Skip to main content

Full text of "Archiv für Religionswissenschaft vereint mit den Beiträgen zur Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm"

See other formats


jfsrr^^rtcf^" 


TöRomo 

LlBPJlRY 


BINDINßUSTÄüG  15  1923 


^ 


ARCHIV 
FÜR  RELIGIONSWISSENSCHAFT 

NACH  ALBEECHT  DIETERICH 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

H.  OLDENBERG        C.  BEZOLD        K.  TH.TREÜSZ 

IN  VERBINDUNG  MIT  L.  DEÜBNER  HERAUSGEGEBEN  VON 

RICHARD  ^n^N^SCH 

DREIZEHNTER  BAND 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG  1910 


-^ 


Inhaltsverzeiclinis 


I  AbhandloDgen  ^^^^ 

Zar  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen    Von  Johannes Ilberg  in 

Leipzig 1 

Wasser   als  Dämonen    abwehrendes  Mittel     Von  I.  Goldziher  in 

Budapest 20 

Die  Serapislegende  Von  E.  Petersen  in  Berlin -Haiensee  ...  47 
Seltsame  Vorstellungen  und  Bräuche  in  der  biblischen  und  rabbi- 

nischen  Literatur     Von  K.  Kohler  in  Cincinnati 75 

Z^AFIA     Von  P.  Stengel  in  Berlin 85 

Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende     Von  Israel  Friedländer  in 

New-York 92 

Alexanders    Zug    nach    dem    Lebensquell    und    die  Chadhirlegende 

Von  Israel  Friedländer  in  New-York 161 

Zur  neuplatonischen  Theologie  Von  Konrat  Ziegler  in  Breslau  247 
Mythologische    Studien    aus    der    neuesten    Zeit      Von    Richard 

M.  Meyer  in  Berlin 270 

Ein   neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie     Von  F.  Skutsch  iu 

Breslau 291 

Spekulation   und  Volksglaube    in  der  ionischen  Philosophie     Von 

Otto  Gilbert  in  Halle  a.S 306 

San  Lr.cio     Von  E.  A.  Stückelberg  in  Basel 333 

Lupercalia     Von  Ludwig  Deubner  in  Königsberg 481 

Kordkaukasische  Steingeburtsagen     Von  A.  von  LöwisofMenar 

in  Berlin 509 

Der  Ursprung  des  ludicium  offae  Von  AdolfJacoby  in  Weiters- 
weiler      525 

Marica    Von  Franz  BoU  in  Heidelberg 567 

11  Berichte 

1  Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    Von 

0.  Franke  in  Berlin 111 

2  Ägyptische  Religion  (1906  —  1909)    Von  A.  Wiedemannin  Bonn     344 

3  Religion    der  Japaner   1905  —  1908     Von  Hans  Haas  in  Heidel- 

berg       373 


IV  Inhaltsverzeichnis 

Seite 

4  Religionen     der    Naturvölker     1906  —  1909.      Allgemeines      Von 

K.  Th.  Preuß  in  Berlin 398 

5  Der  indische  Buddhismus  (1907  —  1909)     Von  H.  Oldenberg  in 

Gröttingen 578 

6  Der  Jainismus     Von  H.  Jacob i  in  Bonn 615 


III  Mitteilnngen  und  Hinweise 

Von  K.  Köhler  (Zu  Archiv  XIH  84)  153;  I.  Friedländer  (Zu  Archiv  XIIl' 
102)  154;  H.  Stocks  (Zu  Archiv  XII  46)  154;  E.  Fehrle  (Zu  Archiv 
XII  577  f.)  166;  A.  Abt  (Zu  Archiv  XII  161  ff.)  159;  G.  Kazarow 
(Vampirglauben  in  Bulgarien)  159;  E.  Hoffmann-Krayer  (Zu  Ar- 
chiv XII  579)  160;  M.  Höfler  (Zu  Archiv  XII  579)  160. 

Von  H.  Stocks  (Zu  Archiv  XI  158)  466;  0.  VS^einreich  (Zum  Tod  des 
großen  Pan)  467;  E.  Hertlein  (Paul  de  Lagarde  und  die  Abfassungs- 
zeit des  Daniel)  473;  Th.  ^iöldeke  (Zu  Archiv  XII  234  ff.)  474; 
F.  Boll  (Akrostichische  Inschrift  aus  Sinope)  475;  0.  Kern  (ApoUon 
Didymaios  in  Attaleia  in  Pamphylien)  478,  (Inschrift  von  Magnesia 
am  Maiandros)  479;  J.  Löwenthal  (Ein  irokesisches  Märchen)  479. 

Von  H,  Haas  (Lautes  und  leises  Beten)  619;  0.  Weinreich  (Engastri- 
mythen)  622;  E.  Schmidt  (Zu  dem  Zaubergesang  in  der  Nekyia)  624; 
R.  Eisler  (Bildopfer  bei  Empedokles)  625;  Th.  Zachariae  („Von 
Abziehung  der  Sterbenden  Hauptküssen")  626;  0.  Janiewitsch 
(Totenmaske  bei  den  Wogulen)  626,  (Durstige  Seelen,  AYPA)  627, 
(Zu  Archiv  XII  579)  630;  A.  Marmorstein  (Genesia  oder  Parentalia?) 
630;  F.  Boll  (Todsünden)  682;  A.  Jacoby  (Zu  Archiv  XIII  525  ff.) 
634. 

Register    Von  Willy  Link  635. 


I  Abhandlungen 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen 

Von  Johannes  Ilberg  in  Leipzig 

[Eüppokratea] 

Wiederholt  sind  in  diesem  Archiv  die  Anschauungen  des 
griechisch-römischen  Altertums  über  das  Problem  der  Ab- 
treibung besprochen  worden.  Salomon  Reinach  suchte  das 
verwerfende  urteil  über  diesen  EingrijBF  auf  orphische  Lehre 
zurückzuführen  (IX  312 ff.);  dagegen  meint  Sam  Wide  (XII  232) 
'nachgewiesen  zu  haben,  daß  dort,  wo  wir  einen  festen  Boden 
haben,  die  Verdammung  der  Kindesabtreibung  innerhalb  der 
griechischen  Kultur  auf  einen  jüdischen  (bzw.  christlichen) 
Einfluß  zurückgeht'.  Der  feste  Boden  Wides  scheint  mir  recht 
schmal  zu  sein  —  er  besteht  aus  zwei  griechischen  Inschrift- 
steinen etwa  aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  II.  nachchrist- 
lichen Jahrhunderts,  die  Tempelbestimmungen  aus  Lindos  und 
aus  Laurion  enthalten  — ;  es  dürfte  sich  daher  empfehlen,  ihn 
möglichst  zu  erweitern,  bevor  man  sich  über  die  wichtigen 
religionsgeschichtlichen  Zusammenhänge  entscheidet,  die  hier 
vermutet  worden  sind. 

Ohne  solcher  Entscheidung  vorgreifen  zu  wollen,  möchte 
ich  vom  medizingeschichtlichen  Standpunkt  einiges  zur  Sache 
geltend  machen. 

Die  als  Grundlage  der  Betrachtungen  Wides  über  "Aoqol 
ßiaLod-dvatoL  dienenden  Kultusvorschriften  stehen  IG  XII 1  n.  787 
(=  Dittenberger,  Syll.-  567  =  Ziehen,  Leges  Graec.  sacr.  II  1  n. 
148)  und  IG III  74  (=  Dittenb.  633  =  Ziehen  49).    Sie  gestatten 

Archiv  f.  BeUgionswissenschaft  XIH  1 


2  Johannes  Ilberg 

den  Zutritt  zu  den  betreffenden  Heiligtümern  erst  nach  Ablauf 
von  vierzig  Tagen  änb  cpO^ogsCav  (Inschr.  von  Lindos  Z.  12) 
oder  ajtb  ^d-ogäg  (Inschr.  von  Sunion  Z.  7).  Beide  Ausdrücke, 
q)&OQsla  und  ^d-OQcc,  übersetzt  Wide  mit  'Abtreibung  der  Leibes- 
frucht', aber  sie  bedürfen  genauerer  Interpretation.  Zufällig 
läßt  sich  diese  gerade  mit  Hilfe  eines  gleichzeitigen  oder  wenig 
älteren  Arztes  geben,  des  berühmten  Soranos  von  Ephesos, 
und  zwar  besonders  aus  zwei  einschlägigen  Kapiteln  seiner 
Gynäkologie:  I  18  (S.  228 f.  Rose):  TCvcc  örjiisia  ^£XXovöt]g 
yCvsö&ai  (pd-oQäg,  'Anzeichen  eines  bevorstehenden  Abortus' 
und  I  19  (S.  229 ff.  R.):  El  q^d-ogCoig  xal  ätoxCoLg  xq^öteov  xal 
aag,  '  Zulässigkeit  und  Applikation  von  Mitteln  zur  Abtreibung 
und  Konzeptionsverhütung'.  Des  schnelleren  Verständnisses 
halber  muß  ich  die  Worte  des  Fachschriftstellers,  soweit  sie 
unserem  Zwecke  nützlich  sind,  in  deutscher  Übersetzung  mit- 
teilen, zuerst  den  Abschnitt  über  (pd-OQa: 

1 18,  59.  '  Bei  bevorstehendem  Abortus  erleiden  die  Patien- 
tinnen (jLsXXovörig  ds  yCvsöd-ai  xfjg  tov  s^ißQvov  cp^ogäg  talg 
qiQ'SLQOvöccig  jtUQaxoXov&el)  zunächst  Abgang  einer  wässerigen, 
dann  einer  serumartigen  oder  einer  blutigen  Flüssigkeit,  die 
wie  Spülwasser  von  Fleisch  aussieht;  hat  die  Loslösung  be- 
gonnen, so  geht  reines  Blut  ab  und  dann  zuletzt  Blutgerinnsel 
oder,  je  nach  der  Schwangerschaftsdauer,  formloses  Fleisch 
oder  solches,  das  bereits  Gestaltung  erkennen  läßt.  In  den 
meisten  Fällen  sind  die  Symptome:  Schwere  im  Kreuz  und 
Schmerzen  in  den  Hüften  und  im  Bauch,  Leisten,  Kopf,  Augen 
und  Gelenken,  Magenkrampf,  Kälte  der  Glieder  und  Schweiß, 
Ohnmacht,  mitunter  auch  Fieberschauer;  in  andern  Fällen 
außerdem:  Schluchzen  oder  Krampf  und  Stimmlosigkeit.  Diese 
Symptome  zeigen  sich  besonders  bei  solchen,  die  sich  durch 
Abtreibungsmittel  einen  Abortus  zuziehen  (talg  ix  ^ag^axsiag 
(pd-£iQ0v6ai,g).  Bei  denen,  die  unabsichtlich  eine  Fehlgeburt 
durchmachen  (talg  xtOQlg  tivog  ijiLxrjdsvöecag  ixiLtQaöxovöcag] 
vgl.  U,  13,  47  S.  344,  5  R.:  exTQcaötg  de  (iötiv)  ij  nerä  ösvxsqov 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  3 

fj  xqCxov  iiT^va  (p^ogä  tov  ifißgvov),  stellt  sich  nach  Hippo- 
krates  vorher  auffälliges  Welken  der  Brüste  ein,  nach  Diokles 
Kälte  der  Schenkel  und  ein  Gefühl  der  Schwere  im  Kreuz  um 
die  Zeit  der  Geburt.' 

Unter  (pd-OQd  ist  also  beides,  Fehlgeburt  und  Abtreibung, 
zu  verstehen,  durchaus  nicht  nur  das  Verbrechen  gegen  das 
keimende  Leben,  wie  das  Wort  in  dem  Aufsatz  von  Wide 
einseitig  aufgefaßt  wird.  Es  bedeutet  eben  ganz  allgemein 
'Absterben  des  Embryon',  mag  es  künstlich  hervorgerufen  sein 
oder  ein  pathologischer  Vorgang.  Man  sehe  sich  auch  den 
Hippokrateskommentar  des  Galenos  an,  in  dem  gerade  bei  der 
Interpretation  der  erwähnten  Beobachtung  aus  den  Aphorismen 
über  plötzliches  Welkwerden  der  Brüste  vor  einer  unfreiwilligen 
faiisse  coiLclie  wiederholt  der  Ausdruck  q)9oQtt  (neben  diacp&OQci 
und  htQoGiiög)  angewendet  ist  (Gah  XVU  B  845 — 850  K.).  Für 
den  im  Sprachgebrauch  der  Arzte  weniger  bewanderten  Leser 
bemerke  ich  außerdem,  daß  (p&sCgeiv  (wie  dzoq:&sCQELv,  dia- 
<P^eCqslv,  i/ßccXXeiv)  weder  absolut  noch  mit  Objekt  ohne 
weiteres  mit  'abtreiben'  übersetzt  werden  darf;  es  heißt 
'abortieren'  und  pflegt  besondere  Zusätze  zu  erhalten  (wie 
oben  ralg  ix  q>aQiiaxs£ag  q)^SLQ0v6aig),  sofern  es  sich  um 
künstliche  Maßnahmen  handelt.  Wer  das  nicht  bedenkt,  erhält 
bei  der  Lektüre  der  Texte  leicht  eine  übertriebene  Vorstellung 
von  der  Häufigkeit  des  künstlichen  Abortus  im  antiken  Leben. 

Daß  die  römische  Kaiserzeit  einen  Höhepunkt  dieses  ver- 
brecherischen und  verderblichen  Treibens  bezeichnet,  ist  ja 
freilich  allbekannt.  Wie  die  medizinische  Literatur  in  ihrem 
ganzen  Umfang  allerlei  Kultur-  und  nicht  zum  wenigsten  auch 
Degenerationserscheinungen  getreulich  widerspiegelt,  so  auch 
in  diesem  Fall.  Li  dem  altehrwürdigen  Asklepiadenschwur, 
der  gewöhnlich  dem  Hippokrates  zugeschrieben  wird,  ver- 
pflichtet sich  der  Neuling  schlechthin:  ov  daöa  dh  ovds 
(pccQUaxov  ovdsvl  ahr^&elg  d'aväöi^ov  ovdh  v(frjyT}6o^ai  ^v/x- 
ßovXCirjv    TOLTjvdey    biioCag   de   ovds    ywuixl    Tceööov    cp^ögiov 


4  Johannes  Ilberg 

ög)6c).  ayväg  ^^  ^<xi'  ^<sC(X)g  diatrjQrjöG)  ßiov  tbv  i^bv  xccl 
Tsxvrjv  Tr}v  i^'^v}  Dementsprechend  spielen  Abtreibemittel  in 
dem  großen  Corpus  Hippocraticum  nur  eine  beschränkte  Rolle, 
von  der  noch  die  Rede  sein  soll.  Später  wird  das  anders,  und 
es  entspinnen  sich  Diskussionen  unter  den  Fachleuten  über  ihre 
Zulässigkeit  und  ebenso  über  die  Frage,  ob  der  Arzt  die  Hand 
dazu  bieten  dürfe,  die  Empfängnis  überhaupt  zu  verhindern. 

Hören  wir  auch  darüber  Soranos  selbst: 

1 19,  60.  '^'Axömov  und  (p%^6Qiov  sind  nicht  gleichbedeutend: 
das  eine  verhindert  die  Empfängnis,  das  andere  vernichtet  die 
Frucht.  ^ExßoXiov  erklären  einige  für  synonym  mit  (p&ÖQLov^ 
andere  finden  einen  Unterschied,  indem  es  nicht  von  Medi- 
kamenten gelte,  sondern  von  mechanischen  Schüttelungen  und 
gelegentlich  vom  Springen.  In  solchem  Sinne  habe  bereits 
Hippokrates,  als  Gegner  der  abtreibenden  Arzneimittel 
(TtaQattrjödiisvov  tä  (p&ÖQicc),  in  dem  Buche  'Die  Natur 
des  Kindes'  ein  exßoXiov  angewendet,  das  Anfersen  (tov 
BKßaXslv  %dQiv  TÖ  nQos  Ttvyäg  TCrjdäv).  Auf  diesem  Gebiete 
besteht  nämlich  Meinungsverschiedenheit.  Einige  verwerfen  die 
Abtreibemittel  (q)d-6Qia),  indem  sie  sich  auf  des  Hippokrates 
Worte  berufen:  'Ich  werde  keinem  ein  Abtreibemittel  aus- 
folgen' (ov  dcööcj  ds  ovdevl  cpd^ÖQiov)  und  geltend  machen,  daß 
es  im  Wesen  der  Heilkunde  liege  zu  hüten  und  zu  wahren, 
was  die  Natur  erzeuge.  Andere  dagegen  verordnen  sie,  aber 
nur  in  bestimmten  Fällen;  d.  h.  nicht,  wenn  eine  Schwangere 
den  Eingriff  wegen  der  Folgen  eines  Ehebruchs  verlangt,  oder 
aus  Rücksicht  auf  ihre  Schönheit,  sondern  nur  uin  eine  Gefahr 


*  Wie  S.  Reinach  angesichts  dieses  Zusammenhangs  und  schwung- 
vollen Abschlusses  die  ethische  Bedeutung  des  Passus  anzweifeln  kann, 
weil  nachher  folgt:  oi  Ts\ii(a  8h  oidh  (irjv  ii^icöj'Tas,  ixxfHQijoco  3h  iQyccTjjaiv 
&vdQuGi  nQTq^iog  rfißds,  ist  unbegreiflich.  Er  sagt  (in  diesem  Archiv 
IX  320):  '.  .  .  l'interdiction parait  plutöt  rcporidre  aux  interets  des  specialistes 
de  la  lithotomie,  auqiicl  cas  la  mention  des  pessaires  comporterait  une  inter- 
pretution  analogue  et  n'aurait  pas  la  portee  d'une  prohibition  morale.' 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  5 

zu  verhindern^,  die  sich  voraussichtlich  bei  spontaner  Geburt 
einstellen  würde,  sei  es,  daß  der  Uterus  zu  klein  ist  für  die 
vollständige  Ausbildung  der  Frucht  oder  daß  sich  am  Mutter- 
mund Neubildungen  und  Risse  vorfinden  oder  ähnliche  Gründe 
maßgebend  sind.  Ebenso  äußern  sie  sich  auch  über  die 
Mittel  gegen  Empfängnis  (äroxia),  und  wir  schließen  uns  ihrer 
Meinung  an.' 

Man  ersieht  sogleich,  daß  die  alte  strenge  Tradition  in 
gewissen  Fachkreisen  noch  fortwirkt;  wenigstens  in  der  Theorie, 
wird  man  im  allgemeinen  vorsichtigerweise  hinzufügen  müssen. 
Diejenigen,  die  einen  Bedeutungsunterschied  zwischen  (pd^ÖQiov 
und  ixßöhov  annahmen  und  als  Beleg  dafür  jene  vielberufene 
Historie  zitierten  von  der  [lovöosgybg  :xoXvTi^og  xag*  ävögag 
(foireovöa,  tjv  ovx  eÖBL  Xaßslv  iv  yaötgl^  oxcaj  iiri  dtifiOTsgr] 
&T}  (VII  490  L.),  scheinen  das  Bedürfnis  gefühlt  zu  haben,  die 
Verschiedenheit  der  darin  von  'Hippokrates'  angeordneten 
gymnastischen  Übung  des  'Anfersens'  und  der  im  "Ogxog  von 
ihm  verpönten  nsööol  (p^ögioi  recht  ausdrücklich  hervortreten 
zu  lassen,  um  den  scheinbaren  Widerspruch  zu  erklären  und 
Vorwürfe  gegen  den  großen  Meister  zu  entkräften.-  Übrigens 
kommt  im  Falle  der  Tonkünstlerin  ixßöliov  oder  ixßdXXsiv  gar 
nicht  vor,  und  der  Sprachgebrauch  steht  tatsächlich  mit  einer 
solchen  Spezialisierung  des  Wortes  nicht  in  Einklang,^  Was 
dann  weiterhin  von  Soranos  berichtet  und  was  seinerseits  ver- 
treten wird,  zeigt  uns   deutlich,  daß  selbst  damals  noch  eine 


'  S.  230 ,  1  R.  schreibe  ich  äXXä  diä  ro  xivSvvov  xayXvoai  {aXXoxB 
SiccxivSvvov  xaXvaai  die  Hs.).     Zur  Sache  vgl.  Theod.  Prise.  Gyn.  6,  23  f. 

-  Das  geschah  noch  im  vorigen  Jahrhundert;  s.  Thibeaud  Äp^oci'afe 
accuse  d'avoir  provoque  Vavortement  d'une  couttisane  grecque  (Gazette 
medieale  de  Paris  1844  Nr.  35). 

*  Vgl.  z.  B.  die  zahlreichen  ixßoXia  in  Ilegl  yvvaixsiav  I  78  (VIII 
172fF.  L.)  und  später  [Galen]  XIY  477,  480fiF.;  Oribas.  Eupor.  IV  112 
Bd.  V  772).  Es  handelt  sich  dabei  nur  ganz  vereinzelt  um  mechanische 
P^inwirkungen  (YIII  180  L.:  ersgov  ixßöXiov  vtio  rces  {lacxccXag  Xaßw» 
aeisiv  hxvg&s  zur  Austreibung  der  Nachgeburt). 


6  Johannes  Ilberg 

Richtung  der  orthodoxen  Hippokratiker  bestand  und  ihren 
intransigenten  Grundsatz  mit  Nachdruck  formuliert  hatte:  trjQslv 
xccl  6(pt,Eiv  tä  ysvväiisva  vitb  rijs  q)v<3scog.  Ihr  gegenüber  hatte  sich 
eine  berechtigte  Kasuistik  entwickelt,  deren  Vertreter  künstlichen 
Abortus  und  Verhütung  der  Empfängnis  empfahlen,  sofern  infolge 
einer  Geburt  direkte  Lebensgefahr  für  Mutter  und  Kind  zu  er- 
warten stand,  äußere  Beweggründe  indessen  nicht  gelten  ließen. 
Der  fernere  Inhalt  unseres  langen  Kapitels,  §  61  bis 
§  65,  frappiert  etwas  nach  diesen  Auseinandersetzungen  und 
hat  sogar  gelegentlich  zu  dem  Verdacht  geführt,  Soranos  meine 
es  mit  der  Zustimmung  olg  xal  rjfislg  övvcavov^sv,  womit  er 
jene  Mittel  und  Manipulationen  nur  in  gewissen  Notfällen 
billigt,  im  Grunde  seines  Herzens  gar  nicht  ernst  und  auf- 
richtig; er  würde  sonst  nicht  eine  so  große  Zahl  davon  ver- 
zeichnet haben.  Dieser  Verdacht  scheint  mir  unbegründet,  ja 
sogar,  wie  ich  den  Meister  zu  kennen  glaube,  sehr  ungerecht; 
dem  Galenos  wäre  so  etwas  schon  eher  zuzutrauen  bei  seiner 
Rücksichtnahme  auf  die  ßaöiXizai  yvvalxsg,  alg  ovx  eötiv 
KQVTJöaöd-ai  (XII  443),  als  unserm,  soweit  ich  sehe,  durchaus 
sachlichen  und  unabhängigen  Ephesier  in  Rom,  der  von  der 
Hebamme  auch  mit  Nachdruck  fordert,  daß  sie  uneigennützig 
sei,  äcpiXccQyvQog  cog  [lij  diä  iii6%-hv  xaxög  dovvai  cpd'ÖQtov 
(S.  174,  22  R).  Lediglich  also  um  Unheil  bei  voraussichtlicher 
Dystokie  zu  verhüten,  davon  dürfen  wir  bei  Soranos  überzeugt 
sein,  teilt  er  seine  Ratschläge  und  Rezepte,  die  icx6}iia  und 
(pd^ÖQitt,  mit.  Dabei  warnt  er  wiederholt  vor  scharfen  und 
sonstwie  schädlichen  Mitteln,  führt  auch  lange  nicht  alle  an, 
die  ihm  bekannt  sind  und  erklärt  insbesondere  die  Amulette  für 
erfolglos.^   Die  Warnungen  lassen  zwischen  den  Zeilen  erkennen, 

*  S.  231,  26;  (fvXäxxBaQ^ai  Sh  inl  noXv  roc  dgifiia  Siä  rag  kii  «^x&v 
kXv.m6ii(S\  234,  10:.  aiqzlß^ot.i  81  rovrav  rovg  fir}  &yav  Sgiiietg,  Zva  itr] 
itXsiova  cvfinäd'Etccv  nal  9sQ^ccaiccv  inccycoaiv;  234,  20:  moXXä  Sh  xal  &XXa 
nccQ  äXXoig  tTprjrai,  (pvXätxEad'cii  dk  dst  xcc- Xiccv  jtXrixxixd.  S.  232,  13: 
TiXslcav  iaxlv  i]  &n6  xovxav  xäxcoöts  (pd'EiQovxav  (ihv  kccI  &vccxQS7tovxav  xov 
ox6iiaxov,   TtXriQOvvvmv  3h  xijv  xs(paXi]v   xal  öv^7iä9eiav  inicpEQiivxoiv  xxX. 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  7 

wieviel  Unglück  auf  diese  Weise  damals  durch  Leichtsinn  und 
Unverstand  angerichtet  worden  sein  mag. 

Bei  den  (p&ÖQia  kann  Soranos  im  allgemeinen  und  einzelnen 
auf  sein  früheres  Kapitel  (1 14)  TCg  'fl  t&v  6vv£LXr}q)vi&v  iTCifieXsia 
hinweisen;  man  müsse  eben,  ■vtenn  die  Geburt  nicht  erfolgen 
dürfe,  das  Gegenteil  des  dort  Vorgeschriebenen  tun  (S.  232,  20). 
Mit  welch  liebevoller  Sorgsamkeit  weiß  er  daselbst  zum  Besten 
der  angehenden  Wöchnerin  zu  raten!  Gegen  Ende  wird  er  ganz 
schwungvoll;  man  sieht,  die  xrjQr^öLg  (S.  211,  14)  ist  sein  eigent- 
liches Prinzip.^  Trotz  aller  Bemühungen  sind  natürlich  patho- 
logische Fehlgeburten  oft  nicht  zu  verhindern,  über  ihre  Therapie 
ist  im  zweiten  Buche  gehandelt.^ 

Auch  Soranos  durfte  ohne  Zweifel  von  sich  sagen,  daß 
er  der  Richtschnur:  rrjQslv  xal   6at,Biv  xä  ysvvaiisva  vnb  tfig 


^  S.  214, 10:  Vernachlässigung  der  hygienischen  Vorschriften  während 
der  Schwangerschaft  ist  unter  allen  Umständen  ungünstig  für  das  Kind,  auch 
wenn  es  nicht  gerade  zur  Fehlgeburt  kommt :  (iridslg  3h  vnoXccyL^uvixa,  Sri  xav 
7caQaßaLvovaT]g  tivog  ?ria  r&v  siQriiiivav  ri  Tiävra  {lt]  yivriTai  zov  cviljjqpO'evTOj 
ixTQcoaig  (-  u  _  _  u),  oxixl  Ttävrag  rjdlxTiTai  to  övXlricpQ'iv  (-  w  _  _  w  _  ^J). 
Am  Schluß  braucht  er  eines  seiner  beliebten  Bilder:  wie  die  Bauwerke 
je  nach  ihrer  Fundamentierung  dauerhaft  sind  oder  nicht,  Qccdiag  xal 
TtQog  oXi'/riv  aqpo^/xrjv  anogglmsTai  (5  Cretici),  so  auch  die  lebenden 
Wesen:    t&v   3h    fcäcov   ij   yswr^cig   ^arai   3iä(poQog  Ttagä   t6   rotg   ^gatzoig 

{^\j  w_  wi-r  iw- )  maavsl  aroixsioig  xal  9eyisXloig  Jiaqpooois  i^sguad'^vcct 

{^w  w_  vu  w  —  ^ ).  Vgl.  die  Vorschrift  S.  223,  23 ff.,  die  Schwangere 

solle  nach  dem  achten  Monat  besonders  häufig  in  süßem  und  warmem 
Wasser  baden,  to;  yctg  avrotpvfj  (seil.  v3aTu)  3Qi,uvTiQag  ?;f0VTa  rag 
TtoiötriTccg  ov3hv  diacpigsi  rä>v  sig  (p9oQuv  vTCOti^suivcov  (pagnaxav. 

*  Vgl.  n  13.  Es  wird  dort  folgende  Terminologie  aufgestellt  (S.  344,  4) : 
^xgoia  ^hv  ovv  iaztv  äjtonzvGiiog  zov  Gnsg^iazog  fi£ra  zr^p  evvovöiav  (isrä 
jigmzriV  ^  3Bvxigav  r}(isgav,  ixzgcaoig  3h  7}  [iszct  öevzbqov  ij  tqLxov  {if^va 
(pd^ogä  zov  i^ßgvov,  a^ozoxia  3h  ij  cvvE'/yvg  z^g  zsXeiwcsog  ngo  mgag 
ccnözB^ig.  Etwas  abweichend  bei  [Axist.]  Hist.  anim.  VII  3  S.  583  b  12: 
xuXovvzai  3'ixgvaei.g  (ihv  al  ui-^Qi-  tcö v  iTtzä  ijuapcör  Siacp&ogaL  (vgl.  S.  583  a  26), 
ixzgcoGuol  3'al  /li^ßi  zäv  zszzugdxovza  (vgl.  ixgvGieg  und  zgcoßnoi  bei 
[Hippokr.]  Ilsgl  inza(n]vov  9  Bd.  VII448L.).  Bei  Galen  im  Epidemien- 
kommentar (XVII A  444  f.)  steht  ein  Auszug  aus  Hist.  anim.  S.  583  a 
27 — 584b  1,  darin  auch  dieser  Satz. 


8  Johannes  Ilberg 

cp'ööscag  nicht  untreu  geworden  war,  wenn  er  auch  den  Askle- 
piadeneid  in  alter  Weise  nicht  mehr  hielt.  Die  wissen- 
schaftliche Erfahrung  hatte  längst  Fortschritte  gemacht,  und 
Leben  und  Wohl  der  Mutter  war  es,  auf  das  jener  Satz 
oder  das  hippokratische  thcpsXslv  tj  ^ij  ßXdmsiv  Anwendung 
fand,  falls  schon  für  das  Kind  nichts  oder  nichts  Sicheres 
erhofft  werden  konnte.  Es  wird  jedenfalls  nach  dem  Dar- 
gelegten unbedenklich  gesagt  werden  können,  daß  trotz  aller 
bösen  Mißbräuche  der  Zeit  in  der  medizinischen  Wissenschaft 
von  damals  eine  Auffassung  vom  Schutze  des  Ungeborenen 
herrschend  war,  die  keines  religiösen  Einflusses  aus  dem 
Orient  bedurfte. 

Ein  halbes  Jahrtausend  früher  kann  erst  recht  nicht 
von  der  Notwendigkeit  einer  solchen  Annahme  die  Rede 
sein,  wenn  wir  uns  des  Eides  erinnern,  der  uns  aus  der 
Jugendzeit  der  ionischen  Medizin  vorliegt.  Und  was  noch 
wichtiger  ist:  die  Krankengeschichten  und  Lehrschriften  des 
Hippokratischen  Corpus  bestätigen  diese  Anschauung  in 
weitem  Umfang. 

Wir  teilen  zuerst  einiges  Sprachliche  über  die  technischen 
Ausdrücke  mit,  die  darin  für  Abortus  am  meisten  gebräuchlich 
sind.  Galenos  behauptet  im  Epidemienkommentar  (XVIII A  799) : 
o  nalovöLV  a^ißlcoöLv  ol  'AttiKoi,  xovto  övvrjd^oi;  'I:t7toxQdtr]g 
ccjtocpd^OQav  övo}id^£L,  xal  xa  Q^nara  de  tä  TtSQixsC^sva  tfi  TtQOö- 
tjyoQCa  rfjds  (y gl.  naöcci  ccjceq^d^eiQav  Epid.  I  16Bd.I  193, 18Kw.) 
xal  Tag  vno  r&v  yQa^iiatix&v  6voyLat,oiiBvag  iiBto%äg  (vgl.  ano- 
(p%-EiQov6B(ov  ol  tix&ol  nQo6i6%vaCvovxai  Epid.  II 1, 6  Bd.  II  76 L.) 
ävdXoyov  avxfi  yQKcpsi.  Aber  ein  Überblick  über  das  Corpus 
zeigt  uns,  daß  diese  Bemerkung,  Hippokrates  pflege  gewöhnlich 
dxoqj&OQcc,  anoff^eigsiv  usw.  zu  sagen,  nur  für  die  Epidemien 
zutrifft.  Vgl.  außer  den  beiden  soeben  aus  Epid.  I  und  II  an- 
geführten Stellen:  Epid. III  Bd.  I  222,  6  Kw. yvvalna  k^  anocp^OQfig] 
222,  14  ersQTjv  ii,  ccTtotp&oQfjg]  Epid.  IV  G  Bd.  V  146 L.  und  ebenda 
22  S.  162 L.  ccjtB(f&6LQ6v]  Epid.  II  2,  13  Bd.  V  90L.  und  Epid.  V 33 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  9 

Bd.  V  238  L.  =  Epid.  VII  74  Bd.  V  432  L.  d:i6(p»ttQ^cc}  In  den 
übrigen  Büchern  finden  sich  die  mit  dxö  zusammengesetzten 
Formen  nicht,  sondern  in  der  Regel  diacp&ogyj  (auch  Epid.  YII  97 
Bd.  V450L.)  und  diatp^ägsiv  (auch  Epid.  VII  41.  73  Bd.  V 
408.  432  L.)  sowie,  gewöhnlich  wenn  die  Composita  mit  did 
vorangegangen  sind  oder  auch  folgen,  (p9oQ^  und  (fd-sCgeiv  ohne 
Präposition.-  Belege  dafür  bieten  namentlich  die  gynäkologischen 
Schriften  knidischen  Charakters  in  beträchtlicher  Anzahl;  sonst 
begegnen  im  Corpus  auch  ixtiTQcööxsiVj  ixtiTQäöxeö&aiy  rgaö^iög 
und  einige  seltener  verwendete  Synonyme.  Galens  Äußerung 
über  den  Sprachgebrauch  darf  also  nicht  zu  streng  genommen 
werden,  selbst  wenn  man  sie  auf  die  von  ihm  für  echt  ge- 
haltenen Hippocratica  beschränkt,  denn  es  steht  auch  in  den 
Koischen  Prognosen  ix  diacp&oQtls  (505.  506  Bd.  V  70ÖL.)  und 
sm  rgaöncö  (532  Bd.  V  706 L.),  in  den  Aphorismen  (5,  53 
Bd.  IV  550.  552)  diaif&eiQeiv  [liXXovöL  rä  efißgva  und  diu- 
(p^sCgovöLv.  Immerhin  ist  es  richtig,  daß  ocxoq:&oQyl  bei  gewissen 
antiken  Hippokratesgelehrten  als  fester  terminus  technicus  galt; 
in  den  Buchstabengruppen  {xccgaxzJlQSs)  am  Ende  der  einzelnen 
Krankengeschichten  des  dritten  Epidemienbuches,  die  den  jedes- 
maligen Verlauf  schematisch  andeuten,  ist  Abortus  durch  A 
bezeichnet  (I  222,  13.  223,  2  Kw.;  tö  [ihv  A  dr^Xol  cczocf&OQav, 

^  uTtocpd-agua  bedeutet  nicht  'Abortivmitter  (so  noch  Fasbender, 
Entwickelungslehre,  Geburtshilfe  und  Gynäkologie  in  den  Hippokrat. 
Schriften,  Stuttgart  1897,  S.  117f.),  sondern  'abgestorbene  Frucht'. 

*  Vgl.  IIbqI  yvvaixsiav  121  (VIII  60 L.),  wo  am  Anfang  des  Kapitels 
diacfO'siQovrai  steht,  dann  qcO'fipcoötv;  Kap.  25  (VIII  66  L.)  (pd-sigsrai,  gleich 
darauf  3ici(p9'OQr,v,  sodann  wieder  (fd-ag^vai,  (p^aigovrai  (so  auch  am  Ende 
des  Kapitels  beim  Plural  des  Neutrums  nach  Vindob.  9  statt  qpO-eipErat 
zu  schreiben),  ain'?]  cp^ogf/g,  qi&sigovei.  Kap.  72  (VIII 152 L.)  geht  das 
Kompositum  sechs  einfachen  Formen  voran.  Der  Text  muß  lauten:  xal 
räv  dtacf  9s igaeeav  {diciq:9^agsig  iav  cod.9;  diacpQ-eigsiaswvY)  zä  Ifißgva 
xccTU  l6yov  15  Kcc^agais  yivtrai  tovtwv  räv  ^ufpEcäf,  xal  ini  tqigi  vsaJTfgotoi 
cpd'aQeTciv  iXäaaovag  T](iEgas,  ini  öh  roiai  ysgairigoiGi  TiXdovag.  7tad-r,uara 
db  TU  aiixä  ian  Tisgl  Xoxeiav  q>9eigd6y  ts  (so  mit  der  besten  Über- 
lieferung; vgl.  VIII 128,  5  L.)  zb  lußgvov  xal  zixoverj,  r,v  fir}  vr^:tiov  (p9sigTj 
zo  Titxidiov  xzL 


10  Johannes  Ilberg 

aitihlEiav  Gal.  XVII  A  612;    vgl.  meinen  Aufsatz   Philol.  LIV 

396  fie.)-' 

Wer  die  im  Corpus  vorhandenen  Zeugnisse  durchmustert, 
wird  sich  vergewissern,  daß  in  dieser  ganzen  verschiedenartigen 
Schriftenmasse  von  Abtreibung  nur  selten  die  Rede  ist.  Es 
sind  unbeabsichtigte  Fehlgeburten  oder  auch  Frühgeburten, 
worum  es  sich  fast  durchweg  handelt.^  Oft  finden  wir  die 
Gründe  angegeben.  Sie  werden  in  allgemeinen,  genauer  be- 
obachteten Witterungsverhältnissen  und  deren  Folgen  ver- 
mutet^, oder  in  der  Körperbeschaffenheit  der  Schwangeren*, 
ferner  in  Krankheiten^  oder  Unfällen®  und  vielen  sonstigen 
Anlässen  äußerer  oder  psychischer  Natur.  Das  umfangreiche 
Material  kann  hier  nicht  ausgebreitet  werden;  wir  verweisen 
insbesondere  auf  die  eingehenden  ätiologischen  Darlegungen  im 
ersten  Buche  IIeqI  ywaizsCcov  Kap.  21  und  25  (VIII  60f.  64  bis 
68L.),  die  mit  den  Worten  schließen:  &6ts  ov  XQV  O'tö/ia^an/ 
täs  yvvcclxag  ort  diacp^Biqovdiv  ccstcovöccl'  qpvAaxiJg  yäQ  xal 
^jtL6Tr]^rjg  ^oXXrjg  dsl  ig  ^o  disvsyxslv  nal  ix&Qsipai  t6  naidCov 
hv  rrjöL  [ii]tQri6L  xal  d^tocpvysiv  avto  kv  t(p  röxa.  Einige  Stellen 
möchte  ich  deshalb  hervorheben,  weil  sie  zu  Mißverständnissen 
Anlaß  gegeben  haben  oder  geben  könnten.    Epid.  V  53  (V  233  L.) 


^  Galen  teilt  mit  (XVII A  800),  daß  alte  Exegeten  auch  in  der  ersten 
Krankengeschichte  des  sechsten  Buches  (V  266  L.)  statt  &nb  cpd-OQrig 
schreiben  wollten  <^^|>  &nocp&oQfig ;  s.  auch  Pallad.  S.  4  f.  Dietz.  Man 
wird  das  kaum  in  den  Text  setzen ,  ebensowenig  Epid.  II  2 ,  4  (V  86  L.) 
&jtocp9oQr)s  statt  &7fb  (p&oofjs. 

*  'Die  Lehren  von  der  Fehlgeburt  stellen  bei  weitem  das  Umfang- 
reichste und  auch  das  Wesentlichste  von  dem  dar,  was  die  Hippokratischen 
Schriften  bezüglich  der  Pathologie  der  Schwangerschaft  überhaupt  ent- 
halten', Fasbender  a.  a.  0.  S.  121. 

'  II  44  f.  L.  (I  49,  25  Kw.)  vgl.  IV  490  L.;  II  648  L.  (l  193,  17  Kw.); 
V148L.;  VIII  184L. 

*  VIII  452  vgl.  490. 

6  IV  646.  548.  552.  684;  V  162.  166;  VII  336  (=  VIII  116).  376 
(=VIII  148). 

<*  V  408.  460  {ix  «reö/xaros),  482  (^x  «reoftaros  ^  anda^TOe  ^  »Ijjy^ff). 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  H 

=  Epid.  VII  74  (V  4:i2L.)  notiert  sich  der  behandelnde  Arzt: 
T17  I^Cfiov  TÖ  TQLrjxoöraiov  äxöcpd^aQfia'  7Ciov6rj  xi  ^  avrd,uaTOf 
Toüro  övvsßTj.  Es  beruht  auf  einem  Vorurteil,  zu  konstatieren 
(was  Littre  und  Ermerins^  tun),  er  müsse  hier  daran  denken, 
daß  die  Patientin  ein  Abtreibungsmittel  genommen  habe,  wie 
es  etwa  Soran  S.  234,  14  anführt  (jcöti^s);  vielmehr  scheint  nur 
die  Vermutung  eines  Diätfehlers  im  Trinken  Tom  Beobachter 
aufgestellt  zu  werden.*  IIeqI  yvvaixsCcjv  I  67  (VIII  140)  ist  von 
der  Anwendung  scharfwirkender  Pessare  (Tampons,  Einlagen)  die 
Rede  und  ihren  schlimmen  Folgen:  r^v  de  yvvi)  ex  rptoö/iov  T^cö/ia 
Xocßr}  iiiya  ij  aooG^iroiGi  dgi^eöiv  slxa^fj  (iXxäör^  Vindob.  &)  rag 
[irjTQag,  ola  ywulxeg  ögäöC  te  xal  li^tQSvovraL,  xal  rö  s^ßgvov 
tpO^agfi  usw.  Diese  Worte  richtig  zu  interpretieren  ist  für  unser 
Problem  von  Bedeutung,  auch  wenn  man  von  der  Lesung  der 
interpolierten  Hss.  und  der  Ausgaben:  ola  xoXlä  yvvaixeg 
dsl  dgäöC  xs  xal  Ir^XQSvovöi  absieht.  Pessare  {xq669-£xu) 
werden  im  Corpus  ungemein  häufig  erwähnt  (s.  den  sach- 
lichen Index  von  Littre  X  7  29  f.  u.  d.  W.  pessaire),  darunter 
auch  öfter  scharfe  (dginaa).  Da  ihre  Anwendung  bei 
verschiedenartigen  Leiden  erfolgt,  könnte  man  auch  hier  in 
Zweifel  ziehen,  daß  Abtreibung  gemeint  sei  und  vermuten, 
der  Arzt  erwähne  nur  weibliche  Kurpfuscherei  im  allgemeinen, 
wobei  dann  unbeabsichtigt  Fehlgeburten  vorkämen.  Aber 
das  ist  nicht  wahrscheinlich;  er  spielt  wohl  tatsächlich  auf 
schlimme  Praktiken  an,  wohlgemerkt  nicht  der  Arzte.  Eine 
bald    darauf   folgende    Betrachtung    mag    ein    ähnliches    Ziel 


^  Ermerins'  Phantasie  geht  ins  Romanhafte.  Er  sagt  Bd.  I  686: 
'Cum  iUud  thovgt]  ti  de  remedio  abortum  faciente  intelligere  oporteat  nequ^ 
constet,  qiiare  mulier  viro  nupta  tcde  remedium  bibisset,  putavi  anciUam 
uxoris  Simi  spectari'. 

*  Vgl.  IIsqI  yvvaix.  I  25  (VlII  68L.):  eiöi  Sh  at  tp^sigovai  zu  iußQva 
x^v  dgiiiv  XI  x^r  »tx^ov  (fdyaGt  naQcc  xo  l9og  ij  niaei  vj\Ttiov  xov 
Tcaidiov  iovTog  xtX.,  wo  eine  Absicht  des  künstlichen  Abortus  infolge  des 
ganzen  Zusammenhangs  gar  nicht  in  Fräse  kommen  kann. 


12  Johannes  Ilberg 

haben.^  Besonderen  Charakter  —  ich  meine  yom  ethischen 
Standpunkt  —  tragen  gewisse  Vorschriften  zur  Austreibung 
der  toten  Frucht;  man  wird  sie  nicht  mit  den  verpönten 
auf  eine  Stufe  stellen.^  Solche  Mittel  heißen  im  Corpus 
oft  ezßöXia,  wie  später  jene;  ebenso  werden  daselbst  die  zur 
Herausbeförderung  der  Nachgeburt  dienenden  genannt. 

Ausnahmen  bestätigen  die  Regel:  es  gibt  nur  eine,  einzige, 
jene  von  Soranos  erwähnte,  Abtreibungsgeschichte  aus  der 
hippokratischen  Praxis  (VII  488  ff.  L.),  die  auch  von  jeher  Auf- 
sehen gemacht  hat.  Genauer  genommen  handelt  es  sich  bei  der 
Gymnastik  des  'Anfersens'  der  [lovöosQyög  um  einen  Versuch 
ihres  Arztes,  bereits  am  sechsten  Tage  eine  sxQvöig  hervor- 
zurufen, wie  die  Hippokratiker  sagten,  nicht  um  rpcoeffio'g,  und 
die  moderne  Medizin  ist  der  Meinung,  daß  in  dem  merkwürdigen 
Fall  Ausstoßung  der  üterusschleimhaut  stattgefunden  habe.^ 
Jedenfalls  erzählt  unser  Gewährsmann  mit  Harmlosigkeit  und 
unverkennbarem  wissenschaftlichem  Interesse,  was  er  jener  Ton- 
künstlerin, natürlich  einer  Hetäre,  geraten  und  bei  ihr  beobachtet 
hat;  'sie  durfte  nicht  schwanger  werden,  um  nicht  an  Wert  zu 
verlieren',  so  motiviert  er  sein  außergewöhnliches  Experiment, 
das  er  aus  persönlichem  Interesse  für  die  Besitzerin  des 
Mädchens  vornahm.  Noch  einmal  erwähnt  ein  Autor  seine  Er- 
fahrungen auf  diesem  Gebiet;  wiederum  kommen  Hetären  in 
Betracht,  aber  von  einer  Mitwirkung  des  Arztes  ist  dabei  nichts  ge- 
sagt: JIsqI  6aQX(ov  19(VIII610L.):  al  EzalQai  al  drj^66icci,aitLvas 
avTBCov  TCEnsiQrivTai  noXXdxig  .  .  .,  yLväöxovöiv  öxdrav  Xdß(oGiv 

*  IIkqI  yvvaiy..  I  72  a.  E.  (VIII  162 L.):  al  yccg  cpQ'OQa.l  x&v  toxov 
j^aXenöaxsQaL  sleiv  ov  yccg  ^ßri  (ir]  ov  ßiccioiii  (p&agfivai  to  ^^ßgvov  t] 
qpapftaxM  7)  jror«  7)  ßgatco  7)  ngoa^eroiöiv  7)  aXXco  rivi'  ßir)  di  novriQÖv 
iöTiv .  iv  reo  toiovrco  8h  Kivdvvog  icri  tag  /iTjrpag  iXx(o&r]vai  rj  qjisy^^vai. 
rovTO  dh  intxivSvvov  iart.  Sicherlich  anders  geartet  sind  die  Worte  VllI  60: 
ovSbiutis  ßir}g  ixiysvo^iivrig  oidh  ßogfi'e  <5:»'«;rtr73J8iov,  wozu  vgl.  VIII  66; 
jjv  7)  yvvT}  iv  yaßtgl  ?;uot;ffa  .   .  .  &x^°S  ßii[}  &eigj). 

*  Vgl.  VIII  142  f.  184  flf.  466:  'qv  dh  yvvi]  ixTirgdoßxjj  äixovaa  xal  ^jj 
^ilf)  ixßäXXeiv  {d-iXjj  bedeutet  hier  soviel  wie  Svvi^rat). 

