Sphinx XI, S. 236
bis 246.
Archiv f. Beligionswissenschaft XIII 23
354 ■^- Wiedemann
Einzelne Gottheiten. Für die statuarisclie Darstellung
der Götter wird ein sehr reiches Material durch den von zahl-
reichen Tafeln begleiteten Katalog der betreffenden Stücke im
Museum zu Kairo ^ zugänglich gemacht. Die ältesten Ab-
bildungen und Auffassungen lehren die Denkmäler der vor den
Pyramidenerbauern liegenden Nagadazeit Die Angaben, die
sich aus ihnen erschließen lassen, hat in eingehender Weise
A. J. Reinach ^ zusammengestellt. Das Hauptgewicht legt er auf
eine Schilderung der kulturhistorischen Verhältnisse, der
damals üblichen Bestattungsarten und der zahlreichen Grab-
beigaben.
Weit umfangreicher als diese Schrift ist ein Buch von
Weill', welches berufen ist, für weitere Studien über das
vorpyramidale Ägypten die Grundlage zu bilden. Dasselbe
stellt unter Beigabe von Abbildungen das Material für die Zeit
von Snefru an aufwärts für die zehn Könige zusammen, welche
der zweiten und dritten manethonischen Dynastie anzugehören
scheinen. Die Königslisten werden besprochen, dann die er-
haltenen Inschriften auf Cylindern, Statuen und sonstigen Gegen-
ständen, die Stelen und vor allem die verschiedenartigen Gräber.
Chronologische Übersichten und eine ausgedehnte Bibliographie
bilden den Schluß des Werkes. Wenn dasselbe auch nicht
der Religion der Periode insbesondere gewidmet ist, so er-
geben sich doch aas ihm die Urkunden, welche für deren
Wiederherstellung, in erster Reihe für ihren Unsterblichkeits-
glauben in Betracht kommen. In ihrer vollständigen, zuver-
lässigen und übersichtlichen Fassung geben sie dem Buche
auch für religionsgeschichtliche Zwecke weittragende Bedeutung.
' Dareasy Statues de Divinites. 2 Bde. Kairo 1905 — 1906.
* L'Egypte prehistorique. Paris, P. Geuthner. 1908.
' R. Weill Les Origines de l'Egypte Pharaonique. I. La II«
la III« Dynasties (Annales du Mu8(5e Guimet. Bibl. d'Etudes XX^
Paris, E. Leroux. 1908.
Ägyptische Religion (1906—1909) 355
Die Ergebnisse der Ausgrabung des Sonnenobelisken-
heiligtums zu Abusir * waren für den heliopolitanischen Kult des
Gottes, dessen Materia sacra hier nachgeahmt worden war, von
hervorragender Bedeutung. Es veraulaßte dies Foucart* zu
eingehenden Studien über die Sonnenkulte und die bei ihnen
in Betracht kommenden Barken. Die interessanteste Episode
in der Entwicklung der Sonnenverehrung ist der Versuch
Amenophis' IV., die Verehrung der Sonnenscheibe Aten zur
Reichsreliffion zu machen. Die vortreffliche Publikation der
Gräber von Teil el Amama durch Davies^ bringt für diese Zeit
kulturgeschichtliche und archäologische Aufschlüsse in weitem
Umfange. In religiöser Beziehung ergibt sie weniger Neues.
Die poetisch schönen Hymnen an den Gott in diesen Gräbern
lassen sich, da sie in üblicher Weise diese Gottheit in heno-
theistischem Sinne als einzige Gottesgestalt preisen, nur mit
großer Vorsicht benutzen und jedenfalls, trotz aller dahin
zielender Versuche'*, nicht als Beweis für das Vorkommen
monotheistischer Tendenzen im Niltale verwerten. Wichtig
war die Bearbeitung einer Stele des Königs Tut -änch- Amen,
in welcher dieser seine Tätigkeit bei der Wiederherstellung
des Amondienstes nach dem Tode Amenophis' IV. berichtet, durch
Legrain. Dieser^ wies dabei auf die auffallende Tatsache hin,
* Fr. W. von Bissirig Das Fe- Heiligtum des Königs Xe-Woser-Re
(Rathuresj. I. L. Borchardt Der Bau. Berlin 1905.
* Recherches sur les cultes d'HeliopoUs in Sphituc X, S. 160 — 225;
Un tempJe solaire de l'empire Memphite in Journ. des Savants IV, S. 360
bis 370 (besonders über die Kapitel der Pyramidentexte über die Mädet-
barke).
* El Amama I — VI (Archaeological Survey of Egypt). London
1903—1908. — Ausgrabungen in den Stadtruinen von Teil el Amarna
beabsichtigt die Deutsche Orientgesellschaft. Eine Versuchsgrabung von
Borchardt (Mittig. Deutsch. Orientges. Xr 34, S. 14 ff.) ergab kulturhistorisch
interessante Funde.
* B. Baentsch Altorientalischer und israelitischer Monotheismus.
Tübingen, J. C. B. Mohr, 1906.
'" La grande Stele de Toutankhamanou ä Karnak in Rec. de trav.
\rel. etc. XXIX, S. 162—173, besonders S. 172; vgl. Legrain Quelques
23*
356 ^' Wiedemann
daß die Denkmäler des häretischen Königs in Theben nicht syste-
matisch zerstört wurden und teilweise ruhig in dem Amontempel
verblieben. Die Reaktion gegen seine Reformversuche kann dem-
nach nicht so einschneidend gewesen sein, wie man es an-
zunehmen gewohnt ist.
Naville^ handelte über die in der großen Oase verehrte
nabel gestaltige Form des Gottes Amon und vermutete, die Ver-
tiefungen in den Schieferplatten der Nagadazeit ^ hätten ent-
sprechend gestaltete Götterbilder enthalten. Er stellte^ die
Erscheinungsform mit dem Gotte Bat zusammen, der auch als
Löwe mit zwei Köpfen auftrete. Wenig glücklich war an-
gesichts der antiken Schilderungen der Gedanke Lefebures*, es
sei in dem Gebilde eine Sonnenscheibe zu erkennen, bei welcher
der in dem ägyptischen Hieroglyphenzeichen häufig in der
Mitte angebrachte Punkt durch ein Kleinod gebildet worden
sei. Daressy^ dachte an eine Darstellung, welche der von ihm
nachgewiesenen Inkorporationsform des thebanischen Amon in
einer Art Sack, aus dem oben ein Kopf hervorragt, entsprochen
hätte. Von größter Bedeutung für die Geschichte und den
Ursprung des Kultus des Amon in Widdergestalt würde eine
von Schweinfurth" veröffentlichte Darstellung sein, Avenn sich
die Ansicht des Geologen Flamand bestätigte, daß ihr ein
Alter von 10 000 bis 1 2 000 Jahren zukomme. Das Bild stellt
Monuments d'Atnenothes IV. provenant de la cachette de Kamak in Ann.
Serv. Änt. VII, S. 228 — 231.
^ Le dieu de l'Oasis de Jupiter Amon in Comptes Bendus Acad.des
Inscriptions 1906, S. 25ff.
* Die religionsgeschichtliche Bedeutung dieser Platten, die er mit
den Churinga der Australier in Parallele bringt, erörtert Capart I.es
Palettes en Schiste de l'Egypte primitive in Bev. des Questions historiques.
April 1908.
' Le dieu Bat in Äg. Zeitschr.XLlll, S. 77 fr.
* E. Ander.sson Ä propos du dieu de l'oasis de Jupiter Amman iu;
Sphinx XII, S.48f.
^ Une nouvelle forme d' Amman in Ann. Serv. Ant.IX, S. 64fiF.
» Brief aus Biskra in Zeitschrift für Ethnol. XL, S. 88 tt"., abgedruckt|
in Ann. Serv. Ant. IX, S. 162flf.
Ägyptische Religion (1906—1909) 357
einen stehenden Widder dar, auf dem Kopfe trägt er die
Sonnenscheibe, an deren Seiten mißverstandene UraeusscKlangen
angebracht sind. Seine Ausführung zeigt keinerlei archaischen
Charakter, er erscheint vielmehr in seiner ganzen Auffassung
als 'eine in hellenistischer Zeit entstandene barbarische Nach-
ahmung eines ägyptischen Vorbildes.^
Den Gott Tanen, der im Verlaufe der ägyptischen Ge-
schichte mit dem memphitischen Ptah verschmolz, hat man
häufig für einen aus dem Auslande eingeführten Gott erklärt,
Jequier^ spricht sich demgegenüber für seinen einheimischen
Ursprung aus. Wiedemann' hielt die von Herodot als Grund-
lage für seine Erzählung von dem Priester Sethon verwertete
Statue in Memphis für das Bildnis eines der Chnumu, welche
bei der Weltschöpfung als Genossen des Ptah tätig waren und
apotropäische Bedeutung besaßen. Die Tonstatuette einer dieser
Gottheiten, bei welcher der Phallus wohl auch zu einem der-
artigen Zwecke durch einen Menschenkopf ersetzt worden ist,
veröffentlichte Brugsch.* Von Einzelbeiträgen über ägyptische
Gottheiten sind hervorzuheben solche über Hathor^; Safech,
in der Schäfer^ Horapollos Muse wiedererkannte; Buto'; die
Göttin der Ernte Rennut ^; die Göttinnen Sothis und Satis und
' Die von dem Gotte Amon selbst gewünschte Einsetzung des
Xeb-unen-f znm Oberpriester in Theben durch Ramses II. schildert eine
von Sethe Die Berufung eines Hohenpriesters des Amon unter Bamses II.
in Äg. Zei7.«cÄr. XLIV, S. 30£f. behandelte Inschrift.
- Origine du dieu Tanen in Bec.de trav.rel. etc. 5XX, S. 42f.
' Die Statue des Priesters Seihon zu Memphis in Orient. Lit.
Zeit. XI, Sp. 179 fiF.
* Sur wve Statuette de Ptah pateque in Ann. Sero. Ant, VIII, S. 160.
* Hymnen an sie bei H. Junker Poesie aus der Spätzeit in Äg.
Zeitschr. XLIII, S. 101 ff.; Beispiel einer Textentlehnung in Dendera,
I.e., S. 127f.
« Moveu bei Horapollo 11, 29 in jL5r.ZettecAr.XLlI, S. 72ff.
■ V. Schmidt Two statuettes of ihe goddess Buto in Proc. Soc. Bibl.
Arch. XXVni, S. 201 f.
* Spiegelberg Thermuthis als Göttin des Schreckens in Bec. de trav.
rel. etc. XXYIIF, S. 179.
358 -^- Wiedemann
ihr wechselseitiges Verhältnis.^ Zur Lesung einiger Götter-
namen äußerte sich Sethe.^
Unter den aus dem Auslande in Ägypten eindringenden
fremden Gottheiten sind die semitischen die wichtigsten. Hier
stellte Spiegelberg ^ die Darstellungen des Resef zusammen,
Erman* besprach Nennungen der Göttin von Byblos in
Phönizien und suchte deren Erwähnung in einem Eigennamen
des Mittleren Reiches nachzuweisen. In einer magischen Formel
der 20. Dynastie^ werden Schädlichkeiten erwähnt, welche von
dem Gotte Resef, dessen Gattin Atumä (vielleicht das personi-
fizierte Edom) und der Göttin Nukar (nach Gardiner die
babylonische Göttin Ningal) ausgehen. — Eine Fülle von
Dämonen des allerverschiedensten Ursprunges tritt auf den
bisher wenig bearbeiteten Särgen des zweiten Teiles des Neuen
Reiches und der Spätzeit auf, von denen der Katalog des
Kairener Museums ^ eine längere Reihe in eingehenden Be-
schreibungen und Tafelbildern zugänglich zu machen beginnt.
Für die Behandlung des ägyptischen Tierkultes' bringen
die Untersuchungen, welche Lortet und Gaillard^ den ägyp-
tischen Tiermumien und Tierdarstellungen zu widmen fort-
' Röder Sothis und Satis in Äg. Zeüschr.XLY, S. 22 ff.
* Der Name der Göttin Neith in Äg. Zeitschr.XlAU, S. 144 ff. ; Der
Name des Gottes Kijß I.e., S. 147 ff.; Der Name des Phönix 1. c. S. 84f.
^ Neue Reschephdarstellungen in Orient. Lit Zeit. XI, Sp. 529ff.
* Die „Herrin von Byblos" in Äg. Zeitschr. XLII, S. 109 f.
^ A. H. Gardiner The goddess Ningal in an Egyptian text in Äg.
Zeitschr. XLIII, S. 97.
^ G. Maspero Sarcophages des epoques Persane et Ptolemaique
I. fasc. 1. Kairo 1908; E. Chassinat La seconde trouvaille de Deir el-
Bahari. I. fasc. 1. Kairo 1909. _
' Die Versuche, den ägyptischen Tierkult für Totemismus zu ei- M
klären (V. Loret L'Egypte au temps du Totcmisme, Ann. du Musdc
Guimet, Bibl. de Vulgarisation XIX, Paria 1909), scheitern u. a. daran,
daß im Niltale ein Teil der wesentlichen Charakteristika des Tote-
mismus fehlt, wie z. B. das sexuelle Tabu.
* La Faune momifiee de l'ancienne Egypte. 3. Serie. Lyon, Georj
1907; 4. Serie, 1908.
Ägyptische Religion (1906—1909) 359
fahren, ein äußerst reichhaltiges und wichtiges Material bei.
Letzterer Verfasser gab auch in Gemeinschaft mit Daressy den
reich mit Tafeln ausgestatteten, ausgezeichneten Katalog der
Tiermumien im Kairener Museum heraus.^ Von sonstigen
hierher gehörigen Denkmälern sind ein Hundesarg in Brüssel^
und mehrere Skarabäensärge' zu erwähnen. Kleine Bronze-
standarten mit den Bildern heiliger Tiere, eines Schakal, einer
Kuh, eines Skorpion mit Menschenkopf wurden veröffentlicht.*
Wichtig für die Bestattungsfeier und den Eingang der Gott-
Tiere in die himmlischen Bezirke sind die Grab- und Denk-
steine, welche ihnen gewidmet wurden. Abgesehen von solchen
für den Apis von Memphis^ liegen von diesen bedauerlicher-
weise verhältnismäßig wenige vor. Ein neues hierher gehöriges,
einem unter Augustus lebenden Stiere von Hermonthis gelten-
des Denkmal machte Daressy bekannt^, ein anderes für eine
Kuh wohl aus dem 22. oberägyptischen Nomos Aphroditopolis
aus dem 13. Jahre des Ptolemäus I. Soter Spiegelberg." Einen
weiteren derartigen Denkstein bildet die in ihrem historischen
' La Faune motnifiee de Vantiqiie Egypte. Kairo 1905. Einen
Nachtrag dazu gab L. Borchardt Ein Katzensarg axis dem Neuen Seich
in Äg. Zeitschr. XLIV, S. 97.
* J. Capart Un cercueil de chien du Moyen Empire in Äg. Zeitschr.
XLIY, S. 131.
' W. L. Nash Notes on some Egyptian Antiguities in Proc. Soc. Bibl.
Arch. XXX, S. 293.
* W. L. Nash Notes on some Egyptian Antiquities in Froc. Soc. Bibl.
Arch. XXX, S. 175.
'" Ein von Wilcken Zu den Genfer Papyri im Archiv für Papyrus-
forschung III, S. 392 fF. behandelter Papyrus spricht von der Lieferung
von Leinewand durch einen Tempel im Fayüm für das Begräbnis eines
solchen Apis. Daressy Construction d'un temple d'Apis par Nectanebo I.
in Ann. Serv. Ant. IX, S. 154 ff. veröffentlichte eine Stele über Bauten
des Nectanebus I. für den lebenden Apis.
^ Stele funeraire d'un taureau d'Hermonthis in Rec. de trav. rel.
etc. XXX, S. 10 ff.
' Ein Denkstein auf den Tod einer heiligen Isislcuh in Äg. Zeitschr.
XLIII, S. 129 ff.
360 A. Wiedemann
Teile mehrfach behandelte, in ihrem sonstigen Inhalte weniger
berücksichtigte Stele von Neapel, welche einem Widder von
Heracleopolis magna gilt. Zu dem Fortleben des alten Tier-
kultes im Glauben der heutigen Araber in Ägypten an heilige
und zu verehrende Katzen und Eidechsen brachte Legrain^
interessante Beiträge. Larken^ veröffentlichte modern-ägyptische
Erzählungen, denen zufolge sich Geister mit Vorliebe in Tieren
verkörpern.
Kultus. Verhältnismäßig dürftig sind die Quellen, welche
bisher für die Durchführung des Kultus in den Tempeln und
bei den sonstigen religiösen Zeremonien vorliegen. Die wich-
tigste Urkunde ist hier das große, von Moret bearbeitete, in
Inschriften und Papyris erhaltene Tempelritual geblieben, zu
dessen Verständnis einige kleinere Beiträge erschienen.^ Über
das ägyptische Menschenopfer stellte Mader* eine Reihe von
Stellen zusammen und suchte die israelitischen Menschenopfer
durch ägyptische Beeinflussung zu erklären. Zur Sitte der
Priester, bei feierlicher Gelegenheit das Bild jugendlicher Gott-
heiten im Arme zu tragen, äußerte sich Spiegelberg.^
Zu kultischen Zwecken entstanden bereits im alten Ägypten
Vereine. Das Vorhandensein eines solchen, welcher während
der 21. bis 22. Dynastie in Theben tätig war und, wie es
scheint, bei Begräbnissen oder Mumienübertragungen zu tun
hatte, wies Legrain® nach. Von einem zweiten, der an be-
stimmten Tagen Feste feierte und für die Bestattung seiner
^ Sur un cas de ToUmisme moderne in Ann. Serv. Ant. VII, S. 35flF.
^ Egyptian Beliefs in FolJc-Lore XIX, S. 471f
' Moret Sur le rite de l'embrassement in Sphinx XI, S. 26 ff.,
Andersaon Fetites Etudes sur Le Papyrus no. 3055 du Mtisee de Berlin
in Sphinx XII, S 14ff.
* Das Menschenopfer der alten Hebräer und der benachbarten
Völker {Biblische Studien XIV, Heft 5 — 6). Freiburg i. B., Herder,
1909.
* Eine Illustration zu Kanopus 30 in Äg. Zeitschr. XLV, S. 91.
« Sur la asit Miri Thoti in Ann Serv. Ant. VIII, S. 254 ff.
Ägyptische Religion (1906—1909) 361
Mitglieder sorgte, veröffentlichte und übersetzte Spiegelberg
die aus der Ptolemäerzeit stammenden Statuten in seinem auch
sonst reiches Material zur Religion der Spätzeit enthaltenden
Kataloge der Kairener demotischen Papvri.* Das große Werk
von W. Otto- ist der Spätzeit Ägyptens gewidmet, doch bringt,
wie der früher erschienene erste Band, so auch der zweite,
der die Ausgaben der Tempel, die Kultverwaltung, die soziale
Stellung der Priester, das Verhältnis von Staat und Kirche
bespricht, zahlreiche Angaben, welche für das alte Ägypten
von großer Wichtigkeit sind.^
Osirislehre. Dreimal ist im Verlaufe der ägyptischen
Geschichte der Versuch gemacht worden, die für den Ver-
storbenen notwendigen oder nutzbringenden Zauberformeln zu
sammeln. Am Anfange des Alten Reiches bildete sich die
Kompilation der nach ihrem Fundorte genannten Pyramiden-
texte, etwa mit dem Beginne des Mittleren Reiches die Zu-
sammenstellung, welche in wenig glücklicherweise als die Ältesten
Texte des Totenbuches bezeichnet wird, endlich ungefähr mit
dem Eintreten des Neuen Reiches das Totenbuch selbst. Da-
bei handelte es sich nicht um systematische Arbeiten. Be-
liebig wurden die aus den verschiedensten Quellen stammenden
Stücke aneinander gereiht. Doppeltexte blieben stehen, Wider-
sprüche wurden nicht ausgeglichen, Lücken nicht ausgefüllt.
Infolgedessen gewann keine der Sammlungen kanonische Be-
deutung. Willkürlich wählte man sich aus ihnen das für das
^ Die demotischen Denkmäler 11. Die demotischen Papyri. 2 Bde.
Straßburg, Dumont Schauberg, 1906—1908.
* Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten II, Leipzig,
B. G. Teubner, 1908.
' Von großer Bedeutung für die Art und Weise, in der man in
pharaonischer Zeit die Kulteinnahmen eines Gottes sicherte, ist eine
Inschrift der 21. Dynastie für den Gott Arsaphes von Heracleopolis
magna (Ahmed -Bey Kamal Un monument nouvean de Sheshonq pr in
Reo. de trav. rel. etc. XXXI, S. 33 ff., G. Maspero iVo<e additionelle, 1. c.
S. 38 ff.).
362 A. Wiedemann
eigene Grab Zusagende aus, fügte neue Kapitel hinzu, ver-
änderte gelegentlich die älteren. Nicht nur nach den Zeit-
perioden ist die Zusammensetzung und der Inhalt der einzelnen
Bestandteile verschieden, auch in der gleichen Zeit stimmen
kaum je zwei Handschriften in Anordnung und Text genau
miteinander überein. Die drei Kompilationen sind nicht un-
abhängig voneinander, die Altesten Texte haben vieles aus
den Pyramidentexten, das Totenbuch hat manches aus seinen
Vorgängern unmittelbar oder in umgearbeiteter Fassung ent-
lehnt. Die Entstehung der einzelnen Formeln ist vielfach
weit älter als ihre jeweilige Sammlung. In den Pyramiden-
texten stehen Stücke, welche noch auf die Zweiteilung Ägyptens
Bezug nehmen, und im Totenbuche spielt das Köpfen der
Toten eine Rolle, welches in der Nagadazeit häufig war, zur
Zeit der Sammlung des Totenbuches aber nur ganz vereinzelt
vorkam.^
Von den Pyramidentexten der 5. bis 6. Dynastie, welche
zuerst von Maspero^ im Urtexte und in Übersetzung zu-
gänglich gemacht worden waren, begann Sethe eine Neu-
publikation, welche die Texte in Sprüche ordnet und die
verschiedenen Abschriften der einzelnen Sprüche aus den
Königspyramiden untereinander setzt, um das Material zu ihrer
Bearbeitung übersichtlicher zugänfflich zu machen.^ Für die
* Wiedemann Die Leichenköpfung im alten Ägypten in Orient. Lit.
Zeit. XI, Sp. 112 ff.
' Les inscriptions des Pyramides de Saqqarah (Separatabdruck aus
liec. de trav. rel. etc. III— XV). Paris, K. Bouillon, 1894.
' Die altägyptischen Pyramidentexte. Nach den Papierabdrücken
und Photographien des Berliner Museums neu herausgegeben und er-
läutert. I und II Lief. 3-4. Leipzig, Hinrichs, 1908—1909. Zahlreiche
Kapitel der Texte finden sich in einem Grabe des Mittleren Reiches bei
Chassinat, Gauthier und Pieron Fouilles de Qattah. Kairo, 1906. —
Einige Stellen behandelte A. Jahn Ägyptologische Miscellen § 6 {TJnas
Z 214, 284) in Wiener Zeitschr. für Kunde des Morgenlands XX, S. 380.
— Die auf das Totenopfer bezüglichen Teile der Pyramideniuschriften
und verwandter Texte stellte Ihulge unter Beigabe einer Besprechung
Ägyptische Religion (1906—1909) 363
Altesten Texte, welche sich vor allem auf Särgen verzeichnet
finden, veröffentlichte Lacau^ in vortrefflicher Weise eine
längere Reihe von Abschriften unter Hinweis auf die Stellen,
an denen sich die betreffenden Kapitel und Sätze sonst noch
finden. Von dem Totenbuche der Thebanischen Zeit wurde
eine gute Abschrift mit kunstvollen Vignetten bei der Mumie
des luaa, des Schwiegervaters Amenophis' III. von Davis ge-
funden und in einer schön ausgestatteten Publikation mit
einer Einleitung von Naville, welche die in dem Papyrus vor-
findlichen Kapitel verzeichnet und bespricht, zugänglich ge-
macht.* Die für ihre erste Erscheinungszeit interessante, auf
Grund unserer jetzigen Kenntnis der ägyptischen Sprache und
Religion in Einzelheiten wie in der Gesamtauffassung häufig
stark anfechtbare Übersetzung der späteren Fassung des Toten-
buches durch P. Pierret erschien in neuer Ausgabe.^ Seine
Ansicht, daß in der ägyptischen Religion eine den christlichen
und Übersetzung in einer bequem benutzbaren Form zusammen : E. A.Wallis
Budge, Th" Liturgy of Funeral 0/ferings. London, Kegan Paul. 1909
(Books on Egypt and Chaldaea XXV). Demselben Verfasser verdanken
wir eine praktisch angelegte und als Einführung empfehlenswerte
Publikation, Übersetzung und Bearbeitung des wichtigsten Textes über
die Zeremonien an der Statue des Toten bei der Beisetzung: Budge,
The Book of Openhig the Mouth. London, Kegan Paul. 1909 (Books
on Egypt and Chaldaea, XXVI, XX VII)
* Textes religieux in Rec. de trav. rel. etc. XXIX, S. 143 flF.; XXX,
S. 65 ff., 185ff ; XXXI, S. lOff und in J. E Quibell Excavations at
Saqqara 1906, S. 21 ff. Vgl. Lacau Sarcophages anterieurs au Xoutel
Empire {Kat. des Musetims zu Kairo), 2 Bde. 1904—1906.
* Theodore M Davis' Excavations Bibän el Molük The Funeral
Papyrus of Jouiya with an Introduction by E. NaviUe. London, Archi-
bald Constable, 1908. — Die handliche und übersichtliche Übersetzung
des Totenbuches der Thebanischen Zeit von Budge erschien in zweiter
durchgesehener und erweiterter Auflage: E. A. Wallis Budge, The Book
of the Dead, 3 Bde. London, Kegan Paul. 1909 (Books on Egypt
and Chaldaea VI— VIII).
' Le Livre des Mo)'ts des anciens Egyptietis Traduction complete
d'apres le papyrus de Turin et les Manuscrits du Louvre. 2e edition.
Paris, 1907.
364 -^- Wiedemann
Anschauungen nahestehende erhabene Auffassung der Gottheit
und ein Monotheismus nachweisbar sei, suchte der gleiche
Verfasser^ zu begründen. Er ging dabei, wie die älteren
Agyptologen, welche seine Auffassung teilten, von einzelnen,
aus dem Zusammenhange gerissenen Sätzen der Texte aus.
Sobald man die betreffenden Urkunden in ihrer Gesamtheit
zu Rate zieht, erkennt man, daß deren Grundgedanken einer
solchen Auffassung, welche infolgedessen auch von den neueren
Forschern fast allgemein aufgegeben worden ist, fernstehen. —
Eine neue, von dem bisher bekannten Texte in manchen
Punkten abweichende Passung des Buches von dem Durch-
wandern der Ewigkeit, welches auf den Sätzen des Toten-
buches und verwandter Kompositionen aufgebaut ist, ver-
öffentlichte und besprach Wreszinski.^
Der Gott, dem das Totenbuch vor allem geweiht war, ist
„Osiris, der sich befindet in dem Westlande (chenti Amenti),
der Herr von Abydos". Dabei war der hier auftretende Titel
Chenti -Amenti ursprünglich der Name eines selbständigen
Gottes, der einst als Herr von Abydos galt, und dessen noch
einige Texte gedenken.^ Allmählich verschmolz er mit Osiris
und ging in diesem auf. Osiris war wohl von Anfang an eine
anthropomorphe Gestalt. Man dachte ihn sich als einen König
des Niltales, dem es nach seinem Ableben gelungen war,
vermittelst seiner eigenen Zauberkraft und der magischen
Handlungen und Pormeln seiner Hinterbliebenen die Auf-
erstehung, Unsterblichkeit und Herrschaft im Jenseits zu ge-
winnen. Er wurde darin das Prototyp des Menschen, der ein
gleiches Los nach dem Tode erhoffte. Bei dem Mangel an
systematischem Sinn und der Freude an synkretistischer Be-
' Les Interpretations de la Religion Egyptienne in Ann. Mus.
Guimet. Bibl. de Vulgarisation XX, Paris, 1906.
* Das Buch vom Durchwandeln der Ewigkeit nach einer Stele im
Vatikan in Äg. Zeitschr. XLV, S. 111 ff.
• Vgt J^quier Khontamenti in Rec. de trav. rel. etc. XXX, S. 43 ff.
Ägyptische Religion (1906—1909) 365
handlung der Qötter, welche im alten Ägypten herrschte, hat
man im Verlaufe der Zeit zahlreiche andersartige Vorstellungen
über die Unsterblichkeit und andere mit dieser im Zusammen-
hange stehende Gottheiten und Mythen mit Osiris und seiner
Lehre verschmolzen, ohne seine ursprüngliche Auffassung auf-
zugeben. In den Kreis der hierbei herangezogenen Gestalten
gehören vor allem die Vegetationsgötter ^, und so kommt es,
daß Osiris häuficr die die Unsterblichkeit charakterisierenden
und verbürgenden Eiorenschaften eines Vegetationsdämons an-
nimmt, und auch die Gottheiten seines Kreises, wie Isis, Horus,
Set, in diesen Zusammenhang hineingezogen werden. Die auf
eine derartige Form der Gotteserscheinung bezüglichen Texte
hat in weitem Umfange Frazer- behandelt, und Moret^ ist im
Zusammenhange mit einer Erörterung der Bedeutung und Ent-
wicklung des Opfers in Ägypten auf anschließende Fragen
eincregangen.
Zahlreiche Notizen, vor allem für die Götter des Osiris-
kreises in ihrer Bedeutung für das Leben des Verstorbenen im
Jenseits, werden durch die Totenstelen gegeben, welche in den
den historischen und funerären Stelen gewidmeten Katalog-
bänden des Kairener Museums^ verzeichnet und veröffentlicht
worden sind. Für den Kampf, der nach der Ermordung des
Osiris zwischen Horus und Set^ entbrannte, ist die Schrift
1 Wiedemann im Archiv für Bel.-Wiss. YII, S. 473 ff.
* Adonis, Attis and Osiris. London, Macmillan and Co., 1906.
' Du sacrifice en Egypte in Bev. de VHist. des Beligions L\TI,
S. 81 ff. — Die übliche Form des Opfers in Ägypten war zwar nicht das
Brandopfer (vgl. G. Kyle Some f'urther observatiotis concerning the Holocaust
among Die ancient Egyptians in Bec. de trat. rel. etc. XXXJ, S. 49 ff.), doch
kam dieses nicht selten neben der Darbringung der vollständigen bez. zer-
brochenen Opfergegenstiinde vor.
* H. 0. Lange und H. Schäfer Grab- und Denksteine des Mittleren
Beiches I, II, IV. Berlin 1902 - 1908; P. Lacau Steles du Xouvel Empire I
fasc. 1. Kairo 1909; Ahmed Bey Kamal Steles Ptolemaiques et Bomaines.
2 Bde. Kairo 1904— 1905.
^ Loret Le dieti Seth et le roi Seihösis in Proc.Soc.Bibl.Arch.XKYLU,
S. 123 ff. besprach die Gottesnamen Set, Suti, Sutech, Setesch. Er wollte
366 ^- Wiedemann
Plutarchs über Isis und Osiris die Hauptquelle geblieben. Die-
selbe gebt, wie besonders das Verzeichnis der günstigen und
ungünstigen Tage in dem Papyrus Sallier IV. lehrt, auf alt-
ägyptisches Material zurück. Zwei Stellen dieses Papyrus, die
sich mit Ereignissen aus dem Streit, die auf den 26. und
27. Thoth verlegt werden, beschäftigen, erörterte Reich ^ und
stellte dabei ihren Sinn richtiger fest, als dies bisher geschehen
war. Spiegelberg ^ besprach eine Sonderform des Gottes Thoth
in Theben, welche als „Teos der Ibis" auftritt. Er führte
dabei aus, daß eine zweite Sonderform, „Thoth, der Hohe-
priester von Memphis", welche Sethe daneben hatte annehmen
wollen, auf einer irrtümlichen Lesung beruht, es stehe an der
fraglichen Stelle „Thoth erhört".
Zu der wenig bekannten, neben dem Ka^ auftretenden
Seelenform Sechem („Gestalt") und der Vergötterung von
Götterzeptern (sechem) und heiligen Stäben brachte Spiegel-
berg'' eine Reihe von Angaben der Texte bei. Eine Darstellung
auf einem Sarge der Spätzeit ^ zeigte über der auf dem Leichen-
bette liegenden Mumie einen Fisch an der Stelle, an welcher
sonst häufig die als Vogel mit Menschenkopf aufgefaßte Seelen-
form Ba erscheint. Es handelt sich aber bei diesem Fische
kaum um eine sonst bisher nirgends erwähnte, an die Stelle
für Set in alter Zeit Setesch lesen und benutzte dann diese Lesung als
Grundlage für sehr weitgehende Schlüsse über einen wenig wahrschein-
lichen Ursprung des Gottes aus Asien.
1 Der Mythus vom Kampfe des Horus mit Set im Papyrus Sallier IV.
in Bec de trav. rel. etc. XXX, S. 210 £F ; Ber 27. Thot des Papyrus Sallier 1 V.
1. c. S. 213.
^ 'Egiifig 6 Grißcüog in Äg. Zeitschr. XLV, S. 89 f
' Auf eine Formel, derzufolge der Tote seinem Ka folgt, machte
Capart Sur une formule d'un sarcophage de la XlJe dynastie au Musee
Guimet in Äg. Zeitschr. XLII, S. 144 f. aufmerksam.
* Zum ägyptischen Stahkultus in Rec. de trav. rel. etc.XXVIII, S. lü3flF.
" Ahmed Bey Kamal Fouilles n Gamhoud in Ann. Serv. Ant. IX,
S. 23 f; Spiegelberg Der Fisch als Symbol der Seele im Arch. f. Rel.-
Wissenschaft XII, S.574f.
Ägyptische Keligion (1906—1909) 367
des Ba getretene Seelenform. Der Fisch wird rielmehr den
Fisch Ant darstellen, auf dessen Anblick der Verstorbene im
Totenbuche (cap. 15, Z. 24) besonderes Gewicht legt.
Gräber und Totenbeigaben. Die Ausgrabungen der
Deutschen Orientgesellschaft in den Grabanlagen der Könige
Rä-en-user, Nefer-ar-ka-rä und Sahu-rä zu Abusir haben für
die Pyramidentempel der fünften Dynastie reiches Material er-
geben, von dem aber bisher nur ein Teil publiziert worden
ist.' Über die wichtigsten dabei erzielten Ergebnisse orientiert
ein Vortrag von Eduard Meyer*, der, von zahlreichen gut
ausgeführten Illustrationen und Tafeln begleitet, eine Übersicht
über das Ägypten des Alten Reiches gibt. Wichtig ist, daß
in den Reliefs dieser Tempel die Gestalten der Götter bereits
nach dem späteren Schema gebildet erscheinen, und daß der
König ebenso wie später als Sphinx' dargestellt werden kann.
Auf die Art und Weise, wie sich diese Pyramidenanlagen
aus den Königsgräbern der Thinitischen Zeit entwickelten, ging
im Zusammenhange mit dem ünsterblichkeitsglauben des Alten
Reiches Moret* ein. HalP stellte die gerade in alter Zeit
häufigeren Fälle zusammen, in denen sich ein König zwei ge-
sonderte Grabanlagen herstellen ließ. Eine Publikation von
H. Schäfer^ bringt reichhaltige und bis in das einzelne hinein
■ L. Borchardt Das Grabdenkmal des Kihiigs Ne-User-Be. Leipzig.
Hinrichs. 1907. — L. Borchardt Das Grabdenkmal des Königs Nefer-
'ir-ke'-re'. Leipzig. Hinrichs. 1909. — Einzelberichte in den 3/j(<e»7u«^en
der Deutschen Orientgesellschaft nr. 24, 30, 34, 37.
* Ägypten zur Zeit der Pyramidenerbauer. Leipzig. Hinrichs. 1908.
' Über die Sphinx als Bildnis von Schu und Tefnut und als solches
des Königs äußerte sich Xaville Encore le Sphinx in Sphinx X, S 138 ff.
* Äutour des Pyramides in Revue de Paris. 1907. S. 225 ff.
^ The pyramid of Moeris in Journ. of Hell. Studies XXYI, S. 176 f.
Vgl. ein Dekret des Königs Pepi 1. zugunsten der beiden Pyramiden des
Königs Snefru bei L. Borchardt Ein Königserlaß aus Dahschur in ^^r.
Zeitschr. XLII, S. 1 ff.
® Priestergräber und andere Grabfunde vom Totentempel des Ke-
user-JRe (Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-
gesellschaft. 8). Leipzig. Hinrichs. 1908.
368 A. Wiedemann
genaue Aufschlüsse über die Privatgräber des Mittleren und
Alten Reiches, ihre Anlage, die Lage der Leichen, die Bei-
gaben usf. Die Grabstätten der niederen Privatbeamten in der
Necropole von Beni Hasan aus dem Mittleren Reiche schilderte
Garstang ^ eingehend. Für einen Teil der Begräbnisfeier im
Neuen Reiche ist Madsen^ zu nennen, doch fehlt der Beweis
dafür, daß sich die von ihm besprochene Szene tatsächlich in
dem Privatgarten des Verstorbenen abspielte.
In alter Zeit war es in Ägypten üblich, dem Toten sein
eigenes Bildnis, gelegentlich in zahlreichen Wiederholungen,
und ein reichhaltiges Gefolge in Stein oder Holz plastisch
dargestellter Dienerschaft, Gabenträger, Brauer, Köche, Auf-
seher, Schreiber usf., mitzugeben. Diese Begleiter, von denen
besonders aus dem Mittleren Reiche eine große Zahl erhalten
geblieben ist^, wurden in Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeit
dargestellt. Später kommen derartige Bildnisse der Arbeiter
oder des Toten mit der Andeutung einer bestimmten zu ver-
richtenden Arbeit nur selten vor.* Beide werden gewöhnlich
ersetzt durch die schematischen Gestalten der „Antworter"
(uschebti), welche gelegentlich im Gewände der Lebenden,
meist aber in Osirisgestalt, mit Ackerbaugeräten versehen, auf-
treten. Dieser doppelte Ursprung macht es erklärlich, daß
man häufig in Zweifel sein kann und es bereits auch die alten
Ägypter waren, ob der jeweilige Uschebti nur als Diener auf-
^ The Burial Customs of ancient Egypt. London. Archibald Con-
stable. 1907.
* Die Totenfeier im Garten in Äg. Zeitschr.'^hlll^ S.ölflF.
' G. Maspero Sur les figurines et sur les scenes en ronde bosse,
qu'on trouve dans Jes tombeaux Egyptiens in Bull. Institut Egypt. IV,
S. 367 ff.
* Über einige Exemplare des Neuen Reiches, welche den Ver-
storbenen als Kornquetscher vorführen, handelten A. H. Gardiner Ä Statuette
of the High Priest of Memphis Ftahmose in Äg. Zeitschr. XLIII, S. 56 f.,
und J. Capart Broyeurs en pieire, 1 c, S. 163; A propos des statuettes
de meuniers in Transact. Third Intern. Congpess of Hist. of Bell, S. 201 ff.
Ägyptische ßeUgion (1906—1909) 369
zufassen ist^ oder ob er auch als ein Bild des Toten angesehen
werden wiU. Meist ist das erstere der Fall Diese Tatsache
geht auch daraus hervor, daß die Zahl der Uschebti in einem
Grabe öfters eine bestimmte zu sein scheint, und zwar, wie
Bissing ^ bemerkte, vermutlich 401, d. h. 365 Arbeiter, einer
für jeden Tag des Jahres, und 36 Vorarbeiter, einer für jede
Dekade des Jahres. Bisweilen ist auf dem Uschebti sogar der
Tag vermerkt, an dem er zu arbeiten hatte.' Dabei suchte
man durch Aufschrift des Namens des Verstorbenen diesem
die Arbeitskraft des betreffenden Uschebti zu sichern. Um
eine Veränderung des Namens und damit des Eigentümers des
Dieners durch spätere Grabräuber möglichst zu erschweren,
brachte man gelegentlich den Namen unter der Glasur der
Statuette verborgen an.^
In die Reihe der Beigaben mit religiöser Bedeutung gehört
nach Pieper* auch das Brettspiel, welches mit den zugehörigen
Figuren nicht selten dem Toten in das Grab gelegt wurde.
Die meisten Felder des Spiels sind nach Gottheiten genannt,
in den Begleittexten werden Götter angerufen und erscheint
die Opferformel, die Steine stellen gelegentlich gebundene Aus-
länder dar. Pieper schließt daraus, die Feinde, welche dem
Verewigten den Weg in das Land der Seligen verlegten, hätten
im Brettspiel überwunden werden müssen, und knüpft daran
einige Bemerkungen über ägyptische, zur Ausübung der Magie
bestimmte Gegenstände. In zahlreichen Fällen haben die
' P. A. A. Boeser Eine Uschebtiinschriß des Leidener Museums in
Äg. Zettschr. XLII, S. 81.
* Zur Geschichte der Uschebtius in Eec. de trat. rel. etc. XXX, S. 183 f.
' A. Erman Uschebtis mit Daten in Äg. Zettschr. XLIV, S. 131.
* G. Maspero Sur une variete de figurines funeraires inconnue jusqu'ä
present in Aym. Serv. Änt. IX, S. 285 f.
' Das Brettspiel der alten Ägypter und seine Bedeutung für den
ägyptischen Totenkult. Berlin. "Weidmann. 1909. Der Hauptteil der
Arbeit ist einem interessanten Versuche gewidmet, den Gang des Spielen
2U rekonstruieren.
Arohiy f. Beligionawissenflchaft Xm 24
370 -^^ Wiedemann
Spielbretter aber doch wobl, unter Hintansetzung des Ge-
dankens an eine religiöse Betätigung, nur zum Zeitvertreib in
der Langeweile des Alltagslebens oder des Grabes gedient.
Darauf weist die Aufnahme des Spieles in die Reihe der Be-
schäftigungen aus dem täglichen Leben in den Gräberreliefs
hin und die Angabe^, daß der Tote das Spiel mit seiner Seele,
die bei ihm in seinem Grabe sei, spiele, wobei also nicht ein
böser Dämon als Spielgegner vorausgesetzt wird. Von sonstigen
Beigaben wurden die Barken, ihre Gestalt und ihr Zweck, er-
örtert.^
Sehr wertvolle Angaben über die Formen der ägyptischen
Amulette und die auf ihnen befindlichen Inschriften, welche
sich freilich meist auf den Namen des jeweiligen Eigentümers
beschränken, über den Zweck der einzelnen Stücke aber nur
selten etwas aussagen, geben die betrefi^enden Bände des
Kairener Katalogs.^ Im Mittleren Reiche kam es öfters vor,
daß man, anstatt die wichtigeren Amulette und Gebrauchs-
gegenstände dem Toten tatsächlich mitzugeben, sie in Wort
und Bild an den Wandungen seines Sarges verzeichnete. Sie
sollten dann, in gleicher Weise wie die daneben auftretenden
kleinen plastischen Modelle von Gebrauchsgegenständen und
Amuletten^, als Grundlage für eine Herstellung der wirklichen
Gegenstände mit Hilfe von Zauberformeln dienen. Eine von
Bildern begleitete erweiterte Liste dieser Stücke in Verbindung
mit einem Totenbuchtexte der Ptolemäerzeit fand und veröffent-
lichte Capart.^ Zu den Knotenamuletten äußerten sich Valdemar
' Eec. de trav. rel. etc. XI, S. 44.
* A. Wiedemann TotenbarJcen im alten Ägypten im Globus XCIV,
S. 119 ff.
' P. E. Newberry Scardb-shaped seals. London 1907; G. A. Reisner
Amulets. Kairo 1907.
* Vgl. hierfür u. a. Wiedemann Religion der alten Ägypter, S. 161f. ;
H. Schäfer Die Entstehung einiger Mumienamulette in Äg. Zeitschr. XLIII,
S. 66 ff.
' Une liste d'amulettes in Äg.Zeitschr. XLV, S. 14 ff.
Ägyptische Religion (1906—1909) 371
Schmidt^ und v. Bissing*; eine lange Reihe von Skarabäen-
insckriften mit guten Wünschen für den Toten sammelte Alice
Grenfell^ und suchte dieselben unter gemeinsame Gesichtspunkte
zu ordnen.
Eine ansprechende Übersicht über die ägyptische Magie
gab in einer für ein größeres Publikum bestimmten Schrift
Moret/ Die Publikation eines großen, der Spätzeit angehörenden
Papyrus wurde zum Abschlüsse gebracht.* Unter den wesent-
lich apotropäi sehen Zwecken dienenden Stücken spielen die
Tierköpfe und Tierschädel eine große Rolle. Für diese, ins-
besondere für die Bukranien, dann die Hathorköpfe und das
Sistrum, stellte Lefebure® ausgedehnte Materialsammlungen zu-
Bammen. Bei den sog. Wurfhölzem, welche in Ägypten freilich
meist aus Knochen bestehen^, stellte Jequier^ fest, daß diese
mit den Bildern heiliger Tiere bedeckten Stücke aus Xilpferd-
knochen gefertigt zu sein pflegen. Er vermutet, daß sie vor
allem dazu dienten, um die Kinder während des Schlafes gegen
Dämonen zu schützen. Auch das Salben, welches mit Vorliebe
beim Antritte eines Amtes vorgenommen wurde, scheint böse
Geister vertrieben zu haben.^ Unter den Zauberformeln war
^ Note on a peculiar pendant shotcn on three statues of Usertesen III
in Proe. Soe. Bibl Arch. XXYIII, S. 268 f.
* Lesefrüchte § 12 in Bec. de trav. rel. etc. XXX, S. 180 ff.
' Amuhtic Scarabs etc. for the deceased in Rec. de trav. rel. etc. XXX,
8. 105 ff.
* La magie dans VEgypte ancienne (Ann. Mus. Guimet. Bibl. de
Vulgarisation XX). Paris 1907.
* F. LI. Griffith und H. Thompson The Demotic Magical Papyrus
of London and Leiden. III. Indices. London. Grevel. 1909. Vgl. Arch.
[f. Rel- Wiss. IX, S. 491.
^ Le Bucräne in Sphinx X, S. 67—129.
^ Vgl. Arch. f Rel.-Wtss. IX, S. 495.
* Röle protecteur de Vhippopotame in Rec. de trav. rel. etc. XXX,
40 ff.
® Spiegelberg Zur Symbolik des Salbens im Ägyptischen in Rec. de
w. rel. etc. XXVIII, S. 184 f., und im Arch. f Rel- Wiss. IX, S. 143 f.
24*
372 ^- Wiedemann Ägyptische Religion (1906—1909)
die wichtigste die mit „Königliclie Opfergabe" beginnende.^
Durch sie wurden Speise und Trank für die Götter erschaffen,
welche diese Lebensmittel dann dem Verstorbenen übermittelten.
Es erschien wünschenswert, daß diese Schaffung möglichst oft
erfolgte; daher wurden die Hinterbliebenen nicht selten
zur Aussprache der Worte aufgefordert, was dem Beter wenig
Mühe und keine Kosten verursachen werde.^
* Über den Beginn der Formel, besonders die Auffassung des ersten
Wortes als „Königlich" handelte Moret Sur la formule souten di hotp
in Sphinx XI, S. 31 ff. Vgl. ferner H. R. Hall The Di-hetep-suten For-
mula in Proc. Soc. Bibl. Arch. XXX, S. 5 ff.; Jahn Über die Gruppe swtn
(du) htp in Wiener Zeit sehr. f. Kunde des Morgenl. XX, S. 374 ff.
* Spiegelberg Eine Formel der Grabsteine in Äg. Zeitschr. XLV,
S. 67 ff.
3 Religion der Japaner 1905—1908
Von Hans Haas in Heidelberg
Japan wird im 'Archiv' zum erstenmal in die Bericht-
erstattung einbezogen. Dem Referenten, der es auf sich genommen,
die bisherige Lücke auszufüllen, könnte es deshalb naheliegen,
die wichtigsten für eine Bearbeitung der japanischen Religions-
geschichte in Betracht kommenden Veröffentlichungen auch
älteren Datums wenigstens mit aufzuführen, dies um so mehr,
als ihre Zahl nicht sehr groß ist. Wenn er sich gleichwohl
darauf beschränkt, nur die Erscheinungen der letzten Jahre zu
berücksichtigen, so tut er das, weil er für die vorangegangene
Literatur auf einen eigenen bibliographischen Beitrag, den er
an anderer Stelle veröffentlicht hat, verweisen kann.^
Wem es darum zu tun wäre, in Vollständigkeit kennen
zu lernen, was Einschlägiges seitdem in Büchern, Broschüren
und Zeitschriften ans Licht gekommen ist, der brauchte nur
zu dem zweiten Bande von v. Wencksterns Bibliographie- zu
greifen, wo sich auf S. 41 — 74 diese gesamte Literatur ver-
zeichnet findet, während im ersten Bande dieses Werkes alles
* H. Haas, Die japanischen Religionen in der neuesten Allgemeinen
Religionsgeschichte. Mitteilungen der Deutschen Gesellsch. f. Xatur- u.
Völkerk. Ostasiens Bd IX, Teil 3, S. 367 — 389.
* Bibliography of the Japanese Empire, being a classified list of
tbe literatnre in European languages relating to Dai XLhon published
in Europe, America and in the East. Vol. II comprising the Uteratnre
from 1894 to the middle of 1906 with additions and corrections of the
first volume and a Supplement to Leon Pages' Bibliographie Japonaise,
compiled bj Fr. von Wenckstern. Added is a List of the Swedish
Literatnre on Japan by Miß Valfrid Palmgren, Ph. D. (1907, Tokyo,
Osaka and Kyoto: The Maruzen Kabushiki Kaisha).
374 Hans Haas
gebucht ist, was von 1496 — 1893 über Japan veröfifentlicht
worden.^
Als Fortsetzung Wencksterns können die japanischen
Bibliographien von Dr. 0. Nach od gelten, die den dankens-
wertesten Inhalt der seit 1908 erscheinenden periodischen
Publikation der Deutsch - Japanischen Gesellschaft in Berlin
ausmachen.^
In gründlichster Weise berücksichtigt derselbe verdiente
Japanologe die auf Religion bezügliche Literatur auch in den
Jahresberichten der Geschichtswissenschaft', für die
er das Referat behalten, seitdem er zum ersten Male im
XXIV. Jahrgang (1901) den Abschnitt Japan ausgefüllt.
Je mehr es die genannten Bibliographen, denen noch der von
Krüger herausgebene Theologische Jahresbericht mit den
bis vor kurzem von Edv. Lehmann erstatteten Referaten über
die orientalischen Religionen anzureihen wäre, darauf absehen,
in möglichster Lückenlosigkeit zu verzeichnen, was an ein-
schlägigen Arbeiten gedruckt wird, desto eher kann der gegen-
wärtige Bericht sich daran genügen lassen, nur in eine
Besprechung der wichtigeren Veröffentlichungen einzutreten.
Unberücksichtigt können hier so ziemlich alle in Zeitungen und
Zeitschriften erschienenen Aufsätze bleiben, deren Zahl ins
Massenhafte gestiegen, seit Japan durch die politischen Ereig-
nisse im fernen Osten wiederholt in den Vordergrund allgemeinen
Interesses getreten ist. Es sind viele Federn, die sich im letzten
Jahrzehnt berufen fühlten, weiteren Kreisen einen Einblick in
die religiösen Verhältnisse des fernen Inselreiches zu ver-
mitteln. Schade nur, daß den Skribenten meist schon bei der
Auswahl der Autoritäten, auf die sie sich stützen, jedes Judi-
cium abgeht. An wirklich verläßlichen Werken, die populari-
' Der erste Band erschien 1895 bei E. J. Brill in Leiden.
* Deutsch -Japanische Gesellschaft (Wa-Doku-Kai) 1908, Nr. 1,
J, 4, 6, 6/7, 8/12; 1909, Nr. 1/2, 3, 4/5.
' Weidmannsche Buchhandlung, Berlin S.W. 12.
Religion der Japaner 1905—1908 375
gierende Schriftsteller um Auskunft angehen könnten, wäre
zurzeit durchaus kein Mangel mehr. Und gerade die letzten
Jahre haben an solchen Ausbeute gebracht, so reich wie vor-
her nicht Jahrzehnte, und zwar bezüglich aller Religionen,
die in Betracht kommen; Shinto, Buddhismus und Kon-
fuzianismus (um Tom Christentum, das neben diesen Reli-
gionen im heutigen Japan auch bereits eine Macht ist, ab-
zusehen).
A priori möchte man erwarten, die Berufensten, sich über
japanisches Religionswesen zu äußern, müßten gebildete Japaner
selbst sein. Aber abgesehen davon, daß diese zumeist religiös
indifferent und daher wenig geneigt sind, diese Materie an-
zurühren, geht ihnen, wenn sie es doch einmal tun, gewöhn-
lich die Unbefangenheit ab, die für eine objektive Darstellung
die unerläßliche Voraussetzung ist. So bleiben wir nach wie
vor in der Hauptsache auf die Forschungen westländischer Ge-
lehrter angewiesen, die hier das Dunkel aufzuhellen bemüht sind.
An solchen Arbeiten aber ist, wie schon gesagt, neuerdings
durchaus kein Mangel mehr.
Shinto
Welchen Fortschritt die Erforschung der Religion der
Japaner neuerdings gemacht, bringt man sich vielleicht am
besten zum Bewußtsein, wenn man sich der paar Sätze er-
innert, die das einzige sind, was Tiele noch in der 2. Auflage
seines vielbenützten Kompendiums der Religions-
geschichte (deutsch 1887) auf S. 7 über Japan zu sagen
wußte: „Die Japanesen werden absichtlich nicht erwähnt, weil
die Geschichte ihrer gegenwärtigen Religion zu der des
Buddhismus gehört, und die Untersuchung ihrer alten natio-
nalen Religion (mit einem aus dem Chinesischen entlehnten
Namen „Shinto", die Weise oder Lehre der Geister, genannt
und vielleicht auch aus China stammend) noch zu keinem ge-
nügend sicheren Resultate geführt hat."
376 Hans Haas
Heute sind uns längst alle Haupturkunden des Shinto
durch kritische Übersetzungen erschlossen, und woran es allein
bis vor kurzem noch fehlte, das waren Bearbeitungen, die
dem Stande unseres gegenwärtigen aus diesen Quellen zu er-
hebenden Wissens entsprechen. Florenz hat, als er 1901
seine Übersetzung der ersten beiden Bücher des Nihongi^
herausgab, noch gemeint, von einer Zusammenfassung der
Resultate, welche sich aus der Lektüre ergeben, absehen zu
müssen, und es als eine Aufgabe der Zukunft, die jetzt schon
zu unternehmen noch verfrüht wäre, bezeichnet, aus den vor-
liegenden Rohstoffen etwas Geordnetes zu gestalten. Dem
gegenüber habe ich schon damals geltend gemacht^, daß wir
nachgerade über alle Phasen der Entwicklung des Shinto
unterrichtet seien und daß nur das noch zu erwünschen bleibe,
daß ein Berufener es unternehmen möchte, das reiche vor-
handene Material zu einer systematischen Darstellung der Re-
ligion und Mythologie zu verarbeiten. Die Aufgabe war ge-
radezu eine lockende, so daß es nicht zu verwundern ist, daß
sie ungefähr gleichzeitig von vier .Seiten in Angriff genommen
wurde: von dem Engländer Aston, von zwei Deutschen,
Lange und Floren:?, und von einem Franzosen, Revon,
alle vier Gelehrte, die tiefgründige Studien in Japan selbst
gemacht hatten. Aston und Florenz waren überdies insofern
die berufensten, als sie schon an der Erschließung der Quellen
hervorragend beteiligt gewesen waren.
Wem es darum zu tun ist, sich in Kürze zu orientieren,
dem werden sich eben wegen ihrer Knappheit die Arbeiten
der beiden deutschen Japanologen empfehlen, die sich übrigens
* Japanische Mythologie. Nihongi „Zeitalter der Götter". Nebst
Ergänzungen aus anderen alten Quellenwerken. Von Dr. Karl Florenz
(Supplement der Mitteilungen der Deutschen Gesellsch. f. Natur- u.
Völkerk. Ostasiens. Tokyo, 1901).
* Mitteilungen der D, G. f. N. u. Vk. 0., Bd IX, S. .379.
Religion der Japaner 1905—1908 377
gegenseitig ergänzen, insofern es bei Lange ^ mehr darauf
abgesehen ist, die Religion zu beschreiben, wie sie sich heute
dem Beobachter präsentiert, während Florenz* mehr ihre ge-
schichtliche Entwicklung verfolgt. Für erstere Darstellung
yerweise ich auf meine Besprechung in der Zeitschrift für
Missionskunde und Religionswissenschaft.' Nichts Wesentliches
läßt auch die von Florenz gelieferte Skizze außer acht
Während um die Erforschung des Shinto so hervorragend
verdiente Gelehrte wie Satow und Chamberlain, denen
Griff is und die ganze Heerschar popularisierender Autoren,
zuletzt noch Lafcadio Hearn*, folgen, durch die Spencersche
Theorie befangen und durch das tatsächliche Vorwiegen des
Ahnenkults im heutigen Shinto irregeführt, der Anschauung
huldigen, die alte japanische Religion sei von allem Anfang
an ein Ahnendienst gewesen, zu dem dann später als ein
zweites Element Naturverehrung hinzugetreten sei, sieht
Florenz (wie auch Aston) richtig, daß gerade umgekehrt
polytheistischer Naturdienst auch bei den Japanern als das
Ursprünglichere anzusehen ist. (Lange hatte diese Prioritäts-
frage noch offen gelassen.) Die Frage, ob die Ahnen Verehrung
aus China stammt, die Lange vorsichtig als eine schwer zu
entscheidende bezeichnet, hinsichtlich deren man sich am
besten einer Behauptung enthalte, ist Florenz jetzt mehr als
in früheren Auslassungen in affirmativem Sinne zu beantworten
' Prof. Dr. R. Lange, Berlin. Die Japaner. JI. Der Shintoismus.
In Lehrbuch der Beligionsgeschichte von P. D. Chantepie de la Saussaye.
3. Aufl. (Tübingen, J. C. B. Mohr, 1905.) S. 141—171.
* Die Orientalischen Beligiotien (.Teil I, Abteil. III, 1 von Hinne-
bergs Kultur der Gegenwart). Die Religionen der Japaner. I. Der
Shintoismus. S. 194 — 220.
» Jahrgang XX, S. 369—367.
* In seinem posthumen Buche Japan. An attempt at Interpretation
(London, Macmillan & Co., Ltd. 1905.) Hearns Auffassung ist hier
außer durch Herbert Spencer besonders durch Fustel de Coulanges'
La Cite antique bestimmt.
378 Hans Haas
geneigt. Das Götterpaar Izanagi und Izanami, die Erzeuger
der im Zentrum der Kami-(= Götter) Myriaden und ihrer Ver-
ehrung stehenden Sonnengöttin Amaterasu, nach Aston ein
bloßes Echo des Yin und Yang der chinesischen Philosophie,
läßt Florenz als echte Gestalten der ältesten Mythe stehen,
während auch ihm wie Satow und den anderen Autoritäten
die im Kojiki und Nihongi ihnen voraufgehenden Gottheiten
spätere Erfindungen chinesich beeinflußter Kosmogonien sind.
Wie Lange unterscheidet auch er in der alten Göttergeschichte
drei Mythenkreise. Ein näheres Eingehen auch nur auf die
hauptsächlichsten der unzählbaren Naturgottheiten und ver-
göttlichten Menschen wird man in einer Skizze des Shinto
nicht erwarten. Aus der Besprechung der Kultstätten sei
hervorgehoben, daß Florenz dem meist als spezifisch japanisch
angesehenen torii, dem auf dem Zuweg zu jedem Tempel
stehenden galgenförmigen Portal, den japanischen Ursprung
aberkennt und die übliche Erklärung von tori-i als 'Vogelsitz'
als volkstümliche Verlegenheitsetymologie bezeichnet. Diese
Tore, ursprünglich, wie GrünwedeP wohl mit Recht an-
nimmt, nichts anderes als etwa unsere Ehrenpforten, erinnern
zu sehr an die chinesischen Pai-lu's, als daß man sie als etwas
ursprünglich Japanisches gelten lassen könnte. Wie ihr
chinesisches Gegenstück sind sie jedenfalls mit den alten
indischen Steintoren, den sogenannten toräna's, in Zusammen-
hang zu bringen.* Im weiteren werden von Florenz noch
erörtert die Embleme der Gottheit, Priesterschaft, Gottesdienst,
Feste, Haus- und Familienkult und Begräbnisgebräuche.
* Buddhistische Kunst in Indien, S. 20 f.
* Vgl. Satow The Shintau Temples of Ise. Transact. of the Asiat.
Soc. of Japan. Vol. II, p. 104. Chamberlain Ä preliminary account
of the Luchuan languages. In Journ. of the Anthropol. Institute of
Great Britain, 1895, p. XXXVIII. Tuke Notes an the Japanese Torii.
Transact. and Proceed. of the Jap. Soc, London. Vol. IV, part 2.
Aston Tori-wi, its derivation. Transact. of the As. Soc. of Japan.
Vol. XXVII, part 4, p. 152—155.
Religion der Japaner 1905—1908 379
Nachdem so der Shinto der primitiven Periode beschrieben
ist, wobei freilich vieles schon mit eingeflochten ist, was,
streng genommen, erst in den folgenden Abschnitten unter-
zubringen gewesen wäre, wird gezeigt, wie die japanische
Religion seit Einführung des Buddhismus um die Mitte des
6. Jahrhunderts von der höher entwickelten ausländischen
Religion verdrängt bzw. praktisch wie theoretisch mit dieser
verschmolzen wurde. Auch ihre Restauration, wie sie zuerst
seit etwa 1700 von einer nationalen Philosophenschule an-
gestrebt und 1868 dann offiziell von der neu installierten
kaiserKchen Regierung versucht wurde, vermochte daran nichts
zu ändern. Florenz nennt diese dritte, jüngste Periode der
geschichtlichen Entwicklung der Religion „die Zeit der Wieder-
belebung des reinen Shintoismus". Das ist eine stehende Be-
zeichnung geworden, seit Satow seiner grundlegenden dies-
bezüglichen Studie den Titel "The Revival of Pure Shinto"
gegeben hat. Ob man nicht gut daran täte, mit dieser Ge-
pflogenheit zu brechen? Mir will scheinen, der Ausdruck ist
geeignet, immer wieder die falsche Vorstellung zu erwecken
oder zu bestärken, als ob in unserer Zeit der alte, echte
Shinto eine wirkliche Auferstehung von den Toten erlebt
habe. Jedenfalls muß man sich gegenwärtig halten, daß das
Kunstprodukt dieser dritten Periode in vieler Hinsicht etwas
sehr viel anderes ist als es selbst die alte japanische Staats-
religion gewesen, in der man wohl auch bereits eine Ver-
ehrung des lebenden Kaisers als einer inkarnierten Gottheit,
aber noch kein an seine Ahnen gerichtetes Gebet kannte.
Durch Motoori, Hirata und andere Gelehrte der zweiten Hälfte
des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Shinto
zum richtigen chinesischen Ahnen- und ausgesprochenen
Mikadokult und zu der politischen Maschine, die ihn der
neuen Regierung, der er den Weg hat bahnen helfen, als
Staatsreligion empfehlen mußte. Dieser bevorzugten Stellung
ist er freilich durch die in der Verfassung von 1889 ge-
380 Hans Haas
währten Religionsfreiheit wieder verlustig gegangen, wenn er
auch noch immer ausschließlich am kaiserlichen Hofe und bei
allen von diesem ausgehenden öffentlichen Kulthandlungen in
Betracht kommt.
Das Werk Astons^, um zu der viel eingehenderen Dar-
stellung des englischen Shintoforschers überzugehen, ist kurz
betitelt „Shinto". In Klammer ist die Übersetzung beigefügt:
"The Way of the Gods", der Weg, d. i. die Lehre, der Götter.
In einem anderwärts^ erschienenen Vortrage desselben Autors
findet sich die Erinnerung: „Shintoism is a tautology, as to
and ism mean the same thing. We do not say Islamism or
Bushidoism." Auf diesen a. a. 0. nur im Vorübergehen und
bloß anmerkungsweise erhobenen Einwand gegen einen Sprach-
gebrauch, der sich wie in England so auch in Deutschland
und Frankreich bereits festgesetzt hat, sei hier beiläufig nur
darum hingewiesen, weil selbst Lange und Florenz, wie
auch Revon (Shiuntoisme), in der Terminologie hier weniger
korrekt als der englische Fachgenosse, sich dem eingerissenen
Sprachbrauche bequemten.
Astpns Werk ist so angelegt, daß es S. 1 — 358 den
alten Shinto beschreibt und nur in einem Schlußkapitel, über-
schrieben "Decay of Shinto. Its modern sects", die weitere
Geschichte der alten Religion kurz zusammenfaßt. Die letztere
wird hier als Spielball in den Händen des von China her
übernommenen Buddhismus und Konfuzianismus gezeigt. Ganz
neu und dabei ziemlich zweifelhaft ist mir die S. 361 jeden-
falls von einer japanischen Autorität übernommene Erklärung
des Namens Ryöbu [= beide Teile] Shinto, womit eine der
buddhistisch-shintoistischen Mischformen bezeichnet wird: „Its
Buddhistic character is indicated by its name which means
' Shinto (The Way of the Qods). By W. G. Aston, C. M. G., D.
Lit. (Longmans, Green, and Co., London 1905).
* Transact. and Proceed. of the Japan Soc. London Vol. VII, part 3,
p. 840 flf.
Religion der Japaner 1905—1908 381
^'two parts", the two parts bemg the two mj-stic worlds of
Buddhism, namely the Kongökai and the Taizökai/*' Man
wird gut tun, diese Erklärung vorläufig vor genauerer Unter-
suchung nicht weiter zu verbreiten. Nicht zu übersehen sind
in diesem Schlußkapitel die S. 367 — 372 mitgeteilten Auszüge
aus einem in der Zeit von c. 1200 — 1628 entstandenen, 1669
zuerst veröffentlichten Buche, die erkennen lassen, wie Shinto
sich von Buddhismus und Konfuzianismus doch auch mit
reineren und tieferen Gedanken und Aspirationen befruchten
ließ. Die modernen Sekten, die Aston nur nennt, ohne näher
auf sie einzugehen, sind Remmonkyö* und Tenrikyö^, beide
von ungebildeten Frauen gestiftet. Mitteilenswert ist Astons
Schlußurteil (p. 376 f.): „The official cult of the present day
is substantially the "Pure Shinto" of Motoori and Hirata.
But it has little vitality. A rudimentary religion of this kind
is quite inadequate for the spiritual sustenance of a nation
which in these latter davs has raised itself to so high a pitch
of enlightenment and civilization. No doubt some religious
enthusiasm is excited by the great festivals of Ise, Idzumo,
and a few other shrines, and by the annual pilgrimages —
which, however, have other raisons d'etre. The reverence
paid to the Mikado is not devoid of a religious quality which
has its source in Shinto. But the main stream of Japanese
piety has cut out for itself new Channels. It has tumed to
Buddhism, which, at the time of the Restoration in a
languishing state, is now showing signs of renewed life and
activity. Another and still more formidable rival has appeared,
to whose progress, daily increasing in momentum, what limit
shall be prescribed? As a national religion, Shinto is Eilmost
extinct, But it will long continue to survive in folk-lore
* Eine Beschreibung des Remmonkyo habe ich in der Zeitschrift
für Missionsk. u. BeUgtonsw. Jahrg. XVni, S. 73 — 81 mitgeteilt.
* Siehe ebenda, Jahrg. XXTT, S. 196—210.
382 Hans Haas
and custom, aad in that lively sensibility to the divine in its
simpler and more material aspects which characterizes the
people of Japan."
Lebhaft bringt einem das Studium der ersten 13 Kapitel
des Astonschen Werkes zum Bewußtsein, als ein wie großer
Verlust es zu beklagen wäre, wäre Aston nicht mehr dazu
gekommen, uns die Resultate seiner jahrzehntelangen Quellen-
studien zu weiterer Verwertung im Dienste der vergleichenden
Religionswissenschaft zu unterbreiten, wie er es in diesem ge-
diegenen Buche getan hat. Die Aufgabe, die er sich selbst
gesetzt, umschreibt er selbst (p. I): "It is intended, primarily
and chiefly, as a repertory of the more significant facts of
Shinto for the use of scientific students of religion. It also
comprises an outline theory of the origin and earlier stages
of the development of religion, prepared with special reference
to the Shinto evidence." Kritischer Einwendungen wird sich
der Autor nur zu versehen haben, insoweit er in seinem
Werke sich die Ausführung der zweiten dieser Aufgaben an-
gelegen sein läßt. Vor den bedenklichsten Irrwegen war er
von vornherein dadurch geschützt, daß ihm die Religion als eine
normale Funktion, nicht als ein Krankheitsphänomen der mensch-
lichen Natur gilt Dazu kam ihm der aus manchem ein-
fließenden Urteil allgemeiner Art sprechende common sense
des Engländers zu statten, der, oft in erfreulicher Frische,
mit erkünstelten Tüfteleien auch anerkannter Religionsforscher
aufräumt. Vielfach ist das Buch durchzogen von Polemik
gegen Herbert Spencer. Als religions wissenschaftliche
Autoritäten, auf die er sich gestützt, nennt er selbst Reville,
Gebiet d'Alviella und Pfleiderer, während er sich in
anthropologischen Dingen besonders Tylors Primitive Culture
und Frazers Golden Bough als Wegweiser dienen läßt.
Von den zwei Wegen, auf denen die Menschen je und je
zur Gottesvorstellung gelangt sind, dem der Personifikation
von elementaren Mächten und Naturobjekten und dem der
Religion der Japaner 1905—1908 383
Deifikation von Menschen und anderen Wesen, war es in
Japan nach Aston ganz überwiegend der erste, der begangen
wurde, ohne daß es freilich mit der Personifikation zu plasti-
schen Gestalten gekommen wäre. „None of the Dii majores
of the more ancient Shinto are deified individual men, and
although it is highlj probable that some of the inferior mythical
personages were originally human beings, I am unable to
point to a case of this kind which rests on anvthing more
than conjecture" (p. 177). Nachdem Aston die alten religiösen
Mythen verfolgt hat, bis diese mit der Geschichte Jimmus, des
ersten Kaisers, in die Sagen mit historischem Kern übergehen,
bespricht er das Pantheon (S. 186 — 199 auch den Phallizismus,
der im Shinto eine große Rolle spielt), dann Priesterschaft und
kultische Praxis. Anfechtbar erscheint mir, was in dem 'Morals,
Law and Purity' überschriebenen Kapitel über das Fehlen
jeder direkten Morallehre in den heiligen Shintoschriften gesagt
ist. In dem der Besprechung des Zeremoniells gewidmeten
Abschnitt werden außer den im Engishiki gesammelten Norito
(liturg. Präfationen) nach einer neueren Sammlung, dem Norito
Bunrei, auch solche späteren Datums mitgeteilt. Unter ihnen
zuerst finden sich solche, die an verstorbene Mikados gerichtet
sind, eine Praxis, die ohne Zweifel auf chinesisches Vorbild
zurückgeht. Das pathologische Element der Religion endlich
wird in dem Kapitel 'Magic, Divination, Inspiration' behandelt.
Nicht zu verwechseln ist mit dem besprochenen wissenschaft-
lichen Werke ein populäres Büchlein As ton s gleichen Titels,
das eine Nummer der Serie 'Religions Ancient and Modem'
bildet.^ Und erwähnt wurde bereits (s. o. S. 380, Anm. 2) der in
den Transactions and Proceedings der Asiatischen Gesellschaft
London im gleichen Jahre (1907) veröfi'entlichte Vortrag, in
dem er seine Forschungsergebnisse noch knapper zusammen-
gefaßt hat. Eine Fußnote in letzterem (a. a. 0. S. 341) sagt:
^ W. Gr. Aston Shinto, the ancient religion of Japan. London,
Axcliibald Constable & Co., 1907.
384 Hans Haas
„Since this paper was read, M. Michel Revon's important
^Shinntoisme' has appeared". Hiermit ist auf das umfang-
reichste und eingehendste Werk über Shinto verwiesen, das
wir bis jetzt besitzen^, und zugleich auch schon ein günstiges
Vorurteil für dasselbe erweckt. Revon (Ancien professeur ä
la Faculte de droit de Tokio, ancien Conseiller-legiste du
Gouvernement japonais, charge du cours d'Histoire des civili-
sations d'Extreme- Orient ä l'Universite de Paris) schöpft nicht
wie Aston direkt aus den japanischen Texten. Er ist darauf
angewiesen, sich auf dessen, wie auf Satows, Chamberlains
und Florenz' Übersetzungen und Quellenstudien zu stützen.
Aber eben das, daß er sich mit den Arbeiten dieser Forscher
aufs gründlichste vertraut gemacht hat, hat ihn befähigt, selbst
eine Darstellung zu liefern, die die Anerkennung Astons ge-
funden. Was dem scharfsinnigen Autor ein prae vor seinen
Autoritäten und den Mut, sich oft, und nicht selten mit guten
Einwendungen, gegen sie zu kehren, gibt, ist eine diesen abgehende
Belesenheit in der sonstigen religionsgeschichtlichen Literatur,
besonders eine große Vertrautheit mit anderen primitiven
Kulten. Eine leichte Lektüre ist sein Buch nicht. Die viel-
fach unnötig ins Detail gehenden Fußnoten nehmen mehr Raum
ein als der Text. Man kann sich des Eindrucks nicht er-
wehren, der Autor setzte seinen Stolz darein, ein möglichst
dickleibiges Werk zustande zu bringen, ein Bemühen, das ihm
gelingt. Die ganze Arbeit, soweit sie von ihm gefördert ist,
war zuerst in der Revue de l'Histoire des Religions erschienen.^
Zu der Buchausgabe wurde der alte Typensatz verwendet.
Benutzer derselben werden gut tun, von Anfang an das S. 429
vom Autor vermerkte bedauerliche Versehen, das dem Setzer
* Michel Revon Le Shinntoisme. Tome premier: Les Bieux du
Shinntö. Paris, Ernest Leroux. 1907.
* Tome 49, S. 1— 33, 127—163, 306 — 326; T. 60, S. 149— 199, 319
bis 859; T. 61, S. 876 — 392; T. 62, S. 33—77; T. 64, S. 163 — 217, 327
bis 878; T. 66, S. 61—110.
Religion der Japaner 1905—1908 38Ö
und Korrektor dabei unterlaufen ist, zu beachten. Was der
Buchausgabe ihren besonderen Wert gibt, ist der ihr bei-
gegebene sorgfältig bearbeitete Index. Ganz überflüssig da-
gegen war die Beigabe des Appendice S. 393 — 428, die wohl
hauptsächlich den teueren Preis des Bandes bedingt. Es ist
nicht einzusehen, wem mit dem Abdruck der drei alten Texte
in der ursprünglichen chinesischen Schrift, in Motooris Kata-
kana- Lesung und in Revons französischer Transskription, ge-
dient sein soll. Zu bedauern ist, daß Revon in der Schreibung
japanischer Namen seine eigenen Wege ging, anstatt sich der
endlich bei den Japanologen allgemein üblich gewordenen
Romaji- Transskription zu bedienen. Nichtfranzösischen Be-
nutzern des Werks wird mit der Erinnerung gedient sein, daß
die Namen darin durchweg in französischer Transliteration
stehen. Eine Inkonsequenz ist es wieder, wenn die Sonnen-
göttin, die in dieser Schreibung Amaterasou (statt Amaterasu)
heißt, gewöhnlich Amateras geschrieben wird.
Was sich der Verfasser als Aufgabe gesetzt, sagt er selbst
deutlich S. 12 — 17: „Le shinntoisme est donc une religion
reguliere, d'un type conna et general, malgre les traits origi-
naux qu'y imprima le genie particulier de la race; et c'est une
religion d'autant plus interessante ä approfondir que, si son
cöte national nous laisse penetrer l'esprit de la civilisation
japonaise, son cöte universel, une fois eclaire a l'aide de com-
paraisons scientifiques, peut ä son tour jeter quelque lumiere
sur l'histoire generale des religions. C'est ce que nous allons
eprouver en etudiant, d'une maniere systematique, d'abord le
cöte theorique, puis le cöte pratique de cette religion primitive,
c'est -ä-dire, d'une part, les dieux du Shinntö, et d'autre part,
le culte shinntoiste." Der vorliegende 476 Seiten starke, als
Tome premier bezeichnete Band erledigt einstweilen nur den
ersten Teil dieser Aufgabe: „Les Dieux du Shinnto". Er be-
ginnt mit einer Betrachtung des Ursprungs der Gottheiten,
d. h. er untersucht, in welcher Weise bei den alten Japanern
AtcUt f. Beligionswissenschaft XIII 25
386 Hans Haas
psychologisch der Glaube an höhere Wesen entstand (S. 17
bis 59). Die Ergebnisse, zu denen er dabei kommt, decken
sich mit denen Aston s. Der ganze Inhalt des umfangreichen
2. Kapitels (Le Monde des Dieux, S. 59—284) mit den Unter-
abschnitten 1. Dieux de la nature, 2. Dieux -esprits, 3. Synthese
mythique stellt sich gewissermaßen dar als eine nähere Aus-
führung der kurzen Sätze, mit denen Florenz (a. a. 0. S. 194)
den Tatbestand skizziert: „Zu den ursprünglicheren Natur-
gottheiten, als da sind: eine Sonnengöttin, ein Mondgott,
Sterngott, Windgötter, Gott des Sturmes und der Unterwelt,
Regengötter, Donnergötter, Wassergottheiten, Flußgötter, Meer-
götter, Berggötter, Baumgötter, Erdgottheiten, ein Feuergott,
eine Nahrungsgöttin usw., treten vergöttlich te Heroen, Häupt-
linge und vornehmere oder geringere Vorfahren überhaupt.
Die mythologische Spekulation geht dann noch einen Schritt
weiter und schafft eine innige Verbindung zwischen beiden
Göttergruppen, indem sie die Hauptfiguren der letzteren
genealogisch mit den Haupt Vertretern der ersteren in Zusammen-
hang bringt." Nimmt man sodann die Worte, mit denen
Revon das 3. Kapitel beginnt (S. 285), so ist auch der übrige
Gehalt des Bandes angedeutet: „Nous venons d'etudier toute
la mythologie japonaise, avec ses personnages divins; nous
avons analyse le monde des dieux, puis reconstitue sa synthese;
et par suite, ayant vu sans cesse les divers acteurs du drame
en mouvement, dans le decor meme oü ils s'agitent, nous
connaissons dejä, par mille details du recit, leur nature intime
et leur sejour, leur histoire et leur genre de vie. II ne nous
raste plus qu'ä preciser ces points essentiels d'une maniere
plus systematique." Diese Abschnitte sind besonders reich an
treffenden Beobachtungen und anregenden Gedanken. Eben
diese Fülle ist es, die es unmöglich macht, in einem gedrängten
Referate näher auf sie einzugehen. Das kurze La Fin des
Dieux überschriebene Schlußkapitel zeigt, wie die primitive
Herrlichkeit der alten japanischen Religion durch das Ein-
Religion der Japaner 1905—1908 387
drino-en des ikr xmendlich überlegenen buddhistischen Religions-
systems nicht zwar vernichtet, wohl aber verschüchtert und
in den Hintergrund gedrängt wurde, aus dem man sie dann
erst im 18. und neuerdings im 19. Jahrhundert wieder hervor-
zuholen versuchte. Daß trotz des unleugbaren Fiaskos dieser
politisch oder dynastisch interessierten Bemühungen Shinto
auch heute keineswegs tot ist, wird von Revon nicht verkannt.
Läßt er in seinem Werke keine Gelegenheit vorübergehen,
im Gegensatz besonders gegen Chamberlain, Aston und
Florenz die Entlehnung shintoistischer Mythen usw. von China
in Abrede zu stellen, so unternahm es, was doch noch an-
gemerkt sei, E. K. Parker in seinem letzten Buche, einem
Bande von Murrays Imperial Library of Standard Works*, den
Nachweis zu führen, daß die ganze sogenannte japanische
Religion auf dem Yih-king und dem Li-ki, d. i. dem kanonischen
Buch der Wandlungen und den Aufzeichnungen über die Riten,
sowie auf Laotszes Lehre vom Tao aufgebaut sei. Was der
mit chinesischen Verhältnissen vertraute Autor in einem Buche,
in dem ein Kapitel über Japans Shinto überhaupt nichts zu
suchen hat und von niemandem gesucht werden wird, über
diesen an Gedanken zum besten zu geben bedauerlicherweise
sich hat verleiten lassen, wäre etwa vor 35 Jahren entschuld-
bar gewesen. Auch andere Partien des Buches legen die Ver-
mutung nahe, daß sein Verfasser Jahrzehnte alte Manuskripte
mit hat in sein Standand work drucken lassen, ohne sie 'up
to date' zu bringen, die früheste Erwähnung des Shinto in
der europäischen Literatur findet er in einem Weihnacht 1868
datierten Briefe eines Rev. J. Goble an den Chinese Recorder!
Nichts zu lernen ist für Shinto auch aus Mazelieres
Geschichte Japans^, einem sonst verdienstlichen Werke, von
^ China and Eeligion. Bj Edward Harper Parker, M. A., Pro-
fessor of Chinese at the Victoria Unirersity, Manchester. London 1906.
* Mi» de la Mazeliere Le Japon, Histoire et dvilisation. 3 Bde.
I. Le Japon Ancien; IL Le Japon Feodal; in. Le Japon des Tokugawa.
Paris, Plon-Nourrit & Co.
26*
388 Hans Haas
welchem 1907 gleich die drei ersten starken Bände erschienen
sind. Er meint (Tome I, p. 128): „II serait impossible de
distinguer dans le shinto ce qui est vraiment ancien des
emprunts faits au bouddhisme ou au confucianisme et des
reformes accomplies par les archeologues romantiques." Ich
meine, gerade das wäre heute ziemlich säuberlich klar gelegt.
Treffend und gefällig finde ich aber Worte, die auf der gleichen
Seite wie dieser anfechtbare Passus stehen: „Le culte des kami
rappelle l'ancienne religion des Grecs et des Romains. Si le
Japonais lettre n'a plus pour les kami que le mepris athee de
Lucrece, le respect officiel d'Horace ou l'attachement poetique
de Virgile, le peuple croit en eux comme le paysan du Latium
croyait en ses dieux au temps d' Auguste."
Buddhismus
Sind wir über Shinto nachgerade so genau unterrichtet wie
über wenige andere primitive Religionen, so wird uns auch neuer-
dings mehr und mehr Aufklärung zu teil über die besondere
Ausgestaltung des Buddhismus in Japan, der hier seit dem
6. Jahrhundert langsam, aber unaufhaltsam an die Siielle des
altnationalen Kults getreten ist. Wie diesen, so hat auch den
japanischen Buddhismus Lange in der dritten Auflage von
Chantepie de la Saussaye's Religionsgeschichte behandelt.* Be-
züglich seiner Darstellung darf ich mich wieder auf meine Be-
sprechung in der Zeitschrift für Missionskunde und Religions-
wissenschaft beziehen.^ Knapper noch gehalten, aber zuver-
lässig in dem, was sie bietet (Historischer Überblick, die
äußeren Einrichtungen, die göttlichen Wesen, hervorragende
Heiligtümer, die Mönche, die japanischen Sekten, Buddhismus
und Volksleben) ist die Skizze, die sich in Hackmanns auch
sonst sehr solidem Werkchen über den Buddhismus' findet,
1 S. 118 — 141. S. 0. S. 877 Anm. 1. * Jahrg. XX, S.' 359 — 367.
• Lizentiat H. Hackmann-London Der Buddhismus. Iteligions-
geschichtliche Völksbücher. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1906.
Religion der Japaner 1905—1908 389
das unter dem Titel „Buddhism as Religion: Its liistorical
development and present-day condition in all its countrres'^ nun
soeben auch erweitert in Englisch erschienen ist. Ausführlicher
habe ich selbst in dem Hinnebergschen Sammelwerke^ den
Buddhismus in Japan nach selten seiner Geschichte, seiner
Dogmatik und seiner heutigen empirischen Wirklichkeit zu
skizzieren versucht. Eine Ergänzung dieser Darstellung bildet
mein Schriftchen über die Sekten.' Unter dem Titel „Anna-
len des japanischen Buddhismus'' hat Referent femer
nach japanischen Vorlagen, besonders nach dem Sangoku
Bukkyö-ryakushi der beiden Priester Shimaji Mokurai und
Ikoma Tokunö eine Aufreihung der wichtigsten Geschichtsdaten
veröffentlicht.' Müßten nicht aus Raumgründen Aufsätze
unbesprochen bleiben, so wäre in diesem Bericht einer ganzen
Reihe neuerer monographischer Abhandlungen zu gedenken,
die Anspruch auf Beachtung haben, weil sie uns manche neue
Wissensstoffe vermitteln. Es sind vor allem die „Mitteilungen"
der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ost-
asiens, die Transactions of the Asiatic Society of Japan und
die Quartalschrift Melanges Japonais, alle drei in Tokyo er-
scheinend, und die Transactions and Proceedings of the Japan
Society in London, in denen solche Arbeiten von Wert zu
finden sind. Ein größeres Werk über den japanischen Buddhis-
mus, die Frucht langjähriger Studien, hatte A. Lloyd ge-
schrieben, „My bumt book", wie er es jetzt nennt. Es ist
als Manuskript mit der Druckerei in Yokohama, der er es zum
Drucken gegeben, ein Raub der Flammen geworden. Nicht
entschädigen kann uns für den Verlust ein kleineres Buch,
* Kultur der Gegenwart (TeU I, Abteil. III, 1), Die orientalischen
Beligionen S. 221 — 254.
* H. Haas Die Sekten des japanischen Buddhismus. Evang. Verlag,
Heidelberg 1905.
' „Mitteilungen" der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völker-
kunde Ostasiens. Bd IX, Teil 3. Tokyo 1908.
390 Hans Haas
das er, wie er selber gesteht, in Hast zusammengestellt^, be-
stehend aus einer Reihe von Aufsätzen, die meist schon vorher
da und dort in Zeitschriften erschienen waren. Durchaus an-
regend ist das Büchlein, das in seiner ganzen Tendenz ein
Gegenstück zu den Publikationen von A. Lillie bildet,
reich nicht nur an Aufstellungen, zu denen jeder kritische
Leser seine Fragezeichen setzen wird, sondern auch an
geradezu verwegenen Mutmaßungen und kühnen Phanta-
sien. Nicht unterlassen aber darf ich, auf Kap. XI auf-
merksam zu machen „How much did the Church Fathers
know about the Mahäyäna?" Hier trägt Lloyd eine „Ent-
deckung" vor, die es wert sein dürfte, auf ihre Stichhaltigkeit
geprüft zu werden. Nach seiner Hypothese, die er hernach
auch auf dem Orientalistenkongreß in Kopenhagen und auf dem
letzten Religionskongreß in Oxford mitgeteilt hat, wäre das
sog. Elxai-Buch, welches um 220 n. Chr. der Syrer Alcibiades
nach Rom brachte, unverkennbar eine Schrift des Mahäyäna-
Buddhismus gewesen. Die gnostische Irrlehre der Elkesaiten,
wie sie Hippolyt in seinen Philosophumena darstellt, decke
sich aufs genaueste mit dessen Doktrin. Auch zwischen den
Naassenern und der Amitabhalehre bestehe der engste Zu-
sammenhang.
Dankbar muß man Lloyd für eine andere Publikation
sein: The Praises of Amida^, die noch im Jahre ihres
ersten Erscheinens neu aufgelegt werden mußte. Es sind
sieben neuerdings gehaltene Predigten eines japanischen Priesters,
die uns in englischer Übersetzung dargeboten werden. In der
* The wheat among the tares, Studies of Bttddhistn in Japan. A
collection of essays and lectures, giving an unsystetnatic exposition of
certain missionary proilems of the Far East, with a plea for more
systematic research. By the Rev. A. Lloyd. Macmillan & Co., Ltd.,
London 1908.
* The Praises of Amida. Seven Buddhist Sermons translated from
the Japanese ofTada Kanal (soll heißen Eana-e) by Rev. Arthur Lloyd.
Tokyo, Kyöbunkwan. 1907.
Religion der Japaner 1905—1908 391
Einleitung sagt Lloyd: „Wie ich meine Übersetzungen Ton
Rev. K. Tadas Predigten lese, wollen sie mir selber dermaßen
christlich klingen, daß ichs yerstünde, wenn andere Leser ver-
sucht wären zu argwöhnen, ich hätte sie für eigene Zwecke
selbst zurecht gemacht und es seien gar keine wirklichen
Übersetzungen. Die Ausgabe Ton ein paar Sen für das Original
(es betitelt sich Shudö Köwa und ist verlegt von Bummeido
in Tokyo) wird jedermann, der Japanisch versteht, zeigen, daß
meine Übersetzung bei allen Mängeln, die ihr anhaften mögen,
doch in der Hauptsache jedenfalls die Gedanken des Originals
getreulich wiedergibt." Der jedem Leser auffallende christliche
Klang dieser buddhistischen Predigten erklärt sich daraus, daß
der Priester Tada der Jödo-shü oder Sukhävati- Sekte (in
Japan begründet 1174) angehört, nach deren ganz und gar
unbuddhistischer Lehre der sündige Mensch sola fide, nur
durch den Glauben an die Heilandsmacht eines gnädigen
Vatergottes, nicht durch eigene Vernunft oder Kraft selig zu
werden hoffen kann.
Ganz anders gestimmt sind die ebenfalls ins Englische
übersetzten Predigten einer anderen 1906 erschienenen Samm-
lung von Soyen Shaku.^ Ihr Autor ist ein höherer Priester
der Zen-shü, derjenigen Schule des Buddhismus des Nordens,
die der Lehre des Stifters verhältnismäßig noch am treuesten
geblieben ist. Was diese mit wenigen Ausnahmen in Amerika
gehaltenen Ansprachen bieten, ist sublime, von allem buddhi-
stischen Aberglauben geläuterte Religionsphilosophie und
ethische Kultur, die auch dem gebildeten Christen Achtung
abzwingt. Unverfälschten Buddhismus freilich, einen Buddhis-
mus heißt das, der die Approbation Gotamas finden würde,
predigt auch Shaku mit nichten. Über den Meister geht er
'■ Sermons of o Buddhist Ahbot, addresses on religious subjects hy
The Et. Bev. Soyen Shaku, Lord Abbat of Engdkuji and Kenchoji,
Kamakura, Japan. Translated from the Japanese Ms. by Daisetz
Teitaro Suzuki. Chicago, Open Court Publ. Co. 1906.
392 Hans Haas
zurück auf die tiefsinnige Philosophie von dem All -Einen, das
sich ihm als die absolute Weisheit und als unendliche Liebe
.offenbart, wie ja der Mahayanismus überhaupt wieder in die
Welt des Unerkennbaren, Metaphysischen eindringt, an deren
Grenzen Buddha selbst Halt gemacht und den Seinen Halt zu
machen geheißen. Dazu ist das geflissentliche Streben bei
Shaku unverkennbar, seine Gedanken, die eben damit schon
christlicher Religionsphilosophie zuneigen, auch in eine Ter-
minologie zu fassen, die seinen amerikanischen christlichen
Hörern vertraut und verständlich ist. Sein gelehrter Lands-
mann, der ihm bei der Erfüllung seiner buddhistischen Mission
in Amerika als Dolmetsch diente, der Assistent von Paul
Gar US, hat dem Predigtbande, der ihm auch sonst nicht wenig
verdanken wird, aus seinem eigenen eine englische Übersetzung
des Sutra der 42 Teile beigegeben, dem der Prediger vielfach
seine Texte entnommen. Eine Vergleichung derselben mit der
älteren englischen von Beal in A Catena dargebotenen (die
französische von Fe er ist mir hier nicht zugänglich gewesen)
zeigt mir starke Abweichungen. Es ist anzunehmen, daß auf
Suzuki, von dem wir schon eine Übersetzung von A9vaghosha's
K^i-sin-lun (von Weckung des Glaubens), einem der wichtig-
sten Texte des chinesischen und japanischen Buddhismus haben,
mehr Verlaß ist als auf Beal. Immerhin wäre zu wünschen,
daß sich noch einmal ein Sinologe, der auch mit dem Buddhis-
mus vertraut ist, an die gleiche Arbeit machte.
Eine Fülle neuen Materials bietet in übersichtlicher
Gliederung und in gefälliger Darstellung Suzuki in einem
eigenen Werke über Mahäyäna^, das ich nicht anstehe, als die
wertvollste Bereicherung zu rühmen, die unserer noch sehr
spärlichen Literatur über den japanischen Buddhismus in den
letzten Jahren geworden ist. Nach dem Vorwort war es dem
^ Outlines of Mdhdyuna Buddhism. By Daisetz Teitaro
Suzuki. London, Luzae & Co., 1907.
Religion der Japaner 1905—1908 393
Verfasser in erster Linie darum zu tun, „to refute the many
wrong opinions which are entertained by Western critics con-
cerning the fundamental teachings of Mahäyäna Buddhism".
In solcher Polemik geht sein Werk jedoch keineswegs auf.
Es bietet auf seinen 420 Seiten vielmehr einen hochachtbaren,
hier zum erstenmal unternommenen Versuch, den tieferen
Ideengehalt des Mahäyäna — unter stillschweigender Aus-
scheidung aller gröberen, massiveren Glaubens Vorstellungen —
systematisch darzulegen. Geist und Sinn, in dem der Verfasser
an diese Aufgabe herangetreten, deutet dem Leser der Satz an:
„Those who are free from sectarian biases will admit without
hesitation that there is but one true religion which may
assume various forms according to circumstances." Als eine
Religion im Vollsinn des Wortes, die er ja tatsächlich ist,
wird der Mahayanismus von ihm zur Geltung gebracht. Es
ist auffällig, daß ihm dabei selbst gar nicht zum Bewußtsein
kommt, wie schon damit kritischem Urteil der weite Abstand
dieses Buddhismus von Gotama Buddhas Lehre evident wird.
Ihm geht er so gut wie der Palibuddhismus auf die Ver-
kündigung des Meisters zurück. Seine ersten Anfänge findet
er (s. S. 251) schon in der Mahäsangikaschule. „Let us remark
that as Buddha did not leave any document himself embodying
his whole system, there sprung up soon after bis departure
several schools explaining the Master's view in divers ways,
each claiming the legitimate interpretation; that in view of
this fact it is illogical to conclude that Southern Buddhism is
the authoritative representation par excellence of original
Buddhism, while the Eastem or the Northern is a mere de-
generation" (S.348f.). Die Paliliteratur, aus der die europäischen
Buddhologen hauptsächlich die genuine Lehre Buddhas erheben,
repräsentiert ihm nichts weiter als die Ansichten einer einzigen
der vielen Sekten, die sich bald nach Buddhas Nirwana er-
hoben (S. 49). Nun, man mag Suzuki allenfalls einräumen:
„Hinayanism and Mahäyanism are no more than two main
394 Hans Haas
issues of one oiiginal source" (S. 4); hinter den Satz: „The
difference between them is not radical or qualitative" (ibid.)
wird man erst recht geneigt sein, ein Fragezeichen zu setzen,
nachdem man sich vom Verfasser das Mahäyänasystem hat
vorführen lassen. Damit ist noch kein Werturteil zuungunsten
des Mahayanismus gefällt. Im Gegenteil, eben daß er in
vieler Hinsicht so ganz andere Wege als die vom Stifter ge-
wiesenen eingeschlagen und durch (^akjamuni dem Drange des
menschlichen Geistes, dem einen Weltgrund nachzudenken und
in der Vereinigung mit ihm höchste Befriedigung zu suchen,
nicht hat wehren lassen, eben das erhebt ihn über Buddhas
Agnostizismus. Seine Spekulationen fallen mit dem Tiefsten,
was auch andere orientalische (cf Laotsze), und was abend-
ländische Denker und Mystiker ergrübelt und innerlich erschaut
haben, in eins zusammen. Nur daß nun nicht etwa jemand
auf den Glauben komme, der Mahayanismus, den ihn Suzuki
kennen lehrt, lasse sich nun auch wirklich in Japan wie in
China finden außer bei wenigen auserlesenen Geistern, wie
z. B. dem Abt von Kamakura, der in Amerika als Prediger
Aufsehen erregen konnte, und da und dort — zusammen mit
viel anders geartetem Beiwerk — im chinesischen Tripitaka-
kanon, aus dem er herausdestilliert ist. Und davon gar nicht
zu reden, daß der Buddhismus, wie er im Volke lebt, kaum
in etwas an diesen Mahayanismus erinnert, schweigt Suzuki
fast ganz davon, daß der Buddhismus der Sukhävatisekten —
und diesem zählen die meisten Millionen der japanischen
Buddhisten als Bekenner zu — selbst in seiner besten Literatur
etwas sehr viel anderes ist.
Koufuziaiiisiiius
Mehr oder weniger religiöse Färbung trug in Japan, seit
es hier von Anfang des 14. Jahrhunderts an und noch mehr in
der Tokugawazeit (1603 — 1862) wirklich wirksam war, auch das
zweite ausländische Gedankensystem, der von China über-
Religion der Japaner 1905—1908 395
nommene Konfuzianismus. Dies und der Umstand, daß er sich
vielfach mit dem Buddhismus und Shintoismus wie vorher
schon in China mit dem Taoismus verschmolz, und daß der
Buddhismus hinwiederum seine Moral in Japan teilweise auf
konfuzianische Grundsätze basierte, mag es rechtfertigen, wenn
zum Schlüsse hier wenigstens auch noch auf die paar neueren
Arbeiten hingewiesen wird, die sich auf den Konfuzianismus
in Japan beziehen. In knapper Darstellung orientiert über diesen
der Philosophieprofessor der Kaiserlichen Universität Tokyo.*
Da seine Skizze ungefähr nur wiedergibt, was von ihm schon
dem Internationalen Orientalistenkongreß in Paris 1897 Sur le
developpement des idees philosophiques au Japon avant l'intro-
duction de la civilisation europeenne dargeboten wurde ^, er-
übrigt sich dem Referenten ein näheres Eingehen auf dieselbe.
Angemerkt sei nur, um etwaigen Interessenten langes vergebKches
Suchen zu ersparen, daß der in Berlin studierende Landsmann
Inouyes, von dem sich Hinneberg die vom Verfasser vergessenen
bibliographischen Angaben über den Konfuzianismus betreffende
Literatur zusammenstellen ließ, die „Mitteilungen" der deutschen
Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens mit den
Transactions der ebenfalls in Tokyo bestehenden Asiatic Society
of Japan verwechselt hat. In diesen, nicht in jenen sind „die
wertvollen Einzeluntersuchungen zur Geschichte der japanischen
Philosophie" erschienen, die er im Auge gehabt haben wird.
Diese Literaturzusammenstellung gibt außer der eben korri-
gierten irrigen Angabe nur die Titel zweier Monographien von
Inouye über den Urkonfuzianismus und über die Philosophie
der Wang-Yang-Mingschule in Japan. Vor diesen beiden, die,
' Allgemeine Geschichte der Philosophie (Teil I, Abteil. 5 von Hinne-
bergs 'Kultur der Gegentcarf) S. 100—112: Die japanische Philosophie.
Ton Tetsujiro Inouye.
* Deutsche Übersetzung von A. Gramatzky Kxirze Übersicht über
die Enticickhing der philosophischen Ideen in Japan. Berlin 1897; eng-
Usch erschienen in Hansei Zasshi vol. XTTT und auszugsweise in Monist
vol. IX, S. 273 — 281.
396 Hans Haas
weil in keine europäisclie Sprache übersetzt, dem westlichen
Leser doch nicht zugänglich sind, wäre das 1905 erschienene
Werk Inouyes über die Philosophie der Tschu Hi- Schule zu
nennen gewesen, dies darum, weil uns seinen Inhalt A. Lloyd
ausführlichst in Englisch wiedergegeben hat.^ Tschu Hi, in
japanischer Aussprache Shushi, ist der Hauptvertreter der
Philosophie der chinesischen Sungdynastie, die schon am Anfang
des 14. Jahrhunderts in Japan eingeführt, in den ersten zwei-
einhalb Jahrhunderten, in denen die Samiirai ganz durch die
unaufhörlichen Bürgerkriege in Anspruch genommen waren,
nur in den buddhistischen Klöstern von den Priestern studiert
wurde, dann aber in der Tokugawazeit einen wirklich be-
deutenden Einfluß ausübte. Die echte Lehre des Konfuzius
stellt diese Philosophie entfernt nicht dar. Des Meisters ein-
fache Sittenlehre ist hier zu Metaphysik geworden. Ihr traten
vom 15. Jahrhundert an zwei andere Schulen entgegen, die von
Yamaga Sokö geführte, die den Ruf erhob „Zurück zu Koshi
(= Konfuzius) !", und die in Japan zuerst von Nakae Töju, dem
„Weisen aus Omi", vertretene Wang Yang -Ming- Philosophie.
Ende des 18. Jahrhunderts aber wurden diese von der Regierung
als Ketzerei unterdrückt, so daß fortab ausschließlich die Shushi-
philosophie Geltung hatte. In dieser Schule sind die Japaner
der gebildeten Klasse vor allem erzogen worden. „It is per-
haps not too much to say — bemerkt Lloyd (S. 2) — that
the wonderful qualities exhibited by the whole of Japan during
the testing experiences of the Russo- Japanese war were in a
large measure owing to the System of education under the
Tokugawas, which was almost entirety in the hands of Shushi
thinkers. The study of the Shushi philosophy is therefore a
valuable guide to the study of the Japanese people."
Es ist bezeichnend, daß Hinneberg um Abfassung der Ab-
handlung über den japanischen Konfuzianismus für sein Sammel-
* Historical Development of the Shushi- Philosophy in Japan, by
ArthurLloyd. Transact.oftheÄs.Soc.ofJap.YolXX.Xiy,-p&rtiy,Si-80.
Religion der Japaner 1905—1908 397
werk einen Japaner anzugehen hatte. Ich wüßte in der Tat
nicht, an welchen deutschen Gelehrten er die Aufgabe hätte
vergeben sollen, wenn es ihm darum zu tun war, sich eine
wirkliche Autorität als Verfasser auch dieses Abschnitts zu
sichern. Eingehender hat sich nur G. W. Knox, jetzt Professor
am Union Theological Seminary New York, mit dem Gegen-
stand beschäftigt, wie dies verschiedene ältere Beiträge von
ihm zu den Transactions der Asiatic Society of Japan be-
kunden. Einziff auf diese wußte auch er selbst sich fiir den
Konfuzianismus zu stützen, als er 1905/06 den Vortragszyklus
über die Religion in Japan hielt, der nun auch seit 1907
gedruckt vorliegt.^ In diesem Buche, das dem verwandten
älteren von Griffis an die Seite getreten ist', wird mit der-
selben Ausführlichkeit wie Shinto und Buddhismus auch der
Konfuzianismus in Japan behandelt. Wie jeder der ersten
beiden Religionen sind auch ihm zwei Vorlesungen gewidmet,
die fünfte: Confucianism as Polity and Ethics, S. 138 — 169,
und die letzte: Confucianism as a World- System, S. 170 — 196.
Während Knox Shinto als „Natural Religion" und den
Buddhismus als „Supernatural Religion" charakterisiert, nennt
er den Konfuzianismus Japans „Ethical Religion", Richtig ist
jedenfalls, daß dieses Moralsystem der Samuraiklasse in Japan,
nachdem diese sich dem Buddhismus entfremdet, die Stelle der
Religion vertreten hat. Als Übertreibung wird es dagegen zu
beurteilen sein, wenn der Verfasser sich zu der These versteigt,
im Konfuzianismus habe die Religion des fernen Ostens ihren
Höhepunkt erreicht.
* The development of religion in Japan (American Lectures on the
history of religions, sixth series 1905 — 1906) by George William
Knox, ü. D., LLD. (G. P. Putnams Sons, Xew York and London 1907).
* In Ansehung des Umfangs hinter Griffis TTie Religions of
Japan from the daum of history to the era of Meiji zurückstehend und
manche Perioden, die in diesem Buche ausführlich behandelt sind, ganz
übergehend, sind die sechs Vorlesungen von Knox doch andererseits ge-
dankenreicher. Auch ist der Stoff straffer zusammengehalten.
4 Keligionen der Naturvölker 1906—1909
Allgemeines
Von K. Th. Preuß in Berlin
Der vierjährige Zeitraum, über den hier zu berichten ist,
läßt erkennen, daß die abweichenden Grundanschauungen auf
dem schwierigen Gebiet der primitiven Religionen, wenn sie
vertieft und klarer herausgearbeitet werden, durchaus nicht
hindernd, sondern befruchtend auf den Gang der Einzel-
untersuchungen einwirken. Mag man über das Verhältnis von
Zauberei und Religion, über Animismus und Präanimismus,
über die Beziehungen des Mythus zu den Himmelserscheinungen,
über lokale Entstehung bzw. Wanderung religiöser Erschei-
nungen, ja sogar über das zeitliche Auftreten der Idee einer
obersten Gottheit ganz verschieden denken: überall hat sich
die Achtung vor dem Material und der Eifer, möglichst viel
in die Betrachtung hineinzuziehen, gesteigert. Auch ganz
neue Betrachtungsweisen, die uns zeigen, daß wir noch sehr
an Ideenmangel leiden, sind aufgetaucht und haben auf bisher
unbeachtete Tatsachen aufmerksam gemacht.
I Methode
Wie die Forschung am Studiertisch vor sich gehen
soll, darüber wird vorläufig noch selten diskutiert, da sich
nur allmählich Methoden ausbilden können. Die Dis-
kussion darüber pflegt jetzt nur einzusetzen, wenn nega-
tive Arbeit geleistet wird, d. h. die Beschäftigung mit
den Religionen der Naturvölker als minderwertig bzw.
unnütz oder sogar als schädlich hingestellt werden soll.
Wiederum hat das noch niemand getan, der sich mit den
Primitiven abgegeben hat, sondern nur solche, die das von
Religionen der Naturvölker 1906—1909 399
vornherein vermeiden wollen. Die Einwendungen nun, die
wohl mancher Femstehende stillschweigend gegen die Völker-
kunde erhebt, hat George Foucart in seinem Büchlein: La
methode comparative dans l'histoire des religions^
festgelegt. Weniger fällt darin der Vorwurf der Unzuverlässig-
keit in den Nachrichten der Völkerkunde auf — der Ver-
fasser kennt eben die genauen und umfangreichen Material-
sammlungen z. B. Nordamerikas nicht — als zwei andere
Punkte, nämlich seine Theorie von der Degeneration der
Primitiven und die angebliche Herkunft ihrer Gebräuche und
Anschauungen von höher kultivierten Völkern. Deshalb müsse
man — so meint er — vergleichende Religionswissenschaft
nur an den Schriften und Monumenten der Kulturvölker
treiben, und zwar sei Ägypten als Ausgang zu nehmen, da es
von jeher ungemischt und reich an Nachrichten sei und auf
eine jahrtausendlange Entwicklung zurückblicke. Was diese
Vergleichung der Kulturvölker an Ideen ergibt, das sei als
das älteste anzusehen und als Richtschnur dafür, was von den
Nachrichten der Primitiven normal sei. Was aus diesen
Ideen herausfällt, wie z. B. Totemismus und Tabuismus, sei
Produkt der Degeneration und Geistesverwirrung. Ein solches
— übrigens den Untersuchungen der Völkerkunde durchaus
nicht entsprechendes — Ergebnis sei z. B.: „In der ältesten
erreichbaren Periode der Geschichte der menschlichen Kultur
haben die verschiedenen Religionen mit dem Kult einzelner
Tiere begonnen, in denen die Götter lebten."
Gegen die angeführten Vorzüge der ägyptischen Religions-
überlieferung hat A. Wiedemann in seiner Besprechung des
Foucartschen Buches* starke Bedenken erhoben. Sowohl die
TJnbertihrtheit der Religion wie die Klarheit der fixierten
Überlieferung, der zudem das Volkstümliche fehle, ließen viel
zu wünschen übrig. Was aber Foucarts Theorie von der De-
generation der primitiven Religionen betrifft, so wäre es
» Paris 1909. 236 S. » Orient. Lit. Ztg. 1909. S. 251 f. ; s. o. S. 346.
400 K. Th. Preuß
meines Erachtens doch konsequenter, wenn der Verfasser über-
haupt auf ältere Züge auch in den Religionen der Kultur-
völker von vornherein verzichtete, da die Hunderttausende
von Jahren, die vor den Ägyptern liegen, vollauf genügt
haben müßten, alles unrettbar in Verwirrung zu bringen.
Denn die vorangehenden ungeheuren Zeiträume vergißt er,
wenn er sagt: „Während die kräftigeren Völker sich von den
Anfängen der Zauberei und des Kultus freimachten, indem
diese immer besser definiert und klassifiziert und — wenigstens
von ihrem Standpunkt aus — immer logischer werden, ver-
sinken die andern, allzu schwachen in Verwirrung."^ Endlich
ist zu seiner Entlehnungstheorie zu bemerken, daß diese
eigentlich mit seiner Degenerationstheorie zusammenfällt, in-
sofern, als Foucart eben Ahnliches ohne weiteres als von Kultur-
völkern entlehnt betrachtet, während Abweichungen für ihn
Degenerierungen sind.
Im übrigen, glaube ich, ist es in der Tat zu empfehlen,
daß jeder, der vergleichende Religionswissenschaft treibt, voll-
kommen in der Kenntnis irgendeines Volkes, sei es eines
Kulturvolkes oder einer Gruppe kulturloser Stämme, zu Hause
ist. Daraus wird er immer wieder Kraft schöpfen, abschüssige
Pfade zu vermeiden. Er wird dann zugleich die räumliche
Verbindung nie aus den Augen verlieren und gerade vorzugs-
weise nach Maßgabe des Raumes in der Vergleichung fort-
schreiten, was allein dauernde wissenschaftliche Ergebnisse
zeitigen kann. Der sich daraus ergebende Nachteil, daß man
stets geneigt sein wird, das eine bekannte Volk als Maßstab
an alle anderen anzulegen, kann gegenüber den Vorzügen
nicht sehr ins Gewicht fallen.
Gegenüber dem in Foucarts Buche hervortretenden
Mangel an Achtung vor dem Material, das der Fels in der
Flut der Eintagsmeinungen sein sollte, ist in den 13 Vorträgen
des III. Internationalen Religionskongresses zu Oxford 1908,
' S. auch meine Besprechung des Buches im Olobus 96, S. 240.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 401
die in der Sektion IX zu Methode und Ziel der Geschichte
der Religionen gehalten vrurden, von den verschiedensten,
den Religionen der Primitiven nicht gerade nahe stehenden
Forschern, diesen ausdrücklich der Platz eingeräumt worden,
der den im Archiv für Religionswissenschaft vertretenen An-
schauungen entspricht. So äußerte sich der Vorsitzende der
Sektion Goblet d'Alviella in seinem Eröffnungsvortrage
Les sciences auxiliaires de l'histoire comparee des
religions^: „Au XVIII® siecle, on ne s'occupait des sauvages
que pour les idealiser; ensuit«, par reaction, on en vint a les
abaisser outre mesure, comme indignes d'occuper l'attention
du savant. En realite, ils sont dans l'ethnographie ce que
sont en geologie, pour rhistoire de la terre, les temoins des
couches erosees, qui se maintiennent au milieu de depöts plus
recents." Sehr richtig sagt er auch von dem lebhaften Streit
der Meinungen über die im Eingang dieses Berichts skizzierten
Grundfragen der primitiven Religionen, daß dadurch weder die
Anwendung der ethnographischen Methode noch der Wert der
aus ihr stammenden Belehrung, noch die daraus zu ziehenden
Schlüsse für solche Probleme, die der Beobachtung zugänglich
sind, irgendwie berührt werden.
II Gesamtdarstellungen
In den Gesamtdarstellungen, von denen die meisten
freilich nur Skizzen sind, treten die Meinungsverschiedenheiten
über die Grundprobleme, namentlich über Animismus und
Präanimismus, naturgemäß am entschiedensten hervor. Trotz-
dem finden sich aber die merkwürdigsten Übereinstimmungen
in den Einzelfragen, was der bündigste Beweis für das Fort-
schreiten der Forschung ist.
Weitaus die bedeutendste Erscheinung ist hier Wilhelm
Wundts großes Werk Völkerpsychologie Bd II: Mythus
* Transactions of the Third Int. Congr. for ihe Hist. of Bei, Ox-
ford 1908 II, S. 365—379.
Archiv f. Beligions-wiuengchaft XIU 9g
402 K. Th. Preuß
und Religion, von dessen 3 Teilen wir uns vor allem mit
Teil 2, die Seelenvorstellungen, und dann mit Teil 1, die
Phantasie, beschäftigen müssen^ während Teil 3 besonders
den Naturmythus behandelt und nur kurz auf Ursprung und
Wesen der Religion eingeht.
Angesichts der wiederholten Versuche, den Animismus in
seinem Geltungsbereiche zu beschränken und in den Er-
scheinungen der in den Wesen und Dingen steckenden Zauber-
kraft einen teilweisen Ersatz im Aufbau der Religion zu
gewinnen, war es dringend notwendig zu zeigen, wie der Ani-
mismus solche disparaten Tatsachen wie den Zauber sich ein-
verleiben und dadurch seine Herrschaft nicht nur wahren,
sondern ins üngemessene ausdehnen könne. Die präanimistische
Religion, wie man die Tatsachen einer Zauberkraft lebender
Wesen und unbelebter Naturobjekte auch genannt hat, hat
den Pananimismus aus der Taufe gehoben.^ Das ist der In-
halt des Buches über die Seelenvorstellungen, das nach des
Verfassers Ausspruch allen, welcher Ansicht sie auch seien,
Klärung über die Entwicklung bringen soll durch die Macht
psychologischer Fragestellung, die in dem historischen Neben-
einander der Seelen-, Zauber- und Dämonenvorstellungen allein
entscheidend sei.
Zugleich ist das Werk deshalb so anziehend, weil Wundt
keinem Problem aus dem Wege geht, sondern die Religion
als etwas Ganzes in ihrer Entwicklung verfolgen und mög-
» Völkerpsychologie Bd II, Teil 2, 1906, 481 S. Bd U, Teil 1,
1905, 617 S. Leipzig.
* Um Mißverständnissen vorzubeugen, betone ich schon hier, ob-
wohl das aus der Besprechung der folgenden Arbeiten noch klar lier-
vorgehen wird, daß der Gegensatz zwischen Präanimisten und Animisten
nicht in dem Ausdruck Beseelung, Lebenskraft, Zauberkraft usw. liegt,
■was in gewissem Sinne dasselbe ist, sondern in der Betonung des
Tylorschen Animismus als Anfang. Dieser Animismus schreibt nämlicli
lebenden Wesen, Pflanzen und auch vielen Objekten eine vom Körper
trennbare Seele zu in derselben Weise, wie sie den Menschen aus den
Erscheinungen des Todes, Traumes usw. zugeschrieben wird.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 403
liehst alle Keime und Wandlungen bloßlegen will. Es ist also
nictt der Animismus der Zweck des Buches, sondern die Religion,
und nur weil die Religion auf dem Animismus ruhe, ist der
ganze Band (U, 2) betitelt: „die Seelenyorstellungen". Somit
ist es freilich nicht zu leugnen, daß der Verfasser aus einer
Idee alle Phasen der Religion ableitet.
Zunächst hat es bei Wundts Ausführungen den Anschein,
als ob es ganz gleichgültig ist, wie man die zauberische
Wirkungsfähigkeit des menschlichen Körpers oder seiner Teile
nenne, ob Zauberkraft oder, wie der Verfasser will, Seele. Er
unterscheidet nämlich — und darin liegt der Fortschritt gegen-
über seinen Vorgängern — die Seele, die sich beim Tode, im
Traum oder sonstwie vom Körper löst, als Psyche von der
Körperseele, die im lebenden Körper, z. B. im Blut und in
den Nieren ist, und sogar auf alle Ausscheidungen sowie auf
die Dinge übergeht, die mit dem Betreffenden in Berührung
kommen: Kleider, Geräte usw. Wenn nun irgendwelcher
Femzauber von solchen Objekten. Körperteilen u. dergl. m. aus-
geht, so ist das an sich ebensowenig durch Wundts Wort
Körperseele psychologisch erklärt wie durch das bloße Wort
Zauberkraft. Beides wäre nur die Bezeichnung der Anschauung
von einer Art Lebenskraft in den Menschen. Bei näherem
Zusehen muß man aber doch annehmen, daß Wundts „Körper-
seele" eben eine Folge der Anschauungen über die „Psyche"
ist und daher dieser begrifflich sehr nahe steht. Dann würde
allerdings in der „Körperseele" eine psychologische Erklärung
ihrer zauberischen Wirkung liegen, nämlich insofern sie der
„Psyche" in ihrer Bewegungsfähigkeit, Unsichtbarkeit usw.
verwandt ist.
Die Psyche unterscheidet er ihrem Ursprung nach als
Schattenseele (vgl. Traumbild) und als Hauchseele. Wundt nimmt
hier z. B. die von mir betonten Zauberwirkungen des Hauches
während des Lebens an: die tötende und heilende ^Virkung
sowohl wie die Übertragung von Mund zu Mund bei der
404 K. Th. Preuß
Zeugung, ebenso ihre Vermiscliung im Nasengruß und im Mund-
kuß und als Folge die sich daraus ergebenden Zahnverstümme-
lungen, sagt aber, es sei die Hauch seele, die das bewirke.
Auch hier ist der psychologische Unterschied zwischen Wundts
Seele und meiner Zauberkraft lediglich in der seit Tylor fest-
stehenden animistischen Theorie zu suchen.
Was nun das Tatsachenmaterial angeht, so sind zwar einzelne
Zeugnisse für die Auffassung des Hauches als Seele, der Seele
im Blute, in den Nieren usw. vorhanden, nicht aber für die Körper-
seele in Abfällen, Geräten u. dergl., während anderseits z. B.
die Irokesen bekanntlich den Menschen, Tieren und Objekten
eine Zauberkraft in ihrem Begriffe orenda zuschreiben.^ So verlangt
die Theorie Wundts teils große Verallgemeinerung einzelner Tat-
sachen, teils setzt sie eine bloße Idee an Stelle von Tatsachen.
Die Zauberei geht nach Wundt aus von der Auffassung
aller tiefgreifenden Ereignisse (cf. Krankheit, Tod) als mensch-
liche Willensakte, Ihre Wirkung ist unsichtbar, aus der Ferne
kommend: es ist eine Seele die Ursache, und man schützt sich
durch einen gleichen Seelenzauber, z. B. einen Phallus, ein
Stückchen Niere des erschlagenen Feindes usw. Seele wirkt
gegen Seele. Wundt hat wohl darin recht, daß nicht regel-
mäßiger Naturverlauf den Kausalitätsbegriff zu erzeugen an-
fing, sondern menschliche Willenshandlungen, denen sich die
beschriebenen Zauberakte zu weiterer Entwicklung des Kau-
salitätsprincips hinzugesellten. Er betont aber zu einseitig
den Einfluß von Krankheit und Tod auf die Entwicklung der
Kausalität und des Zaubers. Ein jeder weiß, daß Mangel an
Nahrung mehr aufrüttelt als Krankheit und Tod, daß der
Nahrungserwerb alle Gedanken und Kräfte gefangen nimmt
und das Gegenteil regelmäßigen Verlaufs darbietet. Und wenn
der Urmensch keine Früchte, keine Jagdbeute findet, wenn er
in dem aufregenden, häufigen Kampfe mit wilden Tieren deren
> 8. Archiv Vn S. 232.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 405
„Willenshandlungen" keimen lernt, wenn er stärkenden „Seelen-
zauber" dagegen zu Hilfe nimmt: tritt ihm nicht überall von
Tomherein ein anderer Zauber entgegen, der nicht Menschen-
seelenzauber ist, der von den Tieren und andern Naturobjekten
seines engen Gesichtskreises ausgehen muß?
Tiere an sich haben jedoch nach Wundt keine Zauber-
eigenschaft^n d. h. keine „Körperseele" oder „Psyche" wie der
Mensch. Alle Bedeutung der Tiere im Kult, also auch sämt-
liche Zaubereigenschaften derselben werden von Wundt von
vornherein unter' den Gesichtspunkt des Animismus gestellt.
Eine Menschenseele sei in ihnen. Dadurch geht er also viel
weiter als Tylor, der den Tieren doch außerdem eigene Seelen
analog denen der Menschen zuschreibt. Berechtigt dazu meint
Wundt dadurch zu sein, daß vereinzelte Tiere z. B. Vögel,
Schlangen, Eidechsen, Krokodile bei einigen Stämmen als
Seelentiere, als Träger der Seelen von Verstorbenen, gelten.
Ferner will Wundt festgestellt haben, daß die Totemtiere, so
variabel sie sind, ebenfalls am konstantesten diese Seelentiere
in sich begreifen. Deshalb soll der Totemismus aus dieser
Idee, daß die Tiere Träger der Ahnenseelen sind, seinen Ursprung
genommen haben. Man könnte das eine geniale Beantwortung
der dunklen Frage des Totemismus nennen, wäre man nicht im-
stande, die Zaubertätigkeit der Tiere und ihre Stellung im
Kult so sehr häufig aus der Natur des Tieres selbst ohne jede
Bezugnahme auf den Seelenglauben einwandfrei zu begreifen.
Wenn man nach dem deutschen Volksglauben den Körper durch
Bestreichen mit Schlangenfett beliebig zusammenrollen kann
(Wuttke), wenn der Loangoneger durch Tragen von Teilen des
Elefanten etwas von dessen Stärke zu besitzen glaubt^, wenn
der Giljake den Schwertwal, der ihm die vor ihm fliehenden
Tiere des Meeres zujagt, als Wohltäter verehrt', so ist da
' Pechuel-Loesche Volkskunde von Loango S 351. Dort viele Bei-
spiele der Art. •
* Leo Stemberg Archiv f. Bei. VIII S. 251.
406 K. Th. Preuß
wahrlich keine menschliche Seele im Spiel und nichts hindert
uns, derartigen Zauberglauben in die ältesten Zeiten der Mensch-
heit hinaufzuversetzen. Gegenüber der unendlichen Mannigfaltig-
keit des Tierzaubers ist meines Erachtens das Verlangen des
Menschen, in freundliche Beziehungen zu ihnen zu treten, zur Er-
klärung des Totemismus im groben völlig ausreichend. Sind doch
auch die Totemtiere der Nordwestamerikaner nicht Ahnen, son-
dern lediglich Wesen, mit denen ein Vorfahr in besonderer
Verbindung gestanden hat. Und bei den Hopi sind die Clan-
Namen zum großen Teil unbelebten Objekten entnommen Kehren
aber wirklich Vögel, Schlangen und Eidechsen vorzugsweise
als Totemtiere wieder, so wäre das nur natürlich, da diese
Gattungen überall besonders zahlreich vertreten sind. Und
für die Speisever- und geböte gegenüber den Tieren ist
der Animismus, durch den allein sie Wundt erklären zu
können glaubt, doch nicht nötig, da eben die wirkenden
Eigenschaften der Tiere an sich genügend Erklärung bieten
könnten.
Kommen wir jetzt zu den leblosen Objekten, so hat Wundt
richtig erkannt, daß Amulette, Talismane und Fetische ver-
wandte Erscheinungen sind. Die lediglich ordnende Teilung
in Amulette als passiven Zauberschutz und Talismane als
aktive Zaubermittel wird sich in der Völkerkunde kaum durch-
führen lassen, da viele Mittel den Körper stärken oder sonst-
wie die beiden Seiten vereinigen. Von diesen beiden Gattungen
sind die Fetische angeblich dadurch geschieden, daß letztere
Kultobjekte, die Amulette aber bloße magische Wertobjekte
sind, die sowohl aus den einer früheren Entwicklung an-
gehörigen Fetischen entstehen wie auch von jedem andern Kult
ihre Zauberkraft empfangen können. (Vgl. heilige Geräte usw.)
Wenn nun auch die Amulette und Talismane keine selb-
ständige Bedeutung haben sollen, so gehen sie (nach Wundt)
doch im »»wesentlichen direkt auf den Animismus, nämlich auf
Elemente des menschlichen Körpers oder solche der Seelen-
Religionen der Natnrrölker 1906—1909 407
tiere zurück und dann auf Assoziationen, wozu auch die ge-
waltige Masse der Zaubermedizinen, der Steine und Pflanzen
gehört. Der Verfasser erklärt nun einfach alle assoziativen
Zauberobjekte wie z. B. das rorhin angeführte geschmeidig
machende Schlancrenfett oder das kraftgebende Elefantenstück oder
glänzende und seltsame Steine als späte Bildungen, die erst
auftreten, nachdem der Animismus zurückgetreten ist. Während
also (nach Wundt) der Urmensch äußerst rationell handelte,
indem er sich von allen magischen Objekten Rechenschaft
gab, daß in ihnen eine menschliche Seele wohne, ergriff
nach Tausenden von Jahren der Entwicklung die Mensch-
heit ein krasser unkontrollierbarer Aberglaube, der heute noch
in voller Blüte steht.
Die Unterscheidung zwischen Amulett und Fetisch durch
das Fehlen bzw. Bestehen eines zauberischen Kultes (nach
Wundt) erscheint mir mehr begrifflich als wirklich, da die
Völkerkunde kaum etwas Näheres über Amulette, geschweige
denn über irgendwelche unscheinbaren, ihnen gewidmeten
Zauberakte oder das Fehlen derselben zu sagen weiß. Wundt
meint nämlich, daß das Amulett seine Kraft Ton einer dämo-
nischen oder göttlichen Kraft erhalte, also rmselbständig sei
und deshalb keinen Kult haben könne. Ein Fetisch dagegen
sei ein von dämonischer Kraft beseeltes Objekt. Sie gleiche der
menschlichen Seele, insofern sie an ein Objekt gebunden sei, sei
aber schon Geist, da sie auf keine bestimmte Persönlichkeit zu-
rückweise. Sie sei endlich ein Dämon, da sie eine glück- oder
unheilbringende Macht sei. Demgegenüber mache ich darauf
aufmerksam, daß es sichere Zeugnisse über den Aufenthalt von
Geistern nach Art des Animismus in den Fetischobjekten nicht
gibt ( — Zauberkraft, Lebenskraft, Beseelung ohne animistischen
Beigeschmack betrachte ich nur als Wortdifferenzen — ), daß
aber wohl etwas derartiges in einzelnen Fällen anzunehmen
ist, wo es dann als Entwicklungserscheinung aufzufassen wäre.
Ich begnüge mich hier, zur Erhärtung dieser schon früher ge-
408 K. Th. Preuß
äußerten Ansicht^ ein paar Stellen aus dem gründlichen, auf
langer eigener Beobachtung beruhenden Werk von Pechuel-
Loesche, Volkskunde von Loango^ wörtlich einzuschieben,
einem Werk, das sowieso in diesem Bericht angeführt werden
muß, da es für die wichtige Frage des Fetischismus von aus-
schlaggebender Bedeutung ist.^
Pechuel-Loesche S. 852 f.: „Mir wurde ein hübscher Hals-
schmuck verehrt: das außerordentlich lange Schwanzhaar eines
Elefanten, woran durch feine Flechtarbeit die Kralle eines
Leoparden und eines Adlers, der Zahn eines Seefisches und
eines Krokodiles befestigt waren. Haar und Krallen sollten
mich auf der Jagd schützen, in Wald und Gras scharfsichtig,
stark, behende machen, die Zähne sollten mich vor allen Ge-
fahren des Wassers behüten . . . Soviel hier über die untere
naive Stufe des Fetischismus (die Amulette). Sie ist im ent-
wicklungsmäßigen Sinne beachtenswert als Vorläufer und
Grundlage der höheren Stufe, hat aber neben dieser nicht mehr
viel zu bedeuten. Denn man ist fortgeschritten in Loango . . ."
„In der Natur sind viele Kräfte aufgespeichert. Sie werden
insgemein bufüngu genannt. Der Geschulte versteht es, vielerlei
kräftereiche Dinge zu wählen und kunstgerecht zu behandeln,
die Stoffe zu einer besonderen Masse zu vereinigen und ihre
Kräfte zu einer besonderen Kraft zu verdichten. Der gewonnene
Stoff heißt ngilingili, die darin sitzende Kraft tschinda oder
tschiinda, ihre Stärke oder Energie bunene. Ngilingili wird
betrachtet als feinster Auszug . . . aller möglichen Kraftträger,
vornehmlich aber als eine Giftmischung mannigfaltigster Art,
die je kunstvoller desto wirksamer ist."
„. . . Das fertige ngilingili, mag es in ein Gebilde getan
worden sein oder nicht, das bestimmungsgemäß verwendet
^ K. Th. Preuss Ursprung der Religion und Kunst, Globus Bd 87
S. 881 f. * Stuttgart 1907.
■ Vgl. meine Besprechung in der Geographischen Zeitschrift 1908
S. 289.
I
Religionen der Naturvölker 1906—1909 409
wird, ist mkissi oder nkissi . . ., ist das, was wir Fetisch nennen.
Mkissi läßt sich nicht anders übersetzen als durch Zauber,
Zaubermedizin und Zauberding schlechthin."
„Die Bafiöti haben keine Götzen, sondern lediglich Fetische.
Demgemäß kennen sie weder Anbetung noch irgendwelche Ver-
ehrung, sondern bloß fachmännische Herstellung und Benutzung.
Ich wiederhole: Niemand an der Loangokuste verehrt Fetische
oder betet sie an . . ."
„. . . Wie wir mit dem Löffel nicht schießen, mit der
Säge nicht hacken, mit dem Hammer nicht schreiben, so
nimmt man einen Kriegsfetisch nicht zum Heilen, einen Handels-
fetisch nicht zum Gebären, einen Diebfinder nicht zum Heiraten.
Ebenso wirkt die Kraft eines Fetisches vollwichtig oftmals
erst auf Veranlassung des Besitzers, der sie nach allen Regeln
der Kunst anreizt oder bändigt, so wie es bei ihm steht, ob er
einen Schlag tun will oder nicht. Kutäka, kuwända und
kuwänga mkissi: anordnen oder betreiben, flechten und machen
Zauber . . ."
„Wie die Menschen, so stehen auch ihre Zauberkräfte
gegeneinander, man weiß nur nicht, wo und wie . . . Wer noch
unbekannte und ganz besonders starke Kräfte ausfindet und
glücklich vereinigt, der erlangt die Übermacht . . . Jene
mischen, diese mischen. Die Kräfte werden gegeneinander
mobil gemacht Weißkunst — bungängu, tschingänga — steht
gegen Schwarzkunst — bundöku. Freilich scheint niemand
stets vorher zu wissen, ob er ein neues unübertreffliches
ngilingili gemischt hat. Das muß ausgeprobt werden. Der
Erfolg entscheidet. Wenn sich mit dem neuen Kraftstoff ver-
sehene Fetische recht bewähren, dann ist man klug und
glücklich gewesen. Kussüta, erfinden, entdecken, austüfteln,
mussüti plur. bassüti, der Erfinder; lussütu, die Erfindung und
die Einbildungskraft."
„Nicht das geringste im ganzen Tun und Treiben der
Leute deutet auf Geister, die sich etwa ein Zauberding zum
410 K. Th. Preuß
Wolinsitz erwählten oder hineinbefohlen wären und nun dem
Mensclien gehorchten. Es gibt kein geistiges Wesen, mit dem
ein Pakt eingegangen werden könnte, infolgedessen es, verlockt
oder gezwungen durch Spruch oder Gabe des Zauberkundigen,
gänzlich oder geteilt in ein Gebilde einträte und es zum Kraft-
stück erhöbe ..."
„Uns liegt es nahe anzunehmen und dann bei flüchtiger
Beobachtung auch bestätigt zu finden, daß die Zaubermeister
sich einbildeten oder es anderen weismachten, mit Hilfe von
dienstbaren Geistern zu arbeiten. Unsere alten Berichterstatter
und ihre Nachgänger witterten überall ihren eigenen Teufels-
spuk und Geisterbeschwörungen, und solche Ansichten werden
immer wieder in die Beobachtungen hineingetragen . . . Als
selbstverständlich wird angenommen, was erst recht zu prüfen
ist. Wie schon gesagt: Seelen- und Geistersitze sind etwas
ganz anderes als Fetische.''
„Die Fetischmeister stehen dem, was wir die Geisterwelt
nennen, nicht minder furchtsam gegenüber als die Laien. Man
frage nur einen berühmten Ngänga, mit Hilfe welcher Seele,
welchen Geistes er seine Taten verrichte und wie er es an-
stelle. Verblüfft, tief erschrocken schaut er einen an. Daran
hat er nicht gedacht. Das wäre zu gefährlich der Lebenden
und der Toten wegen. Lusäbu, Wissen; lungängu, Meisterschaft;
ngilingili und bufüngu oder tschinda ngölo bene, Gift, Medizin
und Kraft stark sehr ist es, beteuert er . . . Für Geister ist
in dem System kein Platz, ja ein Hauptteil ist ihretwegen aus-
gedacht worden, um sie sich vom Leibe zu halten. Und wenn
ein Ngänga allzu verwegen gegen eine Seele losgegangen ist
und er sich einbildet, daß sie ihm etwas angetan habe, daß er
besessen sei, dann hat er nichts Dringenderes zu tun, als sich
von Zunftgenossen erlösen zu lassen."
„Zahlreich wie Wünsche und Gefahren sind auch Fetische
und ebenso mannigfaltig in der Form. Da gibt es Muscheln,
Krallen, Zähne, Hörner, Federn, Haarbüschel, Lederstreifen,
Religionen der Natorvölker 1906—1909 411
Bänder, Schnuren, Zeugfetzen . . . Affen, Leoparden, Schlangen . . .
am seltensten Menschen."
„Solange nun alle diese Gegenstände durch die Bangänga
nicht einer kunstgerechten Behandlung unterworfen und mit
ngiiingüi geladen worden sind, haben sie höchstens einen Wert
als Zieraten, als Schmuck und Schaustücke . . . Auszunehmen
wären teilweise die einfachen, der unteren Stufe zuzuweisenden
Dinge, obschon auch diese jetzt meistenteils erst durch die
Hände der Zaubermeister gehen."
Kehren wir nun wieder zu Wundt zurück, so wird man
am besten eine Vorstellung seines Werkes gewinnen, wenn
man nicht nur überall da geistige Wesen als direkte Ab-
kömmlinge der Menschenseelen oder ihnen analoge Bildungen
einsetzt, wo es ohnehin meist geschieht, sondern auch da die
menschliche Seele als erstes agens voraussetzt, wo nach Wundts
Ausspruch ein bloßer symbolischer Zauber übriggeblieben ist.
Ursprünglich fühlt sich der Tierdarsteller als Dämon, ursprüng-
lich enthält das Bild, das man durchsticht, um dem Gegner
zu schaden, die Seele. Ursprünglich umschnürt man in dem
Pfahl oder Stein als Vertreter des Gegners dessen Seele. Am
Anfang, wie gesagt, der vollendete Rationalismus, später der
verständnislose Ausbau. Solche Anschauungen ermöglichen es
auch, eine konstante Entwicklungsfolge aller Erscheinungen
bis ins einzelne aufzustellen. Ganz spät sind z. B. die
Vegetations- und Himmelsdämonen und der Xaturmythus, was
dem Referenten keineswegs sicher erscheint. Denn je mehr
wir Kulte der anscheinend tiefer stehenden Menschheit kennen
lernen, desto mehr sehen wir auch, wie sehr sie mit der
Vegetation und dem Himmel direkt oder indirekt verknüpft
sind. Öfters werden daher derartige Erscheinungen bei an-
geblich primitiven Stämmen von Wundt als Übertragung be-
zeichnet.
In dem Uberzeugtsein vom Animismus liegt Wundts Stärke
und Schwäche. Manche Partien des hervorragenden Werkes,
412 K. Th. Preuß
z. B. gewisse Klassen von Dämonen und die Entstehung gewisser
„Fratzentiere", die in der Tat auf den Animismus zurückgehen,
bedeuten unleugbar einen Gewinn, und die Erkenntnis der Aus-
dehnung des Zaubers in der Religion zeitigt manche neue Ein-
sicht. Gerade dadurch tritt Wundt vielfach den mit dem Zauber
arbeitenden Präanimisten sehr nahe, namentlich mit seinem Be-
griff der Körperseele, und hat sich an ihre Spitze gestellt.
Im ersten Teil seines Werkes behandelt Wundt Zauber
und Religion in ihrer Beziehung zur Kunst und zum Mythus.
Dieses Thema nimmt aber nur etwa die Hälfte/ des Buches
ein, da er für seine psychologische Betrachtung den über-
geordneten Begriff der Phantasie in ihrer Form und ihrem den
Lebensanschauungen entsprechenden Inhalt im ganzen be-
handelt, so daß also auch die profane Ergänzung des
Themas zu ihrem Rechte kommt. Wundt legt sich hier nicht
wie bei den Seelenvorstellungen auf eine alle Betätigungen
der Phantasie durchdringende Idee fest, noch stellt er einen
durchgehenden Entwicklungsbau auf, sondern richtet sich in
seiner Deutung nach den jedesmaligen Merkmalen der Er-
scheinungen. Mit Recht legt er dem Einfluß von Zauberei
und Mythologie besonders für den Anfang große Bedeutung
bei. In der bildenden Kunst haben nach ihm besonders Dar-
stellungen von Mensch und Tier, die sich von der Wirklich-
keit entfernen und durch ihre starre Form auffallen, ferner
Mischformen von Tier und Mensch und Masken ursprünglich
religiöse Bedeutung. Die Zierkunst strebe, soweit der eigene
Körper in Betracht kommt, nach Geltendmachung der Persön-
lichkeit und vor allem sei daher Bemalung und Tättowierung
zunächst ein zauberischer Schutz gegen dämonische Mächte.
Die Keramik bevorzuge in den Tierornamenten die Dar-
stellung von Seelentieren, nämlich Vogel, Schlange, Eidechse
u. dergl. m. Der Scbmuck auf dem Gewände erscheine als Pro-
jektion des direkten Körperschmucks auf das Kleid und ent-
halte demgemäß vielfach zauberische Motive. Das rein Asthe-
Religionen der Naturvölker 1906—1909 413
tische sei hier überall das letzt« Ergebnis. Ausgesprochener
und dauernder als die Ornamente der Gefäße, Kleider und
Werkzeuge sei die Verzierung der WaflFen Träger zauberischer
Vorstellungen gewesen. Aus den ursprünglichen Formen der
Wohnung für die Lebenden und der Grabstätte für die Toten
gingen ästhetisch bedeutsame Formen der Architektur hervor.
Von den musischen Künsten gehörten ursprünglich Lied, Tanz
und Musik zum großen Teü, Mimus, Epos und Drama aber
ganz dem mythologischen und religiösen Gebiet an. Aus dem
Zauber- und Kultgesang entstünden profane Lieder. Von An-
fang an profan seien die Arbeitsgesänge, die angeblich bei
den meisten primitiven Völkern existierten (was jedoch
nicht erwiesen ist). Die primitive Märchendichtung trage
einen naturmythologischen Charakter, ohne in allen Einzel-
heiten dadurch erklärt zu werden, und enthalte die Schicksale
anderer zauberkräftiger belebter Wesen oder als belebt er-
scheinender Naturobjekte. Die ursprüngliche Mythenerzählung
überhaupt habe die allgemeiuen Züge der Märchendichtung,
Die Tierfabel unterscheide sich davon zunächst nicht —
Seelentiere spielten darin eine besondere RoUe — , erhalte aber
später durch Nachdenken über Lebensart und Charakter der
Tiere nüchterne und anderseits scherzhafte Züge. Das Epos
bilde sich aus den Formen des Kultliedes und des Märchens
imter Hinzutritt geschichtlicher Erinnerungen aus. Für den
disziplinierten, länger andauernden Tanz setzt Wundt den
Zauberkultus als Ausgangspunkt an. Wenn er als eine mög-
liche Vorstufe den ekstatischen Tanz, d. h. eine Art Afifekt-
hüpfen ansetzt, wie es schon bei Tieren beobachtet wird, so
wird ihm niemand widersprechen. Aus den Zauberkulttänzen
würden allmählich profane. Wundt geht dann auf die ver-
schiedenen Arten der Zaubertänze und die mimischen Tänze
ein, behandelt Musik, Mimus und Drama, indem er be-
sonders die griechischen Formen verfolgt, und endet mit
der Psychologie der Mythenbüdung, alles Dinge, auf die ich
414 K. Th. Preuß
hier nicht näher eingehen kann, wie ich auch vorher nur hier
und da einzelnes herausgegriffen habe.
Das kleine Buch von Frank Byron Jevons, *An Intro-
duction to the Study of Comparative Religion'^ ist aus Vor-
lesungen für Missionare am theologischen Seminar zu Hartford
hervorgegangen. Es ist keine Anleitung für sie, Material zu
sammeln, sondern vermittelt in pointierter, teilweise etwas
weitschweifiger Polemik einzelne Kapitel aas dem Gebiet der
primitiven Religion, z. B. über Zauberei, Fetischismus, Gebet,
Opfer usw., ohne die Themata irgendwie allseitig zu behandeln.
Was den größten Raum in den tiefer stehenden Religionen
einnimmt, die Zauberzeremonien, werden nicht als Teil der
Religion, sondern als heterogen behandelt, in einer Weise, als
ob sie überhaupt in der Religion nur eine ganz geringe Rolle
spielten. Sobald es eine Gesellschaft gab, d. h. von den Ur-
zeiten an, habe es auch animistische Wesen gegeben, deren
Charakteristikum in ihrer Verteidigung der sozialen Gemein-
schaft liege, während die Zauberei meist antisozial sei. Wenn
aber ein Zauberer wirklich für das allgemeine Wohl zaubert
wie beim Regenmachen und daijn später erkennt, daß man
dazu die Geister anrufen müsse, „so wird er sich natürlich an
den Geist oder Gott wenden, der von der Gemeinschaft an-
gebetet wird, weil ihm die allgemeinen Interessen der Gemein-
schaft am Herzen liegen" Dabei könnten wohl auch eine
Zeitlang magische Praktiken mit herübergenommen werden,
und diese Überlebsel seien dann von den Forschern ganz falsch
aufgefaßt worden. Eine Methode von Jevons, Zauberzeremonien
in der Religion zu beseitigen, liegt darin, sie als explana-
torische Begleiterscheinung der gesprochenen Worte zu er-
klären, wodurch zugleich die Zauberworte als Gebete legitimiert
werden sollen. Würde er folgerichtig dabei weiter gehen, so
könnte er allen Analogiezauber in der Religion, kurz alles,
New York, 1908, 283 S.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 415
was irgendwie figürlich zum Ausdruck bringt, weswegen die
Zeremonie vorgenommen wird, auch Maskentänze und Götter-
darstellungen, als symbolische Gebete fassen. Doch ist er den
Zaubertatsachen in der Religion sorgsam aus dem Wege ge-
gangen und ist nicht in die Verlegenheit gekommen, zu er-
klären, weshalb man z. B. Stammesgötter, wie die Maisgöttin,
im Herbst tötet. Fetische, obwohl sie von Dämonen bewohnt
sind, erscheinen ihm nicht geeignet, Götter der Gemeinschaft
zu werden, da sie nur für den Augenblick und für den Privat-
gebrauch gemacht seien.
Nachdem Jevons den Missionaren gute Ratschläge erteilt hat,
wie sie an ihrem Teile die Zauberei beseitigen können, meint
er: „Die Idee, daß die Religion der Magie folgte und sich
aus ihr entwickelte, mag früher von einigen Forschem der
Religionswissenschaft gehegt worden sein und mag auch jetzt
noch nicht von allen verworfen sein, aber sie hat keinen Platz
in der Religionswissenschaft." Das ist ein wunderbarer Opti-
mismus des Verfassers, nachdem er eben dauernd gegen
Frazer polemisiert hat, der zwar Religion und Zauberei für
heterogene Dinge erklärt, aber doch die Zauberei vorangehen
läßt und beider innigen Zusammenhang dartut.
Auf dieses Buch bin ich deshalb näher eingegangen, weil
der Verfasser etwas später auf dem Religionskongreß in Oxford
inmitten eines großen Zuhörer kreises über „Magic" ^ ge-
sprochen hat, und weil diesem Vortrage eine ausgedehnte
Diskussion folgte. Durch das Buch kann man nämlich viel
mehr in die Meinung des Verfassers eindringen, als es an der
Hand des Auszuges in den Transactions möglich ist. Ich
fuge deshalb einige Worte über die Abhandlung hier gleich
an. Er behandelt in dem Aufsatz, der zum Unterschiede zu
seinem Buch durch Wundts oben besprochenes Werk sehr be-
einflußt ist^, die Entstehung der Zauberei aus der Forschung
* Jevons in Transactions usw. I, S. 71 — 78.
* Vgl. den Appendix in Jevons Introduciion S. 267.
416 K. Th. Preuß
nach der Ursache von Krankheit und Tod, und betont dann
besonders, daß der Zauberer in der sogenannten Analogie-
handlung nicht den Unterschied zwischen einer Nachahmung
und dem wirklichen Vorgang macht wie wir, daß vielmehr
Beine Nachahmung z. B. der Tötung eines Feindes sich ihm
als die Wirklichkeit selbst darstellt. Das Leitmotiv des
Ganzen ist dem Verfasser aber die Behauptung, daß die von
Menschen, wie von Tieren und Dingen ausgehende Zauber-
wirkung stets das Werk eines persönlichen Geistes animistischer
Natur ist. Kurz, ihm ist der Animismus die feste, undiskutier-
bare Grundlage, in seinem Buche (S. 89 f.) aber sagt er, alle
die magischen Kräfte der Wesen und Dinge seien zunächst
ohne jede Beziehung zu Geistern ausgeübt, bezugweise be-
nutzt worden, als etwas Alltägliches, was jedem oflfen steht.
Der Animismus habe zwar zugleich bestanden, aber nur als
eine Philosophie, auf die man gelegentlich zurückgriff. Das
alles ist etwas unklar, ja, es stellt den Verfasser als Vertreter
einer außeranimistischen Magie dicht neben die Präanimisten,
wovor Jevons sich wahrscheinlich entsetzen würde. Diese wollen
ja auch nichts weiter beweisen, als daß die Zauberei zunächst
mit den Totenseelen und analogen Bildungen nichts zu tun
habe, sondern auf einer Zauberfähigkeit bzw. vagen Beseeltheit
aller Dinge beruhe. Der Verfasser geht auch über solche
Punkte, die für andere gerade den Kernpunkt bilden, schnell
hinweg, und in seinem Vortrag findet man nur ganz flüchtig
(S. 72) die unbelebten Dinge als gleichwertige Zauberobjekte
neben die Personen und Tiere gestellt. Was er endlich unter
Animismus versteht, den er überall im Munde führt, verrät
er uns auch nicht.
Während sich Jevons in der eben erwähnten vergleichen-
den Religionswissenschaft fast ganz an die primitiven Völker
hält und das Material nur insoweit heranzieht, als es zum
Verständnis seiner Ideen notwendig ist, bemüht sich Th. Achelis
in seinem Abriß der vergleichenden Religionswissen-
Religionen der Naturvölker 1906—1909 417
Schaft^ auch etwas von den fortgeschritteneren Religionen zu
bringen und liefert ein buntes Bild der Tatsachen ohne Quellen-
angabe. Die Gegensätze der Auffassungen bleiben verborgen, der
Animismus herrscht vollkommen, das Primitive wird vom Stand-
punkt der Religion als einer feststehenden Einheit aufgefaßt.
Es ist ein Büchlein, das nicht Neues geben will, sondern wie
die zahlreichen früheren Werke des Verfassers sekundär an-
einanderreiht. Durch diese vermittelnde Tätigkeit während langer
Jahre, wo — namentlich in Deutschland — die Beschäftigung
mit den primitiven Religionen nur gelegentlich vorkam, hat
Achelis das Interesse dafür wacherhalten und sich namentlich
auch durch die Gründung unseres Archivs für Religions-
wissenschaft große Verdienste erworben. Das sei bei der Ge-
legenheit seines vor kurzem erfolgten Todes gebührend ins
Gedächtnis zurückgerufen.
Die Religionen der Naturvölker zieht auch Eduard
Meyer in dem einleitenden Bande seiner Geschichte des
Altertums- etwa S. 85 — 131 gelegentlich in den Kreis seiner
Betrachtung. Das Weitere hat mit der „Völkerkunde" kaum
noch etwas zu tun. Doch geht er als Nichtfachmann nicht
von den Tatsachen aus, sondern deduziert teüs aus dem ihm
in der Geschichte des Altertums bekannten Material, teils aas
philosophischen Erwägungen. Trotzdem ist es notwendig, auf
seine Ausführungen genauer einzugehen, eben weil er sie
unrichtig als Völkerkunde bezeichnet.^ Dieser steht er nicht
nur fremd gegenüber, sondern hält ihre Untersuchungen ähn-
* 164 S. Sammlung Göschen, Leipzig, 1908. 2. umgearbeitete
Auflage.
* 2. Aufl. Bd I, erste Hälfte, Einleitung: Elemente der Anthro-
pologie. Stuttgart und Berlin, 190".
' Die Bezeichnung Elemente der Anthropologie ist für diesen
ganzen Band unzutreffend. Anthropologie ist nach dem herrschenden
Sprachgebrauch die Lehre von dem menschlichen Körper und seiner
Entwicklung. Das englische anthropology umfaßt sowohl das deutsche
Authropologie wie Ethnologie oder Völkerkunde.
Archiv 1 Beligionswiasenschaft YTTT 27
418 K.Th. Preuß
lieh wie Foucart sogar für wenig verwendbar für den Ver-
gleich mit Kulturvölkern, weshalb er es offenbar auch nicht
für nötig befunden hat, sich mit ihnen zu befassen.
Richtig ist es vom Standpunkt der Völkerkunde, wenn
Meyer die Zauberei als organischen Bestandteil der Religion
ansieht. Den Ausdruck Religion möchte er erst auf dauernde
geregelte Beziehungen zwischen den aus Geistern in Götter
umgewandelten Potenzen und den Menschengruppen anwenden.
Nur wird in der Praxis sowohl die Unterscheidung zwischen
Gott und Geist, wie die Auffassung, was ein geregelter Kult
ist, wie auch die Größe der Menschengruppe erst zu fixieren
sein. Ist z, B. bei den Cora-Indianern das ganze ungeheure
Heer der Verstorbenen, die zu Regengöttern werden, die man
bei allen Festen des Dorfes insgesamt anruft, und die ihre
Gaben eben so regelmäßig erhalten wie etwa der Sonnengott
— ein Heer von Geistern oder von Göttern? Meyer unter-
scheidet nachher selbst zwei Klassen von Göttern, von denei
die eine sich interessanterweise ungefähr mit den kultlosei
oder kultarmen „obersten Gottheiten" vieler Naturvölker decki
Diese nennt Meyer natürlich auch Götter, ist aber schon ge
nötigt, ein persönliches Gefühl der Abhängigkeit als Kriteriui
der „geregelten Beziehungen" zwischen ihnen und den Menschei
anzunehmen. Das ist also ein weiteres schwankendes Merkri
mal seiner Religion.
Bekanntlich hat Andrew Lang diese kultarmen Gottheitei
als Urgrund der Religion angenommen, was eine umfangreichij
Diskussion hervorgerufen hat. Davon weiß Meyer jedocl
nichts, sondern betrachtet es in seiner Götterlehre als eine!
grundlegenden Gedanken, die Götter in kultarme, dafür ab«
weltumspannende und in kultisch wohl versehene, jedoch mit
beschränktem Wirkungskreis (Stammesgötter), einzuteilen. In
der Tat sind selbst die Himmelsgötter oft Stammesgötter mit
dem angegebenen Charakteristikum des beschränkten Wirkungs-
kreises, denn sie sorgen auch am Himmel nur für ihre Stämme.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 419
Nur nützt diese Einteilung nictt viel, da die Hauptmasse der
Götter die der Klasse II ist und so nicht weiter gegliedert
oder verstanden wird.
Im Gegenteil sagt Meyer nicht nur nicht, wie solche
Götter entstehen oder sich aus Geistern umbilden, sondern be-
kämpft auch kategorisch, was andere vorgeschlagen haben.
Die Götter wirken nach ihm ans einem Xaturobjekt, einem
Berg, Quell, Baum, Stein, Tier oder einem von Menschenhand
geschaffenen Gegenstand. Das seien aber alles nur Ver-
körperungen lebendiger seelischer Mächte. Götter seien nie
aus dem Tierkult hervorgegangen oder Ahnengeister, ja, es
scheint, daß sogar Lichtkörper oder Naturobjekte nach Meyer
nie der letzte Ursprung eines Gottes gewesen sind. Sie sind
eben da wie die Sondergötter Useners, die bestimmten mensch-
lichen Tätigkeiten vorstehen. Solche Spezialgottheiten gibt
es freilich auch bei den Naturvölkern, aber ich muß be-
tonen, daß unter den Ethnologen auch nicht einer ist, der
es nicht als eine Hauptaufgabe der religiösen Forschung ansieht,
die Entstehung der Götter aus materiellen Körpern (Menschen,
Tieren, Naturobjekten) bzw. ihrem ,.geistigen" Teil, aus Natur-
phänomenen (Licht, Nacht, Wind, Geräusch usw.), sowie endlich
aus Ahnenseelen herzuleiten, mag auch dieser oder jener
spezielle Themata etwa wie Andrew Lang verfolgen. Die
Götter verstehen wollen und diesen ersten Gmnd aufsuchen,
ist für die Völkerkunde eins. Das kommt Meyer in seiner
spätere Verhältnisse behandelnden Arbeit nicht zum Bewußt-
sein. Es ist auch bereits ein ungeheures Material zu-
sammen, das unzweifelhaft die Entstehung von Göttern aus
Ahnenseelen (z. B. bei Wadschagga* und Cora*), aus Tieren
(z. B. Giljaken^, Haida^) und Naturobjekten beweist.
* Siehe Archiv XII Die Opferstätten der Wadschagga, besonders
S. 87. Die Wadschagga haben außer diesen nur noch einen Gott nach
Meyers Klasse I. » Siehe vorher.
' Siehe Archiv YIII z. B. S. 251 (Stemberg).
* Siehe The Jesup North Pacific Expedition Y z. B. S. 17 (Swanton).
27*
420 K. Th. Preuß
Überhaupt besteht ein Abgrund zwischen der Auffassung
Meyers und der Ethnologen. Er sagt z. B.: „Die Heiligkeit,
der göttliche Charakter (ist) der ganzen Tiergattung gemeinsam,
in deren Gestalt ein Gott erscheint; als sein Sitz . . . gilt aber
ein einzelnes Tier dieser Gattung . . ." Das kann keines-
wegs als etwas Ursprüngliches gelten. Der Ethnologe weiß
in erster Linie nur von ganzen Geistervölkern, von Tieren,
von Heringen, Walfischen, Bären, Berglöwen usw., ebenso wie
von zahllosen Regengöttern, Berggöttern usw., zu deren über-
natürlichen Kräften ganz geregelte Kultbeziehungen bestehen.
Das ist der Anfang, das der Ausgang, auf den sich die
Ethnologie endlich besonnen hat. Oder sprechen wir von den
Ahnenseelen. Nicht mehr will die Ethnologie Jahve oder
Zeus oder sonst einen alten Kulturgott, weil er der Vater des
Stammes ist, aus der Seele des Urahnen herleiten (wieviel
Jahrzehnte liegen diese Versuche zurück!), sondern baut von
unten auf mit der unendlichen Fülle unscheinbarer Tatsachen,
die die Völkerkunde geliefert hat, und da kann man noch
nicht wissen, inwieweit in dem vollendeten Bau später Ahnen-
götter wohnen werden. Daß es aber überhaupt welche gibt,
ist zweifellos. Da ist für Meyersche Deduktionen wie etwa
die folgende über die Ahnenseelen kein Platz mehr. Sie seien
so hilflos und schwach und von den Gaben der Angehörigen
ganz abhängig, daß es undenkbar sei, aus ihnen könnten
Götter werden. Oder man höre seine philosophische Seelen- 1
theorie: „Die Unterscheidung einer äußeren körperlichen Er-
scheinungsform und eines inneren immateriellen Agens in allen
Objekten der Erscheinungswelt können wir niemals aufheben,,
mögen wir sie mit dem primitiven Menschen als Körper und]
Seele oder mit der Naturwissenschaft als Stoff (Materie) und]
Kraft (Energie) auffassen . . ." (88). „Der Dualismus von
Körper und Seele ist . . . eine ursprüngliche Erfahrung" (85).l
Nun ist aber die angebliche Unterscheidung der Primitiven]
von Körper und Seele nicht durch Tatsachen zu erweisen. Siel
Religionen der Naturvölker 1906—1909 421
nennen vielmehr die Wirkungskraft der Objekte und Wesen
orenda, mana usw., was mit Seele nicht das geringste zu tun
hat. Man kann ja übereinkommen, diese Zauberkraft Seele zu
nennen, aber man muß sich hüten, sie mit den Totenseelen
zusammenzuwerfen, die ihrerseits bestimmte Eigenschaften haben.
Meyer aber setzt beides gleich, da ihm die Tatsachen wohl
unbekannt und auch gleichgültig sind (vgl. vorher das zu
Wundts Werk Gesagte).
Doch ich muß mich hier begnügen, einige der stärkeren
Versehen ohne viel Kommentar ihrer Reihenfolge nach kurz
anzuführen:
S, 94 (gegen Bethe): Die Homosexualität ist bei Menschen
und Tieren überall verbreitet; die magischen Vorstellungen,
die etwa damit verbunden sein mögen, sind durchaus sekundär.
— Hier kämpft Meyer gegen Windmühlen, denn selbstverständ-
lich hat das Gegenteil niemand behauptet. — S. 95, 96. „Die in
neuester Zeit aufgekommene Richtung, welche in der Religion
der Mexikaner und ähnlicher Völker einen Schlüssel für das
Verständnis primitiver Religion und der Religionsentwicklung
der Völker des Altertums sucht, kann ich nur als einen unheil-
vollen Mißgriff betrachten . . ., solche Anschauungen sind extreme
Verirrungen des mythischen Denkens, die in die wildeste
Barbarei hineingeführt haben, nicht natumotwendige und ur-
sprüngliche Vorstellungen . . . Sind vollends die für die mexi-
kanischen Anschauungen und Riten gegebenen solaren und
astralen Deutungen richtig . . ., so beweist das erst recht, daß
wir es hier mit ganz jungen Gebilden zu tun haben." — Da
Meyer statt eines Versuchs einer Widerlegung sich genötigt
sieht, eine Verirrung des Denkens von Völkern zu postulieren,
so kann man daraus ermessen, wie wenig er sich zu helfen
wußte. Das betreffende Material selbst irgendwie verantwort-
lich zu machen als Verirrungen des mythischen Denkens fallt
in die oben skizzierten Anschauungen Foucarts, zu denen ich
mich schon geäußert habe. Verirrungen des Denkens eines
422 K. Th, Preuß
Volkes kann es in der Wissenschaft nie geben, sondern nur
Material für die historische Erkenntnis, da der Forscher kein
Gott ist; denn eine Norm ist uns nicht gegeben, sondern un-
erreichbares Ziel der Erkenntnis. „Junge Gebilde" können ferner
nur durch geschichtliche Hilfsmittel festgestellt werden.
Ahnungen, wie sie Meyer darüber hat, stehen auf einer Stufe
mit den einen Sinn entbehrenden „Verirrungen des mythischen
Denkens". — S. 95 spricht sich Meyer über die Unter-
schiede zwischen Kulturvölkern und Naturvölkern dahin aus,
daß bei ersteren Momente vorhanden waren, die ihr Vorwärts-
schreiten ermöglichten. Diese fehlten den Naturvölkern, und
deshalb seien die Kulturvölker nie auf der Kulturstufe der
Nordamerikaner oder der Neger oder gar der Mexikaner ge-
wesen. — Die Naturvölker sind nach Meyer also Menschen
zweiten Grades, so daß ihre Kultur zur Erklärung der kulturellen
Güter nicht in Betracht kommt. Waren nun aber nicht z. B.
die Germanen vor der Befruchtung ihrer Kultur durch die
Römer auch Naturvölker? Meyer vergißt die Jahrhundert-
tausende langsamer Kulturentwicklung vor der kurzen Periode
der geschichtlichen Kultur in seine Rechnung aufzunehmen.
Er vergißt, daß die Kultur der Naturvölker gegenüber dem
theoretischen Nullpunkt eine ungeheuere zu nennen ist, un-
endlich viel größer als die folgende Kulturentwicklung in den
paar Jahrtausenden der „Kulturvölker". Das ist der erste
Eindruck, den der denkende Reisende im Verkehr mit den
Naturvölkern erhalten muß. Übrigens sind gerade die hoch-
entwickelten Mexikaner ein sehr wenig zutreffendes Beispiel. —
S. 108 wird der Totemismus aus Tiernamen hergeleitet, die als
Spott- oder Ehrennamen den Stämmen beigelegt wurden. —
Dafür gibt es auch nicht einen Beleg. — S. 110 Götterbilder,
in denen man die Götter nachzuahmen sucht, „werden unter dem
Namen der Fetische zusammengefaßt". — Daß Fetische etwas
absolut anderes sind, brauche ich nicht auseinanderzusetzen. —
S. 111. „Die Mächte, die Tod und Krankheit, Unfruchtbarkeit
Religionen der Naturvölker 1906—1909 423
nnd Dürre senden und die in wilden Tieren hausen, (sindj stets
bösartige Wesen." Für die Naturvölker ist diese Schilderung
unzutreffend. Die Krankheit und Dürre sendenden Götter
spenden meist auch allen Segen, selbst wenn sie „wilde Tiere"
sind. — S. 123 f. wird hervorgehoben, daß die Steigerung
der Kultur regelmäßig zugleich eine gewaltige Steigerung der
Keligiosität bewirke. In primitiven Verhältnissen vertraue der
einzelne viel mehr auf seine eigene Kraft als auf die Hilfe der
Götter und auf Zauberriten. „Die Bedeutung der Religion für
primitive Volksstämme wird von der modernen Forschung oft
stark überschätzt; sie steht einseitig unter dem Eindruck
extremer Bildungen des folgenden Entwicklungsstadiums . . ."
— Die Meinung der Ethnologen gründet sich darauf, daß bei
den Primitiven der Erwerb von Xahruncr, der täglich Schwierig-
keiten zu überwinden hat, ferner jedes kleine tägliche Ereignis
des Lebens, Reisen. Krankheit, Krieg usw. stets die Anwendung
von Zauberkraft (orenda usw.) verlangt. Mit fortschreitender
Kultur verringern sich die Zauberobjekte, einen großen Teil
davon absorbieren die Götter, die Religionsangelegenheiten
werden zusammengefaßt und so die tägliche und stündliche
Inanspruchnahme durch die Religion vermindert. Das erhellt
heute aus allen Reiseberichten geschulter Ethnologen. Meyer
vertritt hier die frühere überwundene Auffassung der Ethno-
logen, die für diese unscheinbaren Dinge noch keinen Blick
hatten. — S. 112. „Die Vorgänge des irdischen Naturlebens
stehen dem primitiven Menschen viel näher und spielen daher
eine viel größere Rolle als die Vorgänge am Himmel. Erst
in vorgeschrittenen Religionen treten diese in den Vordergrund."
— Das ist nur als Postulat der Forschung richtig. Die Tat-
sachen beweisen, daß heute auch die primitivsten Naturvölker
bei näherer Untersuchung Himmelserscheinungen und Licht-
körper in ihre Auffassungen und in ihren Kult einbezogen
haben. — S. 169 wird gesagt, daß seit den ältesten Zeiten be-
sonders die Frauen äußeren Schmuck tragen. — Für die Völker-
424 K. Th. Preuß
künde ist das Gegenteil eine seit langem festgestellte Tat-
sache.^
Man fragt sich in der Tat vergebens, weshalb der be-
rühmte Historiker dieses ihm unsympathische und fremde Gebiet
betreten hat, namentlich da heute doch der Grundsatz einer
strengen Teilung der Wissenschaften als erste Bedingung ihres
Fortschreitens mit Recht feststeht.
Die kurze Darstellung Edvard Lehmanns, Die An-
fänge der Religion und die Religion der primitiven
Völker^, gibt einen guten Überblick unter Berücksichtigung
des Präanimismus und der Magie als Vorstufe der Religion.
Nach ihm besteht der Glaube an eine allgemeine Natur-
beseelung oder einen Panvitalismus, zu dem die Ideen von den
Seelen der Verstorbenen hinzugekommen sind. Fetische sind
also von diesen präanimistischen Geistern bewohnt. Einen zu
großen Umfang gibt er dem Begriff tabu, denn tabu sei jede
Person oder Sache, die mit Geisterkraft erfüllt oder der Wirkung
dieser Kräfte besonders ausgesetzt ist, die also heilig bezw.
unrein ist. — Das Komplement zu tabu ist nämlich die Zauber-
kraft schlechthin (orenda, mana usw.), die der Verfasser nach
seiner Nomenklatur wohl Geisterkraft nennen würde. Alle, die
solche Zauberkraft besitzen oder ihr ausgesetzt sind, sind nicht
zugleich tabu, d. h. heilig oder unrein. Vielmehr sucht ein
Orenda das andere zu überwinden bezw. zu benutzen. Zu
wenig Gewicht hat Lehmann den Zauberkräften der Tiere und
ihren Ursachen beigelegt, worauf auch die Speiseverbote z. T.
zurückzuführen wären, die der Verfasser allein den totemistischen
Ideen zuschreibt. Die Unsicherheit über die Auffassung des
* Ähnlich starke Bedenken bringe- ich dem ersten Teile desselben
Buches entgegen, das die staatliche und soziale Entwicklung behandelt.
Doch muß ich mich hier begnügen, auf einige treflFende kritische Be-
merkungen dazu von C. F. Lehmann -Haupt in der Klio VII, S. 458 f., zu
verweisen.
* In Paul Hinneberg Die Kultur der Gegenwart Teil I, Abteil. HI, 1
Die orientalische Beligion. Berlin 1906. 29 S.
Religionen der Naturvölker 1906 — 1909 425
Totemismus tritt mit R^cht hervor; daß Totems neuerdings
als Spitznamen erklärt werden, hätte er jedoch nicht ernsthaft
in Rechnung ziehen sollen, zumal die Grundauffassung des
Verfassers erfreulicherweise der „R€ligion" einen gewaltigen
Einfluß auf das soziale Leben zuweist. Voraus geht eine lehr-
reiche Übersicht über die historische Entwicklang der An-
schauungen von den Anfängen der Religion.
in Grundlegende Probleme
Auf dem religionsgeschichtlichen Kongreß zu Oxford hat
die Wage der Meinungen den Ausschlag nach der Seite des
Präanimismus gegeben und der Zauberei als einem integrierenden
Bestandteil der Religion ihren Platz zugewiesen. Und zwar
sind das Hauptargument die Begriffe des orenda, mana und
ähnlicher Bezeichnungen der Zauberkraft gewesen, die in der
Tat ausschlaggebend sind, und deren Erörterung die Anders-
denkenden aus dem Wege zu gehen pflegen. Vor allem hat
die Ansprache^ des Vorsitzenden der Sektion für die
Religionen der Naturvölker, E. S. Hartland, mit Ent-
schiedenheit diese Richtung vertreten, ebenso plastisch ein-
drucksvoll wie versöhnend gegenüber den anderen Meinungen,
deren Auseinandergehen er mit Recht zum Teil den unaus-
geglichenen Definitionen der Termini und einer Verschiebung
der Betrachtungsweisen zuschreibt, die mehr auf das Trennende
als auf das Einigende ausgeht. Das verständnisvolle, ich
möchte sagen liebevolle Eingehen auf die unbestimmten
gleitenden Vorstellungen der Primitiven und die verschiedenen
Seiten seiner Auffassung treten noch mehr in seiner An-
sprache als Vorsitzender der „anthropologischen"
Sektion der British Association for the Advancement
of Science' hervor. Er sagt etwa — seine Zurückweisung
* Transactions I, S. 21— 32.
* Tramactions of Section H in Eeport of the British Association.
York 1906.
.426 K- Th. Preuß
der obersten Gottheiten Andrew Längs und manches andere
lasse ich aus — : Persönlichkeit und Mysterium oder — anders
ausgedrückt — Bedürfnisse und Empfindungen einerseits und
Fähigkeiten über die äußeren Erscheinungen hinaus ander-
seits werden der ganzen Umgebung nach Maßgabe des mensch-
lichen Bewußtseins zugeschrieben. Dieses den Objekten zu-
geschriebene persönliche Leben, ein Abbild des eigenen mensch-
lichen Lebens, geht dem Animismus, der Unterscheidung von
Seele und Körper und den animistischen Geistern und Dämonen
voraus. Die geheimnisvolle Potentialität (orenda usw.) anderer
„Persönlichkeiten" zu überwinden oder zu gewinnen sind
Zauberei und Religion entstanden, die also beide aus der-
selben Wurzel entspringen. Doch spricht die Uberwucherung
der Riten über die Spekulation, der Handlung über das Nach-
denken für eine frühere Entwicklung der Magie. Dieses
orenda usw. nun ist auch der Zauberstoff, womit Objekte
eventuell vom Zauberer gefüllt werden müssen, um magische
Wirkung auszuüben. Die Analogieformen des Zaubers treten
zum orenda usw.^ hinzu. Zauberwort geht in allen möglichen
Nuancen in Gebet über. Durch Gabe, Erniedrigung, Kacteiung,
Fasten, Enthaltsamkeit wird ein mächtiges Orenda gewonnen,
das nicht gezwungen werden kann, ähnlich wie man im ge-
wöhnlichen Leben die Hilfe eines Häuptlings, Feindes usw.
gewinnt. - - Hier glaube ich allerdings, daß z. B. Fasten, ge-
schlechtliche Enthaltsamkeit usw. ursprünglich direkte Mittel
sind, die eigene Zauberkraft zu erhöhen, und nicht eine Art
Demütigung vor einem Mächtigeren.^
^ Sehr gut illustriert eine von mir aufgenommene Erzählung der
Coraindianer, wie auch die einfachsten Zeremonien, die äußerlich gar
keine Schwierigkeiten bieten, selbst in dieser äußerlichen Form nur von
einer „Potenz" ausgeführt werden können. Die Cora wollen einen Altar
errichten, um ihr Fest beginnen zu können. Sie fällen Bäume, es ist
aber unmöglich, die vier Pfähle dazu in die Erde zu stecken, bis
der Morgenstern herzukommt und die richtigen zeremoniellen Vor-
bereitungen trifft.
* S. Ursprung der Religion u. K., Olobus Bd 87, S. 398 f.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 427
Während wir über das Orenda der Irokesen die klassische
Darstellung von Hewitt^ haben, der selbst irokesischer Ab-
stammung ist, ist die eigentliche Kenntnis des melanesischen
Mana uns erst jetzt durch die genaue, auch auf philologischer
Grundlage ruhende Interpretation von R. R. Marett, The
Conception of Mana^ auf dem Oxforder Kongreß zuteil ge-
worden. Zugrunde liegt ihm dafür das hervorragende Werk von
Codrington, The Melanesians (1891). Mit anderen wichtigen Auf-
sätzen des Verfassers über grundlegende Probleme der primitiven
Religionen zusammen ist es jetzt auch in R. R. Marett, The
Threshold of Religion^ abgedruckt worden. Schon auf dem
Kongreß wurde mir die Bedeutung seiner Darlegungen als
sicheres Fundament inmitten der wogenden Auffassungen der
Forscher klar, und ich war froh, daß er selbst in aller Kürze
das Wort über mana im Archiv ergreifen wollte. Vgl. Bd XII,
S. 186 — 194. Ich könnte mich deshalb hier mit diesem Hin-
weise begnügen. Es würde aber eine empfindliche Lücke in
diesem die Hauptsachen widerspiegelnden Berichte entstehen,
wollte ich nicht auf die recht erheblichen Abweichungen des
mana von orenda und auf seine Stellung innerhalb der hier
recristrierten Meinungen, insbesondere auf seine Beziehungen zum
Animismus ganz kurz eingehen. Denn orenda ist nur über-
natürliche oder Zauberkraft schlechthin als Bezeichnung der in
den Wesen und Objekten wirkenden Potenzen, ganz gleich-
gültig, ob diese Träger des Orenda Geister im Sinne des
Tylorschen Animismus sind oder nicht. Das Orenda selbst ist
demnach etwas Unpersönliches, ja die Träger selbst sind öfters
nicht recht faßbar. Xeben Menschen, Tieren, greifbaren Natur-
objekten besitzen der Himmel, die Dunkelheit, die Sturm-
wolken usw. orenda, kurz alles, mit dessen Wirkungen man
rechnen zu müssen glaubt. Es liegt in den Tönen, in der
^ Amer. Anthropologist, 1902, N. S. IV, 33 f. Vgl. Archiv Yll, S. 232.
* Transactions I, S. 46 — 57.
* London 1909, S. 115— 142.
428 K. Th. Preuß
Stimme, im Gesänge, es ist, wie mir noch neulicli wieder der
Mohawkindianer Brant Sero mitteilte — melody.
Hier haben wir für das Mana viel genauere Anschauungen
bei den Melanesiern. Ich folge nun Marett. Mana und über-
natürliche Macht (Zauberkraft) ist identisch, und zwar in dem
strengen Sinne, daß die Seelen der Verstorbenen (tindalo,
ghost, Geist) meist kein mana besitzen. Nur diejenigen Seelen
Verstorbener haben mana, in die schon bei Lebzeiten ein Geist
mit mana oder ein Dämon (spirit) — dieser hat stets mana —
eingedrungen ist. Im lebenden Menschen heißt die Seele
tarunga wie bei den Tieren, während Objekte gar keine Seele
haben, aber nur bei den Menschen wird diese Seele nach dem
Tode zum Geist (tindalo). In alle Tiere und Objekte kann
jedoch ein Geist mit mana oder ein Dämon einfahren wie in
den Menschen, oder das mana wird einfach übertragen, die
Dinge mit mana gehören dann zu einem Geist mit mana oder
zu einem Dämon. Auf diese Weise ist das rein immaterielle
Mana überall verbreitet, gewissermaßen losgelöst vom dämoni-
schen Ursprung, wird von Menschen in Gestalt von Amuletten
und Zauberobjekten allenthalben benutzt, und jeder nur »rgend-
wie das Gewöhnliche übersteigende Erfolg oder eine persön-
liche Geschicklichkeit usw. wird dem Mana zugeschrieben. Da
die Geister mit mana und die Dämonen stets mana haben, so
sagt man von ihnen, sie sind mana, während man das von
den Wesen und Objekten mit mana nicht sagen kann. So
steht mana in der Mitte zwischen Persönlichem und Unpersön-
lichem. Vom Animismus hängt also das Mana ab, und Marett
hat recht, daß aus der Auffassung des Mana schließlich diese
oder jene Form animistischer Konzeption werden muß.
Das alles ist sehr lehrreich, denn die Geister und Dämonen
haben nur deshalb übernatürliche Kraft, weil sie mana be-
sitzen, während die Animisten gerade übernatürliche Wirkungen
ohne weiteres durch das Einsetzen von Seele, Geist als letzten
Grund erklären wollen. Auch die Dämonen (spirits) der
Religionen der Naturvölker 1906—1909 429
Melanesier sind interessant. Sie sind nämlich teils geistähnlich
Ton unbestimmten Umrissen „grau wie Staub", also offen-
sichtlich animistischer Nachbildung, teils haben sie den ge-
wöhnlichen Körper eines Menschen. Marett schließt nun
richtig, daß diese zweite Art der mythischen Einbildung dem
anthropomorphen Theismus ihren Ursprung verdankt und auf
die Belebung oder Beseelung von Naturobjekten zurückgeht,
die er früher in seiner Arbeit Preanimistic Religion (1900)^
besprochen, und wofür er den Ausdruck animatism vorgeschlagen
hat. Marett ist somit schon frühzeitig dem Präanimismus nach-
gegangen, und es ist deshalb mit Freuden zu begrüßen, daß er
die Arbeit in die Aufsatzserie seines Buches The Threshold of
Religion aufgenommen hat.
Die unpersönliche Form des Mana scheint nun noch eine
besondere Tragweite zu haben. Schon Marett weist darauf
hin, daß manchen Begriffen von Göttern etwas Unpersönliches
anhaftet imd macht dafür eine Auffassung wie die des Mana
verantwortlich. Auch manche namenlosen Dämonen animisti-
scher Natur seien merkwürdig unbestimmt. Wenn wir uns das
gegenwärtig halten, erlangen wir die richtige Perspektive für
den Vortrag von Edward Clodd, Preanimistic Stages in Religion^,
der auf dem Oxforder Kongreß gehalten, aber leider sehr ver-
kürzt veröffentlicht worden ist. Er geht von der Darwinistischen
Entwicklungslehre aus und will die Religion bis zur Psyche des
Tieres zurückverfolgen. „Das Tier, das Kind und der un-
wissende Erwachsene zittern gleichmäßig vor dem Unbekannten
und Ungewöhnlichen . . . Auf der angenommenen Stufe hat der
Mensch die Teilung der Erscheinungen in natürliche und über-
natürliche oder seine eigene Zusammensetzung aus Materie und
Geist noch nicht erfaßt . . . Wir kommen so zu einer Stufe
der Entwicklung, die früher ist als der Animismus, der Glauben
^ Folklore XI, 1900, S. 162 ff. Vgl. meine kurze Anzeige im
Archiv YII, S. 232.
' Transactions I, S. 33 — 35.
430 K. Th. Preuß
an überall verkörperte Geister. Die Grundidee in diesem
Präanimismus ist die einer allenthalben vorhandenen Macht
(of power everywhere), einer unbestimmt aufgefaßten aber
immanenten Macht, die noch persönlicher oder übernatürlicher
Attribute entkleidet ist." Er führt nun ein Beispiel für einen
rudimentären Kult solcher unbestimmt als „Mächte" aufgefaßter
Wesen ohne persönliche Qualitäten in heiligen Hainen in Indien
an und zählt als weitere Belege kurz die Auffassung von
orenda, mana, manitu und anderer „Mächte" auf. — In der
Tat wird man in den Anfang das unbestimmt Persönliche
setzen, kaum aber das Unpersönliche. Auch das Unpersönliche
in dem Orenda, Mana usw. ist doch nur eine späte Abstraktion
von den Objekten, in denen es wirkt. Es ist, wie Swanton bei
den Tlingit feststellt^, eine kollektive Zusammenfassung aller
in den lebenden Wesen, Objekten und Dämonen wirkenden
übernatürlichen Kräfte, aus denen dann „der große Geist" der
Indianer und ähnliches, also schließlich doch wieder eine Per-
sönlichkeit wird. Tiere wie Menschen fürchten sich infolge
bestimmter Sinneseindrücke. Was gehört, was gefühlt wird,
z. B. Donner, Blitz, Wind, kann selbst als unbestimmtes Wesen
erscheinen, aber immer als ein Wesen, das in gewisser Weise
dem Menschen adäquat ist, das vor allem etwas kann und will
(orenda usw.). So können Dämonen aus bloßen Eindrücken
entstehen, aus Machtäußerungen, ohne daß ein bestimmtes
Naturobjekt zugrunde liegt (vgl. Useners Sondergötter). Zu
solchen Projizierungen des eigenen Wesens ist aber nur der
Mensch, nicht das Tier fähig. Clodd unterscheidet also nicht
mit den Präanimisten Belebtheit der Natur und Tylorschen
Animismus, sondern läßt dem Animismus die unpersönliche
„Macht" vorangehen, was, wie gesagt, nicht gut möglich ist.
Es ist für die Überzeugungskraft des in den letzten Jahren
beigebrachten Materials bezeichnend, daß die amerikanischen
* S. die Besprechung des betreifenden Werkes im amerikanischpn
Bericht (Archiv XIV) unter Indianer der Nordwestküste.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 431
Forscher jetzt eine sehr eiuheitliche Meinung über diese das
All durchdringende Macht haben, die sich in den Einzelwesen
manifestiert und an Stelle natürlicher Tätigkeiten zauberische
Qualitäten setzt, wie es in meiner Arbeit „Ursprung der Religion
und Kunst" als Grundlage aller Untersuchungen über mensch-
liches Tun in primitiven Gemeinschaften angenommen ist Ich
kann es mir nicht versagen, ein solches amerikanisches Urteil,
das des Direktors der ethnologischen Abteilung des Museum
of Natural History in New York Clark Wissler in seiner
Arbeit The Black foot Indians^ wörtlich anzuführen: „Gegen-
wärtig wird allgemein zugegeben, daß die amerikanischen
Indianer nicht die Auffassung von einem einzigen persönlichen
Gott hatten, sondern die Erscheinung der Natur abstrahierten
und sie durch Bezeichnungen entsprechend unserem Wort«
Macht (analogous to our word power) ausdrückten. Der Black-
foot scheint diese Macht als die ganze Welt menschlicher
Erfahrung durchdringend anzusehen und als die Ursache von
allem, was es gibt. Jeder Gegenstand in der Welt, besonders
jedes lebende Objekt, wird im Besitze der Mittel angesehen,
diese Macht in irgendeiner Weise zu offenbaren. Wenn er
um sich schaut, so sieht er Tiere und Menschen im Besitze
von Arten von Macht, die sehr nützlich für ihn sein würde,
und beginnt deshalb Opfer darzubringen und zu beten, um
etwas von dieser Macht zu erhalten. Zum Beispiel hat er
beobachtet, daß die Eule große Macht über die Dunkelheit
hat, und er opfert und betet nun direkt zu dem Gott der
Eule, daß etwas von dieser Macht auf ihn übertragen werden
möchte. Wenn eine Eule ihm im Traume erscheinen und ihn
einige Gesänge und Riten lehren würde, so würde er das als
eine wirkliche Offenbarung von Macht gelten lassen. Es wird
manchmal gesagt, daß die Indianer der Prärien die Sonne an-
beten, aber das ist, genau genommen, nicht richtig, denn
* In Ethnology of Canada and Nac Fvundland. Ännual archaeo-
logical Report 1905 Toronto 19ü6 (bei L. K. Cameron).
432 K. Th. Preuß
wenigstens der Blackfoot sieht die Sonne einfach als eine
Offenbarung der Macht des Universums an. Eine andere
Eigentümlichkeit dieses Glaubens ist, daß dem Individuum
nichts für seine Intelligenz und Geschicklichkeit gegeben wird,
weil alles, was er tun kann, das Ergebnis direkter Übertragung
von Macht auf seine Person ist. Zum Beispiel erzählte man
mir, daß der weiße Mann, der den Phonographen erfand, nichts
mehr sei, als ein glückliches Individuum, das die Macht des
Universums um die Geschicklichkeit bat, und daß diese Macht
Mitleid mit ihm hatte und ihn im Traume anwies, er möge
gewisse Stücke von Holz und Metall nehmen und sie in ge-
wisser Weise zusammenlegen . . . ."