^  Ch.  Robin  bei  Littre  VII  463 ff.;  vgl.  Vlll  57 7 L. 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  13 

iv  yaörgC  '  xansix'  evöia^d-sCgovöiv  ■  Izsiöäv  da  ^^)j  diacp^agfu 
ixzC:itec  a6:csQ  öap|.  Wie  das  Folgende  beweist,  führt  er  diese 
Dinge  nur  an,  um  die  Heptadentheorie  daran  zu  knüpfen.  Der 
Gesamteindruck  ist  unbestreitbar  der,  daß  die  wissenschaftliche 
Medizin  der  Hippokratiker  mit  den  ip^ögia  nichts  zu  tun  hat 
und  zu  tun  haben  will,  und  daß  sie  auch  prophylaktisch  nicht 
abortieren  läßt,  sondern  nur  nach  bereits  erfolgtem  Absterben 
der  Frucht  eingreift.  Auch  über  dvoxia  zur  Verhinderung  der 
Konzeption  erfahren  wir  von  diesen  Fachmännern  so  gut  wie 
nichts^,  dagegen  zahlreiche  Ratschläge  und  Mittel  {xvtjtijqio) 
für  deren  Herbeiführung  (s.  X  532 L.  u.  d.  W.  conception).  Es 
scheint  mir  angebracht,  diesen  Sachverhalt  vielfach  verbreiteten 
anderen  Anschauungen  gegenüber  einmal  ausdrücklich  fest- 
zustellen 

Wir  wenden  uns  nunmehr  noch,  um  die  Entwickelung  zu 
skizzieren,  der  nachsoranischen  Zeit  zu  und  beschränken  uns 
hier  auf  das  Sammelwerk  des  Aetios  von  Amida  aus  dem 
sechsten  Jahrhundert,  das  auf  der  kompilatorischen  Tätigkeit 
der  römischen  Kaiserzeit  beruht.  Das  letzte  (XVI.)  Buch  seiner 
^ laxQv^ä  ßißlCa  umfaßt  die  Gynäkologie,  für  uns  kommen  die 
sechs  Kapitel  16 — 21  in  Betracht.  Sie  behandeln,  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  Prophylaxe  gegen  Schwergeburt,  Maßregeln 
und  Mittel  zur  Verhütung  der  Konzeption  {aTÖxia)  und  für 
Abtreibung  {q^ogia),  sowie  im  Anschluß  daran  den  spontanen 
Abortus.  Die  beiden  Sorankapitel  I  18  und  19  sind  größtenteils 
aufgenommen,  ohne  strenge  Beibehaltung  des  Wortlautes  oder 
der  Reihenfolge,  manches  davon  nur  im  Exzerpt;  dagegen  hat 
Aetios  seine  Kapitel  17 — 19  beträchtlich  erweitert,  Kap.  20  und 
21  sind  überhaupt  nicht  aus  Soranos.  Was  uns  Aetios  Neues 
überliefert,  sind  in  Kap.  17  und  18  eine  große  Anzahl  weitere 
dröxia  und  cp^ogia.    Man  erkennt  sogleich,  daß  sie  meistenteils 


»  VUI 170  (vgl.  VII  414):  'Aroxiov  ■  rjp  (iri  8ej]  (»ily  die  ParaUelst^Ue) 
xvioxEcd'ai,  iilevog  oaov  xvauov  dialg  vdari  nuiv  dovvai,  xal  ivucvibv  mg 
inog  siTietv  ov  xviexsrai,.     Das  ist  alles. 


14  Johannes  Ilberg 

einer  ganz  anderen  Sphäre  entsprungen  sind  als  dem  streng 
wissenschaftlichen  Geiste  und  der  Vorsicht^  des  bedeutenden 
Arztes  aus  Ephesos.  Gewisse  Unterströmungen  der  Heilkunde, 
die  zwar  stets  vorhanden  waren,  aber  von  den  großen  Medizinern 
fast  immer  bekämpft  worden  sind,  machen  sich  bei  Aetios  sehr 
stark  geltend.  Es  ist  eine  ähnliche  Entartung  der  Medizin,  wie 
wir  sie  z.  B.  ein  Jahrhundert  früher  im  Westen  bei  dem  Gallier 
Marcellus  Empiricus  beobachten  können,  der  neben  wissen- 
schaftlichem Material  in  seinem  Doctorbuch  zur  Freude  des 
Kulturhistorikers  viel  Volkstümliches  verzeichnet.  Soranos  hatte 
die  Amulette  abgelehnt  (S.  232,  16):  ol  dh  xccl  itEQidnxons 
iXQTJöavto  TioXXä  ta  tfjg  avtina^sCag  X6y(p  noulv  vo[iC^ovt£s, 
hv  olg  uriXQag  rj^iövcsv  xal  rbv  iv  tolg  G)6l  qvtcov  avrcSv  xal 
äXXa  TcXsCova  tovxcov,  ansQ  hjtl  xav  aTCoxsXsG^axcav  (paCvovxav 
ilfsvdrj.  Bei  Aetios  tauchen  diese  und  Ähnliches  wieder  auf, 
z.  B.  Kap.  17  S.  20  Zervos:  '^  Gegen  Empfängnis  (äövXXrjnxov): 
Die  Leber  vom  Wiesel  trage  man  in  einer  Röhre  am  linken 
Fuße  oder  die  Hoden  desselben  Tieres  in  einer  Röhre  an  der 
Nabelgegend.'  —  'Fett  vom  Uterus  der  Löwin  trage  man  in 
einem  Büchschen  von  Elfenbein,  das  ist  sehr  wirksam.'  — 
'Bilsenkrautsamen  sammle  man  vom  Kraute  ab,  bevor  er  auf 
die  Erde  fällt,  verreibe  ihn  mit  Eselsmilch  samt  ein  wenig 
Myrrhe  und  einem  Samenkorn  schwarzen  Efeus  oder  seiner 
Traube,  hülle  es  in  Hasen-,  Maulesel-  oder  Hirschhaut  und 
trage  es  bei  sich.  Das  Amulett  darf  jedoch  durchaus  nicht 
die  Erde  berühren.'  —  'Den  ersten  Zahn,  der  einem  Kinde 
ausgefallen  ist,  aber  die  Erde  nicht  berührt  hat,  möge  die 
Frau  in  einem  Ringe  an  sich  tragen  oder  den  Steinbruchs- 
wurm (xbv  ix  XaxonCov  öxaXrjxa,  ist  vielleicht  ein  Fossil  ge- 
meint?) als  Amulett.'  —  'Bilsenkrautsamen  verreibe  man  mit 
Milch  einer  Stute,  die  ein  Mauleselchen  säugt,  hülle  es  in  Hirsch- 


*  Die  von  Soran  S.  232,  3  flf.  aus  älteren  Quellen  angeführten,  aber 
wegen  ihrer  Schädlichkeit  ausdrücklich  verworfenen  Mittel  erscheinen  bei 
Aetios  S.  19,  13  S.  Z.  meistenteils  wieder,  ohne  daß  dieser  vor  ihnen  warnte. 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  15 

haut,  befestige  es  am  linken  Arm  und  sorge,  daß  es  nicht 
zu  Boden  fällt.'  —  Kap.  18  S.  23,  15Z.:  'Kömer  vom  wilden 
Feigenbaum,  sobald  sie  von  selbst  herausspringen,  in  einem 
Tuch  aufgefangen,  damit  sie  die  Erde  nicht  berühren, 
sind  als  Amulett  ein  Abortivum  {(p&ÖQiovy.  —  Der  wiederholt 
auftretenden  Vorschrift,  das  Amulett  oder  seine  Bestandteile  vor 
Berührung  mit  der  Erde  zu  hüten,  muß  eine  bestimmte  An- 
schauung zugrunde  liegen.  Soranos  beginnt  seinen  wichtigen 
Abschnitt  IleQl  t^s  tov  ßQi(povg  ixifieXeCag  mit  den  Worten 
(S.  248,  14):  ii  tolvvv  ^ala  xo  ßQeq)og  dTiodala^dvr,  :tQ6r£Q0v 
sig  rriv  yfjv  axon^iG^a  7CQ0s:tt&soQrj6a6a,  tcöxsqov  ocqqsv 
t6  ä:tox£xvrj}iEvov  köxlv  ^  ■O'^Av,  kuI  xa^cig  yvvaiiiv  e&og 
ä%o6riyLaivixc3  j  xaxavosCxco  ds  xal  ngöxegov,  el  slg  ävaxQOtpilv 
löXLv  ijiLxridsiov  i]  ovda^cog.  Sie  erkennt  die  Lebensfähigkeit 
des  Neugeborenen  u.  a.  (S.  249, 5)  ix  tov  xs^sv  krcl  yfig  sv&icog 
avxb  xXav^iivQCöai  yiBxu  xovov  xov  TiQoörlxovxog.  Der  Über- 
setzer Muscio  sagt  in  dem  Paragraphen  über  das  Durch- 
schneiden der  Nabelschnur  (I  78,  S.  28,  20  R.):  cum  modke 
infans  requieverit  in  terra}  Albrecht  Dieterich  hat  bekanntlich 
den  weitverbreiteten  Volksglauben,  daß  das  Kind  nur  dann  am 
Leben  und  gesund  bleibt,  wenn  es  von  der  Erde  aufgehoben 
wird,  in  seiner  'Mutter  Erde'  ausführlich  behandelt.  Die 
Amulette  bei  Aetios  bezwecken  nun  gerade  das  Gegenteil 
von  ßQsq:ovg  imniXsia,  sie  sollen  die  Empfängnis  verhindern 
und  die  Frucht  vernichten.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  daß 
aus  diesem  Grunde  ihre  oder  ihrer  Bestandteile  Berührung 
mit  der  Mutter  Erde  vermieden  werden  soll. 

Daß   die   ärztliche  Literatur  dieser  Jahrhunderte  keinerlei 
Abnahme   der  betreffenden  Mittel  erkennen  läßt,  sondern  eher 


*  Inschrift  von  Smyma  des  dritten  Jahrh.  n.  Chr.  (Kaibel    Epigr. 
gr.  ex  lap.  conl.  nr.  314): 

^riTQog  vTi  ädivccv  ag  slg  tpdog  fifayov  ^Slgat^ 
ix  yair^g  tis  7taTT}Q  iaog  £i>lcirTO  Jjfßöi  ysyr^&ag 
xai  if,'  u-xiXovCh  'kv^qov  xal  iig  G-xäqyavä  ft'  avxhg  JOt^x«». 


16  Johannes  Ilberg 

das  Urogekelirte  zutrifft,  läßt  sich  nicht  leugnen  (vgl.  auch 
Aet.  XVI  31  u.  32,  S.  46,  6.  16 Z.).  Die  Scheu  vor  der  höchst 
gefährlichen  Embryotomie  hat,  wie  Aetios  selbst  sagt^,  dazu  ge- 
führt, jene  Rezepte  immer  wieder  zu  verordnen,  wenn  es  die  Körper- 
beschaffenheit der  Frau  ratsam  erscheinen  ließ.  Dem  Hebammen- 
buch des  Muscio,  welches  Soranische  Lehre  meist  katechetisch  in 
mittellateinischer  Form  überliefert,  einem  sehr  einflußreichen 
Werkchen,  sind  die  bei  Aetios  zu  findenden  Erweiterungen 
übrigens  ferngeblieben;  seine  gewiß  auch  jetzt  noch  zu 
billigende  maßvolle  Beantwortung  der  Frage:  Oportet  nos 
rebus  aborsoriis  uti?  hat  den  späteren  Zeiten  vermöge  seiner 
trefflichen  Quelle  gerade  den  Standpunkt  vermittelt,  den  die 
antike  Wissenschaft  auf  ihrer  Höhe  vertreten  hatte.^  Was 
ohne  deren  Verantwortlichkeit  Frivolität  und  Habsucht,  aber 
auch  philosophischer  und  sozialpolitischer  Doktrinarismus 
sich  haben  zu  schulden  kommen  lassen,  muß  jetzt  unerörtert 
bleiben;  die  Anweisungen  einer  Lais  und  Elephantis,  über  die 
Plinius  spottet^,  die  (pccQfiaxa  cc^ßXati'nd^  und  d^ißXcod-QidLa^ 
so    vieler    Quellen     dürfen    wir     für     unseren     gegenwärtigen 

^  Aet.  XVI  16  S.  17,  21 Z.:  alg  itoXXcp  ftev  aiLSivöv  iexi  xo  (li]  6vX- 
Xaßsiv  sl  3h  ccqu  avXXdßoi,  ßEXriov  ißri.  rov  i^ßgvoTOfirid'fivai  t6  cp^slgai. 
dib  ScKoXovd'uv  iöTi  ^eqI  cfd^ogicov  diaXocßeiv  nal  ätOKiav. 

*  Gynaecia  Muscionis  1  57  (S.  20,  1  Rose).  Im  Bruxellensis  (s.  IX/X) 
des  Muscio  ist  auf  fol.  16  v  zu  111  S.  8,  13  von  erster  Hand  folgende 
spätere  Bemerkung  hinzugefügt:  Ad  partum  eiciendum  has  caracteras 
facis  in  crusca  de  pane  et  ligas  ad  coxani  dexteram  JXH  et  cum  se 
liberaverit,  cicius  dissolvis.    Das  bezieht  sich  auf  Beförderung  der  Geburt. 

^  Plin.  Nat.  bist.  XXVIII  81 :  Quae  Lais  et  Elephantis  inter  se  con- 
traria prodidere  .  .  .  monstrifica  aut  inter  ipsa  pugnantia,  cum  haec 
fecundidatem  fieri  isdem  modis,  quibiis  sterilitalem  illa,  praenuntiaret, 
melius  est  non  credere. 

*  Gal.  VIIIA  799:  xo  S'  Sc^ßX^a^KSiv ,  iaag  ydg  rig  Scyrost  kccI  tovt' 
aitö,  xara  r^g  SctsXovg  tcov  i^ißgitov  i^tTttmOBrng  inicpeQOvaiv ,  OTiag  av  j] 
yByovvla  (also  von  spontanem  Abortus  ebenso  wie  von  künstlichem),  y.a\ 
xa  q>dQiiaxcc  äh  xd  xovx'  i^ya^ö^ieva  -KaXoveiv  ä^ßXoiXLKd. 

'  Gal.  II 183,  XII 130,  XVII A  636;  Aret.  Morb.  acut.  II 11;  Suid.  s.  v. 
&nßX(od-Qidiov  usw.  H.  Diels  (brieflich)  weist  hin  auf  Lysias  fr.  8  Th. 
(Rabe,  Rh.  Mus.  LXIV  576,  7). 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  Griechen  17 

Zweck  ebenso  beiseite  lassen,  wie  Piaton  und  Aristoteles  oder 
die  Stoiker. 

Das  Vorstellende  ist  nur  deshalb  niedergeschrieben,  um 
einer  einseitig  ungünstigen  Auffassung  der  sexuellen  Ethik  des 
griechischen  Altertums  entgegenzutreten.  Wenn  wir  heute  ge- 
wohnt sind  —  oder  uns  gewöhnen  sollten  — ,  in  medizinischen 
Fragen  das  Urteil  der  medizinischen  Wissenschaft  als  suprema  lex 
anzuerkennen  —  ich  erinnere  nur  an  das  so  lange  Zeit  anderen 
Einflüssen  unterworfene  Gebiet  der  Gehirnkrankheiten  — ,  so  ver- 
danken wir  das  zum  großen  Teil  der  hellenischen  Wissenschaft. 
Sie  ist  es  gewesen,  wie  ich  gezeigt  zu  haben  hoffe,  die  auch 
das  höchst  ernsthafte  Problem  der  Fecoudite  aufgegriffen  und 
wenigstens  theoretisch  in  anzuerkennender  Weise  gelöst  hat. 
W^ir  wissen  nicht,  wer  die  hellenistischen  Vorgänger  des  ephesi- 
schen  Arztes  gewesen  sind,  auf  die  er  sich  beruft  und  denen  er 
zustimmt  (ctg  xal  ruislg  6vvaLvov(isv),  aber  wir  vermögen  uns 
vorzustellen,  wie  sie  durch  das  Anwachsen  des  Beobachtungs- 
materials und  ihre  vorwärtsschreitende  Forschung  dazu  gelangten, 
ein  verständiges  Kompromiß  zu  schließen  zwischen  der  archaischen 
Gebundenheit  der  Hippokratiker  und  dem  gewissenlosen  Leicht- 
sinn der  Decadence;  schade,  daß  Soranos,  dem  Charakter  seines 
Buches  entsprechend,  nur  so  wenig  von  ihnen  berichtet.  Daß 
religiöse  Einflüsse  irgendwelcher  Art  für  sie  mitbestimmend  ge- 
wesen wären,  läßt  sich  nicht  erkennen;  anderseits  jedoch  darf 
nicht  unbeachtet  bleiben,  daß  die  beiden  Kultinschriften,  an  die 
wir  am  Anfang  angeknüpft  haben,  einiges  medizinische  Ver- 
ständnisvoraussetzen. Warum  soll  die  heilige  Stätte  erst  vierzig 
Tage  nach  der  Einnahme  bezw.  Wirkung  von  q:9oQ£la  {—  q^d^ogia) 
d.  h.  Abtreibemitteln  betreten  werden,  wie  die  rhodische  Vor- 
schrift verlangt,  oder  erst  die  gleiche  Frist  nach  spontaner  oder 
künstlicher  Fehlgeburt  {(p&oQci)  laut  der  attischen?  Die  vierzig- 
tägige Frist  begegnet,  wie  Wide  am  Schluß  (S.  232)  bemerkt, 
noch  wiederholt,  und  zwar  in  der  mindestens  zwei  Jahrhunderte 
älteren  Tempelinschrift  von  Eresos  (Leges  Graec.  sacr.  II 1  n.  117) 

Archiv  f.  ReligionswiseenscbAft  XIII  2 


13  Johannes  Ilberg 

mit  Bezug  auf  eine  Wöchnerin:  avtav  8s  \räv  tstö^xoiöuv  cc[iFQ(xig 
TSßöccQccxovta  und  ferner  in  einer  hellenistischen  aus  Ägypten 
(Rev.  arch.  1883  I  181):  «ä'  ixtQCJöiiov  yt,'.  Ziehen  (a.  a.  0. 
S.  305,  18)  hat  bereits  auf  Censorinus,  De  die  nat.  11,  7  hin- 
gewiesen: post  partum  qiiadraginta  diebus  pleraeque  fetae  graviores 
sunt  nee  sanguinem  interdum  continent  .  .  .  cum  is  dies  praeteriit, 
diem  festum  solent  agitare,  quod  tempus  appellant  tseesQaxoöTcciov] 
die  vierzig  Tage  sind  also  der  runde  Zeitraum,  nach  dessen 
Ablauf  der  Wochenfluß  für  beendet,  die  Frau  auch  physiologisch 
wieder  als  rein  gelten  kann.^  Ob  es  sich  empfiehlt,  für  diese 
auf  natürlicher  Grundlage  beruhende  *  Sechs wochenzeit'  von 
rund  vierzig  Tagen  jüdischen  Einfluß  anzunehmen,  beurteile 
ich  nicht  weiter,  besonders  da  die  Frage  von  W.  H.  Röscher 
in  einer  größeren  Abhandlung  über  die  Tessarakontaden  bei  den 
Griechen  mit  bekannter  Gelehrsamkeit  behandelt  ist,  die  in  den 
Berichten  der  Kgl.  Sachs.  Gesellsch.  der  Wissensch.  (Bd.  LXI)  dem- 
nächst erscheinen  wird.^  Wer  die  Inschriften  überblickt,  wird 
wohl  überhaupt  nicht  begreifen,  wie  man  sie  als  Belege  für 
die  Verpönung  der  Kindesabtreibung  bei  den  Griechen  hat 
ansehen  können,  es  müßte  denn  auch  itf}dog  olxstov  verpönt 
sein,  wodurch  ebenfalls  vierzigtägige  Tempelsperre  hervorgerufen 
wird  (Inschr.  von  Lindos  Z.  13). 

Eine  moderne  Parallele  zu  den  geschilderten  Kontroversen 
des  Altertums  scheint  mir  nicht  geringes  Interesse  zu  haben; 
sie  ist  gegeben  durch  einen  Bericht  über  die  vorjährige  Tagung 
des  'Bundes  deutscher  Frauenvereine '.^    'Zwei  bedeutsame  Para- 


*  Hippokr.  VII  502  f. L.  etwas  abweichend  und  genauer:  ij  xd^agaig 
x&v  Xoxlcov  .  .  .  inl  (ihv  tfj  kovqi[]  yivzxai  iv  xsoeaQdnovxa  xai  Svotv 
il^iQjjGiv,  inl  dk  rä  ■kovqw  iv  Tpirjxo»"9''  rj^igT^atv  ij  XQ^vKOTärr]. 

"  Vgl.  auch  den  Prodromus  der  oben  zitierten  Schrift:  Röscher,  Die 
Zahl  40  im  Glauben,  Brauch  u.  Schrifttum  der  Semiten,  ein  Beitrag  zur 
vergl.  Religionswissenschaft,  Volkskunde  u.  Zahlenmystik.  (Abh&ndl.  der 
Kgl.  Sachs.  Ges.  d.  W.,  phil.-hist.  Kl.  XXVII  4,  Leipzig  1909.) 

^  Adele  Schreiber,  Die  Frauen  und  die  Strafrechtsreform  (Beil.  der 
Münchner  Neuesten  Nachrichten  27.  Okt.  1908  Nr.  101). 


Zur  gynäkologischen  Ethik  der  <}riechen  19 

graphen',  heißt  es  darin,  'deren  Härte  allein  die  Frau  triffi, 
217  und  218  (Kindsmord  und  Vergehen  gegen  das  keimende 
Leben),  \mrden  in  einer  siebenstiindigen,  ununterbrochenen 
Sitzung,  leider  unter  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  verhandelt. 
Es  ist  dies  besonders  zu  bedauern,  weil  die  Verhandlungen 
außerordentlich  interessant  waren,  und  vor  allem  Frau  Camilla 
Jellinek,  die  Gattin  des  berühmten  Heidelberger  Juristen,  in 
einem  geradezu  meisterhaften  Referate  die  Straflosigkeit  der 
Abtreibung  befürwortete  ...  Es  stehen  sich  bezüglich  der 
Straflosigkeit  der  Abtreibung  zwei  Richtungen  gegenüber  .  .  . 
Wenn  die  Korreferentin,  Dr.  Agnes  Bluhm,  als  Arztin  für  die 
Beibehaltung  der  Strafe  eintrat,  so  hat  sie  wohl  einer  ehrlichen 
persönlichen  Überzeugung,  nicht  aber  der  allgemeinen  Anschauung 
der  Ärzteschaft  Ausdruck  verliehen  .  .  .  Auf  der  Breslauer  Tagung 
konnte  in  dieser  Frage  leider  die  fortschrittliche  Richtung  nicht 
durchdringen;  eine  starke  Majorität,  geleitet  von  konfessionellen 
und  konventionellen  Gesichtspunkten,  von  einer  die  eigentlichen 
Tatsachen  übersehenden  landläufigen  Moral,  und  von  bestimmten, 
wenig  haltbaren  Argumenten  nationalistischer  Art,  wehrte  sich 
gegen  die  Forderung  der  Straffreiheit.  Es  gelangte  lediglich 
ein  Antrag  zur  Annahme,  daß  die  Abtreibung  straflos  bleiben 
soll  1.  wenn  Gefahr  für  das  Leben  der  Mutter  vorliegt,  2.  wenn 
zu  erwarten  ist,  daß  das  Kind  geistig  oder  körperlich  schwer 
belastet  ins  Leben  treten  wird,  3,  in  festgestellten  Fällen  von 
Vergewaltigung.'  —  Das  erinnert,  wenn  wir  den  juristischen 
Gesichtspunkt  beiseite  lassen,  lebhaft  an  Soranos.  Er  hätte 
gewiß  diese  Resolution  unterschrieben,  und  die  Vertreterinnen 
des  sogenannten  'Fortschritts'  von  heute  müssen  ihren  Tadel 
auch  auf  ihn  und  seine  antiken  Gesinnungsgenossen  übertragen. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel 

Von  I.  Goldziher  in  Budapest 
I 

In  der  poetisclien  Literatur  der  Araber  wird  dem  be- 
trauerten Verstorbenen  der  Wunsch  gewidmet,  daß  seine  Grabes- 
stätte stets  durch  reichlichen  Regen  getränkt  werden  möge. 
„Mögen  über  dir  die  Donnerwolken  und  Blitze  freigebig  sein."^ 
Dem  entspricht  anderseits  die  Verwünschung,  daß  die  Gräber 
der  Feinde  oder  der  Bösen  „von  den  Wolken  nicht  getränkt 
werden  mögen."  ^  Will  jemand  sich  dem  guten  Andenken 
seiner  Freunde  empfehlen,  so  kann  er  dies  auch  so  ausdrücken: 
„Wenn  ihr  vor  meinem  Grabe  vorüberkommt,  haltet  an  und 
begrüßet  es  und  sprechet:  „0  Grab,  möge  Gott  dich  mit 
Regen  tränken."'^ 

Bis  in  die  neueste  literarische  Dichtkunst,  in  der  die 
alten  Formen  sklavisch  nachgeahmt  werden,  hat  sich  diese 
Eigentümlichkeit  der  altarabischen  Poeten  unverändert  erhalten. 
In  einer  poetischen  Betrachtung  am  Grabe  Voltaires  stellt 
ein  junger  arabischer  Dichter,  Hilmi  Efendi  Misri,  die  Frage: 
„Woher  kommt  es,  daß  niemand  für  dich  um  göttliche  Barm- 
herzigkeit bittet  und  für  dein  Grab  niemand  den  tränkenden 
Regenguß    herbeiwünscht?"*     Wir    sehen,    wie    zäh    und    un- 


*  Aghänl  XIX  86,  9  v.  u.  ("Abid);  ibid  83,  8  v.  u.  Häufig  mit  Um- 
Bchreibungen,  z.  B.  Amäli  al-Krdt  (ßüläk  1324)  II  329,  5  v.  u.  III  230, 
8  —10.    Einen  Hinweis  auf  Beispiele  gibt  R.  Geyer  in  Memnon  I  (1907)  200. 

'  Gerir  in  Nalä'id  ed.  Bevan  II  443  ult. 

*  Opuscula  arahica  ed.  Wright  115,  4  v.  u. 

*  Arab,  Zeitschrift  al-Masrik  IX  (1906)  1061. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  21 

verwüstlich  der  Ausdruck  der  altarabiscften  Vorstellung  in  der 
gebildeten  Poesie^   der  neuesten  Zeit  fortlebt. 

Freilich  war  sie  schon  im  V.  Jhd.  d.  H.  Gegenstand 
der  Kritik  des  feinsinnigen  Abu-l-'Alä  al-Ma'arri,  der  selbst 
die  Dichtkunst  alten  Stiles  pflegte:  „Was  frommt  es  dem 
Menschen  —  sagt  er  —  daß  die  Wolken  auf  ihn  herabströmen, 
wenn  er  unter  einer  Grabesplatte  liegt?  Wäre  die  Nähe  des 
Wassers  wirklich  wünschenswert,  so  würden  die  Menschen 
um  ein  Grab  im  Sumpf land  wetteifern."^  Eine  Antwort  auf 
diese  Frage  gibt  jedoch  noch  heutigentages  die  Sitte  der 
Tijäha-Beduinen,  die,  wie  P.  Antonin  Janssen  berichtet,  ihre 
Toten  nach  Muwejlih,  zwei  bis  drei  Tage  von  ihren  Lager- 
plätzen entfernt,  zu  Grabe  bringen:  „weil  es  dort  Wasser 
gibt",  d.  h.  nach  der  Erklärung  der  Beduinen:  „weil  sich  die 
Toten  in  der  Nähe  des  Wassers  besser  befinden."' 

Jedoch  bereits  in  vorislamischer  Zeit  ist  die  ursprüngliche 
Bedeutung  der  Phrase  den  Dichtern,  die  sie  gebrauchen,  nicht 
mehr  bewußt.  Sie  ist  in  ihrem  Munde  bereits  kaum  mehr  als 
poetischer  Schmuck  Man  hat  sie  in  verschiedener  Weise  zu 
erklären  versucht.  Der  Philologe  Ihn  Ginni  folgert  aus  dem 
Zusammenhang,  in  den  der  vorislamische  Dichter  Näbigha 
den  Wunsch  nach  Tränkung  des  Grabes  mit  dem  andern  setzt, 
daß  das  Grab  von  üppiger,  duftiger  Vegetation  umgeben  sei*. 


'  In  den  heutigen  volkstümlichen  Klageliedern  scheint  sie  nicht  ver- 
wendet zu  werden;  wenigstens  ist  sie  in  den  betreffenden  Proben  bei 
Littmann  {Neuarabische  Volkspoesie  [Berlin  1902]  27  —  31,  44  —  56)  und 
Dalman  (Palaestinischer  D'ivcün  [Leipzig  1901]  316  —  334)  ebensowenig 
zu  finden  wie  in  den  jüngst  von  Besära  Semäli  (in  Anthropos  IV  37  —  53 
Moeurs  et  üsages  au  Liban)  mitgeteilten  Klageliedern.  Das  Gedicht  bei 
Socin  Dlicän  aus  Centralarabien  (Leipzig  1900)  Nr.  105  v.  1  gehört  nicht 
in  die  Reihe  volkstümlicher  Poesie. 

-  Luzüm  mä  lä  jalzam  bei  Kremer  Ibn  Chdldün  und  seine  Kultur- 
geschichte der  islamischen  Beiche  61  (Sitzungsberichte  der  Wiener  Ak.  d. 
W.  Phil.  Hist.  Kl.  XCni  639). 

"  Janssen  Coutumes  des  Arahes  au  pays  de  Modb  (Paris  1908) 
99  unten. 

*  Ed.  Ahlwardt  21,  26  — 28. 


22  I-  Groldziher 

„daß  im  Sinne  der  alten  Araber  die  Bedeutung  des  Regen- 
wunsches für  die  Gräber  darin  zu  finden  sei,  daß  durch  die 
das  Grab  umgebende  Vegetation  die  Menschen  zur  Nieder- 
lassung und  zum  Aufenthalt  daselbst  veranlaßt  werden."  *  Diese 
Zusammenstellung  ist  bei  Näbigha  nicht  vereinzelt^;  als  Bei- 
spiel dafür  kann  man  noch  aus  späterer  Zeit  einige  Zeilen  aus 
dem  Trauergedicht  des  zu  Beginn  des  Chalifates  dichtenden 
Mutammim  b.  Nuwejra  anführen,  das  auch  in  der  Über- 
setzung Nöldekes  zugänglich  ist: 

„Möge  Gott  das  Land,  in  dem  Mäliks  Grab  liegt,  mit  den 
Güssen  der  dunkeln  Morgenwolke  tränken  und  es  frucht- 
bar machen 
„Und    besonders    dem    Rinnsal    der    Doppelschlucht    ein 
Schauer  geben,   das   als   Erstling  von  den  Pflanzen  so- 
gleich den  Wunderbaum  üppig  emporsprießen  läßt."^ 
In   diesem  Sinne   wäre   der   den  Verstorbenen   gewidmete 
Wunsch  gleichbedeutend  mit  dem  für  den  Lebenden  häufig  ge- 
brauchten Segensspruch,  daß  er  (oder  sein  Land*)  immer  „Be- 
wässerung und  Weide"  habe  (sakjan-wa-ra'jan)^;   dem  ander- 
seits  die   gegnerische   Formel   gegenübersteht,   daß   der  Feind 


^  Bei  'Okbari,  Komment,  zum  Diw.  Mutandbll  (Kairo  1308)  II  24. 

*  Vgl.  z.  B.  Aus  b.  Hagar,  Gedichte  und  Fragmente  ed.  R.  Geyer 
32,  16—17. 

'  Nöldeke  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Poesie  der  alten  Araber  100. 
106  (v.  25.  26).  Dieses  Motiv  des  Wunsches  scheint  ausdrücklich  an- 
gegeben zu  sein  in  einem  Gedicht  der  Chansä  {Anis  al-gulasä  —  Beirut 
1888  —  40,  1);  die  Zeile  macht  den  Eindruck  einer  erklärenden  Inter- 
polation. 

*  Zu  solchen  arabischen  Versen  stellt  der  jüdische  Exeget  Moses 
b.  Chikitilla  aus  Cordova  (Mitte  XI.  Jhd.)  in  seinem  Psalmenkommentar 
die  Psalmenstelle  68,  10. 

"  Lebid  Ditvän  17,  54  —  56  (ed.  Chälidi  127,  15)  Ibn  Kajs  al- 
Eukajjät  ed.  Rhodokanakis  53,  4;  Jäküt  II  343,  22.  Al-Asma'i,  Kitäb 
al-  därät  ed.  HaflFner  (Dix  anciens  trait^s  de  philologie  arabe,  Beirut  1908) 
6,  5;  vgl.  Socin  Diwan  aus  Centralarahien  Nr.  70  v.  20.  Geschichte  von 
Sul  und  Schumul  ed.  Seybold  (Text)  4,  9.  —  Eine  ganze  Serie  von  Ort- 
schaften aufgezählt  Aghätii  XVII  69.  12—14. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  23 

(oder  der  unfreundliche  Boden)  dieses  Segens  entbehre.^  0§^- 
zu  letzterem  IL  Sam.  1,  21).  Der  Wunsch  gewinnt  bald  eine 
so  allgemeine  Anwendung,  daß  der  verliebte  Tauba  b.  Humejjir 
selbst  der  girrenden  Taube  den  Wunsch  spendet:  „möge 
dich  Yon  den  hellen  Morgenwolken  die  segenbringende  tränken" - 
und  ein  anderer  Dichter,  Xusajb,  denselben  Wunsch  dem 
„Adler  und  seinem  Horst"  zuruft.^ 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  der  den  Gräbern  der 
Verstorbenen  zugesprochene  Segenswunsch  ursprünglich  eine 
solche  Bedeutung  habe.  Den  Dichtern  waren  eben,  wie  auch 
in  bezug  auf  andere  Anschauungen  des  alten  Heidentums,  die 
ursprünglichen  Beziehungen  der  Phrasen,  deren  tJberlieferer 
sie  sind,  abhanden  gekommen.  Sie  benutzen  sie  zuweilen  bloß 
im  Sinne  überlieferter  Formeln  und  zeigen  durch  die  ver- 
ständnislose Art  ihrer  Anwendung,  daß  ihnen  der  ursprüngliche 
Sinn  nicht  mehr  gegenwärtig  ist;  wie  wenn  z.  B.  in  unserem 
Falle  ein  älterer  Dichter  den  Regen  für  das  Grab  des  Freundes 
geradezu  als  verheerenden  Gewitterregen  herbeiwünscht.*  Zu- 
weilen geben  sie  der  überlieferten  Phrase  metaphorische  Wen- 
dungen, indem  sie  dadurch  das  dem  lebendigen  Yorstellungs- 
kreise  bereits  Abgestorbene  durch  Umdeutung  dem  Verständnisse 
näher  bringen.  Die  Dichter  der  späteren  Perioden  geben  dem 
Regenwunsche  häufig  die  symbolische  Wendung,  daß  das  Grab 
ebenso  freigebig  vom  Regen  bedacht  werden  möge,  wie  der  in 
demselben  ruhende  Wohltäter  während  seines  Lebens  den 
Regen  seiner  Gaben  —  ein  in   der  arabischen  Poesie   häufiges 


*  Ibn  Kutejba  Poesis  ed.  de  Goeje  188,  6:  Gamhara  130,  13;  Lisän  I 
173,  2  ff.  s.  V.  nau';  JäMt  III  886  ult.  IV  250,  12;  im  Trauergedicht  {3Iarätj 
satca'ir  al-'arab,  Beirut  1897,  I  93  al.)  wird  diese  Terwünschung  dem 
Mörder  des  Betrauerten  zugedacht.  —  Der  positive  und  negative  "Wunsch 
in  demselben  Gedichte  (Kajs  b.  Darih)  AghUnl  YUI  131,  10.  20;  an 
letzterer  Stelle  ist  für  hagarät  vorzuziehen  die  Lesart  haragät,  Lisän 
8.  V.  hrg  II  58. 

-  Aghänl  X  69,  5  Ibn  Kutejba  1.  c.  270,  2. 
2  Agh.  I  129  ult. 

*  Hudajlit.  165,  6 ff. 


24  I-  Goldziher 

Bild  —  spendete.'  Diese  Vergleichung  kann  sicli  dann  ge- 
radezu zur  Ablehnung  des  Wunsches  nach  dem  Regen  steigern: 
„Ich  ersehne  nicht  Regen  für  dein  Grab:  wie  könnte  es  durstig 
werden,  da  es  doch  ein  Meer  in  sich  schließt?"^  oder:  „es 
kann  einem  Grabe,  in  dem  dein  Körper  ruht,  nicht  schaden, 
wenn  an  seiner  Erde  der  Regen  nicht  vorbeikommt;  denn  deine 
reiche  Freigebigkeit  quillt  ja  in  dem  Sande  (des  Grabes)  und 
in  deiner  Nähe  wird  auch  der  Felsen  blühend."^  Und  die 
völlige  Bedeutungslosigkeit,  in  die  sich  die  alte  Phrase  vom 
Regen  auf  dem  Grabe  verflüchtigt  hatte,  kann  auch  daraus  an- 
schaulich werden,  daß  bereits  in  einer  relativ  frühen  Epoche 
der  arabischen  Poesie  das  Tränken  nicht  auf  den  Verstorbenen 
selbst  und  sein  Grab,  sondern  auf  sein  Gedenken  bezogen  werden 
konnte:  „Es  möge  jede  Erinnerung,  die  uns  an  Mu'ammal 
kommt,  trotz  der  Entfernung  getränkt  werden  durch  reichlich 
strömende  Wolken"*,  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Phrase  vom 
Tränken  des  Grabes  bereits  zur  allgemeinen  Segensformel  ge- 
worden war,  bei  der  sich  der  Dichter  wohl  gar  nichts  Be- 
stimmtes mehr  dachte.^ 

Am   stärksten  hat   sich  die  Auffassung  vom  Tränken  des 
Grabes    erhalten,    die    damit    die    Erquickung    der   laburgs- 


•  Mutanabbi,  Diwan  (Kairo  1308)  II  24,  7.  Im  Kommentar  des 
'Okbari  zu  diesem  Vers  werden  für  diese  Wendung  Parallelen  aus  anderen 
Dichtern  beigebracht.  Vgl.  auch  das  Trauerlied  des  Muhalhil  über  seinen 
Bruder  Kulejb  in  dem  Volksbuch  Kiiäb  Bekr  ua-  TagJilib  (Bombay  1305) 
42  ult.  takaka-l-ghajtu  innaka  kunta  ghajtan.  „Möge  dich  der  Regen 
tränken:  du  warst  ja  selbst  ein  Regen." 

*  Bejhal^i  Mahäsin  ed.  Schwally  375,  6. 

^  Kali  Amült  I  41,  13.  Eine  andere  Ablehnung  des  Regenwunsches 
für  die  Geliebte:  „Ich  verlange  für  sie  nicht  die  Tränkung  der 
Wolken:  in  meinem  Auge  ist  Ersatz  für  die  Tränkung"  (Thränen;  Di'bil 
ibid.  212,  6  v.  u.). 

■*  Muhammed  b.'Ka'b  al-Ghanawi  Gamhara  135,  Schlußvers. 

'  Dies  zeigen  auch  Wunschformeln,  in  denen  z.B.  der  Wunsch  des 
Getränktwerdens  auf  den  Schatten  (sakjan  li-zillika,  Kall  1.  c.  142,  1), 
oder  auf  die  vergangene  gute  Zeit  bezogen  wird:  „Möge  Allah  tränken 
Tage,  die  nicht  mehr  zurückkommen;  und  möge  Träukuug  treffen  die 
Zeit  der  'Ämiritin"  (ibid.  11.141,  9). 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  25 

bedürftigen  Gebeine  des  Toten  verbindet.  Sehr  früh  beziehen 
auch  die  Dichter  selbst  die  Bewässerung  des  Grabes  auf  die 
Labung  des  in  ihm  ruhenden  Toten  oder  seiner  Gebeine 
('izäm)  als  Gegenstand  des  Wunsches.^  Mit  Recht  bezweifelt 
Nöldeke  die  Ursprünglichkeit  auch  dieser  Deutung  des  Regen- 
wunsches.^ 

Die  islamische  Auffassung  findet  in  der  Beregnung  des 
Grabes  die  Manifestation  des  göttlichen  Wohlwollens  und  der 
göttlichen  Gnade.^  Dies  ist  als  religiöse  Umdeutung  zu  be- 
trachten. Im  Regen  offenbare  sich  —  und  dabei  handelt  es 
sich  nicht  um  seinen  Einfluß  auf  das  Gedeihen  der  Vegetation 
—  die  Gnade  und  Barmherzigkeit  Allahs.^  Daher  wird  in  den 
Sprachen  der  islamischen  Völker  der  Regen  häufig  mit  Namen 
benannt,  die  den  Begriff  der  Barmherzigkeit  (rahmat)  be- 
zeichnen. Für  die  poetische  Betrachtung  ist  schon  der  Blitz 
ein  freundlicher  Gruß,  weil  er  das  Eintreffen  des  Regens 
verheißt.^ 

Die  Tore  des  Himmels  werden  zur  Zeit  des  Regens  ge- 
öffnet;^ darum  sei  es  heilsam,  während  dieser  Zeit  zu  beten, 
da  die  Gebete  dann  die  Sicherheit  haben,  Erhörung  zu  finden 


^  Ganz  kurz  wie  eine  abgegriffene  Formel:  sakäka-1-ilähu  „möge 
dich  Gott  tränken"  in  Opuscula  arabica  ed.  Wright  112,  10. 

*  In  seinem  Artikel  Arabs  (Äncient)  in  Hastings'  Encyclopedia  of 
Religion  and  Ethics  I  672b:  Xöldeke  ist  geneigt,  der  hier  im  Namen 
des  Ibn  Ginni  angeführten  Deutung  den  Vorzug  zu  geben. 

*  Satirische  Behandlung  solcher  Traditionen  bei  Jäküt  Mu'gam 
al-udabä  ed.  Margoliouth  I  403. 

*  Vgl.  Wellhausen  Eeste  arabischen  Heidentums  \  181  Anm. 
®  Bevue  africaine  1909;  50  Anm.  2. 

^  tuftahu  abtcäb  al-samä.  Auch  im  Talmud  ist  vom  Schlüssel  des 
Regens  (mafte'ach  sei  gesämim)  die  Rede;  er  gehöre  zu  den  drei 
Schlüsseln,  die  Gott  unmittelbar,  nicht  durch  einen  Boten,  yerwalte 
(sellö  nimserü  li-seli'ach)  bab.  Tuanlth  fol.  2a.  Vgl.  vier  solcher  Schlüssel, 
darunter  mafte'ach  sei  mätär  (Schi,  des  Regens)  Midräs  Tanchumä  ed. 
Buber,  106.  155.  Die  islamischen  Parallelen  dazu  sind  im  Lbl.  für 
Orient.  Philologie  1887,  91  zusammengestellt;  dazu  noch  Musnad  Ahmed 
IV,  13. 


26  I-  Goldziher 

(wakt  istigäbat  al-du'ä).^  Auch  für  die  isticliära  (Gebet  und 
zauberähnliche  Gebräuche  für  die  Erzielung  heilsamer  Ent- 
schließungen) sei  eben  diese  Zeit  vorzugsweise  geeignet:  Gott 
werde  alsdann  sicher  die  heilsamsten  Entschlüsse  eingeben.* 

Man  setzt  sich  daher  gerne  dem  Regen  aus  und  läßt  ihn 
auf  sich  fallen;  so  wird  von  Abu  ~MOsä  al-As'ari  berichtet.^ 
Zumal  wenn  der  Regen  mit  anderen  weihevollen  Momenten 
kombiniert  ist,  wie  z.  B.  beim  mizäb  der  Ka'ba,  eignen  ihm  die 
Gläubigen  besonders  heilsame  Wirkungen  zu  und  lassen  sich  mit 
Eifer  von  ihm  treffen.^  Das  Erscheinen  der  Regenwolke  über  den 
Häuptern  der  Kriegführenden  vor  oder  während  der  Schlacht 
wird  als  Zeichen  göttlichen  Beistandes  gedeutet,^  Als  gutes 
Omen  für  einen  Verstorbenen  wird  es  betrachtet,  wenn  an  seinem 
Sterbetage  Regen  fällt.  Dies  gilt  nicht  nur  für  Bekenner  des  Islam. 
„Wenn  von  welcher  Religionsgemeinschaft  immer  (min  kuUi 
ummatin)  jemand  stirbt  —  so  heißt  es  in  einer  Tradition  — , 
der  bei  AUäh  einen  hohen  Rang  einnimmt,  sendet  Gott  Wolken 
an  seinem  Sterbetage,  als  Zeichen,  daß  er  ihm  seine  Sünden 
vergeben  hat  so  wie  denen,  die  für  ihn  das  Totengebet  ver- 
richten."® Deshalb  wird  in  der  Biographie  des  frommen 
Mannes  gerne  als  abschließender  Vorzug  erwähnt,  daß  zur  Zeit 
seines  Begräbnisses  reichlicher  Regen  gefallen  sei.'  Der  Wunsch, 
daß  das  Grab  mit  Regen  getränkt  werden  möge,  formt  sich  im 
Sinne  dieser  Anschauung  zu  dem  Segensspruche  aus:  „möge 
Gott  seine  Ruhestätte  mit  den   Reffengüssen  der  Sünden- 


^  Aus  Kitdb  al-umm  des  Säfi'"i  zitiert  bei  Nawawi,  Ädkar  (Kairo 
1312)  82;  eine  Reihe  von  Haditen  in  Kenz  al-ummal  1,  175  nr.  3388—44; 
3389. 

*  Ibn  Tejmijja,  Rasä'il  (Kairo  1323)  I  237,  3. 
"  Ihn  Sa'd,  IV,  I,  82,  6. 

*  S.  die  IJeschreibung  bei  Ibn  Gubejr,  Travels*  118.  119. 
^  S.  meine  Abhandlungen  zur  arab.  Philologie  I  191. 

"  Bei  Subki,  Tabakdt  al-Süfi^yja  IV,  91  unten. 

'  Ibn  Baskuivül  ed.  Codera  624,  3  v.  u.  Auch  im  Talmud  wird  es 
als  gutes  Omen  für  den  Verstorbenen  betrachtet  „wenn  Regen  auf  seine 
Bahre  träufelt";  bab.  Sauhedrin  fol.  47a;  vgl.  Ad.  Büchler  in  der 
Monatöschr.  f.  Gesch.  und  Wiss.  d.  Judent.  1905,  80. 


"Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  27 

Vergebung  erquicken".*  Ahnlich  sind  formelhafte  Eulogien, 
die  man  der  Erwähnung  Verstorbener  folgen  läßt,  z.  B.  *alejhi 
saha'ib  cU-rahma  ual-ridtcän  „(mögen)  über  ihn  (kommen)  die 
Wolken  der  Barmherzigkeit  und  des  (gottlichen)  Wohl- 
gefallens" u.  a.  m.,  die  man  noch  heute  am  Schluß  von  Nekro- 
logen in  arabischen  Zeitungen  tagtäglich  lesen  kann. 

In  einen  solchen  Anschauungskreis  stellt  die  islamisch- 
religiöse Auffassung  den  in  den  alten  Gedichten  für  den  Ver- 
storbenen und  sein  Grab  ausgesprochenen  Wunsch.  Wir  wollen 
noch  hinzufügen,  daß  wir  —  soweit  ich  das  Material  übersehe  — 
der  rhetorischen  Anwendung  des  alten  Spruches  nicht  be- 
gegnen, als  ob  der  Regen  am  Sterbetage  die  Tränen  des 
Himmels  um  den  Heimgang  des  Betrauerten  bedeutete.* 

II 

Keine  der  soeben  betrachteten  Anknüpfungen  bietet  uns 
die  ursprüngliche  Bedeutung  des  arabischen  Wunsches,  von 
dem  wir  ausgegangen  sind.  Die  primitive  Vorstellung,  in  deren 
Kreis  er  gehört,  kann  man  jedoch  aus  Spuren,  die  sich  noch  bis 
in  die  islamische  Überlieferung  hinein  erhalten  haben,  ermitteln. 

Wasser  wird  in  den  Anschauungen  verschiedener  Völker 
als  ein  den  Dämonen  widriges,  sie  abwehrendes,  gegen  sie 
Schutz  bietendes  Element  betrachtet.  Es  ist  ein  Feind  der 
bösen  Dämonen.^     Bei  vielen  Naturvölkern  wird  dem  Wasser 

*  Z.  B.  Ibn  'Arabschäh,  Panegyric  on  Sultan  Jaqmaq  ed.  Streng 
(Beilage  zu  Joum.  of  the  Roy.  As.  Soc.  1907,  April.  8,  10:  saJcä  Allah 
marl-adahu  sa'äblb  al-ghufrän. 

-  Dem  Ton  fremder  literarischer  Bildung  beeinflußten  christlichen 
Arzt  Amin  al-daula  Ibn  al-Tilmid  (st.  1165)  lag  diese  rhetorische 
Deutung  näher.  In  seinem  Trauergedicht  auf  einen  rals  sagt  er:  „Der 
Himmel  trauert  über  seinen  Verlust  .  .  .  der  Regen  ist  sein  Thranen- 
vergießen,  der  zuckende  Blitz  das  verzehrende  Feuer  des  Schmerzes" 
{Ibn  abi   Usejbi'a  I  273,  3  v.  u.). 

'  Damit  kann  es  wohl  zusammenhangen,  daß  bei  manchen  mittel- 
asiatischen Völkern  das  Waschen  verpönt  war  mit  der  Motivierung 
„because  they  believed,  that  their  gods  punished  ablutions  with  thunder 
and  Ughtning":  die  Belege  bei  Westermark  The  Origin  and  Develop- 
ment of  the  Moral  ideas  II  (London  1908)  355.  Unter  Göttern  sind  in 
diesen  Kreisen  wohl  dämonische  Mächte  zu  verstehen. 


28  I-  Groldziher 

die  Kraft  zugeeignet,  das  den  Gegenständen  anhaftende  Tahu 
zu  lösen.^  Am  kräftigsten  kommt  die  Anschauung,  welche 
das  Wasser  in  Gegensatz  zu  den  Dämonen  stellt,  bei  den  Indern 
zum  Ausdruck.  Sie  nennen  das  Wasser  in  seinem  Verhältnis 
zu  den  bösen  Dämonen  den  Donnerkeil  (vajraj.  „Die 
Wasser  sind  die  Töter  der  Rakshas,  diese  gehen  nicht  durch 
Wasser  hindurch;  sie  dienen  dazu,  die  Rakshas  zu  zerstören." 
„Die  Wasser  sind  ein  Donnerkeil,  um  die  Rakshas  zu  ver- 
nichten." Sowie  sie  als  Angriffswaffe  gegen  die  bösen  Dä- 
monen dienen,  so  werden  sie  auch  als  Schutzmittel  gegen  sie 
verwendet.^  „Ist  man  von  Geistern  ergriffen  —  so  faßt 
H.  Oldenberg  die  Anschauung  der  Inder  zusammen  —  oder 
von  sonstigen  Schädlichkeiten  befallen,  so  gilt  als  ein  Haupt- 
mittel, sie  zu  entfernen,  das  Waschen.  In  den  Wassern  weilen 
alle  Heilmittel,  sie  führen  alle  Schädlichkeiten  fort  —  wird 
schon  im  Rgveda  gesagt.  So  wäscht  man  vom  neugeborenen 
Kinde  alle  bösen  Mächte  hinweg"  ...  so  wie  man  sich  „nach 
dem  Sprechen  von  Sprüchen,  welche  an  unheimliche  Wesen 
gerichtet  sind,  sich  von  der  darin  liegenden  Berührung  mit 
diesen  mit  Wasser  reinigt."^ 

Wir  können  uns  dabei,  um  auf  semitischem  Gebiete  zu 
bleiben,  der  bedeutenden  Rolle  erinnern,  die  dem  Wasser  und 
den  Wassergottheiten,  dem  Begießen  mit  Beschwörimgswasser 
im    babylonischen    Zauberritual    und    in    den    entsprechenden 


^  Albert  Röville  La  religion  des  peuples  non  civilises  (Paris  1883) 
II  65;  111.  —  Julius  Lippert  Allgemeine  Geschichte  des  Priestertums  1  186. 
Unter  diesen  Gesichtspunkt  gehören  auch  manche  der  bei  E.  Tylor 
Die  Anfänge  der  Kultur  (deutsche  Übers.)  II  431  ff.  gesammelten 
Bräuche. 

*  Sylvain  Levi  La  Doctrine  du  Sacrifice  dans  les  Brähmanas  (Biblio- 
thöque  de  l'I^cole  des  Hautes  ßtudes;  Sciences  religieuses  XI,  Paris  1898) 
162.  Vgl.  Oltramare  L'Histoire  des  idees  theosophiques  dans  VInde  (Annales 
du  Mus^e  Guimet.  ßibl  des  I^ltudes  XXIII  Paris  1907)  I  41,  6.  Professor 
Oldenberg  verweist  mich  noch  auf  Caland  Altindisches  Zauberritual 
(Verhandlungen  der  Kon.  Akademie  van  Wfetenschapeu,  Amsterdam,  Afil. 
Letterkunde,  1900),  Register  s.  v.   Wasserkeil. 

»  Oldenberg  lieligion  des   Veda  (Berlin  1894)  489  —  490. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  29 

Zaubertexten  zukommt.^  Wasser  vertreibt  Bann  und  Zauber; 
Besprengungen  werden  dementsprechend  als  Exorzismus 
verwandt.^ 

Es  ist  wohl  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Glaube  an  die 
heilsame  Wirkung  des  Regenwassers,  dessen  Äußerungen  wir 
oben  in  ihrer  islamischen  Umformung  sehen  konnten,  in  solchen 
Vorstellungen  wurzelt.  Wir  können  dies  um  so  eher  annehmen, 
als  wir  in  einer  solchen  Voraussetzung  durch  die  indische 
Analogie  unterstützt  werden.  Unter  den  die  dämonenfeindliche 
Wirkung  des  Wassers  kündenden  Brahmanasprüchen  finden 
wir  auch  folgenden:  „Das  Wasser  ist  der  Donnerkeil;  wo  es 
vorüberkommt,  zerstört  es  das  Böse  .  .  .  darum  soll  man, 
wenn  es  regnet,  unbedeckten  Hauptes  hinausgehen; 
man  sagt  sich:  Möge  dieser  Donnerkeil  mir  das  Böse  zer- 
stören."^ 

In  islamischen  Kreisen  haben  die  Volksbräuche  in  Nord- 
afrika noch  manche  Spur  dieses  Glaubens  aufbewahrt.  Eduard 
Westermark^  und  Edmond  Destaing^  haben,  jener  aus 
seinen  Erfahrungen  unter  marokkanischen  Stämmen,  dieser  aus 
seinen  Studien  unter  den  Beni  Snüs  im  Gebiete  von  Oran,  sehr 
eingehende  Mitteilungen  gemacht  über  die  Bedeutung,  die  jene 
Bevölkerungen  dem  Regenwasser,  das  am  „Tage  des  Nisän" 
(27.  April  a    St.)  fällt,  zueignen.    Wenn  an  diesem  Tage  Regen 


*  Tgl.  Jastrow  Die  Beligion  Babyloniens  und  Assyriens  I  300; 
319,  17;  324,  10  u.  ff.;  343,  9ff.;  346,  20,  besonders  375,  13  u.  ff. 

'  W.  Sehrank  Babylonische  Sühnriten  (Leipziger  Semitistische 
Studien  III,  I,  1908)  27,  18 ff.  Wir  verfolgen  hier  nicht  weiter,  ob  in 
dem  Wasseransgießen  und  der  damit  verbundenen  Bußübung  I.  Sam. 
7,  6  eine  Spur  dieser  Anschauung  bei  den  alten  Hebräern  auf- 
bewahrt ist. 

*  Sylvain  Levi  La  Doctrine  du  Sacrifice  dans  les  Brähmanas  161, 
penult. 

*  Midsummer  Customs  in  Marocco  (Folk-Lore,  London  1904,  XYi 
32  —  34). 

*  Fetes  et  coutumes  saisonnieres  chez  Jes  Beni  Snoiis  (Revue  Africaine, 
Alger  1906,  252  —  258). 


30  I-  Goldziher 

fällt,  setzen  sich  Männer  und  Frauen,  Knaben  und  Mädchen 
mit  unbedecktem  Haupt  demselben  aus.  Sie  glauben,  daß  sie 
dies  vom  Kopfschmerz  heilt.  Das  Wasser  wird  auch  in  Ge- 
fäßen gesammelt,  und  man  besprengt  damit  sich  und  die  Haus- 
geräte; die  Schulkinder  benetzen  damit  ihre  Korantafeln  und 
trinken  es  dann  zur  Stärkung  ihres  Gedächtnisses  und  ihrer 
Lernfähigkeit.  Heilungsamulette  werden  mit  Tinte  geschrieben, 
die  damit  vermengt  wird;  gegen  Zahnschmerzen  spült  man  den 
Mund  mit  Nisanregenwasser;  Sterbende  läßt  man  einen  Schluck 
von  solchem  Wasser  trinken  und  besprengt  damit,  wenn  Zem- 
zemwasser  nicht  zur  Hand  ist,  das  Leichentuch.  Besonders 
am  'Ansaratag^  (24.  Juni  a.  St.,  Pfingsten)  übt  das  Nisan- 
wasser  seine  heilsame  Wirkung.  Aber  es  bewirkt  auch  zu 
anderen  Zeiten  magische  Erfolge  „There  is  haraka  in  it  from 
the  beginning."  Es  macht  giftige  Schlangen  und  Skorpionen 
unschädlich.  Man  mengt  es  mit  Teer  und  beschmiert  damit 
die  Torpfosten,  um  das  Eindringen  von  Schlangen  abzuwehren. 
Westermark  teilt  a.  a.  0.  auch  andere  Wasserzeremonien  mit, 
die  besonders  am  ^Ansaratag  im  Glauben  au  die  heilsamen 
Wirkungen  des  Wassergebrauchs  (Baden  in  der  See  und  in 
Quellwasser)  an  diesem  Tage  geübt  werden.  —  Bei  manchen 
Stämmen  werden  die  heilsamen  Wirkungen  dem  Wasser  des 
'Aschüratages  (10.  Muharrem)  zugeeignet.  Die  Leute  be- 
sprengen sich  damit  gegenseitig  an  diesem  Tage  sowie  auch 
ihre  Tiere,  Zelte  und  Wohnzimmer.  Man  bewahrt  das  am 
'Aschürä  geschöpfte  Wasser  während  des  ganzen  Jahres  bis 
zum  nächstjährigen  ^Aschürä  auf  Es  wird  durchs  ganze  Jahr 
als  Heilmittel  gebraucht;  auch  die  Dreschtennen  werden  damit 
benetzt;  um  Geld  in  Sicherheit  zu  bringen,  wird  es  in  einem 
Gefäß,  in  das  man  früher  'Aschürä- Wasser  gegeben  hat,  in 
die  Erde  vergraben;  so  wird  es  vor  den  Dschinnen  geschützt. 
Die  Dschebälä-  und  Rif- Berber  verwenden  solches  Wasser 
zur    Begießung    der    Gräber.      Westermark    findet    in    solchen 


»  Er  ist  =  Alhansora  bei  Nestle  ZATW  1908,  151. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  31 

Bräuchen   die  Bedeutung,   daß  „the  'äschür- water  serves  as  a 
chann  against  the  earth-spirits."^ 

Die  dämonenabwendende  Wirkung  des  Wassers  wird  in 
diesen  Fällen  auf  bestimmte  Tage  des  Festkalenders  konzentriert 
oder  zu  denselben  in  Beziehung  gesetzt. 

ni 

Auch  in  dem  Kreise,  mit  dem  wir  uns  hier  vorzugsweise 
beschäftigen,  finden  wir  Spuren  davon,  daß  das  Wasser  als 
die  bösen  Einflüsse  abwehrendes  Element  betrachtet  wird.  Durch 
die  Anwendung  von  Wasser  sucht  man  Schutz  gegen  die 
Einwirkung  derselben  zu  erlangen.  Ein  Rest  dieser  Anschauung 
ist  in  der  Erzählung  über  die  Verheiratung  des  'Ali  mit  der 
Fätimah  erhalten.  Vor  der  Vollziehung  der  Ehe  bespritzt  der 
Prophet  die  beiden  Brautleute  mit  Wasser,  um  sie  von  dem 
gegen  die  consummatio  matrimonii  gerichteten  Zauber  der 
Juden  zu  befreien.*  Anders  als  in  der  traditionellen  Quelle,  auf 
die  wir  uns  soeben  berufen,  wird  der  Vorgang:  von  den  Schi'iten 
erzählt.  Abu  Bekr  und  'Omar  versuchen  vergeblich,  bei  dem 
Propheten  um  die  Hand  der  Fätimah  zu  werben.  Besser  gelingt 
dies  dem  'Ali.  Bevor  der  Prophet  seine  Tochter  dem  jungen 
Ehemann  übergibt,  befiehlt  er  der  Fätimah,  Wasser  zu  holen. 
Nachdem  sie  einen  Humpen  davon  herbeigebracht  hatte,  be- 
sprengte sie  der  Prophet  von  vorne  und  sprach:  „0  Gott,  ich 
rufe  dich  um  Schutz  an  für  sie  und  ihre  Nachkommenschaft 
vor  dem  Satan".  Dann  befahl  er  ihr,  sich  umzuwenden  und 
sie  zwischen  den  Schultern  besprengend  sprach  er  dasselbe 
Gebet.    Dasselbe  tat  er  dann  auch  mit  'Ali;  erst  dann  übergab 

*  Westermark  1.  c.  41.  Man  vgl.  jetzt  auch  E.  Doutte  in  seinem 
neuen  Werke  Magie  et  Eeligion  dans  VÄfrique  du  Nord  (Alger  1909). 
Besonders  'Aschürä  und  'Ansara  haben  sich  im  nordafrikanischen  Islam 
als  Träger  vorislamischer  Bräuche,  „centre  de  cristallisation  des  vieux 
rites",  bewährt;  Doutte  1.  c.  532.  569. 

*  Ibn  Sa'd  VIII,  15,  oben.  ibid.  13,  6  wird  die  dabei  angewandte 
Du'ä-Formel  mitgeteilt. 


32  I-  Goldziher 

er  ihm  sein  Weib.^  Hier  ist  die  Besprengung  nicht  als  Gregen- 
mittel  gegen  eine  spezielle  Bezauberung  gerichtet,  sondern  sie 
soll  die  Leute  gegen  die  Einwirkung  des  Satan  im  allgemeinen 
schützen.^  Dieselbe  Absicht  hat  wohl  der  von  H.  Brugsch  aus 
Persien  berichtete  Brauch,  daß  man  hinter  jemand,  der  eine 
große  Reise  antritt,  bei  seinem  Ausgang  aus  dem  Hause  Wasser 
sprengt^;  er  soll  dadurch  vor  bösen  Zufällen  geschützt  werden. 
Bei  Gelegenheit  der  Bekehrung  der  Heiden  und  später  der 
Nichtmuslimen  wird  in  den  alten  Quellen  als  Aufnahme- 
zeremonie  stets  neben  dem  Scheren  des  Haupthaares  auch  das 
dem  Neophyten  verordnete  Bad  (eine  Nachahmung  der  Taufe, 
jüd.  tebilä)  erwähnt.'*  Als  Grund  wird  angegeben,  daß  diese 
Waschung  als  ghasl  al-ganäba  (Reinigung  von  ritueller  Un- 
reinheit) notwendig  sei,  die  der  Neophyt  vorher  nicht  beobachtet 
hatte.  ^ 

Wenn  der  Islam  an  Stelle  einer  zerstörten  Kirche  eine 
Moschee  errichtet,  wird  der  Ort  erst  durch  Besprengung  mit 
Wasser  für  diese  Wandlung  geeignet  gemacht.^  Bei  Leb- 
zeiten des  Propheten  —  so  wird    die   Sache    in   den    hierüber 

^  Fachr  al-Kn  al-Nagäfi  dl-Muntachdb  fi-l-marätl  u-al-chutab  (lith. 
Bombay  1311)  156. 

"  Auch  Blut  wird  als  „Schutzmittel  gegen  alles  Böse"  betrachtet 
(Musil,  Arabia  Petraea  III  313);  dieser  Anschauung  entspricht  der  Brauch, 
daß  die  Neuvermählten  vor  dem  Eheakt  mit  Blut  besprengt  werden, 
ibid.  206. 

"  Aus  dem  Orient  (Berlin  1864)  II  97.  Dabei  wird  ihm  auch  ein 
Spiegel  vorgehalten,  was  Alfred  v.  Krem  er  als  Mittel  erklärt,  das 
Bild  des  sich  Entfernenden  festzuhalten  und  seine  glückliche  Rückkehr 
zu  sichern  {Studien  zur  vergleichenden  Culturgeschichte  III/IV,  Wien 
1890,  60). 

*  Fast  in  allen  Traditionssammlungen  sind  zahlreiche  Beispiele  dafür. 
Ygl  Ibn  Sa'd  IV,  I,  176,  9.  14. 

*  Sejbänl  Kitäb  al-sijar  (Leidener  Hschr.  Warner  Nr.  373,  fol.  31» 
unten). 

®  Vgl.  Tacit.  Histor.  IV  53.  Zur  feierlichen  Vorbereitung  der  durch 
L.  Vestinus  unternommenen  Wiederherstellung  des  durch  die  Truppen 
des  Vitellius  zerstörten  Kapitels  gehörte  es,  daß  die  Fundamente  „vir- 
gines  vestales  cum  pueris  puellisque  patrimis  matrimisque  aqxia  e  fon- 
tibus  amnibusque  hausta  perluere". 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  33 

berichtenden  Haditen  erzählt  — ,  wird  dazu  gern  Wasser  ver- 
wendet, mit  dem  er  selbst  vorher  seine  rituellen  Reinigungen 
vollzogen  hatte. ^  Aus  Jemäma  kam  eine  Huldigungsdeputation 
zum  Propheten  und  erbat  zu  solchem  Zwecke  Reste  vom  Wasser, 
das  er  früher  benutzt  hatte.  „Da  verlangte  er  Wasser,  vollzog 
damit  seine  Waschungen,  spülte  damit  seinen  Mund;  dann  goß 
er  es  in  ein  Gefäß  und  sagte  uns:  'Nehmet  dies  mit  euch  und 
wenn  ihr  in  euer  Land  kommt,  brechet  eure  Kirche  ab  und 
besprenget  ihren  Platz  mit  diesem  Wasser  und  machet  aus  der 
früheren  Kirche  eine  Moschee.'  Wir  entgegneten:  'Fürwahr, 
es  herrscht  starke  Hitze,  und  unser  Land  ist  fern;  das  Wasser 
wird  bis  dahin  sicher  verdunsten'.  Er  sagte  uns:  'So  helfet 
mit  (gewöhnlichem)  Wasser  nach;  dies  wird  (^durch  jenes)  an 
Wohlgeruch  nur  gewinnen."*  Aus  späterer  Zeit  besitzen  wir 
die  orenaue  Darstellung  der  Weihung  eines  dem  Christentum 
dienenden  Bethauses  zur  Moschee:  die  Wiedererwerbung  der 
Felsmoschee  (Kubbat  al-sachra)  in  Jerusalem  nach  Eroberung 
dieser  Stadt  durch  Saladin.  „Der  Fürst  Al-Malik  al-Muzaffar 
Taki  al-din  'Omar  b.  Sähinsäh  erschien  in  der  Kirche  mit  großer 
Begleitung,  besorgte  eigenhändig  das  Fegen  des  Fußbodens, 
dann  ^vusch  er  ihn  wiederholt  mit  Wasser  ab,  nach  dem 
gewöhnlichen  Wasser  wendete  er  dazu  Rosen  wasser  an; 
dann  reinigte  er  die  Wände  und  wusch  die  Grundmauern  und 
beräucherte  sie,  hernach  verteilte  er  viel  Geld  unter  den 
Armen."' 

Bei  der  Neophjtenaufnahme  finden  wir  die  Anwendung 
des  Wassers  in  folgender  Form  dargestellt:  Als  Chälid  b.  al- 
Walid  den  Garaga  in  den  Islam  aufnahm,  besprengte  er  ihn 
mit  einem  Schlauch  voll  Wasser  und  betete  zwei  Rak'ah.* 
Dieser  Vorgang,    der   die  ursprüngliche  Form  der  Anwendung 


*  Usd  al-ghaba  111  64,  2;  237,  21;  sehr  ausführliche  Erzählung  bei 
Nasä'I,  Sunan  I  62  (lith.  Sähdra  1282). 

*  Ibn  Sa'd  V  402,  7—13. 

c  '  Mugir  al-din  al-Uns  al-gall  302,  1  ff. 

*  Tabarl  I  2098,  13. 

Archiv  f.  Keligionswissenscbaft  XHI  3 


34  I-  Groldziher 

des  Wassers  bei  ähnlicher  Gelegenheit  darzustellen  scheint, 
entspricht  nicht  der  Forderung  des  ghasl  al-ganäba.  Dieses 
ist  zur  Erklärung  des  Brauches  im  Sinne  der  Fikh- Leute  nach- 
träglich hineingetragen.  Als  ursprünglich  ist  dabei  die  Ab- 
sicht vorauszusetzen,  den  Neophyten  der  Einwirkung  der 
schadenbringenden  Dämonen  oder  der  des  bösen  Auges  zu 
entziehen,^  gleichwie  bei  den  Babyloniern  die  Besprengung 
(oder  Begießung)  mit  Wasser  als  hygienischer  Zauber  an- 
gewandt wurde.^ 

In  diesem  Sinne  wird  der  Besprengung  mit  Wasser  auch 
therapische  Kraft  zugeeignet.  Diese  veranlaßt  wohl  die  mus- 
limischen Fellähen  in  der  Umgebung  von  Kerak  die  eingebornen 
Kinder  dem  Akt  der  christlichen  Taufe  zu  unterziehen  und  sie 
dreimal  ins  Wasser  tauchen  zu  lassen  „nicht  um  sie  zu  Mit- 
gliedern der  Kirche  zu  machen,  sondern  um  ihnen,  nach 
Meinung  der  Muslimen,  ihre  Gesundheit  zu  stärken/'^ 

Die  magische  Anwenduug  des  Wassers  soll  die  Krankheits- 
dämonen  fernhalten    oder    ihre    Wirkungen  paralysieren.     Mit 


^  Unter  einen  anderen  Gesichtspunkt  gehört  die  Besprengung  mit 
Wasser,  wo  sie  sich  in  volkstümlichen  Regenzauberbräuchen  erhalten 
hat.  Bei  der  Zeremonie  mit  der  Regenpuppe  (Ghandscha),  die  in  Nord- 
afrika zu  Zeiten  der  Trockenheit  in  Prozession  zu  Heiligengräbem  ge- 
tragen wird,  werden  Prozession  und  Kapelle  mit  Wasser  besprengt;  auch 
die  Männer,  die  bei  solchen  Gelegenheiten  den  Gebrauch  des  Kleider- 
wechselns  (Frauenkleider)  üben,  werden  bei  ihrem  Umzug  mit  Wasser 
bespritzt  (Alfred  Bei  in  Becueil  de  Memoires  et  de  Textes  —  Alger  1906 
—  66  f.)  Diese  Bräuche  gehören  in  die  Reihe  der  „homoeopathic  or 
imitative  magic"  und  sind  zu  den  Daten  bei  Frazer  Adonis  Attis  Osiris 
(The  Golden  Bough'lV)  195—  197  zu  stellen.  Auch  das  festliche  Wasser- 
ßchöpfen  und  -ausgießen  bei  den  Israeliten  im  Kultus  des  zweiten 
Tempels ,  in  Verbindung  mit  dem  Herbstfest  hatte ,  wie  auch  der 
Talmud  (bab.  Rös  ha- sänäh  16a  ganz  unten)  andeutet,  die  Bedeutung, 
durch  die  Wasseranwendung  reichlichen  Regen  herbeizuführen.  Vgl. 
das  Wassergießen  bei  den  Persern,  Gähiz  Mahäsin  ed.  van  Vloten 
364,  6flf. 

*  Jastrow  Jielig.  Babyl.  u.  Assyr.  1  378  ff. ;  Schrank  Babylon.  Sühn- 
riten 60,  2;  86,  12. 

'  Mudil  Arabia  Fetraea  III  92. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  35 

Berufang  auf  ein  sehr  ausführlich  mitgeteiltes  Hadit^,  in 
welchem  der  Prophet  dem  'Amir  b.  Rabi'a,  der  im  Verdachte 
stand,  durch  eine  bewundernde  Äußerung  einem  Genossen 
Apoplexie  verursacht  zu  haben  (Wirkung  des  bösen  Auges), 
ein  heilendes  Vorgehen  befiehlt,*  wird  gegen  die  schädliche 
Wirkung  des  bösen  Auges  folgendes  Gegenzaubermittel  em- 
pfohlen: Der  jemand  mit  seinem  bösen  Auge  getroffen  hat, 
soll  sein  Gesicht,  seine  beiden  Hände,  seine  beiden  Ellbogen 
und  Kniee,  sowie  die  Spitzen  seiner  Füße  und  die  innere  Seite 
seines  Oberkleides  waschen,  indem  er  das  Wasser  in  ein  Gefäß 
fließen  läßt;  dann  möge  er  das  Wasch wasser  aus  dem  Gefäß 
auf  das  Haupt  des  durch  das  Auge  Getroffenen  gießen.  Dies 
wird  den  Einfluß  des  bösen  Auges  unschädlich  machen.  *Abd 
al-Kädir  al-Dschiläni,der  diese  Regel  mitteilt,  fügt  hinzu:  „Wenn 
er  eine  volle  Körperwaschung  vollzieht  und  dann  das  Wasser 
auf  den  Betroffenen  gießt,  ist  es  vollkommener"  (käna  akmal).^ 
Jedoch  auch  bei  Erkrankungen  physischer  Art  wird  der 
Anwendung  des  Wassers  Heilwirkung  zugeeignet.^  Auch  die 
primitive  Anschauung  der  Araber  führt  alle  Krankheit  auf 
dämonische  Einwirkung  zurück.^  Noch  der  heutige  Araber  hat 
den  Glauben,  daß  „nicht  Gott  es  ist,  der  die  Krankheit  will, 
sondern  ihre  Urheber  sind  die  neidischen  Geister,  die  sich  an 
den    Schmerzen    der   Menschen    weiden."^      Die    alten    Araber 


*  Die  älteste  Quelle  des  Hadit  ist  Muicatta'  IV  14:9  S.:  al-ici*dü' 
min  al-'ajn. 

*  Dasselbe  wird  im  einzelnen  sehr  genau  beschrieben  bei  Natcaun, 
Muslim  Y  32  — 33;  kurz  'IM  (Büläk  1293)  III  373. 

'  Äl-Ghunja  li-tälibl  tarlk  al-hakk  (Mekka  1314)  36. 

*  Nicht  dem  Hadit,  sondern  einer  Liste  von  chawäxs  (Specifica  der 
Volksmedizin)  entnehme  ich  folgende  Angabe:  "Wer  an  Schlaflosigkeit 
leidet,  dem  setze  man,  ohne  daß  er  es  merkt,  an  das  Kopfende  der 
Schlafstelle  ein  Gefäß  voll  Wassers,  \gl.  Mufid  al-'ulüm  tca-mubJd  al- 
humüni  (Kairo  1310)  204  penult. 

'  "Wellhausen  Arab.  Heidentum  ^  141 ;  Edmond  Doutte  Magie  et 
Beligion  dans  VAfrique  du  Nord  221,  und  die  daselbst  gegebenen  Lite- 
raturnachweise. 

"  Musil  1.  c.  III  413. 


I 


36  I-  Groldziher 

nannten  die  Pest  „Speere  der  Ginnen"  (rimäh  al-ginn)^,  oder 
„einen  Stich  (wachz)  von  den  Ginnen".^  Diese  Auffassung  vom 
Ursprung  der  Krankheit  erfordert,  wie  dies  erst  jüngst  hier 
M.  Höfler  hetont  hat,  im  Heilverfahren  eine  antrdämonistische 
Richtung.^  Vorzugsweise  gilt  dies  vom  hitzigen  Fieher.  „Das 
Fieber  kommt  von  der  Glut  der  Hölle,  kühlet  es  ab  (Variante: 
löschet  es)  mit  Wasser".*  Dies  ist  die  Verordnung  des  Pro- 
pheten gegen  Fiebererkrankung.  In  einer  traditionellen  Mit- 
teilung erzählen  die  Frauen,  die  ihn  während  einer  fieber- 
haften Erkrankung  besuchten,  daß  sie  ihn  unter  einem  auf- 
gehängten Schlauch  liegend  fanden,  aus  dem  er  Wasser  auf 
sich  träufeln  ließ.^  Aber  wir  erfahren  auch,  daß  in  späteren 
Zeiten  die  Vertreter  der  medizinischen  Wissenschaft^  gegen 
die  im  Hadit  enthaltene  Heilanordnung  des  Propheten,  vom 
Standpunkt  ihrer  therapischen  Erfahrungen  ernstliche  Oppo- 
sition erhoben,^  die  jedoch  von  den  Theologen  durch  den  Hin- 
weis darauf  beschwichtigt  wurde,  daß  der  Rat  des  Propheten 
„nicht  im  Sinne  eines  natürlichen  Heilverfahrens,  sondern  in 
dem  eines  übernatürlichen  Wundermittels  zu  verstehen  sei."* 
Nicht   das   kalte  Wasser   an   sich    übe   die   heilende  Wirkung, 

^  L.  A.  s.  V.  rmh  HI  279.  Aghäm  X  65,  14.  Das  ursprüngliche 
rimäh  dl -ginn  wird  in  anderer  Version  erleichternd  in  sujüf  al-kaum 
(Schwerter  des  Volkes)  verändert.     L.  A.  s.  v.  Jcjd  IV  375. 

*  Ihn  Kutejba  'üjün  al-achbar  ed.  Brockelmann,  495,  20. 
»  Archiv  XII  340. 

*  Buchäri  Tihh  no.  28  (ed.  Krehl -  Juynboll  IV  58),  eine  Reihe  von 
Varianten  Kenz  äl-'wnmäl  V  177  f. 

^   Usd  al-ghäba  V  669  oben. 

®  Damiri  s.  v.  nahl,  II  405  zitiert  eine  ganze  Reihe  von  Einwürfen, 
die  von  ,, Ketzern,  in  deren  Herzen  Krankheit  ist"  gegen  die  in  den 
Haditen  empfohlenen  Heilmittel  vom  Standpunkte  der  medizinischen 
Erfahrung  gemacht  werden;  auch  das  hier  behandelte  Hadit  wird  er- 
wähnt.    Damiri  widerlegt  natürlich  alle  diese  Einwürfe. 

'  Zurkäni  zu  Muwatta'  IV  159 — 60,  wo  die  Einwendungen  der 
Ärzte  reproduziert  sind ;  sehr  interessante  Auseinandersetzung  mit  letzteren 
bei  Gelegenheit  desselben  Hadit,  Nawawi- Muslim  V  44 ff. 

*  Kastalläni  Ylll  426  saj'  chärig  'au  kawä'id  al-tibb  däclii]  fi  kism 
al-mu'gizät  al-chärikat  lil-'ädat. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  37 

diese  erfolge  vielmehr  durch  die  besondere  Art  seiner  An- 
wendung. Damit  scheinen  sie  den  ursprünglichen  Sinn  des  im 
Hadit  angeordneten  Verfahrens  zu  erraten. 

Andere  Berichte  aus  der  islamischen  Tradition  bieten 
gleichsam  die  nähere  Erklärung  jener  Anweisung.  Ein  Hadlb 
um  dessen  Anerkennung  sich  spätere  Theologen  viel  Mühe 
gegeben  haben  ^,  das  jedoch  diese  Form  gewiß  nur  in  der 
Absicht  erhalten  hat,  um  der  populären  Gewohnheit  religiöse 
Berechtigung  zu  verleihen,  empfiehlt  dem  Fieberkranken 
folgendes  Mittel:  Er  möge  zeitig  morgens  zu  einem 
Brunnen  gehen  und  aus  demselben  einen  Schöpfeimer  voU 
Wasser  nehmen,  sich  damit  begießen  und  dabei  die  Worte 
sprechen:  „0  Allah  heile  deinen  Diener  und  mache  wahr  die 
Worte  deines  Propheten."  Hilft  dies  Mittel  nach  dreimaliger 
Anwendung  in  frühen  Morgenstunden  nicht,  so  wiederhole  man 
es  sieben  Tage  lang  zur  selben  Zeit;  dann  wird  das  Fieber,  so 
Gott  will,  sicher  weichen.  —  In  einer  anderen  Version  wird  in 
derselben  Weise  das  Untertauchen  in  einen  Strom  vor  Sonnen- 
aufgang empfohlen  und  die  Zahl  der  Tage  als  3,  eventuell  5, 
7  und  9  angegeben;  die  letztere  Zahl  möge  nicht  über- 
schritten werden.-  Der  alten  Volksübung  entspricht  sicherlich 
die  an  ersterer  Stelle  angeführte  Modalität:  das  Begießen  mit 
Quellwasser.  Der  Nachdruck,  der  auf  die  Wiederholung  in 
ungeraden    Zahlen    gelegt    wird^,    ist    ein    Zeichen    für    den 

*  Sibghat  AUcüi  al-Madräsi  im  Anhang  an  Ibn  Hagar  al-'Askaläni: 
al-Kaul  al-mussadad  fi-1-dabb  'an  al-Musnad  (Haidaräbäd  1319)  53f. 

*  Mu^nad  Ahmed  Y  281.  Dieser  Aberglaube  gehört  in  dieselbe 
Gruppe,  für  die  bei  J.  G.  Frazer  1.  c.  204 ff.  eine  große  Zahl  von  Bei- 
spielen zu  finden  ist. 

'  Für  diese  Bedeutung  der  ungeraden  Zahl  im  Heilungsverfahren 
8.  Revue  des  Trad.  pop.  XX  (1905)  367:  „On  trouve  par  contre,  des  pro- 
cedes  de  guerison  dont  les  pratiques  medicales  doivent  etre  poursuivies 
pendant  trois,  cinq,  sept  ou  neuf  jours,  ou  repetees  un  meme  nombre  de  fois 
consecutives."  Im  Zauber  der  jakutischen  Schamanen  spielt  auch  die  An- 
wendung der  ungeraden  Zahl  an  den  Zaubermitteln  eine  wichtige  Rolle,  Bevue 
de  l'Hist.  des  Relig.  XLYl  (1902)  322.  Vgl.  auch  B.  Means  Lawrence  The 
Magic  of  the  Eorse-shoe  vith  other  Folklore  notes  (Boston-New  York  1899); 
jetzt  auch  E.  Doutte  Magie  et  Religion  dans  VAfriqiie  du  Xord  190. 


38  I.  Goldziher 

zauberischen  Charakter  dieses  Brauchs.^  Das  Begießen  mit 
Wasser  hat  seinen  Grund  in  dem  Glauben,  daß  dadurch  die 
krankheiterregenden  Dämonen  verscheucht  werden. 

Von  einem  Krankenbesuch  des  Propheten  wird  erzählt, 
daß  er  bei  dem  Kranken  die  rituelle  Waschung  vollzogen  und 
ihn  hernach  mit  dem  Wasser  begossen  habe.  Dies  wird  dann 
als  nachahmenswertes  Beispiel  für  Krankenbesucher  empfohlen.^ 
Daß  eine  solche  Sitte  bei  den  Arabern  volkstümlich  vorhanden 
war,  und  daß  sie  im  Vorgehen  des  Propheten  nur  in  eine 
religiöse  Form  gekleidet  ist,  könnte  man  daraus  folgern,  daß 
der  liebeskranke  Dichter  *Urwa  b.  Hizäm  von  den  Zauber- 
ärzten, die  ihn  in  seiner  Krankheit  besuchen,  sagt,  daß  sie 
„sein  Antlitz  mit  Wasser  besprengen."^  In  einer  Version  des 
betreffenden  Gedichtes  wird  dies  ihr  Vorgehen  als  rukja  (Zauber) 
bezeichnet.*  In  demselben  Sinne  sagt  ein  anderer  liebeskranker 
Dichter^  von  sich:  „Sie  kommen  zu  ihm  mit  Amuletten  und 
Zaubermitteln  (bilta^äwid  wal-rukä)  und  besprengen  ihn  mit 
Wasser  wegen  der  Schwere  seiner  Krankheit;  sie  sagen,  die 
Augen  der  Dschinnen  haben  ihn  mit  dem  Blick  getroffen; 
würden  sie  die  Wahrheit  sagen,  sprächen  sie:  die  Augen  der 
Menschen."  Das  Besprengen  mit  Wasser  wird  also  als  Zauber- 
mittel gegen  dämonische  Einflüsse  angewandt.  Auch  der  Liebes- 
schmerz werde  durch  diese  verursacht,® 

In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  die  aus  der  letzten 
Krankheit  des  Propheten  mitgeteilte  Nachricht,^   daß   man  ihn 


^  Globus  LXXX  (1901)  nr.  2:   Über  Zahlendberglauben  im  Islam. 

*  Buchäri  Mardä  no.  21  (ed.  Krehl-Juynboll  IV  49). 
'  Aghäni  XX  165,  16. 

*  Ibn  Kutejba,  Poesis  ed.de  Goeje  396,  2  Kali  IJI  169,  10;  161,  12. 
vgl.  Agh.  II,  6,  6  V.  u.  der  liebeskranke  Magnün  findet  keinen  räkt  gegen 
seinen  Liebeszauber.  Zu  dem  im  selben  Verse  erwähnten  salwa  als 
Zaubermittel  vgl.  3Iuh.  Stud.  I  260  Anm.  5. 

*  Aghäni  VI  80, 13  dem  späten  Dichter  'Ukäsa  al-'Ammi,  bei  Däwüd 
al-'Antäki,  Tazjin  al-asiväk  (lith.  Kairo  1279)  126,  4  v.  u.  dem  Magün 
Lejlä  zugeschrieben. 

"  Liebeskrankheit  durch  den  se^tän  verursacht  Ibn  Kutejba  1.  c.  364, 20. 
'  Ibn  Sa'd  XI  29,  Uff. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  39 

auf  seinen  eigenen  Wunsch  „aus  sieben  Schläuchen,  deren 
Spünde  früher  nicht  gelöst  waren"  mit  Wasser  begoß.  Wenn 
auch  —  im  Sinne  der  Erzählung  —  mit  der  Begießung  zu- 
gleich der  Wunsch  nach  Erfrischung  verbunden  sein  mag,  so 
deuten  die  angeführten  Modalitäten  auf  die  Voraussetzung 
zauberischer  Wirkung. 

Solche  Voraussetzung  ist  auch  bei  der  Anwendung  von 
Wasser  bei  Sterbenden  anzunehmen.  In  seiner  Sterbestunde 
taucht  der  Prophet  seine  Hand  in  ein  Wassergefäß  und  be- 
streicht dann  sein  Antlit«.^  Man  denke  dabei  an  die  zauberische 
Wirkung,  die  dem  Bestreichen  (mash)  zugeeignet  wird^:  hier 
soll  sie  durch  Mitwirkung  von  Wasser  gesteigert  werden.  Nach 
einer  Mitteilung  Musils  herrscht  unter  den  Arabern,  deren 
Gebiet  er  bereist  hat,  der  Brauch,  dem  Sterbenden  tropfen- 
weise Wasser  in  den  Mund  zu  träufeln.^  Auf  diese  Gewohnheit 
ist  auch  in  einem  der  von  Martin  Hartmann  in  der  libyschen 
Wüste  gesammelten  Lieder  Bezug  genommen,  mit  der  von  den 
Einheimischen  gegebenen  Erklärung:  „nicht  durstig  darf  der 
Mensch  ins  Jenseits  gehen".  Hartmann  bezweifelt  mit  Unrecht 
die  Tatsächlichkeit  der  Beziehung  auf  einen  solchen  Brauch 
in  jenem  Gedicht'*;  freiHch  ist  den  Arabern,  die  ihm  die  Er- 
klärung lieferten,  die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Sitte  nicht 
mehr  klar. 

Die  islamische  Volksanschauung  hat  femer  die  alte  Vor- 
stellung von  der  zauberischen  Wirkung  des  Wassers  auf  das 
vom  Zemzembrunnen  konzentriert,  von  dem  der  Muslim 
in  seiner  Sterbestunde  einige  Tropfen  in  den  Mund  träufeln 
läßt.       Es     wird     als     Mittel     betrachtet,    dem     auflauernden 


>  Die  Stellen  s.  in  Nöldeke- Festschrift  327  Anm.  7. 

*  Die  Ausführung  dieser  Tatsache  aus  der  arab.  Literatur  würde 
hier  zu  weit  führen;  vgl.  Völlers  Die  Symbolik  des  mash  in  den  semi- 
tischen Sprachen,  Archiv  für  Religionswiss.  VIII  97 ff. 

*  Arabia  Petraea  III  423. 

*  Lieder  der  libyschen  Wüste  (Abhandl.  für  die  Kunde  des  Morgen- 
landes, herausg.  von  der  DMG.  XI  Xo.  3 ;  Leipzig  1899)  69,  2  ff. 


40  I-  Groldziher 

Satan  entgegenzuwirken.^  Aus  Nordafrika  wird  berichtet: 
„Man  gibt  sich  alle  Mühe,  daß  der  Sterbende  davon  trinke; 
ist  er  dies  nicht  mehr  imstande,  so  besprengt  man  damit  seine 
Kleider  (in  denen  er  begraben  wird)^;  das  Feuer  der  Hölle 
könne  ihm  dann  nichts  mehr  anhaben."^ 

IV 

Auch  vom  Verstorbenen  will  man  die  bösen  Einflüsse 
durch  Anwendung  von  Wasser  abwehren.  Dies  gehört  in  die 
Reihe  der  Mittel  „performed  for  the  purpose  of  preventing  evil 
spirits  from  doing  härm  to  the  dead".^ 

Auf  Malta  hat  sich  der  Brauch  erhalten,  daß  man  täglich, 
möglichst  auf  einem  von  der  Sonne  beschienenen  Ort,  frisches 
Wasser  ausgießt,  um  den  abgeschiedenen  Seelen  Erleichterung 
zu  verschaffen.  Schüttet  jemand  unwillkürlich  Wasser  aus, 
sagt  er:  „es  möge  zum  Nutzen  der  abgeschiedenen  Seelen  ge- 
reichen."^ Dieselben  Anschauungen  zeigen  sich  noch  deutlicher 
in  Beduinenbräuchen,  über  die  P.  Antonin  Janssen  aus  dem 
Gebiete  von  Moab  berichtet.  „Wenn  ein  Ritter  fällt,  wird  ihm 
Wasser  auf  das  Haupt  gegossen;  man  besprengt  auch  die  Stelle 
des  Bodens,  auf  der  er  gefallen  ist^;  auch  schüttet  man  Wasser 
hinter   einem  Leichnam,    den   man    zu  Grabe    bringt   „um  das 


*  Burton  Personal  Narrative  of  a  Pilgrimage  to  Mecca  and  Medina 
(Leipzig  1874  Tauclinitz  -  Edition)  III  42;  vgl.  Snouck  Hurgronje  De  Hadji- 
Politiek  der  Indische  regeering  (holländ.  Zeitschrift  Onze  Eeuw,  Jahrg. 
1909 ;  Heft  6)  22  des  SA. 

*  Vgl.  Lane  Manners  and  Custoius  of  the  modern  Egypiians^  (London 
1871) I  322. 

»  Achille  Robei-t  L'Arahe  tel  qu'il  est  (Alger  1900)  67. 

*  S.  die  Literatur  bei  E.  Westcnnark  The  Origin  and  Development 
of  the  Moral  Ideas  II  52.3  Anm.  7. 

*  Magri  Precis  de  mythologie  maltaise  (in  Actes  du  XlVe  Congres 
internat.  des  Orientalistes  —  Alger  1906  —  II.  Sect.  II,  JJl). 

^  Die  Besprengung  der  Stelle  des  Bodens,  auf  dem  ein  Unfall  vor- 
gekommen ist,  finden  wir  in  folgender  aus  Syrien  berichteten  Sitte:  „Wenn 
bei  den  Juden  ein  Kind  zu  Boden  fällt,  so  schütten  seine  Eltern,  nach- 
dem sie  es  aufgehoben  haben,  Wasser  auf  die  Stelle,  auf  welche  es  ge- 
fallen", Eyüb  Abela  Beiträge  zur  Kenntnis  abergläubischer  Gebräuche  in 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  41 

Böse  abzuwehren"  („pour  couper  le  mal").^  Und  auch  sich 
selbst  schützen  die  Hinterbliebenen  durch  dieselben  Mittel  vor 
den  den  Toten  umgebenden  bösen  Geistern.  Von  den  Xawär 
(Zigeunerstamm  auf  demselben  Gebiet)  teilt  Janssen  mit:  „Als 
das  Totengeleite  vor  dem  Lager  vorbeizog,  besprengte  eine 
Frau  den  Boden  und  die  vorbeiziehenden  Leute  mit  Wasser 
„damit  —  so  sagte  sie  —  das  Böse  mit  dem  Toten  sich  ent- 
ferne und  nicht  wiederkehre,  um  uns  anzugreifen".  Derselbe 
Brauch  wird  auch  von  den  Arabern  geübt,  wenn  sie  einem 
Leichenzug  begegnen.-  Bei  den  Schanaka  auf  Madagaskar^ 
werden  nach  einem  Begräbnis  sowohl  die  Wände  des  Sterbe- 
hauses als  auch  die  zu  diesem  Zweck  versammelten  Angehörigen 
des  Verstorbenen  mit  eigens  zu  diesem  Zweck  präpariertem 
Wasser  besprengt.*  Es  ist  jedoch  nicht  ausgeschlossen,  daß 
durch  ähnliche  Bräuche  der  Wiederkehr  des  Geistes  des  Ver- 
storbenen vorgebeugt  werden  soll,  daß  sie  die  Lossagung  vom 
Geiste  des  Verstorbenen  symbolisieren,   welche  Bestrebung  be- 

Syrien  nr.  120  (Z  DP  V  1884,  VII  99).  Die  vom  Verf.  angegebene  Mo- 
tivierung „um  den  unsichtbaren  Feen,  die  dieser  Fall  könnte  belästigt 
haben,  zu  beweisen,  daß  das  Kind  aus  Ungeschick  und  nicht  mit  Vor- 
bedacht hingefallen  sei"  ist  wohl  mißverständliche  Variante  der  ur- 
sprünglichen Ursache  (Abwehr  der  den  Unfall  verursachenden  Dämonen). 

*  Coutumes  des  Arabes  au  pays  de  Moah  71. 
»  ibid.  105. 

'  Frazer  1.  c.  423.  Ein  ähnlicher  Brauch  wird  aus  China  angeführt 
bei  E.  Tylor  Anfänge  der  Kultur  (deutsche  übers.)  II  438  zu  Anm.  3. 

*  Vgl.  auch  den  jüdischen  Brauch,  beim  Eintreten  eines  Todes- 
falles im  Sterbehaus,  sowie  in  den  benachbarten  Häusern  alles  vorfind- 
liche  Wasser  auszugießen  (Brück  Eabbinische  Zeremonialgebrüuche  48, 
Eusebe  Vassel  La  Litterature  populaire  des  Israelites  tunisiens,  Paris 
1904—1907,  S,  125).  Es  kann  nicht  ermittelt  werden,  ob  diese  Sitte  mit 
Anschauungen  zusammenhängt,  die  dem  oben  behandelten  Vorstellungs- 
kreis verwandt  sind.  Wie  mich  Dr.  Immanuel  Low  belehrt,  ist  der 
jüdische  Brauch  in  der  Literatur  erst  seit  dem  XIII.  Jahrh.  nachweisbar 
{Buch  der  Frommen  ed.  Wistinetzki,  Berlin  1891,  nr.  562)  und  sicherlich 
externen  Ursprunges.  Bei  Dieudonne  Dergny  Usages,  coutumes  et  cro- 
yances  I  (Abbeville  1885)  34  wird,  wie  ich  aus  einem  Zitat  bei  Vassel 
(a.  a.  0.)  entnehme,  derselbe  Brauch  aus  verschiedenen  anderen  Kreisen 
nachgewiesen. 


42  I-  Goldziher 

kanntlich  nach  J.  G.  Frazer^  als  der  Grund  eines  großen  Teils 
der  Leichen-  und  Trauerriten  der  verschiedenen  Völker  zu  be- 
trachten ist.-  Jedenfalls  dient  die  Besprengung  auch  im  Sinne 
dieser  Auffassung  zur  Abwehr  widriger  Geister. 

Wir  finden  in  den  Dokumenten  des  Islam  Spuren  des  alten 
Glaubens,  daß  die  Anwendung  des  Wassers  am  Grabe  den 
Verstorbenen  vor  den  bösen  dämonischen  Einwirkungen  be- 
schützt. Man  wird  es  nicht  auffallend  finden,  wenn  solche 
Spuren  im  Islam  eine  den  Vorstellungen  dieses  Glaubens  ent- 
sprechende Umdeutung  erfahren. 