Eine geistvolle Darstellung der Begriffe mana usw. —
Animismus gibt Jane Ellen Harrison in ihrer Arbeit The
Influence of Darvinism on the Study of Religions.^
Mana usw. ist ihr die Welt des WoUens und Tuns, des
Rituals; die Geister sind die Welt der Sinnestäuschungen
und des Denkens; was sich von beiden „Welten" zuerst ent-
wickelt habe, sei müßig zu fragen. Wichtiger sei, warum
sich diese beiden „Welten" vereinigen. Es geschehe, weil
mana, das Element des riesenhaften menschlichen Willens,
nicht mit realen Dingen befriedigt werden konnte und nach
der falschen übersinnlichen Welt verlangte. Zauberei und
Ritual wurde so das aktive Element der übersinnlichen Welt
Es füllte sie aus wie eine leere Schale und machte sie dadurch
zur Religion. Sehr hübsch wird namentlich der unbegrenzt«
Wille und das damit eng verbundene Gefühl der Macht beir
primitiven Menschen geschildert, der wie das Kind überhaupt
keine Schranken kenne, wenn er ein Tier darstelle, es aucl
wirklich sei, wenn er etwas nachahme, vielmehr die Wirklich-j
keit identifiziere usw. — Allein die Verfasserin berücksichtig
einen wesentlichen Punkt nicht. Wenn nämlich der Mensel
* Beprinted from Darvin Memorial Volume. Darvin Centenar
1909. 18 S.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 433
sein Machtgefühl in die Welt projiziert, so tut er es doch auch
mit seiner Persönlichkeit, und wenn er orenda (Macht) besitzt,
80 besitzen es doch auch diese projizierten Persönlichkeiten.
Kann man nun nicht mehr sagen, animistische Geister haben
Macht (orenda), weil sie Geister sind, sind also orenda und
Animismus zwei verschiedene Welten, so versteht man um so
weniger, weshalb die sogenannte übersinnliche gedankliche
Welt nur Raum haben soll für Konstruktionen der mensch-
lichen Seele, die nach dem Tode eine selbständige Existenz
führen, bzw. für analoge Bildungen. Durch die scheinbar
säuberliche Scheidung von orenda und Geisterwelt wird also
die Frage des Präanimismus nicht aus der Welt geschafft, sondern
gefördert.
In allen diesen Abhandlungen hat man sich begnügt, die
Existenz der Zauberkraft, das Orenda usw., einfach festzustellen,
höchstens, wie in der eben erwähnten Abhandlung, unter
summarischem Hinweis auf die psychische Anlage des unbe-
grenzten Wollens und Könnens im primitiven Menschen. Diese
psychische Seite will A. Vierkandt in seiner Arbeit Die An-
fänge der Zauberei und Religion^ verständlicher machen,
indem er eine allmähliche Entstehung und Kontinuität der
Erscheinungen verfolgen zu können glaubt. Was er will, ist
klar an der Hand von Beispielen dargestellt. Als die Grund-
bedingung für das Bestehen der Zauberei führt er den Mangel an
klaren Kausalvorstellungen beim primitiven Menschen an und
sucht einen solchen Zustand aus Erscheinungen des täglichen
Lebens, besonders aus der Erscheinung des Windes, anschaulich
zu machen. „Den Wind erklärte sich ein Kind durch das Hin-
«nd Herschwanken zweier großer Ulmen vor seiner Wohnung.
Ein Mädchen glaubte, den Wind zum Stillstand zu bringen,
indem es seine Mutter, deren Haare von ihm zerzaust waren,
aufforderte, sie wieder in Ordnung zu bringen, und vermeinte,
ebenso den Regen aufhören zu machen, indem es seine von
1 Glohits ßd 92 S. 21 — 25. 40 — 45. 61 — 65.
Archiv f. BeligionswiBsenacIi&ft XIH 28
434 K. Th. Preuß
ihm benetzten Hände von der Mutter sich, abtrocknen ließ.
Zu dem Glauben, den Mut eines Menschen essen zu können,
erscheint es als eine Art sprachlichen Seitenstückes, wenn ein
italienisches Mädchen, welches bittere Arznei genommen hatte,
sich als bimba cattiva bezeichnete."
Der Verfasser weist überhaupt auf die maßlose Über-
schätzung der Wirkungen bei der Ungenauigkeit von Kausal-
vorstellungen hin. Die Vorstellung eines unversöhnlichen
Gegensatzes zwischen natürlicher und magischer Wirkungsweise
sei überhaupt ein sehr junges geschichtliches Gebilde. Noch
für Keppler und Baco sei sie nicht vorhanden gewesen. Affekt-
handlungen führten zum Analogiezauber. Sehr eingehend wird
die Entwicklung vom Nahzauber zum Fernzauber und die
Anschaulichkeit in allen Zaubervorstellungen der Primitiven
verfolgt, die auf der Basis des praktischen Lebens beruht.
Magische Krankenheilungen erfolgen z. B. zum großen Teil auf
dem Wege sinnfälliger Eingriffe, Extrahierungen usw. „Alle
geistigen Vorgänge werden auf dieser Stufe als körperliche,
alle Eigenschaften als Stoffe, die sich wie eine Art Fluidum
von ihrem Träger loslösen können, und alle Wirkungen als
mechanisch vermittelt dargestellt." Reichhaltig sind die Bei-
spiele für assoziative Zauberideen, die sich an Teile des Körpers
und andere „zauberische Substanzen" knüpfen. Besonders
interessieren dürfte die spätere Einordnung des Seelenglaubens
in die magischen Vorstellungen. Auch Vierkandt betont nach-
drücklich, in welchem Mißverhältnis die rationalistischen Er-
klärungen der Seele aus den Erscheinungen des Schlafes,]
Traumes und Todes zur primitivsten Stufe der Menschheit
stehen. Die betreffenden Ethnologen „verwechseln den Philo-J
logen oder Gelehrten, der sich diese Erscheinungen beim Mangel!
besserer Kenntnisse wohl so erklären würde, mit dem primitiven]
Menschen." Die Vorstellung der Raumüberwindung durch diej
Seele konnte nicht aus dem Nichts entstehen, das wäre eine]
unmögliche Leistung der Phantasie.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 435
Doch ich muß auf die Arbeit selbst verweisen, von der
man vielleicht durch diese gedrängten Angaben ohne Beispiele
nicht eine richtige Vorstellung gewinnen wird, da es sich um
subtile Unterscheidungen handelt. Falsche Kausalverknüpfung
festzustellen ist jedenfalls ein fruchtbarer Weg zum Verständnis
der Zauberei, obwohl sich Urzeit und Gegenwart sehr schwer
vergleichen lassen. Wir kommen dabei bald wieder auf den
allmächtigen Willen als letzte Ursache hinaus, wo ein Ver-
ständnis im einzelnen, fürchte ich, kaum noch zu erzielen isi
So steht der Übergang von Affekthandlung (Zücken des Speeres
gegen einen entfernten Feind) zu Analogiezauber wiederum nur
im Zeichen dieses Willens. Auch der Gedanke einer Ent-
wicklung vom Xahzauber zum Femzauber ist insofern frucht-
bar, als sich die falsche Kausalverknüpfung an tatsächliche
Vorgänge anzuknüpfen pflegt und die Beachtung des Nahe-
liegenden Postulat des Denkens ist. Ein Beispiel wird die
Arbeit von Hofschläger (s. unter Sitten und Zeremonien) liefern.
Im letzten Augenblick kommt das Buch von A. E. Crawley,
The Idea of the SouP in meine Hände, das wie die Arbeit
von Vierkandt eine psychologische Erklärung, aber nicht der
Zauberei, sondern des Seelenbegriffs versucht. Hier ist der Ur-
sprung der „Seele", ohne den nach dem Verfasser nichts in
der Religionswissenschaft anzufangen ist, das bloße Erinnerungs-
bild. Tylors Ableitung der Seele von Traum und Tod ist ihm
für den Urmenschen zu schwierig. Ebenso sei die Zauberkraft
(orenda, mana usw.) abnorm und spät. „Power" sei etwas
Abstraktes, und deshalb könne man nicht dadurch zu etwas
Konkretem, der Seele, gelangen. Erregungen ohne sinnliche
I Wahrnehmungen gebe es nicht, und erstere könnten nicht
I letztere erzeugen. — Nun gibt es aber ohne Erregung, die
freilich durch die Sinne vermittelt wird, gar keine sinn-
liche Wahrnehmung. Die Außenwelt klopft dann an, ohne
Einlaß zu finden! Deshalb ist die W^ahrnehmung mit der
> London 1909. YIII und 307 S. 8».
28*
436 K. Th. Preuß
interessierenden Lebensäußerung, der „Macht" verknüpft, und
davon muß die Religion ihren Anfang nehmen auf der mensch-
lichen Stufe. Wenn bei den Cora sowohl die Wolken in jeder
Form wie auch die herabfallenden Tropfen Regengötter sind,
so sieht man nicht recht, wozu man das Erinnerungsbild eines
Regentropfens für die Gestalt der Gottheit braucht. Oder
wenn man den Wind fühlt und hört, so muß ein Wesen
ähnlich wie das Ich oder sonstwie Bekanntes die Ursache sein,
die man sich so seelenhaft vorstellen möge wie man will, aber
man braucht dazu kein Erinnerungsbild einer Sache, die man
nicht gesehen hat. Von einem abstrakten Begriffe von „Macht"
kann bei alledem keine Rede sein. Ich glaube, daß der Verfasser
sich durch allzu große Finessen hat irre führen lassen.
Indessen bleibt sein Buch durch die Darstellungen der Seelen-
theorien der verschiedenen Völker nützlich.
Über Jevons Vortrag „Magic" auf dem Oxforder Kongreß
ist schon oben berichtet worden (s. unter Gesamtdarstellungen).
Auch das umfangreiche, gegenüber der ersten Auflage
beträchtlich erweiterte Werk von Alfred Lehmann, Aber-
glaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis
in die Gegenwart^ erwähne ich hier kurz, obwohl mehr
als zwei Drittel des Buches sich mit dem modernen Spiritismus
und Okkultismus beschäftigen (S. 247 — 379), und gewisser-
maßen das Endziel ist, die „magischen Geisteszustände" zu^
untersuchen (S. 380 — 641), die die abergläubischen Vor-
stellungen veranlaßt haben und aufrecht erhalten. Auch dieser
Abschnitt ist fast ausschließlich auf moderne Verhältnisse be-
zogen. Doch ist der vorausgehende geschichtliche Überblick
für eine erste Orientierung über die Magie der alten Kultur-
völker und die Geheimwissenschaften nützlich. Auch über die
Naturvölker wird in der Einleitung auf 17 Seiten einiges zu-
* Deutsche Übersetzung (aus dem Dänischen) von Petersen I,
Stuttgart 1908 XII und 666 S.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 437
sammengestellt. Quellenangaben fehlen, doch sind die gebrauch-
ten Werke hinten aufgezählt.
Besonderes Interesse dürfte das Werk Ton Jules Com-
barieu, La musique et la magie^), als Gegenstück zu Büchers
wohlbekanntem ., Arbeit und Rhythmus" erwecken; denn der
Yerf. will nichts Geringeres beweisen als den zauberhaften
Ursprung der Musik und damit der Poesie, die sich aus ihr
entwickelt habe. Nun ist ein solcher Ursprung aus dem
Zauber keine neue Idee, wie er glaubt*), und der Gedanke an
Zauberakte in der ersten Entwicklung der Kunst hat in den
letzten Jahren überhaupt erstaunlich zugenommen. Trotzdem
kann es sich nur darum handeln, diese Überzeugung zu ver-
stärken, nicht einen strikten Beweis zu führen, und das wird
das Buch zweifellos erreichen. Die Grundlage des Werkes ist
die Annahme eines „tiefen dunkeln musikalischen Sinnes"
und des höheren Alters der mit der Stimme ausgeführten als
der manuellen Riten. Letzteres ist einigermaßen paradox
und entspricht auch nicht den Tatsachen, da die Stimme bei
sehr vielen Zeremonien, falls nicht die Berichte mangel-
haft sind, nur nebenbei oder gar nicht benutzt wird.
Die Methode des Verf. geht im wesentlichen dahin, aus
religiösen Zaubergesängen und aus bloßen Berichten darüber
allgemeine Schlüsse auf die profanen Gesänge zu ziehen, ohne
diese selbst auf ihren Zauberinhalt zu untersuchen. Das
Grenzgebiet zwischen beiden wird nur selten berührt. Daher
überwiegt die theoretische Erörterung an der Hand einzelner
Beispiele, die freilich zusammen ein ganz annehmbares Material
abgeben. Ein greifbares Bild der Entwicklung wird aber
nicht geboten. Er berücksichtigt femer sehr eingehend die
rein musikalische Seite, die, soweit ich es beurteilen kann, in
^ Etüde sur les origines populaires de Vart tntisical, son influence
et sa fonction dans les socie'tes Paris 1909. VIII und 375 S. 8".
* Siehe meine Arbeit Ursprung der Beligion und Kunst, Glohiis
87 (1905) S. 396 f.
438 K. Th. Preuß
der Tat sehr wichtige Fingerzeige gibt. Sein Material besteht
besoflders aus den Zeugnissen des klassischen Altertums und der
Kulturvölker überhaupt sowie aus sehr wenigen amerikanischen
und sonstigen ethnologischen Beispielen. So gehen ihm eine
Reihe Beweismittel ab, z. B. die Tatsache, daß manche Stämme,
wie die von mir besuchten Cora-Indianer, Unmengen religiöser
Zaubergesänge haben, aber keinen einzigen profanen — oder
die kümmerliche Entwicklung der verschiedenen Klassen der
jetzt profanen Gesänge, z. B. auch der Arbeitsgesänge gegenüber
dem Überwuchern der religiösen. Das Verfolgen der musi-
kalischen Motive und des Aufbaues bis in die Werke der
großen modernen Meister und überhaupt die Beziehung auf
unsere Zeit dürfte besonderes Interesse erregen, ist allerdings
für den Ursprung nicht beweisend.
Ich gehe nur auf ein paar für Ethnologen wichtige
Punkte ein. Gesänge zum Erzielen von Regen und guter
Witterung und zur Heilung von Krankheiten, wie sie der
Verf. anführt, gibt es in der Völkerkunde eine Menge. Hier
wäre nötig gewesen zu zeigen, ob und welche profanen Ge-
sänge daraus entstehen, z. B. die die Natur zum Gegenstande
haben. Seltener sind die angeführten Traditionen über Zauber-
gesänge bei der Liebe und als Mittel, anderen zu schaden.
Immerhin sieht man auch hier nicht recht, wie z. B. harmlose
Liebeslieder daraus entstehen sollen. Für die Entstehung von
Trauergesängen geht der Verf. von den Klageliedern über den
Tod der Frühlingsgottheit aus und meint, daß ebenso beim
menschlichen Tode das Aufwachen zu diesem Leben oder
(später) anderswo bzw. das Vertreiben der bösen Krankheitst
geister der ursprüngliche Zweck gewesen sei. Dann seien solche]
Gesänge auf alle möglichen Unglücksfälle übertragen worden.]
Es folgt der Päan, bei dem Götter für die Heilung von Krank- 1
heiten gepriesen werden, der im Kriege gesungen wird, usw. undj
der Gesang beim religiösen Mahle. Wiegenlieder sollten eine
zauberische Wirkung auf den Schlaf ausüben, wie man auch]
Religionen der Naturvölker 1906—1909 439
die Feinde durch Gesang einschläferte. Arbeitsgesänge (Bei-
spiele fehlen) waren dazu da, den Geist der betreffenden
Arbeit zu gewinnen oder auf Werkzeuge und Material direkte
Zauberwirkung auszuüben. Das Tempo der Arbeit ergebe nur
Takt und Versmaß, nicht Vers und Strophe, d. h den Rhythmus.
Überhaupt legt Combarieu großes Gewicht auf die ganze Art
der musikalischen Behandlung, z. B. Wiederholungen und
Refrain, was sich nur aus dem Zauber erklären lasse. Auf
die musikalische Seite, z. B. die heiligen Zahlen der Ton-
leitern, kann ich mich nicht einlassen. Die deutschen Arbeiten
von Stumpf und v. Hornbostel sind nicht berücksichtigt.
IV Sitten, Anschauun^eu und Zeremonien
Zwei Arbeiten von R. Hofschlaeger, Über den
Ursprung der Heilmethoden* und Die Entstehung der
primitiven Heilmethoden und ihre organische Weiter-
entwicklung* sind Musterbeispiele dafür, in welcher Weise
sich an praktische, zweckmäßige Tätigkeiten der sogenannte
Zauberglauben anschließt. Auch der Verfasser, ein Arzt, kommt
zu dem Schluß, daß der Präanimismus zur Erklärung des
von ihm Gefundenen notwendig sei. H. findet in der
Krankenheilung der Primitiven im wesentlichen nur das als
willkürliche und ausgebildete Handlung wieder, was schon bei
der tierischen Vorstufe des Menschen allenthalben triebartisr
geschieht: Kratzen, Reiben, Lecken, Entfernen und Aufessen
von Parasiten, Wälzen des ganzen Körpers an der Erde, Liegen
im Wasser oder Schlamm, gegenseitiges Ausziehen von Dornen
und anderen Fremdkörpern (bei Affen). Es ist erstaunlich,
wie sich diese Handlungen in der Tat auch in der menschlichen
Therapie in den verschiedensten Formen nachweisen lassen.
Das ist nun insofern für uns wichtig, als die abergläubi-
* Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Naturwissenschaftlichen
Vereins zu Krefeld 1908 S. 135 — 218.
* Archiv für Geschichte der Medizin III. S. 81 — 103.
440 K. Th. Preuß
sehen Ideen, die der Mensch an solche Handlungen knüpft,
nicht hineingetüftelt, sondern unmittelbar von der Praxis ent-
lehnt erscheinen. Alle die erwähnten Methoden des Tieres
richten sich im wesentlichen auf die Entfernung von Fremd-
körpern im weitesten Sinne, nämlich einerseits von Dornen usw.,
anderseits von Schmarotzern, die in der Tat, auch abgesehen
von Bakterien, einen viel größeren Umfang bei den un-
geschützten Naturvölkern einnehmen, als man sich vor-
zustellen pflegt. Der Mensch braucht nun nur annehmen,
daß derartige Handlungen auch innere Schmerzen heilen
und daß auch diese durch Fremdkörper hervorgerufen sind,
so befinden wir uns mitten in den Tatsachen des Zauber-
glaubens. „Leute, die sonderbar oder geistig verwirrt sind,
haben nach einer Bezeichnung des deutschen Volksmundes
Raupen, Motten, Grillen, Würmer im Kopf." Verfasser verweist
dabei auch auf die Anschauungen bei der Anwendung der
Trepanation. Er bezeichnet wohl mit Recht auch die folgende
erweiterte Reihe der Heilhandlungen: Belecken und Saugen,
Pusten und Fächeln, Baden im Wasser, Sand und Schlamm,
Abwaschen, Abreiben und Einreiben, die sich zu höheren Formen
bewußter medizinischer Kunstübung entwickelt haben, als
ursprünglich reflektorisch. Selbstverständlich hat er für alle
diese Arten eine Anzahl Beispiele rein praktischer (nicht über-
natürlicher Anwendung) erbracht, z. B. auch für Pusten, das
als magische Handlung so bekannt ist, und weist dann ebenso
die zauberische Verwendung in einzelnen Fällen nach. Er
sagt z. B. sehr bezeichnend: „Die mystische Heilhandlung des
Abwischens und Abwaschens der Krankheit, die auf vorgerück-
terer Kulturstufe den Charakter einer Sühnezeremonie oder
einer schützenden Weihehandlung annimmt, wäre völlig unver-
ständlich in ihrem Ursprünge ohne die Annahme, daß auch sie
gegen bestimmte Erscheinungen am Körper (Parasiten, Schweiß)
gerichtet war." Der Verfasser geht in der zweiten Abhandlung
u. a. auch auf die Heilgesänge der Schamauen ein, deren pro-
Religionen der Naturvölker 1906—1909 441
fane Entstehung aus dem Arbeitsrhythmus bei der physisch
angreifenden Heilung er befürwortet. Beispiele hat er dafür
freilich nicht erbringen können. Dem Referenten erscheint
eine solche Entstehung der Heilgesänge jedenfalls sehr un-
wahrscheinlich.
Diese Methode ist als eines der Mittel zur Erlangung
positiver Ergebnisse in der schwierigen Frage der Entstehung
von Zauberhandlungen sehr zu empfehlen, wenn man auch
nicht in jedem einzelnen Falle mit den Schlüssen des Verfassers
einverstanden zu sein braucht. So führt er das magische Hin-
durchkriechen durch enge Offnungen ausschließlich auf ursprüng-
lich tierische R^ibungsbewegungen zur Abstellung von Juck-
reizen zurück. Die Methode befindet sich in tlbereinstimmuns:
mit dem von mir aufgestellten Satze, daß alle menschlichen
Tätigkeiten, sowohl bloße körperliche Funktionen wie Instinkt-
handlungen mit dem Beginn der Reflexion, also von der
Schwelle der Menschwerdung an, leicht in die Lage kommen,
durch unrichtige Kausalverknüpfung mit sogenannten Zauber-
ideen erfüllt zu werden.
Wie die vorstehende Arbeit die Erklärung der Zauber-
vorstellungen entsprechend ihrem Titel nur als Nebenprodukt
aufweist, so beschäftigt sich auch Richard Laschs Buch Der
Eid, seine Entstehung und Beziehung zu Glaube und
Brauch der Naturvölker^, in erster Linie mit der syste-
matischen Darstellung der Tatsachen, nimmt aber dabei, durch-
drungen von der Richtigkeit der Idee des Präanimismus und
der Bedeutung des Zaubers, mit Recht jede Gelegenheit wahr,
zur Erklärung darauf hinzuweisen. Freilich ist bei der Dürftig-
keit der Nachrichten eine klare Einsicht in die Entstehung
meist nicht möglich, wie auch der Verfasser sein Buch als
bloße Materialsammlung angesehen wissen will.
• Studien uyid Forschungen zur Menschen- und Völkerkunde unter
Leitung von Georg Buschan V. Stuttgart 1908. 147 S.
442 K. Th. Preuß
Im allgemeinen ist dem Verfasser nur der gerichtliche
Eid aus dem Gottesurteil hervorgegangen, aus einem einfachen
Grrunde, nämlich weil das Strafrecht erst in der Zeit des Götter-
und Dämonenglaubens entstanden sei. Im promissorischen Eid
dagegen müsse man selbst bei anscheinend typischem Ordal der
Herkunft aus dem Zauberglauben wenigstens teilweise Raum
geben. In erster Linie kämen hier die Symbolhandlungen bei
Eiden als ursprünglich zauberisch in Betracht, ferner der
Sprachzauber, die Anwendung bestimmter Substanzen wie Blut
und Erde, das sogenannte Essen und Trinken des Eides, wo
bei Nichteinhaltung böse Folgen zu erwarten sind. Die Dar-
stellung beschreibt die Eide nach den hervortretenden Momenten
der gesprochenen Form und der Handlung, nachdem 9 all-
gemeine Kapitel über die Arten des Eidesgelöbnisses oder
promissorischen Eides, z. B. Friedensgelöbnis, Bundes- und
Freundschaftseide, Gehorsams- und Verfassungseide, und über
die Hauptformen des assertorischen Eides, über den Zauber
des Eides, über Ordaleide, wo die Folgen des Eides von
selbst zutage treten, und symbolische Eide u. dergl. mehr
orientiert haben. Die Kapitelüberschriften nebst denen der
Unterabteilungen können sehr wohl statt eines Index dienen.
Erwünscht wäre jedoch ein Index nach Völkern und Stämmen
gewesen. Ich füge einzelne Überschriften bei: 10. Himmel und.
Erde im Eide. 11. Feuer, Wasser, Steine, Salz im Eide.]
12. Das Pflanzen- und Tierreich und der Eid. 13. Ahnenkult]
und Götterverehrung in ihren Beziehungen zum Eide. 15. Imi-
tatorische Eideshandlungen. 16. Verschwinden der ordalen.
Bedeutung des Eides. Abstrakte Eide. 22. Hand und Eid.i
23. Zahlen und Eid. Nicht einverstanden bin ich besonders]
mit dem Satze, daß „wirklich große charakteristische Götter-
typen wenigstens bei den Naturvölkern sich fast ohne Aus-
nahme mit dem Ahnen- und Heroenkult in Zusammenhang]
bringen lassen." Ahnenkult darf man weder ausschließen, noch:
anders als von Fall zu Fall annehmen, wie das auch Wundt tut 1
Religionen der Xaturvölker 1906 — 1909 443
Auch L G.Frazers Lectures on the Early History of
the Kingship^ lassen uns aknen, wie gewaltig die Wirkung
zauberischer und religiöser Ideen auf die Gestaltung früherer
sozialer Gebilde ist. Frazer sagt darüber sehr richtig: „Alle
rein rationalistischen Spekulationen . . über den Ursprung der
Gesellschaft sind durch einen fundamentalen Mangel verderbt:
sie rechnen nicht mit dem Einfluß des Aberglaubens, der das
Leben des Wilden durchdringt und in unberechenbarer Weise
dazu beigetragen hat, den sozialen Organismus aufzubauen. . .
Wir fangen erst an dieses zu begreifen, denn wir beginnen
erst, den Geist des Wilden zu verstehen. . . . Wenn die Zeit
jemals kommen sollte, wo sich das als wahr erweisen sollte,
was wir nur ahnen und die Wahrheit von allen anerkannt
werden sollte, so mag das eine Rekonstruktion der Gesellschaft
hervorrufen, von der wir uns kaum etwas träumen lassen.*'
Besser als der Titel des Buches gibt seinen Inhalt die Be-
zeichnung wieder, die die Vorlesungen erhielten, aus denen es
erwachsen ist: The Sacred Character and Magical Functions
of Kings in Early Society, denn der Verfasser hält sich von
den profanen Obliegenheiten der Häuptlinge und Könige voll-
ständig fern, wenn er sich auch mit Fragen der Nachfolge
und ähnlichen noch nicht als religiös aufgedeckten Dingen be-
sonders im Hinblick auf das Latinische Königtum beschäftisrt.
Und auch mit dem engeren Thema stehen das erste Drittel des
Buches und andere Teile nur lose in Zusammenhang, da es
gilt, erst die Grundlage für die Behandlung eines solchen
Themas zu schaffen. So erhalten wir zunächst die Unter-
scheidungen der Arten der Zauberei, wovon ich als neu die
Einteilung in positive oder eigentliche Zauberei und negative
oder Tabu anführe. Das Tabu gründe sich nämlich auf die-
selben Prinzipien der Ähnlichkeit wie die Zauberei. Um ein
Beispiel anzuführen: Wenn einige der Zentral- Eskimo auf dem
' London 1905. 309 S. 80.
444 K. Th. Preuß
Eise jagen, so ist es verboten, zu Hause das Bettzeug aufzu-
heben, weil man meint, das würde Brechen und Wegtreiben
des Eises verursachen, so daß die Männer umkommen würden.
Daß diese Art des Tabu aber nur einen Teil der ganzen Tabu-
einrichtungen umfaßt, ist jetzt von R. R. Marett in dem Auf-
satze Is Taboo a Negative Magic?^ dargelegt worden, in
dem dieser besonders auf das Tabu der Frau, des Fremden und
des göttlichen Königs Bezug nimmt. Nach dieser allgemeinen
Betrachtung der Magie geht Frazer — immer an der Hand
eines bewundernswerten Materials — auf die magischen Hand-
lungen zum Besten der Gemeinschaft (Regenmachen u. dergl.
mehr), auf die Umwandlung von Zauberern in „Könige" und
Götter ein. Es folgt die Heirat von menschlichen Vertretern
der Vegetationsgottheiten untereinander und von Mädchen mit
Flußgöttern — wo sich interessante Perspektiven aus dem
Inhalt von Erzählungen (Perseus und Andromeda) auf wirk-
liche Begebenheiten eröffnen — und die Heirat von Königen
mit Gottheiten. Dem Inhalt dieses Buches werden wir in der
dritten Auflage des Golden Bough wieder begegnen, wie auch
manches davon schon in der zweiten Auflage vorliegt.
Ein wahres Schmerzenskind der Ethnologie ist der
Totemismus, weil man überall, wo Stämme Tiernamen tragen
oder entsprechende Tabus vorliegen, auf ursprünglichen Tote-
mismus (Abstammung vom Totem) zu schließen geneigt ist
und anderseits sich gar keine Mühe gibt, die Zauberbedeutung
der Tiere und der anderen Totemobjekte im Haushalt der
Natur und so für den Menschen festzustellen. Deshalb ist es
von Interesse, eine Darstellung und Kritik der verschiedenen
Theorien in einem Buche zu finden, das sich seinerseits mit
einem allgemeinen Hinweis auf die mögliche Erklärung be-
gnügt: Edgar Reuterskiöld, Till frägan om uppkomsten af
^ Anthrop. Essays Presented to J^. B. Tylox, Oxford 1907 S. 219—234.
Auch aufgenommen in sein Buch The Threshold of lieligion S. 85—114.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 445
sakramentala mältider med särskild hänsyn tili totemismen.^
Mit Recht schließt der Verf. vor allem die Spottnamentheorie
aus, da eine vollständige Identität zwischen Träger und Namen
die Grundlage im Totemismus ist, ebenso die Idee, daß die Namen
vom Hauptnahrungstier genommen sind, was den Tabuvorschriften
vollkommen widersprechen würde, und ebenso die Exogamie als
notwendiger Bestandteil des Totemismus. Menschengruppe und
Tiergruppe, zwischen denen keine Scheidegrenze existiert, werden
nach dem Verf. assoziiert, weil das Tier als Herr dessen erscheint,
was die Menschengruppe braucht. Es ist die Macht, die das Tier als
Gruppe ausübt, seine Lebenskraft (wie der Verf. im Gegensatz
zum Animismus betont), die den Menschen in ihm aufgehen
macht. Allerdings denkt der Verf. nicht an Zaubereigenschaften
der Tiere, wie ich sie als Grundlage des Totemismus ansehe,
sondern, wie es scheint, zunächst an das Reelle, das das Tier
dem von der Natur sich abhängig fühlenden Menschen liefert,
und also auch an die Speise. In weiterem Sinne sei das Tier
dann eine Art Kulturträger. Die rationalistische Erklärungs-
weise wiegt also hier noch zu sehr vor, obwohl der Verf. das
religiöse Moment dann frühzeitig in seine Rechte treten läßt.
Eingebettet ist die ganze Untersuchung, die natürlich auch
die Tatsachen des Totemismus in den einzelnen Erdteilen
darstellt, in die Frage nach dem Essen des Gottes. Deshalb
bildet den Ausgangspunkt Robertson Smiths unglückliche Be-
hauptung, daß manche semitischen Stämme in den Vereinigungs-
mahlen mit der Gottheit ihr Totem wie einen Gott aßen. Das
wird nun vom Verf. durch die Untersuchung des Totemismus
widerlegt, in dem es sich — abgesehen von dem Smith's
Behauptung widersprechenden Eßtabu — auch um keinen
^ (Zur Frage über die Entstehung der Sakramentalmahl Zeiten mit
besonderer Berücksichtigung des Totemismus.) Upsala 1908. lY und
168 S. 8". Das obige Referat beruht auf einem mir vom Yerf. freund-
lichst zur Verfügung gestellten Autorreferat und auf Auszügen in
deutscher Sprache, die mir mein Kollege Dr. Ebert gütigst anfertigte,
da ich der schwedischen Sprache nicht mächtig bin.
446 K. Th. Preuß
individuellen Gott, sondern um eine Tiergruppe und, wie
erörtert, um eine „Macht" handele. Das Essen des Gottes
findet er dann aber in Verbindung mit vielen Säe- und Ernte-
gebräuchen, die eingehend untersucht werden, und zwar in
dem Essen von Götterbildern aus Teig und von bloßen Gebild-
broten, die er als eine konzentrierte „Macht" (oder Lebens-
kraft) und somit als Individualität auffaßt. Hier sei in der
Tat das Opfer an den Gott und das gemeinsame Mahl von
derselben Natur wie der Gott und der Verehrer. Damit hat
der Verf. zweifellos recht, nur kann der gegessene Gott auch
durch einen Menschen oder ein Tier statt des Teiges repräsentiert
sein, wie es in Mexiko und sonst der Fall ist.
Das Problem, das E. Bethe in seiner Arbeit Die dorische
Knabenliebe, ihre Ethik und ihre Idee^ behandelt, geht
ebenfalls in die Tiefen des Zauberglaubens zurück und muß
hier erwähnt werden, weil parallele Erscheinungen aus dem
Gebiet der Völkerkunde für die Entscheidung von Wert sind.
Von den allgemein verbreiteten homosexuellen Trieben bei Men-
schen und Tieren hebt sich die dorische Päderastie, wie Bethe im Zu-
sammenhang beweist, dadurch ab, daß sie ganz allgemein eine edle
innige Waffenbrüderschaft hervorrief, daß es Ehrensache war,
einen durch Tapferkeit und Ehrbarkeit (nicht durch Schönheit)
ausgezeichneten geliebten Knaben zu haben und daß die fleisch-
liche Vereinigung sogar am heiligen Orte unter dem Schutze
eines Gottes oder Heros vor sich ging, wie auch der Knabe
nach Art des Brautraubes vom Liebhaber geraubt wurde. Die
dorische Knabenliebe war kein vom Staat anerkanntes Laster,;
wie etwa in den übrigen griechischen Staaten, wo die Päderastie
nebenbei auch edle Blüten getrieben hat — sondern sie war
eine staatliche Institution. So absonderlich alles dieses klingt,
so könnte man sich doch mit der Annahme einer natürlichen
Entwicklung zufrieden geben, vorausgesetzt, daß der zugrunde-
liegende Trieb nicht nur überall sporadisch, sondern bei der
» Bheinisches Museum. N. F. Bd. 62 S. 438 — 476.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 447
Mehrzahl oder wenigstens etwa einem Viertel der Indiriduen
verbreitet ist. Da hiervon auch nicht annähernd die Rede
sein kann, so müssen wir Bethe recht geben, wenn er nach
einer zwingenden Idee sucht, die Leute ohne solche Triebe
dahin bringen kann, trotzdem Päderastie zu treiben. Da bieten
ihm die beiden Tatsachen eine Handhabe, nämlich daß der
Knabe mit dem Liebesakt in die Gemeinschaft der Männer
eintrat oder — um mit der zauberischen Auffassung der Völker-
kunde zu reden — „zum Mann wurde", und daß der Päderast
b16:ivi]Xus, der Einhauchende, hieß, den der Knabe bittet, ihm
einzuhauchen, nämlich die agsriq. Nun gibt es augenblicklich
zwar keine genauen Parallelen für die Verknüpfung einer
solchen Idee der Übertragung mit dem päderastischen Akt^, es
sei denn eine Stelle über die Barbelognostiker, die die Seele
im öTtBQ^a sahen. Auch die fleißige Arbeit von Karsch" lehrt
nur, daß abergläubische Ideen vielfach mit der Päderastie ver-
knüpft sind, ohne daß Klarheit im einzelnen geschaffen ist.
Dafür aber weist Bethe auf die sonstige mechanische Übertragung
von geistigen Eigenschaften vom Penis aus in Körperöffnungen
(Mund, Vagina), auf den Penis als Seele und Quelle des Mutes
hin, und ich glaube, daß es nur genauerer Nachforschungen
am lebenden Material bedarf, um weitere Belege zu finden und
die aufgestellte These von der Wahrscheinlichkeit zur Gewiß-
heit zu erheben. Wie eine Frau vielfach einen zauberisch
schwächenden Einfluß auf den Mann ausübt und deshalb tabu
wird, so muß der Mann eine stärkende Wirkung hervorbringen.
Dafür gilt es, dem speziellen Fall entsprechende Tatsachen
herbeizuschaffen.
Mittlerweile ist die zauberisch-religiöse Seite päderastischer
Übungen in ganz anderer Weise ausgelegt worden, wie über-
haupt die Betrachtung einer Unzahl von Riten in dem Buch von
^ Vgl. jedoch die folgende Besprechung des Werkes von van Gennep.
* Uranismus bei den Naturvölkern, Jahrbuch für sexuelle Zwtschen-
stufen III 1901 S. 72 — 201.
448 K. Th. Preuß
Arnold van Gennep, Les rites de passage, etude systema-
tique des rites ^ von dem bisher Üblichen abweicht. Während
sonst ähnliche Zeremonien zur Beurteilung ihres Sinnes neben-
einander gestellt werden, betrachtet Gennep Ritengruppen, das
Aufeinanderfolgen der Riten bei den verschiedensten Anlässen.
Der Verfasser geht von den Riten aus, die bei der Über-
schreitung der Wohnstätten und Wohngebiete namentlich von
Seiten der Fremden, aber auch von Seiten der Einheimischen
Platz greifen. Er beobachtet stets die Dreiteilung der Zere-
monien, nämlich die Absonderung von dem früheren Zustand
bzw. der früheren Ortlichkeit (z. B. durch Waschung), die
Zeit zwischen dem früheren und künftigen Zustand (rites de
marge) und die Aufnahme und Angliederung selbst durch
Festmahl, Geschenke usw. Die Heiligkeit des Türeingangs
(Fortschaffen der Toten z. B. aus dem Fenster), die Riten
beim Beziehen neuer Wohnplätze und beim Betreten von
Tempeln, beim Wechseln des Stammes oder (bei Sklaven) des
Herrn, bei der Adoption usw. stehen damit im engsten Zu-
sammenhang. Diese Übergangszeremonien, wie wir rites de
passage wohl übersetzen können, hat nun van Gennep in ihrer
Dreiteilung in ähnlicher Weise in den verschiedenen Lebens-
abschnitten festzustellen gesucht, zunächst bei der Aufnahme
der Kinder in die Gemeinschaft, was sich unmittelbar an die
Niederkunft anschließt, während die Zeit der Schwangerschaft
das Zwischenstadium ausmacht (rites de marge). Es folgen
in demselben Sinn die Riten für die in verschiedenem Alter
erfolgende Aufnahme des Kindes unter die Erwachsenen bzw.
in die Kultgenossenschaften und Geheimbünde, die Einführung
als Priester, ferner die Verlobung und Heirat, wodurch nicht
nur zwei verschiedene Menschen, sondern zwei verschiedene
Gesellschaften miteinander verbunden werden, und die Ehe-
* Paris 1909, 288 S. Vgl. meine Besprechung in den Hessischen
Blättern für Volkskunde VIII, S. 195 f.
Religionen der Xatorvölker 1906—1909 449
Scheidung, endlich der Tod, die Scheidung des Toten von den
Lebenden und umgekehrt.
Der Verfasser hat durch die Auffassung der Zeremonien
als rites de passage und die Dreiteilung nicht etwa eine
mechanische Gliederung geben wollen, die ja der leichteren
Übersicht wegen ganz nützlich wäre, sondern zugleich eine
Erklärung ihrer Entstehung. Bei der sonst erfreulichen Ge-
drängtheit der Darstellung kommt nun freilich die psycho-
logische Untersuchung — denn um eine solche handelt es sich
— etwas zu kurz. Van Gennep hat offenbar die Meinung, daß in
allen den genannten Fällen die Trennungs- bzw. Angliederungs-
zeremonien entstanden sind, weil die Teile als so eng zusammen-
gehörig bzw. 80 heterogen empfunden wurden, daß ein magisches
Mittel eingreifen mußte, sollte der praktische Zweck der
Trennung und Anpassung ohne Unheil erreicht werden.
Wenigstens betrachtet er alle diese Akte als „magico-religieux",
so daß man annehmen muß, er hält soziale Argumente, die
zuweilen, z. B. für Heiratszeremonien (S. 177) geltend gemacht
werden, für sekundär. Die notwendige Folge dieser Theorie
einer magischen Ausgleichung ist aber, daß der Inhalt der
Zeremonien nicht mehr an sich gedeutet wird, sondern daß es
genügt, die Zeremonie als eine Art Symbol (in Ermangelung
eines treffenderen Wortes) für eine der drei Ausgleichungs-
teile: Trennung, Ubergangsstadium und Angliederung fest-
zustellen.
Für viele Fälle ist das allerdings als letzter Grund der
Entstehung ohne weiteres anzunehmen, nämlich wenn der
Ritus ohne viel Schwierigkeit, gewissermaßen automatisch oder
vergleichbar einer Reflexbewegung vor sich geht. Wer sich
z. B. beim Beten das Haupt verhüllt, sondert sich von der
profanen Welt ab und gliedert sich zugleich dem Heiligen
an. Durch einen Schleier sondert sich die Witwe vom toten
Gatten ab. Zerbrochene Gefäße bedeuten Trennung vom
vorigen Zustand bei der Verlobung. Abschneiden des Haares
Archiv f. Beligionswiggenschaft XI FI 29
46Ö K. Th. Preuß
ist gleichfalls Trennung, z. B. vom Toten bei der Leichenfeier
oder vom früheren Zustand bei Initiationsriten. Zuweit geht
es aber meines Erachtens, wenn nun sämtliche am Körper
vorgenommenen Verstümmelungen, z. B. Zahnausschlagen, Blut-
entziehen, Beschneidung, Anlegen von Nasenschmuck und Ohr-
schmuck u. dergl. m., lediglich als gleichartige Betätigungen der
Trennungs- und Angliederungsmagie aufgefaßt werden, wobei
nicht der Penis, der Zahn usw. als die Hauptsache gelten,
sondern die symbolische Trennung irgendeiner Sache und das
Anlegen von irgend etwas als Angliederung.
Der Verfasser meint nämlich, daß selbst die Verstümme-
lung der Sexualorgane nichts mit der uns geläufigen Be-
stimmung des Gliedes zu tun haben, weil neuerdings von
Spencer und Gillen und von Strehlow die Unkenntnis einiger
australischer Stämme über den Zusammenhang zwischen
Zeugung und Geburt berichtet worden ist, weil femer die be-
treffenden Verstümmelungen den Reiz beim Coitus eher ver-
ringerten und weil drittens die Eingriffe im verschiedensten
Alter vor sich gingen, wo von dem Gedanken an Mannbarkeit
noch keine Rede sein könne. Die Wahrscheinlichkeit, daß
der Zweck der Sexualorgane zu irgendeiner Zeit nicht ge-
ahnt worden ist, wird hier als gegeben und grundlegend für
die Erklärung angenommen trotz der Widersprüche dei
australischen Berichterstatter^, trotz des altertümlichen Männei
» Vgl. Preuß D. L. Z. 1909, Sp. 1396. Es heißt z. B.,' daß dei
Stämmen die natürliche Zeugung bei Tieren bekannt sei, und daß aucj
die Alten den wahren Zusammenhang bei der menschlichen Gebui
kennen. — Meinerseits halte ich es von vornherein für ganz unwahi
Bcheinlich, daß bei dem ausgedehnten Zauberglauben der Primitive^
nicht frühzeitig über den geschlechtlichen Akt und die Geburt, die
ein- und derselben Leibesöffnung stattfinden, in ihrer VVechselbeziehuöi
nachgedacht sei, zumal beide Akte für die Beteiligten so ungemei
interessant sind. Dazu kommt die Ähnlichkeit der Kinder mit dei
Eltern. Selbstverständlich ist aber anzunehmen — und das ist an
vielen Orten leicht zu belegen — , daß das Kind von außen herein-
komme, und der Coitus nur eine Hilfsfunktion darstellt, die in Aus-
Keligionen der Naturvölker 1906—1909 451
kindbettes (Couvade), z. B. in Amerika, das gerade auf der
übertriebenen Anerkennung der Zeugung durch den Vater be-
ruht, und trotzdem die mythische Herkunft des Kindes etwas
ganz Gewöhnliches ist und bequem neben der Wirkung der
Zeugung einhergeht. Daß ferner magische Handlungen häufig
nicht den geringsten wirklichen Zweck haben, dieser vielmehr
nur in der Einbildung besteht und also die Frage, ob durch
Beschneidung höherer oder geringerer Reiz beim Coitus aus-
gelöst werde, für den Zweck der Beschneidung ganz gleich-
gültig ist, — das müßte doch einem Gelehrten wie van Gennep
ganz geläufig sein! Endlich können die Vorbereitungs-
zeremonien auf die Pubertät doch in jeder Zeit von Kindheit
an sogar bis in die Zeit nach der Pubertät erfolgen, ohne
daß damit der Beweis erbracht ist, daß sie nicht mit ihr zu-
sammenhängen.
In diesem einen Falle habe ich im einzelnen kurz auf
die Bedenken gegen die Theorie des Verfassers hingewiesen,
daß den Riten, abgesehen von dem Zweck der Trennung bzw.
Angliederung, kein spezifischer Inhalt zugewiesen wird. Van
Gennep betont selbst, daß einige Riten der in dem Buche be-
sprochenen Arten auch eine selbständige Bedeutung haben, z. B.
glückbringend seien, doch sei das im großen Ganzen nicht der Fall.
Nun kann es aber meines Erachtens gar keinem Zweifel unter-
liegen, daß nicht die Ubergangsriten als solche, d. h. ohne
Rücksicht auf die Sache, in die man dadurch eintritt — do-
minieren können, sondern daß besonders z. B. Riten der
Altersklassen, Männerbünde usw. die Fähigkeiten der Klasse oder
Genossenschaft mitteilen sollen.^ Schaltet man hier die Be-
nahmefällen auch ganz fehlen kann. So sagen die Eskimo vom
Cumberlandsund (Baffinland) in einem Mythus, die Kinder seien
früher auf dem Schnee gefunden worden, dann aber sei eins an einer
Frau in die Höhe und so in ihren Leib geklettert und sei dort bei
jeder Cohabitation genährt worden. (Boas The Eskimo of Baffin Land,
Bull of the Mus. Xetc York XV, S. 483.)
* Vgl. Preuß Ursprung d. Bei und Kunst, Globus 87, S. 398.
29*
452 K. Th. Preuß
deutung der Sexualorgane als Quelle besonderer Fälligkeiten
für die Erwachsenen aus, so wäre allerdings der Boden für
die Theorie des Verfassers geebnet. Da er es tut, versteht
man, wie er über alle sonstigen Bedenken kühn hinweg-
schreitet, ohne noch das Für und Wider zu erörtern. Daß
innerhalb solcher Initiationszeremonien manche wirklich nur
dem Übergänge dienen, wie z. B. der scheinbare Tod und die
Wiedergeburt der Novizen, ist auch von mir schon in der er-
wähnten Stelle betont worden. Aber auch in diesem Falle
bleibt die scharfe Trennung der Altersklassen, die in der
Zeremonie zum Ausdruck gebracht ist, ein Beweis für die anders
gearteten Fähigkeiten, die dem Betreffenden mitgeteilt werden.
Es ist unmöglich, dem reichhaltigen Werke hier gerecht
zu werden. Van Gennep hat eine glückliche und frucht-
bare Idee durchgeführt und dadurch — obwohl er natürlich
selbst einseitig vorgegangen ist — der Einseitigkeit der herr-
schenden Ideen in der Deutung der Riten abgeholfen. Meine
Bedenken betreffen keineswegs das Ganze, sondern nur Einzel-
heiten. In vielem fühle ich mich auch außerstande, sofort zu
urteilen, da das Material zu gering ist. Ja, sogar in bezug
auf die Erklärung sexueller Riten ist manches der Er-
wägung wert. So wäre es möglich, die Tempelprostitution
und entsprechende Päderastie als Angliederung an die Gottheit
oder allgemeine Prostitution bei Einführungsriten als Ver-
brüderung zu betrachten in demselben Sinne wie ein gemein-
sames Mahl. Dagegen erscheint mir die dorische Knabenliebe
oder die entsprechende Einführung in die Ingietgesellschaft auf
der Gazellehalbinsel (224) ^ eher im Betheschen Sinne zu deuten
zu sein.
Einen kurzen Aufsatz über die Grundlagen des Fastens
bringt Edward Westermarck, the Principles of Fasting^
* Die Originalstelle ist: Parkinson Dreißig Jahre in der Südsee,
Stuttgart 1907, S 611.
* Folklore XVIII 1907, S. 391. 422.
Religionen der Xatorvölker 1906—1909 453
worin das Fasten zur Erlangung übernatürlicher Kräfte, bei
Ausübung von Zeremonien, nach einem Todesfall (besonders
ausführlich), bei Naturereignissen, wie Sonnenfinsternis, Neu-
mond usw. und als Buße behandelt wird.
ZuGeoRunze, Ursprung undEntwicklung derOpfer-
gebräuche I. Der Ursprung des Opfers mit besonderer
Beziehung auf K. Th. Preuß' Forschungen über das
Menschenopfer im alten Mexiko* möchte ich bemerken, daß
Kunze wie auch Wundt in seiner Völkerpsychologie II, 1 diese Opfer
ganz richtig als Zauber zur Beeinflussung des Ganges der Natur
auffassen. Besonders behandelt sind die Opfer zur Erneuung
der Natur, bzw. der Naturgottheiten durch Tötung, während
die Menschenopfer als Abbilder der von der Sonne getöteten
Sterne, deren Herzen die Sonne zu ihrem Fortbestehen genießt,
hinzugefügt werden könnten. Für das spätere Sühnopfer führt
übrigens Wundt den mit dieser Tatsache sich berührenden
Gedanken ein, daß der Gott ebenso wie der Mensch beim
Essen des Opfers der in diesem steckenden Eigenschaften teil-
haftig werde.
Will man systematisch bei der Erforschung der Religion
der Primitiven zu Werke gehen, so müßte man von den Zauber-
wirkungen ausgehen, die den einzelnen Teilen des mensch-
lichen Körpers zugßschrieben werden; denn die mehr oder
weniger bestimmten Persönlichkeiten, deren Macht als die
Ursache eindrucksvoller Vorgänge gilt — d. h. die späteren
Götter — sind nach dem Bilde des Menschen geformt. Deshalb
I können wir mit besonderer Freude das Werk von S. Selig-
mann begrüßen; Der böse Blick und Verwandtes, ein
Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten
j und Völker.^ Freilich wäre im obigen Sinne das Thema
^Neue WeltanscJiauung 1908 S. 401—411. Vgl. auch Geo Kunze Die
psychischen Motive der Opfergehräuche in der Stufenfolge ihrer Entwick-
lung, Ztschr. f. Religionspsych. 11 S. Iff.
» I: LXXXVIU und 406 S. U: XH und 526 S. BerUn 1910. 8».
454 K. Th. Preuß
„Die Zaub erwirkungen des Blicks" richtiger gewesen. Aber der
Verf. hat tatsächlich neben dem bösen auch den guten Blick
kurz behandelt, und es ist wohl sicher, daß der guten Wirkungen
nicht sehr viele sein werden. Der Verf. hat als Augenarzt
einfach den ungeheuren Einfluß darstellen wollen, den der
Glaube an den bösen Blick für die Menschheit gehabt hat, und
das ist ihm gelungen. Durch die bloße übersichtliche Gliederung
des Materials aber ergeben sich zugleich viele fruchtbare Er-
klärungen für Gebräuche, bei denen man nicht an den bösen
Blick gedacht hat, da der Verf. erfreulicherweise auch das
heranzieht, was nicht direkt als böser Blick belegt ist, aber
stets, ohne mehr behaupten zu wollen als das Material wirklich
aussagt. Dahin gehören z. B. im Zusammenhange mit dem
bösen Blick bei Schwangeren und Menstruierenden die Pubertäts-
riten für junge Mädchen bei den kalifornischen Indianern,
wobei besonders die Augen behütet werden, femer der böse
Blick bei bestimmten Kategorien von Verwandten, wobei man
auch mit einem Fragezeichen an die sonderbare Vermeidung
von Schwiegermutter und Schwiegersohn denken muß. Es ist
ein riesiges Material, tatsächlich eine ganze Bibliothek, deren
Verwertung durch die beigegebenen Belege der Wissenschaft
offen steht, und es ist deshalb schwer, dem Inhalt irgendwie
gerecht zu werden. Man findet z. B. außer der Verbreitung
und den Kennzeichen des bösen Blicks die einzelnen Kategorien
von Menschen (Völker, Religionsgenossenschaften, Berufsklassen,
Geschlechter, Verwandte, Einzelwesen usw.), die Tiere, über-
natürlichen Wesen und leblosen Dinge, die damit behaftet
sind, die Ursachen und Wirkungen des bösen Blicks und was
alles (Menschen, Tiere, Pflanzen, leblose Dinge) ihm ausgesetzt
ist, femer die Diagnostik und die Heilmittel, die allein
125 Seiten — stets in prägnantem klaren Stil — einnehmen.
Dann kommt im zweiten Bande die Masse der Schutzmittel
dagegen (416 Seiten), wobei zur besseren Erzielung des Ver-
ständnisses auch nah verwandte Wirkungen der betreflPenden
Religionen der Naturvölker 1906—1909 455
Amulette u. dgl. aufgezeichnet sind. Ich erwähne hier nur
unter den menschlichen und tierischen Körperteilen das Auge
— man denke auch an das verbreitete Augenornament — , die
Hand, die Genitalorgane und Sekrete, ferner die Zahlen, be-
stimmte Bewegungen, Formeln, Bilder und göttlichen Schutz-
mittel. Den Schluß bilden die verschiedenen Hypothesen über
die Wirkung des bösen Blickes und die naturwissenschaftlichen
Beobachtungen des Verf. selbst, dessen Beruf als Augenarzt
hier besonders von Vorteil war. Auffallend ist bei alledem,
daß der böse Blick unter den Naturvölkern verhältnismäßig
wenig nachgewiesen ist, offenbar, weil bloße Beobachtungen
ohne direkte Fragen hier nicht ausreichend sind.
Wie Seligmann legt auch R. Hertz ein Glied des mensch-
lichen Körpers einer religiösen Betrachtung zugrunde und erfüllt
dadurch im angegebenen Sinne eine Forderung der systematischen
religiösen Forschung: La preeminence de la main droite,
etude sur la polarite religieuse.^ Auch in dieser ausgezeich-
neten kleinen Abhandlung, die die vorhandene Literatur über den
Gegenstand vollzählig berücksichtigt, sieht man wieder, wie
bedeutungsvoll und ausgedehnt solche scheinbar abgelegenen
Themata für die Religionswissenschaft sind. Der Vorzug,
den die rechte Hand vor der linken in den religiösen Ver-
richtungen und Vorbedeutungen und in den rituellen Hand-
lungen des täglichen Lebens genießt, die Verbindung der
Linken mit den finsteren Mächten, was sogar bis zum Ge-
danken einer Erfüllung mit Gift geht, die Bedeutung der
Rechten als aktiv und begabt mit Zauberkraft (mana), der
linken als verteidigend, die Beziehung beider zu den Welt-
richtungen — auch bei den von mir besuchten Huichol ist
rechts und links durch Norden und Süden bezeichnet, was
aber bei anderen Völkern umgekehrt ist — und ihre Bedeutung
für die Zeichensprache (oben = rechts; unten = links) werden
nachdrücklich hervorgehoben. Daß eine Hand den Vorrang
* Sevue fhüosophique Paris 1909. S. 553—580. 8".
456 K. Th. Preuß
habe, sei nacli den parallelen Erscheinungen des sozialen
Lebens selbstverständlich; daß die Rechte bevorzugt ist, sei
nicht ohne weiteres verständlich. Die Einwirkung der äußeren
Welt, z. B. der Gestirne, sei nicht beweisend. Man müsse an
eine anatomische Erklärung denken. Das ist auch des Refe-
renten Meinung.
Wie ergiebig überhaupt die Untersuchungen von Er-
scheinungen am menschlichen Körper sind, tritt besonders
durch das umfangreiche Werk von Hermann Diels,
Beiträge zur Zuckungsliteratur des Okzidents und
Orients^ zutage, in der die griechische, slawische, rumänische,
arabische, hebräische und türkische Zuckungsliteratur heraus-
gegeben sowie der europäische Volksglaube über die Vor-
bedeutung des harmlosen Zuckens der Gliedmaßen (Jucken der
Nase, Klingen im Ohr usw.) gesammelt wird. Ehe man
schwierige religiöse Probleme lösen kann, muß man die Rich-
tung des ursprünglichen Denkens und die unscheinbaren Dinge
kennen, denen der Mensch seine Aufmerksamkeit schenkt,
weil er eine Beziehung zu seinem Wohlbefinden darin
erblickt. Dann wird man auch nicht die Religion mit
dem Animusmus anzufangen brauchen, den man sonst überall
hineinquälen will. Für den Ethnologen ist der Hinweis
auf dieses Buch auch besonders deshalb notwendig, weil in
der völkerkundlichen Literatur solcher Zuckungen fast gar
nicht Erwähnung getan wird, da die Reisenden nicht daran
gedacht haben, die Eingeborenen danach zu fragen. Deshalb
konnte meine an sich natürlich nicht umfassende Skizze, Die
Vorbedeutung des Zuckens der Gliedmaßen in der
Völkerkunde^, die ich auf Veranlassung von Hermann Diels
schrieb, nur geringe Ausbeute bringen.
* I die griechischen Zuckungsbücher (Melampus nsgl itaX(icöv\
II weitere griechische und außergriechische Literatur und Volksüber-
lieferung. Abh. d. K. Fr. Ak. d. W. 1907. 1908. 42 und 130 S. 4".
» Globus Bd 96 (1909) S. 246—247.
Religionen der Xaturvölker 1906—1909 457
V Güter der materiellen Kultur auf religiöser Grundlage
Die Ethnologie ist besonders in dem Verständnis, wie
Erfindungen von Geräten des praktischen Lebens vor sich
gehen, noch sehr wenig weit gekommen. Entweder erscheint
der Prozeß ganz einfach (Bastian: der Speer ist ein verlängerter
Arm) oder ganz schwierig, so daß in beiden Fällen nichts
Greifbares geleistet ist. Auch in diesem Punkte bietet nun
die in dem letzten Jahrzehnt vertiefte Religionswissenschaft
eine Handhabe, um in einzelnen Fällen die Gedankengänge
verfolgen zu können. Es sind Untersuchungen darüber im
Gange, über die ich hoffentlich das nächste Mal werde berichten
können. Aber auch gegenwärtig haben wir schon seit mehr
als einem Jahrzehnt eine Theorie über die Zähmung des Rindes,
die Erfindung des Wagens und die Entstehung der Pflugkultur
auf religiöser Grundlage, die soeben in vertiefter Ausgestaltung
nochmals vorgetragen wird: Ed. Hahn, die Entstehung
der Pflugkultur.^ Offen gesagt, die Theorie ist früher miß-
achtet worden, weil die Ethnologie aus ihrer falschen Bewertung
des früheren Menschen als rationellen Praktikers noch nicht
herausgetreten war. Heute muß man, im ganzen genommen,
die beschriebene Entwicklung für wahrscheinlich ansehen,
obwohl Bedenken im einzelnen ähnlich bestehen wie früher.
Denn alle die zahlreichen Beweise, die Hahn vorbrinsrt,
beziehen sich auf die religiöse Bedeutung der schon vorhandenen
Kulturgüter, während der Prozeß des Werdens der Spekulation
— aber nur der Spekulation auf religiösem Grunde — offen
bleibt.
Es ist zunächst als gesichertes Ergebnis anzusprechen,
daß Hackbau (wie Hahn den primitiven Ackerbau nennt) und
Pflugkultur grundverschieden sind, daß die Rinderzucht mit der
letzteren in unmittelbarer Verbindung steht, und daß sie nicht
einer vorhergehenden Stufe der Hirtennomaden angehört. Das
* Heidelberg 1909 VIII und 192 S.
458 K. Th. Preuß
ergeben schon die Tatsachen, die sich für das Verhältnis
von Jägern zur Zähmung von Tieren beibringen lassen. Rinder
sind nun nach Hahn zunächst als Opfertiere für die Mond-
und Erdgöttin gehegt worden. Das Bindeglied seien die Hörner
der Rinder und die Mondsichel. Um den Pflug zu ziehen, der
als Phallus den Schoß der Mutter Erde befruchtet, mußte der
Stier kastriert werden, was als Fruchtbarkeitszauber aufzufassen
sei. Statt des Coitusaktes werde gleich die Quelle des Samens
dargebracht, woraus überhaupt die Entmannungsgebräuche im
Agrarkuit (vgl. den Atysmythos) hervorgingen. Die Pflugkultur
wird dem babylonischen Kulturkreis zugerechnet, was übrigens
mit der „babylonischen Weltanschauung" nichts zu tun hat.
Und diesem Kreis und derselben Zeit gehöre auch die Entstehung
des Wagens an. Dieser sei in der Astralreligion etwa aus
Zauberideen, um „die Wanderungen der Lenker des Schicksals
am Himmel auf Erden zu wiederholen", im Modell entstanden,
wobei das Rad in einer astralen Idee in der Gestalt des Spinn-
wirtels gegeben gewesen sei. Dann komme noch das Problem
des Ziehens hinzu. Hier füge sich das heilige Rind zum heiligen
Wagen. Die Verwendung von Hunden bei den Indianern
zum Ziehen von Schleifen und an den Eskimoschlitten, und
von Renntieren bei den nördlichen Völkern wird demgemäß
als Entlehnung betrachtet. Die Beweisführung setzt hier erst
mit der Auffindung kleiner Wagen als Kultobjekte, mit der
Heiligkeit der Wagen, des Schiffs wagens, des Wagens als
Königssitzes u. dergl. m. ein. m
Hahn hat hier auf kleinem Räume ein umfassendes Kultur-
bild entworfen, das anregend wirken wird. Aber es wäre nötig,
um zu einigermaßen sicheren Ergebnissen zu gelangen, jedes
einzelne Glied monographisch und zwar besonders philologisch
zu behandeln, was ganz fehlt. Man fragt auch z. B. vergebens,
welche Tatsache gibt es für die Beziehung der Rinderhörner
zum Monde, wo werden heilige Rinder lediglich als Opfertiere
gehalten, wo ist der Pflug ein Phallus, wo haben Spinnwirtel
Religionen der Naturvölker 1906 — 1909 459
unzweifelhaft astrale Bedeutung? usw. Auch ist damit, daß
der Wagen oder ein Tier am Himmel erscheint, noch nicht
seine religiöse Bedeutung erwiesen. Möchten sich auch andere
Forscher dieser überaus wichtigen Probleme annehmen und
den Pfad, den Hahn in echt ethnologischem Geiste gewiesen
hat, mit den besseren Hilfsmitteln ihrer philologischen Spezial-
wissenschaft weiter verfolgen.
VI Mythologie
Ein Buch, das wegen seines handgreiflichen Nutzens bei
Arbeiten über Märchen und Mythen auf allgemeinen Beifall
zu rechnen hat, ist das Werk von I. A. Macculloch, The
Childhood of Fiction: a Study of Folk Tales and
Primitive Thought.^ In nicht mehr als fünfzehn Gruppen
behandelt er die Märchenzüge der ganzen Welt in einer erstaun-
lichen Fülle von Beispielen mit genauer Quellenangabe, so daß
jeder — zumal mit Hilfe des ausführlichen Index — die ge-
wünschten Parallelen finden kann. Ich führe ein paar solcher
Gruppen an: 2. Das Wasser des Lebens. 3. Die Emeuung des
Lebens in Toten und Zerstückelten. 4. Die trennbare Seele.
5. Verwandlung. 6. Unbeseelte Gegenstände mit menschlichen und
zauberischen Eigenschaften. Sonne, Mond und Sterne z. B.
sind dagegen ausgelassen, um den Umfang des Werkes nicht
zu sehr anschwellen zu lassen. Was aber das Buch besonders
interessant macht, ist die Grundidee, die Märchenzüge in
Beziehung zu den frühesten Sitten und Glaubensanschauungen
der Menschheit zu bringen, denen er die Entstehung der Märchen
— den Ausdruck immer im weitesten Sinne genommen —
zuschreibt. Die gefällige und dabei knappe Darstellung und
die ruhige, sich nirgends aufdrängende Meinung des Verfassers
macht, daß man sich nur schwer von dem Buche trennt. In
der Wanderungsfrage steht er auf dem Standpunkte, daß es
* London 1905. 509 S.
460 K. Th. Preuß
viele Entstehungszentren giebt, er geht aber auch Übertragungen
und dadurcb entstandenen Veränderungen im einzelnen nach.
Ein wenig müssen wir uns auch hier mit Mythen-
deutungen beschäftigen. Astrale Deutungen — so sicher Ge-
stirnschicksale in vielen Mythen vorhanden sind und auch
z. T. von den Eingeborenen selbst durch die Angabe von
Gestirnnamen bestätigt werden — lassen sowohl an sich wie
in dem Auseinandergehen der Meinungen, welche Gestirne
zugrunde liegen, oft sehr viel Zweifel zurück. Deshalb ist es
unsere Pflicht, andere Versuche psychologischer Erklärung
wenigstens zu prüfen, so bedenklich sie auch erscheinen mögen.
Es handelt sich um eine Deutung durch Träume und Kindheits-
phantasien, wie sie in den Abhandlungen von Karl Abraham,
Traum und Mythus und von Otto Rank, Der Mythus
von der Geburt des Helden^ erörtert werden. Beide gehen
auf die Ideen von Siegm. Freud zurück, die sich besonders
mit unbewußten sexuellen Wünschen beschäftigen. Diese
Wünsche, die schon im Leben des Kindes eine große Rolle
gegenüber den Schwestern und der Mutter spielen, werden
dann in den Traum zurückgedrängt, offenbaren sich aber auch
hier nicht offen, sondern müssen infolge der Zensur des Bewußt-
seinsinhaltes ein fremdes, symbolisches Gewand annehmen. Eben-
so enthalte der Mythus die Kindheitswünsche des Volkes in
symbolischem Gewände. Die Parallelisierung zwischen Traum-
symbolik und Mythensymbolik in mehr theoretischen Er-
örterungen ist nun der Inhalt der Schrift von Abraham. Der
Leser wird billig über das überall vorhandene sexuelle Unter-
bewußtsein staunen. Es ist ebenso pikant wie unkontrollierbar
und deshalb wenigstens in dieser Allgemeinheit für die Wissen-
scl^aft nicht verwendbar. Daß z. B. die Geschlechtsunterschiede
auch den Objekten zugeschrieben werden (vgl. Artikel der, die,
* Leipzig und Wien 1908 8". Schriften zur angewandten Seelenkunde.
Heft 4. 6.
Religionen der Naturvölker 1906—1909 461
das) bestätigt doch nur die der Völkerkunde bekannte An-
schauung der Objekte als lebendiger Persönlichkeiten, die des-
halb auch ein Geschlecht haben müssen als Projektionen der
menschlichen Persönlichkeit. ^ Das ist also kein sexuelles Unter-
bewußtsein.
Positiver ist die Arbeit von Rank. Er führt eine große
Anzahl der bekannten Heldensagen an, die darauf zurückgehen
sollen, daß ein Kind, wie es auch bei erwachenen Neurotikern
vorkomme, Phantasien über eine Abkunft von hohen Eltern
hat. Die natürliche Konkurrenz zwischen Vater und Sohn,
wie sie dem kindlichen Bewußtsein in den beiderseitigen Be-
ziehungen zur Mutter und in dem vom Vater behinderten Aus-
leben vorschwebe, führe dazu, die Ursache des gegenwärtigen
gewöhnlichen Daseins in einer Beseitigung des phantasierenden
Kindes durch den Vater zu suchen. Später entthrone dann
das Kind im Verfolg der Phantasie naturgemäß den Vater.
Entsprechend den Träumen erwachsener und neurotischer Per-
sonen sei die Aussetzung des Kindes im Wasser der svmbo-
liche Ausdruck der Geburt. (Fruchtwasser.) Im Mythus iden-
tifiziere sich das Volk mit dem Kinde. — Bedenken erregt
hier besonders, daß einem Kind Phantasien oder auch einem
Neurotiker Träume untergeschoben werden, ohne zu berück-
sichtigen, daß der Stoff von außen her durch Erzählungen
u. dergl. m. irgendwie in ihn hineingetragen ist. Es ist heute
absolut unkontrollierbar, inwieweit der Bewußtseinsinhalt, der
flieh in Phantasien und Träumen entladet, hineingetragen ist oder
auf innern Zuständen beruht. Es ist bekannt, daß z. B. die
Indianer unendlich viel Mythen auf Träume zurückführen, ja
die Mohave haben ihre Gesänge, Reden und übernatürlichen
Fähigkeiten durch Träume erhalten.- Überall ist hier am graten
^ Tgl. z. B. : „Die Züni legen allen Xaturobjekten ein Geschlecht
bei." (Stevenson 23 d, Ann. Rep. Bureau of Ethnology, S. 35 Anm.)
» Vgl. Archiv VII S. 252.
462 K. Th. Preuß
Glauben im allgemeinen nicht zu zweifeln. Sie träumen eben
und bilden es sich ein geträumt zu haben, was sie schon in ihrem
Bewußtsein haben. Wenn wir daher Näheres über Traumvorgänge
erfahren könnten, so wäre das auch für die Mythologie ein
Gewinn. Ferner ist mir unverständlich, wie das Yolk, das
die Taten eines Helden erzählt, irgendeinen Anlaß haben
sollte, ihm einen solchen gewöhnlichen „Kindheitsroman"
anzudichten, wenn dieser nicht zugleich göttliche (astrale)
Erhöhung enthielte, d. h. durch Gestirnbeobachtung suggeriert ist.
Auch für die Völkerkunde sind zwei Bücher über Mythen-
deutung von großem Interesse, die zwar im wesentlichen auf
dem bei Kulturvölkern gesammelten Material beruhen, aber
in ihren allgemeinen Ergebnissen direkt die Naturvölker und
die Vergleichung über die gesamte Erde zur Voraussetzung
haben: Ernst Siecke, Götterattribute und sogenannte
Symbole^ und Heinrich Lessmann, Aufgaben und Ziele
der vergleichenden Mythenforschung.^ Dem Sieckeschen
Buche geht unter anderem eine Abhandlung über die mytho-
logischen Anschauungen der Litauer voraus, die das von
Mannhardt in der Zeitschrift für Ethnologie VH veröffentlichte
schöne Material an Liedern, Erzählungen und Sprüchen nament-
lich nach der Seite des Mondes neu deutet. Siecke hofft durch
die darin gebotene geschlossene Reihe an Mond- und Sonnen-
motiven den Beweis zu erbringen, daß er auch sonst nicht von
einer „mondsüchtigen Deutungsmanie" befallen sei, da die
Lieder ihren Gegenstand offen mit Namen nennen. In der
Tat wird hier im großen und ganzen nicht viel gegen Sieckes
Erklärungen zu entgegnen sein. In der Behandlung des eigent-
lichen Themas werden dann die Gegenstände aufgereiht, untor
denen der Mond in den Mythen angeschaut ist. Siecke vertrit
dabei die vielfach richtige Anschauung, daß die Geräte und
* Jena 1909. 313 S.
* Leipzig 1908. 62 S, {^Mythologische Bibliothek I, 4.)
Religionen der Naturvölker 1906—1909 463
Abzeichen der betreffenden Mondwesen (z. B. Doppelgesicht,
Schädel, Auge, abgetrenntes Glied, Axt, Ball, Becher, Bogen,
Boot, Fackel, Feder, Helm, Lanze, Schmuck, Zahn) zunächst
keine Symbole, sondern die Gestalt des Mondes selbst seien,
und beruft sich dafür auf seine Beobachtung des tatsächlichen
Aussehens des Mondes. Da nun hier Anschauung und Beweis
zusammenfallen, so sind dem Buche ästhetisch wirkungsvolle
Zeichnungen der in den betreffenden Handlungen begriffenen
Mondgestalten von Franz Stassen beigegeben. Ich glaube aber
doch, daß der Leser nur geringe Phantasie nötig hat, um dem
Verfasser zu folgen, und daß die Zeichnungen nichts helfen,
wo man sich vorstellt, daß die Sachbilder anderen Ursprung
haben können. Sehr schade ist die geübte Entsagung gegen-
über sonstigen widersprechenden Überlieferungen und sprach-
lichen Erwägungen: das Motiv allein herrscht und ist in jedem
Fall ausschlaggebend. Wenn einer zerstückelt und dann wieder
DO
zusammengesetzt wird, wenn ihm ein Glied fehlt, wenn jemand
sich durch Anlegen eines Tierfelles in das Tier verwandelt,
wenn eine Gottheit die Vegetation hervorbringt, wenn nun
gar eine Sichel, ein Hom, ein Bogen vorkommt, so wird das
nicht als ein heuristisches Moment angesehen, sondern als
letzte Instanz Von den vorkommenden Zahlen weisen 3 und
9 nach Siecke unfehlbar auf den Mond, während nur in manchen
Fällen ihr Ursprung von den drei Nächten des Neumondes
bzw. dem dritten Teile der Zeit des sichtbaren Mondes erwiesen
ist, usw.
So sehr wir der Vergleichung zur Schärfang unseres Urteils
und zur Erklärung von Tatsachen bedürfen, so hat in jedem
einzelnen Fall die Spezialwissenschaft allein die Möglichkeit
eines Entscheides. Es scheint mir freilich völlig unangebracht, die
von Siecke dargebotenen Deutungen nicht emsig zu studieren,
denn wirkliche Mondmythen gibt es tatsächlich im Überfluß, und
es gibt meines Erachtens kein Sachbild, für das Siecke nicht
wenigstens ein paar recht wahrscheinliche Belege beigebracht
464 K. Th. Preuß
hat. Ich selbst jedoch könnte hier nur auf die speziellen Verhält-
nisse in Mexiko und in Amerika überhaupt eingehen, wo sich
Ehrenreich und Seier der Mondmythologie angenommen haben,
die Siecke beide öfters zitiert. Dort kommen in der Tat eine
Menge ähnlicher Mondmotive vor, z. B, auch die 3 und die 9, die
demnach nicht, wie Lessmann behauptet, besonders arisches
Gut sind. Aber ich muß mich begnügen, im amerikanischen
Bericht an einigen typischen Beispielen an der Hand von
Seiers mexikanischen Schriften zu zeigen, wie sich die be-
treffenden Mondhypothesen innerhalb der gesamten Über-
lieferung und innerhalb des von mir in Mexiko gesammelten
umfangreichen Materials an Mythen, Liedern und Zeremonien
der heutigen Indianer ausnehmen. Danach kann ich freilich
auch in Mexiko keine andere Mondgottheit als die auch bei den
heutigen Indianern so aufgefaßte mächtige Mond- und Frucht-
barkeitsgöttin und ihre weiblichen Verwandten anerkennen.
Siecke erklärt „von den vielen Millionen Mythen, die es
geben mag, kaum einige Tausende für Sonnen- und Mondsagen".
Wenn er das meint und trotzdem nur Mondmythen behandelt,
so wird er zugeben müssen, daß die Mondmythen erst nach
der psychischen Analyse der übrigen ihren Geltungsbezirk er-
halten können. Indessen sagt Lessmann: „Die Gesellschaft für
vergleichende Mythenforschung (zu der Siecke gehört) vertritt
den Standpunkt, daß die Mythen vermutlich durchweg, zum
mindesten ganz überwiegend, die Schicksale der Himmelskörper
behandeln, und wir verstehen unter einem Mythos zunächst
und im engeren Sinne eben nur Erzählungen dieser Art. Der
Mythos hat also an sich nichts zu tun mit Blitz und Donner,
Regen und Regenbogen, Wolken und Wind und ebensowenig
mit Verkörperungen von Wasser, Feuer, Licht und Finsternis '
Es ist für eine im Beginn ihrer Tätigkeit stehende Gesellschaft
für Mythenforschung nicht gut, daß sie von vornherein auf
einen Unterbau verzichtet. Dieser muß im engsten AnschluP^
an die Religionsforschung angelegt werden, denn Religion und
Religionen der Xaturvölker 1906—1909 465
Mythologie sind gleichmäßig durch die Auffassung von Natur-
objekten als menschenähnlicher wirkungs- oder zauberkräftiger
Persönlichkeiten entstanden, nur daß das Handeln, die Religions-
übung früher ist als das Phantasieren, die Ausgestaltung der
Persönlichkeiten. Lessmann hält zwar auch die Religion
für ein beachtenswertes „mythenführendes Erz" offenbar in
dem Sinne, daß er zugreift, wenn die einmal festgelegten
Mondmotive irgendwo aufleuchten. Das ist aber nur eine
äußerliche Verbindung und kann kein natürliches Wachstum
abgeben.
Archiv f. ReligionswüMnschaft XIII oq
III Mitteilungen und Hinweise
Diese verschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesei'n hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und be-
sonders neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke
und Nachweise oder auch anregender Fragen würde sich zwischen den
verschiedenen religionsgeschichtlichen Forschern hier u. E. entwickeln
können, wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung
widmen würden. Sog. Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig ent-
halten als sie „Berichte" enthalten soll.
Zu Archiv XI 158: Zu dem von Becker beigebrachten arabischen
Schiffszauber sei auf eine besonders interessante bei Pseudo-
kallisthenes I, 1 sich findende Parallele hingewiesen. Es heißt
dort (vgl. C. Müllers Ausgabe im Anhang zu Dübners Arrian -Aus-
gabe, Paris, Didot 1846, vgl. auch A. Ausfeld, Der griech. Alexander-
roman S. 30 f.), Nectanebus, nach dem genannten Roman der
Vater Alexanders, habe, wenn die Feinde gegen ihn heranzogen,
kein Heer ausgerüstet, sondern die sogenannte Schüsselzauberei
begonnen. Er habe Quellwasser in die Schüssel getan und mit
den Händen kleine Schiffe und Menschen aus Wachs gebildet, diese
in die Schüssel gesetzt, das Kleid eines Propheten angelegt, dann
einen Stab von Ebenholz in der Hand die Götter der Zauberei,
die Winde und die unterirdischen Mächte angerufen und die mit
ihrer Hilfe belebten Wachsfiguren samt den Wachsschiffen versenkt,
während gleichzeitig auch die wirklichen Schifie zugrunde gingen.
Erst als er einst die Götter der Ägypter selbst die Schifie der
Barbaren steuern sah, habe er erkannt, daß der Untergang Ägyptens
herbeigekommen sei und sei aus dem Lande geflohen. Hier haben
wir zugleich den Archiv a. a. 0. 145 ft'. erwähnten bei der Geißelung
des Hellesponts benutzten Zauberstab. So die Rezensionen ABCL.
Von den mir zugänglichen Versionen bieten ihn Jul. V^al. 1 1
(Kuebler), Epitome I 1 (Zacher; Cittie); Arm. I 1 (Raabs); Aeth.
(transl. by Budge) p. 4 sq.; Russ. ed. Istrin p. 5 sq. (Moskau
1893); Kyng Alisaunder (bei Weismann Lamprecht II 407 f.). Ab-
weichend sind: Syr. I 1 (Budge; Ryssel); Leo Archipresbyter I 1
(Landgraf); Meister Kabiloth (Herzog). Der Zug fehlt im Itiner.,
Firdusi, Nizami, Araber u. a. In der arabischen Literatur würde
vielleicht noch manches Verwandte zu finden sein.
Krepp (Schleswig) H. Stocks
Mitteilungen und Hinweise 467
Zum Tod des großen Pan
Eb. Nestle hat in diesem Archiv Band XII S. 158 die Frage
nach der apologetischen Verwertung der antiken Legende vom Tod
des großen Pan gestellt; im folgenden seien die Beispiele angeführt,
die mir bekannt wurden.
1. Eine ausdrückliehe Beziehung der antiken Legende auf den
Tod Christi findet sich im 16. Jahrhundert bei Guillaume Bigot;
sein Werk: Chrisüanae Fhilosophiae Praehtdium, GitUelmo Bigotio
Lavalensi autore, Tolosae 1549 ist mir zurzeit nicht zugänglich, doch
findet sich dort S. 440 — 442 die antike Erzählung „avec l'appli-
cation de ce recit a la mort du Christ", wie A(bel) L(efranc) in
der Bevue des etudes Bahelaisiennes IV (1906) S. lOOf bemerkt.
2. Drei Jahre später wird sie im gleichen Sinne bei Rabelais
verwertet, der mit Bigot bekannt war (vgl. A. L. a. a. 0 ); auf dessen
Pantagruel (IV 28) hat S. Reinach aufmerksam gemacht in dem von
Sevmour de Ricci (Arch XI f, 579) angezeigten Aufsatze. Wir lesen bei
Rabelais (ed. Burgaud des Marets et Rathery II S. 163, Paris 1873):
„Toutesfois je le interpreterois de celuy grand Servateur des
fideles, qui fut en Judee ignominieusement occis par l'envie
et iniquite des Pontifes. docteurs, prebstres et moines de la
loy Mosaicque. Et ne me semble Tinte rpretation abhorrente.
Car a bon droit peut il estre en langage gregois dit Pan.
Veu qu'il est le nostre Tout, tout ce que sommes, tout ce
que vivons, tout ce que avons, tout ce que esperons est luy,
en luy, de luy, par luy. C'est le bon Pan le grand pasteur
qui, comme atteste le bergier passione Corydon, non seulement
a en amour et affection ses brebis, mais aussi ses bergiers.
A la mort duquel fures plaincts, souspirs, eöroiz, et lamen-
tations en toute la machine de 1' Univers, eieulx, terre, mer,
enfers. A ceste mienne Interpretation compete le temps.
Car cestuy tres bon, tres grand Pan, nostre unique Servateur,
mourut lez Hierusalem, regnant en Rome Tibere Caesar."
3. Die nächste Erwähnung steht bei Xoel du Fail in den
1585 erschienenen „Contes et discours d'Eutrapel". Diese Stelle,
von G. Regis in seinem Rabelaiskommentar II S. 653 (Leipzig 1839)
angeführt, lautet {Oeuvres facetieuses de Noel du Fail i ar S. Assezat
I[ S. 339 f. Paris 1874):
„Thamons cria . . . que le grand Pan estoit mort. Apres
quoy furent ouis une infinite de voix et pleurs lamentables,
et n'eust Thamons si tost prins terra, que l'Empereur Tybere,
sous le regne duquel fut crucifie Jesus Christ, ja prevenu
de ladite nouvelle, ne l'envoiast querir, pour luy en dire
plus amplement. Par ce mot Pan, les anciens entendirent
non seulement le Dieu des pasteurs, mais aussi celuy de
30*
468 Mitteilungen und Hinweise
toutes choses: düquel titre de Pasteur nostre Seigneur a use
en plusieurs endroits, nommement en Sainct Jean, chapitre
dixiesme, oü il se dit vray pasteur, qu'il cognoist ses brebis,
et qu'enfin n'y aura qu'une bergerie, et un seul pasteur
Sainct Paul aussi souhaite que le Dieu de paix, qui a ramene
des morts le grand pasteur des brebis, qui est Jesus
Christ: par le sang du testament eternel, conferme en toute
bonne oeuvre, les Hebrieux, ausquels il escrit et entant que
touche le tremblement de terra lors de sa mort, semblablement
de l'Eclipse du Soleil, et le jour converti en la nuict, tous
les Astrologues, mesmes les Ethniques et Paiens, ont declare
tels accidens avoir este irreguliers, et hors le cours et mou-
vement de la commune natura. Phlegon, comme disent Eusebe
et Origene, a escrit que la plus grande et terrible Eclipse
de Soleil qui ait jamais este, ni qui pourroit estre veue au
monde, survint l'an quatriesme de la deux cens deuxiesme
Olympiade. A laquelle supputation et calcul d'annees revient
droitement le temps de la mort du Redampteur du monde" etc.
4. Als weiteres Zeugnis bringt Regis a.a.O. eine alte Glosse
zu Spenser, Shepheards Calender bei; in der Ausgabe von 1611
wird zu aeglogue V (Maye) Vers 54 (when great Fan account of
shepeherdes shall aske) folgendes bemerkt:
„Great Pan, is Christ, the very God of all shepheards,
which calleth himselfe the great and good shepheard. The
name ist most rightly (me thinks) applyed to him; for Pan
signifieth all, er omnipotent, which is onely the Lord Jesus.
And by that name (as I remember) he is called of Eusebius,
in his fift booke De praeparat. Evangel. who thereof tetteth ,
a proper story to that purpose. Which storie is first recorded ;
of Plutarch, in his booke of the ceasing of miracles: and j
of Lavatere translated in his booke of Walking spirits, who |
sayth, that about the same time that our Lord sufFered his most j,
bitter passion, for the redemption of man . . . (jetzt folgt die l
Wiedergabe der plutarchischen Erzählung; dann heißt es weitoi
By which Pan, though of some bee understood the great B;i
hanas . . . yet I thinke it more properly meant of the death
Christ, the onely and very Pan, then suffering for his flockt
5. In dem genannten Aufsatz verweist Reinach auf die V<
merkungen des Abbe Anselme (3Iemoircs de Uüerahirc tires ih-
registres de VAcademie royalc des inscripfions et helles lc(ir>-^
IV 1723 S. 564f.), der jene Gleichsetzung berührt und ziemli
deutlich abweist (S. 565):
„Ca n'est pas icy le lieu d'examiner, si ce dieu Pan estoii
comme on l'a cru, Jesus-Christ mesme; comme si ce divi
Mitteilungen und Hinweise 469
Sauveur eut eu besoin d'emprunter le nom d'un de ses ennemis.
Ou si le demon fut contraint de confesser luy-mesme sa
defaite entiere par la croix."
6. Zum Schluß noch eine Berichtigung. Jene Bemerkung, die
Archiv XII, 158 als Beispiel für den apologetischen Gebrauch der
antiken Legende im Anschluß an Scherasmins Anspielung im Oberon
zitiert ist, rührt nicht von W. Bölsche her, sondern von Wieland
selbst. Sie steht in dem ,, Glossarium über die im Oberon vor-
kommenden veralteten oder fremden, auch neu gewagten Wörter,
Wort -Formen und Redens -Arten" (vgl. C. M. Wielands sämtliche
Werke, drey und zwanzigster Band, Carlsruhe, im Bureau der deutschen
Classiker, 1815, S. 202). Vennutlich ist Wielauden „der bekannte
Gebrauch, welcher von dieser Erzählung gemacht wurde", aus einer der
oben angeführten französischen Stellen vertraut, wohl aus Rabelais.
Nachträge. 7. Älter als die oben angeführten Beispiele ist
ein Zeugnis bei Pedro Mexia Silva di varia leccion. Dieses Sammel-
werk in der Art der Noctes Atticae des Gellius war eines der be-
liebtesten und auch außerhalb Spaniens gelesensten Bücher (vgl. Ph.
A. Becker Gesch. d. span. Literatur 1904 S, 44). Die erste spanische
Ausgabe erschien 1542, ich benutzte die vierte von 1564; an
Übersetzungen kenne ich eine italienische, Venedig 1550; die erste
französische vom Jahre 1572 war mir nicht zugänglich, nur die
in Tournon 1609 und 1616 ausgegebenen. Noel du Fail (oben
unter 3) nennt Pierre Messie Esi>agnole neben Eusebe als Gewährs-
mann, er kannte also vermutlich die französische Übersetzung von
1572. Ich gebe die uns hier wichtige Stelle (span. Ausg. v. 1564
libro II cap. XXXIII S. 175) in der deutschen Übersetzung, welche
in Nürnberg 1668 unter folgendem Titel erschien: SyJva variarum
Ledionum. Das ist: Historischer Geschieht- Natur- und Wunder-
tcalt etc. ins Teutsche übersetzet durch J(ohann) A(ndreas) M(atthen).
Da wird Buch II Kap. 31 nach Plutarch und Euseb der Tod des
großen Pan erzählt und folgendes bemerkt:
„Woraus dann erscheinet, daß die bösen Geister aller Orten
sich beklaget, daß die Geburt Christi, unsers Erlösers, ihre
Zerstörung und Untergang gewesen sei, und so man die
Zeiten gegeneinander hält, siebet man, daß diese Dinge sich
zugetragen haben, zu der Zeit da Christus für uns gelitten,
oder kurtz zuvor, da er an vielen Orten, und aus vielen
Besessenen die bösen Geister ausgetrieben, und aus der Welt
verjaget hat. Muß also dieser Pan (welchen die Hejden,
theils für ein GOtt der Natur, theils für einen GOtt des Feldbaus
und der Hirten geehret) davon sie sagten, daß er gestorben sey,
einer der vornehmsten Teufel gewesen seyn, der dann auch
damals sein Reich und Gewalt, gleich andern verloren hatte."
470 Mitteilungen und Hinweise
Da die Bemerkung des Abbe Anselme (oben unter 5) in einem
Aufsatz Sur le Dieu inconnu des Atlieniens steht und da Pedro
Mexia im gleichen Kapitel wie über Pan auch ausführlich vom
unbekannten Gott in Athen redet, glaube ich, daß Abbe Anselme
ebenfalls diese vielgelesene Silva kannte.
8. 1586 unterzeichnete Fischart das Vorwort zu seiner Über-
setzung von Bodins Daemonomania, die in Straßburg 1591 unter
dem Titel erschien: De Magorum Daemonomania, Vom Aussgelasnen
ivütigen Teuffelsheer . . . durch . . . H. Johann Fischart, der Rechten
Dr. auss Frantzösischer sprach treidich in Teufsche gebracht und
nun zum andernmahl an vilen enden vermehrt und ericlärt. Bodin
erzählt da S. 4 den Tod des großen Pan nach Plutarch (S. 47
nennt er noch den Euseb dazu) ohne die Beziehung auf Christus.
Die fügt Fischart in einer erläuternden Randbemerkung hinzu:
„Die Geschichte begab sich zur zeit des Sterbens Christi,
darumb deuten den Pan viel auff Christum welcher der ander
Adam genant wird."
9. In dem Sammelwerk: Magica, dasz ist: Wunderbarliche
Historien von Gespenstern und mancherley Erscheinungen der Geister
. . . aus bewerten und glaubwürdigen Historicis und andern Scribenten
mit besonderem vleisz in lateinischer Sprache zusammengetragen, itzo
aber . . . in die teutsche Sprache treiolich gebracht (Eissleben ohne
Jahr, die Vorrede ist gezeichnet von Henning Gross und datiert
vom 1. Oktober 1600) wird S. 63 die Plutarcherzählung wieder-
gegeben und hinzugefügt:
„Daraus denn des Satans list und betrug zu erkennen vnnd
abzunemen, welcher des HErrn Christi Leiden vnd Todt durch
eine solche Lügen vnnd gedieht hat gedacht verächtlich zu
machen, vn in zweiffei zu ziehen. Oder durch solch Lügen-
gedicht vom Tode des Paus die Leute zu bereden die Seelen
der Menschen stürben zugleich mit dem Leibe."
9 a. Diese Sätze kehren wieder in des Remigii Daemonolatria I 2:
Wunder -seltzame Historien, Hamburg 1693, S. 107 f. Der ganze
Teil ist eine Kompilation aus Büchern über Hexenwahn, so wird
also diese Erwähnung der antiken Legende auf den Großschea
Magica beruhen.
10. Aus dem Nachlaß des 1602 verstorbenen gelehrten Antiquars
Jean Jacques Boissard wurde 1615 in Oppenheim gedruckt sein
Buch De Divinatione et magicis pracstigiis. S. 36, nach der Wieder-
gabe der Piutarchstelle, wird die Beziehung auf Christus al?
Meinung 'einiger' angeführt '»Quidam existimant vocem illam locutam
fuisse de Christi Servatoris morte: cum audita sit anno decimo
nono Imperii Caosaris, quo Christus crucifixus est. Wie Christus
Herr der ganzen Natur ist, galt auch Pan als Deus universi. So
Mitteilungen und Hinweise 471
billigt denn auch Boissard jene Meinung: Xeque male suspicantur
multi vocem illam (sive fuerit Angeli boni, sive Demonis alicuius),
per Pana magnum intellexisse lesum Christum, qui sub Tiberio
passus est. Xam et Daemones saepius vera solent proloqui, verbis
tarnen ambiguis, ut homines magis ac magis in errores inducant
11. Auf Grund der Zeitumstände schenkt femer Pierre du
Moulin, Petrus Molinaeus (1568 — 1658), der Erzählung Glauben.
Estque veri simile eiulationes Daemonum inde ortas, qiiod scirent
morte Christi Satanae regnum concidisse. Est enim Pan vox
aptissima ad significandum Dominum universi qui est Omnia in
Omnibus, ut ait Paulus I Cor. 15, 28.^
12. Die gleichen Argumente führt Joachim Oudaans in
seinem Buch Boomsche Mogentheid, Amsterdam 1664, S. 176 f., an:
de Heere Christus, op de zelve tij^rastorven , en niet oneygentlijk
onder 't woord Pan, dat is, Al^Äteedrukt etc. Volkaart, der
diese Meinung ausspricht (das Buch ist in Dialogform geschrieben),
glaubt, „de Duyvel" habe jene Verkundig^g gegeben; sein Partner
Redegund stimmt ihm bei: 't is ook ten hoogste waarschijnlijk.
13. Als vielbehandelt und vielgekannt setzt einer der be-
rühmtesten Gelehrten seiner Zeit, der französische Bischof Huet
(Petrus Daniel Huetius), die Legende voraus. In der DemonstraUo
evangeUca prop. IX (Amsterdam 1680, tom. II, S. 931; schon 1679
war eine mir unzugängliche Folioausgabe erschienen) spricht er
darüber: Ethnicis vero stupendo miraculo Christi lesu significata
mors est, quod in libello De desitis oraculis Plutarchus refert.
Id quamquam a vulgo scriptonim tritum est, minime tamen ob
admirabilitatem rei pigebit hie adscribere. (Folgt die Erzählung.)
Atque id convenit in tempus mortis Christi lesu, qui verus Pan
est, rerum omnium parens, ac naturae totius auctor, quam Panos
symbolo Mythologi signatam voluerunt,
14. Auf Grund umfassender Belesenheit in antiker und zeit-
genössischer gelehrter Literatur unternahm es ein holländischer
Arzt und Mennonitenprediger, Antonius van Dale, nachzuweisen,
daß die Orakel der Alten weniger auf Teufelslist denn auf Priester-
trug beruhten. Die Dissetiationes duae de Oraculis Veterum Ethni-
conim (zuerst 1683; dann 1700 in Amsterdam erschienen, holländisch
1687) können, wie auch van Dales "Werk De origine ac pro-
gressti idolatriae et supersfitionum 1696, auch heute noch als
fleißige Materialsammlungen Dienste leisten. Und mehr noch: van
Dale gibt nicht nur Material, sondern auch gesunde Kritik. In
der Dissertatio secunda (de oraculorum ethnicorum duratione atque
' Die Stelle zitiert der gleich zu nennende van Dale aus des
Molinaeus „Vates üb. 3 cap. 11" (mir unzugänglich).
472 Mitteilungen tind Hinweise
interitu, S. 432 ff. der Ausgabe von 1700) prüft er unsere Legende:
argumenta ab Eusebio ex Plutarcho allata de magno Pane mortuo
examinantur. Er kennt die Ansiebten von Boissard, Molinaeus,
Oudaans u. a , und versucht sie zu widerlegen. Was für einen Sinn
hatte es, fragt er, Heiden, die nicht die geringste Kenntnis von
Jesus hatten, seinen Tod auf solch geheimnisvolle Weise zu ver-
künden? Diese Anspielung konnte ja weder Thämmuz noch Epi-
therses und die Schiffsleute, weder Tiberius noch seine Weisen,
weder Amilian noch Plutarch verstehen. Ferner bemerkt er
(S. 437 f.), es sei doch gänzlich tinbewiesen, daß jenes Ereignis sich
zur Zeit der Passion, im 19. Jahre des Tiberius, zugetragen habe.
Er ist skeptisch und führt mit Genugtuung skeptische Äußerungen
anderer Autoren an, wie die des Baronius: Qualiacunque sint,
fides esto penes auctorem etc.; besonders gefällt ihm eine Äußerung
in den Centuriatores Magdeburgenses I lib. 2. cap. 15: Ubi (bei
Eusebius) et de Pane sub Tiberio mortuo ridicula narrat.
15. Bekannt wurde van Dales Werk ganz besonders durch
eine freie französische Bearbeitung, die zuerst anonym 1686 er-
schien: Histoire des Oracles. 1687, 1698, 1701 wurde sie neu-
gedruckt, von 1707 ab noch oft unter dem Namen ihres Verfassers:
Eiontenelle. Inhaltlich bringt Fontenelle wenig Neues, aber was
er bietet, ist formell glänzend: Le diamant brut de van-Dale brilla
beaucoup , quand il fut taille par Fontenelle. So urteilte Voltaire
(Dictionnaire philos. art. Oracle, vgl. Oeuvres 45, 1779, S. 349),
ähnlich auch Bayle. Fontenelles Buch, von dem Louis Maigron
eine kritische Ausgabe veranstaltete, Paris 1908, rief eine anonyme
Gegenschrift hervor, die Straßburg 1707 erschien: Refonse ä
Vhisioire des Oracles de Mr. de Fontenelle. Ihr Verfasser war ein
Jesuit namens Baltus, dem ebenfalls Voltaire das Urteil sprach:
il prit le parti du diable contre van-Dale et Fontenelle. Le diable
ne pouvait choisir un avocat plus ennuyeux: son nom n'est
aujourd'hui connu que par l'honneur qu'il eut d'ecrire contre deux
hommes celebres qui avaient raison. Fontenelle faßt van Dales
Einwände geschickt zusammen (S. 39 ff. der Ausgabe von Maigron,
wo Parallelen aus van Dale und Baltus angeführt sind), erkläi't
die Geschichte für durchaus unglaubwürdig (S. 38 f.) und spöttelt
etwas über die verschiedenen Deutungen (S. 16): Ce grand Pan
qui meurt sous Tibere, aussi bien que Jesus -Christ, est le Maistre
des Demons, dont l'Empire est ruine par cette mort d'un Dieu si
salutaire a TUnivers; ou si cette explication ne vous piaist pas,
car enfm on peut sans impiete donner des sens contraires a une
mesme chose, quoy qu'elle regarde la Religion; ce grand Pan est
Jesus -Christ luy- mesme, dont la mort cause une douleur et une
consternation generale parmy les Demons, qui ne peuvent plus
Mitteilungen und Hinweise 473
exercer leur tirannie sur les hommes. C'est ainsi qu'on a trouve
moyen de donner a ce grand Pan deux faces bien differentes.
16. Wenn ich hinzufüge, daß Gottsched eine vielgelesene
Übersetzung von Fontenelles „heidnischen Orakeln" veranstaltete*,
dann kommen wir wieder in die Nähe der schon früher angeführten Bei-
spiele, besonders der Wielandschen Bemerkung. Ob nicht Welcker
manche von diesen Äußerungen kannte, als er über die Bedeutung
des „sinnschweren Wortes" nachdachte?^ Auch er vergleicht den
Pantheismus der Gebildeten tiberianischer Zeit mit der „begeisterten
Vorstellung des Apostels, wenn er Gott den Allgegenwärtigen
nennt, aus und in welchem die Welt ist" — allerdings mehr,
um zu betonen, welcher Abstand die beiden Glaubensrichtungen
trennte — , aber er meint doch, daß um diese Zeit ebensogut ein
Christ wie ein tief erblicken der Heide das Wort sprechen konnte:
Der große Pan ist tot.
Heidelberg. Otto Weinreich
Panl de Lagarde und die Abfassnngszeit des Daniel
In seinem Bericht über die neueren Erscheinungen auf dem
Gebiet der „ alten semitischen Religion im allgemeinen , israelitischen
und jüdischen Religion" (Archiv XII S. 555 ff.) hat Schwally
bei Erwähnung meiner Schrift: „Der Daniel der Romerzeit" (S.
567) geschrieben: „(Hertlein) verficht in Anlehnung an eine hin-
geworfene Bemerkung l'aul de Lagard es die These, daß Daniel
I — Yll in die römische Zeit gehört** usf. Diese Behauptung be-
darf der Richtigstellung. De Lagarde hat im Jahr 1891 in den
„Göttinger Gelehrten Anzeigen" die Ansicht ausgeführt, daß das
siebente Kapitel des Daniel der römischen Kaiserzeit angehören
und seine Abfassungszeit des näheren das Jahr 69 n. Chr. sein
müsse. Wenn er dies auch nur gelegentlich, nämlich in einer
Rezension über E. Havet, Etudes d'histoire religieuse usf. getan
hat, so hat er doch dem fraglichen Gegenstand die Seiten 508 bis
520 a. a. 0 vollständig gewidmet Eine Abhandlung von 12
' Zuerst Leipzig 1730, 5. Aufl. 1759; mir liegt ein Neudruck von
1771 vor; ich verweise auf diese Übersetzung, weil sie in den An-
merkungen wertvolle Parallelen aus christlichem Wunderglauben dar-
bietet.
* Götterlehre II 670; die bei ihm angeführte Schrift von Wagner
Historia de morte inagni Panis suh examen revocata in den Miscellanea
Lipsiensia IV 143 — 163 ist mir unzugänglich, ebenso J. Nymann De
magno Pane Plutarchi, Upsala 1734. Beide Schriften konnte auch
Roseher {Jahrb. f. Phüol. 1892, S. 466) nicht benutzen. — Die nicht ganz
strenge Ordnung meiner Belege erklärt sich daraus, daß ich Stellen, die
ich während des Druckes fand, am Schluß nachgetragen habe, zuerst
7—9, dann 10—16.
474 Mitteilungen und Hinweise
inhaltschweren Seiten, dazu in der von de Lagarde benutzten
Zeitschrift, kann man nicht, wie Schwally tut, eine „hin-
geworfene Bemerkung" nennen. Über Umfang und Bedeutung
des Nachweises, den de Lagarde für seine und meine These ge-
bracht hat, habe ich übrigens auf S. 6 — 8 meiner Schrift genügend,
wenn auch kurz berichtet, so daß für den Leser meines Buches,
über das Schwally Mitteilungen macht, kein Zweifel über den
Anteil de Lagardes an der Begründung sein kann, vollends nicht
für einen solchen, der sich durch meine Hinweise dazu bewegen
läßt, de Lagardes Abhandlung endlich selber in die Hand zu neh-
men und sie einer genaueren Beachtung zu würdigen, als der
Meister der „Zunft" (a. a. 0. S. 501) zutraute.
Jena E. Hertlein
Zu Archiv XII 234flf.: Die Abhandlung des allzufrüh ab-
berufenen Völlers über Chidher legt uns ein reiches Material vor
und beurteilt es sehr verständig. Namentlich weist sie nach, daß
Chidher, wie wir ihn kennen, ein erst in islamischer Zeit aus
ganz verschiedenen Ursprüngen zustande gekommenes und dabei
schwankendes Gebilde ist Unsicher bleibt besonders, ob der un-
genannte Diener Gottes, der Moses zur Erkenntnis bringt, wie
unzulänglich die menschliche Beurteilung: göttlicher Anordnungen
ist, Sura 18, 64 — 81, von Haus aus und in Muharameds Sinn
irgend etwas mit Chidher zu tun habe. Mir ist das sogar recht
unwahrscheinlich.^ Diese Identifizierung ist allerdings, wie eben
Völlers zeigt, schon früh bei den Muslimen aufgekommen, als man
sich überhaupt eifrig bemühte, koranische und andere mit der
Religion zusammenhängende Berichte durch jüdische, christliche
und sonstige Überlieferung, durch kühne Vermutungen und dreiste
Erfindungen zu ergänzen. Bei dem mythischen Chidher ist die Un-
sterblichkeit oder doch das stete Wiederaufleben wesentlich, und
er steht — ursprünglich oder nicht — zu dem Lebenswasser in
Beziehung. Auf dies Lebenswasser wird aber in der Geschichte
deutlich hingewiesen, die im Koran unserer Erzählung unmittelbar
vorhergeht, wenn sie auch nur dadurch mit ihr zusammenhängt,
daß beide Moses betreffen. Für die alten Erklärer konnte das
aber genügen, Chidher direkt mit Moses in Verbindung zu bringen.
Nicht zu bezweifeln ist m. E., daß Chadir (die wahre arabische
Form des Namens) das frische „Grün" der Vegetation darstellt.
Das Adjektiv chadir, womit die rätselhafte Person benannt ist,
' Schon Abr. Geiger sagt in seiner Erstlingsschrift: „Was hat Ma-
bomet usw." S. 70, daß die Geschichte den Eindruck mache, jüdischen
Ursprungs zu sein. Aber ein jüdisches Vorbild für sie scheint man noch
nicht aufgefunden zu haben. [Red. Note: Dieser Hinweis und Friedländera
Ausführungen oben S, 221 flF. sind von einander unabhängig]
Mitteilungen und Hinweise 475
bezeichnet, soweit ich sehe, ausschließlich das Grün der Kräuter
oder auch größerer Pflanzen, dazu, wie es scheint, ein besonderes
kleines Gewächs und wird übertragen auch wohl in der Bedeutung:
„frisch, lebenskräftig" gebraucht.^ Ob nun die Figur des Chadir
in ihrer ürsprünglichkeit nicht doch eine echt arabische Personi-
fikation des nach dem Regen auf dem dürren Lande sofort hervor-
schießenden Grüns ist, das dem Nutztiere reiche Nahrung leiht,
oder ob sie notwendig die Nachbildung eines babylonischen
mythischen Wesens ist, das wage ich nicht zu entscheiden.
S. 261 führte Völlers (aus Ihn Hagar 1, 894f.) die Geschichte
vor, wie sich Chidher aus Mildtätigkeit selbst verkauft und seinem
Käufer dann mit Wunderkraft ein Gebäude errichtet. Das leite
ich mit ziemlicher Bestimmtheit aus den, ihren gnostischen Ur-
sprung noch deutlich aufweisenden, Thomasakten ab. Da heißt es
im syrischen Urtext^ wie in der griechischen Übertragung^, daß
sich Thomas von Christus völlig als Sklaven verkaufen läßt und
seinem Herrn, dem er als Bau verständiger vorgestellt wird, ein
prächtiges Schloß errichten soll, in Wirklichkeit ihm aber durch
Werke der Barmherzigkeit einen Palast im Himmel errichtet. Dieser
letzte Zug, auf den es freilich dem Erzähler allein ankommt, ist
bei der jedenfalls durch mündliche Überlieferung geschehenen Über-
tragung auf Chidher übersehen oder mißverstanden worden. Eine
liehe Vergröberung kann nicht wundernehmen. Man sehe nur,
was im Koran aus der Einsetzung des Abendmahls geworden ist,
Süra 5, 112 — 115!
Straßburg i. E. Th. Nöldeke
Akrostichische Inschrift aus Sinope. Im American Jour-
nal of Archaeology IX (l905) 323 publiziert David M. Robinson die
folgende wohl der Kaiserzeit angehörige Inschrift, die in den Nord-
wall der Burg von Sinope verbaut war:
oeMic
HAIOC
CeAHNH
ePMHC
YAPHXOOC
ceipioc
* Arabisten verweise ich auf Süra 6, 99; Tarafa 5, 25 (Seligsohn
•2, 2.5, S..Ö3): Lisän 5, 326 ff, speziell da 326 ult. 329 paen. 330, 3. 331
unten. Über unsern Chadir allerlei 332.
* Wright's Apocryphal Acts of the Apostels S. 173 (vgl. Übersetzung
' Bonnets Ausg. Kap. 2. Daß die Thomasakten ursprünglich syrisch
geschrieben sind, der griecbische Text eine Übersetzung ist, steht fest.
Vgl Burkitt in Journ. of the Theolog. Stiidies 1, 280 ff.
476 Mitteilungen und Hinweise
Der Herausgeber, dessen mir nicht zugängliches Buch Ancient Sinope,
Baltimore 1906, nach einer freundlichen Mitteilung Cumonts nur eine
äußerliche Zusammenfügung seiner älteren Studien über den Gegen-
stand ist, also auch diesen Aufsatz nur wiederholt, macht dazu An-
merkungen über den Dienst des Helios -Sarapis, der Selene und des
Hermes in Sinope und erschließt aus der Inschrift weiterhin einen
Kult der Themis, des Hydrachoos (so!) und des Sirius ebendort.
Eine Widerlegung bedarf diese Art von Erklärung nicht. Die
Hauptsache hat Eobinson, so nahe sie liegt, offenbar übersehen:
das Akrostichon 0HCGYC, das den Namen dessen geben will,
der die Inschrift machte oder (was von vornherein wahrscheinlicher
ist) dem sie gilt. Man wird zu allernächst an den Namen eines
Verstorbenen denken, der also auf die gleiche Art versteckt wäre wie
der Name der Flavia in Kaibels epigr. 726 oder der des Alexandros
ebd. 226 (in der letzteren Inschrift, gefunden bei Teos = CIGII3123
wird der Wanderer geradezu aufgefordert, den im Akrostichon ver-
borgenen Namen des Toten zu suchen). Das Akrostichon Theseus
wird gebildet durch das Wort 0ifiig und durch die Namen von
Sonne und Mond und den des Planeten Merkur, durch den Namen
eines Tierkreisbildes, des Wassermannes, und eines hellen, viel-
mehr des hellsten Fixsternes außerhalb des Tierkreises (also eines
itaQuvarslkcov aörrjo), nämlich des Sirius oder Hundssternes. Das
sagt ohne weiteres, in welche geistige Region die Inschrift führt:
so gut sich viele ihr Horoskop ins Grab legen ließen (s. das
Verzeichnis der bisher bekannten im Arch. f. Papyrusforsch. I 2.S),
so gut ist es denkbar, daß einer sich etwas Ähnliches auch
auf den Grabstein meißeln ließ. Allein es ist zu beachten, daß
Reihenfolge und Auswahl der Gestirne hier durch den Namen
Theseus von vornherein bestimmt waren; und zu einem Akrostichon
mit diesem Namen waren von sämtlichen Planeten und Tierkreis-
bildernamen nur die hier vorkommenden brauchbar, da alle andern
mit nicht verwendbaren Anfangsbuchstaben beginnen. Nur J^KOQTriog
hätte statt Sstgtog eintreten können; wenn also doch der letztere
gewählt ist, so mußte er sicherlich im Horoskop des Theseus etwas
Besonderes bedeutet haben, z. B. als der Stern, der gerade bei seiner
Geburt aufging oder auch kulminierte.
Ist nun die ganze Reihe dieser Götter von Helios bis Seirios
herunter am Himmel zu suchen, so wii-d auch &i^ig dahin gehören.
Entweder ist das Wort &i^ig gesetzt statt JUt] == naQ&ivog
(beides paßte ja durch den Anfangsbuchstaben nicht ins Akro-
stichon): die Gleichsctzung von Mutter und Tochter wird niemand
befremden, der sich an den soviel weitergehenden astrologischen
Synkretismus etwa im Gedicht des Donatianus auf die Caelestis
Virgo, saec. III p. Chr. (CIL VII 759 == Bücheier Anthol. lat. JI
Mitteilungen und Hinweise 477
n. 24), erinnert (vgl auch E.Maaß, Jahrb. Archäol Inst. XXI 1906,
S. 104). Oder Sifiig ist für ihre andere Tochter oder die Tocht«r
der Dike, für Nitieöig gesetzt, die übrigens in späterer Zeit auch
die Wage trägt; NiuaGig aber kommt bei den Astrologen nicht
selten als ein anderer Name des Planeten Saturn vor (Achilleus
Isag c. 17 p 43 Maass: tov Kqovov 6 äörriQ kiyexat Oaivoav n^c^'
"ElXrjöi, -xaqa 6t. Aiyviixioig Nsfiiaetog a6ri]Q; ebenso Yettius Valens
2, 22 Kroll; Rhetorius Aegyptius im Catal. codd. astrol. VII 214, 17;
Anonymus ebd. I 168, 25; vgl. auch Bouche-Leclercq, L'astrologie
gr. 94, 2). Was vorzuziehen ist, ließe sich bei einem Horoskop
nicht entscheiden ; die Reihenfolge der Gestirne ist durch den Namen
Theseus bestimmt, ergibt also nichts. Aus dem gleichen Grunde
aber würde folgen, daß die Bedeutung der einzelnen Gestirne für
das Horoskop des Theseus sich nicht ermitteln ließe: es war ihnen
ja ihre Reihenfolge durch den Namen Theseus vorgezeichnet, so daß
die Stellung der einzelnen Planeten am Himmel bei der Geburt,
also das Horoskop, daraus nicht zu ersehen wäre.
Aber ist es überhaupt ein Horoskop? Es wäre mindestens
ein merkwürdiger Zufall, wenn gerade die Planeten und Stern-
bilder, deren Anfangsbuchstaben 0 H C 6 Y C ergeben, bei der Geburt
dieses Theseus die entscheidende Rolle gespielt hätten; geradezu
danach benannt hat man den Neugeborenen wohl auch schwerlich.
So liegt eher eine etwas andere Spekulation zugrunde: der asta-o-
logische Aberglaube läßt den Mann in seinem Namen die Anfangs-
buchstaben von sechs Gestirnen finden, und daß er sich eben des-
wegen in ihrem Schutz fühlt, das wird die vorliegende Inschrift
sagen wollen; etwa wie die Milesier in der bekannten Inschrift am
Theater die sieben Erzengel, die zwar keine Planeten sind, aber
doch noch nach dem Planetenglauben vokalisiert werden, durch
Zeichen darstellen und dann anrufen (Deißmann, Licht aus dem
Osten 328 ff.). Nun läßt sich wohl auch entscheiden, wer Siuig
ist: gewiß eher die Ilao^ivog als der böse Stern des Saturn. Die
drei Planeten Helios, Selene, Hermes, auf die das HC6 des
Namens weiterhin fährte, sind jedenfalls nicht unfreundlich; Hydro-
choos, den das Y ergab, ließ sich als Ganymedes denken (s. den
Index meiner Sphaera unter Ganymedes; besonders bemerkenswert
ist das direkte Vorkommen des Namens Ganymedes in einem Horo-
skop, dem des Titos Pitenios, Greek Pap. Brit. Mus. I 136, coL 6)
und verhieß also Liebeserfolge (dadurch wii-d nebenbei wohl auch
Pap. Lond I 121, v. 293 zu erklären sein: inr/Mkug tbv ^C^Hliovy
vdQrixöa: sig g)t).rQOv). Und endlich für das 1 tzte C in 0HC6YC
empfahl sich natürlich Zetgiog, der stolzeste Fixstern des Himmels,
viel mehr als der böse Skorpion; auch ist för den 'AazQoxvav
(= ZeLQiog) zumeist gute Deutung bei den Astrologen überliefert
478 Mitteilungen und Hinweise
(Teukros in meiner Sphaera p. 45: 6 'Aötqokvcov q>oßeQOvg ev TioXifioig
7} ßaödstg rj Kai aQQcaöriag örjlot). Ein Mann, dem sein Name so
schöne Hoffnungen gab, konnte sich schon eine solche Inschrift
gönnen. Man sieht, sie ist ein recht merkwürdiges Denkmal nicht
nur für den astrologischen, sondern ebenso auch für den akro-
stichischen (Dieterich, Abraxas 165; Rh. Mus. 56, 94f.) und für
den Namensaberglauben, der sich sonst in Spielen wie der W7](pog
TIv&ayoQOv und ähnlichem gefiel.
Heidelberg F. Boll
ApoUon Didymaios in Attaleia in Pamphylien
Adolph Wilhelm hat in seinen Beiträgen zur griechischen
Inschriftkunde 1909, 196 nr. 169 eine von W. Ramsay in Attaleia
in Pamphylien aufgefundene Inschrift neu behandelt und in diesem
Programm für ein vom 14. bis 23. Mai zu feierndes Fest eine
TtavTqyvQig rov Zt^vcpov erkennen wollen, die sieh an die Blüte
des heilkräftigen Baumes Zizyphus vulgaris (heute r^Lx^vq)La)
peknüpft habe. So scharfsinnig auch diese Vermutung des aus-
gezeichneten Epigraphikers ist, trotzdem scheint mir in der Tat seine
Aufforderung zur Aufstellung einer besseren zu berücksichtigen zu
sein, da sich vielleicht eine einfachere Lösung finden läßt.
Die Inschrift beginnt mit den Worten:
"^pj^£[Tat] 1^ navTjyvQtg
rov ZIZYOOY %axa
xo Q'HOv tl^rjipißfia ano xrjg
TtQO cc' e16&v M[a]l(ov £cog
5 xrjg 7t^6 i' Kak. 'lovvicov %x\.
Zu dieser Lesung bemerkt Ramsay: 'This inscription was
exceedingly hard to read, as the letters are very feint and badly
formed. The name of the feast is therefore very doutful, espe-
cially the 0.' Danach sind wir berechtigt in dem Wort
ZIZYOOY den drittletzten Buchstaben zu ändern: ich schlage vor
ZIZYMEOY = Jidvfiiov zu lesen, indem ich noch ein E ein-
schiebe, sei es daß es der Steinmetz vergessen hat, sei es daß es
heute verschwunden ist. In diesem Namen verbirgt sich dann
natürlich der Name des Apollon von Didyma, wobei auf die durch
Cyriakus überlieferte Inschrift aus Milet (Bulletin de corresp.
hellen. I 1877, 288, 65 = Dittenberger Sylloge^ 424; dazu
0. Jessen bei Pauly-Wissowa V 443) verwiesen sei, die die Form
xov Jiövfiiov 'Anokkcovog = Aiövfiaiov bezeugt. Die Form Zi^vf-ioi
statt Jlövfioi entspricht ganz der Zt^ifirjvt} für ^i(y)Sv^i']vi], wofür
Kretschmers Sammlung in seiner Einleitung in die Geschichte der
griechischen Sprache 196 zu vergleichen ist. Wir hätten also
Mitteilungen und Hinweise 479
diese Inschrift zu den wenigen Zeugnissen zu stellen, die die
Verehrung des Apollon von Didyma auch außerhalb Milets be-
weisen. Mir scheint das ^eiov ^ißTiiöfia Z. 3 auch gerade für ein
Apollonfest vortrefflich zu stimmen.
Halle a. S. O. Kern
Inschrift von Magnesia am Maiandros. Auf einem Pfeiler
im Süden der Agora ist, wahrscheinlich zur Zeit Hadrians, mit sauberen
Zügen die Inschrift eingemeißelt: Tonog {'■:it}q£t&v oiy.oö6tia>v im.
IlaXXicovog xov uQyitQEog stat yQUfi^ateog (Nr. 239). Auf der Rück-
seite desselben Pfeilers stehen von der Hand eines Christen ge-
schrieben die "Worte xasca tu exi xov, denen ein Kreuz vorangestellt
ist. Erst kürzlich hat mir mein Freund Vas. Leonardos in Athen
den Sinn dieses Zusatzes erschlossen, der uns in die Kämpfe
zwischen griechischer Religion und Christentum führt, etwa in jene
Zeit, als in unmittelbarer Nähe des Tempels der Artemis Leuko-
phryene die erste christliche Kirche Magnesias eben errichtet war.
Denn offenbar werden die Jahre des agiUQEvg y.al y^ßutxcrrfvg von
einem Christen verflucht, wobei man sowohl an das antike nokXa
tu i'xi] (Dittenberger Orientis graeci inscript. sei. n. 653; cf. p. /iöS)
als auch an den neugriechischen Gruß zum Geburtstage TtoXXa xa hrj
oder l'xr, TtoXXd (E. Curtius Sitzber. Berl. Akad. 1887 S. 156)
erinnert wird
Halle a. S. O. Kern
Ein irokesisclies Märchen
Mohawk-Erzählung von John Ojijatekha Brant-Sero
Die Irokesen merken wohl auf die Tierrufe, da in diesen das
orenda (die Zauberkraft) des Tieres stecke. In dieser Meinung
legen sie dem Tierruf einen Menschensinn bei und halten mit
dem Tiere Zwiesprache: und das ist der Anlaß zu vielerlei Mär-
chen gewesen, bei denen es allemal um genaue Nachahmung und
Deutung eines Tierrufes geht.^ Wer also den Tierruf recht nach-
ahmt — so darf man folgern — kann das orenda gewinnen und
den Zauber üben Brant-Sero war so freundlich, uns während
seines Besuchs im Berliner Museum für Völkerkunde ein solches
Märlein in der Ursprache und in der englischen Übersetzung auf-
zuschreiben. Die Worte, auf die es ankommt, sind in der Über-
setzung deutlich gemacht. Freilich kann das geschriebene Wort
* Mündliche Mitteilung von Brant-Sero (eines Vollblut-Mohawk-
Indianers, der schon manche Beiträge zur Kunde seines Stammes geliefert
hat), vergleiche Hewitt Orenda and a definition ofreligion, Americ. Anthrop.
1902 p. 40. Auch Hewitt ist Indianer, Irokese (Tuskarora).
480 Mitteilungen und Hinweise
die getreue Naturnachahmung nur unvollkommen wiedergeben. Ich
bemerke, daß auch das Wort oh-gwarha {wararon-ouaraon-shwara
in den anderen irokesischen Mundarten) d. i. Ochsenfrosch, Laut-
nachahmung ist.
Kaniengahaka^ akarah
Akarah kigaken? — hih-heh!^ — yagongwe yaken enska yo-de
rah-don deyago da-wea-ri hat-tye-a-tya-dak ya-ago kedoth oh-
gwarha tha-ha-da-di. Oksa ok ne yagongwe wa-i-ron: „sa wi
rayen ken?" „Klu'k!" oh-gwarha wa-honron. „Do ni sa wi rayen?"
yagongwe wa-e-rih wanondon. „Dyoh douh!" oh-gwarha tha-
ha-ri wahseragoh.
People-of-the-hunt^ story
„Shall it be a story from me?" — „Hih-heh^ (hear, hear)!" —
Once upon a time a woman was on a journey She came to a
river. A Great Frog spoke up. Immediately the woman inquired:
„Have you any children?" „Kluk (yes)!" replied the frog. „How
many children have you?" the woman further inquired. „Dyoh
douh (nine)," the Great Frog made reply.
Berlin John Loewenthal
^ =Mohawk, vergl. J. 0. Brant-Sero Dekanawideh in Man, London
1901 no 134 p. 166, außerdem Webb-Hodge Handbook of Americ. Ind.
p. 921 8. V. Mohuwk.
Kaniengehaga ist wörtlich ,,die am Orte des Feuersteins" d. h. „die
im Osten"; im Gegensatz dazu die Erie d. i. eri'e [yenresh (im Huro-
nischen) = ken'räks (im Tuskarora) = der Puma] d. i „die am Orte des
Puma" (Hewitt in HandhooTc s. v. 3Iohawk, s. v JSrie) d. h. „die im Westen".
Der Osten ist nämlich der Ort des Gottes tawiskaraa, tawiskaräno
d. i. „der Feuerstein", „kalter Feuerstein", „er, der aus Hagel und Eis
gemacht ist", „der Scljloßen- und Hagelbringer ' (Hewitt in Proc. of
the Avier. Ass. f. the Adv of Science 1896 p. 349). Da er das Morgen-
grauen ist, ist er der eine Herr des Ostens.
Der Herr des Westens ist der Puma, der als Westwind am West-
himmel zu verweilen hat, den Herbst bewirkt und die Sonne durch sein
Brüllen vor der eintretenden Nacht warnt (Converse New York State
Mus. hui. 125 p. 38).
Mohawk = mohauiik (im Narragansetischen) „sie essen sie (sc. die
Menschen)" d. i. „die Menschenfresser".
* ein zischender Ruf, durch den der Erzähler Schweigen und Auf-
merksamkeit verlangt, ohne besonderen Wortsinn.
[AbgetohloBsen am IS. Juni 1910]
I Abhandlungen
.<'
Lupercalia
Von Ludwig Deubner in Königsberg
Tliere is hardly another festival in ihe cdendar so int^-
esting and so iceU knoten as this, bemerkt mit Recht Warde
Fowler in seinen Roman Festivals, p. 310. Und doch: trotz
alles aufgewendeten Scharfsinnes ist die wissenschaftliche
Forschung der Unklarheiten und Widersprüche, die sich bei
der Untersuchung der in Betracht kommenden Zeugnisse des
Altertums herausstellten, nicht völlig Herr geworden. Der
Grund hierfür scheint mir darin zu liegen, daß man sich nicht
genügend auf den geschichtlichen und entwicklungsgeschicht-
Hchen Standpunkt stellte. Wer diesen einnimmt, dem wird
aus dem Nebeneinander ein Nacheinander; ihm löst sich leicht
manche Schwierigkeit. So wollen die folgenden Zeilen ihr
bescheidenes Teil beitragen, anzuregen zu einer entwicklungs-
geschichtlichen Betrachtungsweise des Ritus.
1
Unter den Problemen, die das Fest der Lupercalia auf-
gibt, hat immer in erster Reihe gestanden die Etymologie des
Namens luperci; denn daß hiervon lupercal und lupercalia ab-
geleitet sind, ist ausgemacht.^ Völlig überwunden ist jene
Deutung Schweglers (Rom. Gesch. I 361), die Mannhardt,
Mytholog. Forschungen S. 90 übernahm, luperd sei gleich
* Die Ansicht Ottos (Pauly-TVissowa u. Faunua Sp. 2056), daß
alle drei Wörter auf den Namen des Gottes Lupercus zurückgingen,
den man doch nach Wissowa (vgl. n. S. 489) nicht mehr bemühen
sollt«, beruht auf der irrigen Toraussetzung, daß ein Fest ohne Gott
undenkbar sei.
Archiv f. neligionswisBenschaft XIH 31
482 Ludwig Deubner
lupihirci, Wolfsböcke. Sie ist spraclilicli schon darum un-
möglich, weil das Latein auf nominalem Gebiete kein Dvan-
dva- Kompositum kennt (Jordan, Krit. Beitr. S. 164), und
nicht minder sachlich, da, wie Wissowa höchst wahrscheinlich
gemacht hat (Religion und Kultus d. Rom. S, 484, vgl.
Mommsen, Rom. Gesch. I^ 166); das eine der den Kult aus-
übenden Geschlechter, die quirinalischen Fabier, nur äußerlich
einem einheitlichen alten palatinischen Kulte der Quinctier^
beigesellt wurde, so daß die Zweiteiligkeit der Sodalität keine
Stütze mehr für eine Zerlegung der luperci in Wölfe und
Böcke darbietet. Nur der von Mannhardt stark beeinflußte
Verfasser des Artikels Lupercalia bei Daremberg-Saglio,
J. A. Hild, bezeichnet noch die Schweglersche Etymologie als
die wahrscheinlichste.^
Es gilt heute bei den meisten nahezu als unzweifelhaft,
daß luperci nichts anderes heiße als 'Wölfe', oder, um die Ab-
leitungssilbe auszudrücken, 'Wölflinge'. Vgl. Mommsen a. a. 0.;
Jordan a. a. 0. 164f., wo die Bildung noverca verglichen wird;
Gilbert, Gesch. u. Topogr. d. St. Rom 1 145, 2; Otto a. a 0. Sp.2064.
Von dem Wolf - fesüval spricht Fowler a. a. 0. p. 311 (vgl. ;
ebd. p. 318). Wissowa a. a. 0. S. 172 schreibt: 'Der Name i
lupercus, der sicher nichts weiter bedeutet als 'Wolf, weiin t
auch der Sinn dieser Benennung nicht völlig klar ist usw.*
Und neuerdings lesen wir bei Domaszewski, Arch. f. Reli-
gionsw. X 1907, 338 (= Abh. zur röm. Rel. S. 176): 'Der
wunderbare Wettlauf der Wölflinge ist auch der Tag der
Zeugung des Sommerlebens der Natur'.' Für diese Auffassung
von luperci gleich lupi haben Jordan (Preller-Jordan, Röm.
Myth. I 126, 1) und Wissowa (a. a. 0. S. 483, 6) auch eine
* Zum Namen vgl. Otto a. a. 0. Sp. 2063.
' Sal. Reinach Orpheus p. 147 übersetzt loups-cerviers, d. i. Hirsch-
lucbfle. Vgl. denselben Oultes, mythes et rel. I 180.
• Auch Birt, Zar Kulturgesch. Roms (Leipzig 1909) S. 13, spricht
von 'Wolfsmännern.'
Lnpercalia 483
Stelle des Cicero angeführt, pro Caelio 26, zu Unrecht, wie
mir scheint, abgesehen davon, daß die Auffassung des Cicero
nicht beweisend sein konnte. Cicero spricht von dem An-
klager des Caelius: neqiie vero ülud me commovd, quod sibi
in lupercis sodalem esse Caelium dixit. fera quaedam sodaliias
et plane pastoricia atqtie agrestis germanorum lupercorum,
quorum coitio iUa silvestris ante est instiäUa quam humaniias
atque leges, si quidem non modo nomina defenint inter se so-
dales, sed etiam commemorant sodaJitatem in accusando. Hätte
Cicero wirklich leibhaftige Wölfe' gemeint, so wäre er m. E.
nach lupercorum mit si quidem fortgefahren. Der zwischen-
geschobene Relativsatz, der wie coitio und institiäa zeigen, (a^
nur von der Sodalität verstanden werden kann, zwingt uns |
auch lupercorum in diesem Sinne aufzufassen. Er ist als
Epexegese zu germanorum aufzufassen, und das Ganze besagt:
'das sind allerdings echte Luperci, wie sie in der Urzeit zu-
sammenkamen, vor aller Gesittung.'
Ich muß die Ansicht, die in den Luperci Wölfe sieht,
als unhaltbar bezeichnen, denn Allzuvieles spricht dagegen.
Die Menschen, die den Umlauf vollzogen, sahen bekannt-
lich wie Böcke aus, weil sie sich mit dem Fell eines ge-
schlachteten Bockes gürteten, das Fest ist ein Hirtenfest,
der Gott dieses Festes ist der Hirtengott Faunus^: Was soll ,
bei einer solchen Begehung die Teilnahme von Wölfen!
Jordan a. a. 0. 165 f. hat die großen Schwierigkeiten, die
sich seiner Deutung entgegenstellten, wohl empfunden, und
ich kann mir nicht versagen, seine Worte hier wieder-
^ Wissowa a.a.O. S 172. Die Ausführungen Ottos a.a.O. Sp.2068f.
halte ich für einen Rückschritt und für eine Verwirrung der durch
Wissowa gewonnenen Erkenntnis. Nach Otto ist der Faunus der
Lupercalia 'der "Wolfsgott, der zur Zeit der Totenfeiern das Volk vom
Bösen reinigt und dadurch auch Fruchtbarkeit verleiht.* Ebenso be-
denklich ist seine Erklärung des Faunus-Favonius als Seelengott und
die Ansicht, Faunus sei eine Anrufungsform des Lupercus (a. a. 0.
8p. 2057 f.).
81*
484
Ludwig Deubner
0*
Vji
zugeben, weil sie, wie mich dünkt, die beste Widerlegung
seiner Ansicht enthalten: 'Was bedeutet der Name dieser zu
den uritalischen Institutionen gehörigen Genossenschaft? Wir
J<A/^ stehen hier vor einer religionsgeschichtlichen Frage der ver-
wickeltsten Art. Aber was die Sprache lehrt, wird keine
» mythologische Theorie zerstören dürfen. Wir müssen uns
hier begnügen, darauf hinzudeuten, daß der Italische Mars
nicht minder im Luperealienfest wie im Maifest der dm dia
eine Hauptrolle gespielt haben wird, daß daher für eine
Priestergilde die Benennung nach einem heiligen Tiere des
Mars durchaus motiviert erscheint, und daß, wenn die Mars-
priester vom Sorakte in Wolfsfelle, die vom Palatium in
Bocksfelle gekleidet waren — doch wer sagt ob dies in Rom
die ursprüngliche Sitte war? — dies letzte so wenig auf-
fallend ist als die Anrufung des Mars an dem Fest der
ährenbekränzten Göttin des Maifestes.' Hierauf ist kurz zu
erwidern, daß die Sprache auch anderes lehren kann, daß für
die Hauptrolle des Mars im Luperealienfeste nicht das ge-
ringste Zeugnis vorhanden ist, daß diese Rolle nach dem
Hirtencharakter des Festes ganz unwahrscheinlich ist, während
sie bei dem Vegetationsfeste der Arvalen keineswegs auffällt,
daß ein Wechsel der kultlichen Tracht nach allem, was wir
über diese Dinge wissen, ungeheuerlich wäre, und daß der
^^ Gegensatz von Wolfsgilde und Bockskostüm in keiner Weise
mit der Anrufung eines die Vegetation schützenden oder ver-
nichtenden Gottes in einem Vegetationsfeste verglichen werden
kann. Die Analogie der hirpi Sorani (vgl. Wissowa in
Roschers Lexikon u. d. W.) hilft auch nicht weiter, denn
diese wahrscheinlich in Wolfsfellen einhergehenden Priester
standen im Dienste eines dem Apollo gleichgesetzten (Wissowa,
Rel. S. 191) Unterweltsgottes, und es bedarf kaum der Be-
merkung, daß hier die Wölfe so gut passen, wie sie beim
Hirtenfeste der Lupercalia unverständlich sind,^
* Vgl. auch Wisaowa a. a. 0. S. 483, 6.
Lnpercalia 485
So unverständlicli es ist, daß sich bei einem Hirtenfeste
'Wölfe' beteiligen, so verständlich ist das Auftreten von
Wolfsabwehrem. Ich mochte nicht Eulen nach Athen tragen,
aber vielleicht ist es nicht unnütz an einige Dichterstellen zu
erinnern: Tibull I 1, 33 at vos exiguo pecori furesque lupique
parcite] II 5, 88 (mit Bezug auf die Parilia) a siahulis tum
procnl este lupi] Horaz carm. III 18, 13 inier audacis lupus
errat agnos] epod. II 60 vd haedus ereptus lupo] Ov. fast. IV
766 (im Gebet an Pales) neve gemam referens veUera rapta
lupo. Luperci kommt von lupus und arceo. Die Deutung ist
nicht neu: schon Serv. Aen. VIII 343 hat sie überliefert
(Liipercal, quod praesidio ipsius numinis lupi a pecudibus arce-
rentur). Von modernen ßeligionsforschern übernahmen sie
Schwenck (Mythol. der Römer S. 140), Gerhard (Marquardt,
Rom. Staatsverw. III* 439, 5), PreUer^, Preuner (Hestia-Vesta
S. 389, 3) und in abenteuerlichem Sinne Lippert.' Der beste .
Kenner der römischen Religion (Wissowa a. a. 0. S, 483, 6)
hat sie mit Entschiedenheit verworfen; er sagt: 'das Wort
(luperciis) kann auch etymologisch nichts anderes (als lupus)
bedeuten, wie Jordan, Krit Beitr. S. 164 f., gegenüber den /
bei Marquardt zusammengestellten anderweitigen Deutungs-
versuchen richtig ausführt'. Jedoch Jordan bemerkt a. a. 0.
dieses: 'Ebenso richtig verwirft Marquardt die Annahme eines
übrigens sprachlich zulässigen Kompositum von lupus
und arcere: nicht Wolfswehrer heißen die Priester, sondern
Wölfe, mag der Grund sein, welcher er wolle.' In dieser Be-
hauptung vermag ich keinen Beweis zu erblicken; aber das
^ Preller- Jordan a. a. 0. I 380 'Lupercus der Wolfsabwehrer, in
der nächsten Bedeutung als Beschützer der Herde, in der entfernteren
als Austreiber des Winters durch die Erneuerung des Jahres im Frühlinge'.
* ÄUg. Gesch. d. Priestert. II 563 'Der Fetischbezeichnung nach
heißt jener Gott Lupercus, der Wolfsabwehrer; auch wo der Haifisch
als Fetisch behandelt wird, empfängt er den Kult in der Meinung, daß
er dadurch die Haifische überhaupt von Schädigung der Menschen ab-
halte.' Vgl. auch Schwegler a. a. 0. S. 360, 3.
1"^'
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''!
486 Ludwig Deubner
Zugeständnis der sprachlichen Möglichkeit, luperci als Wolfs-
abwehrer zu erklären, ist willkommen, und diese Erklärung
wird denn auch, wie ein Blick in das Lateinische etymologische
Wörterbuch von Walde (S. 354) lehrt, von der heutigen
Sprachwissenschaft durchaus bevorzugt, vgl. auch Stolz, Hist,
Gramm, d. lat. Spr. I 419. Dazu stimmt das Urteil der
meisten übrigen Forscher, die trotzdem diese Etymologie ver-
werfen: Marquardt nennt sie a. a. 0. S. 439, 4 die beste unter
den Etymologien der Alten; Unger, Rh. Mus. 36, 1881, 6o
erklärt, daß wenn das Wort lupus zugrunde läge, zweifellos
arceo als zweiter Bestandteil anzusehen wäre; Mannhardt
a. a. 0. 87 f. betont, daß sich diese Ableitung aus lautlichen
Gründen in hohem Grade empfiehlt. Vgl. auch Schwegler
a. a. 0. S. 360. Mannhardt hat ein stattliches sprachliches
Beweismaterial für die Möglichkeit der Etymologie beigebracht;
ich hebe nur eine schlagende Parallele heraus, das Wort
aedituus. Für die Schwächung von a zu e vgl. arma neben inermis.
Danach scheinen also schwerwiegende sachliche Bedenken der
Deutung ^Wolfsabwehrer' im Wege zu stehen. Prüfen wir!
Die Einwände, die gemacht worden sind, bewegen sich
in zweierlei Richtung. Die einen berufen sich auf die Le-
gende, die anderen auf den Kult. Schwegler (a. a. 0. S. 361)
und die ihm folgen, erklären, daß von Wolfsabwehr keine
Rede sein könne, weil das Lupercal die Stätte der säugenden
Wölfin sei, ja nach Varro bei Arnob. IV 3 die Wölfin selbst
als Luperca verehrt wurde; Mars, der Vater der mit dem
Lupercal verknüpften Brüder Romulus und Remus, habe den
Wolf zum Symbol, nicht minder Faunus selbst, der Sohn des
Mars. Diese Bedenken sind völlig gegenstandslos, seit wir
von Wissowa gelernt haben, wie römische Legende ein-
zuschätzen ist. Wann immer die Romuluslegende an das
Lupercal angeknüpft worden sein mag, darüber kann doch
kein Zweifel sein, daß die Wölfin der Sage, wenn sie nicht
aus dem Namen Lupercal überhaupt erst entstand, aus rein
Lupercalia 437
äußerlichen Gründen zu der alten Grotte in Beziehung ge-
setzt wurde. Von hier aus kann auch nicht ein Schatten des
Verdachtes fallen auf das, was unvoreingenommene Prüfung
der Tatsachen uralten Kultes ergibt.
Aber gerade diese Tatsachen schienen weitere Gegengründe
darzubieten. Mannhardt a. a. 0. S. 88 betonte, daß bei dem an
den Luperealien sich vollziehenden Umlauf der Luperci Menschen,
nicht Tiere geschlagen werden; nicht um die Grenzen der
Viehweide sei der segenheischende Umgang geschehen, sondern
um die Mauern der ältesten palatinischen Stadt, um den Wohn-
sitz der Menschen. Und ebenso erklärte Unger a. a. 0. 62 f,
die Luperealien seien gar kein Hirtenfest, sondern die Sühn-
feier einer Stadtgemeinde. Beide schlössen daraus, daß luperci
nicht von arcere hergeleitet werden dürfe.
AVirklich nicht? Wirklich die Lupercalia kein Hirten-
fest? Und wo bleiben die Zeugen des Altertums, die den
Hirtencharakter des Festes auf das deutlichste zum Ausdruck
bringen? Cic. a. a. 0. spricht doch von der sodalitas pastoricia
und Plut. Caes. 61 sagt: noXXol yQatpovöiv^ og noiyiiveyv xb
xaXaiov sir} (Ji ioQtrf)} Und Faunus, der deus pastoralis
(Serv. a. a. 0.)? Paßt er etwa besser in die Sühnfeier der
Stadtgemeinde, er, der Gott der animalischen Fruchtbarkeit?
Es ist nur konsequent, wenn Unger a. a. 0. S. 68 behauptet,
Faunus könne der Luperealiengott nicht gewesen sein, weil
er kein städtischer Gott sei, eine Behauptung, der Fowler
merkwürdigerweise folgt, a. a. 0. p. 313. Es gibt gegenüber
diesen andrängenden Schwierigkeiten nur einen Ausweg: der
Charakter des Ritus — wohlgemerkt: nicht der Ritus selbst
— hat sich im Laufe der Entwicklung des kommunalen
Lebens verschoben, hat sich verschieben müssen. Ähnliches
hat Härtung vermutet, den Mannhardt a. a. 0. zu Unrecht
bekämpft. Von Adaption einer alten Hirtenbegehung an andere
^ Ich halte es nicht für richtig, in diesen Äußerungen nur Rück-
schlüsse aus dem Kostüm der Luperci zu erblicken (Otto a. a. 0. Sp. 2069).
488 Ludwig Deubner
Verhältnisse spricht auch Powler a. a. 0. p. 312, und Gilbert
a. a. 0. I 83 schreibt: 'In der Tat weisen alle Anzeichen darauf
hin, daß seine (des Luperealienfestes) Stiftung in die ältesten
Zeiten gehört, daß es später nach Erbauung des oppidum
Palatinum erweitert und auf dieses letztere übertragen ist';
S. 87, 2 erwähnt er den 'Hirtencharakter der Lupercalia . .,
welche jene älteste Zeit gleichsam dokumentarisch fixiert haben'
(vgl. ebd. S. 145).
In altersgrauer Vorzeit liefen an jener Stätte, wo später
Rom sich erhob, latinische Hirten in feierlichem Laufe um
ihre Hürden. Es war ihnen bitter Ernst, denn es galt das,
was ihren Besitz ausmachte, gegen den Räuber, der in der
Campagna heulte, durch uralt heiligen Ritus zu schützen. Um
die Hürde ging der Lauf: die Vorstellung des magischen
Kreises, die einer Unzahl von 'Umgängen' bei allen Völkern
der Erde zugrunde liegt, zeigt sich auch hier wirksam. Ist
dieser Kreis durch den feierlichen Umlauf geschlossen, so
kann kein Unheil — auch der Wolf nicht — ihn überschreiten.
Nicht der Gesundheit des Viehs gilt dieser Lauf, dafür wurde
das Fest der Parilia eingerichtet, sein ganz spezieller Zweck
ist die Sicherung des Besitzstandes. Vielleicht hatte einst, in
noch viel älterer Zeit, der ganze Clan diesen Umlauf voll-
zogen, und öfter als einmal im Jahre. Fest und Priester sind
ein Produkt der ökonomischen Evolution. Ein einzelnes Ge-
schlecht wurde im Laufe der Zeit mit der Ausübung des Ritus
betraut. Seine Mitglieder nannte man, um ihre Aufgabe zu
kennzeichnen, luperci, Wolfsab wehrer.
Die Lupercalia waren in historischer Zeit ein Fest des Faunus
(Wissowa a. a. 0. S. 172, 3, vgl. Mannhardt a. a. 0. S. 94), dies ist
über jeden Zweifel erhaben. Ovid fast. II 268 nennt die Feier
Fauni Sacra (vgl. ebd. V 101), und wenn am 13. Februar das
Stiftungsfest des Faunustempels auf der Tiberinsel begangen
wurde, so hat dieses Datum das Faunusfest des 15. Februar
zur Voraussetzung (Wissowa a. a. 0. S. 174, 9). Von einem
Lapercalia 489
Gebet an Faunns Tor dem Lanf spricht das Aition der Feier,
das PlutarcnKom. 21 nach C. Acilius berichtet, also wird
man auch für das Fest selbst ein solches Gebet annehmen
dürfen.^ Die konkurrierenden Göttemamen, die neben Faunus
erwähnt werden, Februarius, Februus (s. unten S. 498), Inuus
(Wissowa a. a. 0. S. 173, 10), Liber (Serv. Aen. VIII 343),
Pan (Wissowa a. a. 0. S. 174) sind durchsichtige Epitheta
oder Gleichungen, und der Gott Lupercus vollends, der von
vielen als das Prototyp der luperci betrachtet wird^, ist, wie
Wissowa in Roschers Lexikon u. d. W. einleuchtend bemerkt
hat, erst aus dem Feste abgeleitet (vgl. auch Mannhardt a. a.
0. S. 96). Das Bild des Lupercus also, das Justin 43, 1, 7
erwähnt, und dessen Aussehen dem Kostüm der luperci ent-
sprach, ist eine Statue des Faunus gewesen (vgl. Wissowa
a. a. 0. S. 172, 12), die wie alle Götterbilder in Rom einer
verhältnismäßig späten Zeit wird zugeschrieben werden müssen.
Und wenn von dem Altar des Pan bei Dionys v. HaL I 32,
79 die Rede ist, so dürfen wir darunter den verstehen, auf
dem für Faunus an den Luperealien das Bocksopfer vollzogen
wurde. Denn obwohl dieses Opfer nur bei Ovid fast. II 361
in einem Aition mit Faunus in Verbindung gebracht wird
(und hier ist es sogar eine Ziege), so darf doch als sicher
betrachtet werden, daß am Tage des Festes der Bock für den-
selben Gott geschlachtet wurde (vgl. Val. Max. II 2, 9; Ovid
fast. II 445; Quintil. inst. I ö, 66; Plut. Rom. 21; Serv. Aen.
Vin 343, s. Otto a. a. 0. Sp. 2065), den man auch sonst durch die
Darbringung dieses im römischen Kulte nicht gerade häufigen
Opfertieres verehrte (vgl. Horaz carm. I 4, 12; III 18, 5; C. Krause
De Romanoriün hostiis, Marburger Diss. 1894 p. 13. 32).*
> Vgl. Unger a. a. 0. S. 57, 2.
* Schwenck a. a. 0. S. 140; Lippert a. a. 0. II 564; Gilbert a. a. 0.
I 145 2; Kroll Ant. Äbergl. S. 9; Hild bei Bar.-Sagl. a. a. 0. p. 1398.
' Es geht nicht an, mit Otto a. a. 0. Sp. 2065 das Bocks- oder
Ziegenopfer der Lupercalia als chthonische Sühnopfer zu betrachten, wo
doch die Darbringnng an den Gott der Herde so selbstverständlich ist.
>
490
Ludwig Deubner
u^
Also die Luperci betrachten den Faunus als den Herrn
ihres Festes; ja es hat den Anschein, als stünden sie zu ihm
in einem besonders nahen Verhältnis: der Schurz, den sie
trugen, war aus dem Fell der geopferten Böcke geschnitten.
Dieser auffallende Umstand brachte Fowler auf den an sich
sehr beachtenswerten Gedanken, wir hätten es mit einer tote-
mistischen Begehung zu tun (vgl. a. a. 0. p. 318). Dann wäre
der Bock ursprünglich der Gott, und seine Diener hätten sich
in das Fell des Gottes gekleidet, um dem Gotte gleich zu
werden und in der Maske von Dämonen den schützenden
Umlauf zu vollziehen; die Einnahme eines Opfermahles
(Marquardt a. a. 0. S. 444, 1) stünde damit in guter Über
einstimmung. Doch dagegen spricht vor allen Dingen, daß
im römischen Kulte anderweitig von totemistischen Kult-
handlungen keine Spur zu finden ist; die Analogie der in
etruskischer Einflußsphäre amtierenden hirpi vom Soracte,
bei denen an sich totemistische Vorstellungen zugrunde liegen
könnten, kommt für die Luperci nicht in Betracht, weil diese
eben keinen tierischen Namen führen. Ich glaube sogar, daß
wir noch weiter gehen dürfen und behaupten: der Faunuskult
ist nicht von Anfang an mit dem Umlauf der Xuperci ver-
bunden gewesen. Es ist durch die Arbeiten von Preuß
(Globus 86. 87), Anitschkoff (Das rituelle Frühlingslied,
vgl. Archiv f. Religionsw. IX 1906, 277ff. 445ff.) und Vier-
kandt (Die Anfänge der Religion und Zauberei, Globus 92)
deutlich geworden, daß am Anfang der religiösen Ent-
wickelung rituelle Begehungen stehen, die keineswegs au
/ die Adresse irgendwelcher Götter gerichtet sind, noch unter
der Maske irgendwelcher Dämonen ausgeführt werden, sondern
der Vorstellung entstammen, der Mensch vermöge an und für
sich durch besondere — überall wiederkehrende — Akte Un-
segen abwehrend und Segen herbeiziehend in den Lauf der
Natur einzugreifen. Ich möchte die These aufstellen, daß alle
diejenigen Feste des 'numanischen' Kalenders, die sich nicht
Lnpercalia 491
Ton dem Namen eines Gottes herleiten (mit Ausnahme des
eine besondere Stellung einnehmenden Agonium), ursprünglich
eben solche rituelle Begehungen gewesen und erst im Laufe
der Entwickelung des religiösen Denkens unter die Protektion
einer dem jeweiligen Gedankenkreise nahestehenden Gottheit
geraten sind. Den Beweis dafür an dieser Stelle anzutreten,
liegt außer meiner Absicht, aber ich möchte doch betonen,
daß es weiter reichende Beobachtungen sind, die mich bestimmen,
die altertümlich schlichte und klar verständliche Zeremonie
der Wolfsabwehrer in ihrer ältesten Gestalt von dem Dienste
des Faunus zu lösen. Ist dies aber richtig, so sind die Luperci
ursprünglich auch ohne den Schurz gelaufen, der von dem
Opfertier des Faunus nicht getrennt werden kann: denn aus
dem Fell dieses Tieres war er geschnitten (s. o. S. 490). D. h.
die luperci waren ursprünglich vollständig nackt.^ Gerade/
diese Nacktheit nun ist ein häufig auftretender Begleitumstand
zauberischer Riten, vgl. Deubner De incubatione p. 2-4; Abt,
D. Apologie d. Apoleius, RGW lY 246, 1. Hier seien nur
ein paar analoge Fälle kurz erwähnt. Bei den Amphidromien
wurde das Kind von dem nackten Vater um das Feuer des
Herdes getragen (Hesych s. v. ögoyLidiicpiov ^(laQ). Um den
'Kuhtod' aus dem Dorfe zu treiben, gehen in Rußland die
Frauen in Prozession um die Siedelung, wobei eine nackte
Person einen Pflug zieht (der den magischen Kreis einritzt);
die serbischen Frauen laufen am Georgstage nackt um ihren
Viehhof, damit ihnen niemand die Milch stehle (Archiv
f. Religionsw. IX 1906, 452). Als Faunus der Herr des Festes
wurde und ein Bocksopfer erhielt, mögen die^uperci sich mit
Stücken des frisch abgezogenen FeUes gegürtet haben, um
durch die Kräfte, die alles zum Opfertier Gehörige besitzt
^ Vgl. auch Otto a. a. 0. Sp. 2069. — Die Bekränzang und Maskie-
rung, die erst Lactanz erwähnt (inst. I 21, 45), wird späte Zutat sein.
Auf die Tatsache, daß auch Faunusstatuen bekränzt erscheinen (vgl.
Roschers Lexikon u. Faunus 1459 f.), ist wohl ebensowenig Wert zu legen,
wie auf die gelegentlich erwähnte Salbung des Körpers.
^
492 Ludwig Deubner
(Rob. Smith, Rel. d. Sem. S. 294; Fowler a. a. 0. p. 321, vgl.
RGW II 142, 9), die Wirkung des Umlaufs zu erhöhen.
Um die Hürde ging in alter Zeit der Lauf der Luperci.
Aber die Zeiten änderten sich, und mit ihnen die Formen des
Lebens. Wo einstmals dürftige Siedlungen bestanden hatten,
erwuchs im Laufe der Zeiten die palatinische Stadt. Und
immer noch liefen die Wolfsab wehrer um das Gemeinwesen.
Kaum wußte man mehr, was denn dieser Umlauf eigentlich
solle, aber der alte heilige Brauch war einmal von den Vätern
überliefert, und so hielt man an ihm fest: er erstarrte. Und
als dann endlich das Leben Roms rings um den palatinischen
Hügel brandete, da waren die Wölfe längst vergessen; um so mehr
als inzwischen neue Gedanken und Vorstellungen mit dem alten
Ritus in unlösliche Verbindung getreten waren.
2
Es ist eine bekannte Erscheinung, daß, wo eine heilige
Handlung vollzogen wird, das Bestreben zutage tritt, die frei
werdenden zauberischen Kräfte persönlichen Zwecken dienstbar
zu machen. Wer die ekstatischen Prozeduren der Derwische in
Skutari gesehen hat, erinnert sich, daß am Schlüsse der Zere-
monie Kranke herbeigebracht und durch Aufsetzen der Füße
geheilt werden (vgl. auch Weinreich, Antike Heilungs wunder,
RGW VIII 68). Und gewiß besinnt sich ein jeder, davon
gelesen zu haben, daß beim Nahen einer Prozession Leute mit
Gebresten mannigfacher Art behaftet sich in den Weg werfen,
um der Gesundheit spendenden übernatürlichen Kraft teilhaftig
zu werden. Ich setze zwei Beispiele her, die mir aus dem
Buche von Otto Stoll, Das Geschlechtsleben in der Völker-
psychologie (S. 178. 510) zur Hand sind: sie lassen sich ohne
Zweifel leicht vermehren. In Mexiko gab es ein Fest, bei dem
die Häute der geopferten Kriegsgefangenen in feierlicher Pro-
zession in einer Höhle beigesetzt wurden. *An dieser Prozession
beteiligten sich auch Kranke, und zwar vornehmlich Haut- oder
Lnpercalia 493
Augenleidende, in der Hoffnung, durch die Teilnahme an diesem
heiligen Akt von ihrem Leiden befreit zu werden.' Zn dem
Beschneidungsfest der Masai finden sich auch sehr viele
Frauen ein, 'und zwar vor allem die bisher unfruchtbar ge-
bKebenen. Diese lassen sich alsdann von den Knaben mit
frischem Rindermist bewerfen, da sie dadurch . . . fruchtbar
werden.'
Bei ihrem Umlauf um die palatinische Stadt hielten die
Luperci Riemen in den Händen, die wie ihr Schurz aus dem
Fell der geopferten Böcke geschnitten waren. Mit diesen
Riemen schlugen sie die sich ihnen in den Weg stellenden un-
fruchtbaren Frauen, und diese wurden dadurch fruchtbar
(^Marquardt a. a. 0. S. 444, 10). Ich hoffe, man wird es nach
dem oben vorgetragenen einleuchtend finden, wenn ich diesen
Ritus des Schiagens als einen sekundären, einen akzessorischen
bezeichne. Wäre er die Hauptsache gewesen, so wäre man
nicht unten um den Palati n gelaufen, sondern hätte die Frauen
oben auf dem Plateau gegeißelt. Der Umlauf ist die Haupt-
sache, und er gilt dem Umlaufen en, also nicht den Frauen.
Aber das ist verständlich: je städtischer das Leben des Palatins
wurde, je schlechter der alte Hirtenritus in die neuen Lebens-
bedingungen hineinpaßte, je mehr die primäre Bedeutung der
Begehung in den Hintergrund trat, desto stärker mußte das
sekundäre Moment sich bemerkbar machen, und es mußte ein-
mal die Zeit kommen, wo man das Schlagen der Frauen neben
dem Opfer als den wesentlichen Zweck des Festes empfand.
Es ist vielleicht bemerkenswert, daß Unger a. a. 0. 58 ff,
von ganz anderen Beobachtungen aus zu einem ähnlichen
Resultat gelangte.^ Er beruft sich darauf, daß die Geißelung
in einer Reihe von Quellen nicht erwähnt wird, und daß
* Vgl. auch C. Pascal Bendiconti d. R. Acc. d. ijMC.V4, 1895. 152,
wo in den Vorstellungen von der Befruchtung der Frauen uyi' impor-
tazione posteriore erblickt wird. Die Kenntnis des phantastischen, von
Unger beeinflußten Aufsatzes verdanke ich Herrn stud. Latte.
494 Ludwig Deubner
Livius (nach Gelasius, Epist. Rom. pontif. ed. Thiel I p. 601)
in der zweiten Dekade erzählte, das Schlagen der Frauen sei
bei Gelegenheit einer allgemeinen Unfruchtbarkeit eingeführt
worden. Die zweite Dekade führe auf die Zeit von 292—218
V. Chr. Damals seien die Luperealien durch Aufnahme der
Geißelung erweitert und gleichzeitig wegen der dadurch be-
dingten allgemeinen Anteilnahme in den Staatskult aufgenommen
worden, während sie bis dahin nur ein Bezirksfest gewesen
seien. Der Ungerschen Annahme ist von Wissowa a. a. 0.
S. 173, 4 eine leise Möglichkeit eingeräumt worden. Ob die
Erweiterung des Festes wirklich in so verhältnismäßig später
Zeit erfolgte, ist mir sehr zweifelhaft.-^ Auch scheint mir das
Liviuszitat bei Gelasius a. a. 0. keine Unterlage dafür zu bieten.
Die Worte lauten: nee propter tnorhos inhibendos instituta com-
memorat (sc. Livius), sed propter sterüitatem, ut ei videtur,
muUerum, quae tunc acciderat, exhihenda. Da Gelasius vorher
ausdrücklich daran erinnert, daß die Feier vor Romulus von
Evander importiert sei, so kann er nur dieses haben sagen
wollen: "^Livius erwähnt nicht, daß das Fest eingesetzt sei, um
Krankheiten fernzuhalten, sondern vielmehr um wegen Un-
fruchtbarkeit der Frauen ausgeübt zu werden, wie sie damals
eingetreten war.' Der Sinn des Textes wird deutlicher, wenn
man die Worte quae tunc acciderat in Klammern schließt.
Jedenfalls handelte es sich, wenn jemals eine offizielle Er-
weiterung des Festes in der bezeichneten Richtung stattfand,
nur um die Förderung eines sporadisch längst vorhandenen
Brauchs. Daß damit — in historischer Zeit — die Aufnahme
des Festes in den Staatskult verbunden gewesen sei, wird, wie
ich glaube, dadurch widerlegt, daß nach dem Zeugnis der
Kalender das staatliche Fest der Lupercalia in die Religions-
ordnung des *Numa' hinaufreicht. Es mag sein, daß die
Schläge der Luperci ursprünglich nicht auf die Frauen be-
schränkt waren. Wenigstens sagt Nikolaos v. Damaskos in den
* Vgl. Otto a. a. 0. Sp. 2067.
Lnpercalia 495
Excerpta hist. Const. Porph. edd. Boissevain etc. III p. 41, 29,
daß jene :io^:i£vov(}i . . . tovg xs v:cavrävTug xaraxBQXO-
^uovvxsg xai xvTtxovxsg, und bei Plut. Rom. 21 lesen wir:
dia&BovöLv . . . xoig öxvxsöl xbv k^:to8(ov naCovxtg (vgl. ebd.
aus Butas iuTCodCovg xvxxovxag).^ Aber es ist in der Tat sehr
fraglich, ob diese Zeugnisse für die ältere Zeit in Anspruch
genommen werden können.
Daß man die Riemen aus dem Fell der Opfertiere' erst ^
dann schnitt, als man die Frauen schlagen wollte, ist unwahr-
scheinlich. Vermutlich wurden sie schon vorher in der Hand
geschwungen, um symbolisch die Wölfe zu scheuchen. Man
vergleiche einen weißrussischen Brauch (Archiv f. Religionsw.
IX 1906, 457): nachdem das Vieh vor dem Austreiben dreimal
feierlich umgangen ist, betet der Oberhirte, indem er auf die
Herde blickt: 'Errette, Herr, unsere Herden und jedes Stück
Vieh von jeglichem gleitenden Reptil und bösem Raubtier';
darauf wird unter anderen Abwehrmitteln mit der Peitsche
in die Luft geknallt. Auch in dem frischgeschnittenen Riemen
mögen die Luperci die magische Kraft des Geopferten wirksam
gedacht haben ^, eine weitere Garantie für das Femhalten der
Wölfe. War aber einmal zu solchen Zwecken der Riemen
verwendet worden, so ist es vollauf begreiflich, daß er bald
Gelegenheit zu neuer Betätigung fand.*
Über den Schlag mit dem Riemen, von dem Lobeck
(Aglaoph. 681) meinte totuni rem a lusn et lascivia profeäam
esse, hat Mannhardt a. a. 0. llSfT. eine erschöpfende tJnt€r-
* Andere Stellen bei Otto a. a. 0. Sp. 2067.
* Peut-etre en peau ds Joup bemerkt Sal. Reinach Orpheus p. 147
in offenbarem Zusammenhang mit oben verworfenenen Vorstellungen
über das Wesen der Luperci.
' Auch T. Domaszewski Archiv f. Religionsw. X 1907, 338 spricht von
'Zauberriemen*. Vgl. Ovid. fast. II 441 sacer hircus inito.
* Ägyptische Parallelen verführten Lefebure Bev. de Vhist. des rel.
59, 1909, 73 SS. zu der unhaltbaren Annahme, die zu befruchtenden
Frauen wären von den Luperci mit BocksfeUstreifen geschlagen worden,
weil der Bock ein laszives Tier sei.
496 Ludwig Deubner
sucliung angestellt (vgl. dens., Wald- und Feldkulte I 251 ff.:
'Der Schlag mit der Lebensrute'). Hier möchte ich nur kurz
feststellen, ob der Sinn der ist, durch den Schlag Segenskräfte
miitzuteilen ^, oder ob vielmehr eine Hinauspeitschung des Un-
segens beabsichtigt wurde. Mir scheint die zweite Auffassung,
zu der auch Fowler neigt, ohne sich bestimmt zu entscheiden
(a.a.O. p. 321, vgl. auch Mannhardt a.a.O. S. 84), die richtige
zu sein. Daß es sich um das Fortschaffen von Hinderungen
handelt, ergibt sich schon daraus, daß nach primitivem Glauben
die Unfruchtbarkeit auf die Besitznahme des Körpers durch
feindliche Stoffe gedeutet werden mußte. Zudem gesellten sich
nach Plut. Caes. 61 zu den Unfruchtbaren die Schwangeren,
^Qos evToxCav: die Schwangeren aber brauchten nicht mehr
fruchtbar zu werden, sondern bedurften der Befreiung von
jeglicher Bindung. Auch das Peitschen selbst weist auf ein
Hinaustreiben. Bestimmteren Anhalt gewährt, wie mich dünkt,
der Scholiast zu luvenal II 142 in solio si qua posi ipsum
(sc. omen, das in dem Schlage bestand) descenderit, statim
concipit. Das reinigende Bad in der Wanne (solium), das
privater Aberglaube zufügte, hat wohl einen Zweck npch dem
Austreiben des Unsegens, nicht aber nach dem Einziehen des
Segens. Die beste Parallele bietet der bereits von Mannhardt
(a. a. 0. S. 141) herangezogene peruanische Brauch: am Pitua-
Feste geißelte sich das "Volk "^mit dem Rufe, daß alles Böse
fortgehen solle; zugleich wusch man sich in einem Flusse, um
jegliches Übel zu entfernen'. Auch sei darauf verwiesen, daß die
alten Perser eine übermäßig menstruierende Frau zur Entsühnung
ihres 'sündigen Körpers' verprügelten (StoU a. a. 0. S. 842).
Die Beziehung der Luperealien auf das Frauenleben hatte
zur Folge, daß die Frauengottheit Juno, in deren Kult die
Ziege eine Rolle spielte, in nähere Verbindung mit jenem
Feste trat.» Nach der bei Ovid (fast. II 429 ff) erzählten
^ So z. B. Sal. Reinach CuUes, mythes et rel. I 180. 468.
* Wissowa 118 f. Umgekehrt fälschlich C. Pascal a. a. 0. 162 s.
Lupercalia 497
Legende veranlaßte Juno Lucina die Geißelung der Frauen,
das dabei verwendete Bocksfell hieß amicidtim lunonis, Juno
erhielt dieselben Beinamen wie Faunus (s. u. S. 498), die Stiftungs-
tage der Tempel der in ein Ziegenfell gekleideten Juno Lanuvina
und der Juno Lucina fallen auf die den Lupercalia benach-
barten Kaienden; aber in dem Feste selbst hat Juno keine
Stelle gefunden, eine für die Zähigkeit des Kultes charakte-
ristische Tatsache.*
Die Wirkung der Lupercalia wurde vorzüglich in der Frucht-
barkeit der Frauen erblickt. Aber man blieb dabei nicht stehen.
Fruchtbarkeit des Menschen und der Erde ist seit Urzeiten in
Parallele zueinander gesetzt worden, und so kann es nicht
wundernehmen, daß bei Lydus de mens. p. 83, 7 Wuensch
von Fruchtbarkeit des Bodens als Zweck des Festes die Rede
ist. Vgl. Ovid fast. II 32 omne solum lustrant idque piamen
hahent, und die unwillige Äußerung des Gelasius (a. a. 0. p. 602),
daß die Lupercalia ja gar nicht gegen sterilitas terrarum ein-
gesetzt wären.^ Und derselbe Gelasius (a. a. 0. p. 599. 601)
kämpft gegen den Glauben, daß die Vernachlässigung des deus
Februarius Krankheiten hervorrufe, einen Glauben, der uns
deutlich zeigt, wie sehr die Feier den Charakter einer reini-
genden Begehung schlechthin angenommen hat, den Cha-
rakter einer lustratio. Diese Entwicklung wird nicht nur durch
die Austreibung der Unfruchtbarkeit bedingt sein, sondern auch
durch den Umlauf um den Palatin, der nach dem Verblassen des
alten Sinnes als Analogon der mannigfachen lustrationes aufgefaßt
werden mußte, wie es denn auch bereits Varro klar ausspricht
(1. 1. VI 34) : Itcpercis midis liistratur antiquum oppidum Palati-
niim gregibus humanis cinctum. Jetzt nennt man von den zur
Verwendung kommenden Sühnmitteln, den februa, das Fest
fehruatio und den Tag dies febrnatiis (Varro 1. 1. VI 13), und
* Vgl. auch die gute Bemerkimg Mannhardts a. a. 0. S. 86.
* Vgl. die parallele Entwicklung des Faunus bei Serv. Georg. I 10
Faunus quod frugibus faveat.
Archiv f. BeUgiosswigsenschaft Xm 32
498 Ludwig Deubner
Faunus und Juno erhielten die entsprechenden Beinamen Fehruus,
Februa, Februarius, FehruUs u.a. (vgl. Wissowa a.a.O. S. 119).
Und dieser Moment, da der Sühnegedanken im Bunde mit dem
seltsamen Aufzug der Luperci das Fest zur populärsten
ßeinigungsfeier des Jahres machte, ist wohl derjenige, in dem
das Pontifikalkollegium entscheidendes Interesse an der Sache
nahm (Wissowa a. a. 0. S. 445, 5) und der Flamen Dialis als sein
Vertreter zur Beteiligung an der Feier der Lupercalia ab-
geordnet wurde. Bei aller Analogie aber bleibt die Urbedeutung
der Lupercalia von der einer lustratio verschieden, und darum
kann man die Luperci weder mit den griechischen qjUQ^axoC
vergleichen (Crusius, Rh. M. 39, 1884, 164 ff.), noch mit den
Opfertieren der Suovetaurilia (Unger a. a. 0. S. 56. 60).
Wir haben die Wandlung des alten Hirtenfestes, das die
Herde vor dem Wolf zu schützen bezweckte, in eine Sühnfeier
sich vollziehen sehen. Es scheint, wir können noch einen letzten
Markstein auf der Bahn seiner Entwickelung bezeichnen.
3
Plutarch im Leben des Romulus 21 schildert die Vor-
gänge beim Feste der Lupercalia wie folgt: öcpartovöi (die
Luperci) yaQ cclyccsy slra ^SiQaxCav övolv ocjth ysvovg ttqoö-
ccx^svtav avtotg, 6t iihv rjfiayiisvri iitt%aiQa xov ^Btayxov &Lyyd-
VOVÖiV, StSQOL d' CCJtO^ttTtOVÖiV SV&Vg, 6Q10V ßeßQsyfisvov
ydXaxrv utgoö^BQOvtsg. ysXav dh Sei tä ^SLQccxia }isrä X'^v
dnö^a^iv. Darauf schneiden sie sich Riemen aus den Bocks-
fellen und vollziehen den Umlauf.
Es ist vorab auf das entschiedenste zu betonen, daß die
beiden erwähnten Jünglinge vornehmen Geschlechts (affö yivovg^),
deren Stirn mit einem blutigen Messer berührt und mit milch-
getränkter Watte abgewischt wird, und die dann auflachen
' Diese prägnante Bedeutung von yivog findet sich nicht nur sonst
bei Plutarch (Synkr. Lysanders u. Sullas 2; coniug. praec. p. 141»- «)»
sondern auch bei anderen Schriftstellern, vgl. die Lexika.
Lupercalia 499
müssen, mit den Luperci keineswegs identisch sind: der Wort-
laut des Plutarch zeigt das dentlicL Es geEt also nicht an,
jene Jünglinge gar als die magisiri der beiden alten Sektionen
der Sodalität zu bezeichnen, wie das Hild tut (bei Dar.-Sagl.
a. a. 0. p. 1401), und die phantastischen Schlüsse, zu denen
Mannhardt über das Wesen der iisigaxia gelangt, sind schon
darum hinfällig, weil auch er sie als die eigentlichen Anführer
der umlaufenden Schar betrachtet (a. a. 0. S. 77). Mannhardt
erklärt die Jünglinge wie die Luperci für Vegetationsdämonen,]
eine Deutung, die gar nicht diskutiert werden kann, weil die
Luperci zu dem Gedeihen des Getreides höchstens eine sekundäre
imd späte Beziehung haben (vgl. oben S. 497 und Fowler a. a. 0.
p. 316). Nicht besser ist der Vorschlag von Marquardt, der
im Anschluß an Schwegler (a. a. 0. 363 f.) in dem Jünglingsritus
den Gott selbst als einen verschlingenden Wolf symbolisiert
und durch ein stellvertretendes Opfer gesühnt werden läßt
(a.a.O. S. 443 f.).
Was bedeutet denn nun aber jener merkwürdige Ritus?
Fernzuhalten sind zunächst alle die Bräuche, in denen Blut als
ein irgendwie förderndes Zaubermittel verwendet wird.' Denn in
allen solchen Fällen hat das sofortige Wiederabwischen des
Blutes keinen Sinn. Eher könnte man an einen Sühnritus
denken, wie ihn bei Apollon. Rhod. IV 704 ff. Kirke nach dem
Morde des Absyrtos an lason und Medea vollzieht (vgl. Fowler
a. a. 0. p. 315): die Hände der Mörder werden mit dem Blute
eines Ferkels begossen und darauf mit Wasser wieder rein ge-
waschen. Wir hätten es dann mit einem jener Riten zu tun,
in denen man ein Abstraktum dadurch fortschafft, daß man
es zuerst in concreto darstellt und hinterher dieses dem Ab-
stractum gleichgesetzte Concretum aufhebt oder tilgte. Aber
1 Vgl. Otto a. a. 0. Sp. 2065.
* Eine gute Parallele liefert Plin. n. h. 28, 42 : man beschleunigte
eine Geburt, indem man die Gebärende umgürtete und hinterher die
Gürtung unter Hersagung einer entsprechenden Formel wieder löste.
32*
y
500 Ludwig Deubner
auch diese Auffassung macht, wie schon Fowler hervorgehoben
hat, Schwierigkeiten. Weniger unpassend wäre in diesem Falle
das Lachen (zu schroff Schwenck a. a. 0. S. 140), jedoch ganz
unverständlich bliebe das Messer, das man doch nicht gut als
ein bequemes Vehikel für das Auftragen des Blutes in Anspruch
nehmen kann. Eben dieses Messer weist auf symbolische Tötung:
man hätte die Stirn der Jünglinge damit ritzen können, wie
man alljährlich im Heiligtum der Artemis Tauropolos zu Halai
einen Mann als Schlachtopfer zum Altar führte und ihm mit
einem Schwert die Haut des Halses ritzte, damit etwas Blut
floß (Eur. Iph. Taur. 1458 ff.); aber man war noch milder, das
aufgeschmierte Blut machte auch die Ritzung überflüssig. Aus
römischem Kultgebrauch kann als Parallele für solche symbolische
Tötung das Bestreichen des Opfertieres mit dem Messer an-
geführt werden, das ich in diesem Sinne und nicht als Bann-
zauber (Blecher De exUspicio, RGrW II 236 ; Wissowa, Deutsche
Literaturzeitung 1907, 16) auffasse; denn da der opfernde Priester
oder Magistrat die eigentliche Schlachtung dem vicümarins über-
lassen muß, so ist zu erwarten, daß er sich zwischen dem Vor-
opfer und der Darbringung der exta an der Tötung des Tieres
wenigstens symbolisch beteilige, vgl. auch Wissowa llel. d. I\.
S. 352. Jene symbolische Tötung der Jünglinge nun ist meist
als die Ablösung eines Menschenopfers aufgefaßt worden, vgl.
die Literatur bei Schwegler a. a. 0. S. 363, 20; Marquardt a. a. 0.
S. 443, 11 ; Unger a. a. 0. S. 70, s. auch Lefebure a. a. O.p. 74. Aber
hierbei ist wiederum das Abwischen des Blutes völlig unverständ-
lich und nicht minder das Lachen, das freilich nach Lippert (a. a. 0.
II 564) die 'willige Hingabe' der Opfer bezeugen soll ! Der Luper-
calienritu"s"hät also schon diesetwegen aus den Belegen aus-
zuscheiden, die Samter gegen Wissowa für die Existenz römischer
Menschenopfer zusammenstellt (Archiv f. Religionsw. X 1907,375).
Samter beruft sich auf Diels, der den Ritus Sibyll. Bl. S. 69, 2 be-
handelt, aber ich bin nicht einmal sicher, ob Diels, wenn er bei
diesei; Gelegenheit von den Symbolen der Substitution spricht, den
Lupercalia 501
Ersatz für ein dereinst tatsächlich Torhandenes Menschenopfer
meint K Es bleibt nur eine, bereits von Mannhardt (a a. 0. S. 99 f.)
erkannte Möglichkeit, die symbolische Tötung mit dem folgen-
den Abwischen und Lachen sinngemäß zu verbinden: die Deutung
auf eine symbolische Tötung und Wiedererweckung, auf eine
Wiedergeburt. Eine genaue Parallele ist nicht zur Stelle, aber
die von Mannhardt aus deutschem Glauben belegte Vorstellung,
daß die Toten und was mit ihnen in Berührung kommt nicht
lachen, reicht hin um seine These zu empfehlen : Xachen ist
also ein symbolischer Zug für das Eingehen der Seele in
menschliches Wesen, menschliche Gestalt und Empfindung'.
Vielleicht darf, wie schon Mannhardt vermutete, auch die Milch
in dem Sinne verstanden werden, daß sie als Xahrung der Neu-
geborenen zur Verwendung kommt, wenn auch in starker
symbolischer Abschwächung. In den Wiedergeburtszeremonien
der Attismysterien wurde den zu neuem Leben Erstandenen
Milch dargereicht: ig;' olg llagslai xai örecfavoL xal xgbg Toug
d^eovg olov indvodog (Sali, philos. 4; Hepding, Attis S. 197),
der Jubel der Wiedergeborenen bietet zu dem Lachen der Jüng-
linge eine gewisse Analogie. Milch und Honig erhielten die in
ein neues Leben eintretenden Täuflinge der altchristlichen Kirche,
vgl Usener, Rh. Mus. 57, 1902, 183 ff.^ Dieterich, Mithrasliturgie
S. 171, hat auch den alten dionysischen Spruch sgicpog kg yäXa
BTtstov auf ein Milchbad zur Wiedergeburt gedeutet, und diese
Deutung wäre, falls sie zutrifft, für uns besonders wichtig, weil
wir auch hier eine stärkere Abblassung der Symbolik vor uns
hätten. Daß Wolle verwendet wurde, um das Blut von der
Stirn der Jünglinge abzuwischen, erklärt sich vor allem aus
der Tatsache, daß sie zu den vor dem Feste verteilten februa
' "Wenn Diels a. a. 0. "Wolle und Blut zu der kultischen Verwendung
von Fellen und "Wollbinden, sowie roter Farbe in Beziehung setzt, so ist
zu bemerken, daß hier sehr verschiedene Anschauungen wirksam sein
köimen, die eingehendste Analyse erheischen. Für die rote Farbe vgl. z. B.
die Äußerung von Gruppe, Griech. Myth. S. 892 •*.
* Nur ist dies nicht Götterspeise, sondern die Nahrung des Kindes.
^
502 Ludwig Deubner
gehörte (Ovid fast. II 21 f., vgl. auch Unger a.a.O. S. 57). Sie
saugt das Blut, das Symbol der Tötung, auf, wie sie alle Un-
reinigkeit in sich aufzunehmen und zu entfernen vermag.
Die beiden Jünglinge, an denen der Wiedergeburtsritus
vollzogen wird, sind Vertreter der Gemeinde, das hat bereits
Unger (a. a. 0. S. 61) ganz richtig bemerkt. Die Zweizahl er-
klärt sich wohl am ehesten aus der Zweiteiligkeit der Soda-
lität. Durch den Ritus wird die ganze Gemeinde wiedergeboren
zu neuem Leben, also eine kathartische Begehung in der
Form der Wiedergeburt. Wie kommen die alten Wolfs-
abwehrer zu so seltsamer Hantierung? Und ist denn solche
Begehung überhaupt römisch?
Ich glaube nicht: denn ich kenne nicht die geringste
Analogie. Dem Gedanken v. Domaszewskis (Archiv f. Religionsw.
XII 1909,72 = Abh. zur röm. Rel. S. 222), der den Durchzug
des Heeres durch die Porta Carmentalis als ein Geboren-
werden zu einem neuen Zustand faßt und daraus den Namen
des Tores erklärt, vermag ich nicht zu folgen (vgl. auch
Wissowa, Deutsche Literaturzeitung 1909, 2633f.). Überhaupt
halte ich es nach allem, was wir von Wissowa über den
Charakter der römischen Religion gelernt haben, für aus-
geschlossen, daß derartige Vorstellungen römischem Denken
entkeimen könnten. Eine normale lustratio, die den Unheils-
stoff aufsaugt oder fernhält, ist eine schlichte Prozedur, eine
so tiefsinnige Symbolik, wie die oben betrachtete, setzt eine
Disposition des religiösen Denkens voraus, die wir am Römer
nicht kennen.
Der Ritus würde uns verständlich, wenn er hellenistischer
Kathartik entstammte und erst in verhältnismäßig später Zeit
dem altrömischen Feste zugefügt wäre. In der religiös erregten
Welt des Hellenismus mit ihrer 'Unzahl von Sühnungsakten
und Weiheriten' (Kaerst, Gesch. des hellenist. Zeitalters 111,245)
ist für solche Ideen, wie sie dem Wiedergeburtsritus zugrunde
liegen, der richtige Platz. Eine schlagende Analogie vermag
Luper calia 503
ich nicht beizubrinoren. Hinweisen will ich nur auf die von
Dieterich (Mithrasl. S. 160) besprochene Stelle des Plutarch
(qu. R. 5), nach der ein Totgeglaubter wie ein Neugeborener
Ton Frauen gebadet und gewickelt wird und die Brust nimmt,
um rituell wiedergeboren zu werden, sowie überhaupt auf
Dieterichs Ausführungen über mystische Wiedergeburt (a. a. 0.
134 ff.). Manche von diesen Gedanken und Vorstellungen
werden schon früherer Zeit zugeschrieben werden dürfen, wenn
sie auch erst für die Kaiserzeit überliefert sind (vgl. auch
Hepding, Attis RGW I 200). unsere Kenntnis dieser Dinge
ist lückenhaft genug.
Und nun überlege man, daß Plutarch allein a. a. 0. den
Wiedergeburtsritus erwähnt. Er steht weder bei Dionys noch
bei Servius, um von den Stellen zu schweigen, die nur Einzel-
heiten bringen, und was besonders schwer wiegt: er steht nicht
bei Ovid, der im übrigen als das vollständigste Repertorium
für die Riten des Festes betrachtet werden kann. Es wäre
unbegreiflich, wenn er den Ritus in seinen Quellen vorgefunden,
oder gar mit eigenen Augen gesehen, und übergangen hätte.
Hierzu kommt ein Weiteres. Plutarch allein bezeugt an
drei Stellen (Rom. 21; qu R. 68.111), daß die Luperci an den
Lupercalia einen Hund opferten. Was soll diese Dublette
neben dem oben besprochenen Bocksopfer? Hild (bei Dar.
Sagl. a. a. 0. p. 1401) erschien diese Tatsache so auffallend,
daß er die Möglichkeit einer Konfusion erwog. Und was soll
der Hund am Faunusfeste? Preuners Gleichsetzung von
Hund und Wolf (Hestia-Yesta S. 389,3) und seine Theorie
des Zusammenfließens verschiedenartiger Elemente imd Sym-
bole speziell in italischer Mythologie dürfte heute kaum An-
hänger finden, und mit Mannhardts Roggenhund (a.a-0. 102ff.)
können wir ebensowenig rechnen, wie mit der Erklärung
Prellers, daß der Hund wegen seiner feinen Witterung dem
dämonischen Wesen des Faunus zu entsprechen schien (Preller-
Jordan 1 390). Sieht man sich nach Hundeopfem im römischen
504 Ludwig Deubner
Kulte um, so finden wir ein solches zunächst im privaten Kulte
der chthonischen Genita Mana (Wissowa, Rel. S. 196; Otto a.a.O.
Sp. 2065) und als Beschwichtigungsopfer vor der Ausführung not-
wendiger ländlicher Arbeiten an Feiertagen (ebd. S. 1 63). Von hier
führt, wie es scheint, kein Weg zu der Erklärung des Hunde-
opfers der Lupercalia. Denn wenn man auch bei dem zweiten
Falle auf den Sühnegedanken hinweisen wollte, so fehlt es
doch bei den Lupercalia an der entsprechenden Voraussetzung
einer Handlung, die man hinterher ungestraft unternehmen
will.^ Und überhaupt scheinen in diesen privaten Opfern
die Hunde oder Hündlein keine von anderen Opfertieren
spezifisch unterschiedene Rolle gespielt zu haben. Etwas Der-
artiges erwarten wir aber bei dem Hundeopfer der Lupercalia,
weil es neben dem Bocksopfer einen Pleonasmus darstellt.
Ebensowenig helfen uns die staatlichen Hundeopfer an
den Robigalia und an dem Augurium canarium (ebd. 162 f.).
Mit vollem Recht, glaube ich, sieht Wissowa in den rötlichen
Hunden, die bei Gelegenheit des Augurium geopfert werden,
*ein Symbol des die Saaten verheerenden Sonnenbrandes' (vgl.
auch Otfr. Mueller, Prolegomena S. 195f.; Gundel De steUarum
appellatione, RGW HI 134 s.); das heißt dann aber nichts
anderes, als daß man in Gestalt der Hunde die ihnen gleich-
gesetzte Sonnenglut vernichten, unschädlich machen will. Und
da nun weiter, wie Wissowa betont, zwischen dem Augurium
canarium und den Robigalia ein enger Zusammenhang besteht,
so wird man auch das Hundeopfer der Robigalia analog auf-
fassen müssen: der Hund war hier die konkrete Erscheinungs-
form des zu vernichtenden Getreiderostes. Das findet seine
Bestätigung durch die Angabe des Ovid (fast. IV 908), daß an
den Robigalia nicht nur ein Hund, sondern auch ein Schaf
dargebracht wurde. In ältester Zeit vernichtete man mit dem
* Otto a. a. 0. Sp. 2066 bringt das Hundeopfer mit dem von ihm
unrichtig angenommenen chthonischen Charakter der Lupercalia in Zu-
sammenhang.