In  einem  Hadit  wird  erzählt^:  Der  Prophet  ging  einmal 
—  zweifelhaft,  ob  in  Mekka  oder  in  Medina  —  vor  Grabstätten 
vorüber  und  glaubte  jammernde  Menschenstimmen  herauszuhören; 
er  sagte,  es  wären  zwei  Menschen,  die  kleinerer  Sünden  wegen  die 
Grabesqualen  erleiden.  Darauf  nahm  er  einen  frischen  Palmen- 
zweig,  brach  ihn  in  zwei  Hälften,  und  steckte  jede  derselben 
auf  je  ein  Grab.  Er  erklärte  diese  Handlung  mit  den  Worten: 
Vielleicht  wird  ihnen  Gott  Erleichterung  schenken,  so  lange 
diese  Zweighälften  noch  nicht  ausgetrocknet  sind  (mä  lam 
jajbasä).*  Es  wird  also  von  dem  saftigen  Palmzweig  eine  Ein- 
wirkung auf  den  Zustand  der  Verstorbenen  erwartet.  In  der 
islamischen  Darstellung  erhält  die  Erzählung  eine  Beziehung 
zu  den  Qualen,  die  die  sündigen  Menschen  im  Grabe  von  den 

^  Journal  of  the  Anthropological  Institute  of  Great  Britain  and  Ire- 
land  (1885)  XV  64—100. 

^  Auf  das  Vorhandensein  einer  solchen  Anschauung  in  arabischem 
Kreise  läßt  die  bei  einigen  Stämmen  in  Arabia  Petraea  gebräuchliche 
Sitte  schließen,  daß  die  Leute,  die  dem  Verstorbenen  das  Grab  lier- 
gerichtet  haben,  darüber  die  Hände  waschen,  wobei  sie  die  Worte 
sprechen:  „wir  sagen  uns  los  vom  Bündnis  mit  dir  (ehna  mu- 
brijjin  demmatak)";  dieselbe  Formel  sprechen  sie  nach  der  ihnen  ver- 
anstalteten Mahlzeit.  Wir  glauben,  daß  dies  der  Sinn  der  Formel  ist, 
die  Musil  {Arahia  Fetraealll  425,  ö;  429,2)  anders  erklärt  („wir  reinigen 
deine  Schuld"). 

'  Buch.  Wudü'  nr.  57,  Adab  nr.  45,  Muslim  1358.  Vgl.  den  bei 
Ihn  Sa'd  VI  73,  3.  6  erwähnten  Brauch. 

*  Dies  Hadit  wird  sehr  weitläufig  behandelt  in  den  Fatäwl  hadi- 
tijja  von  Ibn  Hagar  al-Hejtami  (Kairo  1307)  200—201. 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  43 

beiden  Plageengelu  erleiden.  Von  diesen  Qualen  sollen  die 
saftigen  Palmzweige  Erlösung  gewähren.  Dies  ist  islamische 
Umdeutung  der  alten  Vorstellung,  daß  das  feuchte  Element 
Schutz  vor  den  bösen  Geistern  bietet,  einen  Schutz,  dessen 
auch  die  Verstorbenen  bedürfen. 

In  gesteigertem  Maße  kommt  diese  Vorstellung  zum  Aus- 
druck in  dem  islamischen  Brauch  Wasser  auf  das  ge- 
schlossene Grab  auszugießen  (al-mä'u  jurassu  ''alä  kabrihi).^ 
Nach  der  islamischen  Tradition  wurde  dieser  Brauch  im 
Islam  zuerst  am  Grabe  Ibrahims,  des  Sohnes  des  Pro- 
pheten, durch  seinen  Vater  geübt.*  Dies  hat  wohl  den  Sinn, 
daß  der  heidnische  Brauch  nicht  aufhörte,  im  Islam  fort- 
zuleben. Nach  einer  ÜberKeferung  habe  die  Besprengung 
des  Grabes  des  Propheten  sein  Mn  eddin  Biläl  b.  Rabäh  vor- 
genommen, und  die  Prozedur  wird  näher  beschrieben:  „er  be- 
sprengte es  aus  einem  Kübel,  und  begann  bei  der  Stelle  des 
Kopfes,  bis  daß  er  bei  der  der  Füße  endigte".^  Man  hat  diesem 
Brauch  im  Islam  in  der  Tat  stets  große  Wichtigkeit  zugeeignet; 
wir  haben  sogar  ein  Beispiel  dafür,  daß  ein  frommer 
Mann  in  seiner  letztwilligen  Verfügung  (wasijja),  in  der  er 
nebst  der  Darlegung  seines  Glaubensbekenntnisses  auch  die 
Modalitäten  seiner  Grablegung  anordnet,  nicht  vergißt,  seinen 
Hinterbleibenden  ans  Herz  zu  legen,  daß  die  Wassersprengung 
am  Grabe  nicht  verabsäumt  werde.^     In   einer  Instruktion  für 


'  Auf  Muhammads  Grab  Ibn  Sa'd  XI  79,26.  auf  das  des  Abu  Bekr 
il>id.  III,  I  149,  8,  auf  das  des  Chäriga  b.  Zajd  ibid  V  194,  17;  vgl.  auch 
Janssen  1.  c.  98,13  v.  u.,  Musil  Arabia  Petraea  III  425:  „Das  Grab  wird 
womöglich  immer  mit  Wasser  begossen". 

*  Usd  al-ghäba  I  40  wa-rassa  'alä  kabrihi  mä'an  wa-'allama  'alä 
kabrihi  bi-alämatin  wa-hua  awwalu  kabrin  rus'sa  'alejhi  fi-1- 
isläm. 

*  Dijärbekri  (Chamis),  zitiert  aus  Bejhaki  Ddlä'ü  al-nubutctca  (Mit- 
teilung Schwally's).  In  dem  bezüglichen  Artikel  des  Ibn  Sdd  EI,  I  165  ff. 
sowie  auch  in  anderen  alt^n  Traditionswerken  wird  dies  Detail  nicht 
erwähnt. 

*  Subki  Tabakät  lU  128,  5  v.  u.  Abu  Ismä'il  'Otmän  al-Säbüni, 
genannt  Sejch-al-isläm  (st.  1057,  Prediger  in  Nisäbür). 


44  !•  Goldziher 

den  Polizeidirektor  (muhtasib)  aus  dem  XIII.  Jahrhundert 
werden  auch  die  Übungen  aufgezählt,  deren  Einhaltung  dieser 
Beamte  bei  Beerdigungen  zu  überwachen  hat.  Unter  anderem' 
muß  er  dafür  sorgen,  daß  Wasser  auf  das  Grab  gegossen  werde.^ 
Wie  wir  hieraus  sehen,  ist  der  altarabische  Brauch  vollends 
in  den  Islam  eingezogen  und  als  hervorragendes  Element  der 
religiösen  Begräbniszeremonien  betrachtet  worden.  Allerdings 
finden  wir  ihn,  soweit  ich  sehe,  weder  in  gesetzbestimmenden 
Haditen,  noch  auch  in  den  Gesetzkodifikationen  berücksichtigt; 
die  angeführten  Daten  zeigen  jedoch  die  Wichtigkeit,  die  ihm 
trotz  der  Abwesenheit  bindender  Verpflichtung  volkstümlich 
zugeeignet  wurde.^  Die  Motivierung,  die  auch  die  heutigen 
Beduinen  diesem  Brauch  geben,  ist  als  die  ursprüngliche  zu 
betrachten,  und  es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  er  ein  Überrest 
von  Libationen  ist,  die  man  bei  verschiedenen  Völkern  den 
Gräbern  der  Angehörigen  widmete.^ 

Wenn  wir  nun  in  Betracht  ziehen,  daß,  wie  wir  oben 
sehen  konnten,  dem  Regen  eine  das  Böse  abwendende  Wirkung 
zugeeignet  wird^,  so  können  wir  den  Wunsch,  daß  das  Grab  des 

^  In  dem  Kitäb  nihäjat  al-rutba  fi  talab  al-hisba  aus 
welchem  Cheikho  interessante  Mitteilungen  gemacht  hat,  Masrik  X, 
1085,  8  V.  u.  In  einer  Abhandlung  über  die  „hisba  im  Islam",  Muktabas  III 
537 — 554;  609 — 618,  werden  vier  handschriftliche  Werke  dieser  Gruppe 
ausführlich  beschrieben;  von  diesen  ist  Nr.  4  mit  dem  von  Cheikho  be- 
handelten identisch. 

*  Snouck  Hurgronje  führt  die  Besprengung  des  geschlossenen 
Grabes  unter  den  Begräbnisbräuchen  des  Gajö -Volkes  an  (Het  Gajöland 
en  zijne  hewonei's,  Batavia  1903,  313,  6  v.u.). 

'  S.  darüber  Charles  A  Critical  History  of  the  Doctrine  of  Future 
Life  (London  1899)  24  note  2.  Bei  Babyloniem:  Keüschr.  u.  A.  T.'  638 
Anm.  1 ;  640, 17.  Auch  bei  Arabern  kommt  es  vor,  daß  Zecher  Wein  auf  das 
Grab  des  Freundes  gießen;  dafür  sind  die  Stellen  bei  Lammens  Etudes 
sur  le  regne  du  Calife  Mo'^üwia  341  (M<51ange8  Beyrouth  III  205)  gesammelt. 

*  Die  Araber  hielten  den  Regen  besonders  am  Ende  des 
Monates  für  erwünscht.  Es  wurde  als  segenverheißend  angesehen,  wenn 
in  der  letzten  Nacht  des  Monates  Regen  fiel.  LA  s.  v.  hr\  I  24  ult. 
Mit  dem  Neumond  tritt  man  bis  zur  Zeit  des  Vollmondes  fortschreitend 
in  die  günstige  Periode  des  Monates;  die  Abnahme  des  Mondes  (zumal 
der  mihäk,   das  Ende  des  Monates,  die  letzte  Nacht  oder  nach  anderen 


Wasser  als  Dämonen  abwehrendes  Mittel  45 

Freundes  des  Regens  nicht  entbehre,  mit  der  hier  behandelten 
Gruppe  von  Vorstellungen  in  Verbindung  setzen.  Durch  die 
häufige  Anwesenheit  des  Regens  am  Grabe  mögen  von  dem- 
selben die  bösen  Einwirkungen  verscheucht  werden,  vor  denen 
man  auch  den  Verstorbenen  schützen  will.  Der  Regen  soll 
reichen  Ersatz  bieten  für  die  durch  den  Überlebenden  zu  voll- 
ziehende Berieselung  (rass)  des  Grabes.  „Mögen  den  Grab- 
hügel die  donnernden  (Wolken)  und  die  Regentropfen  tränken; 
—  vermöchte  ich  es,  würde  ich  es  selbst  tränken", 
sagt  Ubejrid  in  seinem  Trauergedicht  auf  seinen  Bruder  Burejd.* 
Der  Gedanke  des  Tränkens  und  Labens  der  lechzenden  Gebeine - 
ist  mit  dem  Verblassen  der  ursprünglichen  Bedeutung  sekundär 
dazu  gekommen. 

V 

In  den  Trauergedichten  der  neuhebräischen  Poesie  wird 
am  Schluß  der  Dichtung  sehr  häufig  der  Wunsch  ausgesprochen: 
Gott  möge  den  Gebeinen  des  Verstorbenen  Tau  spenden;  ein 
Beispiel  bei  Jehuda   ha-Lewi,  Trauergedichte  nr.  35  v.   17.^ 

In  der  karai'tischen  Literatur  wird  bei  der  Erwähnung 
frommer  Verstorbener  gewöhnlich  die  Eulogie  angewandt: 
ui'hfz  br  b'^T,  rzrc  brr  „Möge  die  Lagerung  des  Taues  auf 
ihren  Ruheort  kommen",  was  dann  in  Form  vollständiger 
oder  teil  weiser  Abbreviatur  erscheint;  in  ersterem  Falle:  crnrp- 

die  drei  letzten  Nächte  des  Monates)  gilt  als  ominös  und  ist  für  jede 
Unternehmung  ungünstig.  Sehr  interessante  Beispiele  für  diese  Volks- 
Torstellung  bei  Gähiz  Buchalä  120  oben.  Man  meidet  das  Heiraten 
während  des  mihäk,  Tabarsi  Makärim  al-acMäk  81,13.  Der  für  diese 
Zeit  erwünschte  Regen  soll  eine  Gegenwirkung  gegen  die  ihr  inne- 
wohnende Schädlichkeit  hervomifen. 

^  Aghänl  XII  15,  6  v.  u.,  wo  al-rawäkid  in  al-rawä'id  zu  ver- 
bessern ist,  vgl.  Amäli  al-Käli  III,  4.  4  v.  u. 

^  Sakä  Allähu  sadähu  (z.  B.  .^^fÄüwi  VIII  140, 16);  vgl.^us  b.  Hagar 
ed.  ß.  Geyer  32,  17.  Vgl.  das  bekannte  Gedicht  des  Abu  Mihyan  al- 
Tfil:aß,  der  seine  toten  Gebeine  mit  Wein  erlabt  wissen  will. 
S.  auch  Jakob  AUarabisehes  BeduinenUbeti  142 f.;  sehr  bemerkenswert 
Ibn  Sa'd  VI  56,  12. 

'  Diwan  des  Abu-l-Hasan  Jehuda  ha-Lewl  ed.  H.  Brody  11  141. 


46  I.  Goldziher 

Dies  ist  jedoch  nicht  Nachahmung  der  in  der  arabischen  Poesie 
gangbaren  Wunschformel,  die  uns  hier  beschäftigt  hat.  Die 
jüdische  Formel  ist  vielmehr,  wie  auch  aus  dem  Text  des  an- 
geführten Beispiels  ersichtlich  ist,  auf  die  an  Jes.  26,19  an- 
gelehnte Anschauung^  gegründet,  daß  die  dereinstige  Auf- 
erstehung der  Toten  durch  Tau  bewirkt  wird,  den  Gott  im 
siebenten  Himmel  ('aräböth)  für  diesen  Zweck  bewahrt.^  Es  ist 
auch  speziell  der  die  Auferstehung  bewirkende  tal  öröth  der 
Jesajas stelle,  der  für  das  Grab  gewünscht  wird;  d.  h.  der  Ver- 
storbene möge  dereinst  der  Auferstehung  teilhaft  werden.  „Am 
Ende  der  Tage  möge  er  dich  mit  seinem  öröth -Tau  erwecken"^; 
ein  Sproß  der  bei  vielen  Völkern  vorkommenden  Vorstellung 
vom  Lebenswasser,  das  die  schwindenden  Kräfte  erneuert, 
die  Toten  wiederbelebt.'* 

Aus  der  jüdischen  Eschatologie  ist  diese  Vorstellung  als 
„Regen  der  Auferstehung"^  in  den  Islam  eingedrungen,  „Allah 
öffnet  eine  der  Schatzkammern  des  Gottesthrones,  in  welchem 
sich  das  Meer  des  Lebens  befindet.  Daraus  regnet  es  auf  die 
Erde  herab  .  .  .  und  dieser  Regen  berieselt  die  lechzende,  ver- 
storbene und  ausgedörrte  Erde,  die  dadurch  wieder  belebt  wird". 
Auch  die  Auferstehung  der  toten  Menschen  wird  dadurch  ver- 
ursacht." 


1  Bab.  Talm.  Sanhedrm  90^;  jer.  T.  Ta'anUh  I,  i. 

*  Bab.  Chag'igah  12^;  unten.  Über  den  Tau  als  „possessing  the 
magical  virtue  of  restoring  the  dead  to  life"  s.  Frazer  1.  c.  206. 

'  Jehuda  ha-Lewi,  Trauerged,  no.  33  v.  42  (ed.  Brody  II  138),  vgl. 
Preundschaftslieder  no.  75  v.  2  (I  108  ed.  Brody):  der  Tau  belebt  die 
verwüsteten  Seelen. 

*  Nach  der  Sage  der  Wogulen  verfügt  der  „Himmelsvater"  (Numi- 
tarem)  über  die  Kraft,  mittels  des  Lebenswassers,  das  seinen  wertvollsten 
Schatz  bildet,  Verstorbene  ins  Leben  zurückzurufen,  und  er  kann  dies 
Zaubermittel  auch  anderen  verleihen.  Auch  die  Ostjaken  haben  ähn- 
liche Vorstellungen  (Keleti  Szemle  VI  125  f.). 

*  Wiederbelebung  der  Toten  durch  Regen  in  der  Legende  bei 
Gähiz  Mahusin  ed.  Van  Vloten  365,  2. 

*  Ghazäli  Perle  precieuse  6d.  Lucien  Gautier  40  unten,  wo  auch 
auf  Muhammed.  Eschatologie  ed.  Wolff  67  verwiesen  wird. 


Die  Serapislegende 

Von  E.  Petersen  in  Berlin  -  Halensee 

Die  Kritik  hat  in  den  zahlreichen  Ausführungen  über  den 
Ursprung  des  alexandrinischen  Serapiskultes  (ich  schreibe  den 
Namen  wie  Erman)  in  verschiedener,  doch,  wie  mir  scheint, 
noch  nicht  in  der  richtigen  Weise  ihres  Amtes  gewaltet.  So 
auch  nicht  in  dem,  was  unlängst  S.  Reinach  und  Bouche-Leclercq 
veröffentlichten.^  In  vielem  sich  dem  letzteren  anschließend, 
hat  Amelung^  die  seit  E.  Q.  Visconti  herrschende  Vorstellung 
von  dem  alexandrinischen  Kultbild  als  einer  Schöpfung  des 
Bryaxis  genauer  bestimmt,  indem  er  die  zahlreichen  Nach- 
bildungen, voran  die  in  Alexandria  selbst  gefundenen,  sammelte. 
Gemmenbilder  und,  wichtiger,  die  Münzprägung  Alexandrias  ließ 
er  vielleicht  deshalb  beiseite,  weil  es  ihm  für  die  kunst- 
geschichtliche Entscheidung  vor  aUem  auf  die  Formen  des 
Kopfes  ankam.  Freilich  hatte  Michaelis'  gerade  an  späteren 
Ptolemäermünzen,  die  den  Kopf  des  Zeus-Serapis  darstellen,  eben 
die  Ähnlichkeit  mit  dem  Zeustypus  Otricoli  betont,  auf  die 
Amelung  Gewicht  legt.  Die  Stil  Verwandtschaft  der  besseren 
Serapisköpfe  mit  jenem  Zeustypus  ist  so  groß,  daß  Amelung 
vielleicht  mit  Recht  beide  auf  denselben  Meister  zurückführt. 
Ich  hatte  mich  vor  nahezu  fünfzig  Jahren  begnügt,  jenen  Zeus 
in  einer  These  als  Lysippeae  potiiis  quatn  Phidiacae  —  das 
war  damals  die  herrschende,  auch  von  Brunn  geteilte  Meinung 
—  artis  exemplar  aufzustellen. 


*  J.  S.  Reinach  in  Bev.  arch.  1902,  II  5  =  Cultes  Mythes  Beligions  II 
mit  einer  Bemerkung  gegen  Amelung  am  Schluß.  Bouche-Leclercq, 
Bev.  de  Vhist  d.  relig.  1902,  1  und  kurz  gefaßt  Eist.  d.  Lagides  I  113,  1 
die  Literatur. 

*  Amelung  i?e»;.  arch.  1903  II  177;  Ausonia  1908  111120. 
'  Michaelis  Sarapis  statiding,  JHS  1885  S.  291. 


L 


48  E.  PeterseQ 

In  seiner  hauptsächlicli  auf  Bouche-Leclercq  fußenden 
Prüfung  der  Nachricliten  über  die  Einführung  des  Serapis, 
kultes  glaubt  Amelung  wesentlicb  auch  mit  dem  überein- 
zustimmen, was  er  als  Ergebnis  von  A.  Dieterichs^  Ausführungen 
auf  der  Dresdener  Philologenyersammlung  hinstellt:  le  caractere 
apocrypJie  de  tous  ces  recits.  Eine  Hauptdifferenz  zwischen 
Dieterich  und  Bouche-Leclercq  scheint  nach  ihm  darin  zu  be- 
stehen, daß  der  Deutsche  den  Eumolpiden  Timotheos  (s.  unten), 
der  Franzose  den  Alexandriner  Apion^  für  den  Hauptgewährs- 
mann unserer  Serapisüberlieferung  ansah.  Dans  l'un  et  l'autre 
cas,  meint  Amelung,  aucun  detail  de  ces  recits  ne  peut  ctre 
considere  comme  ayant  im  caractere  strictement  liistorique.  Etwas 
weniger  skeptisch  äußert  sich  Bouche-Leclercq,  der  S.  24 
Legenden  und  Tatsachen  geschieden  wissen  will  und  es  a 
priori  wahrscheinlich  findet,  daß  die  Serapisstatue  a  ete  importee 
d'une  ville  grecque  posse'dant  un  culte  analogue  ä  celui  de  Serapis. 
Preciser  davantage  est  impossible.  Das  ist  eine  eklektische 
Kritik,  die  nach  eigenem  Belieben  das  Überlieferte  hier  annimmt 
dort  verwirft.  Dieterichs,  des  so  früh  der  Wissenschaft  Ent- 
rissenen, Ansichten  konnte  Amelung  aus  persönlichem  Verkehre 
vielleicht  besser  kennen,  als  sie  aus  den  zu  kurzen  'Ver- 
handlungen' zu  entnehmen  sind;  gleichwohl  hoffe  ich  sie  mit 
der  folgenden  Ausführung  richtiger  zu  erfassen. 

Man  verkennt  die  Aufgabe  der  Kritik,  wenn  man  es  als 
ihre  Sache  betrachtet,  jeden  Wunder  enthaltenden  Bericht  ab- 
lehnen oder  wenigstens  der  Wunder  entkleiden  zu  müssen. 
Als  geschehen  können  Wunder  freilich  keinen  Teil  einer 
vernunftgemäßen  GescBichtserzählung  bilden,  als  geglaubt 
müssen  sie  es.  Denn  Wunder,  wie  immer  sie  dazu  gekommen, 
haben  Menschen  zu  allen  Zeiten  geglaubt.  Vor  allem  sind  ge- 
glaubte und  erzählte  Wunder  eine  typische  Begleiterscheinung 
neu  sich  bildender  religiöser  Vorstellungen  und  Kulte. 


'  Verhandlungen  d.  44.  Versammlung  d.  Ph.  u.  Seh.  S.  31. 

*  Über  Apion  als  Quelle  der  Schrift  über  Isis  s.  Hermes  1896,  232. 


Die  Serapislegende  49 

Auch  der  Serapislegende  gegenüber  hat  die  Kritik  also 
nicht  die  Aufgabe,  die  Wunder  säuberlich  auszuscheiden.  Viel- 
mehr soll  sie  die  versprengten  Teile  der  Wundererzählung  auf 
ihre  Zusammengehörigkeit  und  Einheitlichkeit  prüfen,  danach 
das  Ganze  darauf  ansehen,  ob  es  dem  Zwecke  und  der  Zeit 
gemäß  ist.  Was  darin  erdichtet,  und  was  tatsächlich  ist,  wird 
dann  uns,  die  von  keinem  Serapis wahn  befangen  sind,  von 
selbst  klar  sein.  Parthey,  Krall,  Lumbroso^  und  wie  sie  alle 
heißen,  haben  die  Berichte  des  Tacitus  hist.  IV  83  (hier  T), 
Plutarch  Isis  28  und  soll.  anim.  XXXVI  2  (hier  Pi  und  Ps) 
und  andere  später  besonders  zu  nennende  sorgfältig  miteinander 
verglichen,  doch  nicht  in  dem  Sinne,  wie  es  hier  geschehen 
soll.  Nicht  die  vermeintlichen  Tatsachen  nur,  sondern  die 
Legende  selbst  soll  als  etwas  Tatsächliches  hergestellt  werden. 
Je  mehr  sie  durch  sich  als  in  unserer  Überlieferung  verkürzt 
und  durch  Verschiebungen  oder  Auslassungen  entstellt  verraten 
wird,  um  so  gewisser  ist,  daß  die  zugrunde  liegende  Quelle 
eine  einheitliche,  originale  ist. 

Ptolemaios  I.  Soter,  so  lautete  also  die  Legende,  hatte  ein 
Traumgesicht,  gleichwie  der  Pharao  in  der  Geschichte  Josephs. 
Ihm  erscheint  ein  Jüngling  deccn'e  eximio  et  maior  qiiam  hiimana 
specie  und  gebietet  dem  König  ut  fidissimis  amicorum  in  Pontum 
missis  effigiem  siiam  acciret]  darauf  scheint  das  (Jebild  in  cadum 
igne  pluriyno  attolli.  Träume  sind  bis  heute  eine  beliebte  Form 
der  Offenbarung,  sei  es  die  Gestalt,  sei  es  den  Versteck  des 
heiligen  Bildes  anzuzeigen.  Vielleicht  erinnert  man  sich  der 
Geschichte  der  erst  unlängst  in  Schwung  gebrachten  Madonna 
del  rosario  bei  Pompeji,  wie  sie  die  Frankfurter  Zeitung  er- 
zählte. Es  war  ungefähr  dasselbe,  was  Ulrichs,  Reisen  und 
Forschungen  I  236  f.,  von  einem  Bilde  der  Panagia  in  Böotien 
und  anderen  ähnlichen  berichtet. 

Wie  der  Pharao,  anscheinend  nach  kurzem  Wachen  in 
selbiger  Nacht,  hat  auch  Ptolemaios  nach  längerer  Frist,  wo- 

^  Parthey  zu  Plutarch  Isis  28;  Krall  Tacitus  u.  d.  Orient;  Lum- 
broso  Memorie  B.  Accad.  Torino  2.  ser.  XXVU,  189. 

Archiv  f.  lleligionswissenschaft  Xm  ^ 


50  E.  Petersen 

von  sogleich,  ein  zweites  Gesicht:  eadem  species  terribilior  iam 
et  instantior,  Worte,  die  sich  zu  widersprechen  scheinen  und 
erst  durch  Pi  verständlich  werden.  Hier  fehlt  das  erste  Traum- 
gesicht; vielmehr  ist  nur  .eines  erwähnt,  dieses  eine  aber  offen- 
bar nicht  gleich  dem  ersten  von  T,  sondern  gleich  dem  zweiten. 
Aber  daß  Pi  den  ersten  Traum  kennt  und  nur  ausgelassen 
hat,  um  sogleich  zur  Hauptsache  zu  kommen,  verrät  er  selbst. 
Denn  am  Schlüsse  des  Kapitels  bestätigt  er  durch  einen  Aus- 
spruch Heraklits,  daß  Dionysos  derselbe  wie  Hades -Pluton, 
derselbe  auch  wie  Osiris,  worauf  noch  zurückzukommen  ist. 
Jetzt  wissen  wir  auch  gewiß,  was  wir  sonst  nur  erraten  hätten, 
daß  der  jugendschöne  Gott  des  ersten  Traumes  in  T  Dionysos 
war,  zu  erraten  allenfalls  schon  an  dem  Feuer,  in  dem  er  gen 
Himmel  fuhr,  wie  er  einst,  von  oben  herabkommend,  in  ihm 
von  Semele  war  empfangen  worden.  Dionysos  war  den  Griechen 
seit  dem  fünften  Jahrhundert  in  zweierlei  Gestalt  bekannt: 
jugendlich  und  bärtig,  und  die  letztere  ist  es,  die  hier  mit 
dem  Hades -Pluton  eine  Einheit  bildet.  Dem  schlafenden  König 
erscheint  also  zuerst  der  heiter -jugendliche,  hernach  der  bärtig- 
ernste Gott. 

Ohne  weiteres  ist  jetzt  durch  den  Vergleich  der  beiden 
Träume  in  T  zu  erweisen,  daß  hier  durch  eine  Verschiebung 
einiges  zwischen  die  beiden  Traumgesichte  geraten  ist,  was 
erst  nach  dem  zweiten  am  Platze  ist.  Nach  jenem  ersten 
nämlich  läßt  T  sogleich  die  ägyptischen  sacerdotes  vom  Könige 
befragt  werden,  und  als  diese  im  Pontus,  von  wo  der  jugend- 
liche Gott  sein  Bild  zu  holen  geboten,  nicht  Bescheid  zu  wissen 
vorgeben,  den  Eumolpiden  Timotheos.  Auch  dieser  kann  erst 
durch  Befragung  solcher  qui  in  Pontum  mcassent  das  Rätsel 
lösen,  daß  es  sich  um  Pluto  handle,  dessen  Bild  mit  Proser- 
pina verbunden  in  einem  Tempel  unfern  Sinopes  stände: 
Timotheus  . .  .  cognoscit  urhem  illic  Sinopen,  nee  procid  templum 
vetere  inter  accolas  fama  lovis  Ditis;  namquc  et  midiehrem 
effigiem  adsistere,  quam  plerique  Proserpinam  vocent.  Dies  Bild 
ist    dann    das    nach   Alexandria    geholte    und   dort  als   Serapis 


Die  Serapislegende  51 

verehrte.  Wie  aber  wäre  es  möglich  gewesen,  in  diesem 
bärtigen  Gott  den  jugendschönen  des  ersten  Traumes  zu  er- 
kennen? Nichts  ist  gewisser,  als  daß  die  Erkennung  erst  nach 
dem  zweiten  Traum  möglich  war,  ebenda  wo  sie  auch  in  Pi 
ihren  Platz  hat.  Das  allein  war  ja  auch  Zweck  und  Bedeutung 
des  zweiten  Traum gesichts,  das  erste  zu  ergänzen,  ja  es  eigent- 
lich erst  zutrefifend  zu  machen.  Vielleicht  kann  man  dies  auch 
von  dem  zweiten  Traume  Pharaos  sagen.  Da  dieser,  jetzt 
wenigstens,  in  der  Genesis  sogleich  dem  ersten  folgt,  bedurfte 
es  hier  keiner  Motivierung  des  zweiten  Traumes.  In  der 
Serapislegende  dagegen  erfolgt  der  zweite  Traum,  weil  der 
König  den  ersten  nach  einiger  Zeit  vergaß.  Blind  aber  müßten 
wir  sein,  wenn  wir  die  Gleichgültigkeit  des  Königs  und  die 
Unwissenheit  seiner  Theologen  nicht  als  Maske  erkennt€n,  hinter 
der  sich  das  Verlangen  birgt,  den  neuen  Kult  zu  gründen. 
Kein  Zweifel,  daß  sie  nur  zu  gut  wußten,  wo  das  gewünschte 
Bild  zu  holen  war,  aber  es  zum  Scheine  aus  dem  Munde  eines 
Dritten,  eines  Unbekannten,  wenn  auch  nachher  sein  Name, 
Soteles,  erhalten  blieb,  vernahmen,  wie  des  Pharao  Träume 
nicht  von  den  Berufenen,  sondern  von  dem  eingekerkerten 
Fremdling  gedeutet  wurden.  Auch  die  veränderte  Erscheinung 
des  zweiten  Traumgesichts,  in  dem  der  Gott  nun  seine  wahre 
Gestalt  offenbart,  wird  durch  die  fingierte  Gleichgültigkeit  des 
Königs  motiviert.  Diese  also  steht  in  T  an  richtiger  Stelle, 
und  nur  das  Vorhergehende,  die  zur  Lösung  des  Rätsels 
führende  Nachforschung  muß,  weil  erst  nach  dem  zweiten 
Traume  möglich,  als  verschoben  angesehen  werden.  Nachher 
ist  sie  in  demselben  Maße  besser  am  Platze,  wie  die  Sorg- 
losigkeit des  Königs  nach  der  gewonnenen  Aufklärung  übel 
angebracht  sein  würde. 

Die  Verschiebung  der  Nachforschung,  mag  sie  nun  erst 
von  T  oder  schon  von  einem  Vorgänger  vorgenommen  sein, 
war  doch  vielleicht  dadurch  veranlaßt  worden,  daß  etwas  Ähn- 
liches, nur  mit  geringerem  Ernst,  schon  nach  dem  ersten 
Traume   stattgefunden,   so  daß    der  Nacherzähler   glaubte,   zu- 


52  E-  Petersen 

sammenziehen  zu  dürfen,  was,  wenn  auch  mit  wesentlichen 
Unterschieden,  an  zwei  Stellen  vorkam.  Dasselbe  werden  wir 
sogleich  noch  einmal  zu  beobachten  haben.  In  den  aus  T  an- 
geführten Worten  war  es  Timotheos,  der  durch  Ausforschung 
ermittelt,  daß  der  Gott  in  Sinope  Pluto  sei;  als  besonderes 
Kennzeichen  wird  die  neben  ihm  stehende  Proserpina  geltend 
gemacht.  In  Pi  ist  es  der  Kerberos  mit  der  Schlange,  der 
zur  gleichen  Feststellung  dient.  So  gekürzt  auch  die  Dar- 
stellung in  beiden  Zeugen  ist,  so  ist  doch  klar,  daß  bei  beiden 
die  Identität  der  realen  in  Sinope  befindlichen  Bilder  mit  dem 
im  zweiten  Traum  gesehenen  Gott,  der  bei  Pi,  vorgreifend, 
als  der  Koloß  des  Pluton  in  Sinope  bezeichnet  wird,  övuq 
slds  rbv  8V  SiväTtiß  tov  IlXovravog  xoXoöööv,  erwiesen  werden 
soll.  Wie  die  beiden  Erkennungsmittel,  Proserpina  und  Ker- 
beros, einander  nicht  ausschließen,  sondern  ergänzen,  so  ist 
auch  der  Name  des  ägyptischen  Theologen,  Manetho,  aus  Pi 
in  T  ein-  oder  vorauszusetzen.  Hier  birgt  er  sich  unter  den 
sacerdotibus  Aegyptiorum.  Zu  der  beabsichtigten  Verschmelzung 
des  griechischen  mit  einem  ägyptischen  Gott  waren  Theologen 
beider  Nationalitäten  erforderlich,  und  wir  erkennen  durch 
Vergleich  von  T  und  Pi  deutlich,  wann  ein  jeder  von  beiden 
seine  Stimme  abgibt.  Die  Verhandlung  über  die  Identität  des 
Traumbildes  mit  dem  wirklichen  findet  bei  T  in  einem  früheren 
Zeitpunkte  statt,  nach  dem  (zweiten)  Traum,  vor  der  Ein- 
holung des  Bildes  von  Sinope,  bei  P  dagegen  erst  nach  dieser: 
inst  ds  xo[iL6d^sls  G}q)d-ij  (der  Koloß  von  Sinope),  öv^ßaXövrsg 
ol  tcbqI  Tifiö&sov  rbv  ii.rjyrjtijv  xal  Mavsd^ava  tbv  2JsßsvvCrrjv 
nXovrcovog  hv  äyaX^a  xa  KaQßsQco  rsxnaiQÖ^svoi  xai  rä  dQoi- 
xovti,  jcsC&ovöi  rbv  UroXs^cctov,  cjg  krsQOv  d'Säv  ovdev6g, 
ccXXä  Hagdmöög  köriv.  Dies  ist  der  andere  Fall,  wo  nicht 
etwas,  das  in  der  Legende  einmal  erzählt  war,  in  T  und  P 
an  verschiedener  Stelle  angebracht  wurde,  sondern  vielmehr 
ein  Vorgang,  der  sich  in  der  Legende  ähnlich,  doch  nicht 
gleichartig  wiederholte,  in  den  abgeleiteten  Darstellungen, 
der   Kürzung   halber,  je   nur   einmal    Aufnahme    fand.     Nach 


Die  Serapislegende  53 

den  beiden  Träumen  mußte  es  sich  zunächst  darum  handeln, 
welcher  Gott  es  war,  der  dem  König  erschienen  war,  und  wo 
das  Bild  zu  finden  wäre.  Dafür  waren  die  sacerdotes  Äegyp- 
iioriim,  d.  h.  Manetho,  natürlich  nicht  kompetent,  und  eben 
deshalb  wohl  wird  er  hierbei  in  T  nicht  genannt.  Auch  Timo- 
theos  wußte  es  selbst,  wie  er  sich  stellte,  nicht,  brachte  es 
aber  durch  Erkundigung  heraus.  Als  das  Bild  danach  in 
Alexandria  angelangt  war,  mußten  weitere  Auseinandersetzungen 
über  Wesen  und  Bedeutung  des  Gottes  folgen,  von  denen  uns 
P  sagt.  Hier  werden  nun,  wie  gesagt,  beide  genannt,  zuerst 
Timotheos,  danach  Manetho,  und  in  derselben  Ordnung  folgen 
zwei  Urteile,  von  denen  das  erstere,  daß  nämlich  der  Gott 
Pluto  sei,  dem  Timotheos  zustehend,  die  Voraussetzung  und 
Unterlage  des  zweiten,  ebenso  selbstverständlich  dem  Manetho 
zustehenden  ist,  daß  der  Pluto  kein  anderer  als  Serapis  sei.^ 
Was  weiter  folgt,  daß  Hades  (Pluton)  gleich  Dionysos,  aber 
auch  Osiris- Sarapis  gleich  Dionysos,  liest  sich  zwar  wie 
eine  angehängte  Bemerkung  Plutarchs,  ist  aber  unverkennbar 
ein  Teil  des  Räsonnements  jener  Theologenkonferenz.  Denn 
hier  erst  schließt  sich  der  Ring  der  klüglich  ersonnenen  Ma- 
chinationen, indem  jetzt  endlich  auch  der  erste  Traum,  der 
sonst  ganz  bedeutungslos  erscheinen  würde,  zur  Wirkung  ge- 
langt. Augenscheinlich  ist  in  der  Reihe  von  Gleichungen 
Pluton -Hades -Dionysos -Osiris -Serapis  der  im  ersten  Traum 
gesehene  Dionysos  (mit  seinem  Stiersymbol)  das  verbindende 
Mittelglied. 


*  Führt  die  Legende  so  unweigerlich  daza,  daß  der  aus  Sinope 
eingeführte  Gott  keinen  anderen  Namen  mitbringen  konnte  als  Pluton, 
und  ist  anderseits  von  Wilcken  Archiv  für  Papyrus  forsch.  III,  299  (vgl. 
IV,  208)  festgestellt,  daß  um  die  Zeit,  da  Serapis  in  Alexandria  durch 
Ptolemaios  I.  seinen  Kult  erhielt,  die  Namensverbindung  von  Osiris  und 
Apis  Oserapis  gelautet  habe,  so  stehen  wir  vor  der  Frage:  ist  die  be- 
wußte und  gewollte  Veränderung  des  Namens  Oserapis  in  Serapis  für 
den  neuen  Kult  wirklich  so  andenkbar,  daß  man  doch  irgendwoher  aus 
hellenischem  Gebiet  den  Namen  geholt  glauben  könnte?  Denn  den 
Babylonier  läßt  auch  Wilcken  nicht  gelten. 


54  E.  Petersen 

Nachdem  das  Bild  und  sein  Standort  ermittelt  sind ,  folgt 
der  zweite  Akt  des  Dramas:  Gesandte  werden  abgeordnet, 
den  Gott,  d.  h.  sein  Bild  von  Sinope  zu  holen,  welches  damals 
nach  T  von  einem  Tyrannen,  Skydrothemis,  beherrscht  wurde. 
Diese  Angabe  anzuzweifeln  steht  uns  nicht  zu.  Bevor  Alexander 
die  Herrschaft  des  Perserkönigs  brach,  herrschten  in  Sinope  in 
seinem  Namen  Machthaber,  die  sich  auf  den  Münzen  der 
Stadt  nennen.  Nach  Alexander,  und  schon  unter  ihm  kennen 
wir  in  so  vielen  Städten  und  Landschaften  kleine  Herrscher, 
daß  die  Herrschaft  des  Skydrothemis,  dessen  Namen  Krall  aus 
dem  Persischen  erklären  wollte,  andere  mit  anderen  Barbaren- 
namen vergleichen,  als  geschichtlich  anzusehen  ist.  Doch 
soUen  die  Gesandten  vorher  Delphi  besuchen,  ut  Pythium 
ÄpolUnem  adeant.  So  kommt  außer  dem  eleusinischen  Eumol- 
piden,  der  als  solcher  dem  Kult  des  Pluton  und  der  Pro- 
serpina nahestand,  und  dem  ägyptischen  Manetho,  nun  auch 
das  zentralste  aller  hellenischen  Heiligtümer,  in  Delphi  ins  Spiel. 

Hier  zeigt  uns  glücklicherweise  Ps,  wie  sehr  verkürzt  Pi 
ist,  und  daß  wir  uns  den  originalen  IsQog  Xöyog  noch  sehr 
viel  mehr  im  einzelnen  ausgeführt  zu  denken  haben  als  in  T. 
Von  dessen  kürzerer  Fassung  weicht  Ps  darin  ab,  daß  T  den 
Besuch  Delphis  und  die  Befragung  des  Orakels  kurzweg  vom 
König  geboten  sein  läßt,  Ps  dagegen  ein  neues  Wunder  ein- 
führt, das  unter  dem  Scheine  einer  neuen  Hemmung  nur  neue 
Förderung  bringt:  widriger  Wind  treibt  das  Schiff  links  statt 
rechts  an  Malea  vorbei,  und  ein  Delphin  geleitet  es  glücklich 
nach  Kirrha.  Das  poetische  Vorbild  einer  älteren  Kultgründuug 
ist  unverkennbar.  Übrigens  hat  T  doch  auch  das  mare  secun- 
dum,  was  dem  etöXovs  ^ccXccxovg  von  Ps  entspricht,  nachdem 
der  ßCaiog  avs^og  seine  Schuldigkeit  getan  hat.  Beide  Ver- 
sionen sind  unschwer  zu  vereinen.  Das  Gebot  des  Orakels 
lautet  in  T  und  Ps  sehr  ähnlich,  aber  doch  nicht  ganz  gleich: 
irent  simulacrumque  patris  sui  reveJierent,  sororisque  relinquerent] 
dst  dvotv  ccyaXfiocTcov,  tö  ^sv  rov  ITlovtcovog  ccvEXeid-ai  xöi 
xo^C^Eiv,   TÖ   dh   tfjg  KÖQ^jg  dno^dtccöd'ai  xal  xaralinslv.     Ein 


Die  Serapislegende  55 

merkwürdiges  Detail  dieses  Abformen,  das  Reinach  zu  einem 
Exkurs  veranlaßte,  und  das  vielleicht  mehr  als  alles  andere 
zeigt,  wie  sachlich  und  nüchtern  trotz  aller  aufgebotenen 
Phantastik  die  ganze  Erzählung  ist.  Dieser  positive  Zug  sagt 
uns  jedoch  mehr.  Um  das  Bild  des  Serapis,  den  eigentlichen 
Gegenstand  des  neuen  Kultes  von  vornherein  mit  einem 
mystischen  Schleier  zu  umgeben,  ließ  Ptolemaios  nicht,  wie 
es  ja  sonst  oft  genug  geschehen  war,  ein  neues  Bild  an  Ort 
und  Stelle  anfertigen,  sondern  ein  fertiges  von  auswärts 
kommen.  Sein  Bild  sollte,  obwohl  ein  relativ  neues,  etwas 
von  dem  Nimbus  haben,  den  die  Sage  ganz  alten  verlieh:  sie 
seien  vom  Himmel  gefallen,  wie  das  der  athenischen  Polias, 
oder  aus  Troja  entführt,  wie  die  Palladien,  oder  aus  pon- 
tischen  Fernen  wie  die  brauronische  Artemis.  Was  bedeutet 
es  nun  aber,  daß  die  Göttin  nicht  auch,  wie  der  Gott,  im 
Original,  sondern  nur  im  Abbild  geholt  werden  sollte  oder 
geholt  wurde?  Denn  daß  jedenfalls  auch  ihr  Bild  fertig  mit- 
gebracht wurde,  nicht  etwa  nur  ein  Modell,  haben  wir  allen 
Grund  anzunehmen,  hauptsächlich  deshalb,  weil  die  Götter- 
gruppe sonst  ja  doch  zur  Hälfte  vor  den  Augen  der  Alexandriner 
entstanden,  der  Nimbus  zerstört  wäre.  Auch  zeigen  zwei 
Münztypen  Alexandrias  ^,  der  eine  unter  Hadrian,  der  andere 
unter  Antoninus  Pius  geprägt,  die  Überführung  der  Bilder 
des  thronenden  Serapis  und  einer  stehenden  Göttin  mit  Fackel, 
die  man  Demeter  oder  Persephone  nennen  kann.  Diese  steht 
das  eine  Mal  vor,  d.  h.  zur  Hechten,  das  andere  Mal  hinter, 
d.  h.  zur  Linken  des  Gottes.  An  seiner  anderen  Seite  be- 
findet sich  einmal  die  sogenannte  Isis  Pharia,  das  kleine 
Yordersegel  haltend,  einmal  Tyche.  Symbolisieren  diese  zwei 
die  glückliche  Fahrt  nach  Ägypten,  so  kann  das  Ganze 
nicht  wohl  anders  verstanden  werden  als,  wie  Zoega  Xiimmi 
aeg.  S.  133  deutete,   die  Überführung   beider  Götterbilder   von 


'  Catal.  Coins    Brit.  Mus.   Alexandria  886    Hadrian,    1207    Anto- 
ninus Pius. 


56  E-  Petersen 

Sinope  nach.  Alexandria.  Jenes  änoiid^aßd'ai  haben  wir  aber 
gewiß  nicht  so  zu  verstehen,  als  habe  man  nur  einen  'Abguß' 
mitgenommen,  was  auch  Amelung  S.  6,  2  als  unpassend 
empfunden  zu  haben  scheint:  das  'Abformen'  war  nur  das 
Mittel  zur  Herstellung  einer  Kopie  nach  dem  Abguß.  Warum 
aber  überhaupt  eine  Kopie  und  nicht  das  Original?  Wollten 
etwa  die  Sinopiten  nicht  die  ganze  Gruppe  hergeben?  Oder 
wollte  man  wenigstens  die  Göttin  etwas  ägyptisieren,  der  Isis 
angleichen?  Davon  ist  auf  jenen  Münzen  freilich  nichts  zu 
erkennen.  Wir  müssen  dies  dahingestellt  sein  lassen.  Genug, 
der  delphische  Gott  gebot,  nach  Ps,  den  Pluto  mitzunehmen, 
die  Köre  dort  zu  lassen,  nach  T  aber  nannte  er  'seinen  Vater 
und  seine  Schwester'.  Dies  ist  offenbar  die  Sprache  des 
Orakels  selbst,  und  zwar  bezieht  sich  der  Spruch  auf  den 
zweiten  Traum,  da  es  zu  dem  ersten  passend  vielmehr  fratrem 
heißen  müßte  als  patrem. 

Den  dritten  Akt,  der  in  Sinope  spielt,  gibt  uns  nur  T: 
eine  Hemmung  und  Verzögerung.  Das  Volk  will  das  Bild 
nicht  hergeben,  der  König  schwankt:  auf  der  einen  Seite  Furcht 
vor  dem  Numen,  dessen  Wille  ihm  bekannt,  auch  Geschenke 
und  Verheißungen;  auf  der  anderen  das  Volk,  das  sich  wider- 
setzt. Darüber  vergehen  drei  Jahre,  Als  dann  auch  neues 
Andringen  des  Ptolemaios  keinen  Erfolg  hat,  droht  dem 
Skydrothemis  ein  (Traum)gesicht;  es  folgen  Plagen  wie  einst 
beim  Pharao,  und  als  das  Volk  nicht  nachgibt,  treibt  der 
Gott  selbst  die  Schiffe  ans  Ufer  und  besteigt  spontan  das 
seinige  ^,  und  in  drei  Tagen  erreicht  er  mit  wunderbarer 
Schnelligkeit  Alexandria.  Wie  der  Vorgang  in  Sinope  wirklich 
gewesen,   können  wir  aus  der  Wundererzählung  nicht  heraus- 


1  Umgekehrt  geht  Asklepios  nicht  als  Bild,  sondern  als  Schlange 
selbst  vom  Schiff  aufs  Land  in  Epidauros  Limera,  Paus.  III  28,  4,  in 
Rom  Liv.  epit.  XI.  Das  Bild  hemmt  oder  fördert  wunderbar  die  Fahrt  des 
Schiffes,  auf  dem  es  sich  befindet:  die  samische  Hera  auf  dem  tyr- 
rhenischen  Riluberschiff,  Athen  XV  672  c,  die  Magna  Mater  auf  dem 
Tiber  bei  Ovid  F.  IV  298. 


Die  Serapislegende  57 

klauben  wollen:  nur  eine  längere  Zeit  der  Verhandlung  oder 
Vorbereitung  der  Überführung,  wahrscheinlich  sogar  die  drei- 
jährige Frist  dürfen  wir  für  historisch  halten.  Die  Ankunft 
des  Bildes  wird  von  Hieronymos  und  Cvrill  auf  Olympiade 
123  (124)  gesetzt,  also  in  die  letzt«  Lebenszeit  des  ersten 
Ptolemaios.  Es  fehlt  allerdings  nicht  an  Anzeichen,  die  einen 
erheblich  früheren  Ansatz  zu  empfehlen  scheinen.^  Je  früher 
wir  es  überführt  dächten,  desto  eher  könnte  man  glauben,  daß 
das  Bild,  auch  des  Serapis,  überhaupt  erst  für  Ptolemaios  in 
Sinope  gemacht  wäre.  Doch  würde  das  zu  sehr  mit  der  Legende 
streiten.  Aber  auch  allein  die  Anfertigung  des  weiblichen 
Bildes,  ebenfalls  einer  Kolossalstatue,  vermutlich  in  wesentlich 
gleicher  Technik,  mußte  eine  längere  Zeit  erfordern,  desgleichen 
Verhandlungen  und  Vorbereitungen  verschiedener  Art. 