Lupercalia 505
Hunde den Rost — man sieht, daß es rituelle Tötung ohne
Adressaten geben kann — , später als sich die Vorstellung
eines Gottes Robigus ausgebildet hatte, erhielt dieser als
Geschenkopfer ein Schaf. Das alte, ganz anders geartete
Hundeopfer blieb daneben bestehen; auch hier vermögen wir
die verschiedenen Schichten des religiösen Denkens mühelos
von einander abzuheben. Die staatlichen Hundeopfer also, dies
leuchtet ein, machen das Hundeopfer der Lupercalia auch nicht
verständlicher.
Xun berichtet Plutarch an derselben Stelle, wo er das
Hundeopfer erwähnt (qu. R. 68. 111), daß solche Opfer typisch
griechische Reinigungsopfer wären: (68) rqt dh xvvi advxeg
as exog eliislv "EXXrjvsg ixQävro xal xQävxai ys pi'ixQi vvv
evioi 6(fuylG) TCQog rovg xa&uQ^ovg. Beispiele für diesen
Gebrauch liefert Schoemann-Lipsius, Griech. Altert. II 374, vgl.
Rohde, Psyche 'II 407; Nilsson, Gr. Feste S. 405, 3. Wir haben
also auch hier wieder einen Ritus, der sich aus griechischer Vor-
stellung ungezwungen erklärt, während seiner Herleitung aus römi-
schem Glauben Schwierigkeiten im Wege stehen, auch dieser
Ritus ist, wenn griechisch, ein kathartischer, auch er ist nur
bei Plutarch überliefert. Der Schluß scheint mir bündig: beide
Riten sind gleichzeitig aus griechischem Brauche übernommen
worden. Es hat einmal eine Erweiterung der Lupercalia in dem
Sinne stattgefunden, daß man den im Laufe der Entwickelung
allmählich ausgeprägten Charakter des Sühnfestes durch Ein-
führung kathartischer Begehungen dokumentarisch bestätigte.
Um dieses zur vollen Wahrscheinlichkeit zu erheben,
bedürfen wir des Nachweises eines parallelen Vorganges. Ein
solcher ist von H. Schenkl aufgezeigt worden, in den Rom.
Mitt. XXI 1906, 213flP. Er geht aus von Martial IV 64, 16f.
d qiiod virgimo cruore gaudet Annae pomiferum nemus Peren-
nae, in welchen Worten auf eine Lustration durch Umführung •
einer menstruierenden Jungfrau hingedeutet wird. Die Sitte M
ist Ovid unbekannt, und Columella, der sie erwähnt, be-
y
506 Liidmg Deubner C »
zeichnet sie als Dardaniae artes (X SfSS). Also auch hier ein
ausdrücklich als griechisch bezeichneter späterer Zusatz zu alt-
römischem Kult, und wieder schweigt Orid.
Eine Einzelheit findet vielleicht jetzt ihre Erklärung. Nach
dem bei Plut. Rom. 21 aus Butas geschöpften Bericht liefen
die Jünglinge, an denen die Wiedergeburtszeremonie vollzogen
wurde, mit den Luperci um den Palatin: xal tqsxslv rovg
«jro ysvovg toitg ifiJtodCovg rvjttovtag. Möglich ist, daß eine
Konfusion vorliegt, die bei der mehrfachen Filiation der Über-
lieferung nicht Wunder nehmen würde. Liefen sie aber wirklich
mit, so ist ein derartig unorganischer Anschluß an die alte
Sodalität der Luperci eben nur dann erklärlich, wenn der
Ritus mit den Jünglingen dazu trat, als der Umlauf längst
petrifiziert war. Da mochten sie dann mitlaufen und mit-
schlagen.
Haben wir ein Mittel, den Zeitpunkt näher zu bestimmen,
an dem die Erweiterung durch die griechischen Riten erfolgte?
Der Bericht des Plutarch (Rom. 21), der den Jünglings-
ritus und das Hundeopfer erwähnt, geht zurück auf den mehr-
fach erwähnten, obskuren Butas. Dieser hatte eine ätiologische
Darstellung der römischen Vorzeit in elegischem Versmaß
und griechischer Sprache gegeben und darin auch die Luper-
calia behandelt. Plutarch zitiert dieses Werk erst nach der
Schilderung des Ritus für einige Details der ätiologischen
Legende. Daß es jedoch auch jener vorausgehenden Schilderung
zur Grundlage gedient hat, ist äußerst wahrscheinlich. Viel-
leicht verrät dies auch der Ausdruck dnb ysvovg, der sowohl
in der Schilderung des Ritus wie in dem Zitat aus Butas be-
gegnet (vgl. auch Mannhardt a. a. 0. S. 78). Jedoch wird
dieses Kriterium hinfällig, wenn man eine lateinische Mittel-
quelle annimmt (s. u. S. 508). Von dem Werk des Butas ist
nur noch einmal in der antiken Literatur die Rede: Arnobius V 18
zitiert Butas in causalihus. Ein derartiges ätiologisches Ge-
dicht führt in die Zeit des Properz, der 'in Übereinstimmung
Lnpercalia 507
mit den Neigungen des Kaisers' (Rothstein, Properz II 165)
dieselben Stoffe behandelte. Dann ist es in der Tat möglich,
daß unser Butas mit dem Freigelassenen des jüngeren Cato
identisch ist (vgl. Knaack PW u. Butas Nr. 2), der in Plntarchs
Cato (70) bei der Schilderung der letzten Stunden des Freiheits-
helden erwähnt wird. Aus der Art, wie dieser Butas von Cato
als Bote benutzt wird, gewinnt man den Eindruck, daß er
damals, im Jahre 46, noch ein junger Mann gewesen sein
müsse; er kann also sehr wohl unter Augustus gedichtet haben.
Nun wissen wir, daß Augustus die Lnpercalia erneuert
hat: Sueton erzählt es (Aug. 31). Es ist einleuchtend, daß
die Restitution des Festes gleichzeitig mit der Wiederherstellung
des Lupercal erfolgt ist, Ton der das Monumentum Ancyranum
berichtet (IV 2 p. 20 Diehl). Diese Wiederherstellung fällt
in den Anfang der kaiserlichen Regierung (Wissowa a. a. 0.
S. 67). Augustus' reformatorische Tätigkeit in Kultangelegen-
heiten knüpfte zunächst an den graecus ritus an, er saß im
Vorstand der XFrin, ehe er, ziemlich spät, Pontifex maximus
wurde (Wissowa ebd.). Alles schließt sich zusammen: die
kathartischen Riten sind wahrscheinlich von Augustus bei der
Restauration des Festes zugefügt worden. Und wie einstmals
Tubero (bei Dion. I 80) es vermutlich unternahm, die Dreizahl
der durch die Luperci lulii vermehrten Sektionen der Sodalität
ätiologisch zu begründen^, so war wohl unter Augustus dem
Dichter Butas der Auftrag geworden, den neuen Sühnritus in
die Vorzeit Roms zurückzuspiegeln, was er denn auch —
ungeschickt genug — ausführte. Wie gut es Augustus ver-
stand, seine kultlichen Arrangements gelehrt begründen zu
lassen, das lehren am unzweideutigsten die Säkularspiele
(Wissowa a. a. 0. 364 f), und auch bei diesen handelt sich's
ja um griechischen Import.
Plutarch hat die Darstellung der neuen Riten nicht direkt
dem Butas entnommen. Sein Gewährsmann war der König
' Vgl. Unger a. a. 0. S. 51, 1.
508 Ludwig Deubner Lupercalia
Juba von Numidien. Ob wirklich, wie Litt (Rb. Mus. 59,
1904, 611f. 614) meint, das Material des Butas dem Juba
durch Verrius vermittelt wurde, wird sich schwerlich mit
Sicherheit entscheiden lassen. Gerade eine griechische Quelle
mußte dem griechisch schreibenden Juba bequem sein. Jeden-
falls hat der den Butas benutzende Autor das Zitat aus
C. Acilius beigefügt und seine eigenen Betrachtungen über die
Bedeutung des Hundeopfers daran geschlossen, wenn nicht
diese letzten Worte von Plutarch selbst herrühren. Für Ovid
ergibt sich, da er von dem Wiedergeburtsritus schweigt, daß
er höchstwahrscheinlich dem Yarro folgt (vgl. Willemsen De
Varronianae doctrinae apud fastorum scriptores vestigiis, Bonner
Diss. 1906, 32 ss.), nicht dem Verrius, der den Brauch wohl
sicher gekannt hat. Für seine Arbeitsweise ist es nicht un-
wichtig festzustellen, daß er wenigstens in diesem Falle sich
nicht bemüht hat, das von ihm beschriebene Fest selbst kennen
zu lernen (vgl. auch Teuffei -Schwabe, Gesch. d. röm. Lit.
P 570, 6; Schanz, Gesch. d. röm. Lit. II 1 ^ S. 215).
Ich hoffe, in der Hauptsache die Linien richtig gezogen zu
haben. Auch die Feste haben ihre Fata. Dieses hat seine Zähigkeit
bewiesen bis in die spätesten Zeiten des sinkenden Altertums
(Wissowa a. a. 0. S. 175). Am Anfang aber steht ein schlichter
Brauch einfältiger, um das Dasein kämpfender Urmenschen.
Ihres angstvollen Gemütes dumpfe Erschütterung hat Kreise
gezogen durch die Jahrhunderte.
Nordkaukasische Steingeburtsagen
Von A. von Lö'vris of Menar in Berlin
Ein kurzer Aufsatz in der russischen Zeitschrift „Etnogra-
ficeskoje Obozrenije" 20, 1908 Nr. 3, 88 — 92 über kaukasische
Parallelen zum phrygischen Mythus von der Geburt aus Stein
oder Erde veranlaßt mich die folgende, schon vor längerer Zeit
beendete kleine Untersuchung in etwas veränderter Gestalt zu
veröfifentUchen.
In der genannten Zeitschrift teilt N. S. T. (die Initialen
scheinen einen bekannten russischen Forschemamen zu decken)
zwei Sagen der Cecenzen und eine der Osseten mit, die von der
Geburt des Helden aus einem Stein, den menschlicher Same
befruchtete, berichten. N. S. T. erinnert an den phrygischen
Mythus vom hermaphroditischen Wesen Agdistis^ aus dem
Kreise der Kybelemythen und Vsevolod Miller wiederholt hierzu
in einer Anmerkung* seinen bereits in den achtziger Jahren
aufgestellten Vergleich mit Diorphos und dessen Vater Mithras,
die beide gleichfalls von Felsen geboren worden sind. Diese
und andere^ hierhergehörende Mythen zeigen in dem Haupt-
punkte eine Übereinstimmung mit den erwähnten nordkau-
kasischen Sagen, und N. S. T. vermutet daher, daß ursprünglich
auch in den kaukasischen Überlieferungen der Befruchter ein
Gott und das Produkt des geschwängerten Steines ein Zwitter-
geschöpf gewesen seien. Gestützt wird diese Annahme durch
einige Funde von bronzenen menschlichen Figuren in Ossetien,
die es wahrscheinlich machen, daß die Vorstellung von herma-
phroditischen Göttern einst auch dort nicht unbekannt gewesen
* Vgl. Roschers Äusführl. Lexikon I, 100; Gruppe Griechische
Mythologie II, 1528.
* Etnograf. Obozrenije 20, 3, 90 Anm. 1.
' Vgl. Röscher I, 1303 u. III, 1, 1030 über Erichthonios und Orion.
510 -^- ■^on Löwis of Menar
ist. Die interessanten Folgerungen sclieinen sehr beachtenswert,
und es ist zu hoffen, daß N. S. T. sein Versprechen, auf die
von ihm angeregten Fragen noch einmal zurückkommen zu
wollen, bald einlösen wird.
Meinerseits möchte ich im Folgenden auf eine andere
Quelle hinweisen, aus der die nordkaukasischen Sagen geflossen
sein könnten, und die, wie mir scheint, noch weit detailliertere
und wesentlichere Übereinstimmungen mit den Sagen aufzu-
weisen hat als die erwähnten kleinasiatischen Mythen.
Von den nordkaukasischen Varianten sind mir noch weitere
vier bekannt. Ich teile im Folgenden alle Fassungen teils gekürzt,
teils in vollständiger Übertragung mit, weil die russischen
Sammelwerke und Zeitschriften, in denen die Varianten
veröffentlicht sind, dem deutschen Leser schwer zugänglich
sein dürften, und beginne mit zwei kabardinischen Über-
lieferungen, von denen Kabard. I^ einige Zusätze enthält unc
in Einzelheiten verderbt ist. In Kabai'd. IP heißt es : „Sosrukoa
Mutter Setanej ging eines Tages an den Fluß um Wäsche zi
reinigen. Am andern Ufer des Flusses saß ein alter Hirt«
der sein Vieh weidete. Als er jenes Weib erblickte, -verliebt
er sich in ihre weißen Brüste und sprach: «Mein Same geht
zu dir, Setanej!» — Als er seinen Samen unwillkürlich siel
ergießen ließ, geriet dieser in einen Stein; Setanej bemerkt«
es, trug den Stein in ihr Haus und verwahrte ihn in einer
Kasten. Der Stein ward von Tag zu Tag größer; Setanef
kannte die Zeichen einer Schwangerschaft, und als der Stein |
groß geworden und neun Monate verflössen waren, brachte sie |
ihn in die Schmiede, als er aber zu bersten begann, ließ sie
ihn vom Schmied zerschlagen. Dieser blickte in das Innere
hinein: ein kleiner Knabe lag darin. Mit der Zange packte
ihn der Schmied an beiden Hüften und zog ihn hervor. Nach-
* Sbornik svedenij o KavTcazskich gorcach V, 1871, 3, 61.
* Sbornik materialov dl'a opisan. mestn. i plem. Kavkaza XII, 1891,
Kabardin. Texte [b. 3 ff.
Nordkaukasische Steingeburtsagen 511
dem man den B^naben herausgenommen hatte, erzog ihn Setanej
bis er ein Mann geworden war. Diejenigen Stellen der Hüfte,
an denen die Zange ihn berührt hatte, wurden knöchern.^"
Die Sage berichtet von der übernatürlichen Entstehung
eines Helden, was in dem Märchen- und Sagenschatz aller
Völker bekanntlich ein außerordentlich beliebtes Motiv ist, und
sie stellt die Geburt als die Folge eines Zustandes geschlechtlicher
Erregung dar, der zur Befruchtung eines Steines führt.* Es
ist nachzutragen, daß Kabard. I das Bild weiter ausschmückt
und erzählt: auch die Frau habe zu gleicher Zeit am eigenen
Leibe die Zeichen der Schwangerschaft verspürt, doch kommt
es zu keiner Entbindung, die der Steingeburt parallel liefen.
Dagegen hat die Fassung eine Erklärung für die Unverletzlich-
keit des Knaben, von der in den Sagen oft die Rede ist, in-
dem sie berichtet, daß er glühend wie das Feuer aus dem Stein
gekommen und in den Fluß getaucht worden sei und dadurch
einen Körper hart wie Stahl erhalten habe^, doch fehlt in der
Überlieferung das Wachsen des Steines und das Motiv der
einen verwundbaren Stelle an den Hüften.
Eine dritte Sage findet sich bei den Cecencen.* Sie
berichtet zwar von der Geburt des Stammvaters der noch heute
existierenden Familie Gazdijev oder Bazorkin, doch stimmt
die Sage in allen wesentlichen Punkten so genau mit den
Varianten über die Geburt des Helden Sosruko überein, daß
an einer späteren Übertragung, die Ahnenstolz veranlaßt haben
mag,, nicht gezweifelt werden kann, Cec. I lautet folgender-
' D. h. verwundbar, vgl. Sbornik mater. XII, 1, 46.
* In Kabard. I läßt der Hirte durch Selbstbefriedigung verbunden
mit Exhibition seinen Samen in den Stein gelangen.
' Ahnlich heißt es von Aehilleus, worauf Professor F. v. der Leyen
mich aufmerksam machte, daß er von Thetis ins Feuer gehalten worden
sei, um sein vom Vater überkommenes sterbliches Teil zu tügen (vgl.
Mannhardt WFKII, 52).
' = Cec. I, Etnograf. Obozr. XHI, 1901, 1, 36 f. (= N. S. T. in Etnogr.
Obozr. XX, 3, 89.)
512 ^- ^on Löwis of Menar
maßen: „In der Nähe einer Ortschaft befand sich ein gespaltener
Stein. Ein junger Mann legte sich auf den Stein und ent-
schlummerte. Zu dieser Zeit ging das von ihm geliebte Mädchen
an ihm vorüber; er erblickte sie im Traum und wohnte
ihr bei: sein Same gelangte in den Spalt des Steines. Als der
junge Mann aufgestanden war, schloß sich der Stein, und an
seiner Oberfläche bildete sich ein Knollen. Der junge Mann
fragte wissende Leute: «Was bedeutet das?» Man antwortete
ihm, er solle stets auf den Stein achtgeben. Der Knollen
wuchs seitdem fortwährend, im neunten Monat barst er, und
ein Kind kam aus ihm hervor. — Von diesem Kinde stammen
die Gazdijev (oder Bazorkin) ab."
Das interessante Traummotiv in dieser Variante ist sicherlich
ein wirkungsvoller Zug und gibt eine nicht ganz so rohe
Erklärung der Steinbefruchtung, als sie die oben besprochenen
Fassungen bieten, allein ist es ursprünglich? Ich glaube im
weiteren Verlauf der Untersuchung^ diese Frage bejahen zu
dürfen, weil die Analogien jüdischer und persischer Über-
lieferungen dafür zu sprechen scheinen. Hier möchte ich noch
bemerken, daß das Traummotiv, wie ich von ärztlicher Seite
belehrt werde, rein physiologisch genommen die ursprünglichere
und typischere Erklärung für den Samenerguß gibt. Die Vor-
gänge in den übrigen Fassungen schildern geradezu gewisse
Schwäche- und Krankheitszustände und weisen mehr auf eine
singulare Entstehung der betreffenden Züge, die vielleicht da-
zu bestimmt waren, das vergessene Traummotiv zu ersetzen.
Bemerkenswert ist auch die Anschauung von dem Einfluß
der nahen Geliebten auf den Schläfer; hier scheint der Versuch
einer rationalen Erklärung für die Entstehung des Traumes
gemacht zu sein. Den Traumgeliebteu kennen ja auch dii^
Märchen; sie steigern jedoch die Fern Wirkung ihrem Stile getreu
bleibend bis ins Ungemessene und erzählen etwa, daß ein
Jüngling und in fernen Landen ein schönes junges Weib
' Vgl. unten S. 621.
Nordkaukasische Steingeburtsagen 513
einander gleichzeitig im Traume erblicken und in Liebe zum
unbekannten Bilde entbrennen.^
Cec. IP hat an Stelle des Traummotivs denselben Zug
wie Kabard. II. Die Fassung lautet: „Ein Mädchen melkte
Kühe; nahe dem Orte wo dieses geschah, befand sich ein
blauer Stein. Ein junger Mann, der jenes Mädchen liebte,
setzte sich auf den Stein und während er auf die Geliebte
schaute, geriet er in Erregung, wodurch in ihm etwas geschah,
und daraus entstand im Stein der Fötus Soska-Solsas. Die
heilige Frau Seli-Sata wußte davon; sie ging hin, zerschlug
den Stein und hob den Soska-Solsa heraus."
Es sind uns ferner noch drei osetische Fassungen' über-
liefert, die in Einzelheiten von einander abweichen. So erzählt
Oset. I, daß eine Frau mit Namen Satana ihre Hosen auf
einem Steine ausgebreitet hatte, auf die Vastirdzi harnte.
Dadurch, heißt es, gelangte in den Stein die Seele des nach-
maligen Helden Sozriqo.* — In der lückenhaften Überlieferung
Oset. II ist es die Frau des Helden Xämits, die mit ihrer
Wäsche beschäftigt ist. Ein Hirte auf der anderen Seite des
Flusses verliebt sich in sie, lehnt sich an einen Stein, — und
in dessen Innern entsteht der Knabe Soslan, der durch (Waschen ?
mit) Wolfsmilch unverwundbar gemacht wird.
Oset. III ersetzt in echt märchenhafter Weise den Fluß
durch das Schwarze Meer und erzählt, daß der Hirte Tel'ves
1 Vgl. Rohcle Griech. Boman 1876, l^'fiF. Gruppe Griech Mythol. II,
1357 Anm. 2. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 15, 325 Anm. 2.
* Etnograf Ohozr. 13, 1, 35 (=N. S.T. in Etnogr. Obozr. 20, 3, 89).
» Oset, I = Miller Osetinskije etjudy I, 1881, 29f. = N. S. T. Etnogr.
Obozr. 20, 3, 90, übers, von Hübschmann Zeitschrift d.d. morgenl. Ge-
seUsch. 41, 1887, 547. Oset II = Miller a. a. 0. 147. Oset. III = Sbornik
sved.o Kavkaze I, Tiflis 1871, S. 172, vgl. Miller Etnogr. Obozr. 20,
3, 90 Anm. 1.
* Über die hier genannten Personen aus den osetischen Heldensagen
findet man nähere, aber dem jetzigen Stande der Forschung nicht mehr
genügende Zusammenstellungen bei Hübschmann Zeitschr. d. d. morgenl.
Gesellsch.il, 525 flF. and 534.
Archiv f. BeligionswiBienBchaft Xm 33
514 -^^ ■^oJi Löwis of Menar
vom jenseitigen Ufer aus die Satana erblickte und ihr unziem-
liche Anträge machte: „Satana war einverstanden, doch infolge
der riesigen Entfernung fiel der Same auf einen Stein, aus
dem Batraz geboren wurde." Eine recht ausführliche, ja sogar
mit Nebensächlichem etwas belastete Fassung, die mit den
beiden Kabardinischen Varianten viele Motive gemeinsam hat,
ist im Kreise Pjatigorsk bei den Bergtataren aufgezeichnet^,
deren Sitze unmittelbar neben denen der Kabardiner liegen:
„Es lebte einst ein Hirte mit Namen Sodzuk. Ais er einmal
am Ufer des Flusses Edil' Schafe weidete, erblickte er auf der
gegenüberliegenden Seite die schöne Fürstin, die wahrsagende
Satanoj. die (dort) Wäsche wusch. Sodzuk lehnte sich an
einen Stein, betrachtete mit Wohlgefallen die blendendweißen
Hände (der Fürstin) und ließ sich von ihrer Schönheit hin- M
reißen. Da bildete sich auf dem Stein, an den er sich lehnte,
der Fötus eines Kindes. Die wahrsagende Satanoj fühlte
dies auch selbst und war sehr erfreut, weil sie kinderlos war.
Mit größter Sorgfalt begann sie den Zeitpunkt zu berechnen,
an dem man das Kind aus dem Stein würde herausnehmen
können. Im Laufe dieser Zeit bestellte Satanoj beim Schmiede
Deuet 60 Hämmer. Als der letzte Tag der Frist angebrochen
war, bat sie 60 junge Leute sie zu begleiten, nahm eine
Menge Getränke mit sich und ging zu dem ihr bekannten
Stein, auf dem sich schon eine große Beule gebildet hatte.
Die jungen Leute machten sich sofort ans Werk: mit großer
Vorsicht behauten sie die Beule von allen Seiten. Als nun
Satanoj sah, daß nur noch eine ganz dünne Schicht nach-
geblieben war, machte sie in der Zeit der Erholung alle jungen
Leute trunken, wodurch sie rasch einschliefen; darauf behaute
sie behutsam die nachgebliebene Schicht und nahm ohne be-
sondere Schwierigkeit das Kind heraus, das einen Schopf
^ Sbornik mater. dl'a opis. mestn. i plem. Kavkaza I, 2, 37 f. In den
Besitz einer Abschrift von dieser Variante bin ich durch die liebeuswürdiga
Vermittlung des Herrn Priv. - Doz. Rudnev in St. Petersburg gelangt.
Nordkaukasische Steingeburtsagen 515
ähnlicli einem Kamm auf dem Kopfe hatte und Beine so dünn,
wie ein Bratspieß. Satanoj übergab das Kind den Dzinn zur
Erziehung, die seinen ganzen Korper wie Stahl härteten, aus-
genommen die beiden Kniee. So wuchs das Kind mit Namen
Sosruko bei den Geistern heran, die es in jeder Nacht der
Satanoj brachten, damit sie es sehen konnte. Das dauerte so
lange, bis es groß geworden war."
Die vorliegenden Varianten der Steingeburtsage geben ein
in den Hauptpunkten einheitliches Bild. Wenn man einige
Abweichungen übergeht und Nebensächliches abstreift, bleibt
als typisches Schema etwa Folgendes: die Schönheit einer
Frau bewirkt in ihrem Bewunderer, der auf einem Steine sitzt
oder liegt, eine geschlechtliche Erregung. Des Mannes Same
gelangt in den Stein, befruchtet ihn und erzeugt im Innern
einen Knaben, der nach neun Monaten durch Zerschlagen des
Steines zur Welt befordert wird.
Im Mittelpunkt der Sagen steht der wunderbare Stein, dem
weiblich-anthropomorphe Eigenschaften zugesprochen werden.
Diese Vorstellung ist eine weitverbreitete^ und sicherlich primitive,
fiirGebirgsvölker, wie alle an Steine anknüpfenden Sagen, vielleicht
besonders charakteristisch. Analog der Überzeugung von einem
Kommen des Menschen aus der Erde ist bei manchen Völkern
an eine Entstehung aus Fels und Stein geglaubt worden.'
Das war sicherlich auch die Grundlage für die nordkaukasischen
Sagen, wenn sie auch deutliche Spuren des Verfalls, des all-
mählichen Verschwindens dieses Glaubens bei aufsteigender
kultureller Entwicklung seiner Träger zeigen. So berichten
die Überlieferungen nicht von der Geburt des ersten Menschen
oder von der Entstehung eines Volkes oder Stammes', son-
dern von einem bestimmten, besonders bewunderten Helden,
' Tylor Anfänge der Cultur, übers, von Spengel und Poske II, 163.
' A. Dieterich Mutter Erde 64.
' Nur in Cec. I ist der Steinentspningene auch der Stammvater
einer bestimmten Familie.
88*
516 A. von Löwis of Menar
dem Ahnenstolz und Verehrung wohl gerne einen ähnlich
übernatürlichen Ursprung zuweisen mochten, wie er einst vom
Stammvater des ganzen Volkes geglaubt worden war. Die
Sagen unterstreichen das Verschwinden dieses Glaubens in
naiv -anschaulicher Weise noch dadurch besonders, daß sie be-
richten, nur die „heilige Frau Setanej" oder „wissende Leute"
kannten das Geheimnis des gebärenden Steines, dem das
profanum vulgus, die jüngere Generation verständnislos
gegenüberstand.
Der auffallende Zug der Sagen von der Befruchtung des
Steines durch menschlichen Samen findet sich, wie oben
bereits erwähnt, auch in kleinasiatischen Mythen. Wichtiger
jedoch für die Genesis der kaukasischen Überlieferungen scheint
mir eine Sage, die Liebrecht in seinen Anmerkungen zu
Gervasius von Tilbury nach d'Herbelot zitiert^ und die folgender-
maßen lautet^: Adam s'etant endormi, et ayant le visage d'Eve
sa femme fortement imprimee dam son imaginaUon , crut
Verribrasser. Cette Image amoureuse causa en lui le meme effet
que la veritäble possession aurait pu produire; de sorte que la
semence feconde de ce premier pere des hommes etant tomhee ä
terre, ü s'en forma une plante, qui prit la figure humaine et
devint enßn le Caiumarath dont nous parlons.
Hier findet sich das Traummotiv wieder, das auch in
Cec. I enthalten ist^, doch ohne den Zusatz vom Vorbeigehen
der Frau. d'Herbelot erzählt die Sage nach einer alten Ge-
schichte oder einem Roman Caiumarath Natneh und meint,
daß sie „mit den Träumereien der Rabbinen" viel Ähnlichkeit
habe. Das ist in der Tat eine durchaus richtige Beobachtung,
die wir sogleich bestätigt finden werden.
Die Befruchtung des Steines wird in allen kaukasischen
Sagen auf die geschlechtliche Erregung eines Mannes zurück-
* Otia Imperialia S. 70.
* In der deutschen Ausgabe von d'Hei'belota Orientalischer Bihliothfk
(HaUe 1786) II, 78. » Vgl. oben S. 612. .
Nordkaukasische Steingeburtsagen 517
geführt, die durch die Schönheit einer Frau hervorgerufen
worden ist. Hier bewirken also die Reize eines lebendigen
weiblichen Wesens dasselbe, wie die Schönheit eines steinernen
Frauenbildnisses in den spätjüdischen Traditionen vom Anti-
christ. Satan erzeugt allen einschlägigen Überlieferungen zu-
folge (mit Ausnahme des Midrasch vajoscha) den Armilus =
Antichrist aus einem Stein ^, dem mehrere Zeugnisse die Gestalt
eines schönen Mädchens zuschreiben.*
Die Übereinstimmung der beiden Sagenkreise geht in den
wichtigsten Zügen bis in die kleinsten Details. Man vergleiche
Eisenmenger II, 705, wo nur an Stelle Satans die Gemeinschaft
der Gottlosen tritt: „Es wird gesagt /dass in Rom ein Marmel-
stein sey/ welcher die Gestalt einer schönen Jungfrauen habe/
und nicht durch Menschenhände gemacht / sondern von dem
heiligen gebenedeyeten Gott durch seine Ej-afft also erschaffen
sey: und dass die gottlosen Bösewichter unter den Völckern
der Welt solchen St^in erhitzen /und mit demselben Unzucht
treiben werden /und Gott ihren Saamen in demselben be-
wahren/und aus demselben eine Creatur erschaffen / und ein
Kind formiren werde/und dass der Stein sich nachgehends
spalten /und aus demselben die Gestalt eines Menschen
kommen werde / welcher Armillus heisset. Dieser wird der
Widersacher seyn / welchen die Yölcker den Antichrist
nennen." Auch eine Episode aus der Yirgilsage^ gehört in
den gleichen Anschauungskreis, sowie die Erzählung vom
Astrolabius in der Kaiserchronik.*
' ßousset Der Antichrist. Gott. 1895, S. 68.
* Sam. Krauß Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen. Berlin 1902,
S. 217. 291 Anm. 10. Eisenmenger Entdecktes Judentum II, 705. 709.
' Vgl. die Fassung bei Praetorius Anihropodemus Plutonicus etc. I,
Magdeb. 1666, S. 250 = Liebrecht in Pfeiffers Germania X, 414. Krauß
a. a. 0. 217 u. 291 Anm. 11. Güdemann Geschichte des ErzieMmgstcesens
etc. Wien 1884, S. 220 u. 332 f., dazu die Literaturangaben S. 332 Anm. 15. —
Nach Krauß dürfte eine Beeinflussung der Virgilsage durch die Armilus-
sage wahrscheinlicher sein, als der umgekehrte Fall, den Güdemann
verteidigt. * Vers 13 117 ff.
518 A.. von Löwis of Menar
Über d'Herbelots Quelle habe ich nichts Näheres in Erfahrung
bringen können, doch enthält sie augenscheinlich Motive der
persischen Eschatologie, die sorglos durcheinander geworfen
sind. Nur ist es hier nicht Adam, dessen Same auf die Erde
fällt und eine Pflanze erzeugt, sondern aus Gayomards, des
parsischen Urmenschen Samen entsteht 40 Jahre nach seinem
Tode das erste Menschenpaar, Mashya und Mashyana in Ge-
stalt einer Reivaspflanze.^
Wenn nun d'Herbelot in seiner vermutlich persischen
Quelle Anklänge an rabbinische Traditionen findet, so bestätigt
sich das vollkommen, wenn man die spätjüdischen Berichte
vergleicht, die über die Zeit der Trennung Adams von Eva
handeln. Da heißt es z. B., daß Adam mit zwei weiblichen
Geistern, die sich zu ihm gesellten, Teufel und Nachtgespenster
erzeugte^ und weiter, daß während dieser Zeit die gottlose
Lilith zu Adam gekommen sei „wider seinen Willen / und
wurde von ihm . . . beschlaffen / und gebar von ihm viel
Teuffei / Geister und Nachtgespenster".' Wie dieses „wider
seinen Willen" aufzufassen ist, dafür erhalten wir sofort die
Erklärung, es seien dies alles Traumgespenster*, die sich die
hilflose Lage des Menschen im Schlaf zu nutze machten um
ihn zu schädigen und für sich selbst Nachkommenschaft zu
erzielen, indem sie ihn zu einem fiktiven Beischlaf nötigten
Es sind also erotische Traumsagen, von denen die persische
und die jüdischen Überlieferungen berichten, wie sie ja auch
anderen Völkern nicht fremd sind.^
^ Bundehesh cap. 15. Windischmann Zoroastr. Studien hrsg. von
Spiegel, 1863, S. 213 fF. Bousset Hauptprobleme der Gnosis (Gunkel-
Bousset Forschungen etc. H. 10), Göttingen 1907, S. 205. — Gayomard
wird übrigens auch noch in einer anderen Überlieferung als Sohn Adams
bezeichnet: in Sehir-eddins Geschichte von Tabaristan, Rujan u. Masan-
deran (nach Ferd. Justi Iran. Namenbuch, Marburg 1895, S. 109).
* Eisenmenger a. a. 0. I 374. 461. II 412 — 415.
» Ebda. I, 461. II, 413. 414. * Ebda. II, 409. 422. 423 usw.
" Röscher Ephialtes 9. 17. 30 (in den Abhandl. d. Sachs. Ges. d.
Wisaensch. XX, 1900).
Xordkaukasische Steingeburtsagen 519
Während in den iranischen Quellen die Drukhs^ oder
Drujas^ die Traumerscheinungen hervorbringen, sind es der
jüdischen Anschauung nach Lilith und andere weibliche Geister.
Das sinnliche Traumbild', das ein jeder aus eigener, sich öfter
wiederholender Anschauung kannte, hat den Menschen, auf je
tieferer kultureller Stufe er stand, desto stärker beunruhigt
und eine Erklärung gefordert; daß sie „übernatürlich" aus-
gefallen ist, stimmt zu allem, was wir von der mythologischen
Denkweise der Vorzeit wissen. Der zugrundeliegende Glaube
dieser Erklärung ist augenscheinlich folgender: der den Körper
des Menschen im Schlaf verlassende Same verkommt nicht
nutzlos, sondern erzeugt dämonische Wesen, wobei man sich
analog der wirklichen Zeugung einen weiblichen, den Samen
empfangenden Teil, man mochte fast sagen, zudenken mußte,
denn man sah und fühlte ihn ja mit lebhafter Deutlichkeit im
Traume. Die jüdische Angelologie ist von der persischen
ungemein stark beeinflußt, ja sogar zum größten Teil von
dorther bezogen, wie Kohut a. a. 0. nachgewiesen hat. Für
die Antichristtradition, wie sie in den oben zitierten Fassungen
vorliegt, läßt sich das wohl nicht mit der gleichen Sicherheit
behaupten, aber ist sie nicht auf demselben Glauben begründet
wie die persisch -jüdischen Anschauungen über erotische
Träume? Denn auch die Armilussage berichtet von nichts
anderem als Pollutionen im Schlaf*, die durch die Schönheit
der Steinfigur hervorgerufen werden, wobei nur der eine Um-
stand zunächst unerklärt bleiben muß, aus welchem Grunde
nämlich die Dämonin durch das Marmorbild einer Jung-
frau ersetzt worden ist. Dieser immerhin lückenhaft« Zu-
sammenhang ist jedoch für die nordkaukasischen Überlieferungen
* Windischmann Zoroastr. Studien 32. — Nach armenischem Glauben
sind es Teufel, s. Haxthausen Transkaukasia, Leipzig 1856, I, 325.
* Kohut Über die jüdische Angelologie etc. Leipzig 1866, S. 60.
' Vgl. Röscher a. a. 0. 38 über ovstgcayfioi, insomnia Veneris.
* Vgl. besonders Jellinek Bet-ha- Midrasch II, 60. Krauß Lehen
Jesu 291 Anm. 10.
520 ■^' "^^^ Löwis of Menar
von geringerer Bedeutung, da gerade sie der rabbinischen
Steintradition näher stehen, als der persischen Sage vom
Urmenschen. Dieses Zusammentreffen ist gewiß kein zufälliges,
denn die Geschichte und die Beobachtungen zahlreicher Ethno-
logen bestätigen es, daß jüdischer Volksglaube schon in sehr
früher Zeit im Kaukasus heimisch und den dortigen Ein-
geborenen bekannt werden konnte. Bereits Uslar und dann
Pfaff und Seidlitz hatten bemerkt, daß viele kaukasische Völker
sich mit eingewanderten Juden stark vermischt haben ^ und die
neueren Forschungen bestätigen dieses nachdrücklich. Demnach
sind die Juden spätestens im 2., 3. Jahrhundert v. Chr. in
den Kaukasus gekommen, sitzen um 700 n. Chr. in der Gegend
nördlich von Derbent und haben sich einesteils besonders
mit nordkaukasischen Völkern (Cecenen, Lesgiern) vermischt,
während sie andererseits bis auf die Neuzeit gesondert und in
Gruppen beisammen wohnen und ihrer Religion treu geblieben
sind.^ Nach Erckert ist die Provinz Dagestan „von durch-
weg auffallend jüdischen Physiognomien" eingenommen; er
hat am Kuban Juden angetroffen und in den Gegenden nörd-
lich von Dagestan eine starke Beimischung jüdischen Blutes
bei den Eingeborenen bemerkt.^ Ferner berichtet auch ein
Cerkesse, daß er in der Lebensweise, den Sitten und Gebräuchen
seiner Landsleute viel Ähnlichkeit mit den Juden gefunden
habe ^ Die Nachweise, deren Zahl sich noch leicht vermehren
ließe ^, bestätigen somit, daß eine, nur bisher leider noch nicht
genauer untersuchte Beeinflussung des Volksglaubens nord-
kaukasischer Stämme durch den der eingewanderten Juden
stattgefunden hat. Dafür scheinen auch die auffallenden Über-
einstimmungen der eschatologischen Tradition der Juden mit
^ Ausland 1874 Nr. 45, S. 897.
* Erckert Der Kaukasus und seine Völker 1887, S, 299. 301.
«Erckert S. 362.
* Vgl. Seidlitz im Ausland 1874 Nr. 46, S. 897.
" Vgl. noch Archiv f. Anthropol N, F. Bd VIII, 237 — 246.
Nordkatikasische Steingeburtsagen 521
den kaukasischen Steingeburtsagen zu sprechen. Die Summe
der übereinstimmenden Details besonders in der Schilderung
der Zeugung, Entwickelung und Entbindung des Kindes ist
so groß, daß, wenn auch eine direkte Abhängigkeit nicht ge-
sichert erscheint, die Möglichkeit einer Wanderung und Um-
formung des Erzählstoffes nicht ohne weiteres abzuweisen ist.
Es wäre in diesem Falle der interessante Vorgang zu be-
obachten, daß ein altes Motiv des Volksglaubens in seiner
inneren Haltung auf fremdem Boden der Sage angepaßt und
zu einem schmückenden Ornament der bereits in das Gebiet
des Märchens hinübergleitenden Geburtsgeschichte heldischer
Ahnen geworden ist.
Geht nun der gesamte Steingeburtsagenkreis sowohl auf
jüdischem wie nordkaukasischem Boden im letzten Grunde auf
Traumvorstellungen und -Erlebnisse zurück, so erscheint die
Vermutung, daß unter allen kaukasischen Fassungen lediglich
Cec. I^ in ihrem Traummotiv einen ältesten und für das Thema
wesentlichen Zug gewahrt hat, nicht mehr so gewagt, und
nur den Mängeln der Überlieferung wäre es dann zuzu-
schreiben, daß die Feststellung, wo und warum der Zug aus
dem Sagenkreise verschwunden, nicht möglich ist.
Zum Schluß wäre noch zum Vorgang der Zeugung und
der Entbindung aus dem Stein in den kaukasischen Sagen
einiges mitzuteilen. Es findet sich in fast allen Fassungen die
Angabe, daß der Stein mit Gewalt geöffnet werden muß, um
den im Innern entstandenen Knaben an das Tageslicht zu
befördern. Ahnliches berichtet die Überlieferung von der Ent-
bindung des Helden Batraz, von dem in Oset. 111 bereits die
Rede war.- Zahlreiche Sagen erzählen nämlich, daß seine
Mutter durch Spucken^, Anhauchen* oder auf nicht näher
* Vgl oben S. 512. * Vgl. oben S. 514.
' Sbomik sved.o Kavkaze I, Tiüis 1871, S. 163 f. Sbomik sved.o
KavTiazskich gorcach V, 3, 31.
* Miller OsetinsJcije etjudy I, 17.
522 -^- ^0*1 Löwis of Menar
beschriebene Weise ^ am Rücken ihres Gatten Chamic ein Ge-
schwür hervorbrachte^, aus dem nach neun Monaten Batraz
herausgeschnitten werden mußte. — Das weitverbreitete
Zaubermittel, der Speichel^ des Menschen ist hier eigenartig
verwendet. Zeugende Ejraft wird ihm in Sage und Märchen
oft zugesprochen'^; in ihm oder lediglich durch Anhauchen
kann die Lebenskraft übertragen werden.* Liebrecht zitiert
in seinen Anmerkungen zu Gervasius" eine haitische Parallele,
die mit den kaukasischen Sagen in dem hier in Frage
kommenden Punkt aufs Genaueste übereinstimmt.
^ Sborn. sved. o KarJc. gorc. IX, 2, 8. Miller Oset. et. I, 148.
' Meist geschieht es deswegen, weil diese Frau, eine durchaus
märchenhafte Gestalt (Tochter des Meerkönigs, vgl. Sborn. sved. o KarJc.
gorc. IX, 2, 8), vom Unfriede stiftenden Sirdon erblickt worden ist oder
weil ihr dieser das Schildkrötenhemd geraubt hat. Sie muß nun ihren
Gatten verlassen und dahin zurückkehren, von wannen sie gekommen ist,
doch „übergibt" sie vorher auf die angegebene Weise ihrem Manne das
von ihr bereits empfangene Kind.
' Wuttke Der deutsche Volksaherglaube' s. v. „Speichel" und
„Spucken". Wundt Völkerpsychologie 2, 2, 19. Rohde Der griech. Roman
1876, S. 266. Gruppe Griech. Myth. II, 890 Anm. 4. Potanin Vostocnyje
motivy 164 Anm. 2. Sborn. sved. o Kavk. gorc. Yll, Anhang S. IG. Etn.
Obozr. XIII, 1901, 1, 62 f. — Vgl. auch oben S.613, wo dem Harne Zeugungs-
kraft zugeschrieben wird.
* F. V. d. Leyen in Herrigs Archiv 114, 5. Ijiebrecht Zur Volkskunde
79, 304 Anm. 3. Dähnhardt Natursagen I und II, s. v. „Speichel".
Pütanin a. a. 0. 264; derselbe Ocerki severo-zapadnoj MongoUi IV,
St. Petersburg 1889, 277 und 279. Etn. Ob. XII, 1900, 4, 69f.: aus
Gottes Speichel und in einer Variante aus seinem Husten entsteht die
Quäkerente (Satan). — Ein Geisterkuß verursacht bei Firdusi das
Herauswachsen zweier Schlangen aus der Schulter des Königs Sohak,
vgl. Buss. Bevue 23, 1883, S. 203. Görres Heldenbuch v. Iran Berlin
1820, I, 18f. — Zu gebärenden Körperteilen vgl. Grimm MytJioI.* I,
466. 473. Schirren Wandersagen 135. Nahe stehen diesen Mythen die
Schöpfungen aus Körperteilen. Zu Grimm a. a. 0. I, 473 über Imir vgl.
die indischen Spekulationen, über die Näheres bei Bousset Hauptprobleme
der Gnosis (Forschungen H. 10 Göttingen 1907) S. 209 ff., bes. 211 Anm. 1.
^ Bethe Bhein. Museum N. F. Bd 62, 462. Vgl. Negelein Archiv
f. Bel.-Wiss.Yl, 326 zum „Einblasen" der Seele.
« S. 71 Anm. 2.
Nordkaukasische Steingebxirtsagen 523
Dort sind es vier Brüder, Ureinwohner von Haiti, die ruhe-
los umherirren, nachdem sie durch Zerbrechen eines Kürbisses
die große Sintflut verursacht haben. Sie bitten einen Bäcker
um Brot, dieser speit jedoch voll Zorn den ersten der Brüder
so heftig an, daß an diesem eine große Geschwulst entsteht,
die mit einem scharfen Stein aufgeschnitten wird und ein Weib
hervortreten läßt. — Auch die Steingeburt in Cec.I (s. oben S.512
und 514), wo von einem Knollen, der sich auf dem Stein bildet,
erzählt wird, gehört hierher. Diese Fassung beweist, daß der Stein-
geburtsagenkreis und die „Spuckgeburt" nicht ohne gegenseitige
Beeinflussung geblieben sind, daß die einzelnen Motive vertauscht
und bald diesem, bald jenem Kreis anhaften konnten. Die Sagen
beweisen femer aufs Schlagendste, daß „Speien" auch dem halb-
kultivierten Nordkaukasier gleich „Zeugen" galt.
Der Zug von der gewaltsamen Befreiung des nachmaligen
Helden bei seiner Geburt ist ein entschieden typischer und
ursprünglicher, weil in fast allen Sagen zu finden. Er fehlt
nur in Cec. I, wo es heißt, daß der Knollen auf dem Steine
barst und in der auch sonst sehr lückenhaften Fassung Oset. HI.
Dieses Herausschneiden oder -schlagen finden wir auch in
Schöpfungsagen kaukasischer und ural- altaischer Völker. So
erzählt eine svanetische Überlieferung, daß Gott zu Anfang in
einem Felsen war, den er zerspaltete, weil er es müde war
allein zu sein.* Besonders aber ist es der Teufel, den man
sich steinentsprungen dachte und dem Gott durch Zertrümmern
des Steines, oft gegen den Rat der Engel, zum Leben verhilft ^
• Dähnhardt Katursagen I, 32.
' Dähnhardt I, 33 Anm. 1 u. 33; ebda. S. 61 wird Saitan der
mordvinischen Sage zufolge aus einem Berge herausgeschlagen; vgl.
auch a. a. 0. S. 31 die georgische tJberHeferung , wo Sammael unter
einem Blaustein hervorgeholt wird. — Femer: Sbom. mater. XVII 2, 144
Anm. 1 (svanet.) ; Smimov VotjaJci (Kazan 1890) S. 239, wo dem Schaitan
aus den Splittern des Steins Gefährten entstehen. — Die Sagen, in denen
Satan durch Funkenschlagen aus Steinen andere Teufel erschaflft (vgl.
Dähnhardt I, 60. 62. 67), scheinen zu sehr auf den Eigenschaften des
Feuersteins zu beruhen, um hier herangezogen werden zu können.
524 -A-. von Löwis of Menar Nordkaukasische Steingeburtsagen
und somit die Stelle des Schmiedes (in Kabard. II) oder der
weisen Frau Satana (in Kabard. I, Oset. I und Öec. II) vertritt.
Ich wage keine Vermutung über den Ort der Entstehung
dieser Sagen und möchte auch nicht behaupten, daß sich in
den nordkaukasischen Sagen Spuren von Beeinflussung nach-
weisen ließen, denn aus der Überlieferung vom gebärenden
Stein konnte sich sehr wohl die Anschauung selbständig ent-
wickeln: das Kind müsse aus der es umgebenden starren
Steinmasse mit Gewalt befreit werden. Allein jene Schöpfungs-
mythen erweisen die Stabilität des in Frage stehenden Motives
und bestätigen wiederum den primitiven Volksglauben an ein
Kommen lebender, in diesen Fällen dämonischer Wesen aus
Stein oder Fels, der nach allem hier Mitgeteilten sehr ver-
breitet und im Bewußtsein einer großen Anzahl von Völkern
fest haftend gewesen ist. Die kaukasischen Sagen aber zeichnen
sich noch ganz besonders dadurch aus, daß sie die lebhafteste
und anschaulichste Wiedergabe des Vorganges der Entstehung
aus Stein enthalten, die überhaupt denkbar ist, denn sie er-
zählen die Steingeburt bis in geringste Details getreu den
wohlbekannten sich oftmals wiederholenden Erfahrungen, die
auch der primitive Mensch bei der Geburt seiner eigenen
Kinder machte. Diese charakteristische Bewahrung der ge-
gebenen nächstliegenden Analogie ist ein wertvoller Zug
unserer Sagen, er verrät ihr hohes Alter und ist wichtig für
das Verständnis des Volksglaubens der nordkaukasischen Halb-
kulturvölker.
Der Ursprung des Judicium offae
Von Adolf Jacoby in Weitersweiler
Das Hauptwerk über die Gottesurteile, Federico Patetta's
Le Ordalie, gibt über die Entstehung und den Ursprung des
Judicium offae folgende Erläuterung^: „Judicium offae (panis
adjurati, casibrodeum, corsnaed, nedbraed (anglosass.), corbita
(fris.), offa judicialis, caseus execratus). In questa prova, l'ac-
eusato doveva trangugiare una quantitä determinata di pane
e di cacio e se non lo poteva, era convinto. Se non erro, solo
le leggi anglo - sassoni prescrivono questa forma d'ordalia,
ma essa e usata anche in Francia, nella Frisia, e non e sco-
nosciuta in Germania, come lo provano gli ordines, e la stessa
espressione, che vi si mantiene tuttora: daß mir das Brot im
Halse stecken bleibe.
Wilda, per sostenere l'origine cristiana del Judicium offae,
osserva che esso rassomiglia assai alla prova delle acque amare
del vecchio testamento, ciö che e assolutamente falso, sia che
si guardi i casi in cui si usa, o il modo in cui si compie, od
infine gli effetti che produce. Si puö invece giustamente para-
gonare alla prova del riso usata nell' India."
Daß diese Herleitung falsch ist und Wilda, wenn auch
nicht mit seinem Vergleich mit der Probe des „verfluchten,
bittem Wassers" Num. 5,12 fg., so doch Recht hatte mit der
Annahme christlichen Ursprungs der Probe mit dem geweihten
Bissen, soll im folgenden erwiesen werden.
Ebensowenig aber, wie die Herleitung aus Indien, läßt
sich die andere von Kober* vertretene Ansicht halten, daß die
Probe aus England stamme und von da erst nach Friesland,
Frankreich und in die Gegenden des Unterrheins kam. Eine
* a, a. 0. 202. * Wetzer und Weite Kirdienlexikon T*, 922,
526 ^dolf Jacoby
Ahnung richtiger historischer Verhältnisse deutet sich in Kobers
Vermutung an, daß proba offae und Judicium eucharistiae nahe
verwandt und eine vielleicht aus der anderen entstanden sei.
1
Die Formulare sind bekanntlich am besten zusammen-
gestellt in der Sammlung von K. Zeumer, die der hier gegebenen
Untersuchung zugrunde gelegt ist^ und einen ausreichenden
Einblick in das ganze Verfahren gewährt. Unter dem reichen
Material für die Gottesurteile überhaupt nimmt die Probe mit
dem geweihten Bissen einen breiten Raum ein.
Dem Verdächtigen oder Angeklagten (oder der Mehrzahl
derselben) wurde unter bestimmten Gebeten und Beschwörungen
Brot und Käse zum Genüsse dargereicht. Konnte er die Elemente
verschlingen, so war er unschuldig, blieben sie ihm in der
Kehle stecken, so war er damit erwiesen und überführt.
Es ist zunächst der Beachtung wert, daß uns die Probe
mit Käse und Brot so gut wie ausschließlich bei dem Verdachte
des Diebstahls als Beweisverfahren entgegentritt, z. B. in Christi
nomine incipiunt collectas ad malis furtis reprimendis^ oder
incipit probatio a cunctis furtis probandis^
Das Brot, das zur Probe verwendet wird, soll Gerstenbrot
(panis ordeaceus) sein; so an vielen Stellen. Es wird wohl
auch bestimmt, daß es trocken (siccus) sei^, oder bisus^, auch
absque fermento.^
So sind weiter auch für den Käse genaue Angaben ge-
macht. Schafs- oder Ziegenkäse soll zur Anwendung kommen:
caseus birbicinus factus in Madio, formaticus Maiensis de ovibus,
caseus caprinus aridus.' Gewöhnlich beträgt die Menge und
das Gewicht der Elemente 9 Denare.^
' Monumenta Germaniae historica legum Sectio V: Formulae Mero-
vingici et Karolini Aevi 599 fg., im folgenden abgekürzt MGHP.
« MGHF 632. » MGHF 638.
* a. a. 0. 635, 5. » a. a. 0. 629, 19. « a a. 0. 681, 40.
' a. a. 0. 629, 19. 631, 40. 686, 6. » a. a. 0. 661.
Der Ursprung des Judicium o£Fae 527
Auf die Elemente, die zur Probe dienen sollen, wird eine
Inschrift gesetzt. Einmal heißt es: hoc debet scribi in cir-
cuitu formatici, anteqnam incipiatur missa et antequam
cultro incidatiir et debet integer esse: „convertetur dolor eins
in Caput eins et in verticem eins iniquitas eins descendet^'; das
ist Psalm 7,16.^ Häufiger ist, daß auf Brot und Käse das
Vaterunser geschrieben wird: et antequam dividantur, scribe
„Pater noster*' in utroque et postea sie debes benedicere; oder:
finita missarum sollempnitate, adportetur caseus et panis orda-
ceus et inscribatur in eo oratio dominica et presentetur ante
altare in patena argentea.* Im zweiten Beispiel wird wohl nur
auf das Brot das Gebet geschrieben, wie denn auch ausdrücklich
gelegentlich nur für das Brot die Aufschrift des Vaterunsers
bestimmt wird.'
Von Interesse sind die Gebete und Exorcismen in den
Formularen, besonders eine Gruppe, die ich Paradigmengebete
nenne. Meine Beobachtungen gehen dahin, daß sie sich Tor-
nehmlich in den formulae judiciorum ofiae finden. Ihre Eigen-
tümlichkeit besteht darin, daß sie eine Reihe biblischer, vor
allem apokrypher Paradigmata aufzeigen, wie Unschuldige von
Gott auf wunderbare Weise gerettet worden sind, Jonas, Daniel
in der Löwengrube, Susanna, und andere Wunder, zumal auch
neutestamentliche. Diese Gebete gilt es im Auge zu behalten.
Nach allen Anrufungen und Beschwörungen folgt nun die
Probe. Den Erfolg derselben schildern die Formeln also nach
den Gebeten: gula et lingua faucis suae sint constrictae et
ligatae . . . inflatas bucas cum spuma et gemitu et lacrimis et
doloribus faucis tuae sint constrictae et obligate, oder: nee
panem nee caseum istum possit manducare, nisi inflato ore
cum spuma et lacrimis fiat constrictus. Ahnlich sind die
Sätze: panis vel caseus iste nee fauces eins nee guttur transire
possit, oder: tremens manducans et tremebundus evomat quod
accepit , te jubente. Auch folgendes findet sich: tremescat
>a.a. 0,631. * a. a. 0. 635, 6. 668. ^ a. a. 0. 671, 22. 681, 27.
528 Adolf Jacoby
tanquam arbor tremulus et requiem non habeat usque
dum confiteatur; ferner: palleat, tremiscat et coangustetur
Spiritus etc.' u.a.m.
Anderes, was zur Vermehrung der Feierlichkeit und zur
Verstärkung ihres Einflusses auf den Angeschuldigten diente,
wie die Verwendung von Kreuzen aus Espenholz, die natürlich
symbolisch -sympathetische Bedeutung hatten (vgl. oben arbor
tremulus)^, übergehe ich als weniger bedeutsam in diesem
Zusammenhang.
Die ältesten angelsächsischen Bestimmungen^ über den Probe-
bissen finden sich in Aethelraeds Gesetzen, VI vom Kirchenfrieden
§ 18 (bei Schmid, Gesetze der Angelsachsen 133): „Und wenn man
einen Geweihten mit Fehde belegt und sagt, er sei Täter oder
Ratgeber, so reinige er sich mit seinen Magen, welche die
Fehde mit ihm tragen mögen oder für ihn büßen. Oder wenn
er keinen Magen hat, so reinige er sich mit seinen Genossen
oder faste zum Probebissen und da geschehe, wie Gott
beschließt."
Bei Cnut, Geistl. Gesetze c. 5 § 3: „und wenn man einen
freundlosen Altardiener, der keine Eideshülfe hat, bezichtigt,
so schreite er zum Probebissen und da geschehe, was Gott
will, außer wenn er sich auf die Hostie reinigen kann."
Hier stehen also Probebissen und Abendmahlsprobe neben*
einander. Es wird auch, wie zum Abendmahlsgenuß, zum
Probebissen gefastet (s.u.Abschn.4). Beide Proben beziehen sich
zunächst auf Altardiener, Geweihte, wie das Judicium eucharistiae
nach dem Wormser Konzil von 868 bei Diebstählen in den
Klöstern angewandt wurde, wo die Mönche bei der Messe das
Abendmahl nehmen und sagen mußten: corpus domini sit mihi
ad probationem, eine Art purgatio canonica.*
* ä. a. 0. 629, 24. 631, 8. 632, 80. 636, 21 fg. etc.
* Vgl. dazu bereits Fr. Jureti obs. ad Ivonis epist., MSL 162, 2, 346.
' Wilda in Ersch und Grubers Encyclopildie, 0;-da?ien III, 4,.469.:1
* Concilia Gennaniac von Hartzheim II, fol. 312.
Der Ursprung des Judicium offae 529
Ein bekannter Fall mit tragischem Ausgang war der des
Grafen Godwin, der des Brudermordes beschuldigt, an der könig-
lichen Tafel äußerte, wenn er schuldig sei, möge ihm der Bissen
im Halse stecken bleiben, was geschah.^
2
Einiges Erläuternde sei gesagt über den Brauch, auf die
Elemente, Brot und Käse, Aufschriften zu setzen. Der Gedanke
ist, daß der Genießende gleichsam die Formel und ihre Wirkung
in sich aufnimmt. Wir stehen damit in der Magie drinnen.
Ist es nötig, im Rahmen einer Untersuchung über Gottes-
urteile auf das alttestamentliche Vorbild Num. 5 hinzuweisen, wo
der Priester das der Unkeuschheit verdächtige Weib die in
Wasser abgewischten, zunächst aufgezeichneten Fluchformeln
trinken läßt? In der Volksmedizin hat sich dieser Brauch von
langer Zeit her erhalten. Beispiele finden sich bei Pradel ' oder
Dieterich ^ u. a. m. Noch heute schreibt der Ägypter die Zauber-
formel mit Tinte nieder und gibt dann die in Wasser aufgelöste
Schrift dem Erkrankten zu trinken.* Es ist nichts anderes,
wenn zum Austreiben der bösen Geister die päpstlichen Kon-
zeptionszettel verzehrt werden.^
Castalli erwähnt die Sitte der Jacobiten, den Kindern zur
Stärkung der Seele Kuchen mit aufgeschriebenem Gebet zu
geben: coUyris super quod oratiunculam quandam scribunt
Jacobitae, quae in psalterio eorum extat; tum pueris tradunt
comedendum.® Das erinnert an das andere Mittel, ein Kind
lernbegierig zu machen, indem man das ARG auf eine Schüssel
schreibt, die für die heiligen Brote gebraucht wird, und die
Schrift in Wein aufgelöst das Kind trinken zu lassen.''
' Lappenberg Geschichte von England I, 516. Du Gange, Grlossarium
V. Corsned. * Eeligionsgesch. Versuche und Vorarbeiten III, 381.
^ Dietrich Ahraxas 159. * Der alte Orient VI, 4, 26.
* Äbhandl. d. Götting. Akad. d. Wiss. VIII, 1868—69, 161.
® Lexicön syriacum 803. '' Pradel a. a. 0. 381.
Archiv f. Religionswissenschaft XIII 34
530 Adolf Jacoby
Auch die Juden kennen jene Kuchen, die man den Kindern
gibt.i
Wenn nun auch auf einen Bissen slg jtQÖßanov ^c3[iCov
solche Inschriften gesetzt werden und dann dem Kranken dieser
Bissen eingegeben wird,^ so ist davon m. E. nicht zu trennen
der Brauch, auf die Hostien das Pentagramma oder Hexagramm a,
die bekannten magischen Zeichen, oder auch ganze Sprüche
aufzuprägen. So steht auf den Hostien das Trishagios der
griechischen Kirche uyiog 6 O^fdg, aytog Iöivqös^ ayiog äd-dvaros^
das überhaupt in der Magie eine bedeutsame Rolle spielte.^ In
Syriea weihte man mit diesen Worten das Brot.*
Im deutschen Aberglauben hat das Brot, das mit gewissen
hebräischen Worten beschrieben ist, Kraft gegen Feuer; besonders
wirksam ist dreimal geweihtes, vom Priester gemachtes Brot.^
Aber Wuttke teilt auch noch folgendes Überbleibsel mit:
„Die im Mittelalter selbst in das Rechtsverfahren aufgenommenen
Gottesurteile kommen in der Anwendung nur noch wenig vor;
man ließ z. B. einen des Diebstahls Verdächtigen ein Stück
geweihten Käse essen; dem Dieb blieb dann der Bissen im
Halse stecken; im Sprüchwort hat sich dies noch erhalten, aber
teilweise auch noch in der Anwendung: man schreibt auf ein
Stück holländischen Käse bestimmte Buchstaben und Zeichen
und gibt es dem Verdächtigen; ist er der Dieb, so wird er sich
hüten, es zu essen.""
Daß im fünfzehnten Jahrhundert der Brauch noch ver-
breitet war, dafür dient als Zeugnis c. 51 des 1455 geschriebeneu
Buch's aller verboten Kunst, Unglaubens und der Zauberei
* Zunz Zur Geschichte und Literatur 168. Vgl. auch Gaidoz, les
gateaux alphabdtiques, in Melanges Renier 1886. Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde XV, 94flf. 181 f.
* Vassiliev, Anecdota graeco-bym. I, 889.
' Strzygowskis Katalog der kopt. Denkmäler in Kairo 189 fg.
* Äbhandl. f. d. Kunde des Morgenlandes VII 8, 110.
' Wuttke Beutscher Volksaberglaube * 377.
8 Wuttke a a. 0. 227.
Der Ursprung des Judicium ofFae 531
von Hartlieb ^ : „mer vind man lewt die ainen Käs segnent und
maiaent, wer schuldig sei an dem Diebstahl der müg der Käs
nit essen, wiewohl darein etlich saiffen für Käs geben wird
noch ist es sünd." Die von Grimm hierher gezogenen bekreuzten
Käse^, die nach einer Anzahl Privilegien von 1430 an nur die
Abtei des Klosters zum hl. Kreuz im Augsburger Bistum auf
ihren Swayhöffen (= Viehhof, Schmeller, bayr. Wörterb.) her-
stellen durfte (Monumenta boica XVI, 50. 53. 55. 58. 61), ge-
hören wohl nicht hierher, da das Kreuz eine Art Fabrikmarke war.
Dagegen haben wir ein Zeugnis aus dem 17. Jahrhundert
in England. 1618 soll eine Hexe zu Lincoln auf eigenes Ver-
langen einer Art offa judicialis mit Butterbrot sich imterworfen
haben; sie sei an dem Bissen erstickt.' Hier ist in leicht ver-
ständlicher Vertauschung die Butter an die Stelle des Käse
getreten. Ich mache auf einen ähnlichen Brauch mit Butter-
brot aus der Neumark, Osthavelland und der Gegend von Kyritz
aufmerksam, wo ein kundiger Schäfer auf ein Butterbrot nebst
einigen mystischen Zeichen die bekannte Formel sator arepo
opera rotas schreibt, dann das Brot in zehn gleiche Teüe
zerschneidet und die einzelnen Stücke für je 1 Mark gegen
Tollwut bei Hunden und Menschen verkauft.*
Brot und Käse als Mittel gegen den Biß toller Hunde
nennt auch Qazwini^: „Der Berg von Ulustän im Lande
Rüm. Inmitten dieses Berges befindet sich etwas wie ein
kreisförmiger Engpaß. Wer diesen passiert und, während er
durchgeht, Brot und Käse ißt, und zwar am Anfang des-
selben hinein- und an seinem Ende wieder herauskommt, dem
schadet der Biß des tollen Hundes nicht. Und beißt dieser
irgendeinen anderen Menschen, so braucht er nur zwischen den
beiden Füßen dessen, der diesen Engpaß passiert, durch-
' Grimm D. Myth. III *, 428. » Grimm a a. 0. II *, 929 A. 1.
' The vronderfull discovery of the witchcrafts etc. p 11. Soldan-
Heppe Gesch. d. Hexenprozesse I, 399 fg.
* Verhandlungen der Berl. Gesellsch. für Anthropol. 1883, 248.
* Kosmographie , übers, von Ethe I, 310.
34*
532 -Adolf Jacoby
zugehen und sein Unfall liat ebenfalls keine Gefahr. Das ist eine
bei den Leuten dieser Landstriebe weitverbreitete Geschichte."
Hängt vielleicht mit diesen merkwürdigen Resten mittel-
alterlicher Rechtspraxis und Magie auch der Glaube zusammen,
der im Lüneburgischen sich findet, daß todeswürdige Verbrechen
mitunter dadurch bestraft werden, daß der Richter den Ver-
brecher zur Einzelhaft verurteilt und ihm nur ohne Salz ge-
kochte Milch mit hineingeschnittenen Rundstücken zu essen
geben läßt, und der dann bei lebendigem Leibe von Würmern
gefressen wird, das letztere eine alte Gottesstrafe?
Die Elemente werden durch die Aufschrift intensiv ge-
heiligt und exorzisiert und damit jeder schädlichen Wirkung
des Teufels entzogen. Auch der Diebstahl ist ja Wirkung des
bösen Geistes, der mit seinen Kunstgriffen seinen Anhängern
beisteht und darum durch die heiligen Worte und Formeln
unschädlich gemacht werden muß. Der Exorzismus fehlt da-
her nicht, der, wie hier auf die Elemente gleichsam auf-
geschrieben und auch über sie gesprochen, so auch über dem
Wasser der proba aquae oder über den Eisen, die bei der
Feuerprobe glühend gemacht werden, gesprochen wird.
Die Gebete der formulae zeigen ebenfalls noch ihren Zu-
sammenhang mit den magischen Bräuchen und Gedanken.
Das hat Michel im einzelnen erwiesen^, und ich kann mich
im wesentlichen auf seine Untersuchungen und meine eigenen
Ergänzungen^ berufen, in denen ich gerade die Gebete der
Formulare für die Gottesurteile herangezogen habe. Das hohe
Alter dieser Gebete ergibt sich schon daraus, daß in ihnen
als ein häufig wiederkehrendes Paradigma Theklas Rettung,
wie in den pseudo-cyprianischen Orationen, auftritt. Und zwar
ist dies Paradigma unter ausschließlich kanonischen Schriften
entnommenen ein Zeugnis dafür, daß die Gebete jener Zeit
' Gebet und Bild in Studien über christl. Denkmäler, herausgegeben
von J. Ficker I, 1—84.
' Monatsschrift für Gottesdienst und hirchl. Kunst VIII (1903), 266.
Der Ursprung des Judicium offae 533
ursprünglicli entstammen, in der die Paulusakten noch kano-
nisch waren. Die Gebete selbst weisen nach dem Orient.
Eine der lateinischen Formeln, die mit den üblichen
Worten beginnt: Deus Abraham, Dens Isaac, Dens Jacob,
Dens dominus fortis, Deus angelorum etc., hat den kenn-
zeichnenden Schluß: Sabahot. Sabahot. Abrahaam. Osiam.
Osia. Ogla. vigila hanc peccaba. capadum. amarthabarbam.^
Das ist nicht nur eine zufällige Entstellung, sondern eine der
mystischen, aus hebräischen Floskeln zusammengesetzten
Zauberformeln, wie sie uns häufig entgegentreten und eine
antike Parallele an den sogenannten Ephesia grammata haben.
3
F. Dahn hat für das Ordal mit Käse und Brot auf die
Reisprobe der Inder hingewiesen und ihm folgten andere nach.
Dieser Probe sei dann von der Kirche auch die Abendmahls-
probe nachgebildet worden.-
In der Tat findet sich die Abendmahlsprobe öfters ganz
gleichartig gestaltet der Probe mit Käse und Brot. So führt
Dahn mit Recht das Beispiel aus Trithemius an, wo es heißt:
et si aliter est quam dixi et iuravi, tunc hoc Domini nostri
Jesu Christi corpus non pertranseat gutur meum, sed haereat
in faucibus meis, strangulet me, sufifocet me ac interficiat me
statim in momento.^ Dahn weist auch auf den gemeinsamen
Gebrauch des Wortes communicare für die Abendmahlsprobe
und die proba offae hin, um seine Anschauung zu stützen.
Wir werden weiterhin sehen, daß in einem ganz anderen Ge-
biete der Kirche sich die gleiche Tatsache aufzeigen läßt.
Über den Hergang der indischen Reisprobe haben wir
eingehende Mitteilungen von Kaegi.^ Das indische Rechtsbuch
> MGHF 643, 11—12. * Bausteine II, 47.
' Trithemius Chronicon Hirsaugiense od annum 1224. Patetta
a. a. 0. 210 lehnt Dahns Annahme ab.
* Festschrift zur XXXIX. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner, Zürich 1887, 55.
534 Adolf Jacoby
des Harada I, 337 — 342 bestimmt darüber das Folgende: „Ich
werde nun die Zeremonie angeben, wie sie für das Genießen
von Reiskörnern bestimmt ist: beim Diebstahl sind Reis-
körner zu verabreichen, sonst nicht, das ist feste Bestimmung.
Man bringe Körner von Reis, nicht von irgend etwas anderem,
in ein irdenes Gefäß, mache sie rein, gieße Wasser dazu, worin
ein Götterbild gebadet worden, und lasse sie während der
Nacht stehen. Bei angebrochener Morgendämmerung soll ein
gottesfürchtiger Mann in eigener Person dem Beklagten,
welcher vorher gebadet, gefastet und nun sein Antlitz gegen
Osten wendet, dreimal Reiskörner geben. Nachdem er sie zer-
kaut, heiße jener ihn auf ein Blatt spucken: ist ein Feigen-
blatt nicht zu haben, so ist ein Birkenblatt vorgeschrieben.
Bei wem Blut zum Vorschein kommt, wessen Zahn-
fleisch Schaden nimmt oder wessen Glieder zittern,
den soll man als schuldig bezeichnen."
Es mag zugegeben sein, daß man mit einem gewissen Recht,
solange besseres Material nicht vorhanden war, an dieses Ordal
Anschluß suchte bei der Feststellung des Ursprungs der Probe
mit dem geweihten Bissen. Aber die parallelen Züge liegen
doch nur in Allgemeinheiten: daß die Proben beide ihre An-
wendung beim Diebstahl finden, daß Blut zum Vorschein
kommt, daß die Glieder des Schuldigen zittern; alle diese Züge
lassen sich auch ohne jede Annahme eines geschichtlichen
Zusammenhangs der Proben erklären. Viel stärker sind die
Ungleichheiten zu betonen; hier Brot und Käse, dort Reis;
hier unfreiwilliges Erbrechen und Auswerfen der Elemente,
die nicht durch die Gurgel wollen, und ErstickungsanfäUe,
dort absichtliches Ausspeien des gekauten Reises, Der Ver-
such, die Probe der oJBFa auf das indische Reisordal zurück-
zuführen, ist nicht gelungen.
Grimm ^ hat auf Herennius Acro, der um die Wende des
II. und III. Jahrhunderts n. Chr. lebte, zurüekgegrifi'en. Dieser
* Bechtsaltertümer 931.
Der Ursprung des Jadicimn offae 535
soll zu Horaz epist. 1, 10 mitgeteilt haben: cum in servis
Buspicio furti habetur, ducunt ad sacerdotem, qui crustum
panis carmine infectum dat singulis. quod cum ederint mani-
festum furti reum asserit. So Grimm nach Gesners Edition 501,
die richtige Lesung hat Hauthal ^, der statt ederint liest
haeserit. Indessen sind die Horazscholien unecht und aus
mehreren späteren Schichten zusammengesetzt"-, daher die Be-
nutzung unserer Stelle schwierig; Patetta denkt an das ger-
manische, durch die Barbaren in Italien eingeführte Ordal.'
Die Untersuchung wird freilich zeigen, daß die Nachricht
vielleicht doch echt, d. h. den wirklichen Verhältnissen der
ausgehenden Antike entspricht und nicht erst auf eine Einfuhr
germanischer Ordale zurückzuführen ist.
Übrigens scheint sich der Probebissen tatsächlich auch in
Asien bei den Tartaren gefunden zu haben Wenigstens be-
richtet Johannes de Piano Carpini*, der um die Mitte des
13. Jahrhunderts unter den Tartaren missionierte, in seiner
Schilderung tartarischen Brauchs und Aberglaubens: wer mit
Absicht im Lager Milch oder sonst Trank oder Speise aus-
gieße oder dort sein Wasser abschlage, werde getötet; andern-
falls müsse er sich beim Zauberer mit einer bedeutenden Geld-
summe lösen, um gereinigt zu werden. Dazu läßt der Zauberer
das ganze Lager zwischen zwei Feuern durchgehen; vorher
wage niemand ins Lager zu gehen oder etwas herauszutragen.
Dann fährt er fort: praeterea si alicui morsellus imponitur
quem deglutire non possit, at illum de ore suo
dejicit, foramen sub statione fit, per quod eitrahitur ac sine
ulla miseratione occiditur. Das sieht doch aus wie eine offa
* Acronis et Porphyrii commentarii U, 422.
* Schanz Geschichte der römischen Literatur III, 175.
' a. a. 0. 140 f.
* Den Bericht hat Vincentius Bellovacensis im speculum historiale
XXXn, 7 erhalten. Ich benutze den Wiegendruck ohne Ort und Jahr,
der 1474 entweder bei Mentelin in Straßburg oder bei Faust in Mainz
gedruckt ist.
536 Adolf Jacoby
iudicialis, die freilicli wohl auf Import bei den Tartaren be-
ruhen dürfte.
4
Wir besitzen eine große Anzahl von Zauberformeln,
volkstümlichen Exorzismen und Gebeten in griechischer
Sprache aus sehr später Zeit; sie gehen nachweislich auf be-
deutend älteres Material zurück und sind die Ausläufer der
hellenistischen Magie. Eine Anzahl derselben hat A. Vassiliev
ediert, unter ihnen solche, die der abendländischen Probe mit
dem geweihten Bissen genau entsprechen, nur ohne den um-
fangreichen kirchlichen Apparat.^
Das erste dieser Rezepte, um Diebe zu entdecken, lautet:
slg xXeTCtrjv. Accßcav ccqtov iilzqov xal tvQÖv, iv tq) ccqxo} ^sv
inCyQUijJov öuQaiova, hv dh t^ tvQq) öaQcccparjX, xal dbg cpay^lv
tovg vjtöjttag v^örsig. zal svd-s(og 6 cutLog vnoTtviyijäsrai
xccl ^1 avtov yvco6&i]d£taL.
Ein anderes: slg tb yvcivai xbv aXimi^v. Fgaipov üg
aQtov 2JaQ6cov, slg dh tvQbv 2a^r}jcov, nal dbg olg vTtoTcrsvsig
xal sl nXetl^ag, ov dvvatai cpayslv.
Das dritte: aXXo. Fqätpov slg aQTov ovra^ Cagcc ova,
slg $h rvQÖv 6a(pa q)atarjX, xal dbg olg ^(poQäg.
Der Zusammenhang mit dem Gottesurteil der offa ist auf
den ersten Blick zu erkennen; hier haben wir Brot und
Käse, wie dort; auch die Aufschriften, und zwar auf beiden
Elementen, fehlen nicht — es sind Ephesia grammata, Zauber-
worte, und Engelnamen. Die Schuld wird erkannt an den
Würge- und Erstickungsanfällen. An die kirchlichen Zere-
monien erinnert nur die Bestimmung des Fastens, sonst ist
alles deutlich volkstümliche Magie. Auch das Abendmahl
empfing man nüchtern.
Man könnte nun zunächst auf den Gedanken kommen,
in diesen späten, byzantinischen Formeln und Rezepten zur
Entdeckung eines Diebes die Reste der proba ofi'ae vor sich
* Änecdota Graeco-Byzantina I, 340.
Der Ursprung des Judicium offae 537
zu haben, ähnlich wie in dem von Wuttke angeführten Brauch,
die sich vom Westen nach dem Osten ausgebreitet habe.
Allein Vassiliev hat selbst einige wichtige Hinweise in
den Einleitungen gegeben*, nach denen die Form des Ordals
mit einem geweihten Brot in der Art der Abendmahlsprobe
bereits längere Zeit im Osten bekannt war. Man wird die
Wiederholung dieser Zeugnisse hier als eine Erleichterung der
Untersuchung empfinden.
Im Nomokanon (XV. oder XVI. Jahrhundert) findet sich
aus Matthaeus Blastares, der 1335 schrieb', die Bemerkung
6 ÖS Mard-alos Iv tq> ngära xstpukuCa toi) M öxoii^lov q^tiöCv
. . . xa^ijQTjvtav dh TtolXdxig xai Ugslg iiti 6vv6dov uqtov rf}g
fisyd^Tjg 7CSfi:ir7]g Imöcjöavxig tl6l (payslv, icp cJ rä 6v).-
Xi]cp^ivxa £VQs9flvuL ix toi) ^rj «vxdAcoff tovtov xara:ci6lv.
Das geht zurück auf Balsamon, Kommentar zum 61. Gesetz
des trullanischen Konzils, der zwischen 1166 und 1177 schrieb.'
Es wird uns also gesagt, es sei eine Übung gewesen, daß sich
Priester (s. o. Abschn. 1) durch den Genuß von Brot des Grün-
donnerstags reinigten, nämlich Ton Verdacht, wie ja auch die
Abend mahlsprobe im Abendland vornehmlich bei Priestern an-
gewendet wurde. Die Schlingbeschwerden verrieten den Schul-
digen. Das entspricht ganz der Annahme Dahns, daß Abend-
mahlsprobe und proba offae zusammenhängen.
Auf dem Konzil zu Konstantinopel von 1372 wurde der
folgende Fall verhandelt*: ikaXrld'ri xarä tov nQSößvxigov
Utvhavov tov Kksidä^ ori ixegxvQav xlv&v änoXB6&ivxc3v
iv xfi räv Mayxdvav ösßaö^Ca iiovfj xai JtoXXäv vno%xBvo-
^iBvav iiovaxog xig zjgovyydoiog Xsyönevog azsX&äiv scgog
avxbv i^rixr]6E TCag' uvxov 7CQ06(fOQdv, ijv xai dXXoxs avxbv
> a. a. 0. LXm.
* ReaUncyclopädie für protest. Theol. und Kirche HP, 254.
' a. a. 0. 11', 375. Darauf verweist bereits Juretus in seinen Obser-
vationes ad Ivonis epistolas, Migne S. Lat. 162, 2, 345
* Acta patriarchatus Catistantinopol. I, no. 331 p. 595.
538 Adolf Jacoby
stÖE dövta TCQog etSQOv inl svqsösl 6co[i(g)v, og dij xal xatä
tfjv avtov ^tjrrjöiv ^dsdcbxsi tijv nQo6(poQäv yQuipag hiC
cüvt'^ nttl yQciii^atcc tiva. naQcav 8s aal avtbg xal ngbg
avxä änoXoyCav UTCaixoviisvog jiQ&tov iisv rb n:Qäyiia rjQVslto^
[ajt)6Xsyx^6lg dh nagä rovrov tov [lova^ov acpoQiönbv dsi,a-
fisvov xal s^JtQoöd'sv avtov rovrov ö^oXoytjöavrog, d)[ioX6yi^6i
^ihv xal avrög, ori ^SsdcbxsL Ttgbg avrbv XQoöcpoQav, nX'^v ^i
ävrCdcjQov rijg fisydXrjg Jisiixrrjg. Auch hier begegnet
wieder der offenbar bekämpfte Mißbrauch des Brots der [isydXi
ots^TCrrj, des Gründonnerstags, der großer Kommunionstag warJ
dem man besondere Wirksamkeit zuschrieb. Besonders be
deutsam ist die Mitteilung, daß man auf das Brot eine Auf-]
Schrift setzte.
Neuen Aufschluß über die Zusammenhänge der abend'*
ländischen iudicia dei mit denen des griechisch- byzantinischer
Gebiets gewährt uns eine sv^r} Xsyofisvr] slg xXsjtrriv} /liönott
K'ÖQis 'Ir]6ov XQLörSf 6 dsbg yj^&v, 6 xarans^tpag rbv ayi6\
6ov ayysXov knl rbv Xdxxov rov ccylov öov 7tQoq}i]ro\
^avL'^X xa\ (pQK^ag rä öröfiara r&v Xsövrcov, aitrög,
%avaya%'B xvqle, xaraTtsii^ov rovrov xal Icp* ij^äg aörs iXd^sh
xara<pi[i&6at rb örö^a rov xXsil^avrog rb TCQäyfia rov dslvo^
xal ysvied'ai avrbv aXaXov xal xaxpbv xal ßcjßbv eag av biio-
Xoyrlöjj avrb slg dö^av nar QÖg, vlov xal äyCov nvEv^arogi
fSr&yLSv xaXatg, örcoyLSv ^srä g)6ßov .' . ^qo rfjg svxiii
Xa^ßävsL 6 IsQSvg ovJtSQ i(pvXai,£v aqrov rfig fisydXrjg Tisujttrji
xal (isrä rb sIjcsIv r'^v svxilV SCdotai räv vjtöxrcov ^ dvacpogd^
xal sl [lev iöriv 6 dvd^Qconog xad-aQÖg, rQ(oysi rb\
aQrov dvs[i7CodC(fr(og^ sl d' ov, t(5TaTa6 slg rbv Xai^bi
a'drov nvCycav a-urdv. Dieses Gebet zeigt uns klar, daß efl
in der Tat eine kirchliche Einrichtung des Ordals mit Abend-
mahlsbrot gab, das der Priester regelrecht vollzog. Es wird
also wohl auch hier so gewesen sein, daß die Kirche einen
lange geduldeten Brauch langsam zu unterdrücken suchte wie
* Vaseiliev a. a. 0. 880.
Der Ursprung des Judicium ofFae 539
im Abendland. Das Gebet selbst zeigt noch die Verbindung
mit den Paradigmengebeten in der Erwähnung des Daniel in
der Löwengrube. Wir finden das Paradigma in einem ex-
orzistischen Phylakterion ähnlicher Art etwa aus der gleichen
Zeit in folgenden Worten^: . . . xai i^cpod^rjts xui xaXLVGj6i]XS
TÖ öTÖfia uvrov, Iva y,ri dvvaxai xar' kiiov kaystv xi. slg
ixslvov xbv d'ebv vfiäg öpxt^o xä noviigä xai dxäd'UQxa tcvev-
fiara xbv %akLV(h6avxu xovs Xiovxag iv tqt Xdxxa xov /dtcviiiX
xai (pvXd^avra xovxov äXaßrjxov xxX. Das eine Paradigma
mag der Überrest größeren ursprünglichen Reichtums sein.
Der Schluß des Gebets ist ein bekanntes Stück der griechischen
Liturgie, während die Vorschriften, die darauf folgen, uns
wieder den Erfolg des Verfahrens in der üblichen Weise an-
geben.
Im Jahre 1410 bestimmte der Erzbischof Johannes von
Novgorod über die Ermittelung Ton Schuld und Unschuld vor
dem Bilde der Heiligen Gurius, Samonas und Avivas, daß der
Priester die heilige Liturgie feiere, dann das geweihte Brot
mit dem Namen Gottes beschreibe und es allen gebe, die
kommen; wer ißt, ist unschuldig; wer nicht ißt, soll des Ge-
richtes Gottes schuldig sein; wer aber dem Brote nicht naht,
der soll ohne Urteil Gottes und der Menschen straffällig sein.
Femer im Falle eines Verdachtes wegen Diebstahls soll der
Priester ein Brot in Kreuzform backen -und darauf vier Kreuz-
zeichen machen; es ist noch heute in der griechischen Kirche
Sitte, das Brot in Kreuzform zu legen. In dem Gebet des
Priesters an die Heiligen heißt es dann: eos qui perdiderunt,
adiuvate, noxios convincite, maleficorum fauces praecludite;
Isaac, vince eos, Jacobe, itinera eorum interclude et ubique
obscura fac, ut viae eorum sint asperae angelusque Domini
eos persequatur etc.* Auch zu diesem Gebet findet sich in
den griechischen Gebeten eine Parallele^: slg y.Xs:ixriV. rQcctltov
' Reitzenstein Poimandres 295 f.
* Vassiliev a a. 0. LXV. • Vassiliev a a. 0. 340.
540 Adolf Jacoby
eis %KQtriv ovtc3 (folgen dann eine Reihe mystischer Zeichen):
'AßQadyb 6s TtcctccdiGUCSi, 6 ^löadx 0s xata(pd'civsi, 'laxcbß 6s
ccvatQSxsL. ysvs&iJTCi} tj ödog ccvtov 6x6tos 'nal öXC6d-rj^a. xal
ävanodoyQcicps rovto zal ßccXs '6ni6%^sv xfis %^vQas', vgl. Grimm
D, M. IIP, 493; wo in einem exorcismus ad pecudes invenien-
das in angelsächsischer Sprache der Schluß ähnlich lautet:
crux xpi reducat. crux xpi per furtum periit inventa est.
Abraham tibi semitas vias montes concludat lob et flumina
Isac tibi tenebras inducat. lacob te ad iudicium ligatum per-
ducat.
Das Material, das uns aus dem Gebiet der morgen-
ländischen Kirche vorliegt, ist gewiß aus den Handschriften
noch reichlich zu vermehren, doch zeigt es auch so bereits,
daß die Gottesurteile mit dem Abendmahlsbrot und mit Brot
und Käse dort nicht unbekannt waren, sondern offenbar eine
weite Verbreitung hatten.
5
Die hellenistischen Zauberpapyri haben uns schon manche
überraschende Erkenntnis gebracht. Diese Mischungen tief-
ernster Frömmigkeit und buntesten Aberglaubens, Zeugnisse
einer verworrenen, aber an religiösen Kräften reichen Zeit,
führen uns auch in der uns hier beschäftigenden Frage weiter.
Die Papyrus magica Londin. XL VI des Britischen Mu-
seums^, eine Unzialhandschrift des IV. Jahrhunderts, inhalt-
lich aber zum großen Teil weit älter, gibt in zwei An-
weisungen, Diebe zu. entdecken, uns über den Ursprung des
Ordals mit Brot und Käse diesen neuen Aufschluß.
In dem einen Formular lesen wir^: xXmrijv nid6(ii
'dXX{ps)' 'Egiifiv, 6s nalSi d^sbv cc&dvaxov, bg xät' 'öXviiTHh
tt^Xaxa tsfivsig ßägCv d"* IsQiiv (p(o6(p6Q^ 'Idca 6 ^syccg aloavößstog
q)QLXibg fihv Idstv q)QLXtbs ^' dxQ0&6d-ai, jtaQddog g^&Q* bv ^rjr&
' DenJcschriften der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien 1888.
Kenyon Greek Papyri Cat. I. Dieterich, Äbraxas 63.
« Denkschriften 131 Zeile 176 flF.
Der Ursprung des Judicium offae 541
ttßsQUfisv &aov XsQ^t^sva^ öoveXvöa ^vsfiuQßa. ovrog 6
löyog kni xov xad-agiiov XdysraL ß: Xöyog xov aQXOxvQov'
SQXOV /not XiÖÖCOV fiaxegVtt (IUVSQXTJ TCQETCXmXlOVVLVXlXlOVS
oXoxoxovg %EQCxXv6aL xb a:ioX6nEvov äyäyr/S /tiot xal xov xXsa:-
xr^v ißcpavfi noii]6aL iv xfi 6j]}1£qov ^liigcc. k7Ciy.aXovpLUL dh
^Egiifiv xXanxäv svqsxtjv xal "HXiov xal 'HXCov xögag d^e-
nCöxcsv XQayfiäxav dvo cfaxayayovg xal Gifiiv xal "Eqslwv
\ "AiiyiGiva xal Uagdu^ava, i%i/.Qaxf^6uv xrjv xov (pcjQOg
. rdnoeiv xal i^icpavfi ^slvai iv xfl öifiieQOv fj^EQu, iv xf}
( ort &Qa. Tcoiriöig- 6 avxbg Xoyog ixl xov xa^aQ^ov^ Xußav
yog xaXXaCvov ßdXs vda>Q xal ^iivginpf xal xvvoxB(paXixriv
{j )xdv)\v xal ifißgEx^v xXdöov dd(fvr]g iva sxaöxov änoxa&ai-
Q(ov . . xqCtcoÖu ixC^Eg iTil (Hd. 6:tid'6g) ßa^bv yrjivov.
Das andere Formular lautet^) . . . vov ixi^vs ^yiVQvriv xal
XCßavov xal yX&xxav ßaxQd^ov xal Xaßcov öiXCyviov (= 6i-
ICyvLov) ävaXov xal xvqov alyiov dCdov ixciöxa ösXiyvCov
dQ.r/,xvQOv dg rf,i:iiXeycov xov «l^g Xöyov. irclygatpE de xovxo
xo ovofia xal vtioxoXXiiÖov xp xglnodi' öe6:coxa ^Ida (pcsöqiögs
xagadog (pagov ov %i]xci. idv di rig avxäv ft^ xaxaxCji
xb do^hv a'öx&f avxög icxiv 6 xXi^ag}
Wir haben damit den Nachweis, daß die Probe mit Brot
und Käse in die ausgehende Antike gehört, und zwar zunächst
nach Ägypten. Ägyptisch sind einzehie Götternamen Ammon
nnd Parammon, auch das Epitheton aiavößiog, das dem 'nh dt der
Texte entspricht. Hermes, ehedem der Gott und Schützer der
Diebe, ist nun als mit ihrer Kunst vertraut, selber zum Diebs-
fanger geworden, zugleich die Allgottheit, der Lichtbringer,
ier echt ägyptisch auf dem Schiff erscheint. Wie in den
iicia Dei des Abendlandes werden Brot und Käse mit dem
ttesnamen beschrieben. Selbst solche Übereinstimmung
* Denl-schnften 134 Zeile 297 £F.
* Glotz Vordalie dans Ja grece primitive S. Ulf., worauf mich
insch freundlichst aufmerksam machte, wie auch auf Dieterichs Be-
idlung des Textes, spricht nicht von dieser Formel.
542 -^dolf Jacoby
findet sicli, wie die, daß der Käse Ziegenkäse sein soll. Das
Brot ist Weizenbrot (siligo). Yon den mystischen Bräuchen
fällt die Besprengung mit dem Weihwasser auf, das auch die
abendländischen Formeln vorschreiben. Zur Verwendung der
Proschzunge sei bemerkt, daß Plinius hist. nat. XXXII, 18
berichtet: Democritus quidem tradit, si quis extrahat ranae
viventi linguam nuUa alia corporis parte adhaerente ipsaque
dimissa in aquam imponat supra cordis palpitationem mulieri
dormienti quaecumque interrogaverit vera responsuram; man
schrieb also der Froschzunge offenbarende Wirkung zu. Pradel
hat wohl mit Recht das in Zusammenhang gebracht mit einer
Keuschheitsprobe, vgl. Nicolaus Myreps. 505 C: mulier ut
confiteatur a quot viris sit stuprata.^ Indessen ist uns von
Qazwini eine interessante Notiz neben jener oben aus Plinius
bereits erwähnten berichtet: „was nun die spezielle Eigen-
tümlichkeit der einzelnen Teile des Frosches betrifft, so sagt
Belinäs folgendes: thut mau seine Zunge in das Brot und gibt
es nun dem zu essen, den man im Verdacht eines Diebstahls
hat, so gesteht er diesen ein," also eine regelrechte Form der
offa iudicialis mit der Froschzunge statt des Käse.^
In den hellenistischen Proben, die vielleicht zusammen-
gehören und ein Stück bilden, das im Papyrus auseinander-
gerissen ist, ist wie in den mittelalterlichen Formeln das j
Erkennungszeichen des Diebes, daß er die Elemente nicht \
verschlucken kann.