So  weit  also  ist  die  Legende  im  wesentlichen  einheitlich  und 
wohl  zusammenhängend,  ein  Gemisch  von  Geschehenem  und 
Erfundenem,  wie  es  der  Legende  und  dem  Zweck,  sowie  der 
Zeit  der  Kultgründung  nicht  unangemessen  war.  Aber  wir 
sind  noch  nicht  am  Ende.  Es  bleiben  in  unserer  Überlieferung 
noch  einige  Züge,  die  mit  dem  bisher  Vernommenen  teils  in 
Zusammenhang,  teils  in  Widerspruch  zu  stehen  scheinen,  und 
eben  die  Auflösung  dieses  Widerstreites  hat  noch  ihre  besondere 
Bedeutung.  Es  muß  doch  auch  auffallen,  daß  die  Legende 
den  Kultus  bis  dahin  als  einen  rein  griechischen  erscheinen 
läßt,  der  nach  eleusinisch- delphischem  Rat  aus  einer  ionischen 
Kolonie  geholt  wurde. 

Aber  es  fehlt  ja  auch  noch  der  vierte,  in  Ägypten 
spielende  Akt.  Templum  pro  magnitudine  urbis  extructum  loco 
cui  nomen  BJiacoüs  heißt   es  in  T,  und  diese  Worte  gestatten 

*  So  die  Inschriften  im  Anhang  zu  Stracks  Dynastie  der  Ptolemätr 
1.  Arsinoe,  unter  Ptolemaios  I.,  "Weihung  I^äga^i  ^lat  und  4.  Weihung 
VTihg  ßaaiXeag  UTolBfiaiov  xal  x&v  rixvov  ZuQÜitidi  %al  "letdi.  Wenn 
die  Inschrift  Bei:  Ärch.  1860  III  richtig  auf  Serapis  bezogen  wird,  scheint 
hier  noch  älteres  Zeugnis  vorzuliegen.  Von  welchem  Ptolemaios  die 
Athener  ihren  Serapis  holten,  sagt  Paus.  I  18,  4  leider  nicht;  er  wußte 
es  vielleicht  nicht. 


58  E.  Petersen 

zu  denken,  was  das  Ganze  heischt,  daß  der  Tempel  zur  Auf- 
nahme des  Bildes  fertig  war,  als  dieses  in  Alexandria  ankam. 
Auch  dadurch  also  wird  jenes  triennium  noch  besser  verständ- 
lich. Fuerat  illic  sacellum  Serapidi  atque  Isidi  antiquüus  sacraüim 
heißt  es  weiter,  und  wir  erraten  sogleich,  daß  dies  alte  kleine 
Heiligtum  an  derselben  Stelle,  wo  später  das  große  stand,  das 
verbindende  Glied  zwischen  ägyptischer  Religion  und  dem  neu- 
eingeführten Gott  bilden  soll.  Denn  die  Göttin  ist  die  echt- 
ägyptische Isis,  der  Gott  aber  ist  der  ägyptische  Osiris  unter 
dem  neuen  Namen  Serapis.  Mit  den  Worten  haec  de  origine 
et  advedu  dei  celeberrima  scheint  in  T  die  eigentliche  Legende 
abzuschließen.  Doch  hören  wir  auch  noch,  was  er  als  ab- 
weichende Meinungen  über  die  Herkunft  und  Bedeutung  des 
Gottes  hinzufügt:  nach  einigen, wäre  er  aus  Seleucia  urbe  Suriae 
geholt,  andere  sedem  ex  qua  transierit  Metnphim  perhibent]  den 
Gott  selbst  aber  glaubten  muUi  Äesculapium  .  .  .,  quidam 
Osirin  . .  .,  plerique  lovem  .  .  .,  plurimi  Ditem  patrem  insignibus 
quae  in  ipso  manifesta  aut  per  ambages  coniectant.  Die  letzten 
Worte  sind  wohl  teils  auf  den  Kerberos,  teils  auf  den  Modius 
und  die  dunkle  Farbe  zu  beziehen.  Auf  den  ersten  Blick  er- 
scheint ein  solcher  Widerstreit  der  Ansichten  zu  einem  Teile 
wenigstens  unbegreiflich.  Denn  wie  konnte  man  ernstlich  im 
ungewissen  sein,  ob  ein  um  das  Jahr  300  aufgestellter  Koloß, 
das  Bild  des  berühmtesten  Tempels  von  Alexandria,  aus  dem 
ionischen  Sinope  oder  aus  der  altägyptischen  Stadt  Memphis 
herstamme?  Wir  haben  uns  ja  aber  nur  des  Orakels,  in 
welchem  Apoll  seines  Vaters  Bild  zu  holen  hieß,  zu  erinnern, 
sowie  daß  das  Bild  in  Sinope  lovis  Ditis  hieß,  um  inne  zu 
werden,  daß  diese  Meinungsverschiedenheit  uns  keineswegs  aus 
der  Legende  selbst  herausführt.  Wir  erkannten  oben  schon, 
daß  in  ihr  an  zwei  Stellen  von  der  Identifizierung  des  im  Traum 
gesehenen  Bildes  mit  einem  realen  die  Rede  war.  Das  zweite 
Mal,  zufolge  Pi  (oben  angeführt),  nach  Ankunft  des  Bildes  in 
Alexandria,  wo  nun  Ptolemaios  mit  dem  eleusinischen  Theologen 
Timotheos   UDd    dem   ägyptischen   Manetho     über    das    Wesen 


Die  Serapislegende  59 

des  neuen  Gottes  verhandelt.  Wir  sehen,  daß  sie  die  von  An- 
fang an  übernommene  Rolle  weiterspielen.  Der  König  hatte 
den  Gott,  der  sich  ihm  im  Traum  zuerst  als  Dionysos,  danach 
als  Pluto  gezeigt  hatte,  nicht  zu  erkennen  vorgegeben.  Und 
nur  wenn  wir  ein  Auge  zudrücken,  um  die  Legendenbildung 
nicht  zu  stören,  wundern  wir  uns  nicht,  daß  Pluton,  der  Zeus 
X&6vLog,  nicht  vielmehr  an  seiner  ganzen  Erscheinung  erkannt 
wird.  Nein,  am  Kerberos  erkennt  der  weise  Rat,  daß  es  Pluton 
ist,  und  überzeugt  darauf  den  König,  daß  der  Gott  kein  anderer 
als  Serapis  sei.  Wir.  haben,  vorgreifend,  schon  oben  erkannt, 
daß,  was  Plutarch  hier  scheinbar  aus  eigenem  Wissen  über 
die  Identität  von  Pluton -Dionysos -Serapis  vorträgt,  in  Wahr- 
heit nur  das  Räsonnement  der  von  Ptolemaios  berufenen 
Theologen  ist.  Ihr  Votum  also  ist  auch  das,  was  ziemlich 
deutlich  sich  nicht  als  theoretische  Erwägung,  sondern  als 
praktischer  Vorschlag  darstellt:  ßi?.riov  dh  xov  "Oöigiv  dg 
tavrb  övvdysiv  x&  ^lovväc),  rä  x  ^OßCgidv  tbv  HägaTCiv^ 
oxE  xr}v  cpvöLV  iisxsßaXe,  xavxi,s  xvfövxa  xr^g  XQOöiiyoQiag.  Denn 
damit  ist  ja  eben  die  nach  dem  Willen  des  Ptolemaios  voll- 
zogene Verschmelzung  des  griechischen  Gottes  mit  dem 
ägyptischen  Osiris  unter  dem  Namen  Serapis  vollzogen. 

Freilich  eben  seines  Namens  wegen  glaubte  man  den 
Serapis  aus  Babel  herleiten  zu  müssen,  wo  das  Ugbv  xov 
ZlBQä:cL8og  in  Verbindung  mit  Alexanders  Sterben  genannt 
wurde,  und  zwar  in  den  ßaGilnoi  icpri^egCdeg  nach  Arrian  VII 
26,  2.  Wenn  Arrian  dies,  wie  auch  Wilckens'  Meinung  ist, 
aus  einem  seiner  beiden  Hauptgewährsmänner,  dem  Ptolemaios 
nahm,  und  Ptolemaios  demnach  den  Heilgott  gegenüber  Babylon 
schlechtweg  mit  demselben  Namen  nannte,  den  der  von  ihm 
in  Alexandria  eingesetzte  Gott  führen  sollte  oder  nach  Wilcken 
bereits  führte,  so  kann  man  dies  nur  so  auslegen,  daß  Ptolemaios 
auch  damit  das  Ansehen  seiner  Gründung  steigern  wollte. 
Wir  haben  darin  nichts  anderes  zu  sehen  als  eine  der  von  je- 


*  Im  Philologus  1894  S.  117. 


60  E.  Petersen 

her  bei  den  Griechen,  wie  später  bei  den  Römern  beliebten 
Gleichungen  verschiedener  Yolksgötter  auf  Grund  gewisser 
Übereinstimmungen.  Im  vorliegenden  Falle  lag  die  Gleichung 
um  so  näher,  wenn  auch  der  Name  jenes  babylonischen  Gottes 
dem  Serapis  ähnlich  lautete:  Bei  Zarbü  oder  Sarapu  nach 
Delitzsch  und  Sarapsis  nach  Lehmann-Haupt.^  Der  Gott  selbst 
aber,  sein  Bild  und  sein  Kult  wird,  wie  die  Legende  außer 
Zweifel  stellt,  nicht  aus  Babylon  hergeleitet,  sondern  aus  Sinope, 
und  Kralls  Versuch,  ihn  dahin  von  Babel  zu  leiten,  endet  oder 
beginnt  S.  52,  am  entscheidenden  Punkte,  mit  dem  Saltomortale 
eines  'ohne  Zweifel',   d,  h.  ohne  Beweis. 

Suchen  wir  also  das  nichtgriechische  Element,  das  sich  in 
Alexandria  mit  dem  griechischen  zum  Serapis  verband,  wie 
es  natürlich  und  selbstverständlich  erscheint,  in  Ägypten,  so 
wiesen  uns  schon  T  und  Pi,  also  wahrscheinlich  eben  die  zu 
rekonstruierende  Legende,  auf  den  Osiris.  Nur  er  kann  unter 
dem  Namen  Serapis  gemeint  sein,  der  nach  T  an  der  Stelle 
des  späteren  großen  Serapeion,  auf  der  Rhakotis  mit  Isis  in 
einem  alten  sacellum  verbunden  war.  Nur  auf  ihn  auch  kann 
vernünftigerweise  bezogen  werden,  was  T  (s,  oben)  von  der  Her- 
kunft des  Serapis  von  Memphis  berichtete.  In  dieser  Ver- 
bindung wird  auch  die  Gegenüberstellung  bedeutsam,  mit  der 
Pausanias  I  18, 4  bezeugt,  das  angesehenste  Heiligtum  des 
Serapis  sei  in  Alexandria,  das  älteste  in  Memphis:  Isqov  .  .  . 
e7ii(favE6tatov  fiiv  köriv  'AXs^avÖQSvöiv,  a();|jci;tdTo;Toi'  Se  iv 
Msficpsi.  Und  diese  Herkunft  mußte  man  natürlich  mit  der 
merkwürdigen  Überlieferung  verknüpfen,  die  uns  Eustathios  zu 
Dionysios  Perieg.  255  erhalten  hat.  Da  seine  Angaben  im 
übrigen  mit  Pi,  d.  h.  mit  der  Legende  übereinstimmen,  so 
haben  wir  auch  das,  was  er  Neues  bietet,  darauf  anzusehen,  ob 
es  sich  nicht  passend  ihr  einfügt.  Dionysios  also  nennt  den 
Serapis  2iVGinCtris  Zsvg,   und  Eustath   sagt  erklärend,    dieser 


'  Delitzsch  im  Nachtrag  Wilckens  (Anm.  10)  S.  126;  Lehmanu- 
Haupt  im  Arch.  Am.  1897,  S.  168a  und  Nachtrag,  Kilo  IV  396:  Ea  als 
'König  der  Wassertiefe'  wäre  danach  Serapis. 


Die  Serapislegende  61 

Beiname  sei  gleich  dem  'Zeus  von  Memphis',  da  Sinopion  ein 
Berg  von  Memphis  sei,  2]iv(OJCiov  yuQ  OQog  Mificpidog,  ^  axb 
21ivG>7irig.  Also  eine  doppelte  Herkunft  des  Gottes  im  Serapeion: 
von  dem  griechischen  Sinope  oder  (^und?)  der  altägyptischen 
Hauptstadt  Memphis.  Das  ist  aber  gerade  das,  worauf  wir  die 
Legende  bereits  zustreben  sahen:  die  Verschmelzung  einer 
ägyptischen  Gottesidee  mit  einer  griechischen.  Sollte  dabei 
Erfundenes  mit  Wirklichem  gemischt  sein,  so  wäre  das,  wie 
wir  zur  Genüge  gesehen  haben,  dem  Wesen  unserer  Legende 
durchaus  nicht  zuwider.  Prüfen  wir  also  jetzt,  was  es  sowohl  mit 
dem  einen  wie  mit  dem  anderen  Ursprung  des  Serapis  auf  sich  hat. 
Sinope  heißt  eine  Tochter  des  Asopos,  den  wir,  gleichwie 
Acheloos,  als  Wassergott  überhaupt  verstehen  dürfen.  Wäre  es 
nun  etwa  gewagt,  den  für  Pylos,  Athen,  Milet  bezeugten 
Neleus  auch  in  der  müesischen  Kolonie  vorauszusetzen?  Neleus 
aber  oder  seine  ionische  Namensform  Neileus  (nach  v. 
Wilamowitz^  Neileos)  stellte  üsener,  Göttemamen  S.  12  mit 
dem  Götterstrom  Neilos  zusammen,  nicht  ohne  auf  die  in 
(Aristoteles)  mirah.  170  gegebene  Beziehung  des  Neleus  zum 
Dunkel  hinzuweisen.  Wichtiger  ist  Useners  Hinweis  auf  den 
für  Attika  bezeugten  Kult  von  Neleus  und  Basile.  Denn 
Basile,  schon  damals  als  Name  der  Unterweltskönigin  bekannt, 
wurde  als  solche  gleich  darauf  noch  bekannter  durch  das 
schöne  athenische  Relief,  das  die  Entführung  der  Basile  durch 
einen  Jüngling  zu  Wagen,  unter  Geleit  des  Hermes  darstellt 
Hades  würden  wir  trotz  seiner  Jugend  den  Entführer  nennen, 
wenn  nicht  die  Namen  Echelos  und  Basile,  wie  auch  Hermes, 
beigeschrieben  wären.  Echelos,  bisher  nur  als  Heros  des  Demos 
Echelidai  bekannt,  kann  also  nur  als  lokale  Nennung  und 
Auffassung  des  Unterweltsgottes,  der  dann  zum  Heros  ward, 
angesehen  werden,  nicht  anders  als  Neleus.  Das  erkannte  mit 
Robert   sogleich    E.  Meyer'.      Die    allgemein    menschliche    Be- 


^  Die  ionische  Wanderung,  Akad.  S.  B.  1906  S.  67. 

*  Hermes  1895   S.  286,  vgl.  H.  D.  Müller,  Myth.  d.  gr.  Stämme. 


62  E.  Petersen 

deutung,  welche  die  Darstellung,  so  aufgefaßt,  erhält,  macht 
auch  ihr  häufigeres  Vorkommen  verständlich.^  Das  Bild  der 
anderen  Seite  glaubte  v.  Kekule^  mit  jener  nicht  innerlich 
zusammenhängend.  Das  ist  um  so  unwahrscheinlicher,  als  wir 
nicht  von  dem  Entführungsbilde,  sondern  von  dem  anderen  aus- 
zugehen haben,  über  dem  die  Weiheinschrift  steht,  wodurch 
sie,  was  v.  Kekule  nicht  verkannte,  als  vordere  bezeichnet  wird. 
So  schwer  diese  Szene  als  der  Entführung  folgend  zu  ver- 
stehen, so  leicht  scheint  sich  ihr  allgemein  menschlicher  Sinn 
zu  erschließen,  wenn  man  sie  als  voraufgehende  ansieht.  Was 
kann  der  junge  Mann,  der  vor  die  beiden  älteren  tritt,  wohl 
andres  begehren  als  eine  der  Nymphen,  die  hinter  den  Alten 
stehen,  und  von  denen  die  mittlere  nicht  so  wie  ihre  beiden 
Schwestern  dem  Ankömmling  gerade,  mit  unverhüllter  Neu- 
gier entgegenblickt,  sondern  mit  reizvoll  verschämter  Bewegung 
zur  Seite  sich  wendet  und  den  Kopf  neigt.  Der  Vater  der 
Nymphen  ist  augenscheinlich  der  ihnen  zunächst  Stehende,  der 
ja  auch  durch  zwei  kurze  Stierhörner  als  Flußgott  gezeichnet 
ist.  So  wird  denn  der  andere.  Voranstehende,  der  die  Kopf- 
binde hat,  allerdings  kein  Zepter  hielt,  etwa  als  König  ge- 
dacht werden  müssen,  der,  in  solcher  Eigenschaft,  wohl  auch 
dem  Flußgott  verwandt,  den  Freier  zunächst  empfinge.  Doch 
nicht  freundlich,  willfährig,  mit  Handreichung  scheint  er  ihn 
zu  empfangen,  vielmehr  Abweisung  mit  der  Bewegung  seiner 
Linken  auszudrücken.  Da  erfolgt  denn  die  gewaltsame  Ent- 
führung im  anderen  Bilde.  In  verblümter  Weise  erzählt  uns 
Pausanias  III  16,2  dieselbe  Geschichte  von  den  Dioskuren, 
die  den  Spartiaten  Phormion  besuchen  und  zur  Unterkunft 
das  Zimmer  begehren,  in  dem  die  Tochter,  nagd-ivog,  wohnte. 
Dies  wird  ihnen  von  dem  Vater  abgeschlagen.  Anderen  Tags 
ist  das  Mädchen  mit  den  Dioskuren  verschwunden.    Also  nicht 


*  1,  aus  Rhodos,  in  Berlin;  bei  Kekule  (s.  folg.  Anm.)  T.  1;  2,  in 
Athen,  Stais  Marhres  et  bronzes  du  Mus.  nat.  I  1783;  ebenda  Taf.  II  f. 
3,  in  Chios  bei  v.  Kekule  S.  15. 

*  Berliner  Wiuckelmannsprogramm  LXV,  1905  S.  14. 


Die  Serapislegende  63 

Hermes,  wie  Stais  wollte,  der  die  Entführung  ankündigt,  wäre 
der  junge  Mann  der  Vorderseite  des  athenischen  Reliefs  zu 
nennen,  sondern  Echelos.  Die  Ankündigung  wäre  in  der  Tat 
ein  zu  wenig  bedeutsamer  Vorgang,  zu  wenig  auch  in  Harmonie 
mit  der  Entführung  selbst,  und  die  Widmung  des  Bildwerks 
an  Hermes  würde  damit  nicht  besser  motiviert.  Es  muß  uns 
genügen,  von  den  Empfängern  des  Anathems  Hermes  auf  dem 
linken  Ende  der  einen,  die  Nymphen  am  rechten  der  anderen 
Seite  dargestellt  zu  sehen.* 

Auch  Sinope,  die  Asopostochter,  wird  von  Zeus  oder 
Apoll  geliebt,  von  Apoll  nach  dem  Pontos  entführt.  Doch 
bleiben  wir  lieber  bei  Neleus.  War  dessen  Zugehörigkeit  zu 
Milet,  Athen,  Pylos  Tatsache  oder  wenigstens  alter  Glaubens- 
satz, so  darf  auch  an  eines  der  seltenen  Heiligtümer  des  Unter- 
weltgottes erinnert  werden,  das  Strabo  VIH  344  am  Berge 
Minthe,  xov  nv).ov  (nach  Strabo  des  Nestorischen)  xlr^dCov 
erwähnt.  Er  nennt  ^Aidov  rifievos  •  •  •  xai  zJrlniiTQog  aköog. 
Und  wenn  wir  uns  stets  zu  fragen  haben,  ob  die  nationalen 
Göttemamen,  denen  wir  in  irgendeiner  lokalen  Sage  begegnen, 
die  ursprünglichen  sind,  ob  sie  nicht  vielmehr  lokale  Namen 
verdrängt  haben,  so  scheint  diese  Frage  bei  dem  Pylischen 
Heiligtum  von  Strabo  selbst  beantwortet  zu  werden,  indem  er 
neben  Demeter  und  Köre  eben  die  Eponyme  des  Berges  Minthe' 
eine  xaXXaxri  xov  "Aiöov  nennt.  Die  iBgä  xf^s  ^EXevöiviag 
^dijfir^xQos,  von  denen  wir  Pluton  kaum  getrennt  denken  können, 
nennt  Strabo  XIV  633  unter  dem,  was  das  königliche,  von 
Kodros    (Neleus)    entsprossene    Geschlecht    der   loner   als    sein 


'  Wilamowitz  a.  a.  0.  (Anm.  11^  meint,  die  Darstellung  der  Ent- 
führung durch  Echelos  habe  keinen  anderen  Zweck  als  den  Ort  zu  be- 
zeichnen. Schon  an  sich  durchaas  unwahrscheinlich,  wird  auch  diese 
Meinung  durch  das  öftere  Vorkommen  sicher  widerlegt.  Sie  zeigt,  daß 
dieser  Vorgang  in  Wirklichkeit  der  bedeutungsroUere  ist.  Weil  aber 
zeitlich  nachfolgend  und  nur  eine  der  Nymphen  enthaltend,  ist  er  auf 
die  zweite  Seite  der  athenischen  Tafel  gebracht. 

'  Ob  mit   JIiv9-ri   der  Name  JI/ötj.   Herodot  I  56   und  orph.  Hymn. 
XLIl  (hier  Persephone  und  lakchos  in  einer  Person)  verwandt  sein  könnte? 


64  E.  Petersen 

Erbteil  und  angestammtes  Recht  behauptete.  Ein  zJij^rjrQog 
'Elev6ivCrjg  Iq6v,  von  Kodros'  Sohn  Neileos  und  der  Mykale 
gegründet,  erwähnt  auch  Herodot  IX  97.  Nicht  in  Sinope 
endlich,  aber  in  einer  anderen  milesischen  Kolonie  am  Pontos, 
in  Tomi,  weist  Hoefer  (Röscher,  Pluton  2571,20  aus  Oest. 
AEM  VIII  8  n.  21)  einen  spät  bezeugten  Kult  von  Pluton, 
Demeter,  Köre  nach. 

Dies  alles  möchte  an  sich  nicht  genügen,  einen  Kult  des 
mit  Demeter  oder  Köre  verbundenen  Pluton  in  Sinope  sicher- 
zustellen. Wenn  nun  aber  die  Serapislegende  ein  altes 
Heiligtum  des  Pluton  und  der  Persephone,  noch  dazu  mit 
der  individuellen,  wenn  auch  nicht  seltenen  Bestimmung  non 
procul,  bei  Sinope  bezeugt,  so  ist  kein  Zweifel  mehr  berechtigt. 
Gegenüber  den  Fäden,  die  das  Heiligtum  von  Sinope  mit 
Milet,  Athen,  Pylos  verknüpfen,  vielmehr  die  Worte  von  T 
vetere  inter  accolas  fama  für  einen  in  Asien  heimischen,  nicht 
von  den  ionischen  Kolonisten  mitgebrachten  Kult  geltend  zu 
machen,  wäre  dagegen  wenig  berechtigt.  Beruht  ja  doch  auch 
die  von  Krall  S.  53  betonte  Ähnlichkeit,  die  der  Bei  von 
Tarsos  auf  den  dortigen  Münzen  mit  dem  Serapis  von  Alexandria 
zeigt,  nicht  auf  dem  inneren  Wesen  beider  Götter,  sondern 
auf  der  äußeren  Gestalt,  die  beiden  die  griechische  Kuust  in 
Abhängigkeit  von  denselben-  Vorbildern  verliehen  hat. 

Und  nun  das  Sinopion  bei  Memphis.  Daß  dieser  Name, 
der  kein  altägyptischer  zu  sein  scheint,  vielmehr  nur  in  dem 
Zusammenhang  mit  der  Gründung  des  Serapeions  genannt  wird, 
auch  für  diesen  Zusammenhang  erfunden  sei,  kann  man  mit 
Fug  und  Recht  annehmen.  Aber  die  Erfindung  wird  doch 
einen  Zweck  gehabt  haben,  und  diesen  zu  erkennen  wies 
Brugsch  den  Weg,  indem  er,  von  vielen  gebilligt,  Sen-Hapi, 
d.  i.  Apis-Ruh  als  das  ägyptische  Wort  erriet,  das  zu  2Jlv(ojiiov 
(pQog)  hellenisiert  worden  sei.  War  also  das  Sinopion  des 
Gleichlauts  mit  Sinope  wegen  ersonnen,  so  dürfen  wir  die  Er- 
findung des  Namens  Sen-Hapi  nun  vielleicht  dem  oben  S.  53 
bereits  vermerkten  Anteil  des  Manetho  zuschreiben.    Er  mußte 


Die  Serapislegende  65 

dabei  einen  Zweck  im  Auge  haben,  und  diesen  zu  erraten 
dürften  wir  jetzt  hinlänglicb  vorbereitet  sein.  Der  unterwelt- 
liche Apis-Osiris  von  Memphis  sollte  sich  mit  dem  unterwelt- 
lichen Pluto  von  Sinope  verschmelzen:  war  es  da  nicht  wie 
ein  göttlicher  Wink,  wie  ein  Wunder,  daß  der  Ort,  von  dem 
die  Traumgesichte  und  das  delphische  Orakel  den  griechischen 
Gott  zu  holen  geboten,  denselben  Xamen  trug,  den  derselbe 
Gott  in  Ägypten  zu  führen  schien?  Es  ist  ja  bekannt,  welche 
Rolle  in  Wunder-  und  Orakelgeschichten  die  Homonymie  spielt: 
Pandosia  im  Leben  des  Molossers  Alexander,  Hoplites  in  dem 
Lysanders,  Sikelia  in  der  Geschichte  Athens  mögen  als  Beispiele 
genannt  werden. 

Jetzt  sind  wir  auch  gerüstet,  die  seltsame  Nachricht  zu 
würdigen,  die  uns  Clemens  der  Alexandriner  Protr.  IV,  48  aus 
einer  Schrift  des  Athenodoros  von  Tarsos  vermittelt.  Gleich 
anderen  Apologeten,  die  zum  Teil  noch  zu  nennen  sein  werden, 
bekämpft  Clemens  den  Glauben  an  Serapis,  einen  so  spät  erst 
eingeführten  Gott,  und  gibt  uns,  wie  T,  Kunde  von  den  ver- 
schiedenen Meinungen  über  seine  Herkunft.  Voran  steht  auch 
hier  Sinope,  doch  Ptolemaios  II.  wird  statt  des  Soter  genannt. 
Als  zweite  Meinung  folgt  TIovxixov  bIvul  ßgitug  xhv  iMQaziv, 
eine  Unterscheidung,  die  auch  durch  den  Zusatz  über  die  fest- 
liche Einholung  des  Bildes  nicht  besser  wird,  sondern  auf 
arger  Flüchtigkeit  beruht.  Drittens  die  'allein  von  Isidoros' 
(von  Charax,  wie  man  vermutet)  vertretene  Behauptung,  daß 
das  Bild  von  Seleukeia  herstamme,  eine  Meinung,  die  auch  in 
T  verzeichnet  war.  Glücklicherweise  setzt  Clemens  zu  Ub^lbvxsojv 
hinzu  rav  ucgbg  ^AvTiox^icf,  so  daß  hier  wenigstens  kein  An- 
laß gegeben  ist,  an  Babylon  zu  denken.  Wie  diese  sonst  in  der 
Luft  schwebende  Behauptung  des  Isidoros  vielleicht  zu  er- 
klären sei,  wird  weiterhin  zu  sagen  sein.  Als  Viertes  folgt  die 
Hauptsache,  zunächst  in  die  allgemeinen  Worte  zusammen- 
gefaßt ulX  0  ya  'Adrivödcogog  6  tov  Zccvöavog  ccgxccKeiv  rbv 
UdgaTCLv  ßovXrjd-elg  ovx  ofd*  onag  mgiimeEv  iXsylag  avrbv 
ayul^cc  sLvat  ysvr^röv.     Hier   hat   der  neueste  Herausgeber  ein 

Archiv  f.  ReligionswiBsenschaft  XIII  5 


66  E.  Petersen 

richtig  überliefertes  Wort  verbessern  wollen,  dagegen  ein 
fehlerhaftes  unverbessert  gelassen.  Er  schreibt  ovk  otd'  ot<p. 
Er  glaubte  also  ^BQiTiiitTEiv  in  der  relativen  Bedeutung,  die 
es  meistens  hat,  verstehen  und  den  die  Relation  enthaltenden 
Begriff,  tCvi  jtSQisjtsös,  ergänzen  zu  müssen.  Aber  nicht 
genug,  daß  das  unbestimmte  otc)  nicht  geeignet  ist,  das 
Yerbum  näher  zu  bestimmen:  das  Partizip  ßovXr^d^sCg  sagt  uns 
ja,  daß  Clemens  nicht  einen  'Gott  weiß  wen',  sondern  eben 
den  Sohn  des  Sauden  für  die  Angabe  verantwortlich  macht. 
Nein,  jt£QLB7ts6s  ist  hier  nicht  in  relativem,  sondern  in  ab- 
solutem Sinne  gebraucht,  der  bekannter  ist  durch  das  ver- 
wandte Substantiv  TiSQinsTSia.  Dafür  wird  Polybios  III,  4,  5 
als  Beispiel  zitiert,  eine  Stelle,  wo  jenes  Hauptwort  zu  größerer 
Deutlichkeit  neben  dem  Verbum  gebraucht  ist.  'Athenodor', 
sagt  Clemens,  'suche,  in  dem  Wunsche,  den  Sarapis  recht  alt 
zu  machen,  die  Sache  gewissermaßen  umzudrehen  und  den 
Nachweis  zu  führen,  daß  er  ein  ayaXiia'  —  was  kann  da  nun 
die  nsQinBXEia  sein?  Die  Vorhergenannten  ließen  das  Serapis- 
bild von  außen  kommen,  von  Sinope,  von  Pontos,  von  Se- 
leukeia:  Athenodor  führt  dagegen  im  folgenden  aus,  daß  das 
Bild  in  Ägypten  selbst  gemacht  wurde.  Also  schrieb  Clemens 
ayal^ia  slvav  iyysvrjtöv. 

Nach  Athenodor^  habe  Sesostris,  der  alte  sagenhafte  Er- 
obererkönig von  Ägypten,  von  seiner  Unterwerfung  der  meisten 
hellenischen  Völkerschaften  täv  tcuq  "EXIi]6l  .  .  .  ed-vc5v  nach 
Ägypten  heimkehrend,  die  geeigneten  Künstler  mit  sich  ge- 
bracht —  gemeint  sind  offenbar  hellenische  —  und  befohlen, 
ein  kostbares  Bild  seines  Ahnherrn  Osiris  anzufertigen.  Mit 
den  Worten  xaraöxsvd^SL  dh  uvtov  BQvah^Lg  usw.  geht  Clemens 

*  Auf  die  im  Text  behandelten  Worte  folgt:  JL^'öwffreiV  qpjjöi  vbv 
AlyvTCTiov  ßaaiXia,  xa  ■xXelora  xwv  tiuq'  "EXXr]6t  TcaQuarriöäfisvov  id'vibv, 
inavtXQ'övxa  sig  Al'yvTtxov  inccyayied'ai  xs%vitas  itiavovi  ■  xov  ovv  "Oaigiv, 
xov  TtQOTcäxoQa  xov  ccixov  dat.äaXd'jjvcci  iK^Xsvßsv  avxog  jioXvxsXäg ,  \\  xaxa- 
OKSvd^Bi  dh  aixbv  BQva^ig  6  dT]iiiovQy6g ,  oi%  6  'A9'ii\vatog,  &XXog  Si  xig 
o^mvv^iog  ixEivo)  xä  B^vä^iSf  dg  vXrj  xarax^jfßTjTat  slg  drjiiiovQyiccv  ftixr/) 
xal  noiyiiXj]  usw. 


Die  Serapislegende  '        67 

aus  indirekter  Kede  in  direkte  über:  das  Bild,  worunter  in 
dem  gegebenen  Zusammenhang  nur  das  von  Sesostris  befohlene 
des  Osiris  verstanden  werden  kann,  fertigt  Bryaxis  an,  der^ 
sich  einer  bunten  Mischung  aller  Metalle  und  sämtlicher  in 
Ägypten  vorhandenen  (Edel-)Steine  bedient,  das  fertige  Ganze 
mit  Kyanos  dunkel  färbt  und  mit  dem  qxxQiiaxov,  das  von  der 
Totenbesorgung  des  Osiris  und  des  Apis  übrig  war,  bestreicht 
und  so  den  Sarapis  bildete,  der  auch  im  Namen  Osirapis  die 
Bestattungs-  und  Grabesgemeinschaft  des  Osiris  und  Apis  zum 
Ausdruck  bringt.  Hatte  Clemens  vorher  aas  einer  Ansicht: 
Sarapis  stamme  aus  dem  (pontischen)  Sinope  her,  zwei  ge- 
macht, so  sind  in  der  Ausführung  über  die  Yerbildlichung 
des  Serapis  durch  Sesostris,  mittels  einer  wunderbaren  Kon- 
fusion zwei  Dinge,  zwei  Vorgänge  zu  einem  einzigen  ver- 
schmolzen. Was  von  dieser  Konfusion  dem  Clemens  selbst, 
was  dem  Athenodor  angehört,  wird  sich,  da  wir  diesen  hier 
nur  durch  jenen  vernehmen,  schwer  entscheiden  lassen.  Doch 
wurde  bereits  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  an  bestimmter 
Stelle  die  Form  der  Rede  wechselt.  An  ebenderselben  ist 
auch  das  Hinübergleiten  von  dem  einen  der  zwei  amalgamierten 
Vorgänge  zum  anderen  besonders  greifbar. 

Nehmen  wir  nämlich  zu  dem,  was  ausgesprochen  ist,  das 
hinzu,  was  selbstverständlich,  so  sind  zur  Einheit  verschmolzen 
zwei  Könige,  Sesostris  und  Ptolemaios,  oder  besser  vielleicht, 
da  Ptolemaios  das  von  Alexander  Begonnene  fortsetzt,  Alexandros- 
Ptolemaios  als  einer;  zwei  Künstler,  der  wirkliche  Bryaxis  und 
der,  auf  welchen  jener  Name  übertragen  ist;  zwei  Götter, 
Osiris  und  Serapis;  zwei  Bilder,  das  alte  auf  Geheiß  des  Sesostris 
;uigefertigte  und  das  neue  aus  Sinope  geholte.-  Die  Konfusion 
ist  so  weit  gediehen,  daß  von  den  zwei  Königen  nur  der  eine 
Sesostris  genannt  wird,  Ptolemaios,  unglaublich  genug,  jenem 
sozusagen   einverleibt   ist.     Auch  Künstler  werden,   als  im  ge- 

'  Wer  dies  zuletzt  schrieb,  bezog  og  auf  den  oiimwiiog. 
*  Hier  befinde  ich  mich  teilweise  in  Übereinstimmung  mit  S.  Reinach 
(oben  S.  47  Anm.  1). 

5* 


68       •  E.  Petersen 

gebenen  Falle  tätig,  nicht  zwei,  sondern  nur  einer  genannt. 
Eine  unbezahlbare  Naivität  ist  es,  die  den  von  Sesostris  mit- 
gebrachten, offenbar  auch  als  Griechen  vorgestellten  Künstler 
Bryaxis  nennt  und  ihn  in  einem  Atem  für  den  bekannten  und 
doch  nicht  den  bekannten  ausgibt:  BQvalig  6  ÖTjiiLovQyös, 
d.  h.  doch  'der  bekannte',  und  ovx  6  ''Ad'rjvalog,  d.  h.  nicht 
der  bekannte  ^.  Dies  lächerliche  Quiproquo  ist,  obwohl  man  es 
leugnen  wollte,  unmöglich  anders  zu  erklären,  als  daß  der 
bekannte  Bryaxis,  der  (aller  Wahrscheinlichkeit  nach  jüngere) 
Grenosse  des  Skopas  am  Mausoleum  von  Halikarnaß,  wirklich 
das  eine  der  beiden  konfundierten  Bilder  geschaffen  hatte, 
aber  natürlich  nicht  das  alte  des  Sesostris,  sondern  das  neue 
des  Ptolemaios. 

Von  der  Erwähnung  des  Künstlers  an,  in  welcher  allein 
die  konfundierte  Zweiheit  noch  zutage  tritt,  steht  überhaupt 
das  zweite  der  konfundierten  Dinge  vor  uns,  wie  vorher  das 
erste.  Denn  das  Bild,  das  nun  beschrieben  wird,  ist  nicht, 
wie  man  gemeint  hat,  ein  uraltes,  gar  ein  'rohes',  wie  man 
das  'nicht  von  Menschenhand  gemachte'  verstand,  das  Clemens 
selbst  zu  Anfang  als  Epitheton  des  berühmten  Serapis  nennt 
<ov>  ocxsiQOTCoCrjrov  sljtslv  rsroXinjzaöiv.  Daß  dies  Beiwort 
vielmehr  gerade  den  aus  Sinope  geholten,  'den  Serapis'  be- 
zeichnet, geht  sowohl  aus  Athenodors  Beschreibung  bei 
Clemens  als  aus  Stellen  anderer  Apologeten  hervor.  Die 
sieben  Metalle^  und  die  vier  Edelsteine  (vier  Farben)  lassen 
die  pantheistischen  Gedanken  erkennen,  die  je  länger  je  mehr 
im  Serapis  ihre  Verkörperung  sahen.  Verständlicher  wird 
dies  aus  den  mit  gleichem  Eifer  geschriebenen  Worten  des 
Origenes  c.  Geis.  V  38,  der  zunächst  nur  die  [layyavsCas  rov 
ßovXi]9-Evtog  IltoXs^ixCov  olovsl  h%i(pav^  d'sbv  del^cci  schilt, 
d.  h.  die  Wundergeschichten  der  Legende,  die  ja  gewissermaßen 

•  Vgl.  Amelung  (oben  S.  47  Anm.  2)  S.  9. 

*  Vgl.  Seymour  de  Ricci  zu  Amelung  S.  16,  2;  auch  Röscher,  in 
seinen  Lexikon,  Planeten  Sp.  2682.  Man  •wird  dann  auch  auf  die  Sieben- 
zahl  der   yQccynkaxa   in    den  Namen    ^^iQuim  und  JJXovtcov  aufmerksam. 


Die  Serapislegende  69 

auf  die  Identität  von  Gott  und  Bild  hinausliefen.  Weiter  er- 
eifert sich  dann  Origenes  tcsqI  rfjg  y.ata6xsvfig  avtov,  cjg  agu 
Tcdvxcov  r&v  vnb  qivöscog  diotxov^ivav  iiBxexei  ovöCag  ^mav 
xai  qpuTöi/,  iva  ö6i,T}  ^etu  t&v  dreXdötcov  rsXezäv  xal  xäv 
xalov6G)v  daCfiovag  iiuyyavsLäv^  ovx  v%b  dyulfiatonoLäv 
^6v(ov  'Kaxa6xsv(xt,a6^ai  ^Bog  dXXä  xai  vab  iidyav  xal  (paQ- 
Itaxäv  xal  xalg  BTCadalg  avxav  xrjXovfievcav  dai^övav.  So 
gewiß  hier  vom  Serapis  des  Ptolemaios  die  Rede  ist,  so  gewiß 
ist,  trotz  aller  Übertreibungen,  daß  es  auch  kein  anderes  als 
das  von  Athenodor  als  Sesostrisch  beschriebene  ist,  kein 
anderes  auch  als  der  dxeigoTCoCrjxog  des  Clemens.  Ebendasselbe 
Bild  erkennt  man  leicht  auch  bei  Eustathios  wieder,  in  dem 
ayaX^a  xolg  ögäöLv  adrjXov  .  .  .  oiag  cpvöscog  ^v,  und  deutlicher 
noch  in  der  armenischen  Version  des  Alexanderromans,  wo 
die  betreffende  Stelle  in  Raabes  Übersetzung  lautet  ov  (d.  i. 
des  i,6avov)  xijv  (pv6iv  Q^vrixiiv^  ovx  bvqbv  dnayyalXai  und 
besser  in  xqi  dffd-dgxa  ^odva. 

Daß  wie  zwei  Könige,  zwei  Künstler,  zwei  Bilder,  alt 
imd  neu,  auch  zwei  Götter  in  dem,  was  Clemens  aus  Athenodor 
wiedergibt,  konfundiert  sind,  scheint  nicht  minder  zutage  zu 
liegen.  Denn  vor  der  im  griechischen  Text  S.  66  Anm.  mit  || 
bezeichneten  Stelle  ist  von  dem  alten  Osiris,  dem  Vorfahren 
des  Sesostris  die  Rede,  nachher,  wo  nur  scheinbar  von  dem 
alten  Künstler  und  Bild,  in  Wirklichkeit  aber  von  Bryaxis 
und  dem  Sinopischen  Bilde  gesprochen  wird,  ist  der  Gott  der 
aus  Osiris  und  Apis  gemischte  Serapis.  So  klar  hiemach  die 
Konfusion  bei  Clemens -Athenodor,  so  einfach  scheint  nun  auch 
ihre  Erklärung.  Man  ersann,  wie  sich  schon  vorher  aus  T 
usw.  ergab,  einen  doppelten  Ursprung  des  Serapis,  in  doppeltem 
Bilde  gegeben:  das  eine  war  der  Pluton  von  Sinope,  das 
andere   der   Osiris  vom   Sinopion   bei  Memphis,    der   entweder 


*  Hierbei  haben  wir  wohl  der   'Kniffe'  zu   gedenken,    die  Rufinus 
hist.  eccl.  II  23  beschreibt  und  Nissen  Orientation  S.  36  f.  erläutert. 

*  Raabe    schwankt   hinsichtlich    der   Lesung   und   Erklärung,   weil 
er,  wie  es  scheint,  sich  des  Zusammenhangs  nicht  erinnert. 


70  I^-  Petersen 

selbst  oder  im  Abbild  in  jenes  saceUum  Serapidi  (offenbar  miß- 
bräuchlicb  für  Osiridi  gesagt)  atque  Isidi  antiquitus  sacratum 
überführt  war  oder  sein  sollte.^ 

Im  Pseudo-Kallisthenes  solcher  Konfusion  zu  begegnen, 
könnte  nicht  weiter  wundernehmen.  Doch  ist  immerhin  be- 
merkenswert, daß,  was  wir  hier  finden,  so  anders  und  phan- 
tastisch gestaltet  es  auch  sein  mag,  doch  aus  ähnlichem 
Grunde  erwachsen,  um  nicht  zu  sagen  aus  derselben  Quelle 
geschöpft  sein  muß,  und  daß  dabei  das  Serapeion  mit  seinem 
berühmten  Bilde  noch  gegenwärtig  ist.  Es  genügt,  die  Haupt- 
züge hervorzuheben:  Alexander  ist  es  hier,  der,  vom  Ammo- 
nischen  Orakel  geheißen,  seine  Stadt  über  der  Proteus-Insel 
(Pharos),  wo  der  IIlovtcbvLog  Aicov  7tQ0xäd-'>]tai ,  gründen  will 
und  demgemäß  das  Heiligtum  des  Serapis  sucht.  Durch  ein 
Wunder  findet  er  es  und  sieht  das  Bild,  das  wir  nach  der 
kurzen  Beschreibung,  der  nachher  noch  ein  Wort  zu  widmen 
sein  wird,  leicht  und  sicher  als  den  Ptolemaiischen  Serapis  er- 
kennen, charakterisiert  außerdem  mit  den  Worten,  die  schon 
zum  Vergleich  mit  denen  des  Eustath,  Origenes,  Clemens- 
Athenodoros  angeführt  wurden.  In  jener  Erzählung  ist  es 
aber  ein  uraltes  Bild;  denn  wie  Alexander  fragt,  Avelche  Götter 
es  darstelle  (ganz  wie  Ptolemaios  über  sein  Traumbild),  da 
wissen  die  Leute  es  nicht,  teilen  aber  ix  jtQonatsQcov  (vgl. 
"OßLQLV  xov  TtQondroQa  oben  S.  66  Anm.)  ÖLrjyijöscog  mit,  daß  es 
Zeus  und  Hera  seien.  Dann  sieht  Alexander  zwei  Obelisken, 
die  'bis  auf  den  heutigen  Tag'  ständen  £|g3  rov  nsQißdXov 
xov  vvv  ysvoiiBvov  iv  r<p  UsqcctceCo},  mit  Weihinschrift  an 
Serapis  von   Sesostris.     Unnötigerweise   betet  Alexander  dann. 


*  Man  hat  den  colosseuttp  Serapem  e  smaragdo  novem  cubitorum  bei 
Plinius  n.  h.  XXXVII  76  für  den  Koloß  des  Bryaxis  halten  wollen.  Das 
scheint  ausgeschlossen  dadurch,  daß  Apion,  der  Gewährsmann  des 
Plinius,  von  ihm  sagt  esse  etiamnunc  in  labyrintho  Aegtjpto.  Die 
Agyptologen  werden  aber  vielleicht  sagen  können,  ob  der  Osiris,  von 
dem  ein  später  Text  (Brugsch  Bei.  u.  Myth.  d.  a.  Äg.  S.  615)  sagt:  'seine 
Länge  betrug  8  Ellen,  6  Palm  und  3  Finger',  eine  Statue,  und  zwar 
jene  des  Apion- Plinius  und  etwa  die  von  Memphis  sein  könne. 


Die  Serapislegende  71 

Serapis  möge  sich  ihm  offenbaren,  und  nun  schaut  der  König, 
wie  Ptolemaios,  den  Gott  im  Traum  und  läßt  danach  von 
Parmenion  ein  i,6avov  %aXiiovv  machen,  wobei,  wie  dem 
Pheidias,  die  Homerverse  vorbildlich  sind.  Hier  also  sind 
zwei  Könige  und  zwei  Bilder  bestimmt  unterschieden,  aber 
das  alte,  das  nicht  so  direkt,  aber  doch  durch  die  Obelisken 
deutlich  genug  dem  Sesostris  zugeschrieben  wird,  ist  eine 
Spiegelung  des  neuen.  Dasselbe  wurde  ja  auch  dort  für  das 
alte  ausgegeben. 

Alles,  was  unsere  Zeugen  über  die  Gründung  des  Serapis 
berichten,  ließ  eich  also  zu  einem  harmonischen  Ganzen  ver- 
binden; selbst  die  Meinungsdifferenzen  fanden  von  selbst  ihren 
Platz  darin.  Das  erste  Traumgesicht  des  Königs:  der  jugend- 
schöne Gott  (Dionysos),  der  Hinweis  nach  dem  Pontus,  noch 
nicht  genügend  beachtet  und  verstanden.  Nach  dem  zweiten 
Traum,  worin  drohend  der  bärtige  Pluton  erscheint,  eifrige 
Nachforschung.  Doch  weder  eleusinische  noch  ägyptische 
Theologen  wissen  Rat;  ein  Unbekannter  weiß  den  Ort  des 
Bildes,  Sinope,  anzugeben;  und  vielleicht  hier  schon  ergab  sich 
den  Theologen,  von  denen  der  eleusinische  den  Pluton  und 
die  Proserpina,  der  ägyptische  den  Osiris  und  die  Isis  kannte, 
als  ein  bestätigendes  Omen  das  Zusammentreffen  der  Namen 
Sinope  und  Siuopion,  das  Erkennen  des  altägyptischen  Kultus, 
der  mit  dem  einzuführenden  griechischen  verbunden  werden 
sollte.  Auch  Delphi  stimmt  zu,  mit  genauerer  für  Gott  und 
Göttin  besonderer  Weisung.  Nach  mehrjähriger  Frist,  vor- 
geblich durch  den  Kampf  des  göttlichen  Willens  mit  mensch- 
lichem Widerstände  ausgefüllt,  in  Wahrheit  wohl  für  den 
Bau  des  Tempels  hier,  die  Anfertigung  des  einen  Bildes  dort 
gebraucht,  erfolgt  endlich  die  Einführung  der  Bilder  in 
Alexandria.  Die  Regelung  des  Kults  für  den  neu  erschienenen 
Gott  und  seine  Gemahlin  konnte  nicht  umhin,  zu  theologischen 
Erörterungen  ihres  Wesens  zu  führen,  auch  zu  genauerer  Be- 
stimmung ihres  Verhältnisses  zu  den  schon  ortsansässigen 
Göttern. 


72  E.  Petersen 

Ganz  aus  dem  Spiele  blieb  die  bei  T,  wie  von  Clemens 
erwähnte,  hier  dem  Isidoros  zugeschriebene  Herleitung  des 
Götterbildes  von  Seleukeia.  Kann  diese  Angabe  nicht  wohl 
ganz  ohne  tatsächlichen  Anhalt  gedacht  werden,  und  kann 
anderseits  doch  Seleukeia  unmöglich  an  die  Stelle  von  Sinope 
gesetzt  werden,  so  sehe  ich  keinen  anderen  Ausweg  als  den 
von  Amelung  S.  9  angedeuteten,  daß  nicht  das  Bild,  aber  der 
Schöpfer  desselben,  Bryaxis,  der  für  Seleukeia  und  Antiocheia 
tätig  war,  einst  von  dort  hergeholt  wurde,  um  den  Pluto  aus- 
zuführen. 

Die  schon  erwähnte  Beschreibung  des  Serapisbildes  im 
Alexanderroman,  deren  Richtigkeit  in  so  phantastischer  Ein- 
kleidung, nach  dem,  was  oben  auseinandergesetzt  wurde,  nicht 
weiter  befremden  oder  gar  Zweifel  erwecken  darf,  lautet  in 
der  griechischen  Version  also:  i,6avov  .  .  .  TtQoxads^ö^svov  xui 
tjj  ds^La  x^^Q^  xo^Ci,ov  &rjQCov  TioXviioQfpov^  rfj  ds  svcovv^ 
öxrj^tQov  xcctexov,  xal  naQeiöttjxeL  trö  ^occvo)  Köqt^s  äyaXiia 
^isyiöTov.  Die  Worte  stehen  mit  der  bildlichen  Überlieferung 
durchaus  in  Einklang  —  bis  auf  das  Wort  xo^Ct,ov,  das 
zweifelsohne  in  xoL[iCt,ov  zu  verbessern  ist,  wie  Plato  rep.  IX 
591 B  sagt  t6  d-rjQidödss  xoL^C^srai  xal  rjfiSQOvraL.  Der  Gott 
will  die  ihm  zu  Gebet  und  Opfer  Nahenden  durch  das  drei- 
köpfige Ungeheuer  zu  seiner  Rechten  nicht  schrecken,  obgleich 
die  terribilior  species  bei  T  wohl  hauptsächlich  den  Kerberos 
begreift.  In  den  treuesten  Nachbildungen  (auch  in  denjenigen 
Darstellungen  des  stehenden  Serapis  noch,  die  Michaelis  S.  293 
als  Typ  voranstellt  und  mit  Recht  aus  dem  thronenden  Bilde 
ableitet)  hält  der  Gott  wie  besänftigend  die  Rechte  mit  nach 
unten  gekehrter  Handfläche  über  den  mittelsten  Kopf  des 
Kerberos  und  die  Schlange  darüber.  Wie  in  der  Gesamt- 
haltung, so  scheint  auch  in  diesem  besonderen  Zuge  der  epi- 
daurische  Asklepios  des  Thrasjmedes  das  Vorbild  zu  sein.^ 
Auch   dieser  legte,  wie  beschwichtigend,  die  Rechte  über  den 

'  Bouchö  -  Leclercq  vergleicht  ebenfalls  das  Werk  des  Thrasymedes, 
aber  nicht  wegen  der  Handhaltung. 


Die  Serapialegende  73 

Kopf  der  emporgereckten  Schlange.  Wir  erinnern  uns,  daß 
nach  T  (wahrscheinlich  schon  von  den  Theologen  des  Ptole- 
maios,  oben  S.  58)  der  Gott  aach  für  Asklepios  erklärt  wurde, 
und  da&  der  bei  Alexanders  Tod  (von  Ptolemaios)  genannte 
Serapis  bei  Babylon  dem  Asklepios  überaus  ähnlich  ist.  Be- 
stätigt wird  die  Besserung  xoifiC^ov  durch  Macrobius  I  20, 
14,  wo  die  den  Kerberos  umwindende  Schlange  sich  ad  dei 
dextram,  qua  compescitur  monstrum,  emporreckt. 

Macrobius  sagt  auch  Genaueres  über  die  drei  Köpfe  des 
Kerberos.  Den  Kopf  des  Löwen  haben  wir  bei  dem  Gott,  der 
zuerst  im  ionischen  Heiligtum  stand,  nicht  aus  septischer 
Vorstellung,  etwa  dem  Löwen  als  Symbol  des  Osiria*  zu  er- 
klären. Bekannt  ist  der  Löwenkopf  als  Wappenbild  Milets. 
das  ganze  Tier  als  Grabes  wach  ter,  vornehmlich  in  Kleinasien. 
An  die  Löwen  des  Mausoleums  braucht  nicht  erinnert  zu 
werden.  Die  beiden  anderen  Köpfe  werden  von  Macrobius  als 
Wolf  und  Hund  unterschieden,  und  wenn  von  den  Nach- 
bildungen einige-  einen  unterschied,  in  der  Behaarung  mehr 
als  in  den  Formen  zeigen,  so  scheint  es  geboten,  diesen  Nach- 
bildungen mehr  als  den  anderen  zu  vertrauen.  Trotzdem 
mochte  ich,  solange  für  den  Wolf  keine  treffende  Erklärung 
sich  bietet,  lieber  an  zwei  Hundeköpfe  glauben  und  den 
wesentlichen  Unterschied  vielmehr  darin  sehen,  daß  von  diesen 
der  eine  (vgl.  Macrob.)  empor  —  der  andere,  wie  öfters 
deutlich,  abwärts  gerichtet  ist.  Vielleicht  darf  man  dabei  an 
die  zwei  Eingänge  oder  an  Ein-  und  Ausgang  der  Unterwelt 
und  an  die  zwei  Hunde  Kerberos  und  Orthros  denken.  Auf- 
gang, Höhe,  Niedergang,  für  Dis  pater  nicht  bedeutungslos, 
würden  dann  für  Osiris  noch  bezeichnender. 

Noch  ist  auch  die  Göttin  neben  Serapis  gegen  Zweifel  zu 
verteidigen.  Amelung  S.  6  glaubt  sie  durch  die  douteuse  autorite 
du  Pseudo-CaUistJiines  ungenügend  bezeugt;  vielmehr  verbiete  es 
sich  durch  die  von  Rufinus  hist.  ecd.  II,  23  verbürgte  Tatsache 

'  Vgl.  Brugach  Bei  u.  Mi/Oi.  d.  a.  Äg.  S.  623. 

*  Vgl.  Michaelis  (oben  S.  47  Anin.  3)  S.  292  f. 


74  E.  Petersen 

que  Vimage  de  Serapis  touchait  des  deux  mains  les  murs  de  la  cella, 
die  Göttin  neben  dem  Gott  aufgestellt  zu  denken.  Beides  ist 
unrichtig;  die  Legende  sagt  uns  doch  etwas  mehr  als,  wie 
Amelung  denkt,  qu'on  voijait  dans  le  Sarapmm  d' Alexandrie, 
une  statue  de  Köre.  In  Pi  ist  allerdings  nur  von  Serapis  oder 
Pluton  die  Rede,  aber  in  Ps  spricht  der  Gegensatz  tö  yi,ev 
tov  nXovrcovog  ...  tö  de  r^g  KÖQvjg  deutlich  genug  und 
sagt,  was  eigentlich  selbstverständlich,  daß  in  Alexandria 
durch  das  djtonä^aöd-at  dasselbe  hergestellt  werden  soll,  was 
in  Sinope  war,  d.  h.,  wie  es  in  T  hieß,  tmdiehrem  figuram 
adsistere.  Auch  Macrobius  sagt  Isis  iuncta  religione  cele- 
hratur,  natürlich  vom  alexandrinischen  Serapeum. 

Was  Amelung  trieb,  war  nur  das  Zeugnis  Rufins:  simula- 
crum  Serapis  ita  erat  vastum  ut  dextra  unum  parietem,  alter  um 
laeva  perstringeret.  Aber  diese  Worte  bedeuten  nicht  das,  was 
Amelung  versteht:  perstringere  ist  nicht  ein  akzidentelles  'be- 
rühren', sondern  beabsichtigtes  gewolltes  '^streichen'.  Davon 
kann  bei  Serapis,  zumal  bei  der  Bindung  beider  Hände,  nicht 
die  Rede  sein.  Nach  bekanntem  Sprachgebrauch  hat  der 
Potentiale  Imperfektkonjunktiv  perstringeret  vielmehr  den  Sinn: 
'er  hätte  die  Wände  bestreichen  können'  —  wenn  er  die 
Arme  ausgebreitet  hätte.  Das  ist  eine  Variation  des  be- 
kannten  Ausspruches  über  den  Zeus  des  Pheidias,  der  da  schien 
iäv  ögd'bs  ysvrjtai  Siuvaöräs  ccnoörsyccöeiv  xov  vscov.  Wir 
mußten  den  Serapis  zunächst  mit  einem  Werk  des  Thrasy- 
medes,  d.  h.  indirekt  mit  dem  Zeus  des  Pheidias  vergleichen, 
aber  im  Alexanderroman  fanden  wir,  daß  der  Künstler  des 
Serapis  durch  dieselben  Homerischen  Averse  inspiriert  sein 
sollte,  in  denen  meist  dem  großen  Athener  die  Idee  des  Zeus 
aufgegangen  war. 


Seltsame  Vorstellungen  und  Bräuche 
in  der  biblischen  und  rabbinischen  Literatur 

Ein  Beitrag  zur  vergleichenden  Sagenkunde 
Von  K.  Kohler  in  Cincinnati 

Wer  eine  Sprache  kennt,  sagt  einmal  Max  MueUer, 
kennt  keine.  Von  religiösen  Vorstellungen  und  Bräuchen  läßt 
sich  dasselbe  sagen.  Erst  seitdem  man  anfängt,  die  biblische 
und  nachbiblische  Weltanschauung  mit  anderen  zu  vergleichen, 
lichtet  sich  so  manches  Dunkel.  Wir  geben  im  folgenden 
einige  Proben  unverstandener  Stellen  aus  der  Bibel  und  der 
rabbinischen  Literatur. 

I  Das  Erdiuännlein 

Seltsamerweise  gehen  alle  modernen  Exegeten  gedankenlos 
an  dem  Satze  in  Hieb  5,  23:  „Mit  den  Steinen  des  Feldes 
hast  du  einen  Bund  und  das  Gewild  des  Feldes  ist  mit  dir  im 
Frieden'*  vorüber,  ohne  sich  zu  fragen,  was  für  ein  Bündnis 
wohl  mit  dem  leblosen  Gestein  zu  schließen  nötig  sei.  Buddes 
Bemerkung  „Die  Steine  bleiben  von  selbst  seinem  Acker  fem" 
ist  geradezu  läppisch.  Aber  auch  die  mittelalterlichen  jüdischen 
Erklärer  lassen  uns  im  Stiche  bis  auf  einen,  und  das  ist  der 
immer  mit  guter  Tradition  ausgerüstete  Raschi.  Er  verweist 
auf  eine  Stelle  im  Sifra  zu  Leviticus  XI  27  und  im  Mischnah- 
Traktat  Kilaim  (=  „Mischverbote"  nach  Deuter.  22,  9—11)  VIII 5, 
woselbst  die  Lesart  zwischen  Ahne  ha  Sadeh  =  „Steine  des 
Feldes"  und  Adne  (Adone)  ha  Sadeh  „Feldmensch"  schwankt, 
aber  mit  Hinblick  auf  den  Hiobvers  erklärt  wird,  daß  dieses 
also  genannte  Tier  zur  Klasse  des  Gewilds  zu  zählen  sei.  Zur 
Mischnah  aber  hat  sich  die  Tradition  im  jerusalemischen  Tal- 
mud erhalten,   woselbst  gesagt  wird,   daß   das  der  Name  eines 


76  K.  Kohler 

Waldmenschen  sei,  der  bis  zum  Nabel  in  der  Erde  steckt 
und  durch  diesen  seine  Nahrung  aus  der  Erde  zieht,  von  dieser 
losgerissen  aber  alsbald  stirbt.  Die  Versuche,  in  diesem  Fabel- 
wesen einen  Orang-Utang  oder  sonst  einen  menschenähnlichen 
Affen  zu  finden,  wie  Lewysohn  „Zoologie  des  Talmuds",  S.  64 
u.  356  und  andere  behaupten,  scheitern  an  der  Tatsache,  daß 
das  Fabelwesen  ja  mit  dem  Nabel  an  die  Erde  gebunden  sein 
soll.  Es  ist  keine  Frage,  daß  in  der  Mischnah  und  im  Sifra 
dasselbe  Tier  gemeint  ist  wie  im  Hiobvers.  In  bezug  auf  das 
erstere  sagt  Maimonides  in  seinem  Kommentar,  daß  es  ein 
Wundertier  sei,  das  Menschenähnlichkeit,  aber  auch  eine 
menschliche  Stimme  besitze  und  im  Arabischen  Nasnas  =  Mensch- 
lein oder  =  Zwergmensch  heiße.  Nach  Bochart  Hierozoicon 
2,  6,  13,  angeführt  bei  Lewysohn  a.  a.  0.,  ist  dieses  Fabeltier 
ein  halbmenschliches  Wesen,  Brust,  Leib,  Kopf  und  Schulter 
zur  Hälfte  menschenähnlich,  und  mit  einem  Ohr  und  einem 
Auge  versehen. 

Nach  einem  von  Salomon  Buber  in  seiner  Einleitung  zum 
Midrasch  Tanhuma  S.  63  a  abgedruckten  Oxforder  Midrasch- 
Fragment,  das  merkwürdigerweise  statt  Ahne  Adne  oder  Adme 
ha  Sadeh  in  Hiob  5,  23  las,  bedeutet  das  Fabelwesen  eine 
menschengestaltige  Pflanze,  deren  menschenähnlicher 
Kopf  erst  mit  deren  Herausreißen  ans  dem  Erdboden  zutage 
kommt.  Seltsamer  noch  lautet,  was  Simeon  aus  Sens  in  seinem 
Mischnah- Kommentar  namens  R.  Meir  ben  Kalonymos  aus  Speier 
im  XII.  Jahrhundert  von  diesem  Fabeltier  erzählt:  es  sei 
identisch  mit  dem  Wundertier  Jaduä,  dessen  Knochen  dem 
biblischen  Jidöni  zu  seinem  zauberhaften  „Wissen"  verhilft, 
weil  es,  von  ihm  in  den  Mund  genommen,  weissagt.  Das 
nämliche  ist  nach  talmudischer  Tradition  (Sanhedrin  65  b; 
Tosifta  Sanhedrin  X  6)  die  Zauberkunst  des  Jidöni  (Leviticus 
19,  31  usw.).  Dieses  Jadua  genannte  Tier  also  sei  wie  ein 
Kürbis  geformt  und  durch  einen  aus  einer  Wurzel  hervor- 
gewachsenen langen  Strick  an  der  Erde  mit  seinem  Nabel 
angewachsen;    niemand  aber   dürfe  sich  au^  die  ganze  Länge 


Selts.  Vorstellungen  u.  Bräuche  i.  d.  biblischen  u.  rabbinischen  Literatur    77 

dieses  Strickes  dem  Tiere  nähern,  sonst  würde  er  von  ihm 
zerfleischt.  Durch  Zerreißen  des  Strickes  bloß  könne  man 
es  töten.  Und  das  geschieht,  sagt  Obadia  dl  Bartinoro 
(XV.  Jahrhundert)  in  seinem  Mischnah-Kommentar,  dadurch, 
daß  man  Pfeile  gegen  den  Strick  losschießt;  ist  der  Strick 
zerrissen,  so  schreit  das  Tier  laut  auf  und  stirbt.  Nun  aber 
erfahren  wir  von  einem  Superkommentator  zu  Raschi  aus 
dem  XYI.  Jahrhundert,  Simon  Aschenburg  ha-Levi  im  Debek 
Tob,  angeführt  von  Fink  a.  a.  0.,  daß  dieses  menschenähnliche 
Wesen  halb  Tier  und  halb  Pflanze  im  Deutschen  Alraun 
genannt  wird. 

Wir  werden  hier  in  das  Gebiet  uralten  deutschen  Aber- 
glaubens geführt.  Alraun  oder  Alruna  (von  Runa  =  Geheimnis) 
bedeutet  einen  weissagenden  Geist,  gleichwie  Jidoni,  auch 
die  weise  Frau,  und  ist  ebenfalls  wie  der  Weissagungszauber 
des  Jidoni  an  der  Alraunwurzel  (der  Mandragora,  hebräisch: 
Dudaim  =  Liebeskraut)  haften  geblieben.  Nach  Jacob  Grimm 
(Deutsche  Mythologie  1005  f.,  vgl.  334  f.)  ist  die  Wurzel 
menschlich  gestaltet  und  beim  Ausgraben  schreit  sie  so  ent- 
setzlich, daß  der  Ausgrabende  davon  sterben  muß.  Der  Alraun 
gilt  als  Frucht  des  Samens  eines  am  Galgen  Aufgehängten, 
woher  auch  der  Name:  Galgenmännlein,  und  man  muß  zu  dem, 
was  Grimm  hier  herbeibringt,  Josephus  Bellum  Judaicum  VII,  63 
vergleichen,  wo  von  einer  in  Bäärah  („Heiße  Wasserquelle", 
siehe  Abr.  Epstein,  Beiträge  zur  jüdischen  Altertumskunde 
[Hehr]  Wien  1887,  S.  107  f.)  wachsenden  Wunderpflanze 
Baarah  „feurigen  Glanzes"  (von  boer  =  brennend)  die  Rede  ist, 
deren  Wurzel  „die  Kraft  habe,  Dämonen,  die  Geister  verstorbener 
Menschen,  auszutreiben".  Die  Ausreißung  dieser  Wurzel  aber 
bringt  augenblicklichen  Tod  und  wird  deshalb  von  einem 
Hund  nach  Aufguß  von  Urin  oder  Menstruationsblut  des 
Nachts  vollzogen.  Zu  letzterem  vergleiche  Plinius  Hist.  nat. 
28,  23  und  zum  Ganzen  den  Artikel  Alraun  in  Winers  Bibl. 
Realwörterbuch  und  den  Artikel  Aberglauben  S.  51  —  67  in 
Paulv-Wissowas  R.  E. 


78  K.  Köhler 

Von  der  Weissagungskraft  des  Alrauns  spricht  aber  auch 
das  altbabylonische  Volkssagen  enthaltende,  von  Maimonides  in 
seinem  „Führer  der  Verirrten"  benützte  Werk  „Die  Agrikultur 
der  Nabatäer"  von  Ihn  Wachschiya,  das  Chwolsohn  in  seinem 
großen  Werke  „Die  Ssabier  und  der  Ssabismus"  II  451  ff.  be- 
handelt. Siehe  daselbst  S.  459.  Zur  persischen  Alraun-  oder 
Mandragora-Sage  ist  Herbelots  Orientalische  Bibliothek,  Artikel 
Abrusanam  und  Asterenk  zu  vergleichen.  Auch  hier  wird 
die  menschenähnliche  Gestalt  der  Wurzel  und  die  gefähr- 
liche Prozedur  des  Ausreißens,  für  die  man  daher  einen  Hund 
gebrauche,  hervorgehoben. 

Wie  weit  der  ganze  Aberglaube  zurück  zuverfolgen  sei,  lehrt 
Plutarch  „Über  Isis  und  Osiris"  §  46,  woselbst  von  der  Zu- 
bereitung des  persischen  Haomakrautes  gesprochen  wird,  das 
man  [des  Nachts]  unter  Anrufung  des  Hades  und  der  Finsternis 
im  Mörser  stampft  und  mit  dem  Blut  eines  geschlachteten 
Wolfes  (wofür  später  der  Hund  eintrat!)  mischt.  Das  Haoma- 
kraut  aber  diente  zum  Töten  der  Dämonen  (Ja^na  IX,  46 
und  X,  6),  und  es  lag  große  Gefahr  darin,  daß  man  (beim  Ge- 
winnen des  Haomakrauts  ?)  den  Wolf,  den  Dieb  und  Räuber, 
zuerst  erblickte  und  nicht  von  ihm  sich  zuerst  erblicken  ließ! 
(Ja9na  IX,  69 — 70.)  Der  als  Gott  angebetete  Haoma  ist  offen- 
bar gleich  Alraun  ein  Pflanzen-  oder  Baum -Mensch  von  gött- 
licher Zauberkraft.  In  welcher  Beziehung  das  im  Gilgames- 
Epos  erwähnte  Lebenskraut  und  der  „Erdlöwe",  der  es 
wegschnappt,  zu  dieser  Sage  stehen,  ist  schwer  zu  sagen. 

Statt  nun  noch  länger  bei  der  Weiterausbildung  dieser 
Sage  vom  Wunderkraut  zu  verweilen,  die  Tobias  Cohen  aus 
Metz  in  seinem  Buche  Maaseh  Tobiah  1721  nach  einem  ihm 
zu  Gesicht  gekommenen  geographischen  Werke  in  einem 
tartarischen  Schafkürbis  unter  dem  Namen  Baromez 
(Agnus  scythicus  bei  Linne)  darbietet,  worüber  Fink  des  nähereu 
sich  ausläßt,  komme  ich  zu  der  geradezu  frappanten  Beleuch- 
tung des  biblisch -talmudischen  Adone  Sadeh,  die  Curtiß' 
äußerst  wertvolles  Werk  „Ursemitische  Religion  im  Volksleben 


Selts.  Vorstellungen  u.  Bräuche  i.  d.  biblischen  u.  rabbinischen  Literatur    79 

des  heutigen  Orients",  deutsche  Ausgabe  1903  auf  S.  213 
bietet,  ohne  jedoch  zu  ahnen,  daß  er  oder  Doughty,  den  er 
zitiert,  die  rätselhafte  biblische  Stelle  erklärt: 

.,Der  fette  Hedschr-Lehm"  —  heißt  es  da  —  „ist  im  Lande 
wohl  bekannt.  Viele  haben  dort  Ackerbau  zu  treiben  versucht, 
und  eine  Zeitlang  schien  es  ihnen,  so  verkündeten  mir  die 
Araber,  auch  recht  wohl  zu  gehen,  aber  gerade  immer  zur 
Erntezeit  mußte  jemand  von  ihnen  sterben."  —  Man  ver- 
gleiche hier  Mannhardts  „Baumkultus"  und  „Mythologische  For- 
schungen". —  „Daß  er  (der  Boden)  Tod  bringt,  wird  seitens 
der  Araber  den  Erddämonen  (Ahl  el  ard,  d.  h.  Erdleute) 
zugeschrieben.  Daher  pflegen  die  landbauenden  Familienväter 
hier  das  neugepflügte  Land  mit  dem  Blut  eines  Friedensopfers 
zu  besprengen." 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  Ahl  el  ard  nichts 
anderes  sind  als  die  Adone  ha  Sadeh  des  Buches  Hiob,  mit 
denen  der  Fromme  „im  Bunde"  steht,  auch  wenn  er  kein 
O.pferblut  zu  deren  Sühne  darbringt,  wie  die  Felahin  es  heute 
tun.  Und  wir  haben  geradezu  an  die  bockgestaltigen  Feld- 
geister, die  seirim  des  Leviticus  XVII,  5 — 7,  zu  denken,  die 
noch  heute  in  der  Arabischen  Wüste  als  Dschinn  fortleben. 
Ursprünglich  galt  wohl  der  Wüstendämon  Azaz-el  „der  bock- 
gestaltige  Gott"  als  der  unheilbringende  Heerführer  dieser 
Feldgeister,  wie  Ihn  Ezra  zu  Leviticus  XVI,  8  richtig  gesehen. 
Indem  man  den  Sühnbock  in  die  Felsenschlucht,  worin  der 
Dämon  hauste  (^siehe  Enoch  X,  4 — 5  und  vgl.  Charles 
Notes  nach  Geiger  Zeitschrift  1864,  196 — 204),  hinabstieß, 
wandte  man  das  Unheil  oder  die  Krankheiten,  die  aus  der 
Wüste  kamen,  vom  Volke  ab;  vgl.  Leviticus  XIV,  7,  wo  der 
Aussatz  durch  den  Vogel  in  die  Wüste  hinausgeschickt  wird 
ganz  wie  im  assyrisch  -  babylonischen  Ritual. 

II  Seltsamer  Brauch  hei  der  Wiedergeuesung 

Der  Talmud  Berakot  58  b  und  demgemäß  auch  das  Syn- 
agogenritual enthält  die  sonderbare  Vorschrift:  Wenn  man  einen 


80  K.  Köhler 

Freund  nach  zwölf  Monate  langer  Abwesenheit  wiedersieht, 
so  spricht  man  das  Dankgebet:  „Gelobt  seist  du,  o  Herr,  König 
der  Welt,  der  du  die  Toten  wieder  belebst."  Nirgendwo  aber 
wird  ein  Grund  für  diese  Vorschrift  oder  diesen  Brauch  ge- 
geben. Dem  Brauche  liegt  offenbar  eine  Vorstellung  zugrunde? 
in  die  man  sich  späterhin  nicht  mehr  hineinzudenken  vermochte. 
Folgende  Zusammenstellung  bei  Liebrecht  „Zur  Volkskunde" 
S.  397  war  es,  die  mir  zuerst  darauf  Licht  zu  werfen  schien: 
„Jemand,  der  von  einer  großen  Reise  heimwärts  kehrt  und 
für  tot  gesagt  wird  (wie  es  mir  zufällig  selber  erging,  als 
ich  von  Schiraz  nach  Teheran  zurückkehrte,  nachdem  man 
meinen  Tod  ausgesprengt  hatte)  —  schreibt  Brugsch  „Aus  dem 
Orient"  II,  110  — ,  darf  beileibe  nicht  durch  die  Haustür  den 
Weg  in  das  Innere  der  Wohnung  nehmen,  sondern  muß  über 
das  Dach  klettern."  Dasselbe  mußte  der  für  tot  gehaltene 
Heimkehrende  nach  Plutarch  Quaestiones  Romanae  5  tun,  und 
zwar  vergleicht  Plinius  damit  den  griechischen  Brauch,  daß 
der  für  tot  Gehaltene  so  lange  für  unrein  gehalten  werde,  bis 
er  eine  symbolische  Wiedergeburt  durchgemacht  hatte. 
Dies  nun  geschieht,  wie  Liebrecht  in  seinem  Werk  Gervasius  von 
Tilburys  Otia  Imperialia  1856  S.  170  an  vielen  Bräuchen  bei  der 
Wiedergenesung  von  einer  Krankheit  nachweist,  durch  eine  dem 
Mutterschoß  ähnliche  runde  Dachöffnung.  In  Indien 
läßt  sich  der  die  symbolische  Wiedergeburt  Suchende  in  eine 
die  große  Erdmutter  darstellende  goldene  Kuh  einschließen 
und  durch  die  Geburtsteile  derselben  wieder  herausziehen. 

Aber  erst  aus  Curtiß'  Ursemitischer  Religion  S.  200  ward 
mir  der  jüdische  Brauch  recht  klar.  „Wenn  ein  Pilger  von 
Jerusalem  oder  von  Mekka  oder  etwa  ein  Soldat  oder  Gefangener 
nach  langer  Abwesenheit  heimkehrt  —  heißt  es 
da  opfert  man  ein  Schaf  oder  eine  Ziege  für  den  Heim- 
kehrenden. Ehe  er  in  die  Haustür  eintritt,  stellt  er  sichl 
mit  gespreizten  Beinen  hin,  so  daß  das  Opfertier  dazwischen 
liegen  kann.  Dann  legt  man  es  auf  die  linke  Seite,  der  Moslem 
richtet  ihm  den  Kopf  nach  Süden,  beziehungsweise  nach  Mekka; 


Selts.Vorstellungen  u.  Bräuche  i.  d.  biblischen  u.  rabbinischen  Literatnr    81 

der  Christ  dagegen  nach  Osten,  beziehungsweise  nach  Jerusalem, 
und  man  durchschneidet  ihm  die  Kehle  entweder  unmittelbar  ror 
oder  auf  der  Schwelle.  Wenn  der  Heimkehrende  ein  Christ 
ist,  wird  hierauf  seine  Stirn  übers  Kreuz  mit  etwas  Blut  be- 
strichen. Dann  schreitet  er  über  Opfer  und  Blut  hinweg  in 
das  Haus  hinein  und  bringt  darauf  die  Kleidungsstücke,  die  er 
tragen  soll,  in  die  Kirche,  wo  sie  der  Priester  segnet." 

Alledem  liegt  oflfenbar  der  Gedanke  einer  Neugeburt  oder, 
was  dasselbe  ist,  einer  Lebenserneuerung  zugrunde.  Statt  des 
Löseopfers,  Phedu,  hebräisch  Pidion  genannt,  das  man  für 
Schwerkranke  bringt,  und  mit  dessen  Blut  man  dem  Genesenen 
die  Stirn  bestreicht  —  siehe  Curtiß  S.  221  — ,  spricht  eben 
der  Jude  seinen  Dank  für  die  „Wiederbelebung  des  Toten"  aus. 

Und  dies  letztere  führt  mich  zur  Besprechung  einer 
wiederum  nicht  recht  verstandenen  biblischen  Stelle  mit 
Bezug  auf 

III  Blutbestreichung  und  die  Phylakterien 

Das  einundzwanzigste  Kapitel  des  Curtißschen  Werkes  ist 
ganz  und  gar  der  vom  Verfasser  überall  beobachteten  Bestreichung 
der  Stirn,  zuweilen  auch  der  Handflächen  dessen,  für  den 
ein  Opfer  dargebracht  wird,  der  Türe  oder  der  Türpfosten  und 
der  Besprengung  der  Tiere  oder  der  Herden  mit  dem  Opfer- 
blut gewidmet.  Das  Blut  dient  dem  bestrichenen  Gegenstand, 
dem  Kind,  dem  Kranken,  dem  Hause  oder  der  Herde  zum 
Schutzmittel,  zum  „Segen"  und  zum  „Glück"  oder  zur 
Heilung.  „Das  geschlachtete  Lamm  ist  die  Erlösung  des 
Hauses  —  phedu  el  bet  — ,  und  das  in  Tav-  oder  Kreuzgestalt 
=  T  an  der  Tür  angebrachte  Blutzeichen  schützt  das  Haus 
oder  Zelt  und  dessen  Bewohner  vor  Tod  und  Unorlück.  Jedes 
neue  Haus  muß  durch  ein  Tieropfer  losgekauft  werden,  damit 
die  Menschenleben  behütet  werden  (S.  228).  Das  Opferblut, 
das  man  beim  Einzug  in  ein  neues  Haus  vor  Gott  —  oder  dem 
Heiligen  —  hervorbrechen  läßt,  ist  ein  Lösegeld  für  die  ganze 
Familie  und  hält  Unglück  und  Dschinnen  ab  (229)".    Dieselben 

Archiv  f.  Religionswiä3en3chaft  XIII  g 


82  K.  Kohler 

Beobachtungen  hat  auch  Clay  Trumbull  in  seinen  beiden 
Werken  „Blood  Covenant"  und  „Threshold  Covenant"  genugsam 
verzeichnet  und  in  letzterem  besonders  den  Ritus  des  Passah- 
opfers als  Weih-  und  Schutzritus  für  das  Haus  zu  jeglichem 
Frühjahr  eingehend  beleuchtet.  Was  Trumbull  hier  vom  Tür- 
schwellenopfer- oder  Blutbund  behauptet,  das  wird  durch 
Curtiß  hundertfach  von  neuem  bestätigt.  Keine  Frage  also, 
daß  das  vom  Passahlamm  genommene  und  an  die  beiden  Tür- 
pfosten und  die  Türschwelle  hingestrichene  Blut,  das  die  Häuser 
gegen  die  Plage,  „den  Verderber",  schützen  sollte,  in  der  ur- 
semitischen Religionsanschauung  seinen  Ursprung  hat,  was 
auch  allgemein  von  den  Bibelexegeten  zu  Exodus  12,  7.  13  u.  23 
seit  lange  erkannt  worden  ist. 

Von  keinem  der  Forscher  aber  ist  bis  jetzt  das  im  Exodus 
13,  9  u.  16  an  das  Passahopfer  geknüpfte  „Zeichen"  für 
Stirn  und  Hand  verstanden  worden.  Sowohl  Wetzstein 
„Reisen  im  Orient"  I,  237  wie  Trumbull  „Blood  Covenant" 
S.  232,  Stanley  „Eastern  Church"  I,  561  und  viele  andere  teilen 
die  interessante  Beobachtung  mit,  daß  die  Samaritaner  bei 
ihrem  jährlichen  Passahopfer  auf  dem  Berge  Gerizim  das  hervor- 
brechende Blut  der  geschlachteten  Lämmer  in  einer  Schüssel 
auffangen  und  mit  demselben  sowohl  die  Zelte  —  letzteres 
geschah  vor  Wetzsteins  Augen  nicht,  wohl  aber  in  Gegenwart 
TrumbuUs!  —  als  auch  „die  Stirn  bis  zur  Nasenspitze" 
jedem  Knaben  bestreichen.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
daß  von  dieser  Blutbestreichung  ursprünglich  Exodus  13,  9 
gesagt  war:  „Und  das  [Blut]  sei  dir  zum  Zeichen  an  deiner 
Hand  und  zum  Merkmal  —  oder  Vers  16  „zum  Aetzmal"  = 
Totaphoth  —  zwischen  deinen  Augen."  Der  ganze  vielfach 
vom  Deuteronomisten  interpolierte  Abschnitt  handelt  von  dem 
am  Neumond  —  Hodesch  —  des  Knospen-  oder  Prühlings- 
monats  gefeierten  Hirtenfrühlingsfest,  bei  dem  die  Erstgeburt 
des  Viehes  und  der  Menschen  Gott  geweiht  wurde  und  die  ganze 
Passahfeier  an  die  Tötung  der  Erstgeborenen  der  Ägypter  als 
Veranlassung   zum  Auszug   des  Volkes  anknüpfte.     Vergleiche 


Selts.  Vorstellungen  u.  Bräuche  i.  d.  biblischen  u.  rabbinischen  Literatur   83 

Exodus  4,  22  — 23  mit  13,  1  —  2;  11  —  16.  Daran  hält  sich 
noch  der  Deuteronomiker  (Deuteron.  16,  1)  mit  seiner  Reform, 
indem  er  vom  Frühlingsneumond  und  den  Schaf-  and  Rinder- 
opfern, also  noch  den  Erstlingen,  als  Passahopferfest  redet. 
Ursprünglich  also  hat  man  zur  Passah-  oder  Hirtenfrühlings- 
feier die  Erstgeborenen  der  Herde  an  der  Türschwelle  der 
Zelte  geschlachtet  und  mit  deren  Blute  die  Häuser  und  die 
—  durch  das  Blut  der  Opfer  ausgelösten  —  Knaben  (viel- 
leicht auch  die  Herden)  bestrichen.  Bl&s  Blutzeichen 
diente  dann  zum  Schutz  der  Familienhäuser  und  der  Knaben. 
Erst  der  Deuteronomiker  entzieht  dem  Privatleben  die  Wirkung 
und  den  Gebrauch  des  schützenden  Opferbluts  und  Blut- 
zeichens und  sucht  für  die  Schutzzeichen  am  Hause  und  an 
den  Personen  einen  Ersatz.  Statt  des  Blutzeichens  f,  das  als 
Tav  des  Lebens  dem  zu  Beschützenden  auf  die  Stirne  gestrichen 
wurde  —  vgl.  Ezechiel  9,  4 — 6  mit  16,  6,  wo  das  Blut- 
mal Leben  bedeuten  soU!  —  soU  das  Wort  der  Lehre  als 
Schutzzeichen  für  Hand  und  Stirn,  wie  für  das  Haus  dienen 
(Deuteronomium  6,  8—9;  11,  18.   20). 

Über  den  Ursprung  der  hier  und  an  den  angeführten 
Exodusstellen  befohlenen  Denkzettel  oder  Phylakterien  haben 
Nowack  und  Benzinger  in  ihrer  Hebräischen  Archäologie  wenig 
Befriedigendes.  Beginnen  wir  mit  dem  an  den  Haustüren  an- 
gebrachten Schutzzeichen,  so  finden  wir  in  Jesaias  57,  8  die 
Hindeutung  auf  eine  phallische  „Hand"  (statt  Zikronek  scheint 
ursprünglich  Zikrutech  gestanden  zu  haben).  Für  die  Hand 
und  die  Stirn  waren  Tätowierungen  oder  Eiuätzungen  des  Idols 
als  Schutzmittel  gebräuchlich,  wie  aus  Leviticus  19,  28  zu  ent 
nehmen,  auch  ist  Jesaia  49,  16  zu  vergleichen.  Nun  erfahren 
wir  aus  Trumbull,  Blood  Covenant  7  ff.,  daß  man  bei  den  Syrern 
und  Arabern  noch  heute  Tropfen  des  Bundesbluts,  in  ledernen 
Kapseln  aufbewahrt  und  an  den  Leib  gebunden,  als  Amulette 
mit  sich  herumträgt.  Hier  sind  also  die  Übergänge  zu  den 
Phylakterien  =  Tefillin  (ein  Wort,,  das  nichts  mit  Tefillah  = 
Gebet  zu  tun  hat,  sondern  „Umwickeltes"  oder  „Umwickelung" 

6* 


84  K.  Kohler  Selts.  Vorstell,  u.  Bräuche  i.  d.  biblisch,  u.  rabbinisch.  Literatur 

[von  palal]  bedeutet)  und  den  Türpfostenzeichen  =  Mezuzzoht 
der  späteren  „Frommen"  gegeben. 

Daß  beide  aus  Amuletten  für  Leib  und  Haus  zu  religiösen 
Formen  sich  entwickelt  haben,  erhellt  sogar  aus  der  rabbi- 
nischen  Literatur,  wo  sie  mit  den  Amuletten  Kemeoth  zu- 
sammen genannt  werden.  Mischnah  Schabbat  6,  2,  Kelim  23,  1, 
Tosefta  Demai  2,  17.  Schechters  Abot  d.  R.  Nathan,  S.  165, 
Targum  zum  Hohenlied  8,  3  und  Jerusalemischer  Talmud  zu 
Peah  I  1;  dazu  v^l.  die  christlich -heidnischen  Amulette  bei 
Kaiser,  Canon  des  Jacob  von  Edessa,  130 — 132. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  auf  die  von  Curtiß  vorgefundenen 
Spuren  des  alten  Baal-  und  Astarte-Kultes  in  Syrien  hingewiesen. 
Man  schwört  dort  noch  heute  beim  Phallus  des  Allah,  S.  118. 
Kinderlose  Frauen  werden  noch  heute  vom  Schutzheiligen,  der 
im  Fluß  wohnend  gedacht  ist  und  zur  Zeit  der  Dämmerung, 
wenn  alle  Gewässer  deker  (=  zakar  =  befruchtend)  sind,  herbei- 
kommt, schwanger!  (S.  113.  122 ff.,  vgl.  Vorwort  S.  XXII f. 
u.  S.  95.)  Der  Wassergeist  des  alten  Heidentums  ward  im 
Neuen  Testament,  Johannesevangelium  5,  2,  zum  Engel,  während 
die  heutigen  Mariaquellen  Palästinas  mit  ihrer  vermeintlichen 
Heilwunderkraft  in  der  rabbinischen  Literatur  als  Miriamquellen 
gelten  und  dem  wandernden  Wunderquell  Miriams,  der  Schwester 
Moses,  zugeschrieben  werden  (Leviticus  Rabba  22). 

Sonderbar  ist,  daß  man  sich  im  Jubiläenbuch  15,  27  die 
Engel  des  Antlitzes  und  des  Dienstes  noch  geschlechtlich  vor- 
stellte und  die  Beschneidung  als  Engelstypus  kennzeichnete, 
was  noch  in  Abot  di  Rabbi  Nathan  nach  einer  Vatikanhand- 
schrift ed.  Schechter  S.  153  nachklingt. 

Daß  die  heißen  Quellen  vom  Feuer  Gehennas  geheizt 
werden  (Schabbat  39  a  und  Enoch  47,  6 — 8),  ist  noch  heute 
syrischer  Volksglaube:  „Ein  Dschinn  unter  der  Erde  erhält 
das  Feuer,  wodurch  das  Wasser  erhitzt  wird"  (Curtiß  S.  230) 

[Korrektumote :  S.  den  Nachtrag  unten  S.  158.] 


zoAriA 

Von  P.  Stengel  in  Berlin 

Eine  kürzlich  erschienene  Marburger  Dissertation,  Sacrificia 
Graecorum  in  hellis  militaria  betitelt,  veranlaßt  mich  zu  einigen 
Bemerkxingen,  die  in  den  Kahmen  einer  Rezension  nicht  passen 
würden;  sie  beziehen  sich  sämtlich  auf  die  Appendix,  die  der 
Verfasser,  Th.  Szvmanski,  seiner  fleißigen  und  übersichtlichen 
Stoffsammlung  (S.  72 ff.)  angehängt  hat,  und  zwar  handelt  es 
sich  hauptsächlich  um  zwei  Stellen  aus  Plutarchs  Vitae:  Ages.  6 
und  Aristid.  18. 

Vorausschicken  muß  ich,  daß  6q:dyia  durchaus  nicht  eine 
einzige  Art  von  Opfern  bedeutet,  und  wer  alle  Schilderungen, 
wo  die  Tiere  als  etpdyuc  oder  das  Schlachten  mit  6(fayiät,e6^ai 
bezeichnet  wird,  zusammenwirft,  muß  notwendig  in  die  Irre 
gehen,  etfayia  heißen  die  Opfer  für  chthonische  Gottheiten*, 
Heroen-,  Tote',  femer  Sühn-  und  Reinigungsopfer ^  und  Eid- 
opfer ^,  kurz  alle,  wo  es  lediglich  auf  das  Blut  des  Tieres  an- 
kommt, die  man  ivriiivei,  d.  h.  schachtet,  damit  von  dem  Blut 
nichts  im  Körper  zurückbleibt  und  verloren  gehe.  Daneben 
gibt  es  eine  besondere  Art  ögrayia,  die  man  in  Augenblicken 
großer  Gefahr  vollzieht.  Bei  ihnen  allein  findet  Zeichen- 
beobachtung statt,  nur  hier  ist  der  fuivTig  unerläßlich,  und 
nur  hier  scheinen  die  Spenden  zu  fehlen.  Da  dem  Gotte  nichts 
zum  Genüsse  angeboten  wird,  höchstens  böse  Dämonen  be- 
schwichtigt werden  sollen,  wüßte  man  auch  nicht,  was  sie  für 
einen   Zweck   haben   sollten,     V^eder  Arr.  Anab.  VI  19,  5  noch 

»  Aisch.  Eum.  1006.    Xen.  Anab.  Y  5,  4.  «  Plut.  Sol  9. 

'  Eur.  El  515,  Hei  1564.     Aristoph.  Av.  1559. 

*  Athen.  XIV  626  F.     Polyb.  IV  21,  9.     Plut  Quuest.  rotn.  68. 

*  Eur.  Hiket.  1196.    Antiph.  130,  12.    Plut.  Pyrrh.  6. 


86  P.  Stengel 

I  11,  6  (vgl.  Sz.  S.  78 f.)  handelt  es  sich  um  solche  Opfer; 
es  droht  keine  unmittelbare  Gefahr,  und  der  Opfernde  steht 
vor  keiner  Entscheidung,  die  nach  dem  Ausfall  der  6(pdyia 
getroffen  werden  soll.  Alexander  befragt  überhaupt  keine 
Zeichen,  es  sind  Darbringungen  an  einen  bestimmten  Gott, 
dessen  Gunst  er  durch  die  reichen  Gaben  gewinnen  will,  selbst 
die  goldenen  Gefäße,  aus  denen  gespendet  wurde,  werden  dem 
Poseidon  als  %aQi6triQLa  in  die  Fluten  geworfen.  Herodot  VII 167 
aber  schildert  ein  spezifisch  karthagisches  Opfer,  das  sich 
außer  anderem  von  den  griechischen  dadurch  unterscheidet,  daß 
Hamilkar  Gaiiaxa  oXa  üatufC^si,  während  die  Griechen  die 
6(fdyia  zerstückelten.  Die  Stellen  können  also  ebensowenig 
beweisen  wie  Max.  Tyr.  XIV  2  ^vrs^hv  6(fäyia  x^d^svog  %oäs 
dvsxaXslto  ilfviriv. 