Es ergibt sich also, daß im hellenistischen Ägypten,
wohin ja auch die Paradigmengebete letztlieh weisen, die Probe
mit Brot und Käse in der bekannten Weise in heidnischen
Kreisen gebraucht wurde zur Entdeckung von Diebstählen.
Von da verbreitete sich die Übung nach dem griechischen
und römischen Kirchengebiet, ein Stück antiker Magie im
Christentum.
* a. a. 0. 379. • Kosmographie übers, v. Ethe I, 286
Der Ursprung des Judicium offae 543
6
Der Gang der bisherigen Untersuchung hat erwiesen, daß
in der Tat Abendraahlsprobe und Probe mit dem geweihten
Bissen in enger Verwandtschaft stehen. Das bestätigt sich
nun auch noch von einer andern Seite her, wenn wir auf die
Verwendung von Brot und Käse unsere Aufmerksamkeit
richten.
Man hat, wenn man nach der Herkunft des Ordals der
proba offae fragte, dem nicht Rechnung getragen, daß gewisse
Kreise der alten christlichen Kirche Brot und Käse als Abend»
mahlselemente brauchten. Nach diesem Brauch wurde eine
Abart der ekstatischen Sekte der Montanisten in Kleinasien
die Artotyriten, Käsebrötler, genannt.
Epiphanius zählt in seiner Ketzerbeschreibung ^ Quintillianer,
Pepuzianer, Artotyriten und Priscillianer aus Phrygien, also
die Montanisten auf. Von den Artotyriten sagt er aQrorvQitug
dh ttvtovs xaXovöiv änb tov iv TOtg avxäv iivötr^gCois ini-
Ti^svtag uQXov xal tvqov xal ovrag noLslv xä avxäv ^vöxijqlu.
Sie feierten also das Abendmahl mit Brot and Käse.
Das gleiche berichtet, zugleich mit Berufung auf Epi-
phanius, Augustin de haeres. 28': artotyritae sunt, quibus
oblatio eorum hoc nomen dedit; offerunt enim panem et
caseum, dicentes a primis hominibus (Gen. 4, 3. 4) oblationes
de fructibus terrae et ovium fuisse celebratas. Hos Pepuzianis
jungit Epiphanius. Augustin gibt über Epiphanius hinaus die
Schriftbegründung der Sitte, die natürlich eine nachträgliche
Rechtfertigimg derselben ist. Nach diesen Nachrichten
Augustins war der Käse offenbar Schafskäse, was unwillkürlich
an die Bestimmungen der proba offae erinnert.
Von Philastrius "^ erfahren wir weiter, daß diese Leute ihr
Ausbreitungsgebiet vornehmlich in Galatien gefunden hatten:
alii sunt artotyritae nomine in Galatia, qui panem et caseum
' Migne S. Gr. XLI, I, 879. » Ausgabe der Mauriner 1797, X, 11.
' Corpus Script, eccl. latin. der Wiener Akademie XXXVIII, 38 n ° 74.
544 Adolf Jacoby
offerunt, non illud quod ecclesia catholica et apostolica celebrat
offerendo. Und nach des Hieronymus Vorrede zum Kommentar
des Galaterbriefs IP waren sie zu seiner Zeit in Galatien noch
vorhanden und lebendig.
Es gibt nun freilich noch eine spätere Nachricht aus der
Schrift des Presbyters Timotheos von Konstantinopel, de
receptione haereticorum ^, nach der die Artotyriten nicht Mon-
tanisten, sondern Marcioniten wären. Zahn hat sich diese An-
schauung, die allerdings den vier anderen Berichterstattern
widerspricht, zu eigen gemacht.^ Timotheos sagt: MaQxiü3Vi6Tal
i'jyovv 'AQtoTVQCrai — ol ovv 'AQrotvQCtau sx xfig alQSGEcog
tovtov tov MaQxCcavog zatccyovtai, staQa^sCßov6L de rijv xXfiöLV
%Q06%'ri'Kaig BTtivoi&v. ydXaxxi yäq (fVQävtsg ^v^rjv tolg oixsCoLg
fjLvötaig ÖQEyovdLV. ovtol vö^ov xccl 7tQ0(pritag xäl natQidQ%ag
KTioßccXlovrai, Sox^öel {läXXov tö xarä Aovxäv E'bayyiXiov
jtQoöLs^svoL. rijv ds ävd6ta6iv r&v öcoiidrcav yaXaöiv hg
cLtoTtov. xai avtbg 6 MaQxCcav vdcoQ iv tolg iivöTiqQioig %qo6-
(pSQEi, ^1 avxov XoiTcbv TtagsXaßov xal ol iia&iqtal ccvtov.
Man kann nicht leugnen, daß eine Reihe der Züge unbedenk-
lich als marcionitisch in Anspruch genommen werden können.
Dennoch halte ich Zahns Annahme nicht für richtig. Die Be-
merkung über den mit Milch gemischten Sauerteig scheint mir
nichts weniger als besonders klar und von guter Kenntnis
zeugend. Auf TertuUian c. Marc. I, 14 darf man sich nicht
berufen, da dort von Wasser, Ol, Honig, Milch und Brot als
im marcionitischen Kultus verwendet zwar die Rede ist, aber
die Milch, wie es auch sonst bezeugt wird, in der Mischung
mit Honig auftritt, nicht wie bei den Artotyriten als Käse.
Endlich weist uns eine andere Stelle ebenfalls auf montanistische
Spuren. Denn trotzdem dies gelegentlich bestritten worden ist,
> Migne S. Lat. XXVI, 7, 882.
* Cotelerius Eccles. graec. monum. III, 378.
'Geschichte des Neutest. Kanons 11,436 fg. Die gleiche Meinung
vertritt übrigens auch Forcellini Onomasticon I, 1, 496.
Der Ursprung des Judicium offae 545
bezieht sich doch wohl auf diese Sitte eine Nachricht aus
Xordafrika. Die auch Tertullian bereits bekannten montanisti-
schen Märtyrerakten der Perpetua und Felicitas* erzählen, daß
Perpetua in einer Vision den himmlischen Hirten Christus sah,
der am Melken der Schafe war und ihr „de caseo quod
mulgebat dedit quasi bucellam", sie nimmt den Käse „junctis
manibus et manducavi: et universi circumstantes dixerunt Amen,
•et ad sonum vocis experrecta sum, commanducans adhuc dnlcis
nescio quid." Soll man daraus schließen, daß Timotheos oben
meint, die Milch sei durch Sauerteig zum Gerinnen gebracht
worden und daß es sich um eine Vermischung und Ver-
wechselung zweier Sekten, der Montanisten und der Marcioniteu,
bei dem Presbyter handelt?
Leider scheint uns sonst über diese merkwürdigen Abend-
mahlsgebräuche nichts Näheres bekannt zu sein, denn was
z. B. der sogenannte Praedestinatus I, haer. 28, bietet, ist nur
eine Kopie des Augustin.* Aber das ist doch wohl außer allem
Zweifel, daß zwischen den Zaubertexten der Papyri und dem
Brauche der Montanisten ein Zusammenhang anzunehmen ist.
Wer ist nun der Schöpfer, wer der Entlehner der Übung?
Die zeitlichen Umstände sind so geartet, daß eine Beeinflussung
des Zauberbrauchs durch montanistische Sitten durchaus im
Bereich der Möglichkeit liegt. Andererseits zeigen die Zauber-
papyri verhältnismäßig wenig sichere Spuren christlicher Ein-
wirkung und es wäre an sich nicht unmöglich, daß ein mystischer
Brauch heidnischer Kreise vorliegt, der dann im Abendmahl
der Artotyriten unter einer äußerlichen Begründung, wie
Augustin sie bringt, Eingang gefunden hätte. Eine Parallele
wäre etwa der Gebrauch von Milch und Honior in der Kirche
* Knopf AusgeicäJdte Märtyrerakten 47.
* Ebenso Isidorus Etym. l. YIU c. V. 22: Migne S. L. 82, 300. Nicetas
Choniates Tliesaur. 1. IV c. XXT: Migne S. Gr. 139, 1285. Papias Voca-
bularium, Venedig 1485 fol. IT'. Mansi XI, VI. Synode (III. Const.,
actio XI).
Archiv f. Religionswiesenschaft XIII 35
546 Adolf Jacoby
und in marcionitischen Kreisen, der im Rückblick auf die
alttestamentliche Verheißung vom Lande, in dem Milch und
Honig fließt, seinen Übergang ins Christentum gefunden hat.^
Wenn Gregor von Tours in gloria confess. 2^ von Opfern
berichtet, die man zu heidnischen Zeiten an der Stätte des
Grabes des heiligen Hilarius darbrachte, und dabei mitteilt,
sie hätten dort geopfert formas casei ac cerae vel panis diver-
sasque species, unusquisque juxta vires suas etc., so können
uns solche Nachrichten nicht weiterbringen, so wenig wie die
des Augustinus^ über die Verwendung von Käse in der Magie,
wonach Wirtinnen in Italien ihren Gästen Käse zu essen
gaben und darnach sie in Zugtiere und nach Bedarf wieder in
Menschen verwandelten,^ Die unten folgenden Untersuchungen
werden m. E. die Wahrscheinlichkeit bringen, daß wir mit
einem christlichen Ursprung des Brauches rechnen müssen.
Nicht richtig erscheint mir die Erklärung von Drews^,
der in dem Brauch der Artotyriten den Rest einer ursprünglich
vollständigen Mahlzeit sehen will, also auf die urchristliche
Feier der Agape zurückgreift. Es ist wohl, wie Möller mit
Recht aussprach" und auch Zahns'' Meinung ist, an die asketischen
Grundsätze der Montanisten (bzw. Marcioniten) zu denken, die
keinen Wein tranken; so läßt Origenes den Montanisten
sprechen^: ne accedas ad me quia mundus sum; non enim
accepi uxorem, nee est sepulcrum patens guttur meum, sed
sum Nazarenus Dei (d. i. Nasiräer) non bibens vinum sicut
illi. Für den Wein benutzte man gelegentlich beim Abend-
mahl Milch und an die Stelle der Milch trat der Käse.
^ Was Usener über diesen Brauch mit gewohnter Meisterschaft im
Rhein. Museum bl, 190 fg. schrieb, kann noch reichlich, z.T. durch wert-
volles Material, ergänzt werden; davon anderwärts.
* Monumenta Germ. hist. Script, rer. Meroving. I, 2, 749.
« de civitate Dei XVIIT, 17.
♦ Geht auf Odyss. X, 234 (vgl. Ovid, Metam. XIV, 276) zurück.
"^ Mealencycl. V», 672. « Realencycl. IX», 760.
^ Gesch. d. N.-T. Kanons a.a.O. « in Titum IV, 690.
Der Ursprung des Judicium ofiFae * 547
7
Bei der Feier der Eucharistie finden wir Milch in der
Mischung von Milch und Honig, die neben Wein und Brot
dem Neophyten bei der Tauf kommunion gegeben wurde. Aber
die Milch tritt auch ganz an die Stelle des Weins im Abendmahl.
In den Kanones des 4. Konzils zu Bracara (a. Chr. 675)
can. 2 heißt es*: audivimus enim quosdam schismatica ambitione
detentos, contra divinos ordines et apostolicas institutiones
lac pro viuo in divinis sacrificiis dedicare . . . cessat ergo
lac in sacrificando offerri quia manifestum et evidens exemplum
evangelicae veritatis illuxit, quod praeter panem et vinum
aliud offerri non sinit etc. Drews* hat, offenbar im Anschluß
an Hefele^, der bemerkt, Galläcien und Asturien erzeugten
keinen Wein, die erwähnte Sitte auf die Weinarmut der Pro-
vinzen zurückgeführt. Davon sagen, soweit ich sehe, die
Quellen nichts. Es ist aber, da alle diese Gebräuche eine
mystische Grundlage hatten, an etwas anderes Anschluß zu
suchen.
Der Wein, das Rebenblut, vertritt nach alter Symbolik
schon im Neuen Testament das Blut. Auch die Milch, eine
andere Form des Blutes, tritt an dessen Stelle.
Die Sage und Legende weiß das von alters her. So er-
zählt die Floamannasage, daß Thorgil, dessen Weib getötet
ward, als sie ein Kindlein zu säugen hatte, sich in die Brust-
warzen schneiden ließ; darnach kam zuerst Blut, dann Molken
und endlich Milch, so daß nun der Vater sein Kind säugen
konntet Der Nix, der sich droben bei den Menschen zu lang
verweilt hat, weiß nicht, ob er noch zur Zeit bei seinem strengen
Vater ankommen wird; den Zurückbleibenden soll das Wasser
Kunde bringen: wird's nach seinem Untertauchen weiß von
Milch, so ist er rechtzeitig in der Tiefe angelangt, wird's rot
* Mansi Coli. conc. XI, 155. * Bealencycl. V», 578.
' Konziliengesch. III*, 118.
* J. Grimm Kindermärchen III, 159. Germania VII, 395.
35*
548 ' Adolf Jacoby
von Blut, SO kam er zu spät. Als er im See verschwand,
wurden die Wasser rot von seinem Blute ^ In dem zweiten Beispiel
wechseln die Begriffe Schuld und Unschuld mit Blut und Milch.
Hierher gehört auch der oft berichtete Glaube, daß die
Hexen durch ihre verderbliche Kunst die Milch der Kuh in
Blut wandeln können, darum darf man auch nach polnischem
Glauben Eidechsen nicht töten, weil sie gleichsam Schutzengel
des Viehs seien, sonst könnte das Vieh sterben oder die Kühe
Blut statt Milch melkend
Die christliche Legende berichtet vom Tode des Apostels
in der Passio S. Pauli Apostoli c. XVP: spiculator vero brac-
chium in altum elevans cum virtute percussit et caput eius
abscidit. quod postquam a corpore praecisum fuit, nomen
domini Jesu Christi hebraice clara voce personuit; statimque
de corpore eius unda lactis in vestimento militis exiluit et
postea sanguis effluxit. Lichtglanz und süsser unaussprechlicher
Duft, „der Geruch der Heiligkeit" umgaben die Stätte. Ähnlich
geschah es mit der heiligen Katharina und dem heiligen Pan-
taleon u.a.m.; auch bei ihnen entströmte nach der Enthauptung
dem Halse statt des Blutes Milch, ^ Die Milch ist Zeichen
der Unschuld, das Blut der Heiligen gleichsam, und Zeichen
der Unsterblichkeit.
Es ist zwar nur eine bittere Satire, die Lucian in seinen
„wahren Geschichten" schrieb, aber schließlich läßt sie doch
den Volksglauben seiner Zeit deutlich erkennen. Wenn er
die Mondbewohner als die Seligen schildert, so muß ihm etwas
Ahnliches wie diese christlichen Legenden vorgeschwebt haben;
diese Seligen ovx ccjiovqovöl xal ä(podsvov6iv, aber sie schnauzen
Honig und schwitzen Milch.^
Als eines der gerechtesten und frömmsten Völker galt den
Alten das Thrakische der Galaktophagen, die bereits Homer
' Germania VII, 896. » Am Urquell III, 272.
' Acta apost. apocr. ed. Lipsins-Bonnet I, 40.
* Migne S. Gr. 116, 27615. » Ver. hist. I, 28, 24.
Der Ursprung des Judicium ofFae 549
lliad. XIII, 6 nennt. Strabo erzählt von ihnen nach Posidonius,
sie enthielten sich aus Frömmigkeit alles Lebendigen, nährten
sich von Honig, Milch und Käse und führten ein ruhiges
Leben; einzelne lebten auch ohne Weiber, besonders Heilige.^ Als
einen berauschenden und stärkenden Trank genossen die Troglo-
dyten Milch und Blut, ebenso die Gelonen und Samländer.*
Denn wie von langer Zeit her dem Blute besonders heil-
kräftige und leben verlängernde Kraft zugeschrieben wurde',
so auch der Milch. In China genießt man Milch junger
Frauen, um das Leben zu verlängern und sich zu verjüngen*,
wie auf der anderen Seite Blut, insbesondere Menschenblut,
z. B. von Enthaupteten, wirksam ist. Euryphon von Knidos
verordnete gegen Schwindsucht Esels- und Frauenmilch^,
ebenso Herodotos.'' Die Kosmetik kannte Milchbäder, wie sie
Blutbäder und Weinbäder zur Verjüngung kannte.
Aus diesen Anschauungen heraus erwuchs nun die mystische
Bedeutung der Milch in der Religion als (pcio^axov xfjs
a^uvuöCag.'' In Ägypten wird von Osiris in den Hymnen
gesagt: „Du saugst das reinste Leben mit der Milch der Hor-
secha-Kuh ein"*^, oder die tentyritische Hathor heißt „Die
Spenderin des Lebens an den Anubis durch ihre Milch "^ Das
geht dann über auf die Grabstelen, wo es vom Toten heißt:
„Dir gibt Isis Milch" oder „Die Kuh Hesat gibt dir Milch";
damit ist die Unsterblichkeit gemeint.^" Als Heracles an der
Hera gesaugt hatte, war er unsterblich geworden.^^ Auch
nach eranischer Anschauung macht die Milch unsterblich. Als
' Strabos Geographie VIJ, 3.
* Adam von Bremen IV, 18. Virgil Georg. III, 461 £F. Strabo XVI, 17.
* Vgl. die Literatur bei Strack Das Blut im Glauben und Aber-
glauben der Menschheit.
* Neuburger u. Pagel Gesch. der Medizin I, 29. Ploß-Bartels Das
Weift n^ 408, 409 (Abbildungen).
" Neub. u. Pag. a. a. 0. 195. * a. a 0. 363.
" Reitzenstein Archiv f. Belig.-Gesch. VII, 403.
* Brugsch Bei. u. MytJi. der alten Aegypter 629.
» a. a. 0. 314. " Am Urquell III, 266. " a. a. 0. 259 flf.
550 Adolf Jacoby
Zoroaster das Darunopfer verrichtete mit Wein, Wohlgeruch,
Milch und Granatäpfeln, trank Gushtäsp den Wein und sah im
Traum das Paradies. Die Milch erhielt Pashutan, der unsterb-
lich ward. Jamäsp erhielt den Wohlgeruch und empfing damit
Weisheit (hellenistisch ist nvEV[ia gleich Wohlgeruch). Isfendiär
ward durch die Granatapfelkerne unverwundbar.^
Als himmlischer Trank für die Märtyrer erscheint die
Milch z. B. in der Passio Montani et Lucii, die nicht ohne
Ähnlichkeit mit der Passio Perpetuae et Felicitatis ist. Den
Durst der Märtyrer stillt ein lichtglänzender Jüngling aus zwei
Krügen mit Milch, die nicht leer werden.^ Das berührt sich
mit der Art, wie die Märtyrer wohl vor ihrem Tode die
Eucharistie genießen.
Im Blute der Eucharistie schließen die Gläubigen einen
Bund mit Gott und untereinander. Die Begrifie Blut, Opfer,
Bund, die bei der Abendmahlsfeier ihre bedeutsame Rolle
spielten, haben bekanntlich zu jenen grauenvollen Vorwürfen
des Kindesmordes geführt, die der Heide im Octavius des
Minucius Felix (wohl auf Fronto zurückgehend) schildert^:
Die Christen lassen durch den Neuling, der aufgenommen
werden soll in ihren Kreis, ein Kind, ohne daß er es weiß,
töten und „sitienter sanguinem lambunt, huius certatim membra
dispertiunt, hac foederantur hostia, hac conscientia
sceleris ad silentium mutuum pignerantur'*. Die mißverständ-
lichen Begriffe Bund (foedus) und Blut haben zu der weit-
verbreiteten Annahme eines Blutbundes geführt.
Nun ist es nicht ohne Interesse, daß auch durch die
Milch wie durch das Blut ein solcher Bund geschlossen werden
kann. Darüber hat wertvolles Material Alfred Wiedemann
zusammengestellt."* Philochorus erläutert das Wort 6/ioyaAaxTcg
' Spiegel Eranische Altertumskunde I, 701. II, 162.
' Ruinart Acta sincem 232. * Corpus Script, eccl. latin. Wien II, 13.
* Am Urquell III, 269 tf. Vgl. Cosquiu in Revue des questions
historiques 83, 400 f. 406 f.
Der Ursprung des Judicium offae 551
durch ysvvfltai Geschlechtsverwandte (Fragm. 91). Muham-
medaner, Slaven, Armenier u. a. haben ein weit ausgebildetes
System der Milchverwandtschaft. Besonders auffallend ist die
Erzählung eines Afrikareisenden, der mit einem ostafrikanischen
Sultan einen Bund schloß, indem beide von der gleichen Milch
tranken und zwar der eine aus dem Munde des andern. Da-
durch wurden sie Brüder, gleich als ob sie eine Mutter gehabt
und wie leibliche Brüder eine Muttermilch getrunken hätten.
So schließt auch in Ägypten der König mit der Göttin oder
dem Menschen einen Milchbund. Wie beim Blutbund ist die
volksphysiologische Grundlage die heute noch vielfach ver-
breitete und geglaubte Meinung, mit der Milch der Amme
sauge der Säugling deren Natur ein.
Wer Gottes Blut genießt, wird ihm blutsverwandt, un-
sterblich; wer seine Milch in sich aufnimmt, tritt mit ihm in
Milch Verwandtschaft, wird unsterblich. Das ist der allgemeine
Boden des Volksglaubens, auf dem nun die Verwendung der
Milch im Sakrament sich versteht.
Den Übergang in das christliche Sakrament macht uns
aber eine Ausführung des Clemens Alexandrinus im Paedagoffus
vor allem deutlich. In dem Abschnitt nrpös lovg vjco/.a^ßävovTC(s
rriv räv TCccidCav xal vrjTcCav TCQOGr^yoQiav xi]v xäv xgcbrav
Ha&rindtc3v ccivCtrsö&ai didaxrjv^ erläutert der Alexandriner
mit Beziehung auf 1. Cor. 3, 2 yciXa vfiäg iaöziöa xrk. und
Exod. 3, 8 sladica v/xäg slg ttjv yfjv tjjv äya&riv xr]v gsovöav
yccla xal ^sh die lebenspendende Kraft der Milch aßzsg rp
ycihixxi al Tix&al xovg xaldag xovg vsoyvovg sxxgicpovöiv,
xaya ds ovxco xov Xgiäxov xqt ydXaxxi Adyct av£V[iaxixriv
v^itv iv6xd^(ov XQO(pr]v. ovxca yovv xeXeCu xgorprj xb yuXa
kexl t6 xeXhov xal slg xsXog äysL xb äxaxdxavöxov. ^ib
xdv xfj äva%av6£i xb avzb xovzo exijyyeXxai ydXa xai [isXi.
Nach einer Berufung auf Homers Galaktophagen, die gerechte
Menschen seien, folgen Ausführungen über das Blut, das der
' Migne S. Gr. Vlir, 1, 291 ff.
552 Adolf Jacoby
Herr den Seinen gibt, und über Milch, ein Spiel mit den Be-
griffen weich und fest, Trank und Speise, den Logos, Predigt
und Glaube. Das Blut der Mutter verwandle sich in
Milch ^staßciXXsi t6 al^a sig ydXa und dient dann als _™
Nahrung, rov ds oiyiaTog voötLficbtSQOv t6 ydXa xal Xs^tto- ^
^EQSötEQov. Die Veränderung ist nur eine Änderung der
Qualität {tcolöttjs), nicht der Substanz (ovöCa). dfieXsL yovv
oi) tQocpiiKoxEQOv uXXo TL, ovds ^Tjv fXvxvtSQOV, ccXX' ovdh
XevaöraQov EVQOtg av ydXaxtog. ndvxri dh eoixs tovro ttJ
:jtvsv^ccTLJifj tQoq)fj' yXvxslcc fisv diä trjv jja()tv VTcdg^ovöcCj
tQÖcpLiiog 8s Gjg ^at]' Xevxij de cjg rjfisQa Xqlötov' xal t6
aliia TotJ jlöyov Ttecpavigcotai hg ydXa. Interessant ist
auch die Ausführung über das Manna mit der Bemerkung
d^sXsi xai vvv al titd-ccl t6 7tQ(ot6%vtov rov ydXaxtog ^öpLUi
oficovv^cog EXELvrj rfj tQoqifj {idvva xExX'r]xa6i. Ich übergehe
einiges; dann heißt es weiter: sl toCvvv rj ^hv xatEQyaöCa tfig'^
XQOtpfig E^ai^atovtai^ rb ds cclfia enyaXaxtovtaiy TCagaöHSvi] yocq]
xo ai(ia xov ydXaxxog, coötieq al^a dvd'Qanov, xal yCyaQxov]
dnJtsXov. x^ ovv ydXaxxt, xfj xvQiaxfj XQoq>fj sv&vg fisvi
aTtoxvrjd-svxsg xid-i^vovfisd-a. Er bezieht sich wieder auf daaj
himmlische Jerusalem, iv fi iiiXi xal ydla öiißQslv dvays-
yQa%xai. — Td ^sv yaQ ßQcb^ata xaxaQyelxai fj q)r]6LV b\
aTtööxoXog (1. Cor. 6, 13) avxög, i] 8s 8id ydXaxxog XQocpi} slg'
ovQavovg xad^rjyslxai noXlxag ovgav&v xal övyxoQSvxäg dyysXav
dvad-QS^l^aiisvr]. Er sagt dann vom Logos, er sei nrjyr) ^cofjg
ßQvovöa xal Ttora^bg siQi^xai hlaCov^ slxöxvog dXXrjyoQäv b
IlavXog xal ydXa avxbv övoj^id^cov, ,,i3t6xi6a^^ STtKpsQSi.
nlvBxai ydQ 6 A6yog, i] XQOcpij xrjg dXrjd'sCag. dfisXsL xal xb
Ttoxbv vygä xaXslxai XQoq)ij. zfvvaxbv 8s xb avxb xal ßQä^a
slvai ncag s%ov, xal Ttoxbv TtQbg äXXo xal 'dXXo voovfisvoV
xad^djcsQ xal 6 xvgbg ydXaxxög ißxL jcfj^Lg r} ydXa
nsTtriydg. Clemens spielt dann wieder mit den Begriffen Blut,
Wein, Brot, Fleisch, bis er sagt ovxa noXXa%cbg dXX^^yoQsltat
6 A6yog xal ßQ&na xal öaQ^ xal XQOcf^ xal aQXog xal
Der Ursprung des Jadiciam offae 553
ui^u xui yäXa. änavxa 6 xvQLog elg a7c6Xuv6iv rifiäv x&v
bIs avxbv :x£:ti6r£vx6t(ov. Niemand wandere sich über den
allegorisclien Gebrauch des Wortes Milch für das Blut des
Herrn, der durch den allegorischen Gebrauch des Wortes Blut
für den Wein gedeckt wird, vgl. Gen. 49, 11. Die folgenden
Zeilen enthalten eine bedeutsame medizinisch - physiologische
Auseinandersetzung über das Entstehen des Embryo, die ich
ausführlich wiedergebe, weil sie zu dem noch anzuführenden
Tertullian eine Parallele bildet. äXXä xal tj öägi, uvrij xai xb
iv avxf} aifia xq) yuXaxxi^ olov ttvxi:t£XccQyov{isvov , agöexuC xe
xal avi,£XUL. xal dr^ xal i] dia^ögcpaöig xov 6vXXi](p&svxoSj
xq) xfjg i:tl ufjva xa&aQösas vxoXaXBi^^iavip xa^agq) nsQizxci-
fiaxi XLQva^ävov xov 6:teQnaxog' 17 yäg iv xovto) dvva^ig
d'Qoußovöa xov ai^axog x^v tpvöiv, bv xqoxov f^ nvxCa 6vvCöxr/6L
xb ydXa, xal ovöCav igyä^ixaL f^iogqiaöscjg' sv&aXsl yäg ^
XQä6ig' öcpaXsQa öh fj äxQÖxr^g slg äxsxvCav. xal yccQ avxflg
i^di] x^g yrig vzb uhv iTto^ißgCag xaxaxXvö^sv ocTCOGvQBxai xb
6niQiia' diä de av^i^bv voxCdog, diiohrjQaCvexaL' xoXXtodrjs Sh 6
X'^l^bg bjv 6vvB%si xb öJtsgfia xal (pvsi. Tivhg öh xal xb öxsgfia
xov ^G)0v dq:gbv Bivat, xov ai^iarog^ xkt' ovöCav vnoxCd'EvxaL'
ö di] r^ iiKpvxa xov aoösvog ^agnj] Tcagd rag 6v^:cXoxäg ix-
xagaxd'hv 6xgi:ii<6n6vov i^aqigovtai, xdv xulg öTceguaxCöi TcagaxC-
^Bxai (fXexpCv evxsv^iv yäg 6 ^AnoXXiovidx'iig zlioyevr^g xä
'A(pgo8i6ia xExXf^öd^ai ßovXsxai. Hvacpavig xoivvv ix xovxav
axdvxcDv, ai^a bIvui xov äv^oäTiov 6<huaxog xijv ovöCav. Kai
d'^ xal xb xaxä yaöxgög, xb fihv :igäxov vygov iöxi Gvöraöig
yaXaxxosLÖrjg' STCBixa i^ai^iaxov^svi^ öagxovxai ij övöxaöig avxrj'
nriyvviiBvi] da iv xf} vöxiga anb xov (pvöixov xal ^sg^ov
xvBv^atog, v(p o^ 8ia%XdxxBxai xb Bt.ißgvov, ^aoyovaixai.
AXXa xal nBxä xvi]6iv av^ig ixxgitfBxai xb TtaidCov al^iaxi xqt
avx&' auiaxog yäg (pv6ig xov yäXaxxog ^ gv6ig xal nrjyrj
• Vgl Vindicianus Afer (364 — 375 Arzt unter Valentinian I) nach
Diogenes spumam sanguinis eius (seminis) essentiam dixit. Neubui^er
u. Pagel Gesch. d. Med. I, 293.
554 Adolf Jacoby
TQOcpfjs tb ydla' o5 öi] ^at yvvii öijXrj rsnovöa äX'r]&a}s icccl
^itjtrjQ' di' ov xal (pCXrQov evvoCas 7tQo6Xa^ßdvEi. 8iä xovto
KQU ^vöTLnäg rb ev t<p "AtioötoXg) ayiov TCvaviia, rfj rov
xvqCov anoiQG)iisvov (pav^^ FdXa v/xäg snötiöa, Xsyst. ei yaQ
ccvsysvv^d-rj^sv slg XQiötbv 6 dvayEvvijöag rniäg sxtQEfpsi to5
Iö(g) ydXaxti, reo Xöycj. näv yäg xb ysvvfiöav eomsv Evd^vg
7CaQS%Siv r(p ysvvaiisvG} XQOcprjV xxX. ... xb avxb ccqk xal alua
xal ydXa xov xvqCov Tcd&ovg xal diduöxaXCag <Sviißo?.ov . . .
ayg ds e| al^ccxog ydXa v.axa ^sxaßoXijv yCvsxai, "^dtj [xav öacpsg;
das zeige sicli auch an dem Vieh, das im Frühjahr die saftigen
Kräuter genieße und daher mehr Blut, darum auch mehr Milch
habe; im heißen Sommer trocknet Blut und Milch aus.
Clemens bringt dann Milch und Taufe in Verbindung und, da
es sich offenbar um jenen alten Taufbrauch handelt, der oben
erwähnt wurde, spricht er von der Mischung von Milch un^
Honig enl nad-dQösi, auch von Milch und Wein gemengt
k%03(p8Xrig de ij iiiiig' xad-dnsQ dvaxiQva^svov xov nd&ovg alg
d(p^aQ6lav. Auch dies wird nun allegorisiert, endlich auch dif
Butter, die man in den Laternen brauche, die dem Worte
gleiche, das die Kinder erleuchte. Dabei bezieht sich dei
Alexandriner auf Deut. 32, 13. 14 und Jes. 7, 15.
Lesen wir diese gewiß allegorisierenden Gedankengängej
denen aber bestimmte sakramentale Bräuche zugrunde liegeD]|
so darf uns der Gebrauch der Milch nicht verwundern; si€
kann dem physiologischen Glauben nach vollständig an die
Stelle des Blutes treten. Sie ist ferner nichts anderes als das
Sinnbild des Logos Christi, lebenzeugend und erneuernd. Aucl
in dem bekannten Hymnus am Ende des Paedagogus heißt Christut|
ydXa ovQdviov iiaöxüv yXvxsQ&v vv/tgr?;? ^agCxav^ Horpia^
xfig öfjg iicd-lLßöiievov, ol vrjTtCaxoL cctuXotg öxöiiaOiv dtixccX'
Xo^svoL, d-fjXfjg XoyiX'^g Jtvsvnati öqoösq^ i^iTCtJtXdfisvot xxX}
Auch sonst begegnet uns die Milch als Bild christlichen Werdens.*
* Clemens Alex, am Schlüsse des Paedagogus M. S. Gr. VIII, 1, ö84.
* Terfcullian ad Scap. 4: lacte christiano educatus.
Der Ursprung des Jadicinm ofFae 555
M Der Käse aber ist festgewordene Milch, Substanz dieser. Das
Igt eben auch TertuUian^ in einer Ausführung über Joh. 1, 13,
wo auch der Vergleich mit dem Blute nicht fehlt: negans
autem ex carnis quoque voluntate natum, cur non negavit etiam
ex substantia carnis: neque enim quia ex sanguine negavit,
substantiam carnis renuit, sed materiam seminis, quam con-
stat sanguinis esse calorem: ut despumatione mutatum in
coagulum sanguinis feminae. Nam ex coagulo in caseo vis
est substantiae, quam medicando constringit, id est, lactis.
Damit läßt sich jene Probe alter Physiologie bei Hiob X, 11
vergleichen, wo die Enstehung des Embryo mit den Worten
geschildert wird: „Hast du mich nicht wie Milch hingegossen
und wie Rahm mich gerinnen lassen?" Und nicht mit Unrecht
hat dazu Rochholtz Homers Verse gestellt, in denen Paieon
dem verwundeten Ares lindernden Balsam auf die Wunde
legt und das Blut gerinnen macht :-
Schnell wie die weiße Milch vom Feigenlabe gerinnet.
Flüssig zuvor, wann in Eil' umher sie dreht der Vermischer:
Also schloß sich die Wunde sofort dem tobenden Ares.
Die zuletzt gegebenen Zeugnisse sollen zeigen, wie der
Gedanke, daß der Käse die festgewordene Substanz der Milch
sei, zu dem Vergleich von Käse und geronnenem Blute führte
auf dem Grunde der alten physiologischen Vorstellung, daß
Milch und Blut wesenseins seien und eins aus dem andern
entstehe. Ist Milch ein Trank der Unsterblichkeit und kann
an die Stelle des Blutes treten, so ist auch Käse Speise der Un-
sterblichkeit. Es ist in dem Abendmahlsbrauch der Montanisten
nur eine konsequente Weiterbildung solcher Gedanken zu sehen.
Noch eins sei erwähnt als Frage. Von den Paulicianern
wird erwähnt, daß sie auch in der von ihnen anerkannten
Fastenzeit Käse und Milch genossen, y.atä de tbv y.aLQbv t^j
* De carne Christi 19 ed. Semler III, 386.
* Ilias Y, 902—904. Germania VII, 395.
556 Adolf Jacoby
doiiovör]s ccvtots rE66aQaxo6xfig xvqov xe xal yäXazxog e^(po-
QoviLBVoig} Und das trullanisclie Konzil von 692 verbot den
in Armenien übliclien Brauch, in der Quadragesimalzeit Eier
und Käse zu essen.^ Hängt das noch weitläufig mit den
oben untersuchten mystischen Ideen zusammen?
Eine Segnung von Käse und Eiern enthält das Sacra-
mentarium Gregorianum^, eine solche für Käse der ordo
Romanus.^
8
Daß der Milch und damit auch dem Käse als elementaren
Nahrungsmitteln im Sakramentalwesen eine bedeutungsvolle
Stelle eingeräumt wurde, das lag nahe. Eine Anzahl weiterer
Zeugnisse mögen das noch ausführen.
Diogenes Laertius schildert die Lebensart der persischen
Magier mit den Worten^): s6d-i]g ^hv Xsvxi], öxißäg dh svvij.
xal Xd%avov XQOtpri, xvQÖg xs xal ccQXog svxsXijg, xat
xdXaiiog i] ßaxxrjQCa (p nsvxovvxsg, (pccöC^xov xvqov äv7]QOvvxo xal
ccTiijö&Lov. Seine Kenntnis hat Diogenes aus Clitarchs XIII. Buch.
Daß in der Tat diese Speisen geheiligt waren, geht auch
daraus hervor, daß sie den Parsen während der Fasten erlaubt
waren. Bei einem Todesfalle dürfen nach parsischer Vorschrift
die Verwandten des Verstorbenen durch drei Tage und Nächte
hindurch kein Fleisch essen und nichts kochen; nur Milch,
Käse, Früchte und Eier sind ihnen gestattet.® Sollte damit
nicht die altchristliche, armenische Gewohnheit der Paulicianer
und die Segnung von Käse und Eiern zusammenhängen?
Zoroaster selbst soll von Käse gelebt haben: traduri
Zoroastrem in desertis caseo vixisse annis XX'X ita temperatc
' Jacobus Trollius insignia itinerarii Italici 146 Neander Kirche-»
geschickte V, 343. * Hefele Konztliengeschichte II F, 337.
' Opp. Gngorii, Venedig 1773, X, 404.
* Hittorpius de divin. eccl. cathol. off. IGIO, 84.
* Vitae philos. ed Cobet 2.
® Kaegi Die Ncunznhl hei den Ostariern, Philol Abhh. H.Schweizer-
Sidler dargebracht 1801, 59.
Der Ursprung dea Judicium offae 557
ut vetustatem non sentiret.' Ahnlich erzählt auch Plutarch^,
nur berichtet er, leicht verständlich, statt von Käse von Milch.
Der Arzt Philo bringt dem Philinus und dessen Sohne trockene
Feigen und Käse mit der Begründung ov yäg ifisfivi^^rjv, oti
Haöccörgov rifilv vnoxQStpti 6 Oilivos-, ov tpaöi nrJTS noxS
■/Qrföccfiavov ükX(p //jjt' sdeö^ati xXi]v tj ydXaxros Siaßicäöai
xdvxa xov ßCov. Auch Menipp, der von Mithrobarzanes zur
Hadesfahrt vorbereitet wird, darf während der ganzen Zeit der
Initiation nur Obst, Milch, Honiggemisch oder Choaspes-
wasser genießen.'
Am wichtigsten aber ist die Mitteilung Plutarchs^ über
die Einweihung des Artaxerxes in heimische Mysterien (die
ßttöihx'^ xeksx-^): söxi dh &£&s JtoA^.utxijg Uqov ijv \^&r^vttv av
Ttg eixdöeuv. eis xovxo dsl xbv xtXov^evov jtuQsld^övxu x^v
fihv IdCccv ocTiod^iö^ccL öxoXrjv, dvaXaßstv ds TJv Kvgog 6 JtaXaibg
itpÖQBt Ttglv rj ßuöLXsvg yBviö&uL xal övxav naXä^rig
i^Kpayovxa rsgf.iCvd'ov xaxaxgaysiv xal tcoxtiqlov ixxtslv
d^vydXaxxog. el de Ttgbg xovxoig Exsga axxa dgaöLV, adtjXov
iöTL xolg dXXoLg Xach diesem Bericht gab es also in Persien
Mysterien, bei denen eine Art Kommunion unter doppelter
Gestalt vom König gefeiert wurde: er mußte Feigenkuchen
essen (vgl. oben die Feigen, die der Arzt Philo bringt) und
Sauermilch trinken (vgl. oben den Käse). Es ist natürlich
schwer, aus dieser Notiz Schlüsse von weittragender Bedeutung
zu ziehen; immerhin kann man sich des Gedankens nicht er-
wehren, daß zwischen dieser Mysterienfeier und den Abendmahls-
bräuchen der Artotyriten und der oflFa iudicialis ein Zusammen-
hang anzunehmen ist.
9
Kurz möchte ich auch noch die Vorschriften über das
verwendete Brot streifen. Die judicia offae schreiben vor, daß
1 Pliuius h. n. XI, 42, 97. * Sympos. IV, 1, 1.
" Necyamant. 3. A. Dieterich Eine Mithrasliturgie 172.
* Vitae parall. ed. Sintenis V, 106.
558 Adolf Jacoby
panis ordeaceus zur Verwendung komme. Nun wird beim
Abendmahl seit alters Weizenbrot gebraucht, so daß man hier-
aus einen Grund gegen unsere Annahme, proba offae und
Abendmahl seien ursprünglich eng verwandt, konstruieren
könnte. Allein es unterliegt keinem Zweifel, daß die alte
Kirche auch gewöhnliches gesäuertes Brot zur Feier benutzt
hat So redet z. B. Pseudo-Ambrosius de sacram. IV, 4 von
mens panis usitatus.^ Daß aber auch Gerstenbrot gebraucht
wurde, trotzdem dies das minderwertige Brot war und von
Clemens Alexandrinus^ symbolisch als das Judentum gegen-
über dem göttlichen Weizen des Christentums gedeutet wurde,
dafür mag eine Stelle der Acta Petri et Pauli 45 fg. dienen.^
Petrus verlangt in seinem Streit mit Simon Magus, um zu
beweisen, daß er dessen Gedanken lesen könne, einen ÜQtog
zQid^ivog (im lat. Paralleltext panis ordeaceus) und segnet das
Brot (svXoysi avröv),^ dann zerbricht er es heimlich und als
nun Simon durch seine Künste zwei Hunde, in Wahrheit böse
Geister, gegen Petrus erregt, da hält der Apostel den Tieren
die beiden Brotstücke vor, worauf die Hunde sofort ver-
schwinden. Das ist ja klärlich eins der zahlreichen Wunder,
wie man sie der Hostie und dem Abendmahlsbrote zu-
schrieb.
Gerstenbrot benutzte auch nach Joh. 6, 9. 13 Jesus bei
der Speisung der Fünftausend, worauf sich im Azymitenstreit
' Migne S. Lat. XVI, 439. « Strom. VI, II M. S. G VIII, 2, 816
^ Acta apostolorum apocr. ed. Lipsius- Bonnet I, 198 fg.
* Die Segnung svXoysiv geschieht beim Abendmahl, sodaß dieses
svXoyicc heißt, evloylcc ist ursprünglich die konsekrierte Hostie (rpoqp/^
siXoyrj&stGu vgl. Suicerus, Thes. 8. v.), dann später Bezeichnung für das
zum Opfer gebrachte Brot, von dem die Hostie genommen wird und
das auch denen, die zum eigentlichen Abendmahlsgenuß nicht zugelassen
wurden und nicht zugegen sein konnten, gereicht wurde. Das ist auch,
was oben in dem vor dem Konzil zu Konstantinopel 1372 verhandelten
Fall &vrlS(OQOv genannt wird. So oder so aber muß bei der Eucharistie
auch Gerstenbrot zur Verwendung gekommen sein. Das Übliche war
freilich Weizenbrot. Vgl. Irenaeus adv. haes. V, 1. 3 u.a.m.
Der Ursprung des Judicium offae 559
Theophylakt von Achrida^ bezog, um den Nachweis zu liefern,
daß man eine Einheitlichkeit und genaue Nachahmung der
Feier Christi nicht erreichen könne und brauche.
Eine Beziehung zur Abendmahlsfeier liegt vielleicht auch
darin, daß die judicia offae gelegentlich bestimmen, das Brot
solle sein absque fermento.* Vom 9. Jahrhundert ab wurde
im Abendland ungesäuertes Brot für die Abendmahlsfeier
durchgängig üblich, zum ersten Mal durch Rhabanus Maurus
de cleric. instit. I, 31 bezeugt.'
Freilich ist diese Übung, ungesäuertes Brot zu benutzen,
im Anschluß an die synoptische Tradition von der Abend-
mahlsfeier am Tag der süßen Brote, in gewissen Kreisen der
alten Christenheit bereits bekannt gewesen. Nach Epiphanius
haben die Ebioniten, also Juden christliche Kreise, jährlich bei
der Kommunion ungesäuertes Brot und Wasser (als Asketen)
genossen."* Natürlich liegt da eben ein Anknüpfen an das
jüdische Passah vor mit seinen süßen Broten.
Die süßen Brote wurden auf folgende Weise gebacken.
Am Abend vor dem 14. Nisan, ehe die Nacht hereinbrach
und die Sterne erschienen, schöpfte der Hausvater in neue
Wasserkrüge das durchgeseihte Wasser, das am folgenden
Tage gebraucht werden sollte. Der Rabbiner weihte das
Wasser unter feierlichen Gebeten zum Gebrauch. Auch der
Osterweizen wurde unter besonderen Vorsichtsmaßregeln ge-
kauft und von der Erntezeit ab aufbewahrt, zuletzt vor dem
Feste genau Korn für Korn ausgelesen, ebenfalls unter Be-
obachtung von allerlei Vorsichtsmaßregeln, Antun neuer Kleider,
Verschleierung des Mundes u. a. m.^
Dies ganze Verfahren erinnert auffallend an die Art, wie
Hostien gemacht werden. Auch da werden unter allerlei
Gebeten, in bestimmten Gewändern die Kömer einzeln aus-
' Cotelerius Monumenta ecclesiae graec. II, 273.
* MGHF631, 40. » Migne S. Lat. CYII, 317.
* Haeres. XXX, 16. ^ Vgl. Ersch u. Gruber, Ällg. Enc. lU, 13, 97.
660 Adolf Jacoby
gelesen (granatim eligantur) und gewaschen, gemahlen, endlich
die Hostien aus dem reinen Weizenmehl ohne Salz gebacken.^
Azymiten waren übrigens bereits in der alten Kirche auch
die Syrer,
Es hängt wohl mit diesen Bräuchen, speziell auch mit
der Wasserweihe für die süßen Brote zusammen, wenn in
einem der judicia offae vorgeschrieben wird, das Brot zu
backen aus panis ordeacea und aqua benedicta^, wo nur das
Gerstenraehl wieder einen wahrscheinlich künstlichen Unter-
schied vom Abendmahl selber konstruieren soll. Doch betone
ich, daß dies nur eine Vermutung ist, wie auch die nächste
Folgerung.
Denn nicht bedeutungslos erscheint es nun unter diesen
Umständen, daß die Formeln der Zauberbücher sich einerseits
dem altkirchlichen Brauch anschließen, anderseits dem der
Ebioniten und Azymiten. Sie sprechen von ösXCyvLov avalov,
also süßen Broten aus Weizenmehl. Auch das dürfte wohl
mit Recht auf einen Zusammenhang mit christlichen Eucharistie-
bräuchen gedeutet werden. Zugleich ist es ein neuer Beleg
für die spätere römische Praxis, aus alter Zeit, und es wäre
nicht ganz unmöglich, daß die Ausbreitung der proba oflFae
und der Abendmahlsprobe im Abendland bei der Übernahme
dieser Praxis eine gewisse Rolle spielte. Zeitlich fällt das
Auftreten der Probe mit dem Aufkommen des ungesäuerten
Brotes im VIII. und IX. Jahrhundert zusammen Doch ist das
natürlich unsicher. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den
Gebrauch ungesäuerten Brotes in den montanistischen Kreisen,
die also demnach Azymiten gewesen wären, ergibt sich aus
dem Ganzen.
10
Wie ist nun wohl dieser ganze Ritus entstanden? Die
bisherigen Ausführungen haben mit ziemlicher Sicherheit ge-
* Constit. Hirsaug. II, 32. Migue S. Lat. CL, 1086, vgl. unten
ßsXlyviov &vaXov. * MGHF 691.
Der Ursprung des Judicium offae 561
zeigt, daß es sich um eine Form der Eucharistie handelt.
Dann aber gehört dieses merkwürdige Mittel, Diebe zu ent-
decken, in den Rahmen des Aberglaubens, der an die Abend-
mahlselemente und ihren Genuß anknüpfte.
Die Entwickelung beginnt bekanntlich bereits bei Paulus.
Wenn er 1. Cor. 11,29. 30 äie Krankheiten und Todesfälle in
der Gemeinde auf unwürdigen Abendmahlsgenuß zurückführt,
so ist das eine in dem ursprünglichen Sinne der Feier gewiß
nicht mit eingeschlossene, unter den Einflüssen jener mit
mystischen Ideen geschwängerten Welt entstandene magische
Anschauung.
Die Opfergaben nehmen an der göttlichen oder dämonischen
Natur teil und haben daher eigene Kräfte. So kann Paulus
1. Cor. 10,20 von einer Gemeinschaft mit den Dämonen beim
Genuß des Götzenopfers reden, eine Vorstellung, die parallel
geht der von Simplicius^ uns berichteten, nach der die Opfer-
gaben durch ihre göttliche Kraft z. B. Kranke heilen können.
Wenn daher Augustin' einmal um seine Meinung befragt
wurde, ob es richtig sei, daß kranke Kinder, wenn sie vom
Dämonenopfer äßen, genesen würden, so entsprach diese Frage
nur dem Volksglauben heidnischer und christlicher Kreise,
denn auch der Hostie schrieb man die nämlichen Kräfte zu.
Es ist nicht nötig, auf die verschiedenartigen Wunder,
die durch die Abendmahlselemente geschahen, einzugehen.'
Aber wichtig ist, daß schon frühzeitig der Glaube sich aus-
bildete, daß das Abendmahl zur Entdeckung geheimer Sünden
und Frevel dienen könne. Gleich der Beginn der Vercellen-
sischen Akten des Petrus und Simon c. 2* enthält eine Er-
zählimg, die hierhergehört. Paulus spricht über Brot und
* Komm, zu Eplktet 38. Lobeck, Aglaophamus 708.
« Migne S. Lat. XXXIII, epist. 98.
* Man könnte hier mancherlei aufführen, z. B. Evagrius IV, 3.
Gregor von Nazianz orat. 8, 18 (Migne, S. Gr. XXXV, 809). Ambrosius
de excesm fratris sui Satyri 1,43 (Migne, S. Lat. XVI, 1360 f.).
* Lipsius- Bonnet, Acta ap. apocr. 1,46.
Archiy f. ReLigionswissenschaft Xm 36
562 Adolf Jacoby
Wasser das Gebet und teilt die Elemente aus. Als auch
Rufina die Eucharistie aus des Apostels Händen entgegen-
nehmen wollte, verkündigte ihr Paulus, daß sie, eben von der
Seite eines Buhlen aufgestanden, nicht als Würdige nahe und
auf seine Worte bricht sie auf der linken Seite gelähmt zu-
sammen. Klarer noch ist das andere, einer ebenfalls volks-
tümlichen, altchristlichen Schrift, den Akten des Thomas sect. 48
bzw. 5P entstammende Beispiel. Ein Jüngling, der einen
Frevel (jjtQäy^a äd-sfiitov) begangen hat, erlebt, daß ihm im
Augenblick, da er die Eucharistie mit dem Munde empfängt,
beide Hände verdorren, so daß er sie nicht mehr zum Mund
emporführen kann Der Apostel, herbeigerufen, fragt sofort:
„Sag' mir, mein Sohn, ohne Scheu, was du getan hast,
bevor du hierher kamst. Denn die Eucharistie des Herrn
hat dich überführt. Diese Gnadengabe, die zu vielen ge-
kommen ist, heilt zumeist die im Glauben und in der Liebe
Herantretenden, dich aber hat sie verdorren lassen, und das
Geschehene ist nicht ohne eine besondere Kraft geschehen."
Der Jüngling bekennt denn auch einen Mord und wird
vom Apostel durch Waschung mit geweihtem Wasser wieder
geheilt.
In solchen Erzählungen haben wir die Grundlage für die
uns beschäftigenden Gebräuche zu erkennen. In mancher Be-
ziehung aber das wichtigste Beispiel hat uns Cyprian de
lapsis 25 ^ bewahrt, der mitteilt, daß ein Kind, dem nach der da-
maligen Sitte der Kinderkommunion der Abendmahlswein ein-
geflößt wurde, diesen wieder ausgebrochen habe. Der Grund
zu der Erscheinung war, daß das Kind zuvor vom Götzenopfer
genossen hatte und damit eben mit den Dämonen in Verbindung
getreten war.
Nun war es Anschauung der alten Kirche, daß der Sünder
einen Dämon habe, vom bösen Geiste besessen sei. Origenes
1 a. a. 0. 2,2,167.
' Corpus scriptorum eccl. lat. der Wiener Akademie III, 256.
Der Ursprung des Judicium oflFae 563
in Num. hom. 27 n. 8 erklärt, wer einen Ehebrucli begeht
oder vom Zorne sich hinreißen läßt oder stiehlt, hat einen
Dämon. Daher wird im Exorzismus der judicia offae aus-
drücklich gesagt: exorcizo te, immunde Spiritus, qui hominem
suadis et constrictas, ut furtum faciat etc. Mehr darüber in
einer Geschichte des Exorzismus; die beiden charakteristischen
Stellen mögen genügen. Diebstahl bedeutet also Gemeinschaft
mit dem bösen Geiste; die Wunderkraft der Hostie kann daher
in Wirkung treten!
Das Kind kann in dem Falle, dessen Cyprian Erwähnung
tut, den Abendmahlswein nicht bei sich behalten, weil es mit
den Dämonen in Verbindung getreten ist. Es beruht auf der
gleichen Vorstellung, wenn der Dieb, der gleichfalls mit den
bösen Geistern verbunden ist, der Abendmahlsprobe oder der
Probe mit Brot und Käse unterworfen, die Elemente nicht
hinunterschlucken kann oder, wie es öfters heißt, wieder aus-
brechen muß.
Ein Fortschritt gegenüber den vereinzelten Wunder-
erzählungen der alten Literatur zeigt sich nur darin, daß, was
dort Wunder ist, nun zum systematischen Beweisverfahren
erstarrt, eine Erscheinung, die nicht auf die Probe mit Abend-
mahl und Käsebrot sich beschränkt.
11
Noch eine Frage bleibt nun übrig: nach dem Erfolg des
Brauchs. Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine
Übung, die eine so zähe Existenz und eine so weite Aus-
breitung gewonnen hat, nicht erfolglos angewendet wurde;
um so mehr, wenn unsere Vermutung recht hat und heid-
nische Kreise den christlichen Brauch übernahmen, eine Tat-
sache, die sich um so wahrscheinlicher machen läßt, wenn
der Brauch durch Erfolge zur Nachahmung reizte. Mit
dem Worte Aberglauben und Priestertrug ist hier nichts zu
machen.
86*
564 Adolf Jacoby
Die Übung läßt sich auf die Gesetze der menschlichen
Psyche zurückführen und von da aus zugunsten der Wirklich-
keit des Erfolgs beantworten. Ich will dies an der Hand
einiger aus den verschiedensten Gebieten der Erde zusammen-
gestellter Beispiele erläutern.
Die japanischen Bergmönche beschrieben Papiere mit
mystischen Schriftzeichen und Vogelbildern und ließen diese
Zettel dann vom Obereremiten der Provinz Kumanno unter-
zeichnen. Holte man sich bei ihnen wegen eines Diebstahls
Rat, so verfuhren sie ähnlich wie die Priester des Mittelalters
und des alten Christentums: sie rissen von einem solchen
Zettel ein Stück ab und gaben es dem Verdächtigen, der es
verschlingen mußte. Das Papier sollte des Inkulpaten Herz
und Gemüt mit unerträglicher Angst erfüllen und ihn zwingen,
zu bekennen. Das Schuldbewußtsein und die Furcht vor der
geheimnisvollen Macht und Kunst der Mönche rief gewiß in
vielen Fällen ein Geständnis hervor.^
Wenn in Mexiko ein Diebstahl vorkam, so nahm man
seine Zuflucht zum Schlangenzauberer. Der Beschädigte rief
die Nachbarn zusammen, gegen die er Verdacht hatte, und
der Zauberer hielt folgende Rede an sie: „Ihr sitzt hier, meine
Kinder, weil einer eurer Nächsten, der in Bedrängnis ist,
diesem seine Habe, sein Gut gestohlen hat, weil er in meiner,
in deiner Abwesenheit, ihm seine Habe, sein Gut genommen
hat. Er möge es ruhig hergeben, der Unglückliche, denn es
wird jetzt kommen der Zauberer, der wird dich entlarven."
Folgt auf diese eindringliche Ermahnung kein Geständnis, so
läßt er die Schlange aus ihrer Schüssel und sie bezeichnet
den Schuldigen, indem sie an ihm emporkriecht. Kehrt sie
ohne solches Tun in ihre Schüssel zurück, so ist der Schuldige
nicht unter den Anwesenden. Seier macht dazu die richtige
Bemerkung: „Es ist klar, daß die Kunst dieses Zauberers
einzig in der Abrichtung der Schlangen bestand, und die
' Kämpfer Amoenitates exoticae 463 — 465.
Der Ursprung des Judicium ofFae 565
Wirksamkeit seiner Kunst in dem Glauben an sie, der den
Schuldigen sich irgendwie verraten ließ."*
Wie richtig Seier gesehen hat, das beweist die Praxis,
die uns aus Masuren erzählt wird. Wenn ein Hausgenosse
sich des Diebstahls verdächtig gemacht hat, läßt der Haus-
vater die Leute zusammenkommen und verteilt unter sie Stroh-
halme von gleicher Länge; nach einer Viertelstunde werden
die Halme wieder untersucht, wo dann der Halm des Diebes
gewachsen sein soll. In einem Falle sei auch der Dieb ge-
funden worden, weil er aus Furcht vor Entdeckung ein Stück
von dem Strohhalme abgebissen habe.*
Instruktiv ist auch folgende Geschichte aus ganz anderer
Gegend. 1854 war Ismael in Safita im Libanon Gouverneur.
Von ihm erzählte man: une autre fois, on avait devalise une
boutique en pratiquant un trou dans le mur. Ismael reunit
comme de coutume les gens du village. „Je vais lire, dit-il,
une priere devant le trou et celui qui a vole ne pourra pas
y passer." Puis quand il eut fini sa priere: „Ce n'est pas la
peine, dit-il, le trou vient de me parier: le coupable a de la
poussiere sur le tarbouch." Aussitot il aper^ut dans un coin
le voleur qui epoussetait son tarbouch.'
So keck dieses Verfahren ist und so sehr es einem Scherze
gleicht*, so viel spricht es für die feine Psychologie und Be-
obachtungsgabe des Gouverneurs. Böses Gewissen und Schuld-
bewußtsein, auf der anderen Seite Glaube und starke, vom
Nimbus der Heiligkeit und übernatürlicher Kraftbegabung um-
gebene Persönlichkeiten wirken ungeheuer. Es sind die Ge-
* Veröffentlichungen ans den Königl. Mus. f. Völkerkunde Bd VI,
Seier, Zauberei und Zauberer im alten Mexiko 46.
» Wuttke a. a. 0. 239.
' Dussaud Histoire et religion des Nosairis 36.
* Ich sehe nachträglich, daß es sich in dieser Erzählung tatsächlich
um einen Schwank aus dem Morgenland handelt, der indessen für unsere
Frage doch seinen Wert behält; vgl. Zeitschrift des Vereins für Volks-
kunde V, 61.
566 Adolf Jacoby Der Ursprung des Judicium offae
setze der Suggestion und Autosuggestion, die den eigentüm-
lichen Praktiken der Ordale mit dem geweihten Bissen und
der Abendmahlsprobe ihren ernsten Hintergrund gegeben haben.
So gut heute noch unter dem Einfluß einer Verbalsuggestion
im wachen Zustand Lähmungs- und ähnliche Erscheinungen
hervorgerufen werden können, so gut konnten die Priester der
Vergangenheit, auch ohne bewußte Kenntnis der zugrunde
liegenden Erscheinungen der menschlichen Psyche, durch ihre
Formeln und Exorzismen eine Art der Verbalsuggestion, Er-
folge zeitigen. Lehmann hat es durch Verbalsuggestioa fertig-
gebracht, daß ein Student monatelang in seiner Gegenwart
kein Streichholz entzünden konnte^, und die verblüffenden
Versuche von Bernheim, v. Schrenck-Notzing, Kraft -Ebing,
Forel u. a. überheben mich weiterer Nachweise. Wo der im
Gerüche geheimnisvoller Macht stehende Priester — auch das
evangelische Volk holt den katholischen Priester wie eine Art
Hexenmeister, um Diebe zu entdecken^ — auf die rechte Dis-
position der Psyche durch Schuldbewußtsein und Glauben an
die Wunderkraft der heiligen Worte oder der geweihten Ele-
mente traf, da aß der Schuldige überhaupt den Bissen
nicht (siehe oben Abschn. 4) oder es konnten auch unter dem
psychischen Eindrucke richtige Würge- und Erstickungserschei-
nungen oder Brechreiz sich auslösen. An der Wirklichkeit
mancher Erfolge, die den Glauben neu stärkten, wird man
nicht zweifeln können, und das erklärt die Zähigkeit und Ver-
breitung unseres Ordals.
* Lehmann Zauberei und Aberglaube.
* Wuttke a.a.O. s. Register unter „Geistliche, katholische".
I
Marica
Von Franz BoU in Heidelberg
Vor mehreren Jahren fiel mir bei der Durchsicht einer
Augustinhandschrift eine Randnotiz auf, die über die durch
Marius' Flucht bekannte Göttin von Mintumae neue Nachricht
bringt. Meine — allerdings von vornherein wenig zuversicht-
liche — Hoffnung, daß sich in der weitverzweigten Über-
lieferung der Civitas Dei diese Randnotiz irgendwo noch etwas
ausführlicher finden möge, hat sich bis jetzt, nach Durchsicht
von etwa 30 Augustinhandschriften, nicht erfüllt; so möchte
ich nun nicht länger zögern, von dem kleinen Funde Mit-
teilung zu machen, wenn ich auch nur einen guten Bruchteil
der älteren Augustinhandschriften heranziehen konnte.^
Die Randbemerkung, von der ich spreche, ist mir zuerst
in einer Freisinger Handschrift von Augustinus de civitate Dei,
Cod. lat. Monac. 5251 saec. XHI, aufgefallen. Der Kodex ent-
hält auch sonst eine ziemliche Anzahl von Randnoten, alle
von erster Hand, über die ich einiges in Kürze bemerken muß,
da sie sonst noch nicht beachtet zu sein scheinen. Die Noten
sind in den ersten Büchern nicht ganz selten; von Buch IV
werden sie sehr spärlich, um dann von Buch XIII ab zeit-
weise wieder an Zahl zuzunehmen. Die meisten lehren uns
nichts, sondern geben lediglich an, was im Text steht, oder
kennzeichnen den Inhalt nach seinem Wert für den Schreiber
und Besitzer: z. B. steht am Rand: Consolatio, oder locunda
comparatio oder AsseHio resurredionis pulclira. Gelegentlich
werden Bibelsprüche angemerkt, auch einmal zu den Virgil-
versen in I 19 die Fundstelle angegeben: Hoc über sextus
Virgilii narrat. Auf Antikes im Text wird mit Vorliebe auf-
* Die Bemerkungen über die Tifatina, die ich früher mit dieser
Abhandlung unter gemeinsamem Titel zu vereinigen beabsichtigte, ge-
denke ich einmal in größerem Zusammenhang zu verwerten.
568 Franz Boll
merksam gemacht, z. B. f. 15^ ünde Eomani anserem colerent,
und vieles andere der Art; f. 112"^ steht non est credendum
esse antypodas. Bemerkenswert ist die f. 6 notierte Textvariante
zu I 18 (p. 30, 10 Domb.3, zu quod eius rnemhra sunt integra):
aliter quod qiiamvis integra membra] sie findet sich weder bei
den Maurinern, noch bei Hoffmann oder Dombart, ist übrigens
vielleicht durch das in Zeile 17 folgende quamvis mernbri illius
integritate iam perdita beeinflußt. Zu dem Wort intercapedo
steht f. 52 am Rand: i. e. interspacium interuallum uel interiectio
temporum, was aus Glossaren exzerpiert ist (vgl. Götz Thes.
gloss. emend. s. v.).^ Erwähnen möchte ich außerdem noch
eine Randnotiz f. 4: 0 diuites qui timidi estis de uestra opu~
lentia, demonstrantem uerhis Äugustinum esse gasophüatium in-
tendite, uhi uestras recondatis opes ubi für et tinea accessum
habere nescit. Die gleichen Worte sind auch im Cod. Colon,
eccl. 75 saec. IX von der gleichen Hand wie der Text an
den Rand geschrieben.^ Das liefert den erwünschten Beweis,
daß auch die übrigen Randnotizen recht wohl älter sein
können als die Handschriften, in denen ich sie bis jetzt be-
merkte. Außer der gleich folgenden Nachricht über Marica
habe ich übrigens nichts von Belang finden können.
F. 15 steht in der Freisinger Hs das Kapitel II 23, wo
Augustin des Marius und seines Verstecks in den Sümpfen von
' Auch in der ältesten aller Hss der Civitas Dei, dem Kodex von
Lyon no. 607 der Stadtbibliothek (früher 523 bis), einer Halbunziale des
VI. Jahrhs., die L. Delisle (Not. et Extr. XXIX 2, p. 367) beschrieben
hat, steht eine Randnotiz, die sich gleichlautend in Glossaren findet
(helluones dicuntur glutones; vgl. die Glossae Cod. Sangall. 912 s. VIl/VIII
(CGL IV 243, 36) und Glossae nominum ed. Loewe p. 154).
' Jaffö und Wattenbach, Eccles. Colon, codd. p. 111. Die Alters-
bestiinmung der Hs — Jaffd schrieb sie dem VIII. Jahrhundert zu —
stammt von L. Traube (vgl. auch die demnächst erscheinende 2. Auflag©
seiner Textgeschichte der Regeln S. Benedicts S, 77, 1); die Glossen
stammen aber wie der Text aus einer Vorlage saec. VIII. — Über der-
artige Randbemerkungen in mittelalterlichen Hss vgl. L. Traubes Vor-
lesungen und Abhandlungen II 68 f.
Marica 569
Minturnae und der ihm angeblich von der Göttin geleisteten
Hilfe gedenkt: nee Marieae nescio mi tribuo Marti sanguineam
fdicitatem, sed oceultae potius providentiae Bei. Dazu steht am
Rand von erster Hand eine Bemerkung, die sich gleichlautend
nachher noch in einer ganzen Anzahl anderer z. T. älterer Hss
finden ließ. Es sind dies zunächst eine Anzahl von Hss der
Münchener Staatsbibliothek: Cod. lat. 2532 (Aldersbach) s. XI
ex., 4514 (ßenediktbeuren) s. XII, 13024 (Regensburger Stadt-
bibliothek) s. X, 17051 (Schäftlarn) s. XII, 18020 (Tegernsee)
s. Xl/Xll, 22218 (Windberg) s. XII, die wohl zum Teil in
direktem Abhängigkeitsverhältnis voneinander stehen mögen.
In allen stehen auch sonst Randnotizen derselben meist wert-
losen Art wie in 5251, am wenigsten in 13024. Von den Hss
der Pariser Nationalbibliothek hat lat. 11638 s. XI (so Omont;
8. X gibt Dombart an) f. 19^ die Randbemerkung, dune ecriture
un peu posierieure. Endlich hat sie auch Vatican. lat. 426,
s. IX/X nach Heegs Angabe, f. 35"^.^
Ich gebe die Notiz nun mit den wenigen Abweichungen,
die sich in den mir bekannten Hss finden:
Maricam deam Dianam dicit. Mintumenses enim
Cumanis subreptum sigillum Dianae sibiqiie datiim,
quoniam mari venerat, Maricam vocaverunt Diayiam,
sicut etiam eadem vocitatur Fascilina eo quod intra
ligni fascem sit occultata.
* Die Notiz fehlt dagegen in den genannten sehr alten Hss
von Lyon (auch in ihrer Abschrift Lyon, StadtbibUothek n. 608, früher
523, 8. IX) und Cöln, in dem Berliner Cod. theol. fol. 337 (s. Roses Ver-
zeichnis II 1 n. 302), sowie in vier weiteren Münchener (Clm. 3831,
6385, 6267, 26 907) und vier weiteren Pariser Hss (darunter dem alten
Corbeiensis aus St. Germain, jetzt lat. 12214 der Nationalbibliothek s. YII
und in den codd. lat. der gleichen Bibliothek 2050, 2051, 2053, alle
saec. X; sodann in zahlreichen Augustinhandschriften der Vaticana
außer der obengenannten. Für freundliche Auskunft über die Hss habe
ich den Herren L. Cledat und G. Guigue in Lyon, J. Hansen in Cöln,
H. Omont in Paris, J. Heeg und E. Petzet in München zu danken.
570 Franz Boll
Statt deam Dianam dicit steht in den sechs genannten Miinchener
Hss außer 5251 deam dicunt Dianam, während die Lesart von
Monac. 5251 mit der Pariser und der Vatikanischen Hs überein-
stimmt. Statt subreptum geben alle Münchener Hss (auch 5251)
surreptum; statt qiwniam haben alle außer 5251 quod:, statt
sicut steht in 5251 sie. In der Pariser Hs sowie durch Kor-
rektur in der Vatikanischen steht fascilina; alle übrigen haben
fasilina, was bei der gegebenen Etymologie Folge falscher Aus-
sprache sein muß. In der Überlieferung der letzten Zeile gehen
die Hss auseinander; intra lignum fasce haben die sämtlichen
Münchener Hss, intra ligni fasces die Vatikanische und die
Pariser, wonach ich im Text intra ligni fascem hergesteUt
habe; möglich wäre auch intra lignormn fascem wie bei Servius
Aeu. II 116. — Bemerkt sei noch, daß in lat. Monac. 17 773
(Stadtamhof) saec. XV über dem Marica des Textes in kleiner
Schrift i. e. dyane steht, in Übereinstimmung mit dem Scholion.
Während der am Schluß gegebene Hinweis auf die Diana
Fascilina, d. h. 0ttX6XlTig nebst der Etymologie von fascis nur
Bekanntes wiederholt und daher keiner näheren Besprechung
bedarf, ist die Kultlegende und Identifizierung der Marica
allem Anschein nach neu; ich habe sie nirgendwo abgedruckt
oder erwähnt gefunden.^ Marica^ ist vor allem als Göttin der
an der kampanischen Grenze gelegenen alten Aurunkerstadt
Minturnae bekannt, wo ihr heiliger Hain an den Sümpfen der
Lirismündung lag. Außerdem wurde sie noch in Pisaurum von
den Frauen verehrt (CIL I 175) und von Virgil (Aen. VU 47)
auch nach Laurentum versetzt, was wenigstens nicht notwendig
mit Servius als poetische Lizenz oder Ersatz für latina zu
' Gleich den Maurinern schweigen auch die beiden neuen Heraus-
geber der Civ. Dei völlig von ihr.
* Die Nachrichten über sie findet man zusammengestellt bei Preller-
Jordan, Rom. Myth. I 386; 412 f.; R. Peter in Roschers Myth. Lex. II 2878;
G. Wissowa, Relig. und Kult, der Römer 44,4; Hild im Dict. des antiqu. s. v.
Der Aufsatz von M. Bang, Marius in Minturnae, Klio Bd X (1910) 178flF.
berührt diese Fragen nicht.
Marica 571
erklären ist.^ Von den Alten wurde sie teils mit Yenus gleich-
gesetzt, da eine Kapelle der Yenus mit der Inschrift IIONTIH
AOPO^ITH sich dicht neben dem Heiligtum in Minturnae
befand/ teils mit Circe, die nicht fern in Circeji ihr altes
Heiligtum besaß. Preller hat sie mit Fauna oder Bona Dea
verglichen, der auch die Circe in Circeji nahe verwandt ge-
wesen sei; dafür sprach ihm, daß sie nach Yirgil die Gattin
des Faunus war.
Hier erscheint nun eine neue Identifikation. Marica wird
zur Diana, und wir erfahren zum ersten Male etwas von einer
Kultlegrende. Der Kultus der Göttin wird danach mit ihrem
geraubten Bilde von Kyme nach Minturnae eingeführi Bei einer
„Diana", die von der griechischen Kolonie Kyme herkommt,
muß natürlich an die griechische Artemis gedacht werden.
Damit tritt die neue Kultlegende in die nächste Parallele zu der
Kultsage von Aricia, wonach das Bild der Diana Nemorensis
das von Orestes und Iphigenia geraubte Bild der taurischen
Artemis ist: (Orestes) occisö Thoante simulacrum susitdit abscon-
' So auch W. Otto im Artikel Faunus in Pauly-Wissowa R. E. YI 2071.
Für das Vorkommen der Namen Maric(c}us, Marica, Marici (Plin. N. H.
III 124) auf keltiscbem Boden genügt der Hinweis auf A. Holders Keltischen
Sprachschatz U 427. Woher Holder die Anschauung hat, die Marica
von Laurentum sei die Stammesgottheit jener ligurischen Marici in Gallia
Transpadana gewesen, ist mir nicht bekannt; doch vgl. die unten S. 674,2
zitierte Bemerkung von W Schulze.
* Die Hauptstelle bei Servius zur Äen. YII 47 [Hunc (seil. Latinum)
Fauno et nympha genitum Laurente Marica acdpimtis] sei hier wiederholt:
Est autem Marica dea Utoris Minturnensium iujcta Lirin fluvium. Horatius
'et innantem . . Lirin', quod si voluerimtis accipere uxorem Fauni Maricam,
non procedit: dii enim topici i. e. locales ad alias regiones non transeunt.
Sed potest dictum esse per poeticam Jicentiam 'Laurente Marica' cum sit
Minturnensis. dicunt alii per Maricam Venerem intellegi debere, cuius
fuit sacellum iuxta Maricatn, in quo erat scriptum Ilovriri 'AcpQodizri.
Sane Hesiodus Latinum Circes et Ulixis filium dicit quod et Vergilius
tangit dicendo (XII 164) 'Solis avi specimen'. sed quia temporum ratio
non procedit, illud accipiendum est Hygini, qui ait Latinos plures fuisse,
ut intellegamus poetam abuti ut solet nominum similitudine.
572 Franz Boll
ditum fasce lignorum unde et Facelitis dicitur . . et Ariciam
detulit (Servius Aen. II 116). Gerade so wie in dieser Kultsage
oder aucli in der von Rhegion oder Tyndaris^ wird nach
unserem Scholion ein Kultbild der Artemis geraubt und nach
Minturnae gebracht, wo es nun als Marica verehrt wird.
Die Anknüpfung einer solchen griechischen Kultlegende
gerade an Kyme hat gewiß nichts Auffallendes.^ Aber sie
setzt allerdings voraus, daß dort ein Artemiskult bestand. Der
einzige Dianentempel, von dem wir in Kampanien wissen, ist
freilich der der Tifatina bei Capua, und mit einem angeblichen
Tempio di Diana in Baiae, der wahrscheinlichen alten Hafen-
stadt von Kyme, ist es nichts.^ Dennoch spricht alles dafür,
daß in Kyme einmal ein Artemiskult bestand. Artemis ist
die Hauptschutzgottheit von Euboea, und von Eretriern und
Chalkidiern ist Kyme gegründet (Dionys. Halic. YII 3, 1); auf
Münzen von Eretria und wiederum von Neapolis, der Pflanz-
stadt von Kyme, findet sich der Artemiskopf^ Diese sicheren
Tatsachen, denen andere angereiht werden könnten, sind doch
wohl Beweis genug, daß auch *in Kyme Artemiskult neben
dem des Apollon, des Hauptgottes von Kyme, nicht gefehlt haben
kann, wenn wir auch zufällig keine Spur mehr davon besitzen.^
^ Vgl. im allgemeinen über diese gräzisierenden Kultlegenden
italischer Artemiskulte Wernicke bei Pauly-Wissowa II 1399 f.; Höfer im
Art. Orestes bei Röscher III 998 ff.; F. Pfister, Der Beliquienkult im
Altertum (RGW Bd V, 1909) 344 f. Die alte Abhandlung von F. Schneide-
win, Diana Phacelitis et Orestes apud Rheginos et Siculos, Dies. Gott.
1832, die ich mir nicht ohne einige Mühe verschaffte, ist neben den
neueren Darstellungen ohne Schaden zu entbehren.
* Übertragung des Oresteskultus von Kyme nach Aricia vermutet
Reitzenstein, Ined. poet. Graec. fragm. II (Ind. lect. Rost. 1891) p. 10.
' Vgl. Beloch, Campanien* 187.
* Ebenso auf Münzen des äolischen Kyme, das vielleicht auch voi
Euboea aus besiedelt ist, s. Ed. Meyer, Gesch d. Alt. II 234. — Vgl. jetz
auch F. V. Duhn, Der Dioskurentempel in Neapel (Sitzgsber. der Heidelb."
Akad. 1910, Abh. 1) S. 14.
* Der Gedanke, die Sage von dem Raub des Artemisbildes aus
Kyme solle gerade das Fehlen eines Artemiskultes in Kyme erklären
Marica 573
An Kyme also, die älteste griechische Gründung auf
italischem Boden, knüpft die Kultsage der Marica an; von
hier soll das Bild der Göttin geraubt sein: leider erfahren wir
nicht durch wen, und können daher nur sagen, daß es die
Mintomenser selbst nach dem Wortlaut unserer Quelle (sihique
datum) nicht gewesen sein können; vielleicht ist an einen
Heros zu denken, ähnlich wie in der Orestessage. Sicherlich
aber ist die Überführung mit Willen der Göttin geschehen.
Was hat nun aber die Gleichsetzung der Marica mit
Diana oder zunächst vielmehr Artemis veranlaßt? Nach dem
wenigen, was wir von Marica wissen, konnte eine solche
Identifizierung nicht ferner liegen als die bisher bekannte mit
Venus. Marica besaß einen heiligen Hain, wie Artemis in
Aricia und an vielen anderen Orten; und die Xiuvtj, der Sumpf
an der Lirismündung, der ihr zu eigen war, konnte wohl an
Artemis Limnatis und viel Verwandtes^ erinnern: als diönoiva
ICfivqg verglich sich Marica von selbst der Artemis. Daß ein
Tempelchen der Venus unmittelbar neben ihrem Heiligtume
lag, brauchte die Deutung auf Artemis durchaus nicht zu be-
einträchtigen: Aphrodite 'EvotcXios und Artemis 'Og&ia waren
im spartanischen Kult vereinigt, und auch sonst stehen Tempel
der beiden Göttinnen oft nebeneinander. Sodann ist Marica
auch als Nymphe aufgefaßt und bezeichnet worden: auch das
konnte sie der Artemis nahebringen, die „in ihrem Wesen alle
Nymphen zusammenfaßt, die auf Fluren und Bergen, in Wäldern
und Quellen hausen".^ So war die Deutung auf Artemis bei
Marica gewiß nicht befremdender als die auf Venus. Unsere
neue Quelle behauptet freilich noch mehr: die Minturnenser
oder wenigstens daran anknüpfen, -vrilrde schon durch die oben an-
geführten Tatsachen widerlegt und widerspricht auch dem Typus
dieser ganzen Legendenklasse, die sogar das gleiche Bild an vielen Orten
lokalisiert. ♦
• Ygl "Wemicke bei Pauly-Wissowa II 1343; Gruppe, Griech. Myth.
1280f ; Nilason, Gr. Feste 210.
* Nilsson a. a. 0. 181, nach Otfiried Müller.
574 Franz BoU
selbst sollen das Bild als Marica Diana oder besser Diana
Marica bezeichnet haben. So häufig der Übergang von ursprüng-
lichen Einzelgötternamen in Beinamen größerer Gottheiten ist,
durch die sie aufgesogen wurden — Parallelen sind z. B. Ar-
temis Diktynna, Anaitis, Angelos, Iphigeneia, Britomartis,
Eileithyia usw. — , so müßte doch, wenn wirklich die Göttin
Diana Marica genannt worden wäre, ihre Identifizierung auch
mit Venus und Circe und das Schweigen aller andern Quellen
befremden; so wird es wohl besser sein, dieser Angabe unseres
allzu knapp gefaßten Scholions gegenüber Zurückhaltung zu
bewahren, zumal die Auffassung von Marica als Adjectivum
offenbar mit der Etymologie (von mare) zusammenhängt.
Die Göttin ist nach der neuen Kultsage auf dem Seewege
von Kyme nach Minturnae gekommen: mari venerat, wie
Asklepios und die Magna Mater nach Rom und zahlreiche
andere Kultbilder in ähnlichen Legenden^, und von diesem
Wege hat sie den Namen Marica erhalten. Diesen Namen
hat man neuerdings, zunächst auf die Etymologie gestützt^,
als Bezeichnung einer Meergöttin gefaßt; der Kult der
Tlovtla IdcpQodCrrj dicht daneben ließ sich zur Bestätigung
anführen und auf die Verehrung der Marica in der Seestadt
Pisaurum und, wenn man dem Virgil glauben will, in dem
ebenso gelegenen Laurentum hinweisen. Diese bisher nur
von den Modernen gegebene Deutung erfährt nun durch das
Augustinscholion eine Bestätigung, die freilich nicht überschätzt
' Vgl. darüber jetzt die Untersuchung von Ernst Schmidt, Kult-
übertragungen, Gießen 1910 (RGW Bd VIII 2).
' Peter a a. 0. II 2375 und ebenso Hild in dem genannten Artikel.
Corssen Ausspr.' I 405 stellt Marica zur Wurzel mar = glänzen, schim-
mern ebenso wie mare, während Vanicek im Etym. Wörterbuch der
latein. Sprache 124 zwar Marica zu dieser Wurzel stellt, aber mare da-
von trennt. Vgl. ferner Norden, Rh. Mus. 48, 544. W. Schulze, Zur
Gesch latein. Eigennamen 552, 2 erklärt alle mythologischen Kom-
binationen, die sich an den Namen der Marica heften, für ganz unsicher,
da ein Ortsname ganz gut das Primäre sein könne.
Marica 575
werden darf. Ja, man könnte sogar vermuten, daß gerade die
im Namen wirklicli oder dem Anschein nach gegebene Be-
ziehung der Marica zum Meere ihrer Gleichsetzung mit Artemis,
die auch als IlaQaXCa, 'ExßarriQia, EvxogCa, Evroörog,
Aiiisvttig^ angerufen wurde und mehrfach Tempel am Meere
besaß, forderlich gewesen sei. Indes auf die Art des Kultes
der Marica, etwa durch Seefahrer und Fischer, daraus einen
Schluß ziehen zu wollen, wäre bedenklich; der Text selbst hat
ja für den Namen ein anderes alxiov. Unser Material reicht
wohl überhaupt nicht hin, über die Vorstellungen, die man
von dem Wesen der Göttin sich machte, mehr als ziemlich
vage Vermutungen zu äußern; und die antiken Identifizierungs-
versuche mit verschiedenen Gottheiten sprechen nicht für die
Fortdauer einer ausgeprägten Sonderart bei der alten Göttin.
Das Eigentümlichste, was uns von dem heiligen Hain berichtet
wird, ist das Verbot, irgend etwas, was in ihn hineingeschafft
worden war, wieder herauszubringen (Plut. Mar. c. 39). Läßt
sich das etwa vergleichen mit der Funktion der ivodCa duCficov
(Artemis) bei Plato legg. XI 914 B, wonach das, was einer
freiwillig oder unfreiwillig liegen läßt, von dem, der es findet,
liegen gelassen werden muß in dem Glauben, (pvXdtreiv ivodCav
dalfiova rä xoiuvxa itxb xov vöfiov xfl ^eqt xud^isga^sva?^
* Vgl. Wernickes reiche Zusammenstellungen bei P. W. II 1393 f.;
Gruppe a. a. 0. 1294; Farnell, Cults of Greek States II 427 f. Die Be-
nennungen der Aphrodite als Göttin des Meeres (Usener, Legenden der
Pelagia, in Vortr. u. Aufs. 211 ff.) stehen wieder in genauer Parallele dazu.
* An die Stelle der Gesetze wurde ich durch Gruppe S. 1295,2 er-
innert. Für die ganze Anschauungsweise ließe sich an die von Tylor,
Anfänge der Kultur I 108 f. besprochene weitverbreitete Scheu erinnern,
einen Ertrinkenden zu retten, als dem Wassergeist verfallen. Verwandt
ist auch die Sitte ovx ^xqcopa, an die mich Wünsch erinnert (vgl. Ada
Thomsen im Archiv XII 466 ff.; bes. CIL VI 1, 576 = Dessau II 4915:
Extra hoc limen aliquid de sacro Silvani efferre fas non est). — Ein Ver-
bot des Eintretens in den heiligen Hain ist aus der Piutarchstelle ent-
gegen dem ersten Anschein nicht zu folgern, also die Unzugänglichkeit
des Haines der Soteira in Pellene (Paus. VU 27, 3) als Parallele nicht
zu gebrauchen.
576 Franz Boll
Die antike Herkunft unseres Scholions wird schwerlicli
jemand bezweifeln wollen; aber die genauere Bestimmung der
Quelle ist durch die isolierte Art der Überlieferung sehr er-
schwert. Soweit meine Kenntnis der Hss der Civitas Dei
reicht, muß die Notiz spätestens in Karolingischer Zeit an
den Rand des Kapitels gekommen sein.^ Die nächste Quelle
kann ein Glossar gewesen sein, zumal auch andere Rand-
bemerkungen solchen Ursprung haben (vgl, o. S. 568): in den
uns erhaltenen und im CGL vereinigten Glossaren ist jedoch
die Notiz nicht zu finden. Als Quelle für die Maricaglosse,
die, wie wir gesehen haben, singulare- und beachtenswerte
Nachrichten bringt, hatte mein verstorbener Freund L. Traube
zuerst auf Festus geraten; die Form mancher Festusglossen
paßt auch wirklich nicht übel zu der unseres Scholions (vgl
die ähnliche Verwendung eines Satzes mit enim nach der
Definition unter den Worten Mercurius praeclives puls Peligni
procinda usw.; auch vocitare wird bei ihm in solchen Glossen
öfter verwendet, was natürlich nicht viel besagt). Dagegen
dachte G. Wissowa, dem ich die Notiz vor drei Jahren mit-
teilte, lieber an ein Virgilscholion nach Art der Einleitung
des Probuskommentars zu den Bucolica, Hier steht p. 3, 20
(Orestes) iuxta Syracusas simulacrum deae quod secum de Tau-
rica advexerat, templo posiio consecravit, quam appellavii Face-j
litim sive [FascelinamJ^ quod fasce lignorum tectui
de Taurica simulacrum eoctulissent. Das steht dem Schlußsatz
* Nach Dombarts Versuch eines Stemmas der ihm näher bekannten
Hss in seiner 3. Ausg. p. XXXIII käme man bis ins VIII. Jahrhundert
zurück; indes hat er nur zwei von unsern Hss (Monac. 13024 und Paris.
11 638) dabei berücksichtigt, und auch aus anderen bekannten Gründen
wird man sich vor Folgerungen hüten müssen.
* Die Ergänzung wird durch das sive unbedingt notwendig; sie
wird in der obigen Form durch die Exzerpte des Cynthius (Pietro Leoni),
der den Bobiensis benutzt hat, empfohlen (teniplum Uli erexit cum titulo
Dianae Phascelitis sive Phascelinae). Die Form Facelina hat auch Siliua
Italiens XIV 260 (Thoanteae sedes Facelina Dianae). 'Lucil. v. 104 M. schwan-
ken die liss zwischen Facelina und Fascelina, s. Serv.IH p. 326 H.' (Wünsch).
Marica 577
unseres Scholions noch etwas näher als die oben S. 572 ange-
führten Worte des Serrius Aen. 11 116, weil bei diesem nur
der Name Facelitis (oder Fascelitis) vorkommt, nicht die Form
Fascelina oder FasciUna. Man würde allerdings, wenn das
Scholion aus einem Virgilkommentar stammte, irgend welche
Anlehnung an den Virgilvers, in dem die Göttin genannt ist
(Aen. YII 47), erwarten und darf zweifeln, ob das über dem
Umweg durch die Glosse ganz verloren gehen konnte. Servius
hat jedenfalls von der Herkunft der Marica vom Meer und
aus Eyme nichts gewußt, sonst hätte er sie nicht so bestimmt
als 'topica', als lokal und un verpflanzbar bezeichnet. So scheint
mir doch etwas mehr für eine andere Quelle als für einen
Virgilkommentar zu sprechen. Wie dem auch sei, so kann
doch die Sache schwerlich in später Zeit ausgedacht sein;
denn nach Virgil, der die Marica zur Mutter des Latinus
macht, konnte die Gleichung mit Diana nicht leicht mehr
erfunden werden.
ArclÜT f. BeligionswiBsenschaft XTTT 37
n Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtig-
keit für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in etwa
vier Jahrgängen schließen. Mit Band XII (1909) beginnt die neue
Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen der Zeit
seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß des betr.
neuen Berichts referiert.
5 Der indische Buddhismus (1907—1909)^
Von H. Oldenberg in Göttingen
In der Erforschung des indischen Buddhismus in den
letzten Jahren tritt energisches Fortschreiten gleichermaßen
im Sammeln wie im Verarbeiten der Materialien hervor, dazu
— wenigstens an vielen Stellen — ein durch solche Arbeit
naturgemäß befördertes Sichabschwächen alter Gegensätze dei
von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehenden Richtungen^
die zu unvereinbaren Resultaten zu gelangen schienen. Unter
der kaum erschöpfbaren Fülle des Vorliegenden kann hier
natürlich nur eine Auswahl getroffen werden.
Ich stelle ein kleines Meisterwerk voran, das als solches
würdigen wird auch wer sich nicht ohne Einschränkungen
überzeugen läßt: Senarts Vortrag über den Ursprung des
Buddhismus ^ S. ist ernstlich bemüht, in dem Dilemma zwischen
dem geschichtlichen und dem einst von ihm so energisckJ
' Abgeschlossen Januar 1910.
* E. Senart Origines bouddhiques (Bibliothcque de vulgarisation du
Musie Guimet, T. XXV). Paris 1907.
Der indische Buddhismus (1907—1909) 579
betonten mythologischen Buddha dem ersteren sein Recht nicht
zu verkürzen. „On ne peut guere douter que le Bouddha n'ait
enseigne vers la fin du VP siecle avant notre ere; on ne peut
douter davantage que, dans toutes leurs lignes maitresses, sa
doctrine et sa legende n'aient rapidement acheve de se fixer
telles qu'elles nous sont accessibles." Wenn er dann anderer-
seits darauf Gewicht legt, daß der geschichtliche Buddha „est
cependant dans la tradition le heros de recits mythiques
d'origine et de caractere" so werden dies auch „les esprits
justement prevenus contre certains enivrements de la mythologie
comparative" nicht in Abrede stellen. Natürlich zwar werden
Meinungsdifferenzen über das Maß, in dem die verschiedenen
Elemente in die Mischung des altbuddhistischen Vorstellungs-
kreises eingegangen sind, doch zurückbleiben. Mit großem
Recht legt Senart Gewicht auf eins dieser Elemente, das in
seiner vollen Bedeutung zu würdigen er selbst der erste
gewesen ist^, auf den Yoga^ mit seiner Theorie und Praxis der
Konzentrationen und Ekstasen. Kein Zweifel, daß die Ent-
wicklung des werdenden Buddha sich in einer mit Elementen
des Yoga gesättigten Atmosphäre vollzogen hat, und daß
dieselben Elemente auch in nicht geringer Intensität dem
Dasein des von ihm gestifteten Ordens innegewohnt haben.