Plut.  Ages.  6  hat  Agesilaos  die  Kontingente  des  Heeres, 
das  er  nach  Asien  führen  will,  nach  Geraistos  beordert. 
Während  sie  sich  versammeln,  fährt  er  selbst  mit  seinen 
Freunden  nach  Aulis  und  hat  dort  nachts  einen  Traum;  der 
Erscheinende  sagt  ihm,  er  führe  dieselben  Völker  von  der 
gleichen  Stelle  gegen  denselben  Feind  wie  einst  Agamemnon, 
«ixdg  ^öTfc  xal  d"VöaC  6s  tfj  d'sq)  d'vöCav,  -Jjv  ^xslvos  svtav^a 
d"v6ag  ii,BnXEv6sv.  Er  aber  verabscheut  ein  Menschenopfer 
xai  zatttöTstpas  eXacpov  ixsXsvöEv  xaraQ^ccöd-ac  rbv  iavtov 
fittVTLv  .  .  .  dxovöavtsg  ovv  ol  ßoKOtdQxo^f'  •  •  •  £Ä£/i^av  vTtrjQStccs 
dnayoQSvovTEg  tq)  ^AyrjöiXdG)  firj  d^veiv  jtaQu  tovs  vöfiovg  xai 
xd  TtdtQva  BoKor&v.  ol  dh  xal  ravta  djiijyysiXav  xal  rä  ^tjqCcc 
diBQQi^av  dnb  tov  ßofiov.  Agesilaos  aber  fährt  fort  ysyovoag 
dvöeXnig  diä  rbv  olavöv,  er  fürchtet,  er  werde  den  Feldzug 
nicht  glücklich  zu  Ende  führen.  Die  Erzählung  von  dem  ge- 
störten Opfer  liegt  uns  noch  zweimal  vor,  bei  Xen.  Hell.  III  3,  3 
und  Paus. III 9,  3.  Xenophons  Bericht  lautet:  Nachdem  Agesilaos 
die  vorschriftsmäßigen  Opfer  und  vor  dem  Überschreiten  der 
Grenze  die  diaßari^QLa  vollzogen  hatte,  schickte  er  Boten  an 
die  Bundesgenossen,  wohin  eine  jede  Stadt  ihr  Kontingent  senden 
solle,    ccvrbg  dh  ißovXijd^ij    iXd-mv   Q-vöai  iv  AvXiöi^  sv^ansQ 


z^AriA  87 

6  Aya^suvcjv,  or'  sls  TgoCav  exXsi^  ^^vexo.  g)j  8s  ixel  iyivsro, 
xv&öuevoi  ol  ßoKDTUQxoL,  Ott  &VOL,  ns^t^avtsg  InTcdag  tov  ts 
koiTiov  EL%ov  [lii  d-v£LV  •/.ol  olg  ivstvxov  IsQolg  Tsd^v^svoig 
duQQL^av  ä:tb  rov  ßco^ov.  Agesilaos  ruft  zürnend  die  Götter 
zu  Zeugen  an  und  fährt  nach  Geraistos,  wo  er  das  Heer 
zusammenzieht  und  nach  Ephesos  übersetzt.  Pausanias  III  9,  3 
erzählt:  'Ayr^öClaos  8h  cjg  avzä  .  .  .  xb  öxqccxsviuc  ^&qoi6to  xal 
aiia  al  v^fg  evxQBnelg  rj6av,  ä<pCx£TO  sig  AvXCda  rfi  ^AgriiLidi 
&V6COV,  wie  Agamemnon  es  getan  .  .  .  d^vovxog  8b  avxov  &rjßaloi 
övv  o^loLs  iTtsX&ovxas  xäv  xe  iageCav  y.uionsva  ff8r]  xä  fir^gCa 
dxoQQinxovöLV  anb  xov  ßofiov  xal  avxbv  ki,sXavvov6iv  ex  xov 
hgov.  ^Ayi]6CXaov  8a  ilvaai  }i£v  i}  ^vöCa  fxri  xaXaö&alöa, 
8Ußaivs  8h  oiiag  ig  xt^v  ^AöCav.  Xenophon  ist  ein  Zeit- 
genosse des  Agesilaos,  lebhaft  interessiert  für  den  Feldzug,  ein 
nüchterner  Mann,  zuverlässig  vornehmlich  auch  in  den  Dingen, 
auf  die  es  hier  ankommt,  in  der  Beschreibung  von  Opfern. 
Agesilaos  ^i»«t,  bringt  also  ein  gewöhnliches  Speiseopfer,  von 
dem  er  der  Göttin  auf  ihrem  Altar  die  üblichen  Stücke  ver- 
brennt (vgL  Hell.  UI  5,  5).  Was  für  ein  Tier  er  geopfert  hat, 
sagt  Xenophon  nicht,  man  hat  wohl  an  das  gewöhnlichste 
laQstov  (vgl.  Dittenberger  Syll.^  629,  14),  ein  Schaf,  zu  denken. 
Auch  bei  Pausanias  finden  wir  die  Ausdrücke  &v£lv  und 
Isgata  (nicht  6(fuyiä^i6^ai  und  6(pccyiov,  und  er  wendet  die 
Termini  sehr  genau  an)  und  die  ins  Altarfeuer  gelegten  fir^gCa-, 
also  auch  ein  gewöhnliches  Speiseopfer.  Auf  die  Zahl  der 
Tiere  kommt  es  nicht  an,  auch  nach  Xenophons  Schilderung 
könnte  man  an  mehrere  denken.  Ganz  anders  bei  Plutarch. 
Agesilaos  fährt  nach  Aiiüs;  warum,  wird  nicht  gesagt,  aber 
man  muß  doch  annehmen,  um  zu  opfern.  Dort  hat  er  nachts 
den  Traum,  der,  wie  nicht  anders  zu  verstehen  ist  und  wie  er 
selber  versteht  (vgl.  Plut.  Pelop.  21),  die  Opferung  einer  Jungfrau 
fordert.  Er  ist  sogleich  entschlossen,  ein  Ersatzopfer  dar- 
zubringen, eine  Hinde,  wie  sie  Artemis  einst  für  Iphigenie 
untergeschoben  haben  sollte,  also  ein  övpayLov  (vgl.  Pelop.  21). 
Das  Tier  ist  auch  sofort  zur  Hand     Nun  aber  die  Ausführung: 


88  ■  P.  Stengel 

xä  ^rjQCa  diBQQirpav  a%o  rov  ßcjiiov.  Von  Tieren,  die  für 
Menschenopfer  substituiert  sind,  werden  nicht  nur  die  iir]QCa, 
sie  werden  ganz  und  gar  verbrannt,  freilich  nicht  auf  Altären, 
am  wenigsten  auf  dem  auch  zu  andern  Opfern  benutzten  Altar 
eines  Heiligtums.  Aber  das  Herunterwerfen  der  der  Gottheit 
geweihten  Stücke  war  einmal  Tatsache,  und  wer  romanhaft 
ausgeschmückte  Legenden  damit  vereinigen  wollte,  mußte  eben 
in  die  Brüche  geraten.  Das  Tier  wird  bekränzt.  Soviel  wir 
wissen,  geschah  das  nur  bei  festlichen  Speiseopfern.  Aber  die 
Dichter  erzählten,  daß  Jungfrauen,  die  sich  fürs  Vaterland 
opferten,  bekränzt  zum  Tode  gingen^;  gesehen  hatte  das 
niemand,  höchstens  auf  Gemälden,  und  die  (paQfiaxoC,  die  an 
den  Thargelien  zur  Sühne  hinausgeführt  wurden,  trugen  nur 
die  kathartisch  wirkenden  Feigenschnüre  um  den  Hals.^  Und 
was  soll  der  ^avrtg?  Menschenopfer  und  die  an  ihrer  Statt 
dargebrachten  Tiere  werden  grausamen  oder  zürnenden  Gott- 
heiten hingegeben,  um  sie  zu  versöhnen,  eine  Zeichenbeobachtung 
hat  da  keinen  Sinn,  —  aber  Iphigenie  war  von  Kalchas  ge- 
opfert worden,  und  so  durfte  auch  hier  der  Seher  nicht  fehlen. 
Zweifellos  richtig  ist  der  Grund,  den  der  Boioter  Plutarch 
für  die  Verhinderung  des  Opfers  durch  die  Behörde  angibt: 
'jiyrjßCXaog  ixsXsvös  xatdQi,a6d'cci  tbv  iccvtov  (idvriv,  ov%  &6%sq 
slädsL  tovto  noiBiv  6  vnb  räv  BoicaxSiv  tstay^svog.  Das  war 
in  der  Tat  eine  beleidigende  Eigenmächtigkeit  des  Lakedai- 
moniers  und  gegen  Herkommen  und  Recht,  denn  der  Fremde 
durfte  ohne  Erlaubnis  und  ohne  die  Mitwirkung  eines  dazu 
bestellten  Bürgers   in   einem   Heiligtum    eines   anderen  Landes 

'  Eur.  Iph.  Aul.  1667,  Heraklid.  628.     Anton.  Lib.  VIII  4. 

'  Sollte  Plut.  Pelop.  22  die  von  den  meisten  Codices  gegebene  Lesart 
xataatiipavree  richtig  sein,  und  nicht  naraötgiipavTeg,  wie  der  Palatinus 
hat  (vgl.  Herrn.  XXV  322),  so  wäre  die  Stelle  nicht  anders  zu  beurteilen. 
Aber  man  fragt  sich,  wie  kommt  y.axuaxQi'\^avt£s  in  die  Handschrift 
(die  übrigens  öfters  die  beste  Lesart  liat)?  Nach  einem  Schreibfehler 
sieht  das  nicht  aus,  aber  daß  ein  Späterer  für  das  ihm  in  seiner  Be- 
deutung gewiß  schon  dunkle  Wort  das  geläufige  ■Kaxaexi'^^iavzeg  schrieb, 
wäre  plausibel. 


z^AriA  89 

nicht  opfern,  das  xarccQx^^^^i'  mußte  zuerst  dieser  vornehmen 
(vgl.  Dittenberger  Ind.  lect.  Hai.  1889/90,  Stengel  Herrn.  XLUI 
456  ff.).  Ich  habe  diese  einzig  mögliche  Lesart  des  Matritensis 
sogleich  in  den  Text  gesetzt,  unsere  Ausgaben  haben  sämtlich 
mit  den  anderen  Codices  dixccQ^aöd'ai.  d%dQ%B6&aL  bedeutet 
das  Abschneiden  und  Darbringen  der  Weihegaben,  der  aTcaqxai^, 
es  kann  also  erst  geschehen,  nachdem  das  Tier  geschlachtet 
ist,  und  diese  Handlung  vollzieht  niemals  ein  Seher,  sondern 
der,  welcher  das  Opfer  darbringt,  der  Besitzer  des  Tieres.  Das 
xaxdQxsöxfai^,  d.  h.  das  Besprengen  des  Tieres  mit  Wasser  imd 
das  Streuen  der  ovXai^  nehmen  alle  Anwesenden  vor,  der  Dar- 
bringende nur,  wie  natürlich,  an  erster  Stelle  (Od.  y  446),  und 
das  ist  es,  was  im  fremden  Lande  der  Einheimische  tun  muß.' 
Darüber  hatte  sich  Agesilaos  hinweggesetzt  und  gehandelt,  als 
sei  er  Herr  von  Aulis.* 

Plut.  Arist.  18  schildert  das  Opfer  des  Pausanias  vor  der 
Schlacht  bei  Plataiai.  Wie  wir  dort  Xenophon  gegenüber- 
stellen konnten,  so  hier  Herodot.  Bei  ihm  heißt  es  IX  61  f.: 
AaxsöaifiövLOi  xal  TsyefiruL  .  .  .  iötpayid^ovro  ag  dv^ßa/.sovres 
MaQÖovia)  .  .  .  y.al  ov  ydQ  6(fi  sysvero  xd  Gffdyia  xQV^'^^j 
BTCVTCrov  8e  avxäv  iv  xovxa  xa  X(>övgj  :ioXXoi,  y.ai  :ioXXä 
xXsvvsg  ixQcofiaxC^ovxo  .  .  .  &6xs  xu^o^isvav  r&v  ZlnaQXLtixicov 
xal  xäv  Gqiaylav  ov  yevo^isvcov  d:ioßXiil)avxu  xbv  IlavGavCijv 
TCQog  xb  "Hquiov  xb  Ukaxaiiav  i7iixaXs6cc€&ai  xriv  &söv  .  .  . 
xai  avxCxa  [lexä  xiiv  Bvxiiv  v^v  UavöavUca  kyivsxo  ^voiiivoiöi 
xä  6(pdy la  xQfl^'^d.  Eine  kritische  Situation;  vor  dem  günstigen 
Ausfall  der  öcpdyia  wagt  man  nicht  anzugreifen,  ja  man  darf 
sich  trotz  der  Verluste  der  Feinde  nicht  einmal  erwehren^; 
weit  dramatischer  aber  noch  ist  die  Schilderung  bei  Plutarch. 
Er  bewundert  die  Disziplin  der  ruhig  Abwartenden  und  erwähnt 


'  Od.  I  428f.     Herod  IV  61,  ÜI  24.     Xen.  Cyrup.  VII  1    1. 

»  Vgl.  Plat.  Thetn.  13. 

'  Genau  also  TiQOxazdQxeaQ-cn,  wie  Thuk.  I  25 

*  Vgl.  meine  Griech.  Kultusaltt.^  106,  19. 

=  Vgl.  Xen.  Hell  IV  6,  10. 


90  P.  Stengel 

sogar  eine  Erzählung,  nach  der  Pausanias  und  die  anderen 
beim  Opfer  Anwesenden  die  angreifenden  Feinde  mit  Stöcken 
und  Peitschen  zurückgetrieben  hätten;  er  läßt  den  Seher  hastig 
eine  ganze  Menge  von  Tieren  schlachten  (aAXa  rov  ^dvtecog 
ijc^  cclloLQ  IsQsla  xtttaßdXXovtos) ,  er  weiß  auch,  was  der  Führer 
der  Göttin  in  angstvollem  Gebet  zurief.  Danach  fährt  er  fort 
xavta  Tov  Ilavöavlov  Q'SozXvtovvTog  ä^a  taig  6'i)%aLS  Icpdvri 
tä  isQu^  ■aal  vCxrjv  6  fidvng  etpQa^s.  Auf  diese  Stelle  vor- 
nehmlich gründet  Szymanski  (S.  87)  seine  Ansicht,  daß  auch 
bei  den  6cpdy la  Eingeweideschau  stattfand,  denn  die  römischen 
Opfer  bei  der  Lustratio  des  Heeres  Plut.  Crass.  19  und  Caes.  43 
(an  welcher  Stelle  übrigens  einfach  U^ala  %^vsiv  steht)  kommen 
nicht  als  Analoga  in  Betracht.  Er  erklärt  IsQd  seltsamerweise 
als  exta,  wie  bei  Eur.  El.  826  und  Herod.  VII  167  ^,  es  heißt 
natürlich  „Zeichen",  d.  i.  günstige  Zeichen.  Denn  Uqo,  yCy vetai 
oder  IsQa  yCyvBxai  xaXd  wird  synonym  gebraucht,  und  mit 
6(pdyia  ist  es  nicht  anders.^  Was  sind  das  nun  aber  für 
6r][isla,  die  da  betrachtet  werden?  Nach  Sz.  S.  88 f.  schließt 
die  Lage,  wie  sie  Plutarch  an  unserer  Stelle  schildert,  sogar 
das  Verbrennen  der  Tiere  oder  der  Eingeweide  aus,  während 
die  einzige  Stelle,  die  uns  die  Zeichenbeobachtung  bei  Voll- 
ziehung der  0(pdyia  beschreibt,  Eur.  Phoin.  1255  ff.,  nach  seiner 
Meinung  (S.  83  ff.)  nur  (pXoy(07tä  öijiiata  nennt.  Plutarch  über- 
treibt eben  die  Spannung  der  Situation ,  wie  der  Vergleich  mit 
Herodot  zeigt,  und  aus  Euripides  nur  der  Flamme  entnommene 
Zeichen  herauszuinterpretieren,  geht  ebenfalls  nicht  an,  denn 
die  Scholiasten  mit  der  Bemerkung  abzutun,  daß  sie  auch 
Falsches  bringen  (S.  84),  ist  unmöglich,  das  Zitat  aus  Soph. 
MdvtSLg'  tag  iialkoSstag  nv6xBig  beweist,  daß  sie  recht  haben.' 


*  Statt  der  letzten  Stelle  hätte  er  besser  andere,  wie  \Qn.Anab.  II 1,  9 ; 
Hell.  III  4,  15;  Plut.  Ages.  9  angeführt. 

»  Herod.  IX  61,  III 112.  Aisch.  Sept.  379.  Xen.  Andb.  IV  8,  19  u.  a.  m. 
Auch  (paivs6%-ai  steht  öfters  dabei,  z.  B.  Arr.  Andb.  III  1,  6.  Xen. 
Cyrup.  VI  4,  12. 

•  Selbst  wenn  sich  ivavriav  auf  die  Beeinträchtigung  der  Feuer- 
entwickelung   durch    die  Feuchtigkeit    beziehen    sollte,  wie    ich  Herrn. 


Z^AFIA  91 

Wir  bleiben  also  leider  nach  wie  vor  anf  die  Enripidesstelle 
angewiesen,  die  nns  bestätigt,  daß  bei  den  öcpdyia  noch  andere 
Zeichen  beobachtet  wurden  als  bei  den  Uqü^,  was  ja  übrigens 
selbstverständlich  ist,  da  die  Beobachtung  beider  nebeneinander 
sonst  nicht  zu  erklären  wäre.  Da  aber,  wo  wir  beide  zu- 
sammen finden,  sind  die  6<pciyia  nicht  einfache  Sühnopfer 
(vgl.  Sz.  S,  53),  sondern  man  schließt  aus  ihrem  Ausfall  ganz 
besonders  auf  Gelingen  oder  Mißlingen  des  Unternehmens,  und 
macht,  wenn  es  noch  angeht,  dieses  selbst  von  dem  Befund 
der  Zeichen  abhängig.  Nur  wo  keine  augenblickliche  Gefahr 
droht,  genügen  auch  zu  solcher  Entscheidung  die  Uqu,  die 
man  dann  aber  nicht  d^vei,  sondern  ^vsrai,  ein  Unterschied 
im  Sprachgebrauch,  der  Sz.  leider  entgangen  zu  sein  scheint 
(s.  Herrn.  XXXI  638  f). 


XXXI  479  annahm,  so  ist  damit  das  durch  das  Sophokleszitat  beglaubigte 
Zeugnis,  man  habe  das  Bersten  der  die  Flüssigkeit  enthaltenden  Harn- 
blase beobachtet,  nicht  widerlegt.  Sonderbar  aber  ist  die  Erklärung 
des  avTovg  in  dem  Scholion,  das  nach  Sz.  S.  85  mehrere  fiävTsig  voraus- 
setzen würde.  Es  steht  ja  deutlich  den  ix^goi  und  ivavxioi  gegenüber 
und  bedeutet  natürlich  den  yLÜvriq  und  die  Seinigen. 
'  Sz.  S.  89  kommt  zu  dem  umgekehrten  Ergebnis. 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende 

Von  Israel  Friedlaender  in  New-York 

Die  Frage  nacli  Ursprung  und  Wesen  der  Chadhirlegende^ 
die  die  Gelehrten  so  häufig  beschäftigt  hat,  hat  verschiedene, 
zum  Teil  entgegengesetzte  Lösungen  gefunden.  Während  z.  B. 
ein  so  hervorragender  Forscher  des  Islam  wie  Sprenger  die 
Gestalt  Chadhirs  für  „eine  unhiblische,  ja  unsemitische  Per- 
sönlichkeit" erklärt^,  verficht  ein  so  genauer  Kenner  des  Juden- 
tums wie  Josef  Derenbourg  nachdrücklich  die  Ansicht,  daß  die 
Muhammedaner  die  Chadhirlegende  gänzlich  von  den  Juden 
entlehnt  haben.^  Ethe  wiederum  ist  der  Überzeugung,  daß 
„diese  mythische  Person  ganz  der  muhammedanischen  Phantasie 
angehört"*,  während  andere  Gelehrte  Chadhir  mit  anderen  Sagen- 
und  Kulturkreisen  in  Verbindung  gebracht  haben.  Diese 
Lösungsversuche  gingen  fast  sämtlich  von  der  Voraussetzung 
aus,  daß  Chadhir  sich  mit  einer  bestimmten,  aus  einem  be- 
stimmten Vorstellungskreise  entlehnten  legendarischen  Persön- 
lichkeit deckt.  Einen  großen  Fortschritt  diesen  Versuchen 
gegenüber  bedeutet  der  im  letzten  Jahrgang  dieser  Zeitschrift,  XII 
S.  234 ff.  veröffentlichte  Aufsatz  des  durch  frühzeitigen  Tod  der 


'  Wenn  ich  von  einer  Chadhirlegende  oder  Chadhirsage  spreche, 
80  ist  dies  com  grano  salis  zu  nehmen,  da  es  sich  hierbei  vorwiegend  um 
literarische  und  gelehrte  Tradition  handelt.  Die  Sache  verhält  sich 
ähnlich,  wie  beim  Alexanderroman,  vgl.  Nöldeke  Beiträge  zum  Alexander- 
roman S.  10. 

*  Das  Leben  und  die  Lehre  des  Muhammed  II  466. 

'  Revue  des  L'tudes  Juives  II  292  Anm.  1 :  „Les  Musulmans  ont  sans 
doute  empruntd  aus  Juifs  toutes  leurs  legendes  relatives  au  Khidr." 
Dörenbourg  spricht  von  der  Eliaslegende. 

*  Sitzungsberichte  der  philos.-philol.  und  hist.  Klasse  der  Kgl.  bayer. 
Akademie  der  Wissenschaften  1871  S.  349. 


\  Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  93 

Wissenschaft  entrissenen  Karl  Völlers.  In  dieser  Arbeit,  in  der 
Völlers  zum  ersten  Male  dem  gewaltigen  unter  den  Muhamme- 
danem  zirkulierenden  Legendenstoff  über  Chadhir  gerecht  zu 
werden  versucht,  ist  vor  allem  der  Gesichtspunkt  wichtig,  daß 
die  Chadhirgestalt  sich  nicht  mit  einer  bestimmten  Person  der 
Sage  deckt,  sondern  das  Produkt  eines  weitgreifenden  Syn- 
kretismus ist.  Die  Volksphantasie,  die  die  Volkslegende  schafft, 
ist  keine  Mathematik,  die  mit  scharf  abgegrenzten  Einheiten 
operiert.  Die  Volksphantasie  ist  eben  phantastisch.  Sie  ver- 
fährt eklektisch  und  rafft  alles,  dessen  sie  habhaft  werden  kann, 
zusammen,  um  es  dem  Charakterbild  ihres  Helden  einzuverleiben. 
Die  Frage:  „Wer  ist  Chadhir?",  die  in  dieser  Form  mehrfach 
gestellt  wurde,^  erhält  somit  eine  veränderte  und  erweiterte 
Bedeutung.  Sie  ist  keine  einfache  Frage  mehr,  auf  die  sich 
leicht  im  Singular  antworten  läßt,  sondern  ein  kompliziertes 
Problem,  das  man  etwa  in  dieser  Weise  formulieren  kann: 
Welches  sind  die  mannigfaltigen,  oft  heterogenen  Bestandteile, 
aus  denen  sich  das  Chadhirbild  der  Sage  zusammensetzt?  Eine 
befriedigende  und  erschöpfende  Lösung  dieses  Problems  setzt 
eine  ernste  Berücksichtigung  sämtlicher  Kulturkreise  voraus, 
mit  denen  der  muhammedanische  Volksgeist  in  Berührung  ge- 
kommen ist  —  eine  ungeheure  Aufgabe,  die  die  Kräfte  eines 
Einzelnen  übersteigt. 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  habe  ich  mich  mit  diesem 
faszinierenden  Problem  abgegeben  und  aus  Druckwerken  und 
Handschriften  die  muhammedanischen  Legenden  zusammen- 
zutragen und  den  ihnen  zugrundeliegenden  Vorstellungen  nach- 
zuspüren versucht.  Das  Problem,  das  anfangs  so  einfach  schien, 
nahm  immer  größere  Dimensionen  und  immer  kompliziertere 
Formen  an  und  griff  allmählich  auf  Gebiete  hinüber,  von  denen 
ich  mir  zuerst  nichts  hatte  träumen  lassen.  Aus  Anlaß  des 
Vollersschen  Aufsatzes  sei  es  mir  gestattet,  einige  Resultate 
meiner  Untersuchungen  hier    kurz    zusammenzufassen    und    die 

^  Vgl.  Lidzbarski  in  Zeitschrift  für  Assyriölogie  VII  S.  104  ff.  und 
Dyroff  ibidem  S.  319  S. 


94  Israel  Friedlaender  / 

Geschichte  der  Chadhirlegende,   wie   sie   sich  mir  aus  meinen 
Forschungen  ergeben  hat,  flüchtig  zu  skizzieren. 

Auf  den  Ursprung  der  Chadhirlegende  deutet  eine  von 
den  muhammedanischen  Schriftstellern  vielfach  überlieferte 
Notiz  hin,  nach  welcher  Chadhir,  der  ein  Wesir  Dü'1-Qarnein's 
(des  Zweigehörnten,  d.  h.  Alexanders  des  Großen)  war,  dadurch 
ewiges  Leben  erlangte,  daß  er  den  Lebensquell  entdeckte  und, 
anstatt  seines  Meisters,  von  dessen  Wasser  trank.^  Dieser  Wink 
führt  uns  unmißverständlicherweise  auf  die  berühmte  Legende 
vom  Lebensquell,  die  sich  im  griechischen  Pseudo - Kallisthenes 
findet.^  Alexander  der  Große  will  seinen  Eroberungen  die 
Krone  aufsetzen  und  sich  ewiges  Leben  erwerben.  Er  begibt 
sich  nach  dem  Lande  der  Finsternis,  in  dem  der  Lebensquell 
verborgen  liegt.  Als  einst  Alexanders  Koch,  der  in  einigen 
Rezensionen  Andreas  genannt  wird,  um  Speise  für  seinen  Herrn  zu- 
zubereiten, einen  gesalzenen  Fisch  in  einer  Quelle  abspülte, 
wurde  der  Fisch  lebendig  und  entschlüpfte  seinen  Händen.  Der 
Koch,  der  sofort  merkte,  daß  es  der  Lebensquell  war,  trank  von 
dessen  Wasser  und  wurde  unsterblich.  Als  Alexander  dies  später 
erfuhr,  wurde  er  von  Wut  ergriffen  und  beschloß  den  verräterischen 
Koch  zu  bestrafen.  Da  er  ihn  trotz  mehrfacher  Versuche  nicht 
töten  konnte  —  der  Koch  war  ja  inzwischen  unsterblich  ge- 
worden — ,  ließ  er  ihn,  mit  einem  Mühlstein  beladen,  in  der  See 
versenken,   in  der  er  als  Seedämon  ein  ewiges  Dasein  fristet. 

Es  ist  klar,  daß  Chadhir,  der  als  Prophet  nicht  gut  ein 
Koch  Alexanders  sein  konnte  und  daher  passenderweise  in 
dessen  Wesir  verwandelt  wurde,  ursprünglich  mit  dem  Koch 
Andreas  identisch  ist,  der,  anstatt  seines  Meisters,  aus  dem 
Lebensquell  trank  und  sich  dadurch  ewiges  Leben  erwarb. 

Ein  Reflex  der  Lebensquellsage  findet  sich,  wie  Nöldeke 
zuerst  festgestellt  hat^,   im  Koran,  Sure  XVHI,   59 — 63.     Die 

'  Tabari  Annales  I  414  und  viele  andere. 

"  Ed.  Carl  Müller  Buch  II  Kap.  29—41,  im  sogenannten  Olympiasbrief. 

'  Beiträge  zum  Älexanderroman  S.  82  Anm.  4. 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  95 

Sage  erscheint  dort  in  sehr  verstümmelter  Gestalt,  doch  lassen 
sich  noch  die  Gnmdzüge  derselben  deutlich  erkennen.  Infolge 
eines  Mißverständnisses  seitens  Muhammeds  oder  seines  Ge- 
währsmannes wird  Alexander  mit  Moses  verwechselt*,  der  in 
der  Koranversion  als  die  Hauptfigur  erscheint.  Es  war  daher 
natürlich,  daß  der  an  der  genannten  Stelle  erwähnte  Diener  des 
Moses  von  den  Kommentatoren  für  Josua  erklärt  wurde.  In- 
dessen liegt  88  auf  der  Hand,  daß  dieser  Diener,  dem  im  Koran 
ebenfalls  der  Fisch  auf  geheimnisvolle  Weise  entschlüpft,  ur- 
sprünglich kein  anderer  als  der  Koch  Andreas  ist.  Der 
Hadith  hat  noch  vielfache  Spuren  dieses  Zusammenhanges 
bewahrt,  der  in  der  auf  eine  arabische  Vorlage  zurückgehenden 
äthiopischen  Alexanderversion  ^  wie  auch  gelegentlich  sonst  in 
der  arabischen  Literatur  deutlich  ausgesprochen  wird. 

Der  Name  unseres  Sagenhelden  dürfte  sich  ebenfalls  aus 
diesem  Zusammenhange  erklären.  Al-Chadhir  (oder  al-Chidhr), 
„der  Grüne",  ist  der  Seedämon,  in  den  Alexanders  Koch 
verwandelt  wurde.'  Lange  nachdem  ich  auf  diese  Erklärung 
gekommen  war,  fand  ich  dieselbe  in  etwas  modifizierter  Ge- 
stalt in  der  äthiopischen  Alexanderversion  ausgesprochen.*  Doch 
wie  man  auch  den  Namen  erklären  mag,  keinem  Zweifel,  nach 
meiner  Ansicht,  unterliegt  es,  daß  es  die  Gestalt  des  Seedämons 
ist,  die  der  allgemein  verbreiteten,  bis  nach  Indien  hinreichenden 
muhammedanischen  Vorstellung,  nach  welcher  Chadhir  mukallaf 
fi'1-bahr,  „Vorgesetzter  der  See"  ist,  und  den  unzähligen 
Legenden,  die  dieser  Vorstellung  Ausdruck  geben,  zugrunde 
liegt. 


*  Ebenda.  *  Vgl.  unten  Anm.  4. 

'  Auf  den  Zusammenhang  mit  riavxos  komme  ich  in  der  unten 
angekündigten  Abhandlung  zurück. 

*  The  Life  and  Exploits  of  Alexander  the  Great,  ed.  Budge,  1896,  II 
S.  268:  Als  Chadhir,  der  hier  deutlich  die  Rolle  des  Koches  Andreas 
spielt,  im  Lebensquell  gebadet  hatte  (ich  zitiere  die  englische  Über- 
setzung): „behold,  all  the  flesh  of  bis  body  had  become  bluish-green 
and  bis  garments  likewise  became  bluish-green  and  by  reason  of  this  he 
was  called  El-Khidr,  that  is  to  say,  Green." 


96  Israel  Friedlaender 

Indem  man  die  Chadhirlegende  mit  Pseudo-Kallisthenes  in 
Verbindung  bringt,  braucht  man  dabei  nicht,  wie  Völlers 
meint  ^,  an  direkte  Entlehnung  aus  dem  Griechischen  zu  denken, 
die  in  dieser  frühen  Zeit  auffällig  wäre.  Man  muß  vielmehr 
an  die  Syrer,  die  mit  der  Lebensquellsage  wie  mit  dem  Pseudo- 
Kallisthenes  überhaupt  vertraut  waren,  als  Vermittler  denken. 
Muhammed,  der  für  die  asätir  al-awwalin,  „die  Historien 
der  Alten",  mehr  Interesse  als  Verständnis  hatte,  hat  seinen 
syrischen  Gewährsmann  schlecht  verstanden  und  noch  schlechter 
wiedergegeben.  Die  nach  Muhammed  lebenden  Traditionarier 
hatten  jedoch  in  viel  höherem  Maße  die  Gelegenheit  und 
Fähigkeit,  diesen  Legendenstoff  kennen  zu  lernen.  Ich  kann 
diese  Fragen  hier  lediglich  andeuten.  Dieselben  finden  eine 
eingehende  Besprechung  in  meiner  demnächst  erscheinenden 
Abhandlung  „Die  Chadhirlegende  und  der  Alexanderroman", 
in  der  ich  die  Entwickelung  der  Chadhirlegende  im  Zusammen- 
hang mit  der  Lebensquellsage  und  dem  Alexanderroman  in 
den  verschiedenen  orientalischen  Versionen  im  einzelnen  ver- 
folge und  auch  auf  die  Berührungen  mit  dem  babylonischen 
Gilgameschepos  und  der  griechischen  Glaukossage  eingehe.^ 

Auf  den  Zusammenhang  der  Chadhirlegende  mit  der 
jüdischen,  genauer  rabbinischen,  Eliassage  ist  längst  von  ver- 
schiedenen Seiten  hingewiesen  worden.^  Dieser  Zusammenhang 
ist  so  frappant,  daß  es  unbegreiflich  erscheint,  wie  Lidzbarski, 
dem  doch  die  rabbinische  Legende  zweifellos  bekannt  war,  ihn  mit 
einigen   spöttischen   Bemerkungen    abweisen    konnte.*     Es    ist 

—  I 

^    S.  282. 

*  Über  den  Zusammenhang  Chadhirs  mit  dem  Alexanderroman 
referierte  ich  kurz  auf  dem  Orientalistenkongreß  in  Kopenhagen  im 
August  1908.  Über  die  Beziehungen  zum  Gilgameschepos  sagte  ich 
einiges  auf  der  Jahresversammlung  der  American  Oriental  Society  in 
New -York,  April  1909. 

'  So  z.  B.  von  Geiger  Was  hat  Muhammed  aus  dem  Judentum 
aufgenommen  S.  191,  Josef  D(5renbourg  oben  S.  92  Anm.  8,  Hirschfeld 
Beitrüge  zur  Erklärung  des  Qorans  S.  82  und  viele  andere. 

*  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII,  106. 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  97 

dankenswert  und  zugleich  charakteristisch,  daß  Völlers,  obwohl 
ihm  die  jüdischen  Eliassagen  eingestandenermaßen  aus  zweiter 
Hand  bekannt  waren  \  diese  Verwandtschaft  wieder  erkannte  und 
energisch  betonte.  Nicht  nur  lassen  sich  die  einzelnen  Chadhir- 
anekdoten  aus  genau  entsprechenden  Eliaslegenden  ableiten, 
sondern  die  Grundvorstellung  von  Chadhir  als  einem  allgegen- 
wärtigen Ratgeber  und  Helfer  in  der  Not  ist  ein  genauer 
Abklatsch  der  rabbinischen  Auffassung.  Die  muhammedanischen 
Gelehrten  sind  sich  dieser  Identität  durchaus  bewußt,  wenn  sie 
vielfach  erklären,  daß  Chadhir  Elias  sei.  Doch  da  einerseits 
das  Charakterbild  Chadhirs  eine  ßeihe  von  Zügen  aufweist,  die 
einem  anderen  Vorstellungskreis  angehören  und  da  andererseits 
Elias  schon  vom  Koran  her  den  Muhammedanem  als  selb- 
ständiger Prophet  bekannt  war,  so  konnte  die  Identität  der 
beiden  Personen  nicht  aufrechterhalten  werden,  und  ihr  beider- 
seitiges Verhältnis  wurde  dadurch  zum  Ausdruck  gebracht,  daß 
Chadhir  für  einen  Genossen  des  Elias  oder  für  dessen  Schüler 
Elisa  erklärt  wurde.  Die  in  den  muhammedanischen  Ländern 
wohnenden  Juden  hingegen  nahmen  diese  Identifikation  als 
selbstverständlich  hin,  und  zwar  so  sehr,  daß  diejenigen,  die 
mit  ihrem  jüdischen  Namen  Elia  hießen,  sich  mit  ihrem 
bürgerlichen  Namen  Chadhir  (genauer  Chidhr)  nannten.'  Ja,  der 
von  der  rabbinischen  Tradition  mit  Elias  identifizierte  Pinehas 
wurde  von  den  Juden  für  Chadhir  erklärt.^  Doch  die  Ursprünglich- 
keit der  Identität  von  Chadhir  und  Elias  zeigt  sich  bereits  in 
der  allgemein  verbreiteten  muhammedanischen  Tradition,  nach 
welcher  Chadhir,  dessen  Name  natürlich  nur  ein  epitheton 
rnans  ist  und  als  solches  aufgefaßt  wurde,  BLJä  bnu  Malkän 
hieß.    Für  die  Konsonantengruppe  BLJä  wird  von  den  späteren 

'  Der  von  Völlers  S.  271  zitierte  Artikel  über  Elias  aus  der  Jewish 
Encyclopedia  V,  122 ff.  ist  nicht,  wie  er  Anm.  1  irrtümlich  angibt,  von 
Emil  G.  Hirsch,  sondern  von  Louis  Ginzberg. 

*  Ich  gehe  auf  diesen  interessanten  Punkt  in  dem  unten  angekün- 
digten Artikel  ausführlich  ein. 

'  Mas'üdi,  Kitäb  at-tanbth,  ed.  de  Goeje  S.  200.  Ich  könnte  noch 
eine  Reihe  weiterer  Belege  beibringen. 

Archiv  f.  Beligionawissenschaft  Xm  7 


98  Israel  Friedlaender 

Theologen  ausdrücklicli  die  Aussprache  Baljä  vorgeschrieben. 
Indessen  bieten  Tabari^  und  Ibn  al-Athir^,  mit  unbedeutender 
Veränderung  der  diakritischen  Punkte,  die  Variante  JLJä,  die 
offenbar  nichts  anderes  als  Ilijä  (Elia)  ist.^  Diese  Form  des 
Namens  ist  ungemein  bezeichnend.  Während  Muhammed  die 
Eliaslegende,  wie  schon  die  koranische  Form  Iljäs  bezeugt,  nicht 
von  den  Juden,  sondern  wahrscheinlich  von  den  Syrern  ent- 
lehnt hat*,  schöpften  die  nach  Muhammed  lebenden  Über- 
lieferer aus  jüdischen  Quellen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  zahlreichen  und  ungemein 
interessanten  Wechselbeziehungen  zwischen  der  muhammeda- 
nischen  Chadhirlegende  und  der  rabbinischen  Eliassage  ein- 
zugehen. Ich  behalte  mir  dies  für  eine  andere  Gelegenheit 
vor^,  bei  der  ich  auch  die  anderen  Gestalten  der  jüdischen 
Haggada  in  Betracht  ziehen  werde.  Hier  wollen  wir  lediglich 
auf  die  berühmte  Erzählung  im  Koran  Sure  XVIII,  64  —  81, 
die  die  muhammedanischen  Gelehrten  einstimmig  auf  Chadhir 
beziehen  und  die  ebenfalls  der  Widerhall  einer  jüdischen  Elias- 
sage ist,  hinweisen.  Die  letztere  wird  zuerst  von  einer  rabbi- 
nischen  Autorität   des    11.    Jahrhunderts    zitiert®,    doch   dürfte 


^  Annales  I  415,  2. 

*  Chronicon  ed.  Tornberg  I  111. 

*  Die  persische  Version  Tabari's,  übersetzt  von  Zotenberg,  I  374, 
hat  ausdräcklich  „Elie  fils  de  Melka  (sie)".  Damiri,  hajat  al-hajawän 
(sub  voce  hüt  Müsa)  hat  in  einer  anderen  Genealogie  llija.  In  der  Alexan- 
derversion Codex  British  Museum  Add.  7366  fol.  39  a  antwortet  Chadhir 
auf  die  Frage:  Was  ist  dein  Name?  ausdrücklich:  Elia.  Einige  Hand- 
schriften von  al-Kisä'i's  Qisas  al-anbijä  im  British  Museum  haben  aus- 
drücklich ,, Iljäs  b.  Malkän".  Ibn  Hagar  (starb  852/1448),  zu  dessen 
Zeit  die  Aussprache  Baljä  längst  feststand,  bemerkt  in  seinem  Kommentarj 
zu  Buchärl's  Sahih  (Kairo  1883 f.  VI  309)  ausdrücklich,  daß  er  in  eine 
Abschrift  von  Wahb  b.- Munabbih's  Mubtada'  die  Lesart  JLJä  (mit  zwei* 
Punkten  unter  dem  ersten  Buchstaben)  statt  BLJä  gefunden  habe. 

*  Vgl.  Sprenger  Leben  und  Lehre  dts  Muhammed  II  335. 

^  In  der  mit  Beginn  des  nächsten  Jahres  in  Amerika  erscheinenden 
Jewish  Quarterly  Revieiv. 

*  Rabbi  Nissim   ben  Jacob  in  seinem  Hibbür  yäfe   (ed.  Warschau 
1898)  S.  9 ff. 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  99 

sie  aus  einem  viel  altem  Midrasch  stammen.  Was  der  Koran 
von  Moses  und  dem  ohne  Namensnennung  erwähnten  Diener, 
..dem  wir  unsere  Barmherzigkeit  gegeben  und  unser  Wissen 
gewährt  haben"  (Vers  64),  berichtet,  wird  in  der  jüdischen 
Version  von  Elias  und  Rabbi  Josua  ben  Levi  erzählt.  Die 
TJrsprünglichkeit  der  jüdischen  Sage  gibt  sich  nicht  nur  durch 
den  ganzen  Ton  derselben  kund,  sondern  wird  auch  dadurch 
nahegelegt,  daß  dieselbe  sich  vorzüglich  in  den  Rahmen  der 
rabbinischen  Eliasvorstellung  einfügt  und  daß  Rabbi  Josua 
ben  Levi,  ein  palästinensischer  Amora  des  3.  Jahrhunderts, 
auch  sonst  als  intimer  Genosse  des  Propheten  figuriert.^  Wir 
begreifen  somit,  warum  die  muhammedanischen  Theologen,  die 
die  Identität  Chadhirs  mit  Elias  schon  in  dessen  Namen  aus- 
drücken, den  im  Koran  rätselhaft  auftauchenden  Diener,  der  in 
der  jüdischen  Sage  als  Elias  erscheint,  mit  solcher  Einstimmig- 
keit auf  Chadhir  beziehen.  Die  im  Koran  unmittelbar  vorher 
gehende  Erzählung  (Sure  XVIII,  59  —  63),  die,  wie  wir  oben 
gesehen  haben,  aus  einem  völlig  abweichenden  Sagenkreise 
stammt,  hat  demnach,  wie  schon  FraenkeP  und  Dyroff^  dar- 
getan haben,  mit  dieser  Legende  nichts  zu  schaflFen.*  Nach 
dem  Obigen  jedoch  wird  man  aber  auch  den  Grund  einsehen, 
warum  diese  heterogenen  Erzählungen  zusammengeschweißt  und 
beide  auf  Chadhir  bezogen  wurden. 

Vollständig  unbeachtet  sind  bisher  die  christlichen  Be- 
ziehungen der  Chadhirlegende  geblieben.     Und  doch  kann,  man 

'  Gegen  Israel  Levi  Bevue  des  Etudes  Juives  VIII,  71,  der  Ent- 
ehnung  aus  dem  Koran  annimmt.  Nissim  sagt  in  der  Vorrede  zu 
seinem  Buche  ausdrücklich,  daß  er  dasselbe  deswegen  geschrieben  habe, 
damit  man  nicht  außerjüdische  Werke  zu  lesen  brauche.  Ich  werde  die 
ferneren  Gründe  für  meine  Ansicht,  die  von  den  meisten  jüdischen  Ge- 
lehrten geteilt  wird,  anderwärts  ausführlicher  darlegen. 

*  Zeitschrift  der  deutsch -morgenländischen  Gesellschaft  XLY,  326. 
'  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII,  324. 

*  Dadurch  allein  ist  die  Unmöglichkeit  der  Gleichsetzung  Chadhirs 
mit  dem  babylonischen  Chasisatra  (Lidzbarski  ihid.  YII,  109)  hinlänglich 
erwiesen. 


100  Israel  Friedlaender 

nicht  nachdrücklich  genug  auf  den  Zusammenhang  der  Chadhir- 
sage  wie  der  muhammedanischen  Haggada  überhaupt  mit  der 
christlichen  Überlieferung  hinweisen.  Vor  allem  muß  man 
dabei  an  das  orientalische,  insbesondere  südarabische  und  abessi- 
nische  Christentum^  und  das  in  diesen  Kreisen  so  maßgebende 
apokryphe  und  pseudepigraphe  Schrifttum  denken.  Ein  merk- 
würdiges und  ungemein  frappantes  Beispiel  dieser  Beziehungen 
ist  die  Identifikation   Chadhirs   mit  Malkisedek. 

Die  Gestalt  Malkisedeks,  der  urplötzlich  auftaucht,  um 
dem  siegreich  heimkehrenden  Abraham  seinen  Segen  zu  erteilen, 
und  dann  ebenso  plötzlich  vom  Schauplatz  verschwindet,  hat 
sehr  früh  die  religiöse  Spekulation  von  Juden  und  Christen  in 
Bewegung  gesetzt.  Das  gänzliche  Fehlen  genealogischer  An- 
gaben wurde  als  Zeichen  seines  übermenschlichen  Ursprungs 
und  Wesens  angesehen.  Philo  identifiziert  ihn  mit  dem  Logos^, 
während  er  den  vorchristlichen  Häretikern  als  ewige  Ver- 
körperung des  priesterlichen  Ideals  gilt^,  und  so  erscheint  er 
auch  im  Hebräerbrief  VH,  3  als  aTtdrcoQ  dfnjrcoQ  dysvsaXöytjtos, 
(itIts  ccqi'^v  rj^sQäv  ^ijts  ^(ofjs  teXog  b%(ov.  Man  weiß  aus 
der  Polemik  der  Kirchenväter,  welch  weite  Verbreitung  und 
Bedeutung  dieser  Malkisedekkultus  in  heterodoxen  christlichen 
Kreisen  gewann.  Das  ewige  Leben  Malkisedeks  war  ein 
stehender  Glaubensartikel,  und  noch  im  11.  Jahrhundert  macht 
der  berühmte  spanisch  -  arabische  Theologe  Ibn  Hazm*  die  Juden 


^  Vgl.  Goldziher  in  Revue  de  Vhistoire  des  religions  XLIII  (1901)  S.  24. 

*  Vgl.  M.  Friedländer  Der  Antichrist  in  den  vorchristlichen  jüdischen 
Quellen,  Göttingen  1901,  S.  88. 

'  Eine  reichhaltige  Zusammenstellung  der  Daten  über  Malkisedek  findet 
man  bei  Epiphanius  Haeresis  LV.  Siehe  Job.  Henrici  Heideggeri  Räshe 
Ahöth,  sive  de  historia  sacra  patriarcharum  II  (Amsterdam  1671)  p.  SSflF. 
und  Francisi  Fabricii  Tractatus  philologico-theologicus  de  sacerdotio  Christi 
juxta  ordinem  Melchizedeci,  Leiden  1720  p.  40ff.  Derselbe,  Codex  pseudo- 
epigraphieus  Vcteris  Testamenti,  Hamburg  und  Leipzig  1713,  l311tF. 
Il72if. 

*  Vgl.  mein  Buch  The  Heterodoxies  of  the  Shiites  according  to  Ibn 
Hazm  (Abdruck  aus  Journal  of  American  Oriental  Society  Bd.  28  und  29) 
I  46;  II  46. 


Zar  Geschichte  der  Chadhirlegende  101 

seiner  Zeit,  die  er  höchstwahrscteinlich  mit  den  Christen  ver- 
wechselt, für  dieses  Dogma  verantwortlich. 

Während  die  einen  die  Abwesenheit  genealogischer  An- 
gaben zum  Untergmnd  ihrer  religiösen  Vorstellungen  machten, 
bemühten  sich  die  anderen,  sei  es,  daß  sie  der  übertriebenen 
Verehrung  Malkisedeks  entgegentreten  wollten,  sei  es,  daß  sie  eine 
so  illustre  Persönlichkeit  nicht  bei  ihrer  obskuren  Abstammung 
belassen  konnten,  ihn  mit  anderen  biblischen  Persönlichkeiten 
in  Verbindung  zu  bringen.  Dieser  Tendenz  entspringt  die  weit- 
verbreitete, auch  den  Kirchenvätern  wohlbekannte  rabbinische 
Tradition,  nach  welcher  Malkisedek  mit  Sem  identisch  war.^ 
Diese  Tradition  wurde  von  den  orientalischen  Christen  mit  der 
Modifikation  akzeptiert,  daß  Malkisedek  ein  Nachkomme 
Sems  war.  Verschiedene  genealogische  Ketten  wurden  zu  diesem 
Zwecke  hergestellt.  Nach  der  einen  war  er  direkt  ein  Sohn 
Sems.-  Nach  einer  anderen  war  er  ein  Sohn  Arfachschad's,  also  ein 
Enkel  Sems.^  Nach  einer  anderen  weitverbreiteten  christlichen 
Überlieferung,  die  gegen  den  Massoratext  und  in  Überein- 
stimmung mit  der  Septuaginta  nach  Arfachschad  Keinan  einfügt*, 


*  Vgl.  B.  Beer  Leben  AbraJiams  (Leipzig  1859),  S.  142 f.,   der  das 

gesamte  rabbinische  Material  und  teilweise  auch  die  Daten  der  Kirchen- 
väter zusammenstellt.  Siehe  auch  L.  Ginzberg  Die  Haggada  bei  den  Kirchen- 
vätern (Berlin  1900),  S.  103 ff.  Nach  Epiphanius  stammte  diese  Identifi- 
kation von  den  Samaritanem,  wahrend  die  Juden  Malkisedek  für  den 
Sohn  einer  Hure  erklärt  haben  sollen.  Beer  ib.  S.  144  und  Ginzberg  ib. 
S.  105  glauben,  daß  Epiphanius  einfach  eine  Verwechslung  beging.  Es 
iflt  jedoch  viel  wahrscheinlicher,  daß  die  Samaritaner,  die  anscheinend 
die  Urheber  der  von  Epiphanius  (und  anderen)  zitierten  Ansicht  waren, 
nach  welcher  Salem  im  Gebiete  Sichems  lag.  —  während  die  rabbinische 
Tradition  es  gewöhnlich  mit  Jerusalem  identifizierte  — ,  Wert  darauf 
legten,  Malkisedek,  „den  König  von  Salem",  mit  dem  frommen  Sem  zu 
identifizieren.  Die  andere  von  Epiphanius  zitierte  Ansicht  der  Juden 
ist  wohl  eine  in  polemischer  Stimmung  getane  Äußerung. 

*  Im  äthiopischen  Buch  von  Adam  und  Eva,  englisch  übersetzt  von 
Malan,  London  1882,  S.  149. 160.  Abulfarag  (Barhebraeus)  Ta'rlh  muhtasar 
'd-dmcal  ed.  Salhäni  S.  16.     Vgl.  unten  S.  104  Anm.  2. 

'  Book  of  Adam  and  Eve  S.  160. 

*  Genesis  XI,  12,  13  (vgl.  die  Fußnote  in  Kittels  Ausgabe). 


102  Israel  Friedlaender 

war  Malkisedek  der  jüngste  Sohn  des  letzteren^,  somit  Sems 
Urenkel.  Nacli  der  dem  heiligen  Ephraem  zugeschriebenen 
„  Schatzhöhle  "^  war  Malkisedek  ein  Sohn  des  Mälak  oder 
Mälach^,  der  ein  Bruder  des  Schälach*  und  Sohn  des  Arfach- 
schad  war^,  also  ebenfalls  Sems  Urenkel.  Diese  Tradition 
stimmt  mit  der  Angabe  des  (Pseudo)-Athanasius^  überein,  nach 
welcher  der  Vater  Malkisedeks  (sowie  auch  ein  Bruder  des 
letzteren)  Melchi'^  hieß.  Viel  verbreiteter  ist  jedoch  eine  andere 
Genealogie,  die  Malkisedek  in  der  Reihe  der  Geschlechter  noch 
tiefer  herabdrückt  und  ihn  zum  Sohne  des  Beleg  macht.^  Die 
genealogische  Kette  stellt  sich  somit,  den  arabischen  Namens- 
formen gemäß,  folgendermaßen  dar:  Malkisedek^,  Fälig^*^,  ^Abir, 
Schälih,  Arfahschad,  Säm.  Diese  Genealogie  war  noch  im 
11.  Jahrhundert  dem  in  Spanien  lebenden  Ihn  Hazm  bekannt.^^ 


^  Book  of  Adam  and  Eve  S.  149.  160. 

*  Ed.  Bezold  S.  112.  116.  117.  120.  Eine  anderweitig  von  Ephraem 
überlieferte  Tradition  setzt  die  Identität  Malkisedeks  mit  Sem  selber 
voraus,  vgl.  Grinzberg  Die  Haggada  hei  den  Kirchenvätern  S.  118. 

'  Im  syrischen  wie  im  arabischen  Text  der  „Schatzhöhle"  sowohl 
mit  käf  wie  mit  heth  (arabisch  mit  scharfem  hä)  geschrieben.  Eine 
Variante  (Text  S.  116  Anm.  e,  vgl.  Übersetzung  S.  76  Anm.  193)  hat 
Lämek  statt  Mälek.     Siehe  unten  S.  104. 