Minder überzeugend scheinen mir Senarts Ausführungen über
ein zweites Element, das er im Werden des Buddhismus zu
konstatieren sucht; er findet daß „un certain heritage vishnouite
sumage empörte dans les courants bouddhiques"; „entre le
bouddhisme et le vishnouifsme, le Yoga fait le pont". Diese
These von dem im entstehenden Buddhismus latenten oder
sichtbaren Vishnutum scheint mir durch die Quellen kaum
hinreichend gestützt. Ist es wirklich — um nur dies eine
^ Ich erinnere an seinen höchst wichtigen Aufsatz Bouddhisme
et Yoga, Eevue de Vhistoire des religions 42, 345 ff.
* Diesen, nicht die Sänkhyalehre, stellt Senart mit Recht in den
Vordergrund.
37*
580 H- Oldenberg
hervorzuheben — ein so bemerkenswertes Faktum, daß Buddha
und Visnu-Krsna beide mit der Benennung hhagavant geehrt
werden? Daß diese Benennung durch lange Jahrhunderte
eine allgemein gangbare für höherstehende, geistlich -religiöse,
auch wissenschaftliche Persönlichkeiten war, zeigen uns doch
Zeugnisse in hinreichender Menge, von den hrahmanä hhagavantah
des Satapatha Brähmana bis zum hhagavän Päninih und hhagavän
Kätyah der Grammatiker. Auch wer über diese Dinge anders
urteilte, würde übrigens, wie ich glaube, den Wunsch übrig
behalten, daß andere Elemente, welche Senart keineswegs
vergißt (siehe S. 25 f., 38), doch in seiner Darstellung nach-
drücklicher betont wären. Im Zentrum des Gesichtsfeldes
stehen für den alten Buddhismus doch nicht jene legendarischen
Züge, in denen S. eine Annäherung an Visnu-Krsna findet,
auch nicht die ekstatischen Kontemplationen, die er vom Yoga
übernommen hat. Sondern im Zentrum stehen die Gedanken-
kreise, die in den „vier Wahrheiten" vom Leiden des Daseins
und von der Erlösung niedergelegt sind, und die Lebens-
ordnungen der Gemeinde, wie etwa das Pätimokkha sie
zeichnet. Kein Zweifel, daß auch der Yoga sich mit Daseins-
leiden und Erlösung beschäftigt. Aber sind diese Gedanken
und Ideale darum Besitz des Yoga allein? Haben wir Grund
anzunehmen, daß sie gerade nur vom Yoga dem Buddhismus
übermittelt seien? Gibt der Buddhismus ihnen nicht in vieler
Beziehung eine durchaus andere Wendung als der Yoga? Wir
stoßen da, scheint mir, auf sehr viel breitere Strömungen, die
von der Zeit der alten Upanisaden an das geistige Dasein
Indiens durchfluten. Die seelische Struktur des Buddhisten
ist nicht erklärt, wenn wir den Yogin in ihm und den
gläubigen Erzähler von solchen Mirakeln wie den 32 körper-
lichen Kennzeichen des großen Mannes (jnahäpurisa) konstatiert
und geschichtlich abgeleitet haben. Ich wiederhole: übersehen
ist, was außerhalb dieser Grenzen liegt, von Senart nicht.
Aber mir scheint, daß eine Schilderung der Ursprünge des
Der indische Buddhismns (1907—1909) 581
Buddhismus jenen Elementen größere Aufmerksamkeit widmen
sollte, als der hervorragende Forscher, von dem ich spreche,
es hier getan hat.
Aus Vorlesungen — sie sind am Pariser InstitiU Catholique
gehalten — ist auch ein Buch hervorgegangen, in dem L. de la
Vallee Poussin die buddhistischen Forschungen vielseitig
bereichert hat.^ Die energische, durchaus auf eigenen Wegen
vorgehende Behandlung alter Probleme und das auf unermüd-
lichem Durchforschen reicher Materialien beruhende Aufwerfen
neuer gibt seiner Arbeit hohen Wert. Auch bei diesem Forscher
begegnen wir einem entschiedenen — wenn ich mich nicht
täusche, im Laufe seiner Entwicklung sich steigernden — Glauben
daran, daß wir nichts Aussichtsloses betreiben, wenn wir mit
unseren Fragestellungen in ein sehr altes Stadium des Buddhismus
zurückstreben. Den „scepticisme sterile de Minayeff" — ein durch-
aus zutreffendes Wort (S. 45) — macht er nicht zu dem seinen.
„Les decouvertes positives de ces demieres annees donnent ä
penser aux sages" (S. 44). Der Pälikanon enthält „une forme
tres archaique de la doctrine" (S. 47 A. 2). So trägt der Verfasser
denn auch kein Bedenken, in Untersuchungen, in denen er der
ursprünglichen Gestalt wichtigster Vorstellungsmassen nach-
forscht, sich ganz überwiegend auf die Pälitexte zu stützen.
Einen Hauptgegenstand dieser Untersuchungen bildet die Frage,
wie sich die Leugnung eines Ich, die dem Buddhismus zu-
geschrieben wird, zu seinem Glauben an die Vergeltung der
Taten verhält. Ein anderes Thema der Erörterung ist das Ver-
hältnis zwischen passiv -gläubigem Annehmen der Lehre und
selbsttätigem Erkennen. Neben der Doktrin der ältesten Texte
wird diejenige der vom Verfasser sorgfältig durchgearbeiteten
philosophischen Systeme des Buddhismus herangezogen; dem
Mahäyäna und dem Tantrawesen werden Erörterungen gewidmet,
die auf umfassender Quellenkunde beruhen. Ich verschweige
^ L. de la Yallee Poussin Bonddhisme. Opinions sur Vhistoire de la
dogmatique. Paris 1909.
582 H. Oldenberg
den Eindruck niclit, daß das Temperament La Yallee Poussins
ihn hier und da zu Mißgriffen geführt hat. Dem Wunsch, mit
dem einen oder anderen von ihnen mich auseinanderzusetzen,
muß ich wenigstens für jetzt widerstehen; nur zu der von ihm
in den Jüngern des Buddha entdeckten anima naturaliter
christiana (S. 6) sei schon hier ein gelindes Fragezeichen nicht
unterdrückt. Alle Meinungsverschiedenheiten aber können der
Schätzung eines Forschens keinen Eintrag tun, dem, wenn nicht
alles trügt, noch mancher Erfolg gelingen wird.
Edv. Lehmann, dessen Auffassung des Buddhismus im
ganzen schon aus seiner Behandlung Indiens in Chantepie de
la Saussaye's „Lehrbuch der Religionsgeschichte" bekannt war,
behandelt jetzt den Buddhismus in einem eigenen kleinen, sehr
dankenswerten Buch ^, unter Voranstellung des ältesten indischen
Buddhismus (besonders Sutta Nipäta und Dhammapada werden
benutzt), mit kurzer Berücksichtigung der späteren, auch der
außerindischen Geschichte. Lehmanns Buch führt die Sprache
nicht des philologischen Detailarbeiters, sondern des mit
weitem und gesundem Blick begabten Religionshistorikers, der
auch in seinen Bedenken gegenüber mancher gegenwärtig eifrig
verfochtenen These (man lese die Ausführungen über die buddhi-
stisch-christlichen Legendenzusammenhänge und über die christ-
liche Liebe im Buddhismus) sein treffendes Urteil bewährt. Der
Verfasser ist weniger darauf gerichtet, den leisen, inkommen-
surablen Nuancen buddhistischen Fühlens nachzugehen, als die
Gebilde, die er schildert, mit dem Maßstab frischer und freudiger
nordischer Energie in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung zu
bewerten, als hinwirkend „bade til en stör oprejsning og til
en slem nedbrjdelse af det menneskelige" (S. 171). —
Kurz behandelt den indischen Buddhismus Deussen in
seiner AUg. Geschichte der Philosophie.* —
^ Edv. Lehmann Buddha, hans Jctre og dens gaming. K0benhavn
1907. (Deutsche Übersetzung steht in Aussicht.)
* P. Deussen Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer
Berücksichtigung der Religionen. Bd I, Abt. 8, S. 115 — 189. Leipz. 1908.
I
Der indisclie Buddhismus (1907—1909) 583
Hackmanns schönes, ursprünglich kleines Buch über den
Buddhismus (deutsch erschienen 1905) liegt jetzt in einer
wesentlich erweiterten englischen Ausgabe vorV Sein Ziel ist,
den Buddhismus in seiner Gesamtheit darzustellen, wobei, der
persönlichen Situation des Verfassers entsprechend, das Haupt-
gewicht nicht auf den alten indischen Buddhismus (S. 1 — 63)
föllt, sondern auf den modernen Buddhismus, zu dessen Dar-
stellung langjähriger Aufenthalt in buddhistischen Ländern ihn
hervorragend befähigt hat „Living in the monasteries, watch-
ing the monks and the lay-devotees, inquiring about rituals
and institutions, he leamt thoroughly what Buddhism as a
practical religion of the present day really is" (S, VIII). Doch
von diesen wertvollen Ermittlungen eingehender zu sprechen,
liegt außerhalb der Grenzen des gegenwärtigen Berichts.
Unter den Untersuchungen über einzelne Dogmen und
anderweitige einzelne Elemente des buddhistischen Vorstellungs-
kreises steht, neben einer wichtigen Arbeit von Windisch, über
die ich an anderem Orte eingehender berichtet habe*, der Auf-
satz Oltramares über die Nidänaformel vorauf Dies ist be-
kanntlich die aus zwölf Gliedern, welche durch Kausalnexus
* H. Hackmann Buddhism as a religion: its historical development
and its present conditions. From the German, revised and enlarged by
the author (Probsthains Oriental Series, vol. II). London 1910.
* E. Windisch Buddhas Geburt und die Lehre von der Seelet^-
tcanderung (Abh. der K. Sachs. Ges derWiss.; Phil.-hist. Kl. XXVI, 2).
Leipzig 1908. Vgl. Deutsche Literaturzeitung 1909, Sp. 408f.
' P. Oltramare La Formule bouddhique des douze causes. Son sens
originel et son Interpretation theologique. (Memoire public ä Voccasion
du Jubile de V Universite' de Geneve). Geneve 1909. — Ich möchte hier,
obwohl außerhalb der Zeitgrenze dieses Berichts fallend, nicht unerwähnt
lassen die denselben Gegenstand betreffende Auseinandersetziing von L.
de la Yallee Poussin Deux notes sur le PratUyasamutpdda (Actes du
XIV. Congr. intern, des Orientalistes I, 193 ff.) Paris 1905; ebenso des-
selben Gelehrten wertvolle Bemerkungen zu der Schrift Oltramares,
Journ. R. Asiatic Soc. 1910, 201 ff. Leider nicht vorgelegen hat mir
C. Puini Le origini della vita (Frat'ityasamutpäda sutra — Sälisambhava
sütra) Riv. degli Studj Orientali, vol. I, Fase. 3.
584 H. Oldenberg
miteinander verbunden sind, bestehende Formel, die in den
buddhistischen Texten zu unzähligen Malen wiederholt wird,
um die Entstehung (und entsprechend, so zu sagen mit negativem
Vorzeichen, die Aufhebung) des Daseinsleidens zu erklären:
1. Das Nichtwissen. 2, Die „Gestaltungen" (samkhärä).
3. Das Erkennen. 4. Name und Körperlichkeit. 5. Die sechs
Gebiete (der sechs Sinne und ihrer Objekte; zu den fünf
Sinnen kommt das Denken). 6. Berührung (zwischen Sinnen
und Objekten). 7. Empfindung. 8. Durst. 9. Ergreifen.
10. Werden. 11. Geburt. 12. Alter und Tod, Schmerz und
Klagen, Leid, Kümmernis und Verzweiflung. Es war ein sehr
dankenswertes Unternehmen Oltramares, diese schwierige, dem
Fundamentalbestand der buddhistischen Dogmatik zugehörige
Formel mit ihren Varianten samt ihrer Geltung in der späteren
buddhistischen Philosophie, unter Prüfung der zahlreichen
Deutungsversuche modemer Forscher^ zum Gegenstand dieser
eingehenden und feinsinnigen Untersuchung zu machen. Das
Hauptinteresse richtet sich natürlich auf seinen eignen Er-
klärungsversuch (S. 10 ff.). Eine wesentlichste Schwierigkeit,
die es zu überwinden gilt, liegt meines Erachtens darin, daß
um die Mitte der Reihe offenbar das Wesen, dessen Daseins-
lauf beschrieben wird, so weit gekommen ist, daß es in Be-
rührung mit den Objekten der Außenwelt steht, Durst nach
deren Genüssen empfindet, nach ihren Gütern greift — und
daß dann in Nr. 11 erst das Stadium der Geburt erreicht wird,
welche doch vielmehr vor den in der Formel ihr vorangehen-
den Gliedern liegen zu müssen scheint. Die schon im Alter-
* Ich vermisse bei Oltramare unter diesen Walleser (Die philo-
sophische Grundlage des älteren Buddhismus) und verweise auch auf
die Note in der 3. Auflage meines Buddha (später nicht wiederholt)
S. 447 f. sowie auf meine Ausführungen ZDMG. 62, 684 flF. Bei dieser
Gelegenheit bemerke ich, daß ich den Begriff des nämarüpa (Nr. 4) in
einer neuen Arbeit (Bgveda-Noten zu III, 38, 7; V, 43, 10) bis in
rgvedisches Altertum zurückzuverfolgen versucht habe.
Der indisclie Buddhismus (1907—1909) 585
tum gegebene, auch von mir^ angenommene Lösung der
Schwierigkeit — daß nämlich das Stadium der Geburt (resp.
Empfängnis) hier, wo dem Denken eine Folge vieler Geburten
vorschwebt, zweimal berührt wird: das eine Mal in einer auf
den ersten Blick deutlichen Ausdrucks weise bei Nr. 11, das
andere Mal, für die Alten wohl deutlicher als für uns, in
Nr. 3 und 4 — erscheint Oltramare (S. 28) als „une hypothese
gratuite et presque desesperee". Ich kann mich hier nicht
überzeugt bekennen. Zunächst reichen die alten Materialien,
auf denen jene Deutung beruht, tief in die kanonischen Texte
selbst hinein^, in denen sie in ganz verschiedenen Formen, das
eine Zeugnis das andere bestätigend, auftreten. Weiter aber
scheint mir Oltamares eigene Erklärung im Grunde doch dem
von ihm verworfenen Gedanken selbst außerordentlich nahe zu
kommen. Die Geburt (Nr. 11 der Formel) „ponctue l'existence
ou, pour mieux dire, la serie des existences d'un individu"
(S. 10). Ihr voran liegt das Dasein des Wesens, das in die
vergängliche Welt verwoben durch die Verkettung der Kausa-
lität jener neuen Geburt entgegengeführt wird. So muß, meine
ich, auch Oltramare das Sterben jenes Wesens, das dann wieder-
geboren werden soll, als vor Nr. 11 latent gedacht annehmen,
während doch der Tod — nämlich der die nächstfolgende
Existenz beendende — ausgesprochenermaßen erst in Nr. 12
erscheint. Also auch hier im Grunde zweimaliges Berühren
desselben Stadiums. Und wenn jenes vor Nr. 11 der Wieder-
geburt entgegengehende Wesen sich in Nr. 4 mit „Namen und
Körperlichkeit" bekleidet, dieser Vorgang aber die Folge eines
„Nichtwissens" (Nr. 1) ist — auch nach Oltramare (S. 16)
wie nach der kanonischen Überlieferung eines Nichtwissens
um die vier heiligen Wahrheiten — : liegt nicht wieder die
Folgerung nah, daß der Nichtwissende und der Namen und
Körperlichkeit Annehmende in zwei aufeinander folgenden
Wiedergeburtsstufen vorzustellen sind — genau wie es die
* Siehe meinen Buddha, 5. Aufl., 275 f. * Ebendas. 276.
586 H. Oldenberg
sehr eingehende und bestimmte Auffassung der Tradition über
den Sinn von 3 und 4 (s. meinen „Buddha" 5. Aufl., 259 f.)
mit sich bringt? —
An Darlegungen Pischels in seinem Buch „Leben und
Lehre des Buddha" (1906, vgl. dies Archiv 1907, 138) knüpft
eine von mir gegebene Besprechung des altbuddhistischen
Begriffs der Maitri (Mettä) an.^ Pischel hatte in dieser die
christliche Liebe wiedergefunden. Neben ihr stehe und aus
ihr fließe das Traurigsein mit den Traurigen, das Sichfreuen
mit den Fröhlichen. Sie selbst aber, die Liebe, sei der „Grund-
gedanke des Buddhismus." Eine Prüfung der Materialien über
die Mettä liefert mir das Ergebnis, daß diese weder ein
zentrales Element des Buddhismus bildet noch der christlichen
Liebe gleichgesetzt werden kann Sie ist eine Übung freund-
lichen Fühlens gegenüber allen Wesen, die gleichberechtigt
mit einer andern Übung, in der man alle Wesen als nicht
Freund nicht Feind empfindet, systematisch und pedantisch
betrieben wird, nicht um des Andern willen, sondern um im
Geiste yogahaft- asketischen Zauberwesens die eigene Vollendung
zu fördern.
Eine anspruchslose und doch recht eigentlich meisterhafte
kleine Arbeit, die niemand als eben ihr Verfasser so, wie es
geschehen, auszuführen imstande war, ist Fouchers Aufsatz
über die Liste der Taten Buddhas.^ Vielmehr über zwei ein-
ander ergänzende Listen, die eine dem nordbuddhistischen Text
Divyävadäna entnommen, die andre der ceylonesischen Chronil
Mahävamsa. Die Erlebnisse, Taten, Wunder des Buddh«
werden in 64 Nummern aneinandergereiht: „un cadre commode,j
et l'on serait presque tente d'y voir . . . comme une amorcc
* H. Oldenberg Der Buddhismvs und die christliche Liehe. Deutsche
Rundschau (Berlin), März 1908, wiederholt in H. 0., Aus dem alte
Indien, S. 1—22 (Berlin 1910).
* A. Foucher Une liste indienne des actes du Bouddha. Avec un
rapport sommaire sur les Conferences de Vexercice 1907—08 (ficole
pratique des hautes etudes.) Paris 1908.
Der indische Baddliismus (1907—1909) 587
de futurs ^svnoptiques' du Buddha." Bei jeder Xummer —
und dies verleiht der Arbeit einen so ungewöhnlichen Wert —
ist zur Angabe der Textzeugnisse die der monumentalen Dar-
stellungen gefügt, deren Kenntnis der Verfasser in langjährigen
Arbeiten in Indien wie in Europa zu unerreichter Vollständigkeit
und Vertiefung gebracht hat Darf ich doch aussprechen, daß
ich in den Bemerkungen, mit denen F. seine Liste begleitet,
und in denen er der monumentalen Überlieferung ihre Stelle
anzuweisen sucht, mich ihm nicht überall anschließen kann?
Die Denkmäler, sagt er (S. 29), welche ein Wunder des Buddha
darstellen, lehren uns „qu'en un temps donne une notable
portion de l'Jnde croyait ä la verite de ce miracle. Des lors
nous sommes pleinement assures qua les relations que nous
en possedons ne sont pas de purs exercices de litterature, mais
l'expression de la conscience populaire et la manifestation d'un
vaste mouvement religieux." Nichts liegt mir ferner, als den
Wert dessen, was wir an diesen Denkmälern besitzen, rer-
kleinern zu wollen. Aber ich frage, ob wir all das, wovon
F. in jenen Sätzen spricht, wirklich erst aus den Denkmälern
lernen. Trägt nicht die Literatur in sich selbst die absolut
sichere Gewähr dafür, daß sie eben nicht bloß Literatur ist?
Würde die Gewißheit, mit der wir das wissen, geringer sein,
hätten noch unglücklichere Zufälle, als sie in der Tat gewaltet
haben, uns auch die letzten Reste der Gandhärakunst samt
den Stupas von Barhut, Sanchi und allen übrigen entrissen?
Mir will scheinen, daß der mit seiner ganzen Arbeit vorzugs-
weise in der monumentalen Überlieferung lebende Forscher ein
wenig zu sehr dem mißtraut, was wir nicht „sous nos yeux
et meme sous nos doigts" haben. Über die Päliredaktion des
Kanons sagt er: „il ne fait pas de doute que le redacteur du
Mahävamsa ne la possedät mieux que nous." Ich finde
nicht, worauf sich dieser Zweifel — nein, diese zweifelfreie
Behauptung — stützt (ein Kenner des Mahävamsa wie Geiger
autorisiert mich, seine Übereinstimmung mit mir auszusprechen);
588 H. Oldenberg
ich glaube vielmelir, daß für das Gegenteil stärkste Wahr-
scheinliclikeitsgrüiide vorliegen. Oline daß ich die Gradunter-
schiede der auf den verschiedenen geschichtlichen Gebieten
geltenden Erreichbarkeiten verkenne, frage ich schließlich: ist,
was wir vom Leben und der Lehre Jesu oder des Paulus
wissen, von den Tatsachen der altchristlichen Archäologie ab-
hängig? Gilt, was dort gilt, mutatis mutandis nicht auch hier?
Die Gestalt des Mära versucht Charpentier^ — meines
Erachtens mit nicht zutreffender Argumentation — als
buddhistische Darstellung des Rudra-Sarva zu erweisen.
Hier verzeichne ich weiter Normans dankenswerte Zu-
sammenstellung von Überlieferungen über die gandhakuti^^
das Wohnzimmer des Buddha im Jetavana und überhaupt den
zentralen Raum in Mönchshäusem; weiter Hopkins' Unter-
suchung über den Fleischgenuß bei den Buddhisten.^ Nicht
unerwähnt darf schließlich Mrs. Rhys- Davids' feinsinniger Auf-
satz über die buddhistischen Gleichnisse bleiben'^, der sich auf
das von derselben Forscherin entworfene Register dieser
Gleichnisse^ stützt.
Ich wende mich zu den Übersetzungen und sonstigen Be-
handlungen von Texten zunächst des südlichen Kanons. Hier
ist zuvörderst zu bemerken, daß die Bearbeitung buddhistischer
Texte in dem von Bertholet herausgegebenen religionsgeschicht-
lichen Lesebuch in den Händen von Winternitz gelegen hat."
Dieser hat sich grundsätzlich auf die beiden älteren Pitaka
* J. Charpentier Über Budra-Siva: II. Rudra-Siva hei den Bud-
dhisten. Wiener Zschr. f. d, Kunde d. Morgenl. XXIII (1909), 166 ff.
' H. C. Norman Gandhakutt the Buddha' s Private Abode. Journ.
of the As. Society of Bengal, New Ser. IV, Iff. (1908).
' E. W. Hopkins The Buddhistic rule against eating meat. Jourr
Amer. Or. Soc. XXVII (1907), 455 ff.
* Mrs. Rhys -Davids Buddhist Parables and Similes. The Oj
Court vol. XXII, p. 522 ff. Chicago 1908.
» Dieselbe, Journ. of the Päli Text Society 1907, 52 ff.; s. auo|
1908, 180 ff.
* A. Bertholet Beligionsgeschichtliches Lesebuch. B.: Buddhismus
von M. Winternitz (S. 214—322). Tübingen 1908,
Der indische Buddhismus (1907—1909) 589
des Päli- Kanons beschränkt und — mir scheint nicht ganz
im Einklang mit den Bedürfaissen religionsgeschichtlicher
Studien — darauf verzichtet, die späteren Entwicklungsstadien
des Buddhismus in seine Arbeit einzubeziehen. Mit Recht
aber hat er der Versuchung widerstanden, dem Leser eine
Auswahl Ton „Perlen" aus der buddhistischen Literatur dar-
zubieten, vielmehr das Charakteristische geschickt zusammen-
gestellt — das Leben des Buddha durfte mit Rücksicht auf
das Buch Dutoits („Leben des B." 1906) in den Hintergrund
geschoben werden — und in einer Weise, der sich meist bei-
stimmen läßt, übersetzt.
Von Behandlungen einzelner Texte erwähne ich zuvörderst
den ersten Band von K. E. Neumanns groß angelegter, übrigens
in demselben Stil wie die früheren derartigen Arbeiten Neu-
manns ausgeführter Übersetzung des Digha Nikäya: ich habe
darüber bereits an anderem Orte berichtet.^ — Vom Dhamma-
pada, über dessen neugefundene nördliche Rezensionen weiter
unten (S. 607) gesprochen werden wird, liegt eine mit feinsinniger
Sorgfalt verfaßte italienische Übersetzung von Pavolini vor.*
— Von Normans wichtiger Ausgabe des Kommentars zu dieser
Sentenzensammlung besitzen wir jetzt den ersten Band (bis
V. 59 reichend) vollständig.^ — Über den Sutta Nipäta habe
ich einen für weitere Leserkreise bestimmten Essay veröffentlicht.*
Der genannte Text schien durch sein hohes Alter wie seinen
vielseitig reichen Inhalt sich dazu zu eignen, daß eine Be-
schreibung seiner poetischen Form und seines Gefühls- und
' Die Beden Gotamo Buddhas aus der längeren Sammlung Dighani-
käyo des Fäli-Kanons, übersetzt von K. E. Neumann. Bd I. München 1907.
Vgl. H. 0. Theologische Literatur zeitung 1907, Sp. 321.
* P. E. Pavolini II Dhammapada, Antologia di morale huddistica.
Prima traduzione italiana (Estr. da „II Rinnovamento "). Milano 1908.
' The Commentary an the Dhammapada, ed. by H. C. Norman,
vol. I (Päli Text Society). London 1906—1909.
* H. Oldenberg Eine Sammlung altbuddhistischer Dichtungen.
Deutsche Rundschau (Berlin) Jan. 1910, wiederholt in Aus dem alten
Indien (Berlin 1910), S. 23—64.
590 H. Oldenberg
Gedankengehalts erweitert wurde zu einer Darlegung der Rolle,
welche überhaupt der Poesie innerhalb der altbuddhistischen
Gemeindetexte zufällt, und zu dem Versuch, auf engstem Raum
von den Grundlinien altbuddhistischer Weltbetrachtung und
von dem sie durchklingenden Gefühlston zu sprechen. — In
einer Übersetzung der Therigäthä^ kehrt Mrs. Rhys Davids zu
einem Text zurück, an den vor Jahren Miß Foley geistvolle
und eindringende Erörterungen geknüpft hatte {Women leaders
of the Buddhist reformation. Transact. of the 9*^ Congress
of Orient. I, 344). Ihre Übertragung der Verse der Nonnen,
denen sie die zugehörigen Kommentarerzählungen beigefügt
hat, stellt mit berechtigter Freiheit den Geist über den Buch-
staben und wird hoffentlich vielen den Genuß dieser „little
cameos of thought" vermitteln. Die Einleitung, ohne die not-
wendige Skepsis gegenüber der Authentizität der Angaben über
die Verfasserinnen und gegenüber den „legends woven out of
legends" des Kommentars außer acht zu lassen, analysiert mit
vieler Feinheit „the historical fact that we here have and
hold . . .: the record, that just the sentiments and the aspirations,
which are expressed in this work, have been for so many
centuries . . . attributed to saintly men and women co-operating
in the building up of certain ideals." Nicht ganz gläubig bin
ich in bezug auf das, was S. VII (vgl. XXXVIII f.) als „matri-
archal survivals" benannt, übrigens mit aller Reserve von der
Verfasserin behandelt wird. Es ist sehr erfreulich, von deren
Hand eine ähnliche Übersetzung auch der Theragäthä erwarten
zu dürfen. — Obwohl der betreffende Text außerhalb des
Kanon steht, sei hier das von Rud. Fuchs veröffentlichte
Specimen des Petakopadesa erwähnt^, der Vorläufer, wie ge-
hofft werden darf, einer Ausgabe des vollständigen Textes, der
sich in Abhidhamma- artiger Ausdrucksweise bewegt und
* Mrs. Rhys Davids Psalms of the early Buddhists. I. Psalms of
the Sisters (Päli Text Society). London 1909.
* Rud. Fuchs Specimen des Petakopadesa. (Berliner Doktordisser-
tation). 1908.
Der indificlie Buddhismus (1907—1909) 591
von der Tradition — selbstverständlich mit Unrecht — dem
Mahäkaccäyana zugeschrieben wird. Erst die Ausgabe wird in
das „große Dunkel, das über dem Werk schwebt", Licht bringen
können; für jetzt muß ich mich begnügen, betreffs desselben
auf Hardys Einleitung zu seiner Ausgabe des Nettipakarana
zu verweisen. Das jetzt vorliegende erste Kapitel handelt von
den vier „heiligen Wahrheiten". —
Hier darf der Vollendung der großen englischen Jätaka-
Übersetzung gedacht werden, deren letzter Band von dem ehr-
würdigen, über diesem Werk hingegangenen Leiter des ganzen
Unternehmens und demjenigen seiner Mitarbeiter, der den Plan
des Ganzen angeregt hat, bearbeitet worden ist.^ — Über die
Anfänge einer deutschen Jätaka-Cbersetzung habe ich an anderem
Orte berichtet.- — Mit Anklängen des Jätaka (I p. 134f ed.
Fausböll) an die Sakuntaläsage beschäftigt sich ein Aufsatz
von Pavolini.' — über Fouchers Behandlung der plastischen
Illustrationen zum Jätaka s. S. 605. — Großenteils auf dem
Boden der Jätakas bewegen sich auch die Studien eines Forschers,
dessen Eintritt in die Mitarbeit an den unerschöpflichen Pro-
blemen der indischen Märchenkunde wir mit Wärme willkommen
heißen dürfen, Jarl Charpentiers.^ Der auf seinem Titel figurierende
* The Jätaka or stories of the Buddha's former births. Translated
from the Päli by various hands under the editorship of Professor
E. B. Cowell. Vol VI. Transl. by E. B. Cowell and W. H. D. Rouse.
Cambridge 1907. Der erste Band war 1895 erschienen. Ich kann mir
nicht versagen, auf die Würdigung des so wichtigen Werks hinzuweisen,
dieMrs. Rhys-Darids im Joum. R. As. Society 1908, 593 ff. in anmutigster
Weise gegeben hat.
* Jatakam. Das Buch der Erzählungen aus früheren Existenzen
Buddhas. Aus d. Päli übersetzt von Dr. J. Dutoit. Leipzig, von 1907
an. Ygl. H. 0., Deutsche Literaturzeitung 1907, Sp. 1379 f.
' P. E. Pavolini, Tracce della leggenda dt ^akuntalä nel libro dei
Jätaka (Giom. Soc. As. Ital. XX, 1907, 297 ff.).
* Jarl Charpentier Studien zur indischen Erzählungsliteratur. 1.
Paccekahuddhageschichten (Uppsala Universitets Arsskrift 1908). Uppsala
1908. — Untersuchungen verwandter Art hat derselbe Verfasser auch
ZDMG 62, 725ff., 63, 171 ff. vorgelegt.
592 H. Oldenberg
theologische Begriff des Paccekabuddha spielt im Buch selbst
kaum eine Rolle; es handelt sich vielmehr um die märchen-
geschichtliche Analyse einiger Erzählungen bez. Erzählungs-
gruppen, in denen Paccekabuddhas hervortreten — des Sona-
kajätaka (Nr. 529) und vor allem des Kumbhakärajätaka
(Nr. 408), in dem es sich um vier zu Paccekabuddhas werdende
Könige handelt. Die Päliformen der Geschichten werden ihren
Parallelen gegenübergestellt; namentlich der enge Zusammen-
hang buddhistischer und jainistischer Novellistik tritt in der
reichhaltigen Darstellung Charpentiers sehr klar zutage. Speziell
sei auf die überzeugenden Ausführungen S. 106 ff. hingewiesen,
die sich in bezug auf das Verhältnis zwischen den poetischen
und prosaischen Bestandteilen der Jätakas gegen Frankes Hyper-
kritik richten; „arglosere Lektüre" (S. 110) dürfte hier in der
Tat am Platz sein. Doch darf ich nicht versuchen, dem sehr
mannigfaltigen Inhalt des Buchs näher nachzugehen; so wichtig
dieses für die Geschichte der Märchenliteratur ist, in so losem
Zusammenhang steht es mit religionsgeschichtlichen Fragen.
Von der schon oben (S. 589) erwähnten Dichtungssammlung
Sutta Nipäta geht eine Arbeit Frankes ^ aus, die der Erforschung
des altbuddhistischen Kanons dankenswerteste Förderung ver-
spricht. Es handelt sich um ein Unternehmen, das, wenn
seine Durchführung, wie gehofft werden darf, gelingt, geradezu
neben der großartigen Vedakonkordanz Bloomfields wird ge-j
nannt werden dürfen. Die Gäthäs (Strophen) aller kanonischer
Pälitexte sollen unter Beibringung der Parallelstellen verzeichne
werden, mit Heranziehung auch nordbuddhistischer (Mahävastt
Lalitavistara usw.) und außerkanonischer (Milindapanha, Dipa-
vamsa usw.) Texte. Bei der großen Anzahl von Fällen,
denen Stichworte, Klangreminiszenzen, Assoziationen verschieden'^
ster Art die Dichter beeinflußt und den Gang, den ihr Ausdruck
genommen hat, aus der Bahn gelenkt haben, wird für Grammatik
' R. Otto. Franke Die Suttanipäta-Gäthäs mit ihren Parallelen.
ZDMG 63, IfiF., 225 ff., öölff.
Der indische Buddhismus (1907—1909) 593
wie Metrik, für Exegese wie für die Fragen nach Geschichte
und Aufbau des Kanons eine solche Zusammenstellung Ton
erheblichster Wichtigkeit sein. Dem Gelehrten, der die große
und entsagungsvolle Arbeit zu unternehmen kein Bedenken
getragen hat, seien die wärmsten Wünsche dafür ausgesprochen!
In sehr viel kleineren Maßstäben bewegt sich eine Arbeit
von mir, die ebenfalls vom Sutta Nipäta ausgehi^ In ihrem
Mittelpunkt stehen Zählungen über die metrische Struktur
der Slokas der beiden Schlußabschnitte jenes Textes (Atthakäni,
Päräyanam), deren besonders hohes Alter feststeht. Um diese
Zählungen lagert sich der Versuch, die Grundzüge der, wie
ich meine, sehr deutlich verfolgbaren schrittweisen Entwicklung
des Sloka-(Anustubh-) Metrums von den Anfängen durch die
Vedazeit hindurch bis zu der altbuddhistischen und dann der
epischen Stufe darzustellen. Ich hoffe, daß die gefundenen
Ergebnisse für die literargeschichtliche Chronologie und damit
schließlich auch für die Religionsgeschichte nicht wertlos sein
werden. Insonderheit möchte ich Gewicht darauf legen, daß
— entgegen der Ansicht von Simon (ZDMG 44, 96) — der Sloka
der altbuddhistischen Texte sich verglichen mit dem epischen
in jeder Hinsicht als altertümlicher herausgestellt hat. — Mit
der Metrik eines verwandten Textes — nicht, wie ich es tat,
sich auf den Sloka beschränkend — beschäftigt sich J. H. Moore.*
Ich erwähne weiter Schraders Übersetzung von Haupt-
abschnitten jenes merkwürdigen Dialogs, in dem ein griechischer
König und ein buddhistischer Heiliger die Klingen ihrer Dialektik
kreuzen: des Milindapanha ^
' H. Oldenberg Zur Geschichte des Sloka. Xachr. d. Gott. Ges.
der WisB., phil. hist. Kl., 1909, 219 flF.
* J. H. Moore Metrical Analysis of the Päli Iti-vuttaka. Joum.
American Oriental Society 28,317fiF.
' Die Fragen des Königs Menandros. Aus dem Päli zum ersten
Male ins Deutsche übersetzt von Dr. phil. F. 0. Schrader. Berlin (ohne
Jahreszahl, erschienen 1907).
ArchiT f. BeligionB-nissenschaft Xm 38
594 H. Oldenberg
Unter den rüstig fortschreitenden Publikationen der Päli
Text Society, die wir gelegentlich schon berührten, sei hier
noch eine hervorgehoben, die an Wichtigkeit unter allen
Darbietungen nichtkanonischer Werke, von denen ich zu be-
richten habe, weit voransteht: Geigers Ausgabe des Mahävamsa^,
des, wenn auch nicht an Alter, so doch an Wichtigkeit weitaus
ersten unter den buddhistischen geschichtlichen Texten von
Ceylon. Dem geradezu schreienden, durch Turnours Werk
(1837!) erweckten Bedürfnis nach einer auf der Höhe philo-
logischer Forschung stehenden Ausgabe dieses Textes hatte auch
die Arbeit von Sumangala und Batuwantudawa (Colombo 1883)
nicht abgeholfen. E. Hardy, der sich diese Aufgabe gestellt
hatte, war darüber hingegangen. Nun hat Geiger auf Grund
sehr reichhaltiger handschriftlicher Materialien und einer mit
minutiösester Sorgfalt vorgenommenen kritischen Durcharbeitung
derselben eine Ausgabe geschaffen, die einen so wesentlichen
Schritt vorwärts, wie nur gehofft werden konnte, darstellt und
auf wärmsten Dank Anspruch hat.
Wenden wir uns vom Süden zum Norden, so sind wir
seit dem Erscheinen von Nanjios Catalogue of the Buddhist
Tripitaka gewohnt, wichtigste Aufschlüsse über den in chinesischen
Übersetzungen vorliegenden Bestand buddhistisch -kanonischer
Texte vor allem von unsern japanischen Mitarbeitern zu erhalten.
Unter diesen ist — neben J. Takakusu — namentlich M. Anesaki
zu nennen, der durch eine längere Reihe von Jahren seine
Arbeitskraft der Vergleichung der Sütrasammlungen des Kanon
(der Nikäya oder Agama) in ihren chinesischen Übersetzungen
mit den Päli -Äquivalenten gewidmet hat. Neben Beiträgen,
die er auf Grund dieser Untersuchungen zu dem Werk von
Edmunds (s. u. S. 614,4) geliefert hat, ist hier vor allem sein
* The Mahävamsa edited by Willi. Geiger (Päli Text Society).
London 1908. — Hier sei erwähnt, daß Geigers Buch Dipavainsa rind
Mahävamsa jetzt auch in englischer Übersetzung erschienen ist {The Dlp.
and Mah.; translated by Etbel M. Coomaraswamy. Colombo 1908).
Der indische Buddhismxis (1907—1909) 595
vergleichender Überblick über die vier großen Sütrasammlungen
(im Päli Digha-, Majjhima-, Sarnjutta- und Anguttara-Xikäya)
zu nennen. * Die fünfte Sammlung (Kbuddaka-Nikäya) liegt in
China nicht als ein Ganzes vor-, die Verzeichnung ihrer hier
imd da zerstreut in den chinesischen Texten begegnenden
Elemente (S. 9ff.; vgl. auch Journ. Päü Text Soc. 1907, 50 f.)
würde schon allein hinreichen, ein Bild von dem außerordent-
lichen Fleiß zu geben, mit dem A. gearbeitet hat. Die detail-
lierte Vergleich ung der chinesischen und der Päli -Redaktion
wird zweifellos einen Hauptgegenstand buddhistischer Studien
der nächsten Jahrzehnte ausmachen. Die ausführlichen Indices,
welche zu liefern Anesaki vorhat (S. 14), werden dabei aller
Voraussicht nach wertvolle Dienste leisten.
Von besonderer Wichtigkeit ist es, daß nach dem Buddha-
carita und andern Texten von neuem ein bedeutendes Wort
des großen Asvagho.sa seine Auferstehung erlebt hat: der Süträ-
lamkära, in einer chinesischen Übersetzung aus dem Anfang
des 5. Jhd. vorliegend. E. Huber hat diese ins Französische
übersetzt*, und Sylv. Levi hat sie zum Gegenstand einer ein-
gehenden, höchst inhaltreichen Analyse gemacht.^ Das Werk
des Patriarchen, welchen glaubliche Überlieferungen in Ver-
bindung mit König Kaniska setzen, ist, wie Levi mit der ihm
eignen lebensvollen Anschaulichkeit darlegt, ein Denkmal
jener Wahl, welche der Buddhismus zwischen der alten
Richtung und einer neuen zu treffen hatte. Dort das alte
Asketenideal des Hinarbeitens auf die eigne Erlösung. Hier die
Tendenzen eines in Weltweite hinausstrebenden Aposteltums,
^ M. Anesaki The four Buddhist Ägamas in Chinese. A Concor-
dance of their part^ and of the corresponding counterparts in the Päli
Xikäyas (Transactions of the Asiatic Society of Japan, vol. XXXV,
part 3). 1908.
* AQvaghosa Süträlamkära traduit en frangais sur la version chinoise
de Kumärajiva, par Ed. Huber. Paris 1908.
' Sylvain Levi ÄQvaghosa, le Süträlamkära et ses sources. Joum.
asiatique 1908, II, 57 ff.
38*
596 H. Oldenberg
die Bedürfnisse einer „eglise ouverte, active, instruite, mondaine
enfin". Schon durch seinen Titel drückt der Süträlamkära aus,
daß es diese Richtung ist, zu der er sich bekennt: „les sütras
mis en litterature, comme nous dirions: La Bible pour les
gens du monde". Gerade einen Dichter wie Asvaghosa, an
dessen Stellung in der literargeschichtlichen Entwicklung sich
ein so eigenartiges Interesse knüpft, wird man besonders leb-
haft bedauern, nur durch zwei Übersetzungen hindurch lesen
zu können, selbst wenn die zweite von diesen alle die Vorzüge
besitzt, die der Huber's allem Anschein nach eigen sind, über
die indessen selbstverständlich nur ein Sinolog zu urteilen kom-
petent ist. Einen gewissen Ersatz geben die nach einer Entdeckung
Huber's im Divyävadäna wiederkehrenden Stücke des Süträlam-
kära. Und auch die chinesisch-französische Übersetzung erlaubt
zu erkennen — man kann das nicht anschaulicher, als Levi
tut, zeigen — wie Asvaghosa die trockene Schwerfälligkeit
seiner Vorlagen (es handelt sich um den chinesisch erhaltenen
Vinaya der Mülasarvästivädins und um nördliche Agamas)
künstlerisch zu beleben weiß. „A9vaghosa expose comme un
dramaturge et peint comme un lyrique." Freilich ihn neben
TertuUian und Bossuet stellen — heißt das nicht einen Zug
monumentaler Größe in sein Bild hineintragen, der über die
Dimensionen des klugen und geschickten, doch ständig mit
allzu großem Behagen in den Gewässern wortreicher Rhetorik
umherplätschernden Erzählers weit hinausgeht? Levi (S. 90)
findet im Werk des Asvaghosa auch „des pieces nouvelle» a la
revision d'un proces qu'on croyait tranche": es handelt sich
um das Verhältnis der ceylonesischen (Päli-) Tradition des
Buddhismus und der nördlichen der sanskritischen, quasi -sans-
kritischen, chinesischen, tibetischen Texte. Ich werde an späterer
Stelle mit einigen Worten auf dies große Problem zurück-
zukommen haben. Hier sei nur ausgesprochen, daß ich Tat-
sachen, die in dem Glauben an das hohe Alter und den sehr
hohen Wert — ich sage nicht^ an die Unfehlbarkeit — der
Der indische Buddhismus (1907—1909) 597
Pälitradition irre machen könnten, in den hier rorliegenden
Ausführungen Levi's nicht zu finden weiß. Daß beispielsweise
der nördliche Madhyamägama einige auf Vorschriften über die
Ernährung bezügliche Abschnitte zusammenstellt, welche im
Majjhimanikäja des Südens zerstreut erscheinen („ordre dans
le Madhyama, desordre dans le Majjhima," S. 137), scheint mir
gegen den letzteren keinerlei Verdacht der minderen Ursprüng-
lichkeit zu begründen; handelt es sich doch in den Sütrasamm-
lungen nicht wie im Vinaya darum, eine derartige die Gemeinde-
ordnungen betreffende Materie systematisch abzuhandeln; ihre
Erwähnungen in diesen Texten tragen von Natur den Charakter
des Zufälligen. Im übrigen würde, wenn man fragt, wo Ord-
nung und wo Unordnung ist, die Vergleichung wohl kaum zu-
ungunsten des Pälikanon ausfallen.
Oder weiter: man halte die Päliversion der Bekehrung
des Upäli (Cullavagga VII, 1) gegen die Erzählung des
Asvaghosa und die anderen nördlichen Überlieferungen
(S. 125 ff., Huber's Übersetzung S. 222 ff.). Mir scheint, daß
Levi den schlichten südlichen Text nicht ohne eine gewisse
Ironie behandelt: „ici tout se passe sagement, pieusement, dans
un moude ideal de moines et de devots.'" Werden wir von
der alten Literatur der weltentsagenden buddhistischen Mönche
nicht eben das erwarten? Oder femer: man vergleiche die
harmlose Weise, in der das „Prosit^sagen beim Niesen im
Päli -Vinaya (Cullavagga V, 33, 3) verboten wird, mit den Zu-
taten, welche der Vinaya der Mülasarvästivädin zu dieser Vor-
schrift gibt, und mit der Erzählung, die Asvaghosa auf dem
betreffenden Kapitel dieses Vinaya aufbaut (S. 160ff., Huber's
Übersetzung S. 386 ff.) Man soll nicht dem niesenden Buddha
langes Leben wünschen — so erklärt Buddha in dem nördlichen
Vinaya, als Gautami ihm auf sein Niesen das gewünscht, und
500 Nonnen samt Geistern und Göttern von Erde, Luft, Himmel
diesen Wunsch wiederholt hatten — ; man soll wünschen, daß
Eintracht in der Gemeinde herrscht. Gautami, an welche
598 H. Oldenberg
diese Belehrung gerichtet ist, beschließt in das Nirväna ein-
zugehen; die 500 Nonnen beschließen dasselbe. Sieben Tage
predigen sie noch die Lehre, dann tun sie die gewaltigsten
Wunder, werden von magischem buntem Feuerwerk und Wasser-
künsten umspielt, gehen durch alle Stufen der Ekstase hindurch
und erreichen endlich unter Erdbeben und himmlischen Wunder-
klängen das Nirväna. Buddha selbst und König Pradyota samt
einem ungeheuren Gefolge heiliger und vornehmer Persönlich-
keiten ehren die irdischen Reste der Hingegangenen. Buddha zeigt
auf Gautami's Leiche: „Seht, sie war 120 Jahre alt und gleicht
einem Mädchen von 16 Jahren" — worauf die Leichen auf
wohlriechenden Hölzern verbrannt werden. Irre ich mich oder
zeigt die Gegenüberstellung des südlichen und des nördlichen
Textes eine geradezu typische Figur — dieselbe, die ich einmal
früher bei Gelegenheit des Vinaya- Verbots, die Lehre nur auf
gehörige Aufforderung vorzutragen, beschrieben habe (ZDMG
52, 650 A. 2)? Was hat größere Chance ursprünglich zu sein,
jene einfache Darstellung, die eben das sagt, was diesen geist-
lichen Männern wesentlich und ausreichend scheinen mußte,
oder das Mirakelmärchen, in dessen Stil sich das Streben
späterer Zeiten zu verraten scheint, so viel Schmuck, Pomp
und Herrlichkeit wie nur möglich über die schlichte Schöpfung
des Altertums zu häufen? Doch ich will die Betrachtungen
nicht wiederholen, die ich früher (ZDMG 52, 643 ff.) über
diesen Kreis von Problemen vorgelegt habe und die sich mir
auch jetzt im wesentlichen als haltbar zu bewähren scheinen.
Ich muß nur noch in bezug auf die eben in Rede stehende
Erzählung ein sehr bemerkenswertes Faktum berühren, auf das
Levi aufmerksam macht: der Pälitext Apadäna enthält einen
Bericht über das Ende der Gautami, welcher die engsten Be-
rührungen mit der Fassung des Asvagho^a zeigt. Man weiß
— und Lövi hat nicht versäumt, auch seinerseits es hervor-
zuheben — , daß das Apadäna ein avtLlsyöfisvov von streitiger
kanonischer Authentizität, von schwerlich streitiger jüngerer
Der indische Buddhismus (1907—1909) 599
Herkunft gegenüber den Hauptwerken des Kanon ist. Sehr
bezeichnend, daß es gerade diese Stelle der Päliüb erlief erung
ist, wo sich dieselbe der Art des Asvaghosa vergleicht. Welcher
Text nun ist das Original, das Werk Asvaghosa's oder das
Apadäna oder ein dritter Text neben diesen beiden? Levi's
Argumentation für die Originalität Asvaghosa's (S. 174) über-
zeugt mich einstweilen nicht. Es wäre erwünscht, wenn die
Vergleichung der verschiedenen Exemplare in allem Detail vor-
genommen würde, wozu hier nicht der Ort ist. Bis jetzt —
um von der speziellen Frage zu der allgemeinen zurückzukehren
— kann ich nichts entdecken, was uns die klare und schlichte
Einfachheit des Päli-Kanons (ich meine den wirklichen Kanon; das
Apadäna mag preiszugeben sein) gegenüber der ausschweifenden
Überfülle solcher nördlicher Gegenstücke, wie der hier berührten,
verdächtig machen könnte; man möchte das Verhältnis dem des
Stils der Barhutreliefs oder der Asoka-Schriftcharaktere zu dem
Stil, der in der bildenden Kunst und der Schrift späterer Jahr-
hunderte geherrscht hat, vergleichen. Doch werde ich nicht
müde, immer wieder zu betonen, daß damit nur in großen Linien
das Verhältnis der Texte im ganzen charakterisiert sein soll,
ohne daß die Möglichkeit — hier und da wird man schon
jetzt von Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit sprechen können
— der Korrekturen in Abrede gestellt werden darf, welche die Päli-
Uberlief erung an manchen Stellen aus dem Norden zu empfangen
hat (vgl. meine schon vor mehr als zehn Jahren veröffentlichte
Bemerkung, Zeitschr. der D. Morgenl. Ges. 52, 664 Anm.).
Windisch, der in seinen Arbeiten über Mära und
über die Geburt des Buddha so wichtige Beiträge zur Ver-
gleichung der nördlichen und südlichen Überlieferung gegeben
hat, läßt ähnliche Fragestellungen in seiner Arbeit über das
Mahävastu^ hervortreten. In Übereinstimmung mit einer von
' E. "Windisch Die Komposition des Mahävastu. Ein Beitrag zur
Quellenkunde des Buddhismus. (Abh. der phil.-hist. Klasse der K. Sachs.
Ges. d. Wiss., Bd XXYII, Nr. 14). Leipzig 1909.
600 H. Oldenberg
mir vorgetragenen Auffassung (ZDM6 52, 645 A. 1) erkennt
er im Ma.liävastu die erweiterte Fassung der Erzählungen, mit
denen der Mahävagga des Pali-Vinaya anhebt. Er konfrontiert
in nützlicher Gegenüberstellung die beiden Texte. Die Weise,
wie im Mahävastu fortwährend die Grunderzählung durch ein-
gelegte Jätakas unterbrochen wird, scheint ihm — ich meine
durchaus zutreffend — in der Entwicklungsgeschichte des
Mahäbharata eine Parallele zu haben : auch dort ist die Grund-
erzählung durch episodische Erzählungen und didaktische Zu-
taten auf den ungeheuren Umfang gebracht und zu der Form-
losigkeit entstellt worden, in der sie uns vorliegt.
Eine Ergänzung findet Windisch's Märabuch durch eine
Untersuchung von Charpentier^, der den Pälitext des Mära-
samyutta den im Mahävastu erscheinenden Parallelen gegen-
überstellt. Wenn dieser Forscher hier kleine Dramen des Typus
vermutet, den v. Schroeder („Mysterium und Mimus im Rgveda"
1908) im Rgveda gefunden zu haben glaubt — so Buddhas Ver-
suchung durch Märas Töchter — , kann ich mein Bedenken nicht
unterdrücken; ich verweise auf meine an das Buch v. Schroeders
anknüpfenden Erörterungen, Gott. Gel. Anz. 1909, 66ff.
Zum Abschluß seiner Ausgabe des Laiita Vistara ^ haben
wir die Freude Lefmann zu beglückwünschen.
Mit den Quellen des Divyävadäna haben sich etwa
gleichzeitig S. Levi^ und — in Fortsetzung früherer Unter-
suchungen — E. Huber ^ beschäftigt. Als Hauptquelle erweist
sich der Vinaya der Mülasarvästiväda- Schule, der in chinesischer
* J. Charpentier Das Märasamyutta im Mahävastu. Wiener Zschi
f. d. Kunde des Morg. XXIII (1909), 3;-} flf.
* S. Lefmann Laiita Vistara, Leben und Lehre des Cdkya- Buddha,
Textausgahe mit Varianten-, Metren- und Wörterverzeichnis. T. 2, Var.
Metr. u. Wörterverz. Halle 1908.
' Sylvain Ldvi Lcs elements de formation du Divyävadäna. T'oung^
Pao, S(irie II. Vol. VIII (Leiden 1907), 106 ff. — Vgl. auch denselben, Le
Nepal vol. III, p. 184 (Paris 1908).
* fid. Huber :^tudes de litterature bouddhique. V. Les sources du Divyä-
vadäna (Suite). Bulletin de l'l^lcole fran9ai8e d'Extreme-Orient, vol. VI , Iff.
Der indische Buddhismus (1907—1909) 601
Übersetzung, dazu auch in tibetischer (im 'Dul-va) vorliegt.
Huber gfibt sehr instruktive Zusammenstellungen einer Reihe
von Abschnitten dieses Vinaya, die Stücken des Päli-Sutta-
vibhanga entsprechen, mit den Päli -Parallelen. Wir finden das
Verhältnis der beiden Exemplare von Huber in Ausdrücken
wie den folgenden beschrieben: (die im Päli-Vinaya vorliegende
Fassung) „a fourni aux redacteurs du Vinaya sanskrit un canevas
sur lequel ils ont brode un long roman" — „nous allons voir
comment, de ces donnees sobres, le Vinaya des Sarvästivädin
a tire tout un roman". Man kann sich, scheint mir, nicht
zutreffender ausdrücken. Dann aber sagt, zum Schluß seiner
Auseinandersetzungen, Huber: „En realite les redacteurs du
Canon sanskrit n'ont rien invente, en ce sens qu'ils etaient
aussi fideles ä la tradition que ceux du Canon des Theravädin.
Seulement, tandis que ces derniers ont habituellement laisse
ou rejete dans les commentaires les contes pieux qui servaient
couramment d'illustration aux preceptes de la regle, ces auadäna
ont au contraire completement envahi le texte meme chez les
Sarvästivädin". Haben wir wirklich Grund anzunehmen, daß
diese Überfälle von Geschichten, die dem Pälikanon fehlen,
sich aber zum großen Teil in den Kommentaren finden, den
Redakteuren des Kanon zur Verfügung gestanden haben, aber
von ihnen beiseite gelassen bzw. in den Kommentar verwiesen
sind? Huber zitiert zustimmend die Bemerkung von Windisch
(Mära und Buddha 300), daß Buddhaghosa mit der nördlichen
Literatur vertraut gewesen sein müsse. War das der Fall, liegt
es dann nicht nahe, daß seine (oder seiner Quellen?) Kenntnis
der betreffenden Erzählungen eben auf Zusammenhängen beruht,
die sich nach dem Norden erstrecken? Ergibt sich dann aber
irgend etwas über die Stellung der Redaktoren des Pälikanon s
zu jenen Geschichten? So bleibe ich auch — wenigstens was
die Päli- Redaktion anlangt — unüberzeugt, wenn Levi (S. 116),
au Äußerungen von Wassilieff anknüpfend, mit der Möglichkeit
rechnet — sie scheint ihm eine Wahrscheinlichkeit zu be-
602 H- Oldenberg
deuten — , daß die Redaktion der uns vorliegenden Vinayas noch
an die Zeit heranreicht, in der Buddhaghosa seine Kommentare
verfaßt hat oder verfaßt haben soll. Doch kann ich natürlich
meine Meinungsverschiedenheit den ausgezeichneten französischen
Forschern gegenüber hier nur aussprechen, nicht begründen.
Von sonstigen Publikationen auf dem Gebiet des nörd-
lichen Buddhismus hebe ich hervor S. Levi's Ausgabe von
Asanga's (4. — 5. Jhd. n. Chr.?) Mahäyäna-Süträlamkära', „un
expose scolastique des doctrines mahäyänistes sur le Bodhisattva,
au point de vue de l'ecole des Yogäcäras". Von einem anderen
Werk desselben Asanga handelt die Dissertation von U. Wogi-
hara.^ Mit einem in tibetischer Übersetzung erhaltenen logischen
Werk des Dignäga beschäftigt sich Satis Chandra Vidyäbhüsana.'
La Vallee Poussin^ gibt eine Übersetzung — „tout au moins
partielle" — von Candrakirti's (etwa um 600 n. Chr.) Einleitung
in Nägärjuna's Madhyamaka (Madhyamakasästra, Mülamadhya-
makakärikä), das religiös -philosophische Grund werk der Mädhya-
mika- Schule. Derselbe Forscher übersetzt in anziehender Form^
Säntideva's (7. Jhd.) Bodhicaryävatära (Kap. 1 — 9)^: ein Werk,
* Asanga, Mahäyäna- SüträlamJcära, expose de la doctrine du Gram
Vehieule sehn le Systeme Yogücära. Ed. et trad. par S. Levi. Tome I.J
Texte. (Bibl. de l'Iilcole des Hautes ifitudes, 159). Paris 1907.
* U. Wogihara, Asanga's Bodhisattvabhümi , ein dogmatischer Tea
der Nordbuddhisten nach dem Unikum von Cambridge im Allgemeinen ur
lexikalisch untersucht {Indica hrsg. von Leumann, Heft 6, S. 1 — 46).
Leipz. 1908.
' Mahämahopädhyäya Satis Chandra Vidyäbhüsana, Nyäya - pravesaj^
or the earliest work extant on Buddhist Logic by Dignäga. Journ. anc
Proceed. of the As. Soc. of Bengal, New Ser. vol. III, 1907 (Ualc. 1908), 609 if^
* L. de la Vallöe Poussiu, Madhyamakävatära, introduction au trait
du milieu de VAcärya Candrakirti, avec le commentaire de l'auteur tradui
d'apres la Version tibetaine. (JVIus^on, 1907). — Eine Ausgabe der Mädhya
mikasütras mit dem Prasannapadä- Kommentar des Candrakirti gib(j
derselbe Gelehrte in der von der St. Petersburger Akademie veröfFent
lichten Bibliotheca Buddhica (von 1903) an.
' Bodhicaryävatära. Introduction ä la pratique des futurs Bouddhaa
poeme de Qäntideva. Trad. du sansc. et annotö par L. de la ValltSe Pousail
(Extr. de la Revue d'hist. et de littt^rature religieuses, t. X. XI. XII). Paris 1907.1
Der indische Buddhismus (1907—1909) 603
das die Laufbahn eines Bodhisattva (eines künftigen Buddha)
beschreibt und ein Ideal entwickelt, welches das Element tat-
kräftiger Liebe und Barmherzigkeit — den Buddhismus des
Mahäyäna vom ursprünglichen Buddhismus tief unterscheidend —
in sich schließi —
Über die archäologischen Funde in Indien werden wir jetzt
rasch und ausgezeichnet, wenn auch unvermeidlicherweise zu-
nächst nur kurz, durch die Berichte orientiert, welche Mr.
Marshall selbst, der Director-General of Archaeology, alljährlich
im Journal of the Royal Asiatic Society erscheinen läßt^. Wie
in der Natur der Sache liegt, kommen diese Funde zu einem
verhältnismäßig recht großen Teil den buddhistischen Forschungen
zucmte. Ich hebe hervor die wichtigen Ausgrabungen von Kasiä
— dem Ort, dessen Identifikation mit dem Ort von Buddhas Tode,
Kusinärä, zur Debatte steht ^ — und von Sämath bei Benares,
weiter die von Saheth-Maheth, dessen längst von Cunningham
aufgestellte Identifikation mit dem alten, in der Lebensgeschichte
des Buddha so hervortretenden Srävästi jetzt nicht mehr be-
stritten werden kann ^, und wo man den zu so unzähligen Malen
in den kanonischen Texten erwähnten Park Jetavana, den
Lieblingsaufenthalt des Buddha, wiedergefunden hat. Alles
andre aber wird an Interesse überragt durch den glänzenden
Fund, der im äußersten Nordwesten gelungen ist. In der Nähe
von Peshawar, an der Stelle, welche durch die Untersuchungen
Fouchers angezeigt war, hat Dr. Spooner den großen Stüpa
Kaniskas ausgegraben, des gefeierten königlichen Beschützers
des Buddhismus, den wir wohl — der Streit hierüber ist freilich
' J.H. M.siTshsLll Ärchaeological Exploration in India 1906 — 7, 1907 — 8,
1908—9. Journal of the R. Asiatic Soc. 1907, 993 ff.; 1908, 1085ff ;
1909, 1053 ff. — Die ausführlichen Veröffentlichungen im Annual Eeport
des Archaeological Survey of India erscheinen selbstverständlich lang-
samer; die beiden neuesten vorliegenden Bände (Calcutta 1908 — 09) be-
treffen die Arbeiten von 1904—05, 1905—06.
* Siehe dazu Vogel, JRAS 1907, 1052.
' Siehe denselben ebendas. 1908, 971 ff.
604 H. Oldenberg
nocli nicht verstummt — um das Ende des ersten Jahrhunderts
n. Chr. anzusetzen haben werden. Man versäumte natürlich
nicht, nach der Reliquienkammer selbst zu suchen und fand
in der Tat dort, wo es vor achtzehn Jahrhunderten hingestellt
war, ein Metallgefäß: auf dem Deckel die Rundfiguren eines
sitzenden Buddha, zu beiden Seiten stehende Bodhisattvas (so
nach Marshall; doch wird an dieser Deutung zu zweifeln er-
laubt sein; vgl. Foucher JAs. 1909, I, S. 34); auf dem Gefäß
selbst in Hautrelief zwischen guirlandentragenden Eroten und
Buddhafiguren die Gestalt Kaniskas, ganz wie wir ihn aus
seinen Münzen kennen. In dem Gefäß, in einem Behälter von
Bergkrystall, die Reliquien: vier Knochenfragmente Inschriften
nennen die wohlbekannte Sekte der Sarvästivädinas ; auch der
Name des Kaniska selbst erscheint und der eines seiner Beamten
Agisala (Agesilaos?). Die Skulpturen erweisen sich ihrem Stil
nach als der auf die Blüte der Gandhärakunst folgenden Deka-
denz angehörig; so trägt der Fund dazu bei, die ohnedies be-
denkliche Ansetzung der Entwicklung und Blüte dieser Kunst
unter Kaniska hinfällig zu machen.
Von den einzelnen Untersuchungen, die diesem Gebiet
archäologischer Arbeit angehören, sei hervorgehoben die Vogels
über jene rätselhafte, auf den Reliefs der Gandhärakunst den
Buddha häufig begleitende Gestalt des Donnerkeilträgers
(vajrapäni), in der Grünwedel früher Mära den Bösen erkennei
wollte^; sodann die meisterhafte Arbeit, in der Foucher Dar-^
Stellungen des großen Wunders von Örävasti durch die ganzej
indisch-buddhistische Kunstgeschichte hindurch verfolgt^; weiter
der graziöse Vortrag desselben Forschers über die Darstellungei
von Jätakas in Barhut ^ (neben der Einleitung über Seelen^
* J. Ph. Vogel Etudes de sculpture bouddhiqtie IV: Le Vajrapätfii
grico-houddhique. Bull, de l'^cole fr. d'Extr.-Orient IX, Nr. 8 (1909).
* A. Foucher Le „grand miracle"' du Buddha ä Qrdvasti. Jour
Asiatique 1909, I, 6 S.
* A. Foucher Les representations de „Jätakas" sur les has-rcliefs
.Bar/mf (Bibliothfeque de vulgarisation du Muede Guimet, t.XXX), Paris 1908J
Der indische Buddhismus (1907—1909) 605
wanderungsglauben und Jätakas fände man dort gern eine kurze
kunstgeschichtliche Einführung in jene Epoche der indischen
Plastik); die mehrfach auch buddhistische Altertümer berührende
Erörterung V. A. Smiths betreffend Fa-hiens Angaben über
Asoka^; die Mitteilungen Blochs über Altertümer von Nälandä^;
endlich die kurzen Bemerkungen desselben über Züge, die von
bildlichen Darstellungen von Buddhalegenden in deren dichte-
rische Gestaltung eingedrungen sind^.
Neben den von englischer Seite geleiteten Arbeiten Ln
Vorderindien und Birmah stehen die französischen in Hiuter-
indien. Können diese ihrer Natur nach nicht in demselben
Maße wie jene die zentralen Fragen der buddhistischen Archäo-
logie treffen, so verdienen sie in ihrer musterhaften Klarheit
und Sachlichkeit — ich nenne den Namen Fouchers — doch
nicht minder gerühmt und mit Dank betrachtet zu werden.
Ich muß mich damit begnügen, hier auf die Bulletins der Ecole
fran9ai8e hinzuweisen*, die uns über diese Arbeiten orientieren,
und etwa noch den großen Aufsatz des eben genannten Gelehrten
über den Stüpa von Boro-Budur (Java) und über dessen Bas-
reliefs hervorzuheben ".
Ein Überblick über die Arbeiten auf dem Gebiet des
indischen Buddhismus darf die archäologischen Expeditionen
nach Zentralasien nicht unberührt lassen, deren mit höchster
Bewunderung zu begrüßende Erfolge auch das indische Gebiet
so vielseitig und tief berüliren.
* "Vincent A. Smith, Asoka notes. Indian Antiquary XXXVIII
(1909), 151 ff.
' T. Bloch, Tfie modern name of Xälandä. Joum. R. Äsiatic Soc.
1909, 440 ff.
' T. Bloch Einfluß der altbuddh. Kunst auf die Buddfialegende.
ZDMG 62, 370 ff. (1908).
* Bulletin de l'ficole fran9aise d'Extreme- Orient. Bd VE, YUI, IX.
Hanoi 1907, 08, t9.
* A. Foucher Notes d'arche'ologie bouddhique. Bulletin de r£c. fr.
IX, Iff.
606 H. Oldenberg
Stein hat über seine Khotan-Expedition von 1900/01, von
der eine vorläufige Beschreibung schon vorlagt, neuerdings
einen glänzend ausgestatteten ausführlichen Bericht erscheinen
lassend Und schon folgt ein kurzer Bericht über eine zweite
an Funden nicht weniger reiche Expedition (1906 — 08) des-
selben unermüdlichen Forschers, die ihn wiederum nach
Khotan, diesmal außerdem viel weiter nach Osten, nach Lop-
nor und zur chinesischen Mauer geführt hat^ Unterdessen
hat nach der ersten deutschen Expedition unter Grünwedel
nach Turfan (Winter 1902/03), veranlaßt durch den Eindruck,
den deren Erfolge hervorriefen, bekanntlich eine zweite, be-
ginnend 1904, unter v. Le Coq stattgefunden, bei deren Vor-
bereitung Pischel leitenden Einfluß übte und die so mit dem
schmerzlichen Andenken an den früh Hingegangenen unlösbar
verknüpft ist^; sie verschmolz dann mit einer dritten wieder
von Grünwedel geleiteten. Eine französische Expedition wurde
von Pelliot geleitet; seit dieser Bericht geschrieben ist, ist der
glänzende Erfolg dieses Unternehmens allgemein bekannt ge-
worden.^ Über die von russischer Seite getane Arbeit bin
ich nicht imstande, Angaben zu machen*"'.
^ M. Aurel Stein Sand-buried ruins of Khotan. London 1903. Vgl.
mein Referat: Deutsche Rundschau, Dez. 1903.
* M. Aurel Stein Ancient Khotan. Detailed Report on archaeological
explorations in Chinese Turkestan. 2 Bde (ein Bd Text, ein Bd Tafeln).
Oxford 1907. Ich weise auch hin auf 0. Franke in diesem Archiv XII
(1909), 211 ff.
^ M. A. St. Explorations in Central -Asia 1906—08 (Geographica!^
Journal, July and Sept. 1909).
* A. V. Le Coq A short account of the origin, journey, and results of
the first Royal Prussian (second Gervian) expedition to Turfan in Chinese\
Turkestan (Journal of the R. Asiatic Society 1909, 299 ff.).
^ Eine Zusammenstellung der Mitteilungen Pelliot's über seine
Expedition gibt S. L«Svi in den Annales de Geographie, 15. Mai 1910.
® Das Comitä central de l'Association Internat, pour Texplorationj
de l'Asie Centrale et de l'Extreme Orient, welches seinen Sitz in St.i
Petersburg hat, veröffentlicht Bulletins, die mir nicht vorgelegen!
haben.
Der indische Buddhismus (1907—1909) 607
Auf den geradezu unabsehbaren arcbäologiscben und
linguistischen^ Ertrag aller dieser Expeditionen kann hier nicht
eingegangen werden. Es sei nur auf den Fortschritt hin-
gewiesen, den schon jetzt die Untersuchung der von Grün-
wedel und V. Le Coq mitgebrachten Handschriften unserer
Kenntnis des Sanskritkanons des Buddhismus bringt. Pischel,
dem wir bekanntlich schon über die hier einschlagenden Er-
gebnisse der ersten deutschen Expedition wichtige Mitteilungen
verdanken, bearbeitete nunmehr die auf das Dhammapada —
oder, wie wir bei diesem nördlichen Text sagen werden,
Dharmapada — bezüglichen Materialien*. Im Innern einer
ungeheuren Buddhastatue, die in einer Höhle zu Sorcuq stand,
fanden sich 35 mehr oder weniger gut erhaltene Blätter, die
einem Sanskrit -Dharmapada — genauer, verschiedenen Rezen-
sionen dieses Textes — angehören. Verglichen mit der tibetischen,
als Udänavarga bezeichneten Übersetzung der Dharmapada ist
trotz mancher Abweichungen, wie Pischel festgestellt hat, „die
Übereinstimmung doch so groß, daß kein Zweifel daran mög-
lich ist, daß unsere Sanskritrezension die Quelle der tibetischen
Übersetzung ist". Pischel bezeichnet die Rezensionen, deren
Zugehörigkeit zum Hinayäna oder Mahäyäna nicht — oder
noch nicht — feststellbar ist, als die Turfan-Rezensionen, denen
gegenüber der Kharosthi-Text des Dharmapada (Senart, Le
Manuscript Kharosthi du Dhammapada, Paris 1898)
als Khotan- Rezension zu benennen wäre. Wir verfügen also,
wenn wir noch die Zitate in nordbuddhistischen Texten dazu-
nehmen, für das Dharmapada über außerordentlich reichhaltige
Materialien. Nach Pischels Ermittelungen hat die Päli-
rezension eine andere Anordnung der Kapitel und in diesen
* Ich hebe hervor: E. Sieg und W. Siegling Tocharisch, die Sprache
der Indoskythen. Vorläufige Bemerkungen über eine bisher unbekannte
indogermanische Literatursprache (Sitzungsberichte der K. Preuß. Akad.
d.Wiss. 1908, 915 ff).
* ß. Pischel Die Turfan-Hecensiotien des Dhammapada (Sitzungs-
berichte d. K. Pr. Ak. 1908, 968 ff.).
608 H. Oldenberg
durchweg weniger Verse als der Turfanfund und die tibetische
Übersetzung, deren im Päli-Dharmapada nicht wiederkehrende
Elemente übrigens teilweise an anderen Orten des Pälikanons
sich finden. Als Probe teilt Pischel den Yugavarga (Yama-
kavagga des Pälitextes) mit; eine Gesamtausgabe hatte er
vor als dritten Band der „Ergebnisse der Kgl. Pr. Turfan-
expeditionen" darzubieten. Die Ausführung des Planes ist ihm
und der Wissenschaft versagt worden.
Auch hier werden wir zu einem schon oben berührten
Problem zurückgeführt. Was ergeben diese neuen Entdeckungen
über die alte Streitfrage nach der höheren Authentizität des
„südlichen" und des „nördlichen" Kanon? Sie scheinen mir
die Anschauung, die ich vor mehr als einem Jahrzehnt dar-
gelegt habe („Buddhistische Studien". Zeitschr. der D. Morg.
Gesellsch. 52 [1898], 643 ff.), als zutreffend zu bewähren. Der
Typus der Texte, der einst den Streitenden der südliche hieß,
kann jetzt nur allenfalls noch der Kürze wegen so genannt
werden. Denn immer stärker mehren sich die aus dem Norden
kommenden Materialien, welche zeigen, daß Texte von wesent-
lich diesem Typus auch dort der Literatur, mit der wir früher
als mit der „nördlichen" operierten — Werken wie dem Laiita
Vistara u dgl. — zugrunde liegen. Es scheint mir bedenklieb,
die Einfachheit jenes nunmehr im Norden wie im Süden be-
zeugten Typus dem Aussehen jener bunteren literarischen
Schichten gegenüber als eine nachträglich hergestellte zu be-
trachten. Uud unter den Exemplaren des bezeichneten Typus
bewähren sich, so weit sich bis jetzt übersehen läßt, meiner
Überzeugung nach die Pälitexte, wie sie vor allen anderen gut
erhalten sind, so auch als der ursprünglichen Gestalt besonders
nahe kommend. Werden künftige Entdeckungen an dieser
Schätzung etwas ändern^? —
* Wie diese Zeilen niedergeschrieben sind, erhalte ich Kenntnis
von einer neuen wertvollen, leider sehr kurzen Schrift von Sylv. Lt'vi,
welche eben diese Frage berührt: Les Saintes Ecriturcs du houddhisme.
Der indische Buddhismus (1907—1909) 609
Auch auf epigraphischem Gebiete haben die hier be-
sprochenen drei Jahre vielerlei gebracht, wovon einiges Haupt-
sächliche hier verzeichnet werden soll. An die Spitze ist die
Inschrift des Reliquiengefäßes von Piprahwa zu stellen, viel-
leicht die älteste aller bekannten indischen Inschriften. Gegen
Ende 1906 hatte Barth (Joum. des Savants, Oct. 1906, 541 ff.)
einen kritischen Überblick über die versuchten Deutungen ge-
geben und war zu dem Resultat gelangt, daß zu übersetzen
ist: „Ce depöt de reliques du Saint Buddha des (^äkyas est
(l'oeuvre pieuse) des freres de Sukirti, conjointement avec leurs
soeurs, avec leurs fils et leurs femmes." Fleet, der schon
früher an der Diskussion über die Inschrift hervorragenden
Anteil genommen hatte, kommt jetzt auf sie in eingehender
Erörterung zurück.^ Er übersetzt: „This is a deposit of relics
of the brethren of Sukiti, kinsmen of Buddha the Blessed
One, with their sisters, with their children and wives." Von
der entscheidenden These Fleets, der Erklärung von sakiyanam
nicht als Name des Sakya- Stammes, sondern als Äquivalent
des Gen. pl. von skt. svakiya „own, one's own man, a kins-
man" gelingt es mir auch jetzt nicht, mich zu überzeugen. —
Was die den Buddhismus spezieller berührenden Asoka-In-
Comment s'est constitiie le Canon sacre (Bibliotheque de vulgarisation du
Musee Guimet t. XXXI). Paris 1909. L. sieht in der Feststellung eines
Kanon „un fait tardif qui s'est yraisemblablement produit dans les
diverses ecoles vers la meme periode, un peu arant l'ere chretienne"
(S. 19). Im Lauf seiner Darlegungen, die sich in der Hauptsache mehr
den nördlichen als den südlichen Texten zuneigen, stellt er für die Yer-
gleichung der beiderseitigen Exemplare die Regel auf: „il ne faut com-
parer entre eux que des ouvrages qui, de leur propre aveu, sont fonciere-
ment analogues". Gegen die Berechtigung der letzteren Forderung habe
ich ebenso wie gegen die Skepsis, die dem ersterwähnten Satz zugrunde
liegt, mancherlei Bedenken. Doch muß ich, wie schon oben angedeutet,
meinen Wunsch, über diese Fragen eingehender meine Überzeugungen dar-
zulegen — ähnlich wie ich es früher in meinen ,, Buddhistischen Studien",
Zschr. der D. Morg. Ges. LH, getan habe — der Zukunft vorbehalten.
^ J. F. Fleet The inscHption on the Piprahwa vase. Journ. R. As.
Soc. 1907, 105 ff.
Archiv f. Beligionswissenscliaft XIII 39
Bio H. Oldenberg
Schriften anlangt, so wird des in Sahasräm und an andern
Orten gefundenen Edikts, bei dem eine Zeitangabe Buddhas
Nirväna betreffend in Frage kommt, unten S. 611 gedacht
werden. Mit der an die buddhistische Gemeinde gerichteten
Inschrift von Bhabra (Bairat) beschäftigen sich Hultzsch^ und
Bloch ^, welcher letztere — mir nicht überzeugend — in ihr
die Verewigung einer frommen Stiftung des Königs zum Besten
der Gemeinde sieht: der Zweck sei gewesen, daß gewisse
kanonische Texte regelmäßig Mönchen und Laien vorgelesen
werden sollten. Von der Asokainschrift an Buddhas Geburts-
stätte, speziell von dem Passus derselben, welcher der Dorf-
gemeinde des heiligen Orts Steuerfreiheit verleiht, handeln
F. W. Thomas und Fleet.^ — Über die neugefundene, wohl
von Asoka herrührende Inschrift von Särnäth, die zuerst Vogel
veröffentlicht hat (Epigr. Ind. VIII, 166 ff.), mit Vorschriften
für die Mönchs- und Nonnengemeinde und die Laiengläubigen,
handeln A. Venis und Boyer.^ — Unter den Inschriften der
folgenden Zeiten gehe ich rasch über die des Löwenkapitells
von Mathurä hinweg, die durch die Nennung der Schulen der
Sarvästivädin und Mähäsamghika für die Geschichte des Buddhis-
mus von Interesse sind; wir verdanken eine neue Ausgabe
dieser Inschriften Mr. Thomas.^ — Aus der Zeit Kaniskas ist
neben den neuentdeckten Inschriften des Reliquiengefäßes im
Stüpa jenes Königs (s. oben S. 603) die Inschrift von Manikiala
mit der Erwähnung der Errichtung eines Stüpa für mehrere
Buddhas (nanabhagavabudhathuvam) hervorzuheben: ui
die seit lange bekannte, neuerdings scharfsinnig von Senai
behandelte Inschrift hat sich Lüders in einer eingehendei
> E. Hultzsch Ä note on the Bhabra Edict. Journ. R. As. Soc. 1909, 727 f.
» T. Bloch Zur Asoka -Inschrift von Bairat. ZDMG 63, 325 tf.
» F. W. T(hoinas), Journ. R. As. Soc. 1909, 466 f.; J. F. Fleet
ebendas. 760 f.
* A. Venis, Journ. As. Soc. Bengal 1907 (Calc. 1908), 1 ff. ; A. M. Boyer,
Journ. asiatique 1907 II, 119 ff.
'" F. W. Thomas The inscriptions on the Mathura Lion-capital.
Epigr. Indica IX, 185 ff. (1907).
Der indische Buddhismus (1907—1909) 611
Untersuchung^ verdient gemacht. — Wickremasinghes Epi-
graphia Zeylanica^, von der mehrere neue Hefte erschienen
sind, hat mir nicht vorgelegen. —
Von chronologischen Untersuchungen ist an erster Stelle
die Fleets zu nennen, welche sich mit dem Datum von
Buddhas Tode beschäftigt.' Gegenüber der, wie es scheint,
künstlichen Ansetzung auf den Vollmond des Vaisäkha
(März -April) wird die Ansetzung der Sekte der Sarvästi-
vädins auf den achten Tag des zunehmenden Mondes in
Kärttika (September- Oktober) scharfsinnig verteidigt. Doch
verlangen, scheint mir, die Daten, die in dem alten Bericht
über Buddhas letzte Zeiten (Mahäparinibbäna Sutta) enthalten
sind, eine nicht unbedenkliche Zusammenpressung der in Frage
kommenden Zeiträume, um jenen Ansatz als eben — nur
gerade als eben — denkbar erscheinen zu lassen. Fleet faßt
das Ergebnis seiner Untersuchung in dem Ansatz von Buddhas
Tod auf den 13. Oktober 483 vor Chr. zusammen. Es ist gut
dabei nicht zu übersehen, daß die Zahl 483 die Voraussetzung
in sich schließt, daß die traditionellen Angaben über die Ent-
fernung der Könige Candragupta und Asoka von Buddhas
Tode richtig sind: eine Voraussetzung, die m. E selbst dann
gewagt bliebe, wenn die in einem inschriftlichen Edikt
Asokas enthaltene Zahl 256 mit Recht auf die Zahl der seit
Buddhas Tode verflossenen Jahre gedeutet würde.* Der
Charakter der Angaben über die Königsherrschaften des ersten
Jahrhunderts nach Buddhas Tode erweckt, wie ich vor langer
* H. Lüders The Manikiala inscription. Joum. R As Soc. 1909, 645 ff.
* Ärchaeol. Survey of Ceylon. Epigraphia Zeylanica. Ed. and transl.
by Don Martino de Zilva "Wickremasinghe. London, von 1904 an.
* The day on ichich Buddha died (Joum. of the R. Asiatic Soc. 1909,
1 ff.). — Nicht erhebliche Förderung scheint mir zu bringen V. Gopala.
Aiyer Tlie Bäte of Buddha. Ind. Antiquary XXX VII (1908), 841 ff. Er
setzt das Nirväna in 487 vor Chr.
* Yon neuerer Literatur über diese vieldiskutierte Zahl führe ich
an: A. Venis, Joum. and Proc. As. Soc. Bengal, N. S. III, 4 f. (1907;
Calc. 1908). Norman, Joum. R. As. Soc 1908, 13; Fleet ebendas. 495,
811 ff. und in seinem Aufsatz The last uords of Asoka, ebendas. 1909,
39*
612 H. Oldenberg
Zeit ausgeführt habe^, kein selir starkes Vertrauen zur
Authentizität der betreffenden Chronologie.
Eine zweite sehr förderliche Untersuchung Fleets^ be-
schäftigt sich mit der Zeitrechnung der Ceylonesen vom Tode
Buddhas. Es ergibt sich, daß aus älterer Zeit dahin gehörige
Datierungen bis zur Zeit des Asoka und Devänampiya Tissa
vorliegen. Dann bricht die Reihe ab, um im 12. Jahrhundert
nach Chr. unter Parakkamabähu I von Ceylon wieder anzu-
heben: wie Fleet wohl mit Wahrscheinlichkeit vermutet, im Zu-
sammenhang mit der unter diesem Herrscher eingetretenen Neu-
belebung des Buddhismus. Der nachweisbare Fehler von un-
gefähr 60 Jahren, der nach Ausweis der griechischen Nach-
richten über Candragupta, den Zeitgenossen Alexanders d. Gr.,
in dem Anfangsdatum der Aera (544 vor Chr. = Buddhas Tod,
statt etwa 480, nach Fleet 483) enthalten ist, muß nach Fleet auf
Irrtümern der ceylonesischen Ansätze über die Zeit zwischen
Devänampiya Tissa und Parakkamabähu I beruhen. Die hier
erforderliche Revision — ich fürchte, sie wird nur sehr bruch-
stückweise möglich sein — bereitet Fleet durch eine dankens-
werte Tabelle der älteren ceylonesischen Königsdaten nach
den Chroniken Dipavamsa und Mahävamsa vor. Ich möchte
dazu bemerken, daß, so erwünscht eine Aufdeckung der die
bezeichnete Zeitperiode betreffenden Irrtümer sein wird, doch
die weitere Frage offen bliebe, wie es um die Korrektheit
der Bemessung der Entfernungen steht, die zwischen Candra-
gupta, Asoka, Devänampiya Tissa auf der einen Seite, dem
Tode Buddhas auf der anderen Seite liesfen. Daß ich hier
981 fiF.; V. A. Smith und F. W. Thomas, Indian Antiquary, 1908, 19ff.;
Hultzsch, Journ. R. As. Soc. 1909, 728 flF.; denselben und Fleet, ebend.
1910, 142 fiF., 146 ff. ; V. Gopala Aiyer, Ind. Antiquary 1908, 345 ff. — Über die
Spuren einer, -wie es scheint, in Ceylon auftauchenden Ära, die auf der
Datierung von Buddhas Tod auf 483 v. Chr. beruht, weiß ich bis jetzt nur auf
die Mitteilung von A. B. Keith, Journ. R. As. Soc. 1909, 176 zu verweisen.
'■ Zeitschr. der Deutschen Morg. Ges. 34, 751 ff.
* Tfte Origin of the Buddhavarsha , the Ceylonese reckoning frotn
the death of Buddha (Journ. of the R. Asiatic Soc. 1909, 823 ff.).
Der indische BuddhismuB (1907—1909) 613
den Glauben Fleets an die Überlieferung nicht teilen kann, ist
oben S. 611 angedeutet.
Von Arbeiten zur Kirchengeschichte des Buddhismus yer-
zeichne ich — neben manchem früher Erwähnten, das, wie
leicht ersichtlich, auch dies Gebiet berührt — zunächst Fleets
Artikel, der dessen Untersuch ang über die körperlichen Re-
liquien Buddhas zu Ende führt ^, und Puinis Aufsatz*, in
welchem chinesische Versionen des Berichts über die Verteilung
jener Reliquien behandelt werden. Mit den beiden ersten
Konzilien beschäftigt sich 0. Franke.^ Die Kapitel CuUavagga
XI. XII, auf denen das Wissen von diesen Konzilien zu be-
ruhen schien, sind nach ihm nur Luftblasen (S. 79). Was
man seit den Tagen des Dipavamsa für Berichte über Konzilien
hielt, sind in Wahrheit „more or less readings in 'good form'
for bhikkhus in all events and circumstances" (S. 44), erfunden,
um die Etikettenfragen, die sich beim Zusammentreffen älterer
und jüngerer Brüder ergaben, zu illustrieren. „It is only when
the reason for it becomes clear, that one can afford to enjoy
the ingenuity of the construction. The enjoyment is caused,
be it Said, more by the humour of the procedure than by
historical or aesthetic reasons" (S. 37). Am ersten Konzil ist,
scheint mir, allerdings nicht viel zu halten; daß auch das zweite
eine Luftblase sei, davon wird Fr., wie ich glaube, un-
befangene Leser des betreffenden Berichts schwerlich über-
zeugen. Verwandt mit den hier besprochenen Unter-
suchungen dieses Forschers, sind die, welche derselbe in
seinem Aufsatz über die großen Fäli- Chroniken niedergelegt
' J. F. Fleet The tradition about the corporeal relics of Buddha.
JRAS 1907, 341 ff.
* C. Puini Le reliquie del Buddha. Giorn della Soc. As. Italiana
Tol. XXI (1908), 59 ff.
' R. Otto Franke TJie Buddhist Councils at Bäjagaha and Vesäli
OS alleged in CuUavagga XI. XII. Journal of the Päli Text Society,
1908, Iff. — Leider hat mir nicht vorgelegen C. Puini, II Jlahäparinir-
vätia-sütra nella traduzioiie cinese di Pe-fa-tsu, e il primo Concilio di
Bäjagrha (Riv. degli Studj Orientali, vol. I, Fase. 1).
i
614 H. Oldenberg Der indische Buddhismus (1907—1909)
hat.^ Wir geben ihr Ergebnis am kürzesten mit den Worten
wieder, mit denen Fr. selbst dies in seinem Aufsatz über die
Konzilien (S 1) tut. Es handelt sich um die Widerlegung davon,
„that the authors of the Dipavamsa, Mahävamsa, and Samanta-
päsädikä had any chronicles contained in the old Sinhalese
Commentary on the Canon ... in their possession". Vielmehr
schrieben Mahävamsa und Samantapäsädikä den Dipavamsa aus,
und „in the absence of any sources (doch wird WZ KM XXI, 350
immerhin die Frage offen gelassen, ob der Dipavamsa eine Quelle
hinter sich hat), the last-named work must be considered as
standing unsupported on its own tottering feet^'. Mir scheint
diese These zutreffend von Geiger widerlegt.^ —
In einem interessanten Aufsatz^ sucht Kern, auf Grund
der Bezeichnung vaitulyasütra , die anstatt vaipidyasütra dem
Saddharmapundarika in Handschriftenfragmenten beigelegt wird,
welche aus Kashgar stammen, eine Brücke einerseits zwischen
den vetulla-, vetulyaJca -Ketzern, der ceylonesischen Chroniken
sowie des Kathävatthu-Kommentars und anderseits dem Mahäyäna
herzustellen. Die scharfsinnige Kombination wird meines Er-
achtens noch weiterer Prüfung bedürfen. —
Neue Erscheinungen betreffend die etwa in Frage kommenden
Zusammenhänge zwischen dem Buddhismus und der altchrist-
lichen Literatur habe ich an anderem Orte besprochen.*
^ R. Otto Franke Dipavamsa und Mahävamsa. Wiener Zschr. f.
d. Kunde des Morgenlandes XXI (1907), 203 ff., 317 ff.
* Wilh. Geiger. Noch einmal Dipavamsa und Mahävamsa. ZDMG
63, 540 ff.
' H. Kern Vaitulya, Vetulla, VetulyaJca. Verslagen en Mededee-
lingen der K. Akad. van Wetenschappen, Afd. Letterk. 4* R., D. VIII,
312 ff. Amsterdam 1907. Vgl. dazu L. de la Vall<5e Pouesin, JRAS 1907,
43 2 ff.; Windisch Abh. der Sachs. G. d. W., phil. hist. Kl. XXVIl, 470 ff.
* van den ßergh van Eysinga Indische Einflüsse auf Evangelische
Erzählungen. Mit einem Nachwort von Prof. Dr. E, Kuhn. 2. vermehrte
Auflage. Göttingen 1909. — A. J. Edmunds, Buddhist and Christian
Gospels. Now first compared frotn the Originals. 4"' Edition (mit Bei-
trägen von Prof. M, Auesaki). 2 Bde. Philadelphia 1908 — 1909. —
Vgl. H. 0., Theol. Literaturzeitung, 1909, Sp. 626 ff.
6 Der Jainisnins
Ton H. Jacobi in Bonn
In dem letzten Jalirzehnt sind die Bekenner dieser Religion
aus ihrer bisherigen Ruhe herausgetreten. Die Jainas, kon-
servativ aufs äußerste, soweit ihre religiösen Satzungen in Be-
tracht kommen, sind trotz alledem nicht unberührt geblieben von
dem Einfluß, den westliche Ideen und Einrichtungen in immer
wachsendem Maße auf die Gestaltung der Gesellschaft in Indien
ausüben. Die früher fast isolierten Gemeinden sind in engereu
Verkehr und Ideenaustausch getreten, und in einzelnen Ge-
meinden übernehmen hervorragende Laien sowie lokale Vereine
die Leitung der fortschrittlichen Bewegung. Die Jain Swetambar
onference, deren Organ die Monatsschrift 'Herald' (in Guzerati)
ist, berät in jährlichen Wanderversammlungen seit 1902 die
gemeinsamen Interessen der Jainas und disponiert über Fonds
zur Unterstützung von Tempeln und Schulen, von Armen und
Lebewesen' (Tierasyle), sowie von literarischen Unternehmungen
(ein detailliertes Verzeichnis, granihäiali , aller bis jetzt be-
kannten Jainawerke bzw. Handschriften derselben in öffentlichen
Bibliotheken und lokalen Sammlungen, bhändärs). Die Ver-
einigung der akademisch Gebildeten, the Jain Graduates Asso-
ciation, vertritt besondere Interessen und hat z. B. die Berück-
sichtigung der Jaina-Literatur im Universitätsstudium erreicht.
Mancherorts haben die Jainas eigene Schulen, in Benares ein
besonderes College (Yashovijaya Jain Pathashala), das unter der
Leitung des gelehrten und eifrigen Muniraj Dharmavijaya Zög-
linge nach einheimischen Methoden und Zielen ausbildet und
auch Texte herausgibt in einer eigenen Serie, neuerdings auch in
einer Monatsschrift, grantJiatnälä. Überhaupt ist die publi-
zistische Tätigkeit der Jainas eine ungemein rege. An manchen
Orten geben wohlhabende Patrone die Mittel her zur Ver-
öffentlichung von Texten, meist mit Guzerati Übersetzung, so-
wohl einzelner Werke als auch kleinerer Serien (am umfang-
616 H, Jacobi
reichsten die Räyachandra Sästramälä). Auch Gesellschaften
haben sich zu dem gleichen Zwecke gebildet, von denen
besonders die Jain Dharma Prasäraka Sabhä in Bhavnagar
und der Jain Dharma Vidyä Prasäraka Yarga in Pälitäna
wegen Publikation einer größeren Reihe von wichtigen und
interessanten Sanskrit- und Präkrit- Werken hervorgehoben zu
werden verdienen. Endlich sei noch erwähnt, daß in Ahmeda-
bad ein Unternehmen hervorgetreten ist zur Yerö£Fentlichung der
kanonischen Schriften in zuverlässigen Ausgaben, soweit solche
bisher noch nicht erschienen sind. Einige dieser Texte haben
europäische Gelehrte zur Bearbeitung übernommen, und dem
Berichterstatter ist die Werbung von weiteren Herausgebern
übertragen.
Übergehend zu den eigentlich gelehrten Arbeiten auf dem
Gebiete des Jainismus glaubt der Berichterstatter einerseits auf
die Nennung von reinen Textausgaben im allgemeinen ver-
zichten zu können als außerhalb des Interessenkreises des
Archivs für Religionswissenschaft liegend, anderseits auch die
in Guzerati und Hindi geschriebenen Aufsätze jainistischer
Zeitschriften beiseite lassen zu dürfen.
Eine umfangreiche Bibliographie der Jainas hat A. Guerinot
veröffentlicht: Essai de Bibliographie Jaina. Paris, Ernest
Leroux 1906. Nach einer orientierenden Einleitung über den
Jainismus, werden in 12 Abteilungen nicht nur alle auf den-
selben bezüglichen selbständigen Werke und Abhandlungen,
sondern auch alle irgendwie interessanten Ausführungen über
einzelne Punkte der Lehre und Geschichte desselben in
anderen Werken, überall mit knapper Inhaltsangabe, in
852 Nummern behandelt. Ergänzt wird dieses große Werk
durch das von demselben Verfasser in demselben Verlage 1908
erschienene Repertoire d'Epigraphie Jaina, precede d'une
esquisse de l'histoire du Jainisme d'apres les inscriptions, das mit
derselben Gründlichkeit bearbeitet noch ein besonderes Interesse
durch die ausführliche historische Einleitung beanspruchen darf.
Der JaimsmTis 617
Eine Übersicht des Glaubenssystems der Jaina gibt eine
vom Berichterstatter übersetzte und erläuterte Schrift des alten
und berühmten Kirchenlehrers Umäsväti (Eine Jaina-Dogmatik
Umäsväti's Tattvärthädhigamasütra, übersetzt und erläutert von
H. Jacobi ZDMG LX). Diese Dogmatik, die von den beiden Ab-
teilungen der Jainas, den 'Svetämbaras und Digambaras, an-
erkannt wird, umfaßt die Psychologie, Kosmographie, Meta-
physik und Ethik im engsten Anschluß an den Kanon. Von
einem anderen Kirchenlehrer, Haribhadra (9. Jhd.), besitzen wir
eine Behandlung der Jaina Ethik, den Dharmabindu. Dr. Luigi
Suali hat im Giomale della Societä Asiatica Italiana 1908
eine Bearbeitung dieses Werkes begonnen (La Legge jainica),
von welcher bisher der die Laienpflichten behandelnde Teil
erschienen ist.^ Verwandten Inhalts ist das Yogasästra des
Polyhistors Hemacandra (12. Jhd.), der auch einen Kommentar
dazu geschrieben hat; mit diesem beschäftigt sich Belloni-
Füippi (La Yogasästra vrtti, GSAJ 1908).
Li einem Vortrage auf dem Oxforder Internationalen Kongreß
für Religionswissenschaft „the Metaphysics and Ethics of the
Jaines" hat der Berichterstatter das Verhältnis der Jaina-Philo-
sophie zu der Lehre der Upanisads, dem Buddhismus und
Sänkhya-Yoga näher zu bestimmen versucht. Satis Chandra
Vidyabhusana hat in seiner Doktorschrift: History of the
Mediaeval school of Logic, Calcutta 1909, die Entwicklung der
Logik bei den Jainas behandelt, nachdem er vorher schon das
älteste Kompendium der Jaina-Logik herausgegeben und über-
setzt hatt«. (Nyäyävatära, the earliest Jaina work on pure
Logic by Siddha Sena Diväkara, Calcutta 1908).
1) Hier möge noch auf eine Reihe philosophischer Abhandlungen
desselben ausgezeichneten Forschers hingewiesen werden. Contributi
alla conoscenza della Logica e della Metafisica Indiane GS AI 1906, die
eine Übersetzung des jainistischen "Werkes Saddarsanasamuccaya mit
Kommentar enthalten. Die bisher erschienenen Teile behandeln Kyäya
und Vaisesika.
Qlß H. Jacobi Der Jainismus
Von Kanonisclien Schriften liegt die englische Übersetzung
des 8. und 9. Angas vor (L. D. Barnett, Antagada-dasäo and
Anuttarovaväiya-dasäo. From the Präkrit, Roy. As. Soc.
Publications — Orient. Transl. Fund London 1907.) Über die im
6. Anga enthaltenen Erzählungen hat gehandelt Dr. Wilhelm
Hüttemann. Die Jnäta- Erzählungen im sechsten Anga des
Kanons der Jinisten. Straßburg 1907. Damit sind wir zu dem
Gebiete gelangt, das stets ein besonderes Interesse für die
Forschung gehabt hat, die jainistische Erzählungsliteratur.
Dr. Jarl Charpentier behandelt in seiner Dissertation solche
Legenden, von denen sich Reflexe bei den Buddhisten und an-
derswo finden (Studien zur indischen Erzählungsliteratur l.Pacce-
kabuddhageschichten, Uppsala Universitets Arsskrift 1908,
ferner ZDMGr 1908.) Johannes Hertel hat als ersten Band der
^Bibliothek morgenländischer Erzähler' eine Übersetzung von
Märchen und Legenden aus dem Sanskrit herausgegeben: Aus-
gewählte Erzählungen aus Hemacandras Parisistaparvan, Leip-
zig 1908, und J. J. Meyer bietet unter dem Titel 'Hindu Tales'
an english translation of Jacobi's ausgewählte Erzählungen in
Mähäräshtri, London 1909, reiches Material zu unserer Kenntnis der
jainistischenErzählungsliteratur.Bildet in allen diesenErzähluDgen
der Jainismus das Milieu, so ist er Zweck und Ziel in Siddhar§i's
Upamitibhavaprapancä Kathä (906 n. Chr.), die ein allegorisches
Weltbild von jainistischem Standpunkt bietet. Eine italienische
Übersetzung davon hat Ambrogio Ballini begonnen (GASJ 1904
5. 7.) und über das Werk in Contributo allo studio della Up.
Kathä di Siddharsi. R. A. d. L. 1907 gehandelt. Derselbe Ver-
fasser gibt in mehreren Artikeln der R. d. St. Or. 1907. 8 eine
detaillierte Inhaltsangabe von Vardhamäna Süri's Väsupüjya
caritra im Anschluß an seine Ausgabe dieses Werkes. Der
12. Tirthakara ist ein reines Gebilde der Sage, dessen Vor-
geschichte und Schematisches Lebensbild den Rahmen bieten
für erbauliche und belehrende Geschichten.
III Mitteilungen und Hinweise
Diese Terschiedenartigen Nachrichten und Notizen, die keinerlei
Vollständigkeit erstreben und durch den Zufall hier aneinander gereiht
sind, sollen den Versuch machen, den Lesern hier und dort einen nütz-
lichen Hinweis auf mancherlei Entlegenes, früher Übersehenes und be-
sonders neu Entdecktes zu vermitteln. Ein Austausch nützlicher Winke
und Nachweise und auch anregender Fragen würde sich zwischen den
verschiedenen religionsgeschichtlichen Forschem hier u. E. entwickeln
können, wenn viele Leser ihre tätige Teilnahme dieser Abteilung
widmen würden. Sog Rezensionen soll diese Abteilung ebensowenig
enthalten als sie „Berichte" enthalten soll.
Lantes uud leises Beten
Über die Praxis des lauten und leisen Betens hat aus großer
Belesenheit heraus im IX. Bande dieser Zeitschrift (1906, SS. 185
bis 200) Siegfried Sudhaus ein Füllhorn lehrreichen Materiales aus-
geschüttet. Wer dem Herrn Verfasser für diesen seinen Beitrag
Dank gewußt, dem ist vielleicht auch mit der folgenden ergänzenden
Mitteilung gedient, die ich freilich fuglich hätte etwas fiüher dar-
bieten können.
Das im Archiv für Religionswissenschaft behandelte Thema
findet sich erörtert in einem iim 1300 in Japan geschriebenen, bis-
lang noch in keine andere Sprache übersetzten Werke, das seitdem
bis auf den heutigen Tag bei den Anhängern der Jödo- Sekten, die
die weit überwiegende Zahl der Buddhisten in Japan bilden, in
höchstem, man darf sagen kanonischem Ansehen steht. Das Werk
trägt den Titel Sai-yö-shö d. i. das Wichtigste der Lehre von dem
Paradies im Westen. Sein Verfasser ist ein eingeborener Priester,
Köa Shönin, der sich hier in 20 Dialogen über die Doktrin des
Reinen Landes, d. i. über den, geradezu frappante Ähnlichkeiten
und tibereinstimmungen mit dem paulini sehen Evangelium dar-
bietenden. Sola Fide - Buddhismus und die Wirksamkeit der An-
rufung des Namens Amidas (Amitäbha Buddha), des sogenannten
Nembutsu, des Aussprechens des formelhaften Gebetes Namu Amida
Butsu, ausläßt. Ein ganzer Dialog des Sai-j5-shö beschäftigt sich
mit dem vorliegenden Probleme. Das Wesentliche seines Inhalts
mag hier in Übersetzung stehen.
Ein Gläubiger fragt: „Ist es wohl gleichgut, ob man das
Namu Amida Butsu bloß im Herzen denkt oder ob man es laut
ausspricht? oder aber ist die eine dieser beiden Weisen als besser
620 Mitteilungen und Hinweise
anzusehen als die andere?" Thm wird als Antwort: „Zendö Daishi
(d. i. der chinesische Patriarch Shän-täo, die Hauptautorität der
Buddhisten des „Reinen Landes"; er lebte um 600 — 650) hat,
indem er erklärte »zehn Anrufungen, eine einzelne Anrufung oder
ein einmaliges Gedenken« eine jede gleicherweise gelten lassen.
Und so läßt sich auch von keiner von beiden sagen, sie sei un-
genügend uns zum Eingang zum ewigen Leben zu verhelfen. Indes,
wenn es denn einerlei ist, für welche von ihnen man sich ent-
scheiden will, so ist es doch besser, man ruft mit gesprochenen
Worten an. Was nun aber diese letztere Übung anlangt, so spricht
man von einem stillen Nembutsu, worunter ein solches Aussprechen
zu verstehen ist, das nur dem eigenen Ohr vernehmbar ist. Das
als lautes Nembutsu bezeichnete Aussprechen wird hiernach ein
solches sein, das auch für die Ohren anderer hörbar ist. Es wird
nun aber gelehrt, daß in diesem nicht weniger als zehn verschiedene
Segenswirkungen beschlossen sind. Vor allem die, daß es der Pein
der drei schlimmen Wege ein Ende setzt. Eine jede dieser drei
Existenzformen, das Leben als Höllenbewohner wie als Preta wie
auch als Tier ist ja über alle Maßen leidvoll. Man darf sich das
Dasein in der einen oder anderen dieser drei Regionen nur einmal
in Ruhe vergegenwärtigen, die bloße Vorstellung davon schon muß
einem körperlichen Schmerz verursachen. Und wie erst sollte man
sich bei dem Gedanken an sie der Trauer erwehren können, da
man sich doch sagen muß: Welches von den Wesen, die dort
hausen, ist nicht am Ende gar mein eigener Vater oder meine
Mutter? Daß sie jetzt also der Pein verhaftet sind, wofür ist's
die Vergeltung? Am Ende gar nur dafür, daß sie mit solcher
Liebe an mir, ihrem Kinde, gehaftet? Bei solchen Gedanken faßt
einen erst recht tiefster Schmerz. Man möchte ihrer Seele so gerne,
und wär's auch nur für eine Weile, Erholung schaffen, ihre Qualen
stillend. Nur daß man leider nicht imstande ist, solches zu tun.
Aber siehe da, vermittelst der Stimme unseres Nembutsu -Anrufens
vermögen wir's, ihre Pein zu enden. Des freuen wir uns über alle
Maßen. — Eine andere Segenswirkung ist die, daß das laute An-
rufen den Sinn vor Zerstreuung bewahrt. Spricht man nämlich
das Nembutsu mit lauter Stimme, so werden die irrenden Gedanken
zum Aufhören gebracht und die Seele ist der Verwirrung entrückt.
Darum hat Junshiki Höshi in seiner Schrift über die rechte Weise
des Nembutsu gesagt, man solle hurtig und mit lauter Stimme
rufen, indem man die einzelnen Worte (na-mu-A-mi-da-butsu)
deutlich ausspreche. — Da ist weiter besonders köstlich die Segens-
wirkung, welche darin besteht, daß alle Buddhas sich darüber
freuen. Verlangen ja doch alle die zehntausend Buddhas samt und
sonders nach nichts so sehr wie eben nach Nembutsu. Nun denn,
Mitteilungen und Hinweise 621
so werden sie sich doch um so mehr freuen, wenn sie hören, wie
jemand es mit lauter Stimme betet. Und so oft man darum an-
ruft, ist man voll Zuversicht in dem Gedanken daran, was Freude
doch nun wieder bei ihnen sein werde. — Ein Priester (es war
Eikwan Rishi) hat weiter gesagt: „Jemand, der zuhört (wenn
andere zu Buddha beten), dessen Vergebungen werden ausgewischt
werden." Auch das ist doch wohl ein außerordentlicher Segen.
Es sind deren nur allzuviele, die so tief in der Sünde stecken, daß
man gar nicht anders kann als Erbarmen mit ihnen haben, den
Armen, die immerfort in die schlimmen Wege (d. i. Hölle, Preta-
und Tierwelt) gebannt bleiben, einem nichtausgeheckten Ei ver-
gleichbar, das unberührt im Neste verbleibt. Sie selber aber lassen
sich's nicht einfallen, auch nur einmal das Wort „künftiges Leben"
in den Mund zu nehmen. Wie könnte es da anders sein, als daß
ihr Sündenkarma sich auswächst? Lassen wir sie's denn wenigstens
hören, wenn wir unser Namu Amida Butsu sprechen! Ihre Sünde
wird dann doch wenigstens in etwas ausgelöscht. Und ist das
nicht eine große Sache? — Ein viel größerer Gewinn noch freilich
ist es, daß eben dadurch auch unsere eigenen Verfehlungen be-
seitigt werden. Engo Hoshi sagt in seinem Kommentar: „Horcht
jemand nur recht auf, wenn der wunderbare Klang an seine
Herzenstüre klopft, alsbald wird er auch der Schmutzumstrickung
ledig sein und frei wird sich sein Herz, der Bande los, ergehen
können." Damit meint er, daß, wenn die Laute, mit denen wir
selbst vernehmlich beten, an unser eigenes Ohr tönen, wir sie ver-
nehmen zu eigenem großen Gewinn, indem unser Inneres davon
getroffen und bewegt werde; alsbald wir sie vernehmen, sei auch
schon unser Sündenkarma hinweggeräumt, und freier werde uns
die Brust, und leichter werde es ims ums Herz, indem alle die
falschen Gedanken, in die wir verstrickt gewesen, hinweggefegt
würden. So ein Großes ist es um das Anrufen des Buddhanamens.
Betet jemand mit vernehmlicher Stimme und hört also sich selber
beten, so schinilzt seine Sünde vor beidem zugleich dahin, sowohl
vor seinem Anrufen als imter seinem Hören der Stimme seines
eigenen Betens. Und so wird, dieweil er mit einer Stimme zu
dem Buddha ruft, zwiefach die Sünde von ihm abgetan. Was
unter dem Himmel könnte wirkungskräftiger sein? — Da es solcher
Segenswirkungen aber mehr sind, die ich dir nicht alle so einzeln
aufzählen will, so soll man geflissentlich mit vernehmbarer Stimme
sein Xamu Amida Butsu erschallen lassen, nur aber immer dabei auch
wohl darauf bedacht sein, daß man nicht zum Gespötte der Menschen
wird, durch die Art seines Betens nicht Kritik herausfordert."
Heidelberg Hans Haas
i
622 Mitteilungen und Hinweise
Eugastrimytlien
Bei antiken Schriftstellern begegnet uns nicht selten die Vor-
stellung, daß Seher die Gabe der Weissagung durch einen Geist
erhalten, der in sie eingeht und aus ihnen heraus Zukünftiges ver-
kündet^. Ebenso hören wir aber auch von Lügenjjropheten , die
sich jenen Glauben zu nutze machten, als Bauchredner durch allerlei
Kunststücke das leichtgläubige Volk hintergingen und sich dadurch
einen lohnenden Erwerb sicherten; man nannte sie iyyaaxQL^iv&oi,
späterhin üvd'covsg^ einer der bekanntesten ist der von Aristophanes
verspottete Emykles^.
Christliche Schriftsteller wissen ähnliches zu erzählen^, und
bis in neuere Zeiten finden wir derartige Berichte. So greift z. B.
Eabelais auf, was er vom antiken Material kennt — das ist
nicht wenig !^ — und ergänzt es aus zeitgenössischen Nachrichten
im Pantagruel IV 58, wo er seinen Helden an den Hof des Herrn
„Gaster" führt. Pantagruel ärgert sich da über zwei Arten von
lästigen Gesellen, die zudringlichen „Gastrolater" und vor allem
über die Engastrimythen oder Ventriloquisten, die sich von des
alten Eurykles Geschlecht herleiteten; c'estoient divinateurs, enchan-
teurs et abuseurs de simple peuple, sembJans, non de Ja houcJie,
mais du venire parier et respiondre ä ceux qui les interrogeoient^.
Es scheinen auch Frauen darunter zu sein — wie ja auch das
Altertum Prophetinnen und das Christentum Pseudoprophetinnen
kannte , aus denen die Ilvd-covsg sprachen '' — , denn Rabelais erzählt
* Die Zeugnisse sind jetzt übersichtlich vereinigt bei J Tambor-
nino De antiquorum daemonismo, Religionsgeschichtlicbe Versuche und
Vorarbeiten, hrsg. v. Wünsch u. Deubner VII 3 S. 59 f.
* Tambornino aaO.
« Tambornino S. 93 f.
* Vgl. den Rabelais -Kommentar von Gottlob Regis, Band II
(Leipzig 1839) S. 730 f.
^ Oeuvres de Rabelais par Burgand des Marets et Eathery, Band II
(Paris 187.'i) S. 274.
® Vgl. Wetstein zu Apostelgeschichte XVI 16; Tambornino S. 93 f.
Eine derartige Lügenprophetin scheint, wie Regis aaO. bemerkt, die in
Mailand begrabene Guillelmina gewesen zu sein, von der Pater J. Mabillon
in seinem Museum Italicum Band I (Lutetiae Paris. 1687) S. 19 f. spricht.
Sie hatte es verstanden, sich in den Schein großer Heiligkeit zu ver-
setzen und eine Sekte um sich zu sammeln, von der Johannes Petrus
Puricellus behauptete: Guillelminae sectain non fuisse spurcitiis, nti
Donatus ante omnes vulgavit, infamem: sed impiis deliramentis ,
quae mentcm tantum,non etiam corpus afficerent ac inficeretit:
idque probat Puricellus ex publico instrumento, qtiod Inquisitores anno
MCCC conffcerunt. Aus demselben instrumcntum geht hervor Guillcl-
minam aut certe eins asseclas primarios (nam id ipsa ex ficta modeUia
pernegare visa est) . . depraedicasse , Quod ipsa Guillelmina <ssct Spiritus-
sanctus in sexu femineo incarnatus e Constantia Boemiae Regis uxore.
Diese impudentissima praestigiairix galt noch längere Zeit nach ihrem
Mitteilungen und Hinweise 623
weiter: Teile estoit, environ Van de nostre benoist Servateur 1513,
Jacobe Bodogine, Italiane, femme de hasse viaison. Ihre Geschichte
verdankt Rabelais einem Landsmann der Jakobaea, dem Caelius
Rhodiginus, der, ohne allerdings das Jahr 1513 zu nennen,
folgendes berichtet^:
Pltilochorus in tertio de vaticiniis* efiam mulieres vocat iyya-
öTQi^iv&ovg. Id ne quis, iit fahulosinn, risu excipiendum pxttei,
testatum volumus, tempestate hac, immo vero liaec prodente me,
fuisse in patria mea muUercidam hiimili loco, Jacoham nomine.
Ex cuius venire immundi Spiritus vocem, jjraetenuem quidem, sed
tarnen, übi teilet, dearticulatam et prorsus intelligihilem , auäivi
ipse, sed et innumeri alii, non Bhodigü modo, verum et toto fere
Italia, Quando fitturi avida potentum mens saepe accersitam ventri-
loquam, ac omni exutam amictu, nequid fraudis ocniltae lateret,
inspectare, ac audire concuivit. Cincinnatulus daemoni nomen erat.
Hac nie appellatione gestiens inclamanti subinde respondebat. Si
de praeteritis, aui praesentibus scitareris, quae recanditissima forent,
responsa dabat saepe mirifica. Si de futuris, semper mendacissimus,
sed et inscitiam suam nonnunquam murmure incerto, vel bombo
verius ignoralibi retegebat.
Diese Erzählung, die Rabelais ziemlich getreu übersetzt, ent-
hält manchen bemerkenswerten Zug: In der Zukunft liegende Dinge
pflegt der Geist falsch anzugeben; das gehört zum Wesen dieser
Dämonen, sie sind mendaces^. Auch daß er sich zuweilen unan-
ständig aufführt (et souvent sembloit con fesser son ignorance, en
Heu de y respondre f'aisant un gros pet), nimmt nicht Wunder;
der foetor infolerahilis der unreinen Geister, besonders der aus den
Besessenen ausfahrenden, ist ja bekannt*. Und daß dieser ,,Nuschler
oder Cincinnatulus" manchesmal unverständliche oder barbarische
Worte murmelt {rnarmonant quehjues motz non intelUgibles , et de
barbare terminationj ist ganz nach Geisterart: der Dämon, dessen
Austreibimg Lukian im Philopseudes cap. 16 berichtet, antwortete
bisweilen ßaqßaqi^oiv.
Heidelberg Otto Weinreieh
1281 erfolgten Tod als Heilige, Festtage waren ihr geweiht, bis endlich
19 Jahre nach ihrem Tod, als man ihr Treiben durchschaut hatte, jener
superstitio ein Ende gemacht wurde.
* Lectionum Antiqiiarum lib. V cap. X, Basüiae apud Frobenium
1517 S. 212. « Wohl nach Suidas, s. Müller FHG I p. 416 frg. 192.
' Tambornino S. 49; 95.
* Acta Sanctorum Juli V S. 152 D droht der Dämon: oiscoenum . . .
foetorem in exitii mea tibi tuisqiie relinquam; das geschieht auch so:
cum magno eiulatic et foetor e, quem ipse praedixerat, imtnundus Spiritus
exire compelUtur (152 E). Vgl. z B. noch 148F; Juni V 497F; die
Beispiele lassen sich leicht mehren.
624 Mitteilungen und Hin-weise
Zu dem Zaubergesang in der Nekyia
(Archiv Xn S. 2 ff.)
V. 2 2 f.: Bei Anubis darf man wohl an den mit ihm so oft
gleichgesetzten chthonischen Hermes (vgl. 'EQ^avovßtg) denken,
zumal dieser in Totenbeschwörungen (z. B. Aischylos Cho. 1. 124;
Pers. 628f) gerade an erster Stelle angerufen wird. Dann könnte
man Vers 23 lesen: ] KvXXrjvaie, TCaQEvvsta Aao&osilag.
Kvllriviog {KvXXrjvalog) als Beiwort des Hermes ist bekannt; zum
folgenden vgl. Orph. Arg. 133 ff.: (^'Eqvtov nal .... 'Kylova^ tovg . . .)
Aao&orj Msviroto TtaQSvvrjd'eig iX6iev6Ev KvXXtjvrjg (leöicov.
Den Anfang wage ich nicht zu ergänzen; um aber eine Möglichkeit
anzudeuten, so hat man ja bei der Annahme, daß mit dem Er-
haltenen ein neues Wort beginnt, zur Ausfüllung der Lücke von
neun Buchstaben nicht viel Auswahl, und es könnte etwa ötQoyyvXs
(vgl. Wessely, Denkschr. d. Wiener Ak. XXXVI A 415) dagestanden
haben.
V. 24: iXd^ 'EQ^fiet konnte leicht statt 'EQ(irj geschrieben
werden. Daß agrca^ für den ipvxOTto^TCog Hermes - Anubis ebenso
paßt, wie für den chthonischen Zeus, mit dem er hier vielleicht
gleichgesetzt wird, ist klar.
V. 25: üdL jLie] aldsaadfisvoi KQYjrjvars ktX. Der Beschwörer
hat die Geister in seiner Gewalt und droht ihnen.
V. 26: Ald-Qi]r] nal i&cov^ vgl. die häufige Parallelisierung von
al&i^Q und ')(^&(av oder yata: Hymn. Orph. 33, 1 1 f.; 57, 5; Fragra. III 1,
von ai&SQtog und i&ovtog: Wessely a. a. 0. 2916; A 170f.; Pap. mag.
ed. Dieterich (in Fleck. Jb. XVI. Suppl. 747 ff.) II 28.
V. 28: 'AßXava&ca ist wohl nicht als Kurzform xon^AßXccva&avaXßa
zu fassen, sondern als das hebräische ahlan atka „Vater komm (zu)
uns" (vgl. Kopp, Palaeographica critica III u. IV § 580 ff.); hieraus
wird erst die Zauberformel, die von hinten wie von vorn zu' lesen
ist, entstanden sein. "'AßXuva^oi konnte dann als Name gebraucht,
werden wie Gotthilf, Gottseibeiuns. So könnte man daran denken,
an den Anfang das durch I. Kor. 16, 22 bezeugte (la^av a&d
„Herr komm" als MaQava&o) zu setzen (vgl. Kopp § 581); Buch-
stabenzahl und Quantität würden entsprechen.
V. 29: eßr}xaQBi,7] nach Dieterichs Konjektur = ißiKCiQSis ibis-
köpfiger, d. h. Thoth-Hermes (vgl. Erman, aeg. Rel. 91. 104).
V. 33: Mit '^Qtsv könnte, wie Dieterich meinte, Orion ge-
meint sein (t in ißptwv ist bei Epikern und Theokrit lang). Herr
Professor Boll macht mich freundlichst darauf aufmerksam, daß
die Form Hyrieus als (Pflege-) Vater des Orion (Hygin astron. II 34)
auf die Form 'SlQievg => Orion eingewirkt haben könnte, zumal neben
^YQtevg auch OvQisvg vorkommt, wie Urion neben Orion bei Hygin.
Mitteilungen und Hinweise 625
V. 34: yatoB] via, xsövri, ßioxu usw. Anrufung der Nyx?
via heißt sie auch bei Wesselj 2789. Da ca in später Zeit wie
£ gesprochen wurde, so könnte das KAIATTHBIOTA leicht aus
KeANHBIOTA verderbt sein; vgl. Hymn. Orph. 28 (auf Perse-
phone) 3: xeövi], ßcoöcori.
V. 35 f: Wiederum Anrufung der Nyx, etwa zu ergänzen:
■fjfiiT£kiq]g, i&ovta xal ovQuvia aal oveigcov [firiVtjQ, i]]g xal 6£iQio[i
a6T£Q£g k^eyivovio. Vgl. Hymn. Orph. 2 (auf Nyx) 8: i^jittrcAij?,
ir^ovLtj tjö' ovgavlr} TtuXiv avriq] ib. 5: ju^re^ öveiQcav. Zu V. 36
vgl. Hymn. Orph. 6, 3: ccßTiQeg ovqccvioi, Nvxxog (pika xixva fisXaCvrig.
Zu 6ELQ101 ib. 5: TtvQOSvxeg.
Heidelberg Ernst Schmidt
Bildopfer bei Empedocles
Im 128. Fragment des agrigentinischen Sehers scheint mir Diels
(Fragm. d. Vorsokr. 2 p. 210 Z. 42) in seiner Übersetzung einen bezeich-
nenden sacralen Ausdruck nicht ganz klar wiedergegeben zu haben.
Der Dichter schildert den milden blutlosen Kult der göttlichen Liebes-
macht in der Welt durch die Menschen des goldenen Zeitalters:
T^v (sc. Kv:tQiv) Ol y evetßiecGiv äydXuaaiv IXäexovTO
yganrots te ^mioiei ^vgoici T£ daidaXeödfioig xrX.
Duftende Salben, lautere Myrrhen, lieblicher Weihrauch und gold-
braune Honigspenden erhält die Göttin. Tieropfer aber galten
jenen höheren Menschen als verruchtester Frevel. — Die yganxa
t&ia, mit denen Empedokles den Reigen erlaubter Opfergaben er-
öflFnet, hat nun Diels mit „gemalte Bilder" übersetzt, und wohl
als Kunstwerke aufgefaßt, die der Göttin als Anathemata zugeeignet
worden wären. Damit wäre aber der Sinn dieser Worte kaum
getroffen. Gemeint ist wohl: „mit gemalten (Opfer)tieren".
"Die 'pia fraus', die hier den Urmenschen zugemutet und damit
den Jüngern des Weisen empfohlen wird, ist aus vielen Beispielen
wohlbekannt. In Sonderheit im etruskischen und im ägyptischen
Ahnenkult sind die kostspieligen Toten opf er im größten Maßstab
dadurch abgelöst worden, daß man die ursprünglich in natura bei-
zusetzenden Gegenstände an den Wänden der Grabkammem im
Abbild verewigte (s. z. B. Walker the Egyptian dodriue of fimeral
offering^, Proc. Soc. Bibl. Archeol. XXVI 76 ff.). Es ist also
durchaus einleuchtend, daß die Orphiker, denen der Gedanke an die
Seelenwanderung einen furchtbaren Abscheu gegen die Tieropfer
der Staatsreligion einflößte, bei ihren Bemühungen, der Opferpflicht
gegen die Götter gerecht zu werden, ohne den Frevel der Ahnen-
tötung und des Fraßes zu begehen, auf das Auskunftsmittel der
Weihung — und natürlich auch Verbrennung — von gemalten
Tieren verfallen mußten, zumal durch neupythagoreische Zeugen
(Porphyr, vit. Pyth. 26 z. B.) feststeht, daß eine analoge simulatio
Archiv f. Beligionswissengchaft XIII - 40
626 Mitteilungen und Hinweise
in sacris mit Hilfe von tierförmigen Pormbroten (övattivoi, jSdfc; etc.),
wie sie bei allen Völkern nachzuweisen sind, in den d'iaßoi jener
Mystiker tatsächlich, geübt wurde.
Feldafing a. Starnberger See Robert Eisler
Ton Abzielmng der Sterbenden Hauptküssen'
Zu der früher von mir angeführten älteren Literatur, worin
das Wegziehen des Kissens unter dem Kopf eines Sterbenden er-
wähnt oder besprochen wird (s. Archiv XI 151), ist noch hin-
zuzufügen: Casparis Questelii Dissertatio academica de pulvinari
morientibus non suhtrahendo, Von Abziehung der Sterbenden Haupt-
Küssen, Jenac 1718 (zuerst 1678); zitiert von G. Lammert, Volks-
medizin und medizinischer Aberglaube in Bayern und den an-
grenzenden Bezirken, Würzburg 1869, S. 101, Anm. 2. Questel
schließt seine Abhandlung mit folgendem Satze: Subtractio Pulvi-
naris est Actus moraliter malus, quo Moribundis Capitis Ledulus.
non sine Jiomicidii nota, ad doloris ahrwmpendi, festinandaeque
mortis rationem tollitur (p. 51).
Von den Bräuchen, die Questel beiläufig erwähnt, will ich
hier hervorheben die Su2)erstitiosa capitis equini moribundis sup-
positio i^uü quibusdam in locis id fieri ab Amico edocemur'; p. 18)
So berichtet Mussäus aus Mecklenburg: Phantasiert ein Schwer-
kranker, so legt man ihm zuweilen einen toten Pferdekopf unter
das Kopfkissen; der Dunst macht ihn sofort ruhig (Jahrbücher
des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde II,
128; zitiert von Grimm DM.^ 626).
Vom Wegziehen des Kopfkissens handelt ausführlich auch Jobann
Heinrich Zedier in seinem Universallexikon XXXIX (1744), Sp. 19o5tt'.
Halle a. S. Theodor Zachariae
Totenmaske bei den Wogulen
In seiner Untersuchung über die Wogulen (Beilage zum VI.
u. VII. Band d. ucenyja zapiski d. Universität Kasan 1907) teilt
W. Pavlowski unter anderem auch folgenden Bestattungsbrauch
mit: das Gesicht eines toten Wogulen wird mit Hirschhaut bedeckt,
indem man auf die Stelle der Augen und des Mundes Kupfer-
knöpfe aufnäht. Wisocki sucht (in den Nachrichten d. Archäologisch -
historisch-ethnogi'aphischen Gesellschaft an d. Univ. Kasan Hand XXIV,
3. 1908, 254 — 257) nachzuweisen, daß es sich in diesem Falle
um eine Totenmaske handelt. Bei dem in seiner Sammlung be-
findlichen Wogulenidol ist die Stirn und das Gesicht (mit Aus-
nahme der Nase) mit Hirschhaut bedeckt, auf der Stelle der
Augen sind runde Öffnungen und auf der des Mundes ist eine
ovale Öffnung gemacht.
Starodub Or. Janlewitsohi
Mitteilungen und Hinweise «627
Durstige Seelen
Daß die schon im Altertum weit verbreitete volkstümliche
Anschauung, daß die sogenannten durstigen Seelen während der
Dürre die Regenwolken aussogen und die Quellen austranken, auch
heute noch in voller Kraft ist, ergibt sich aus folgendem Berichte
der „Nowoje Wremja" vom 27. Juli 1909 (N. 11957): im Dorfe
Gromowka gingen die Bauern auf den benachbarten Friedhof,
machten das Grab eines Selbstmörders, den sie als den Urheber
einer großen Trockenheit betrachteten, auf und füllten den Sarg
durch eine Öffnung mit Wasser, um den Regen herbeizuzaubern.
Andere, in ihren Grundzügen ähnliche Berichte aus früheren
Jahren wurden bereits in der „Kiewskaja Starina" mitgeteilt. Als
Urheber der Dürre betrachteten die Bauern die Gehängten (cf.
0. Gruppe, Griech. Mythologie, p. 761,5). So wurden im JaJire
1859 die Leichen zweier Gehängten ausgegraben und, um den
Hegen herbeizuzaubern, mit Wasser begossen (li)OO, Band I, p. 2).
Im Dorfe Warwarowka (Bezirk Konstantinograd) begossen die
Bauern während der Dürre in der Xacht das Grab eines Gehängten
mit Wasser und glaubten, je schneller das Wasser zu der Leiche
kommt, desto schneller wird es regnen (1899, Band YIII, p. 201).
Starodub Or. Janievätsch
AYPA
Das aus dem XVIII. Jahrhundert stammende Euchologium
X. 189 (aus der Handschriften - Sammlung d. Grigorovic im Rum-
janzewschen Museum in Moskau) enthält unter anderem (auf p. 36)^
auch ein folgendes Gebet des heiligen Gregorius zur Beschwörung
der Avoc: (jArroQy.iauog (sie) tov uyiov TtcaQog i]iia)v Fgiyogiov xov
xf-av^arovQyov y.cau t»js avQa ^^kAettov daiiiovogY'. Oqki^o ae itaGuv
i^vGGov Kai dainoviov avQct aQSsviKOV avQu ^rjlvxov aßga ano xov
vdaTog aß^a ciito xov aiuaxog aßQcc utco jivi]uaxog u UTto XQOvöfiaxog
c rpv^ecüg a utio y.xtjvog . . . OQXt^o kotixco 'iccXenc) ÖQiTtavfj . . . xai.
ei-xiv (^uQ^ayyelog) ccvxt}' Tiod'ev eQ'/^t} neu vjiayyjg uvqu {.lekuv}] uiui-
vo^evi} xot'isiXe K£g)aXe: y.ai etTisv uvxto' eya imaya avO-ocoirov oöxsa
cpayiiv %ai xekvcc avxav aqtavt^eiv' xai Xsysi uvxij o UQiccyyslog
'n'faii]k' ovx i'Kjiig E^ovGiav oöxea uvd'Qca-nov (puytiv xui xovg aQQSvag
rpaVl^SlrV cdX SmßQS^EL £7tt 6£ Kg 0 &g TtVQ e^ OVQCiVOV Kai öuc-
o/.OQTtiaet STTi 7toxa(iov Kai £7ti d'aXaGOai' i^eXd'e kui avayoot]6cov a-xo
uiXovg . . . aXX vnaye öe eig xo ooog xa vibiGxu y.ai y.ovßovg '. y.oijcpovg)
^QUKOVxog cpuye xa oöxsa avxov y.ai nie xo aifia avxov . . .
* Auf p. 8 ein Gebet Basilius des Großen zum Schutze gegen „ver-
hiedene Krankheiten und Dämonen", ViktoroT. Sobranije rukopisei
rigorovica. Moskau 1879 (= Jahresbericht des öffentlichen und Rum-
nnzewsclien Museum. 1876 — 78 p. 46).
* Bei Mansvetov in den Drevnosti Trudy d. Kaiserlich Archäo-
logischen Gesellschaft. Bd. IX, I 1881 p. 36.
40*
628* Mitteilungen und Hinweise
Über die Form dieser Beschwörung und den Namen des
Dämons, der hier angerufen wird, vgl. die Bemerkungen bei Fr. Pradel,
Griech, u. süditalienische Gebete etc p. 86f., 93f., 95f. (auch bei
A. Abt, die Apologie des Apuleius von Madaura p. 183). Im
Volksglauben erscheinen die Winde ziemlich oft als krankheits-
erregende Dämonen. So z. B. bei M. Höfler, deutsches Krankheits-
namenbuch, München 1899 p. 221 s. v. Hauch, p. 775 s. v. Waht;
bei Pradel (a. a. 0. p. 10 8. 9) t) o&svöiqTCors l'ffrat SQy^ofisvcc tavra
reo ificpvörj^an xa ivaigia kccI ccKa&aQra Tcvev^ccra. Im IlaQvaöOog
XV (1892) p. 557^ lesen wir folgende Beschwörung des „'^£(»ix6":
'Aeqlko kI avefiLKO vX yvqeveg 'd(b 7tovQ&eg', Na nag va ßy^g <J£ oqi,
as ßovvo, ߣ Qi^i^vo Xt&ccQi, Nu ^SQa&y 7] QL^a TO-u, va fiaQa&fj ■{]
oiOQcpri xov.
'AvÖQsag MaQOvXt^g bemerkt dazu: aeQiKog Ttovog liysxai Ttäg
novog TtQOEQioiievog in xov äsQog. .Im modernen Makedonien be-
schwört man die 'AvaxoXiKOvg ymI BoQSi-vovg Kai /IvxLKohg Kai
NoxLKOvg öaliioveg (Abbott, Maced. Folklore Appendix V p. 366)^ Auch
bei den Türken finden wir denselben Volksglauben (Abbott, a. a. 0.
p. 224 2). Bei N. Vinogradov (Beschwörungen, Lfr. II. St. Petersb.
1909. p. 11) ist ein Gebet „zum Schutze gegen alle Krankheiten"
mitgeteilt, da lesen wir: „Erzengel Michael, nimm du deine feurige
Lanze und wehre von der Gottessklavin (der Name ist zu nennen)
brausende Winde ab", auf p. 48 (Vinogradov a. a. 0.) ein anderes
Gebet „des Furcht einflössenden Erzengels Michael, des Oberhauptes
der himmlischen Mächte" zum Schutze gegen „höllische, oder luftige
Mächte". Man vergleiche auch die „Erzählung" (Povjest) „von
der besessenen Solomonia" (aus dem XVII. Jahrb., bei Afanasiev,
Philolog. Annalen, Woronjez 1868, Bd III p. 275): „Ihr (der Solo-
monia) war einst, als ob jemand an die Türe ihres Zimmers
(chramina) käme, sie stand von ihrem Lager auf und öffnete die
Tür, da brauste es ihr ins Gesicht, Ohren und Augen, als ob
das ein großer Wirbelwind wäre; die ganze Nacht verbrachte sie
ohne Schlaf, dann befiel sie ein Zittern und ein schrecklicher
Schüttelfrost." — In verschiedenen Beziehungen berührt sich der
Text unserer Beschwörung der AvQa mit einigen slawischen Be-
schwörungen, die ich hier zum Vergleich heranziehe. So bei Milo-
radowitsch (Volksmedicin i. Bezirk Lubni, Gouvern. Poltava in
der Kievsk. Starina 1900 V p. 170) lesen wir folgende klein-
russische Beschwörung des Fiebers: „Fieber, du bist scharfsichtig,
* Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Herrn Dr. Wilhelm
Drexler.
' Diese Stelle bei Abbott berührt sich aufs engste mit dem Gebete
bei Vasiliev (Anccdota. Oratio in infirmos = in servam Dei Mariam
p. 32.5) . . . (IT] ccnb ovQavov aa&fjX&sv r) ScaO'ivsia 1] Scno äazigav 7) <{:ro
ijXiov 1} eeX-^vrig, fii] &nb fdqpou vetpiXris firj &n6 xqvsqo^ äigog.
Mitteilungen und Hinweise 629
du rührst vom Wasser, vom Wind her, du kommst, sobald man
an dich denkt, sobald man grübelt. Geh du zum Wasser, zu den
Winden, zum Feuer und zum Kauch. Hier mußt du nicht stehen,
(du mußt nicht) den gelben Knochen reißen. Geh du zum Feuer,
zum Rauch, in die weiten Steppen. Dort kannst du schwärmen,
und die Menschen frösteln machen.'' In einer anderen (klein-
russischen'^ Beschwörung des Fiebers (bei Afanasiev a. a. 0. Bd V
p. 343) wird diese Krankheit auf folgende Weise beschworen: „Ob
du Drück -Fieber bist, ob du Zitter- Fieber bist, ob du vom Winde
oder vom Sturme herrührst, doch geh' du dorthin, wo die Hunde
nicht bellen, wo der Hahn nicht kräht (vgl. Pradel a. a. 0. p. 16 6
0710V y.vcov ov vXaKxet o xe aXeKTcoQ ov qxovEi), wo man die
Stimmen der Christen nicht hört." (In einer tschechischen Be-
schwörung des XIII. Jahrb. verbannt man die Krankheiten: „na
püsci jdete, anikomu neskod'te" oder (bei den Russen) gleich wie
bei Pradel 10 6 eig avvSqov Kai ayecoQyt}tov xbv xönov)} Ferner
wird Avqu in unserer Beschwörung iiiXävi] genannt. Das Beiwort
scheint mir auf ein Fiebersympton anzuspielen und kann möglicher-
weise hier als „dunkelblau" erklärt werden* (jiiXavov TiQOöajtov,
blau gewordenes Gesicht, bei A. Sobolewsky, d. römisch. Paterikon
in der altslawischen Übersetzung „Izbomik Kiewskj" p. 20). Auch
bildlich wird das Fieber als eine nackte, blaue Frau dargestellt: auf
einem Heiligenbilde (beschrieben bei Popov „Geistlich. Bote" l.'^63
IV )^ wird ein Fels dargestellt, der aus einem See mit schwarzem
Wasser hervorragt. Im See sieht man zwölf ganz nackte Jung-
frauen mit zerzaustem Haar. Die einen sind rot, die anderen gelb
oder blau. Auf einer Seite sieht man den heiligen Sisinnius mit
über den See ausgestreckter rechter Hand, auf der anderen Seite
den Erzengel Michael, der mit seinem Stabe den Jungfrauen einen
Schlag versetzt. In den Beschwörungen wiid der Fels durch den
„Berg Golgatha" ersetzt; vgl. bei Miloradowitsch (a. a. 0. p. 170):
„Auf dem Berge Golgatha stand eine Eiche. Unter dieser Eiche
saßen sieben Märthyrer: Erzengel Michael, Gabriel, Triel, Meo-
todymus, Sizonty, Klementy und Johann der Täufer, und sie sahen
ein schreckliches Wunder: aus dem Meere kamen 17 nackte, un-
gegürtete Weiber mit zerzaustem Haar. Da fragte sie Johann der
Täufer: wer seid ihr? wohin geht ihr? Wir gehen in die Stadt
Christi, um die Leute zu quälen, ihr Blut zu trinken, ihren Leib zu er-
müden und dem Tode zu übergeben. Da nahm Johann der Täufer
seinen Stab und schlug jeder 100 Wunden an dem Kopf. Die Weiber
sagten: wer ihi-e (d. h. der Märtyrer) Namen aussprechen wird und
» Vgl. Afanasiev a. a 0. Bd IV, V 343.
* Vgl. Meyers Konv. Lexikon u Fieber: ,, während des Schüttelfrostes
-t die Haut kühl u. bleich, oder bläulich gefärbt".
* Vgl. A. Weselovskij, Journal Ministerstva Narodn. Proew. 1886 VI.
630 Mitteilungen und Hinweise
das Wasser lesen (d. h. besprechen), den rühren wir nicht an. In
einer anderen Beschwörung (bei Miloradovitsch) ist die Zahl der
Weiber 22. Der heilige Basilius fragt die Weiber: was für Menschen
seid ihr? Wir sind nicht Menschen, antworten die Weiber, wir
sind Feindesbrut. Wir sind in die Welt geschickt, damit wir das
rote Menschenblut trinken, den weißen Leib frösteln machen und
die gelben Knochen reißen. Bei den Tschechen (Afanasiev a. a. 0.
BdIV, V3.37) begegnet Jesus (vgl.Pradela a.O.p.92) den „Krämpfen
und Zuckungen (psotnika)^' und fragt: „kam ty jdes, psotniku? —
Ja jdu de zivota te a te osoby — maso jisti, krev piti, zilu trhati
kosti lamati chut' k jidlu a k piti brati, a spani mu odjimati",
Starodub Or. JanieTvitseh
Zur Beschwörung des Geistes Bettzaierle (0. Meisinger, Archiv
XII S. 579) vergleiche man K. Weinhold „Beschwörung des Alps"
i. d. Zeitschrift d. Vereins für Volkskunde VI (1896) p. 213 — 215
(auch Varianten dazu aus Böhmen, Mähren und Schlesien).
Starodub Or. Janiewitseh
Genesia oder Parentalia? — Dank des trefflichen Buches
von Wilhelm Schmidt (Geburtstag im Altertum. Gießen 1908.
p. 37) über griechische und römische Geburtstagfeierlichkeiten ist
die Frage nach der Bedeutung des Wortes und der Bezeichnung
yeviöia erledigt. Es sei uns gestattet, aus einer abseits liegenden
Quelle und aus einem bisher wenig beachteten Schi'ifttum zu dieser
Frage das Wort zu ergreifen. Es bedarf zwar keines Beweises
mehr, nach der gründlichen Untersuchung Schmidts, daß zwischen
Genesia und Parentalia ein Unterschied bestand, es ist aber jedenfalls
nicht uninteressant, die Wirkung dieses religiösen Festes in einend
Milieu zu suchen, wohin des Forschers Blick sich sonst nicht verirrt.
Im Talmud, Aboda Zara (K. I Misna 2) wird folgender Satz
gelehrt: Das sind die Feste der Heiden: die Kaienden, Saturnalien,
der Siegestag (nach der Erklärung: der Tag, an dem Rom die
Oberherrschaft gewann, es ist der Sieg des Octavian bei Actium),
die „Genesia" der Könige, der Geburtstag und der Todestag. Die
Erklärer konnten sich das Wort csb« b^ N-'D"'3:i ÖV nicht gut
zurechtlegen; sie fragten daher: was ist unter Genesia zu ver-
stehen? R. Jehuda meinte: der Tag, an dem die Heiden die
Könige installieren. Tatsächlich wurde die Einsetzung eines Königs
feierlich begangen. Man nannte den Tag „natalis imperii",
(s. Schmidt, 1. c. p. 2, femer Heinrich Lewy, Philologus, Bd 52,
p. 733). Allein gegen diese Erklärung wird der triftige Ein-
wand erhoben, daß an einer „Stelle die Genesia neben dem
natalis imperii" ruhig nebeneinander erwähnt werden, und sie
werden als zwei voneinander verschiedene Feste behandelt. Die
Mitteilungen und Hinweise 631
zweite Erklärung identifiziert die Genesia mit Parentalia. Das
kann doch auch nicht stimmen, dachten sich die Alten, dann wäre
doch H'^Z^Zj- CT (der Genesiatag) oder """^b DT' (Geburtstag) über-
flüssig. Da kommt wieder dieselbe Schwierigkeit zum Vorschein,
welcher die erste Erklärung nicht standhalten konnte (b. Aboda
Zara p. lOa). Im palästinensischen Talmud (Kl M 2) wollte man
einen andern Ausgleich finden, der aber gar nicht glücklicher ist,
als die Erkläningen im babylonischen Talmud. Unter Genesiatag
soll man die Geburtstagsfeier der Fürsten verstehen, während das
folgende Wort den Geburtstag von Privatpersonen bezeichnet. In
Wirklichkeit sind auch die zuletzt erwähnten Feierlichkeiten auch
auf Könige zu beziehen, wie aus einer Erklärung (b. A. Z. 10 a:
sein (des Königs) Genesiatag und der Genesiatag seines Sohnes,
sein (des Königs) Geburtstag und der Geburtstag seines Sohnes)
klar hervorgeht. Auch aus dem zweiten Teile der Misna, wo von
Privatpersonen die Rede ist. geht deutlich hervor, daß dieser
Unterschied nicht besteht, und ursprünglich wird gar nicht S'^sb?: bc
gestanden haben, sondern weil man nicht wußte, daß zwischen
Genesia und Parentalia ein Unterschied bestehe, hat ein Glossator
oder Redaktor diese zwei Worte hinzugefügt — Ebenso unan-
nehmbar ist die Erklärung der Tosefta (ed. Zuckermandel, p. 460,
Zeile 27). "^bri "b"^ ^- '^'«^ '^^"' d^r Tag eines jeden Königs.
Wie Schmidt gezeigt hat, waren die Genesia Geburtstag-
feierlichkeiten für verstorbene Personen, während die ysvi&hu
die Geburtstagfeier bei Lebzeiten bezeichnete. Diese Verwirrung
in der Erklärung des Wortes ist durch die Vermischung beider
Begrifie entstanden. Aber nicht nur bei den Juden geschah dieses,
sondern auch bei den Griechen und Römern ist die wahre Be-
deutung des Woi-tes ysvsaiu in Vergessenheit geraten (s. Schmidt
p. 40). Im spätem jüdischen Schrifttum bedeutet yeviöuc schlecht-
weg: Geburtstag (so Genesis rabba K. 88; Pseudo Jonathan
targum zu Gen. 40. 20; Targum Enter I zu K. III. V. 8.: unsere
(ienesiatage beobachten sie nicht). Die frühe Bekanntschaft der
Tuden mit den wirklichen Genesiafestlichkeiten ist aus 2 Macc.
.7 ersichtlich. — Man trieb die Juden mit aller Gewalt alle
Monate zum Opfei-schmaus, wann des Königs Geburtstag gefeiert
wurde. Hier kann sowohl vom Geburtstage Antiochus Epiphanes
wie vom Geburtstage seiner verstorbenen Vorgänger die Rede sein.
Das Wort selbst zeigt uns, daß die Juden noch die richtige Be-
deutung der Genesiafeier kannten, und die Erwähnung der Paren-
talia, daß sie zwischen beiden einen Unterschied kannten.
Diese Feste waren ibnen verboten wegen des heidnischen
Charakters.
Daß die Rabbinen die richtige Genesiafeier ebenfalls kannten,
geht mit Deutlichkeit aus der Mechilta (ed. Friedmann, p. 136)
632 Mitteilungen und Hinweise
hervor. Zur Stelle Ex XII 30 Denn es gab kein Haus, in
welchem nicht ein Toter war: „E. Natan sagt, gab es denn
keine Häuser, in welchen keine Erstgeborene waren? Es war
gebräuchlich, daß man das Bild (^slkoviov) der Verstorbenen im
Hause aufstellen ließ und an diesem Tage — es muß der Geburts-
tag sein — zerrieben und zerstreuten sie es und dieser Tag war so
düster, wie der Tag der Beerdigung." Diese nicht klare, allein
ohne Zweifel wahrheitsgetreue Schilderung dürfte an die Sühn-
gebräuche erinnern (vgl. Schmidt p.90). Die Parentalia werden unter
yeveöt-a noch j. Ros-hasana p. 59 ZI. 19 (an dem Geburtstage trifft
den Menschen kein Leid und Unheil) und Exodus rabba K. 15
cf. Jalkutll 175 verstanden.
Nach Absendung des Mss. gelangte ich in den Besitz (Febr.l9 1 0)
von H. Blaufuß: Römische Feste und Feiertage nach den Trak-
taten über fremden Dienst. Nürnberg 1909, wo S. 15 — 23 dieselbe
Frage besprochen wird und der Verfasser zum Resultate ge-
langt, daß die zwei Worte Geburtstag— Todestag nach Nennung
der Genusia bloß eine erklärende Ausführung zu dem Worte Ge-
nusia sei.
Vinkovce (Slavonien) A. Marmorstein
Todsünden. Neben der uns jetzt ausschließlich geläufigen
Zahl von sieben Todsünden hat Marie Gothein in ihrem interessanten
Aufsatz über die Todsünden (Bd X dieses Archivs S. 416flF,) auch
ein Achtlasterschema verfolgt, das zuerst in dem jüdisch -helleni-
stischen 'Testament der XII Patriarchen' (hier deutlich sekundär
gegenüber den sieben Todsünden), dann in christlichen Schrift-
stellern des Orients (Euagrios vom Pontus und Neilos) auftritt und
von da durch Cassian in die abendländische Kirche übergeht. Im
folgenden möchte ich auf eine Stelle hinweisen, die, wie sie schon
durch ihr relatives Alter ein besonderes Interesse besitzt, so auch
in lehrreicher Weise zeigt, daß auch in diesen Dingen wie so oft
die Neunzahl mit der Siebenzahl konkurriert, während zugleich in
der Neunzahl noch deutlich genug die ursprüngliche Achtzahl sich
verrät. Die Stelle steht in den wegen ihrer unmittelbaren Lebendig-
keit mit Recht gepriesenen, nach E. Fabricius (Bonner Studien für
Kekule S. 6 4) zwischen 260— 24 7 vor Christus, nach Andern etwas später
entstandenen Städtebildern des Herakleides Kretikos oder Kritikos,
die in den Hss. anonym überliefert sind und früher unter dem Namen
des Dikaiarch oder eines Athenaios herausgegeben wurden (abgedruckt
FHG II 260, verbessert GGM 1104). Es ist die wohlbekannte
böse Charakteristik der böotischen Städte (fr. I 25): löxoQOvai 6' of
Boicorol rcc xar' avrovg vita^iovra l'dicc ccKhjQijixaTa Xiyovtsg xavra.
tijv fifv aia'ji^QOKSQÖstav KuroiKeiv iv ^Slgconco, ror 6e cpd'ovov
iv TavdyQa, ttjv cpilovstKlav iv Otöiiiaig, f^v ^ß^iv iv O^ßatg, tt)v
Mitteilungen und Hinweise 633
rrXe ovs^iav iv 'Av&rjö6vi, rrjv nsqitQyiuv iv KoQcovaia, ivUXaxaucig
iriv aXu^ovsiav, rbv Ttvgetov iv Oyjfijffrcö, r^v avui6d'i]6tav iv
'AkiaQxa. TciJ' ix ndörjg tr,g 'ElXccöog cixXrjQrKicau Big rag rijg
BoKoxiag rtöXiig y.axsQQVtj (an Archilochos' cog Uuvikh'jvcov OL^vg
ig &aaov öwidga^ev wird man hier wohl nicht zufällig erinnert).
'0 GTi'/ipg ^EQiKQUxovg' "AvTfSQ (fQovijg £v, g>£vy£ xrivBouoTUiv. Es ist nicht
uninteressant, diesen eigentümlichen Lasterkatalog mit den späteren
zu vergleichen. Zunächst ist festzustellen, daß der Verfasser gewiß
der Wahrheit gemäß seine Aufzählung nicht für seine eigene
Schöpfung ausgibt; er hat in seinem Text vorher über Tanagra
vielmehr sehr günstig gesprochen, Anthedons Fischergewerbe nicht
getadelt, von Oropos das Wort nXsove^ia, nicht aiöxQoyjQÖtia gebraucht,
die vßgig der Thebaner allerdings erwähnt und genauer geschildert
und die ewige Prahlerei der Platäer mit ihrer Perserschlacht in
seiner wirkungsvoll knappen Art vorgeführt, dagegen wieder Thespiae
rasch abgetan und Koronea, Onchestos und Haliartos überhaupt
nicht erwähnt. Auf Herakleides selbst geht also die Auswahl der
neun Städte und der neun Übel nicht zurück, und es hätte daher
keinen Zweck, etwa den Zusammenhang des Verfassers mit einer
Philosophensekte, z. B. mit den Peripatetikern, falls er sich erweisen
ließe, zur Erklärung heranzuziehen. Es scheint allem nach, daß es
sich um eine volkstümliche Tradition handelt; mit hellenistischer
Mystik fehlt augenscheinlich jede Spur von Berührung. Daß die
Neunzahl durch die Verhältnisse von selbst gegeben wäre, kann
man kaum sagen; man sieht zwar, daß nur südböotische Städte
genannt sind, so daß das Fehlen von Orchomenos und Akraiphion
und anderen nicht auffallen darf; aber Onchestos war nicht selbständig
und ist doch in der Liste neben den selbständigen Städten des
böotischen Bundes im 3. Jahrh. v. Chr. (s. ihr Verzeichnis bei Cauer
in P.-W. II 657) aufgeführt. Ließe sich aber die Berücksichtigung
von Onchestos etwa noch dadurch erklären, daß doi-t das den Mittel-
punkt des Bundes bildende PoseidonheiJigtum war und der erste
Bundesbeamte daher auch aQxcov iv ^Oy^riCxä hieß, so weicht doch
das aKX}jQr]^ia, das diesem Ort zugeschrieben wird, von dem übrigen
Schema völlig ab, da hier nur von einem Unglück, nicht von einem
menschlichen Laster die Rede ist So scheint das Bedürfnis nach
Ausfüllung der Neunzahl den grimmigen Witz wenigstens mit-
veranlaßt zu haben, der in der Einreihung des Fiebers unter die
ursprünglichen acht Laster liegt.
Man kann fragen, ob dieser Lasterkatalog schon da war, ehe
er auf Böotien angewendet wurde. Zwar ist vßQtg (und vTieoijtpccvia,
was der Autor in seiner Charakteristik damit verbindet) für Theben,
ilu^oviiu für Plataeae, auch a.vca69i]6La für ganz Böotien sehr
bezeichnend; anderseits aber ist v7C£Qrjq}avia bei Euagrios, und
namentlich ccXa^oveia und avui69i]6ia bei Horaz ('laudis amore
634 Mitteilungen und Hinweise
tumes' und 4ners'), also alle drei in allgemeinen Lasterscliemata,
zu finden. Auffällig ist vor allem das Fehlen der neben der
ccvaiö&tjötcc den Böotern besonders oft vorgeworfenen yaGXQi^aqyia,
der Schlemmerei: man sollte denken, ein Böoter oder auch ein
Böoterfeind hätte sie nicht übergangen, wenn er dieses Laster-
verzeichnis eigens für die Böoter erdacht hätte.. Wie dem auch
sein möge: jedenfalls erscheint hier wieder einmal die Neunzahl
vor der Siebenzahl, etwa wie die böse Neun für die schlimmen
Weiber bei Semonides von Amorgos der ^ bösen Sieben' späterer
Zeiten längst vorausging; und umgekehrt zeigt sie sich als die
jüngere in der Auswahl der neun Städte gegenüber den sieben
Städten des alten böotischen Bundes und dem sonst gerade in
Böotien auffallend häufigen Vorkommen der Siebenzahl (Röscher,
Sieben- und Neunzahl S. 4 7 f.), ungefähr wie bei Röscher die neun
Kykladen und wiederum die sieben größten Inseln der Welt als
Beleg für die fortgesetzte Parallele von Sieben und Neun neben-
einandergestellt sind. Man lernt aus alledem vor allem große Vor-
sicht in der Behauptung der Priorität für die eine oder die andere
der zwei wichtigsten Gi'uppenzahlen. Und im Perser des Plautus
(IV 4 V. 554 ff.) sind der Laster, die einer wohlgesicherten Stadt
fern bleiben müssen, sogar zehn: so kommt hier zufällig gorade
in einem älteren Zeugnis eine dritte und seltenere Gruppenzahl
zu ihrem Recht.
Heidelberg F. BoU
Nachtrag zu dem Aufsatz über die „Offa judicialis''.
(Siehe S. 525 — 566.)
Aus Isländischen Zaubei'büchern hat in der „Zeitschrift des
Vereins für Volkskunde" XIII Olafur Davidsson zwei hierher ge-
hörige Formeln veröffentlicht, die beide den Gebrauch des Ordals
im Zauber für Island erweisen.
Die erste S. 271 Nr. 10 lautet: „Wenn du bestimmt wissen
willst, wer dich bestohlen hat: Ritze folgende Worte auf Brot oder
Käse oder irgend eine Speise ein und gieb sie dem zu essen, gegen
den du Verdacht hast, so kann er sie nicht verschlucken und giebt
sich also selber an oder gesteht es ein. Die Worte sind diese: makk,
rakk, fenakk." Aus einer Kreddurhd., deren Gi-undlage nach S. 160
aus dem 17 Jahrhundert stammt; in der vorliegenden Form neuer.
Die zweite S. 274 Nr. 35 lautet: „Hast du jemanden in dem
Verdacht, dich bestohlen zu haben, so schreibe diese Worte auf Käse
oder Brot und lasse es ihn essen: paxx magx x vix ax x. Kann
er es nicht verschlucken, so ist er schuldig."
Weitersweiler A. Jaooby
[Abgoschlossou am 31. Oktober 1910]
Register
Von "Willy Link
Man beachte besonders die Artikel Opfer und Zauber.
Abendmahlsprobe 533;
561 ff.
Abeudraahlsriten 543 tf.
Aberglaube 14 f.; 20 ff.;
75ff.; 153ff.;388;402ff.;
466;475ff.;526ff.:626ff.
Ablanathanalba 624
Ablanatho 624
Abraham 100; 105 f.; 154;
181,0; 349,1; 353; 540
Abwehrzauber 27ff. ; 40 ff.
77 ff.; 156 ff.; 193; 371
408: 410; 412; 438; 454
488: 496: 529; 532
627f
Achtzahl 632 f.
Adaml04f.; 109: 516; 5 18
aer 314; 331 ^
Agni 145
Ahnengötter 420
Ahnenkult 111; 116;
118ff.; 377: 379: 442;
625
Ahnenseelen 419 f.
Alexander 94 f.; 16lff.; —
u Esau 109,4; — u.
Moses 95; 223; 228 f.;
— sZug zum Land d. Se-
ligen 182 ff.; zum
Paradies 199 ff.
Altchristliches 291 ff.;
533; 536 ff.: 558 ff.
Alttestamentliches 75 ff. ;
4731; 529
Amaterasu 378: 385
Amazonen 204: 208: 245, i
Ammon 541
Amon 355 f
Amulett 14 f.; 30; 38: 83;
347; 370; 406 ff. : 428;
455
Anaitis 264 ff.
Analogiezauber 34,i ; 414 ;
416; 434 f.; 466
Anaximander 306; 308 ff. ;
330
Anaximenes 306 ; 308 ;
312 ff.; 330 f.
Angliederungszeremonie-
en 449 ff.
Anhauchen 521 f.
Animismus 112: 119 f.;
401 ff.; 414 ff.; 426 ff.;
445 ; 456
Anubis 549; 624
Aphrodite 248; 252; 259;
261;263:265f; 317; 573 !
.\pis 53,1; 64 ff.
ApoUon 63; 324 f.; 478t,
Arbeitsgesänge 413; 438 f
Archäologisches 47f. ; 55f.
57,1; 61" f.; 68: 70,1; 72
148; 159: 237; 334 ff.
354 ff.; 359 f.; 367 ff.
509; 572; 587 f. ; 603 ff.
Ares 261; 263; 317; 326
Artemis 248; 252; 254 tf. ;
262; 264; 266; 268; 325;
57lif.
Asklepios 58; 72 f : 574
Astarte 84; 265,>
Astralmythologie 351; 460
Astrologie u. Christentum
304 f.
Aten 355
Athene 252; 254 ff.; 262 ff.;
317; 326
Äther 318; 323; 329; 331
«roxior 4ff. ; 13 ff.
Attis 253
Attribute d. Götter 378;
462; — d.Heiligen334f.;
338ff ; — d.Mondwesen
463
! Atumä 358
Auferstehung durch Tau
I u. Regen 46
1 Aura 627 ff.
Ba 366 f.
Baal 84
Babylonisches 28 f.; 96;
99.4; 185,5; 202 ff.; 224;
288; — in d. Lebens-
quellsage 195 ff.
Bat 356
Baumgötter 386
Begräbnisriten 40 f : 43 f. ;
354; 359; 362 f.; 368;
\ 378; 626
I Bei Zarbü 60
! Bergdämon 173,6; 242,3
; Berggötter 386 ; 420
; Beschneidung 84; 451
Beschwörung 526 f.; 536;
624; 627 tf.
Beschwörungsformeln
173,6; 303; 627 ff.
Beschwörungswasser, Be-
gießen mit B. 28
Besprengung mit Blut
32,2; 79; 81; — mit
Wasser 30 ff.; 89; 158;
542
Beten, leises u. lautes
619 ff.
Bilder apotropäisch 455
Bilderraub 571 f.
Binden u. lösen 499,2
Blick, böser 34 f.; 38;
453 f.
Blut beim Bündnis 550;
— beim Eid 442; —
i. Zauber s. unt. Zauber;
— u. Milch 547 ff. ; 555
Blutbund 550
636
Register
Blutfarbe 339 f.; 342 f ; 548
Blutrache 328
Brautbettbenediktion
157 f
Brettspiel i. ägyj)t. Grab.
369 f.
Brot i. Kult u. Zauber
526 ff.; — u. Käse als
Abendmahlselemente
543 f.
Brote, süße 559 f.
Buddha 282; 393 f.; 579 f;
58-2; 586 ff.; 597 ff.;
603 ff.; 620 f; — s Tod
611 f.; — Wunder 586 f.
Buddhismus 112 f.; 115 f.;
118;132ff.;143ff.;152;
276; 281; — in Indien
578 ff.; — in Japan 375;
379 ff.; 388ff.; 397; -
u. Christentum 582 ; 614
Bündnisriten 75: 550 f.
Buto 357
Chadhir92ff.; 191,1; 225;
229 ff. ; — , Abstammung
103; —, Engel 106; — ,
Name 95; 231 ff.; 474 f.;
— , Retter in Not 97;
— , Schutzgottheit d.
Schiffer 238 ff.; — u.
Abraham 105 f, ; — u.
Adam 109; — u. Ahas-
ver 110; — u. 'Ämil
108; — u. Chasisatra
99,4; — u. d. Christen-
tum 99 ff ; — u. d.
heil. Georg 110; — u
d. Messias 107 f ; — u.
d. Synkretismus 93;
234,4; 474; — u Elias
96 ff.; 103; 241; 243,2;
— u. Elisa 97; 241; —
u. Esau 109; — u. Glau-
kos 235 ff. ; — u Henoch
108; — u.Jeremia 108,4;
— u. Lot 105,«;; — u.
•Malkisedek 100; 103 f.;
— u. Moses 109; 240;
474; — u. Seth 109;
— u. Thomas 475; — ,
Wasserguttheit 238
Chadhirlegende,Ur8prung
94' ff.
Charaktere 9
Christentum in China 114;
117; 138; 152; — i.
Japan 375; — u Bud-
dhismus 582; 614; — u.
d. ägypt. Relig 348 f.
Christus 282 ff.; 348 f.;
533; — u. Pan 467 ff.
Circe u. Marica 571; 574
Dämonen 27 ff.; 35 ff ; 40ff.
75tf.;81ff.;112; 156f.
173f.;189ff.;271f.;329
, 358; 365; 370 f.; 402
407; 411 f.; 415; 426
428 ff.; 490; 519; 561 ff.
62:^.; 628 ff.
Daniel 538 f.
dea dia 484
Demeter 55; 63 f.; 326
Diana 248; 250; 569 ff.
Dike 326; 476
Dionysos 50; 53; 59; 71;
324 f.
Dioskuren 62
Dis pater 58; 73
Donnergötter 386
Dreiheit d. Götter 248 ff.;
263 ff ; 275
Dreiteilung d .Seele 248ff.;
305,1
Dreizahl 34; 37; 164;
166; 463 f.; 495; 630;
534; 556
Dyaus 120
Ea 198,3
Echelos 61; 63
Eid 441 f.; — , Sünden-
bockidee beim E. 155;
— , von d. Sektierern
nicht geleistet 274
Eingeweideschau 90
Ekstase 276ff.; 579t'.; 598
Elemente 264; 307 ff.; —
als &Boi 313; 321
Elias 96 ff.; 103; 106 ff.;
241 ff.
Elisa 97; 241
Engastrimythen 622 f.
Engel 84; 106; 286; 52.^
Ephesia grammata 533 ;
536
Erddämonen 75 ff.
Erde, Element 307 ; 810 ff.;
— i. Eid 442
Erdgötter 386
Krdkult 121 f ; 125
I- rinnyen 326
Eros 263
Erstgeburt, Weihung d.
E. 82
Eschatologisches 46; 290;
364 f.
Essen d. Gottes 445 f. ; —
d. Opfers 453; — u.
Trinken d. Eides 442;
von mag. Formeln
529
Ethik i. Jainismus 617;
— i. Jap. 383; 396 f;
— i. Konfuzianismus
127; 130; — i. Taois-
mus 130; — , sexuelle E.
bei d. Griechen 1 ff.
Exorzismus 29; 527; 532;
536
Eva 353; 516; 518
Familienkult 378
Fascilina 569 f. ; 576 f.
fasten 193; 426; 452 f.;
528; 534; 536
Fiiunus 483; 486 ff.; 498
Feldgeister 79
Fernzauber 403 ; 434 f.
Fetisch 406 ff.; 415; 4-22:
424; 485,2
Fetische, Formen 410 f.
Fetischismus 112; 288;
4()8; 414
Feuer, Element 249; 259;
263 f.; 307 ff.; — i Eid
442
Feuerdämon 84
Feuergott 386
Feuer Verehrung 113; 249
Fieberdämonen 629 f.
Firmicus 247 ff.; 292 ff.
Fisch als Seelenform 366 f.
Fiachsymbol 239
Flußgötter 386
Formeln, magische s Zau-
ber; — , rituelle 302 f.;
362
Fruchtbarkeitszauber 458
Ganymedes 477
Gebete 291 ff; 302,i; 338
414 f; 426; 431; 489
495; 626 f; 632; 636 ff.
Resrister
637
559; 619 £F.; 627 flF.; —
wirksam während d. Re-
gens "25 f.
Gebetsformeln 302 f.
Gebildbrote 446; 626
Geburt aus Steinen 5 10 ff.
Geburtsriten 145; 147
Geister 28; 30; 38; 77
79: 84; 112: 407; 409 f.
414 ff.; 418 ff; 426; 428
430; 432 f.; 518 f.; 529
558; 597: 630; — n
Tiere 360
Genesia 630 ff.
Genita Mana 504
Georg, d. heil. G. 110:273
Geschlechtliches lff.;84;
147; 156 ff.; 421; 446 f.;
450; 452; 454; 458;
493 ; 509 ff.
Gestirne als ö-aoi 32 1
Glaukos 96; 235 ff.
Glaukossage 191 ff.
Golgatha 629; - u.Adams
Grab 104,4
Gott u. Priester 285; 287
Götter 119 f.; 139; 145;
354ff.:378:385f.;4l8f.;
— als Abstraktionen
317; — als Menschen-
schöpfer 259: 263; — ,
Beziehung zu den Ele-
menten 317; 331; — .
— zu Körperteilen 268 ;
260 ff.: — , — zu See-
lenteilen 248 ff; 255 ff.
— , Dreiheit 248 ff.
263 ff.; — , getötet 415
- , Schaden bringende
358; 423; — , semit. in
Ägypt. 358: — u. Men-
schen 444; — , Verhält-
nis zu Bild und Kult-
stätte 327 f.
Götterattribute 378; 462
■Götterbilder 49 ff.; 65 ff.;
327; 360; 422; 534;
571 f.; 574
Götternameu 63; 323;
358: 365,5: 489: 574 f.
Götterzepter 366
Gottesurteile 525 ff.
Grabbeigaben 354; 367 ff.
Gräber 355 : 367 ff.
Grenzriten 448
Hades 50; 53; 61: 63;
78; 324 f.
Hadesfahrt 557
Haine, heilige 430: 570;
573; 575
Hand 81 f.; 455 ff.: — ,
Bestreichen mit d. H.
39; — , rechte 72 f.;
455 ff. ; — u. Eid 442
Hände, Bezieh, zu d. Him-
melsrichtungen 455
Harn, Seele i. H. 513
Hathor 357: 371
Hauchseele 403 f.
Hauskult 378
Heilgesänge 440 f.
Heilgott 139
Heilige 333 ff.
Heiligenlegenden 336 ; 339
Heilungs wunder, psychol.
Deutung 282 f.
Heilzauber 26; 30: 276;
282 f.; 336; 403; 434;
438 ff.: 492 f.; 561
Hekate 254 f; 258: 266 ff.
Helios 319:329;476f.;541
Hera 70; 266,i; 549
Heraklit 306; 308; 315 f.;
320 ff.
Herrn anubis 624
Hermes 61: 63; 259; 263;
317; 476 f.; 540 f.: — ,
chthon. 624
Heroen 386
Heroenkult 442
Himmel, Begriff bei d.
Chin. 118 ff.: 122 f. : —
i. Eid 442
Himmelfahrt d. Dionysos
50
Himmelsdämonen 411
Himmelsgötter 418
Himmelskult 118; 122
Hinayäna 136; 393; 607
Hochzeitsriten 31: 32,2;
145; 148; 156 ff.; 448 f.
Honig im Kult 544 f.
Horus 365
Hostien, Herstellung 559f.
Hydrocboos 476 f.
Hymnen 126; 355; 549
lao 540 f.
Initiationsriten 452
ira als Seelenteil 249;
251 f.; 256 f.; 262
Isis 57,1; 58; 60; 70 f.;
73 f.; 253; 352; 365 f.;
549; - Pharia 55
Islamitisches 20 ff.; 34,i;
— bei d ChineE. 114;
116: 152
Jahve 420
Jainismus 615 ff.
Jakob 349,1; 540
Jesua 154
Josua 95; 99; 226,3
Judentum in China 114
ISO ff.
iudicium offae 525 ff.
Jüdisches 34,I; 41,4; 45f. ;
75 ff.; 96 ff; 107,3:520;
530; — i. d. griech. Me-
dizin 1; 18
Juno 496 ff.: — Moneta
248
Jupiter 50; 58; 304
Ka 366
Kaiserkult 379
Kaie 173; 188,2; 190,0:
193,5; 194; 220; 242,3
Käae i. Kult 543 ff ; —
macht unsterblich 555
Keuschheit, kult. 265
Kindermythologie 271 f.
Knabenliebe 446 f. ; 452
Knochen zerbrechen ver-
boten 153 f.
Konfuzianismus 112 f.
115 f.: 123 f.; 126; 144
— i. Japan 375; 380f.
388; 394 ff.; — , Ethik
i. K. 127; 130
Kopf, Verhüllen d. K. 449
Köre 63 f.; 74; 262
Körperseele 403; 405; 412
Körperteile, Bezieh, zu
Göttern 258: 260 ff.
Krankheitsdämonen 34 ff. ;
438
Kreuz 479; 528; 531:539
Kreuzzeichen 81; 83
Kultgründungen, mo-
derne 275
Kultstätten 124 f.; 378;
388
638
Register
KultübertraguDgen 54 iF.;
571 flf.
Kultus, Entstellung 277 f.;
— , Verhältnis z. Mythus
275 ff.
Kultvereine 360 f.
Lachen i. Kultriten 498 ff
Lamaismus 142 ff.; 150
Lao tse 112 f.; 127 ff.;
387; 394
Lebensbaum 207
Lebensquellsage 94ff. ;
162 ff,; 179 ff; 206 ff.;
221 ff.
Lebensrute 496
Lebensspeise 198,3
Legenden, jainist. 618
Legendenijildung 93;
196 f.; 341 ff.
Liber 489
libido als Seelenteil 248 ff.;
257; 259
Liebeszauber 38 ; 438
Löwe als Symbol 73; 107,3
Lucio, San 333 ff.
Lnpercal 486
Luper calia 481 ff.
luperci, Name 481 ff.
Lupercus 489
Lustratio 90; 497 f.; 502;
505
Magna Mater 574
Mabäyäna 132 ff.; 390;
392 ff.; 581; 603; 607
Malkän 103 f
Malkisedek lOOff.; 154
Mana 421; 424 f.; 427 ff.;
435; 455; — , Bezieh.
z. Animismus 427
Manichäismus bei d.
Chiiies. 113 ff.; 149
Manna 552
Maranatho 624
Märchen 413; 459
Marica 567 ff.; —, Nymphe
673; — u. Diana 573 ff.
Mars 484; 486
Mazdeismus bei d.Chines.
116
Meineidszeremonien 164 f.
Meng tse 125; 127
mens als Seelenteil 249;
251 f.: 257; 262
Mensch aus 4, 7 u. 12
Teilen 268 ff.
Menschen u. Götter 444
^riQia 86 ff.
Messias 107 f.; 154; 271;
283; — , falscher 283 ff.
Milch 498; — beim Bünd-
nis 550 f. ; — i. Kult
544 f.; 557; — macht
unsterblich 549 f.; 555;
— u. Honig als Abend-
mahlselem. 547; — u.
Taufe 554
Milchbund 550 f.
Mithras 247; 249; 259;
264 ff; 509
Mond 82; 323; 329; 351;
453; 462 f.; — , Ab-
nahme ominös 44,4
Mondgott 386; 464
Mondmythen 462 ff.
Monotheismus i. d. ägypt.
Rel. 355; 364
Moses 95; 99; 109; 152;
222 ff.; 240; 242; 246;
349,1; 474
Muhammed 96; 98; 223;
227,0,,^; 228 f.; 243,2
Mumienübertragung 360
Musik, rituelle 126; 413;
— u. heil. Zahlen 439;
— . Ursprung 437
Mylitta 265
Mysterien 328; 353; 557
Mythenbildnng 270 ff.
Mythus, Entstehung 276 f.
Nachahmung i. d. Religion
280 ff. ; — u. Eid 442
Nacktheit 491; 629
Nabrnngsgöttin 386
Namenaberglaube 475 ff
Naturgötter 386
Naturverehrung 116; 118;
377
Neilos 61
Neith 358,2
Nekyia, Zaubersang i. d.
N. 624
Neleus 61; 63
Nemesis 477
Nereis 173
Nereus 193,5
Nestorianertum bei d
Chines. 114: 116; 149 f.
Neunzahl 37 ; 463 f.; 632 ff. \
Neuplatonisches 247 ff.
Neutestamentliches 153;
155
Ngilingili 408 ff".
Niesen 597
Ningal 358
Nukar 358
Nymphen 62 f.; 573
Nyx 625
Okkultismus 436
Opfer85fl'.;126;193;365;
414; 431; 446; 453;
489 ; — Ahnenopfer
121 f.; 146; — an Hei-
lige 341; — Bildopfer
625 f. ; — Eidopfer 85 ;
— Erdopfer 121; 125;
— Erlösungsopfer 153;
— Götzenopfer 562 ; —
— b. Paulus 561; —
Grenzopfer 86 ; — Haar-
opfer 239; — Himmels-
opfer 503 ff.; — Löse-
opfer 81 ; — Menschen-
opfer 86 ff.; 119; 279:
360; 453; , Ersatz
87 f.; 500; — Passah -
opfer 82; — Speise-
opfer 88; - Sühuopfer
86; 463; — Tieropfer
80 f.; 85 ff.; 626; —
Totenopfer362,8; 625 : —
Türschwellenopfer 80 H'.
Opferblut 79 ff.
Opferschau 86; 90
Opfertiere 86 ff. ; 45^;
489 ff.; 498; — , Ersat
625 f.
Orakel 258; 330; — , Am-
monisch. 70; — , chal-
däisch 255; — , Delpli.
54; 56; 68; 65; 71
Orenda 404; 421 ff ; 485
479
Oserapis 63,i
Osirapis 67
Osiris 58 f.; 66 ff.; 7.-i:
263; 273; 284; 347; 352;
361ff;549;— u.Cheuti-
Amenti 364; — u. Dio-
nysos 50; 53; — u. So-
rapis 63; 68; 60
oilai 89
Register
639
Pan 489 ; — , Tod d.großen
P. 467 ff.
Pananimismus -402
Pandora 259
Paradies 167,iO; 183,6:
190,0; 199ff; 211; 234,0;
619
Pai-adiesströme 199,3;
201: 206,1: 207
Parammon 541
Parentalia 630 ff.
Parthenos 476 f.
Passahmahl 153
Paulus 281; 561 f.
Persephone 64 ; 254 ff. ; 266
Persisches 186,0 ; 249 ; 496 :
518; 556 f.
Personifikationen 120 ; 382
Pflug, rel. Bedeutung 458
Pflugkultur, Entstehung
457 ff.
Phallus 83 f; 357: 383;
404: 458
Pherekvdes 317 ff.; 326;
330 '
cpQ-OQci 2 f.; 9; 17
(pd-OQiov 4 ff.; 13 ff.: 17
Pluto 50; 52 ff.; 59; 63 ff.:
69; 71; 74; 256
Poseidon 263
Präauimismus 401f ; 424 f ;
429; 433: 439; 441
Priester u. Gott 285; 287
Probe mit dem geweihten
Bissen 526 ff.
Propheten 622 f.
Proserpina 50; 52; 54; 71
Prozessionen 34,i; 338
Psychologie i. d Religion
280 ff.
Ptah 357
Pubertätsriten 454
Quell entspringt an d.
Märtyrerstütte 339; —
heilkräftig 84
Ra 347; 350
Rechtfertigung i Buddhis-
mus 619: — i. d. Japan.
Relig. 391
Regen 25 ff.; 44,4; 46
Regengötter 386; 418;
420: 436
Regenwunsch 20 ff. ; 26 f. ;
44 f.
Regenzauber 34,i; 414;
438; 444; 627
Reinheit, kultische 328
Reisezauber 32: 80 f.
Reisprobe 533 f.
Reliquien 342,i: 604: 613
Rennut 357
Resef 358
Riten bei d. Wiedergene-
sung 80; — , ihre
psycholog Entstehung
275 ff ; — , sexuelle 452
Robigus 505
rote Farbe 339 f.; 342 f.;
548
Safech 357
Salben z Dämonenabwehr
371
Salz i. Eid 442
San Lucio 333 ff.
Sarapis 53; 65 ff.; 476
Satis 357
Saturn 477
Schadeuzauber 411; 438
Schattenseele 403
scheren 32; 239.4; 449
Schiffszauber 239; 466
Schlange 52; 72 f.: 353;
357; 522; — als Fetisch
411; — als Götterattri-
but 249; 268; — ,
Seelentier 405 ; 412: — ,
Totemtier 406
Schlangenzauber 564
Schüsselzauber 466
frechem 366
Seele Ulf.: 131; 146;
— , Dreiteilung d. S.
248; 305.1; — i. Blut
403 f.; — i. Harn 513;
— i. Sperma 447; —
i. Nieren 403 f.; — ,
Siebenteilung d S. 261 ;
— , Ursprung 435
Seelen 329; 366: 370:
402 ff; 433; 459; — ,
durstige 627
Seelenstoff 329
Seelenteile 249 ff.; 255 ff.
Seelentiere 405 ff. ; 412 f.:
420
Seelenzauber 404 f.
Selene 476 f.
Sem 101 f.; 104 f.
Semitisches 28 f.: 34,i;
41.4; 45f.; 630ff
Serapis 47 ff.; 53; 58 ff.;
352
Seth 109: 199,3; 365
Sbinto 375 ff.; 395; :;97;
— bei d Chin. 114
Siebenzahl 13: 37; 39;
46; 68; 217; 259f.;
304; 598; 629; 632 ff.
Simson 349,1
Sol 304
Sondergötter 419; 430
Sonne 321; 323; 329
Sonnengott 418
Sonnengöttin 378; 385 f.
Sonnenkult 347; 351; 365
Sothis 357
Speien 521 ff.
Speiseverbote 406; 424
6(püyia 85 ff.
Spuckgeburt 521 ff.
Stäbe, heil. 366
Stein beim Bündnis 75;
— i Eid 442; — , ma-
gisch s. Zauber
Steingeburtsagen 509 ff.
Sterbende, Fortziehen d.
Kissens b. St. 626; — ,
Riten b. St. 39 f.
Sterne 321: 323; 329; 351
Sterngott 386
Sühnriteu 499; 507: 632
Synkretismus , astrologi-
scher 476 f ; — i Ägypt.
364 f.; — , relig 304
Tabu 28; 358, 7; 399;
424; 443 ff.; 447
Tage, günstige u Ungunst.
366
Talismane 406
Tanen 357
Tao 128ff : 387
Taoismus 112 f.: 115 f.;
127ff.:142;144ff ;152;
395
Thaies 306; 308; 330
Themis 476 f.; 541
Thoth 366; 624
Tierdenkmäler 359 f.
Tiere als Seelentriiger
405; — , heilig 359;
640
Register
371; i. Kult 405; — u.
Eid 442 ; — u Geister 360
Tierkult 347; 358 ff.; 399;
419
Tiermumien 358 f.
Tierzauber 37 1 ; 405 f. ; 408
Tobiasnächte 156 f.
Todsünden 632 ff.
torüna 378
torii 378
Totemismus 358,7; 399;
405 f.; 422; 424 f.; 444 f.;
490 ; — , Ursprung 405 f.
Totemtier 405 f.
Totenbeigaben 354; 367 ff.
Totenbuch 361 ff.; 370
Totengebräuche 20 ff ; 30 ;
40 ff.; 111; 145 f; 148;
159 f ; 368; 449 f.; 453;
556
Totenseelen 370 ; 416 ; 421 ;
428
Träume 49 ff.; 56; 65;
71; 86f.; 132; 431f.;
434 f.; 460 ff ; — , ero-
tische 512; 516; 518f.
Trennungszeremonieen
449 ff
Türe, Heiligkeit d. T.
448; — , Heimkehrende
dürfen nicht durch die
Tür gehen 80
Türpfosten , Bestreichen
d. T. 30; 81 ff.
Tyche 55
Typhon 253
Uranos 120; 317
Uschebti 368 f.
Vampir 169 f.
Varuna 120
Vegetationsdämonen 411;
499
Vegetationsgötter 365 ;
11 9f.
Venus u Marica 671 ; 573 f.
Verbote, religiöse 153;
406; 424
Verhüllen d. Kopfes 449
Vierzahl .^39
Vision 276 f.; 285; 545
Vogel als Seelenform 366 ;
— als Seelen tier 412
Vögel, göttliche 170 f.;
175; 177; 180,3; 183
Wallfahrten 3 36 ff.
Waschung 28; 448; 496;
562
Wasser i. Abergl. 20 ff.
27 ff.; 32 ff.; 336; 442
— i. Kult 32,6; 544
559 f.; S.a. Besprengung
Wassergeist 84; 575,2
Wassergötter 28; 386
Wasserzeremonieen 28 f.
Wein i. Grabritus 44,3 ; 45,2
Weissagung 622 f.
Weissagungszauber 76 ff.
Wiedergeburt 80; 285;
452; 585
Wiedergeburtszeremonie
501 ff:
Winde als Krankheit er-
regende Dämonen 628 f.
Windgötter 386
Wolle i. Kult 601
Wunder 48 f. ; 56 ; 598 ; 604
Wunderpflanze 76ff.; 516;
518
Wundersteine 201; 206;
515 ff.
Wundertier 76 f.
Wunschformeln 20 ff. ; 45 f.
Yen Hui 125
Yoga 287; 679
Zahl 40: 2; 17 f; 618
Zahlen, heil u. Musik 439;
— , mytholog. 284; —
u. Eid 442; — , un-
gerade 37 f.
Zag 317 ff.
Zauber 370 ff.; 383; 402;
414; — , Ursprung 404;
415 f.; 433; s a. Ab-
wehrzauber, Analogie-
zauber, Fernzauber,
Fruchtbarkeitszauber,
Heilzauber, Liebeszau-
ber,Regenzauber, Reise
Zauber, Schadenzauber,
Schiffszauber, Schlan-
geuzauber,Schüs8elzau-
ber, Seelenzauber, Tier-
Zauber, Weissagungs-
zauber; — Aufschrifter
529 ff.; 538 f.; 541; —
Blick 78; — Blut 32,2
77ff ; 498 ff.; — Broi
526 ff.; 634; — Buttej
531 ; — Engelnameu536
628; 630; - Feuer 535
— Formeln 346: 358:
361; 364; 370ff ; 455
499; 529; 532f ; 536
560; 6:^4; — Gesäng(
413; 437 f.; — Haucl
403 f.; — Hostie 558
561 f.; 566; — Käse
526ff.;634; — Knocher
76; — Knoten 370; —
Kraut 192; 198, l; —
Kreis 488; — Medizir
407; — Menschenblui
77;— Nacktheit 491;-
Pflanzen 407 ; — Regen
Wasser 29 f.; — Speiche
522; — Spiegel 32,8
Sprüche 346; — Steine
175; 407; — Tänz(
413; — Tau 46,2; -
Tierblut 78; — Umlau
488; 490tf.; — Urin 77
— Wasser 28ff : 34 ff.
— Worte 276; 414; 426
536; 566; 634; - Zei-
chen 530 ff.; 538 ff; 564
Zauberkraft 403
Zehnzahl 202; 620: 634
Zemzembrunnen 39 f.
Z^v 324
Zerubabel 164
Zeus 47; 61; 63; 70; 120
263; 272; 319; 824
331;420;— ,chthou.624
Zucken 466
Zwölfzahl 260
Druck von B. O Teubnor in Dresden
BL
A8
Bd. 13
Archiv fUr ReligionswiBsan-
schaft vereint ndt den
Beiträgen zur Religione-
v.lss8nschaftlichen Gesell-
schaft in Stockholm
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