*  Anscheinend  wegen  des  ähnlichen  Klanges  in  Verbindung  gebracht. 

*  Seine  Mutter  heißt  in  der  „Schatzhöhle"  Jozedek.  In  den 
anderen  Quellen  erscheint  sie  als  Salaa,  Salaad,  Salathiel. 

8  Migne  Patrologia  Graeea  Bd.  XXVIII,  S.  626. 

'  Als  Variante  ib.  Anm.  15  wird  MbXxi\X  und  M6X%ir{k  (wohl  --- 
hebräisch  Malkiel)  angegeben. 

^  Eutychius  Annales  (arabisch)  Leiden  1654  —  56,  S.  42;  Heidegger 
II  42,  Fabricius  de  Sacerdotio  Christi,  S.  53. 

°  Als  arabische  Formen  erscheinen  Malkisidek  (Ibn  Hazm,  oben 
S.  100  Anm.  4) ,  Malkizediq  (Schatzhöhle) ,  Malschisädäk  (Eutychius,  vor- 
hergehende Anmerkung)  und  Malkizadäq  (Schahrastäni,  ed.  Cureton  I  173). 
Vgl.  über  diese  Transskription  von  x  i™  Arabischen  ZDMG  58,  778. 

'"  Auch  Fäliq  (Eutychius,   vgl.  Anm.  8),    ebenso    im   Äthiopischen: 
(vgl.  Schatzhöhle,  Übersetzung,  S.  76,  Anm.  103).    Diese  Form  geht  ohne 
Zweifel  auf  die  griechische  Variante  (paXsn  (statt  cpaXsy)  zurück. 

"  Heterodoxies  of  the  Shiites  II  46.   Die  daselbst  Anm.  5  verzeichnet 
Variante  Mälih  statt  Schälih  mag  vielleicht  auf  die  Schatzhöhle  zurück^ 
gehen. 


Zxir  Geschieht«  der  Chadhixlegende  103 

Unter  den  zalilreichen  Genealogien,  die  die  Abstammung 
Chadhirs  zu  illustrieren  yersuchen,  ist  die  am  häufigsten  und,  je 
unverstandener,  desto  zäher  überlieferte  diejenige,  die  Chadhir 
für  Baljä,  den  Sohn  des  Malkän,  Fälig,  'Abir,  Schälih,  Arfah- 
schad,  Säm  erklärt.^  Es  springt  in  die  Augen,  daß  die  beiden 
Genealogien  identisch  sind  und  daß  Malkän  und  Malkisedek 
eine  und  dieselbe  Person  darstellen.  Wir  sahen  oben,  daß 
Blja  ein  alter  Schreibfehler  für  Ilija  (Elias)  ist.  Die  Identifi- 
kation Chadhirs  mit  Elias  einerseits  und  mit  Malkisedek 
andererseits  wird  dadurch  ausgeglichen,  daß  Elias  als  Sohn  des 
Malkisedek  aufgefaßt  wird.-  Was  die  Form  Malkän^  betrifft, 
die  sich  auch  in  der  Form  Malkä*  und  Mälik  oder  Mälak^ 
findet,  so  ist  dieselbe  entweder  ein  Reflex  der  bei  Athanasius 
und  in  der  Schatzhöhle  überlieferten  Form  Melchi  resp.  Mälak 
(oder  Mälach),  die  als  Xame  seines  Vaters  erscheint,  oder  aber 
eine  Abkürzung  von  Malkisedek,  dessen  zweiter  Bestandteil 
anscheinend  für  den  Xamen  seiner  Mutter  verwendet  wurde.® 
Höchst    merkwürdig   und   für  den  Einfluß   dieser   christlichen 


*  Ibn  Quteiba  Kitäh  al-mdärif  21,  Mas'üdi  Murüg  ad-dahab  ed. 
Barbier  de  Meynard  I,  92  (nach  III,  144  dagegen  war  Malkän  ein 
Bruder  des  Fälig  und  Sohn  des  'Abir,  ebenso  in  der  persischen  Version 
des  Tabari,  übersetzt  Ton  Zotenberg  I  374),  Tabari  I  415,  Beidätci  I  568, 
Nawawi  Tahdlb  228  und  viele  andere.  Vgl.  auch  Völlers  a  a.  0.  S.  254. 258. 
Damiri  Hajät  al-hajatcän  ^Bub  voce  hüt  Müsa)  führt  diese  Genealogie 
auf  Wahb  b.  Munabbih  zurück. 

*  Es  ist  jedoch  bezeichnend,  daß  eine  aus  dem  Jahre  617/1220 
stammende  Handschrift  von  Kisä'i's  Qisas  al-anbijä  {British  3Iusenm 
Or.  3054  fol.  154b)  im  Xamen  Ka'b's  überliefert:  „Was  diesen  al- Cha- 
dhir betrifft,  so  ist  sein  Xame  Malkän  b.  Fälig  etc."  Eine  spätere 
Hand  setzt  vor  Malkän  „Ibn"  ein.  Eine  andere  Kisäihandschrift 
(Add.  23,  299  fol.  132  a)  hat  bloß  Ibn  Malkän,  während  wiederum  andere 
Exemplare  (s.  oben  S.  98  Anm.  3)  Iljäs  b.  Malkän  haben. 

'  Ibn  Hagar  Isäba  l  883  überliefert  daneben  die  Form  Kaiman. 
Auch  andere  wahrscheinlich  verstümmelte  Formen  werden  gelegentlich 
in  der  theologischen  Literatur  angeführt. 

*  Persische  Version  des  Tabari,  übersetzt  von  Zotenberg  I  374  (oben 
S.  98  Anm.  3). 

"  Tag  aJ-Arüs  HI  187  zweimal. 

*  Siehe  oben  S.  102  Anm.  5. 


104  Israel  Friedlaender 

Haggada  äußerst  bezeiclinend  ist  die  Tatsache,  daß  Mas'^üdi',  der 
von  Lemech  (LMK),  dem  Sohne  Sems^,  dasselbe  berichtet,  was 
in  allen  anderen  Quellen  von  Malkisedek  (oder  Malkän)  erzählt 
wird,  dieselbe  Verwechslung  begeht,  die  wir  oben  in  einer 
Variante  der  syrischen  Schatzhöhle  gefunden  haben.^ 

Durch  die  Identifikation  Chadhirs  mit  Malkisedek  werden 
uns  sofort  eine  Reihe  von  Chadhirlegenden-  klar,  die  sonst  be- 
ziehungslos und  rätselhaft  erscheinen.  Vor  allem  begreifen  wir 
es,  daß  die  berühmte,  im  ganzen  christlichen  Orient  verbreitete 
Sage  von  der  Schatzhöhle,  in  der  Adams  Leiche  von  Malkisedek, 
der  hierfür  ewiges  Leben  erhielt,  bestattet-  wurde^,  von  den 
Muhammedanern  auf  Chadhir  übertragen  wird^.  Ein  Wider- 
hall dieser  Legende  ist  der  Bericht  des  arabischen  Reisenden 
Ibn  Batuta  (starb  1377),  nach  welchem  im  Gebirge  Serendib 
auf  der  Insel  Ceylon,  wohin,  nach  einer  weitverbreiteten  Über- 


'  Mmüg  ad-ddhab  I  80. 

*  Vgl.  oben  S.  101  Anm.  2. 

'  Oben  S.  102  Anm.  3.  Daß  diese  Variante  nicht  zufällig  ist,  kann 
man  daraus  ersehen,  daß  eine  Handschrift  von  Ibn  Hischäms  Kitäb  at- 
tigän  (Lidzbarski  de  propheticis,  quae  dicuntur,  legendis  arabicis,  S.  8 
Anm.  1)  ebenfalls  Mälak  für  Lämak  liest. 

*  Die  oben  mehrfach  zitierte,  von  Bezold  herausgegebene  Schatz- 
hohle  handelt  von  dieser  Sage  (daraus  im  Bienenbuch  des  syrischen 
Bischofs  Schelomon  [13.  Jahrhundert],  ed.  Budge,  Oxford  1886,  Kap.  21); 
Book  of  Adam  und  Eve  übersetzt  von  Malan,  S.  149 ff.;  bei  den  arabisch 
schreibenden  christlichen  Autoren,  wie  Eutychius  Annales  S.  49  und 
Barhebraeus  Ta'rlch  S.  16  und  anderen.  Ebenso  bei  Ibn  Quteiba  Kitäb 
al-mdärlf,  S.  10,  bei  Mas'üdi  (oben  Anm.  1),  der  diese  Legende  von 
Lemech  erzählt,  und  ganz  kurz  bei  Ta'labi,  'Arä'is  (im  Abschnitt  über 
den  Tod  Adams).  Die  Belege  lassen  sich  bedeutend  vermehren.  Bei  den 
christlichen  Autoren  tritt  die  Tendenz  klar  hervor,  indem  die  Begräbnis- 
stätte Adams  mit  Golgotba  identifiziert  wird. 

*  Abu  Hätim  as-Sigistänl  (ed.  Goldziher,  Abhandlungen  zur 
arabischen  Philologie  II  Text  S.  1)  im  Namen  des  Ibn  Ishäq  (starb  150i>). 
Ibn  Hagar  isäba  I  887 f.  zitiert  die  Sage  aus  Ibn  Ishäq's  Kitfib  al-Mubtada. 
Die  Sage  dürfte  an  die  Muhammedaner  auf  dem  Wege  über  Südarabien 
(s.  oben  S.  100  Anm.  1)  gelangt  sein.  Völlers  in  dieser  Zeitschrift  XII, 
S.  251  zitiert  gelegentlich  die  Legende  aus  Ibn  Hagar,  kennt  aber  deren 
Bedeutung  und  Beziehung  nicht. 


Zur  Ueschichte  der  Chadhirlegende  105 

Lieferung^,  Adam  nach  dem  Sündenfall  vertrieben  wurde,  die 
„Höhle  al-Chadhirs"  sich  in  der  Xähe  der  „Höhle  Sems"  be- 
findet.* 

Vielleicht  hängt  es  mit  dieser  Legende,  in  der  Malkisedek 
als  fünfzehnjähriger  Jüngling  erscheint,  zusammen,  wenn  Chadhir 
mehrfach  als  Jüngling  (arabisch  fata°)  beschrieben  wird.^ 

Nach  einer  Überlieferung,  die  durchaus  altertümlich  aus- 
sieht und  die  Fabricius*  im  Namen  des  Abulfarag  Barhebraeus^ 
zitiert,  war  Malkisedek  ein  Nachkomme  Sems,  der  in  Chaldaea 
geboren  war,  aber  infolge  des  Götzendienstes  der  Einwohner 
nach  Palästina  auswanderte.  Diese  Überlieferung  liegt  der 
sonst  unverständlichen  Angabe  zugrunde,  daß  Chadhir  „der 
Nachkomme  eines  Mannes  war,  der  an  Ibrahim,  den  Freund 
des  Allbarmherzigen,  glaubte  und  mit  ihm  aus  dem  Lande  Babel 
auswanderte."^ 

Die  Verbindung  mit  Abraham  hatte  ferner  die  Nachwirkung, 
daß    Dü'1-Qarnein,   der   ursprünglich    ohne    Zweifel    Alexander 


'  Vgl.  Grünbaum  Neue  Beiträge  zur  semitischefi  Sagenkunde   S.  65. 

'  Ibn  Batuta   Voyages  ed.  Defremery  und  Sanguinetti  IV  179.  181. 

'  So  z.  B.  in  der  arabischen  Alexanderversion  Codex  British  Museum 
Add.  7366.  In  einer  von  Weil,  Biblische  Legenden  der  Muselmänner 
(Frankfurt  a.  M.  1845)  S.  177  zitierten  Sage  wird  Chadhir  als  ein  Mann  ge- 
schildert, ,,der  blühend  und  kräftig  wie  ein  siebzehnjähriger  Jüngling 
aussah^'.  Anderswo  erscheint  Chadhir,  wohl  unter  dem  Einfluß  der  Elias- 
vorstellung, als  Greis.  Vgl.  Ibn  Hagar  I  891  Z.  12:  „Manche  betrachten 
ihn  als  Greis,  andere  als  reifen  Mann,  wieder  andere  als  Jüngling." 

*  De  sacerdotio  Christi  (vgl.  oben  S.  100  Anm.  3)  S.  53. 

°  Fabricius  zitiert  Dynast.  I  p.  15.  Anscheinend  meint  er  die 
Pococke'sche  Ausgabe  der  Historia  Dynastiarum,  Oxford  1663.  Doch 
wird  dort  zwar  von  Malkisedek  gesproch^,  allein  die  obige  Angabe 
findet  sich  weder  dort  noch,  soweit  ich  urteilen  kann,  irgendwo  anders 
in  dem  Buche. 

•  Tabarl  I  414  und  sonst  sehr  häufig  zitiert.  FreUich  ist  es  nicht 
ausgeschlossen,  daß  die  Genealogie  Chadhirs  in  irgend  welcher  Weise  auf 
Lot  zurückgeführt  wird.  So  heißt  es  von  Schu'eib  (Jethro)  Tabarl  1  366: 
„Er  war  der  Nachkomme  eines  Mannes,  der  an  Ibrahim  glaubte,  ihm  in 
seiner  Religion  folgte  und  mit  ihm  zusammen  nach  Scha'm  (Syrien  oder 
Palästina)  auswanderte".  [^Korrektuma^htrag .  Die  letztere  Vermutung 
ist  richtig.     Ibn    Quteiba,    Eitäb  al-ma*ärif  S.  21    erklärt   ähnlich  von 


106  Israel  Friedlaender 

den  Großen  bezeichnete^  und  der  durch  die  Vermittelung  des 
Pseudo  -  Kallisthenes  zu  Chadhir  in  Beziehung  gesetzt  worden 
war^,  in  zwei  Personen  zerlegt  wird,  und  der  „ältere  Dü'l- 
Qarnein"  mit  Abimelech  identifiziert  wird,  der  „mit  Abraham 
„in  Bi'r  as-Sab'  (Beerseba)  ein  Bündnis  schloß."^ 

Schließlich  darf  man  vielleicht  die  von  den  Kirchenvätern 
überlieferte  Vorstellung,  nach  welcher  Malkisedek  ein  Engel 
war^,  als  die  Quelle  der  Anschauung  betrachten,  die  Chadhir 
für  einen  Engel  erklärt.^ 

Und  so  wird  derjenige,  der  mit  der  christlich-orientalischen 
Sage  besser  vertraut  ist,  ohne  Zweifel  imstande  sein,  eine  Fülle 
neuer  Beziehungen  zwischen  Chadhir  und  Malkisedek  aufzu- 
zeigen.^ 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  auf  die  zahl- 
reichen   anderen    Genealogien    und    Überlieferungen,    die    neue 

Schu'eib,  Bileam  und  Hiob,  die  sämtlich  zu  Lot  in  Beziehung  gesetzt 
werden,  daß  „sie  die  Nachkommen  von  Leuten  waren,  die  an  Ibrahim 
glaubten  am  Tage,  da  er  ins  Feuer  geworfen  wurde,  und  mit  ihm  zu- 
sammen nach  Scha'm  auswanderten"  (im  Namen  Wahb's).  Von  Lot  selber 
erzählt  Ta'labi  (Kairo  1314ii)  S.  58,  ebenfalls  nach  Wahb,  ,,daß  er  zu- 
sammen mit  seinem  Onkel  Ibrahim  aus  dem  Lande  Babel  fortzog,  indem 
er  an  ihn  glaubte,  ihm  in  seiner  Religion  folgte  und  mit  ihm  zusammen 
nach  Scha'm  auswanderte".  Chadhir  wird  als  ein  Neffe  Abraham's 
bezeichnet  (d'Herbelot  Bibliotheca  Orientalis  s.  v.  Khedher,  aus  dem 
Ta'rih  al-muntahab),  ja,  mit  Lot  selber  identifiziert  (Tabari, 
persische  Version  übersetzt  von  Zotenberg  I  373).] 

*  Vgl.  Nöldeke  Beiträge  zum  Alexanderroman  S,  32. 

«  Siehe  oben  S.  94fiF, 

'  Tabari  ibidem  und  sonst  häufig. 

'  Vgl.  Heidegger  de  historia  Sacra  patriarcharum  II  42,  Fabricius 
de  saeerdotio  Christi  p.  69. 

^  Dijärbekri  (st.  1684)  Ta'rih  al-fiamls  I  107  Z.  6:  „Die  seltsamste 
Ansicht  ist  die,  daß  er  zu  den  Engeln  gehört".  Vgl.  Ibn  Hagar  903,  wo 
Chadhir  als  einer  der  vier  Erzengel  erscheint.  Freilich  wird  auch  Elias 
gelegentlich  für  einen  Engel  erklärt. 

**  Es  wäre  interessant  die  Quelle  der  von  Suheili  (st.  681 '>)  über- 
lieferten Erzählung  (zitiert  von  Damiri,  ib.  und  Ibn  Hagar  I  891  f.)  auf- 
zudecken, nach  welcher  Chadhir's  Vater  ein  König  und  seine  Mutter  eine 
Perserin  namens  Alhä  (oder  Ilhä)  war.    Er  sei  in  einer  Höhle  (Ibn  Hagar: 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  107 

Identifikationen  nahelegen,  des  näheren  eingehen.  Auf  einiges 
werden  wir  im  Zusammenhang  mit  der  Eliaslegende  zurück- 
kommen müssen.  Hier  wollen  wir  lediglich  die  Resultate  ganz 
kurz  andeuten. 

Die  Chadhirlegende  hängt  ohne  Zweifel  mit  dem  m  e  s  s  i  a  - 
nischen  Yorstellungskreis  zusammen.  Daher  heißt  Chadhir 
Chadhrün^,  d.  h.  Hezron,  der  Sohn  des  Perez  (Ruth  4,  18),  der 
ein  Sohn  Judas  war  (Genesis  38,  29)*,  von  dem,  einer  uralten 
Vorstellung  gemäß,  der  Messias  abstammt.^  Andererseits  wird 
Chadhir  mit  dem  in  der  rabbinischen  Tradition  so  wichtigen 
zweiten    Messias,    dem    „Messias,    Sohn    Josefs"    identifiziert.* 


in  einer  Wüste)  geboren  und  von  einem  Schafe  aufgezogen  worden.  Sein 
Vater  machte  ihn  später,  ohne  ihn  zu  kennen,  zu  seinem  Sekretär, 
um  für  ihn  die  dem  Abraham  offenbarten  Schriften  abzuschreiben. 
Chadhir  wäre  später  entflohen  und  durch  einen  Trunk  aus  dem  Lebens- 
quell unsterblich  geworden.  Hier  scheinen  allerlei  Reminiszenzen  vor- 
zuliegen. 

^  Abu  Hätim  as-Sigistäni  (s.  oben  S.  104  Anm.  5)  Text  S.  1,  zitiert 
von  Ibn  Hagar  I  883,  Z.  11,  888  Z.  4,  und  auch  sonst  oft  erwähnt.  Der 
Name  wurde  natürlich  durch  die  Lautähnlichkeit  nahegelegt. 

*  Die  Genealogie  in  Ruth  wird  im  Anschluß  an  die  Sage  von  Mal- 
kisedek  und  der  Schatzhöhle  in  Schatzhöhle  ed.  Bezold  S.  40  und  Malan 
Book  of  Adam  and  Eve  S.  185  angeführt.  „Jetzt  siehe,  das  Priestertum 
und  das  Königtum  wurden  den  Kindern  Israels  von  Juda  abgeleitet" 
(Schatzhöhle  S.  41).  In  Ibn  Hischäms  Kitäb  at-tigän  (ed.  Lidzbarski, 
Zeitschrift  für  Assyriologie  VIII  284)  nennt  sich  Chadhir  den  Sohn  des 
Chadhrün,  des  Sohnes  'ümüms  (wohl  'Amrama,  wie  Lidzbarski  korrigiert), 
des  Sohnes  Jahüdas. 

*  Als  das  Symbol  Judas  gut  allgemein  (nach  Genesis  49,  9)  der 
Löwe.  Daher  wird  z.B.  der  Messias  bei  den  Falaschas,  einer  jüdischen 
Sekte  in  Abessinien,  die  stark  unter  dem  Einfluß  der  pseudepigraphen 
Literatur  steht,  „Sohn  des  Löwen"  genannt  (Halevy  Te'ezäza  sanbat, 
Paris  1902,  S.  XXI  Anm.  2).  Hat  die  Kunja  Chadhirs,  die  allgemein  als 
Abü'l-'Abbäs  angegeben  wird  (vgl.  Völlers  a.  a.  0.  254  Anm  3),  irgend 
etwas  damit  zu  tun?  'Abbäs  im  Arabischen  ist  ^Tame  des  Löwen.  Abu 
mag  ursprünglich  Ibn  sein:  die  beiden  Worte  sehen  sich  in  der  arabischen 
Schrift  äußerst  ähnlich. 

*  Über  diesen  Messias  vgl.  Schürer  Geschichte  des  jüdischen  Volkes 
n*  625  Anm.  38.  Über  diese  Vorstellung  bei  den  Juden  in  Arabien  s. 
Beer  Ztschr.  der  deutschen  morgenländ.  Gesellschaft  IX,  785  ff. 


108  Israel  Friedlaender 

Daher  wird  Chadhir,  wie  dieser^,  der  Sohn  des  'AmiP  oder 
'Amä'iP  genannt  und  wird,  gleich  diesem,  vom  Antichrist  ge- 
tötet und  dann  wieder  ins  Leben  gerufen.^ 

Chadhir  wird  als  Sohn  des  Qäbil  (Kain)  bezeichnet^,  weil 
er  mit  He  noch,  dem  Sohne  Kains  (Genesis  4,  17)  identifiziert 
wird^,  der  lebendig  ins  Paradies  gelangte  und  in  der  jüdischen 
und  in  noch  viel  höherem  Maße  in  der  christlichen  Haggada 
eine  hervorragende  Rolle  spielt. 

*  Der  in  der  jüdischen  Literatur  allgemein  Menahem  („der  Tröster") 
ben  'Ammi'el  genannt  wird. 

*  Ibn  Hagar  I  883  Z.  4  v.  u.  im  Namen  Mukätils  (starb  150 h), 
S.  886  Z.  1  (in  einer  Tradition  Ka'b's),  und  bei  vielen  anderen  Schrift- 
stellern. 

'  Ibn  Hagar  1  883  Z.  5  v,  u.  im  Namen  Ibn  Quteibas.  Masü'di 
Murüg  I  92  vereinigt  die  beiden  messianischen  Vorstellungen,  indem  er 
Chadhir  als  Chadhrün,  Sohn  des  'Amäll  bezeichnet.  Die  Genealogie 
geht  sowohl  bei  Mas'üdi  als  auch  bei  Ibn  Quteiba  auf  Esau  zurück. 
An-nfr  (Mas'üdi)  und  an-nür  (Ibn  Hagar)  ist  natürlich,  mit  Umstellung 
der  diakritischen  Punkte,  Eliphaz  zu  lesen.  Diese  Ableitung  spiegelt 
sehr  alte  Vorstellungen  wider.  S.  unten  S.  109  —  Suheili  (oben  S.  106 
Anmerk.  6)  identifiziert  Chadhir  mit  'Amil  selber. 

*  Ibn  Hagar  (892  Z.  3,  vgl.  887  Z.  6  v.  u.)  und  andere.  Auch  Elias  wird 
nach  einer  Tradition,  die  Acta  Sanctorum  (BoUandisten)  Band  V  (1868) 
22  D  zitiert  wird,  vom  Antichrist  getötet,  richtiger  gekreuzigt.  Nach  der 
jüdischen  Legende  wiederum  ist  es  Elias,  der  den  Messias,  Sohn  Josefs, 
ins  Leben  zurückruft.  Wahrscheinlich  gehört  die  Identifikation  Chadhira 
mit  Jeremia  (Tabari  I  415  und  sonst),  der  als  Vorläufer  des  Messias  galt 
(Matthäus  16,  14),  ebenfalls  hierher.  —  Angesichts  dieses  unleugbaren 
Zusammenhanges  zwischen  der  Chadhirsage  und  dem  Messiasglauben 
war  ich  seinerzeit  geneigt,  den  Namen  Chidhr  (der  von  den  arabischen 
Lexikographen  der  Form  Chadhir  gleichgesetzt  und  manchmal  sogar 
vorgezogen  wird),  „Grünes",  „Gewächs",  „Pflanze",  mit  dem  hebräischen 
Worte  Sem  ah  zu  identifizieren,  das  in  der  Bibel  {Jes.  4,  2;  Jer.  23,  5; 
33,  15;  Zech.  3,  8)  und  noch  mehr  in  der  nachbiblischen  Tradition  und 
Liturgie  als  Beiname  des  Messias  erscheint.  Indessen  liegt  die  Be- 
ziehung zu  Pseudo-Kallisthenes  (oben  S.  94)  näher. 

**  Ibn  Hagar  I  883  Z.  8  im  Namen  des  Abu  Hätim  as-Sigistäni 
(8,  oben  S.  104  Amn.  6),  S.  888  Z.  4  (hier  Käbil  mit  Käf  geschrieben). 

*  Dagegen  wird  Idris,  der  mit  Henoch  identifiziert  wird,  in  Über- 
einstimmung mit  Genesis  6,  18  als  Sobn  des  Jered  bezeichnet,  Weil, 
Biblische  Legenden  der  Muselmänner  S.  62.  —  Buchäri,  Sahih  ed.  Krehl 
I  ,S35  erwähnt  eine  Ansicht,  nach  der  Elias  und  Idris  identisch  sind. 


Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende  109 

Andererseits  wird  er  der  leibhafte  Sohn  Adams  genannt', 
weil  er  für  Seth,  den  Stammyater  der  frommen  Generationen, 
der  in  der  jüdischen  und  christlichen  Haggada  ebenfalls  eine 
bedeutende  Rolle  spielt,  gehalten  wird.  Die  Vorstellung,  die 
Seth  und  dessen  Kinder,  im  Gegensatz  zu  Kain  und  dessen 
Nachkommen,  zu  den  alleinigen  Empfängern  des  Adamschen 
Testamentes  macht,  ist  sehr  alt*  und  auch  den  Muhammedanem 
wohlbekannt.^ 

Aus  Gründen,  deren  Auseinandersetzung  uns  hier  zu  weit 
führen  würde,  wird  Chadhir  mit  den  Nachkommen  Esaus  in 
Verbindung  gesetzt.* 

In  dem  die  südarabische  Tradition  reflektierenden  Kitäb 
at-tigän  des  Ihn  Hischäm  (starb  834)*  wird  Chadhir  fort- 
während Müsa  al- Chadhir  (Moses -Chadhir  oder  Moses  des 
Chadhir?)  genannt.  Indessen  ist  diese  Identifikation  nicht  sicher, 
da  eine  Handschrift  dieses  Werkes^  „Müsa"  fast  überall  aus- 
läßt. Diese  Kombination  dürfte  mit  der  in  der  theologischen 
Literatur  häufig  erörterten  Frage"  zusammenhängen,  ob  „der 
Moses  des  Chadhir"  Moses  ben  Amram  oder  ein  anderer 
Moses  war. 


*  Ibn  3a gar  I  883  Z.  6  (und  andere  Schriftsteller)  im  Namen  des 
Däraqutni  (starb  995) :  „huwa  bnu  Adam  li-sulbihi'*.  Den  genauem  Isnäd 
ibidem.  Dijärbekri,  ta'rih  al-hamis  I  106  zitiert  dieselbe  Ansicht  (annahn 
min  waladi  Adam)  im  Namen  Kelbi's  (st.  763). 

'  Vgl,  Ginzberg  ihe  Legends  of  the  Jetcs  (Philadelphia  1909)  I  121. 
Seth  wird  in  der  Haggada  ebenfalls  als  Stammrater  des  Messias  be- 
trachtet. Über  die  christliche  Vorstellung  von  den  Nachkommen  Seths, 
die  im  Paradiese  wohnen,  vgl.  die  äthiopische  Alexanderversion  (Budge 
1896)  II  129  und  die  ausführliche  Darlegung  von  Wesselowsky  in  seinem 
Werke  über  den  sla vischen  Alexanderroman  (7z  istoriji  romana  i  poiciesti, 
Petersburg)  I  (1886)  p.  280  flF. 

'  Ta'labi  'Ara'is  im  Abschnitt  über  den  Tod  Adams. 

*  S.  oben  S.  108  Anm.  3.  Auch  Alexander  der  Große  wird,  von  einem 
andern  Gesichtspunkte  aus,  mehrfach  als  Nachkomme  Esaus  bezeichnet. 

*  Ed.  Lidzbarski,  Zeitschrift  für  Assyriologie  VIII,  263  ff. 

*  Codex  British  Museum  Or.  2901. 

'  Vgl.  Völlers  in  dieser  Zeitschrift  XIl  S.  241. 


110        Israel  Friedlaender     Zur  Geschichte  der  Chadhirlegende 

Längst  bekannt  ist  die  Identifikation  von  Chadhir  mit  dem 
heiligen  Georg.  Dieselbe  dürfte  von  den  Kreuzzügen  her 
stammen  und  auf  die  Kreuzfahrer  zurückzuführen  sein.  ^ 

Endlich  ist  auch,  wie  bereits  Lidzbarski^  vermutet  hat,  der 
„ewige  Jude"  Ahasver  mit  unserm  Propheten  identisch.  Der 
Grundzug  Chadhirs  in  der  populären  Vorstellung  der  Mu- 
hammedaner,  in  genauer  Übereinstimmung  mit  der  jüdischen 
Eliaslegende,  ist  Beweglichkeit  und  die  dadurch  ermöglichte 
Allgegenwart:  „der  augenblicklich  erscheint,  wenn  man  ihn 
ruft".^  „Weiter  gereist  als  Chadhir"  ist  eine  arabische  Redensart.^ 
Ein  Mann,  der  sich  fortwährend  auf  Wanderungen  befindet,  wird 
von  einem  Dichter  als  „chalifat  al-Chidhr",  „Nachfolger  des 
Chidhr"  bezeichnet.^  Das  tertium  comparationis  mit  dem  ewig 
wandernden  Juden  ist  ungemein  treffend.  Diese  Identifikation 
dürfte  ebenfalls  aus  der  Periode  der  Kreuzzüge  stammen,  in 
der  Orient  und  Okzident  zusammentrafen.  Die  Kreuzfahrer 
haben  den  Namen  des  Propheten  anscheinend  in  der  türkischen 
Form  Chisr  oder  Chisir  übernommen  und  dieselbe  dann  mit 
dem  ihnen  aus  der  Bibel  bekannten  Namen  Ahasver  kombiniert. 


^  Vgl.  über  diese  Gleichstellung  ausführlich  Clermont-Ganneau 
Horus  et  Saint  Georges  d' apres  un  bas-relief  inedit  du  Louvre,  Notes 
d'archeologie  oi'ientale  et  de  mythologie  semitique.  Extrait  de  la  Revue 
Archeologique,  Paris  1877,  p.  9 ff.  Clermont-Ganneau  nimmt  jedoch  für 
diese  Identifikation  ein  höheres  Alter  in  Anspruch.  —  Diese  Arbeit  des 
berühmten  Semitisten,  die  in  der  Literatur  über  den  uns  interessierenden 
Gegenstand  leider  gänzlich  unbeachtet  geblieben  ist,  und  die  mir  erst 
während  der  Drucklegung  dieses  Artikels  zu  Gesicht  kam,  handelt 
hauptsächlich  von  Chadhir.  Sie  bietet  eine  Reihe  geistreicher,  meistens 
griechischer  Identifikationen,  darunter  auch  die  mit  Glaukos.  Pseudo- 
Kallisthenes  wird  nicht  in  Betracht  gezogen. 

*  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII,  116.  Lidzbarski  ist  sich  jedoch 
über  den  Zusammenhang  nicht  klar.  Er  scheint  Ahasver  direkt  mit 
Chasisatra  zusammenbringen  zu  wollen. 

'  Ihn  Hazm  Heterodoxies  of  the  Shiites  I,  46. 

*  Vgl.  Völlers  in  dieser  Zeitschrift  XII  S.  237. 

'  Ibn  Faqih  ed.  de  Goeje  S.  61.  Mas'üdi  Kitab  at-tanbih  ed.  de 
Goeje  S.  7. 


n  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  ^Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  etwa 
vier  Jahrgängen  schließen.  Mit  Band  XII  (1909)  beginnt  die  neue 
Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen  der  Zeit 
seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß  des  betr. 
neuen  Berichts  referiert. 


1  Die  religionswissenschaftliclie  Literatur  über  China 

seit  1900 

Von  O.  Franke  in  Berlin 

Da  ein  literarischer  Bericht  über  Cliina  an  dieser  Stelle 
noch  nicht  veröffentlicht  worden  ist,  so  lag  es  nahe,  mit  dem 
Jahre  1900  zu  beginnen.  Vollständigkeit  wird  nicht  be- 
ansprucht. 

Von  dem  größten  und  gründlichsten  Werke  über  die 
Religionen  Chinas,  das  J.  J.  M.  de  Groot  in  Leiden  unter  dem 
Titel  „The  Religious  System  of  China"  i.  J.  1892  zu  ver- 
öffentlichen begonnen  hat,  sind  im  XX.  Jahrhimdert  bis  jetzt 
zwei  neue  Bände  erschienen:  der  vierte  1901  und  der  fünfte 
1907.  Sie  bilden  zusammen  das  zweite  „Buch"  des  ganzen 
Werkes,  das  sechs  „Bücher^'  umfassen  solL  Während  das  erste 
„Buch"  —  Bd.  1  bis  III  —  die  Toten -Gebräuche  (Disposal 
of  the  Dead)  behandelte,  ist  das  zweite  —  Bd.  IV  und  V  — 
der  Seele  und  dem  Ahnendienst  (The  Soul  and  Ancestral 
Worship)  gewidmet.  In  engem  Anschluß  an  die  einheimische 
Literatur  legt  es  die  Vorstellungen  dar,  die  sich  die  Chinesen 


112  O.Franke 

von  dem  Wesen  der .  Seele  gebildet  haben ,  sowie  die  ver- 
schiedenen Arten,  wie  dieses  Wesen  ihrer  Ansicht  nach  sich 
kundgibt  und  wie  es  das  Leben  des  einzelnen  sowohl,  als  auch 
das  der  Gesellschaft  beeinflußt.  Des  weiteren  werden  dann 
die  Gebräuche  und  Kultushandlungen  erörtert,  die  in  diesen 
Vorstellungen  und  Ansichten  ihren  Ursprung  haben.  So  erhält 
der  Inhalt  der  beiden  Bände  einen  vorwiegend  aniraistischen 
Charakter:  Geister-  und  Dämonen -Lehre,  Zauberei  und  Fetischis- 
mus bilden  die  Gegenstände  der  drei  Abteilungen,  aus  denen 
die  beiden  Bände  sich  zusammensetzen.  —  Eine  für  das  große 
Publikum  bestimmte  und  naturgemäß  sehr  knappe  Darstellung 
der  chinesischen  Religionen  mit  der  üblichen  Einteilung  in 
Konfuzianismus,  Taoismus  und  Buddhismus  hat  De  Groot 
inzwischen  in  der  „Kultur  der  Gegenwart",  Teil  I,  Ab- 
teilung III,  1  (Berlin  und  Leipzig  1906)  S.  162—192:  „Die 
Religionen  der  Chinesen"  gegeben.  Auch  eine  andere 
wissenschaftlich  gehaltene  Darstellung  des  gleichen  Gegenstandes 
hat  in  diesem  Jahrhundert  ihre  Fortsetzung  erhalten:  der  zweite 
Teil  von  Dvofäk's  Werk  „Chinas  Religionen"  ist  i.  J. 
1903  als  XV.  Band  der  „Darstellungen  aus  dem  Gebiete  der 
nichtchristlichen  Religionsgeschichte"  erschienen,  unter  dem 
Titel  „Lao-tsi  und  seine  Lehre",  nachdem  bereits  1895 
der  erste  Teil,  „Konfuzius  und  seine  Lehre"  als  XII.  Band 
der  gleichen  Sammlung  veröffentlicht  war.  Der  Verfasser  stellt 
sich  auf  die  Seite  derer,  die  Lao  tse's  Lehre  für  rein-chinesisch 
und  frei  von  allen  fremden  Einflüssen  ansehen.  Dagegen  hält 
er  das  Tao-te  king,  das  kanonische  Werk  des  Taoismus,  das 
dem  Lao  ts8  zugeschrieben  wird,  nicht  für  „einen  zusammen- 
hängenden Text";  wenn  er  damit  einen  nicht  vollständigen 
Text  meint,  so  wird  er  bei  den  Sinologen  auf  keinen  Wider- 
spruch stoßen.  Die  Methode,  die  Dvofäk  bei  seiner  Behand- 
lung des  Konfuzianismus  angewandt  hat,  d.  h.  unter  Vermeidung 
jeder  eigenen  Kritik  oder  Auslegung  das  System  des  Konfuzius 
„vom  chinesischen  Standpunkt"  aus  darzustellen  (dieser  Stand- 
punktist übrigens  durchaus  kein  einheitlicher,  wie  der  Verfasser  zu 


Die  religionawissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900     113 

glauben  scheint),  war  in  dem  zweiten  Teile  nach  Lage  der 
Sache  nicht  anfrecht  zu  erhalten:  bei  Lao  tse  ist  ohne  eigene 
Interpretation  nicht  auszukommen,  und  zwar  hat  bisher  noch 
jeder  der  zahllosen  Erklärer  eine  andere  als  seine  Vorgänger 
gehabt.  Daß  Dvorak  nicht  auch,  wie  er  gern  gewünscht  hätte, 
eine  vollständige  Übersetzung  des  Tao-te  king  beigefügt  hat, 
dürfte  bei  aller  Hochschätzung  seines  Scharfsinnes  nicht  zu 
beklagen  sein:  wir  haben  übergenug  der  Übersetzungen  des 
Tao-te  kingl  Wenn  übrigens  Dvorak  meint,  die  Gabelentz'sche 
Umschreibung  chinesischer  Worte  empfehle  sich  durch  Einfach- 
heit und  Klarheit,  so  wird  ihm  heute  schwerlich  noch  ein 
Sinologe  zustimmen  Mehr  in  das  Gebiet  der  Religions- 
geschichte als  der  Philosophie  scheint  —  trotz  seines  Titels  — 
Leon  Wieger's  Werk  „Textes  philosophiques"  (Ho-kien 
fu  1906),  der  jüngste  Teil  seiner  Sammlung  „Rudiments",  zu 
gehören,  von  dem  vor  kurzem  (1908)  der  zweite  Teil  erschienen 
ist.  Das  Werk  ist  in  Berlin  leider  nicht  zu  erlangen.  Eine 
Inhaltsangabe  des  ersten  Teils  gibt  Chavannes  in  der  T'oung 
Pao  Ser.  II  Bd.  VII  S.  533  f.  Danach  behandelt  der  Verfasser 
—  in  ausgewählten  chinesischen  Texten  —  die  religiösen  Vor- 
stellungen des  alten  China  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum 
Ende  der  Ch'un-ts'iu- Periode  (481  v.  Chr.\  Lao  tse  und  die 
bedeutendsten  taoistischen  Philosophen,  Konfuzius  und  seine 
Schüler,  heterodoxe  Denker  und  den  Vater  der  Orthodoxie, 
Chu  Hi  (1130—1200).  —  Dasselbe  große  Gebiet,  die  Religion 
Chinas,  ist  von  E.  H.  Parker  bearbeitet  worden  in  seinem 
Werke  „China  and  Religion"  (London  1905).  Von  den  zwölf 
Kapiteln  sind  aber  nur  vier  den  eigentlichen  chinesischen 
Religionen  gewidmet,  das  erste  davon  der  sogenannten  primi- 
tiven Religion  Chinas  (Parker  versteht  darunter  die  Lehre  vom 
Yin  und  Yang,  den  die  Welt  durchdringenden  dualistischen 
Kräften,  und  was  damit  zusammenhängt),  die  drei  anderen  den 
Systemen  des  Taoismus,  Konfuzianismus  und  Buddhismus.  Die 
übrigen  acht  Kapitel  behandeln  Feuerverehrung  (aus  Persien 
durch  die    Türkvölker  nach   China  übertragen),   manichäischen 

Archiv  f.  Beligionswissenschaft  XIII  g 


114  0.  Franke 

Kult,  Nestorianertum,  Islam,  Judentum,  Christentum  in  römisch- 
katholischer,  protestantischer  und  griechischer  Form,  sowie  die 
Shinto  -  Lehre.  Ungleich  Dvorak  hat  Parker  es  sich  nicht 
nehmen  lassen,  seinem  Werke  eine  Übersetzung  des  Tao-te 
king  anzufügen.  Die  Methode  des  Verfassers,  in  seinen  Schriften 
keine  Quellenangabe  zu  machen  und  fremde  Namen  nach 
Möglichkeit  zu  vermeiden,  drückt  auch  diesem  Buche  seinen 
besonderen  Charakter  auf  Parker  stellt  sich  damit  außerhalb 
der  Wissenschaft,  vrird  aber  deshalb  doch  nicht  „populär"  im 
guten  Sinne,  da  ihm  das  darstellende  Talent  hierfür  abgeht. 
Überdies  wird  jeder,  der  den  reichen  Inhalt  von  „China  and 
Religion"  als  Quellenmaterial  benutzen  will,  die  Angaben  darin 
sorgfältig  nachprüfen  müssen.  (Vergl.  die  ausführliche  Be- 
sprechung von  Pelliot  im  Bulletin  de  l'Ecole  fran^aise  d' Ex- 
treme-Orient  Bd.  VI,  S.  404ff.)  Ein  großes  Verdienst  kommt 
indessen  Parker's  Werk  unbestreitbar  zu:  es  hat  die  Duldsam- 
keit (vielleicht  auch  Gleichgültigkeit)  der  Chinesen  gegenüber 
allen  Religionen  aufs  neue  in  helles  Licht  gerückt  und  bildet 
so  unausgesprochenermaßen  eine  Entgegnung  auf  das  zwei- 
bändigeWerk  von  De  Groot,  Sectarianism  and  Religious 
Persecution  in  China  (Amsterdam  1903  und  1904),  in  dem 
der  holländische  Sinologe  in  geradezu  leidenschaftlicher  Weise 
den  chinesischen  Staat,  im  Gegensatz  zu  allen  bisherigen  An- 
nahmen, als  den  unduldsamsten  und  verfolgungsüchtigsten  der 
ganzen  Welt  brandmarkt.  Das  Werk  ist  eine  bedeutende  Er- 
weiterung der  beiden  Abhandlungen:  „Heerscht  er  in  China 
Godsdienstvrijheid?"  in  der  Zeitschrift  „Onze  Eeuw" 
(L  Jahrgang  1901,  S.  268—296  und  550—588)  und  „Is  there 
Religious  Liberty  in  China?"  in  den  „Mitteilungen  des 
Seminars  für  orientalische  Sprachen"  (Jahrgang  V,  1902, 
Ostasiat.  Studien  S.  103  — 151).  Bei  der  ausgesprochenen 
Tendenz  von  „Sectarianism  usw."  kann  es  aicht  wunder- 
nehmen, daß  das  Werk  starken  Widerspruch  in  sino- 
logischen Kreisen  hervorgerufen  hat;  selbst  christlichen  Mis- 
sionaren,   zu    deren  Verteidigung    es    geschrieben   ist,    geht  es 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    115 

vielfach  zu  weit.  De  Groot  übersieht  bei  seinen  Darlegungen 
und  Schlußfolgerungen  zwei  wichtige  Dinge:  einmal  die  unsitt- 
lichen und  daher  Staats-  und  gesellschafts  -  gefährlichen  Momente 
(von  politischen  Umtrieben  ganz  abgesehen),  die  sich  zeitweilig 
in  dem  buddhistischen  wie  in  dem  taoistischen  Klerus  in  China 
entwickelt  hatten;  und  dann  die  daraus  für  den  konfuzianischen 
Staat  hervorgehende  Notwendigkeit,  sich  dieser  Momente  zu 
erwehren.  Wenn  sich  der  Konfuzianismus,  der  nicht  bloß 
ein  religiöses,  sondern  vor  allem  ein  politisches  und  soziales 
System  und  in  China  gleichbedeutend  mit  der  staatlichen 
Ordnung  ist,  nicht  selbst  aufgeben  wollte,  so  mußte  er  seine 
Feinde  innerhalb  wie  außerhalb  der  Klöster  unschädlich  machen, 
selbst  wenn  man  ihn  deshalb  der  Unduldsamkeit  beschuldigte. 
Was  der  chinesische  Staat  hierbei  aber  etwa  an  Übertreibung 
gesündigt  hat,  reicht  schwerlich  an  das  heran,  was  Christentum 
und  Mohammedanismus  geleistet  haben.  Eigentlichen  religiösen 
Fanatismus,  d.  h.  blind  wütenden  Haß  gegen  eine  fremde 
Religion  als  abstrakte  Lehre  ohne  Rücksicht  auf  ihre  politischen 
oder  sozialen  Einflüsse  hat  man  in  China  nicht  gekannt.  Von 
diesem  Standpunkte  aus  ist  auch  De  Groot's  Aufsatz  „Wu 
Tsung's  Persecution  of  Buddhism"  in  Bd.VII  (1904)  dieses 
Archivs  S.  157 — 168  zu  beurteilen.  Die  vom  Kaiser  Wu 
Tsung  von  der  T'ang  -  Dynastie  (840—846)  i.  J.  844  über  den 
Buddhismus  verhängte  Verfolgung  ist  eine  der  schwersten,  die 
die  indische  Lehre  in  China  erduldet  hat.  Inwieweit  sie  aber 
etwa  von  den  Mönchen  selbst  verschuldet  war,  und  ob  sie 
Oberhaupt  in  dem  Maße  dem  Konfuzianismus  zur  Last  zu  legen 
ist,  wie  De  Groot  dies  tut,  würde  erst  noch  durch  eine 
zusammenhängende  geschichtliche  Untersuchung  festzustellen 
sein.  Der  Verfasser  selbst  weist  darauf  hin,  daß  sie  die 
Folge  eines  Sieges  über  die  üiguren  in  Turkistän  war  und 
mit  der  Ausrottung  des  Manichäismus  begann,  der  in  den 
uigurischen  Gebieten  herrschte.  Ausgedehnt  auf  den  Buddhis- 
mus wurde  sie  dann  infolge  taoistischer  Einflüsse  und  aus 
i  I  wirtschaftlichen  wie  ethischen  Rücksichten. 

I 


116  0.  Franke 

Nach  einer  ähnlichen  Methode  wie  das  Werk  von  Dvorak 
ist    die    ausgezeichnete    Abhandlung    von     W.    Grrube,     Die 
Religion  der  alten  Chinesen,  in   dem  „Religionsgeschicht- 
lichen Lesebuch"  von   A.  Bertholet    (Tübingen    1908)   verfaßt. 
Grube  kleidet  seine  Darstellung   in  einzelne   charakterisierende 
Sätze  und  belegt  diese  dann  mit  ausführlichen  Nachweisen  aus 
der    einheimischen     klassischen    Literatur,     vornehmlich     dem 
Shu-king,    Shi-king,  Li-ki,  Lun-yü  und  Meng  tse.     Der  Ver- 
fasser behandelt,    wie  der  Titel  andeutet,   nur  die  alte  Staats- 
oder Reichs -Religion,   d.  h.   die   amtliche  Form   des  religiösen 
Kultus,  die,   allerdings  zum   großen  Teil   nur  noch    als   hohle 
Form,  auch   heute   noch   in    China   besteht    und    Religion   und 
Staatsordnung  zugleich  ist.     Wenn  man  diesen  Kultus  für  ge- 
wöhnlich als  Konfuzianismus  bezeichnet,  so  ist  die  Benennung, 
genau  genommen,  falsch:  er  bestand  in  seinen  Grundgedanken 
schon  Jahrtausende  vor  Konfuzius   und   ist  von  ihm  lediglich 
—  nicht  etwa  kodifiziert,  denn  auch  das  war  er  schon  vorher  — 
sondern   in  ein   ausgeprägteres  System  gebracht   und  nach  ge- 
wissen Tendenzen  zugeschnitten  worden.     Das  eigentliche  kon- 
fuzianische System  —  das  übrigens  auch  erst  nach  Konfuzius 
ausgestaltet  worden  ist  — ,    sowie   die   andern  Religions-   oder 
Kultus -Systeme  finden  natürlich  in  der  Grubeschen  Schrift  teils 
nur  eine  kurze   (im  IV.  Teil  und  im  Anhang),   teils   gar  keine 
Berücksichtigung.      Die    Abhandlung    selbst    zerfallt    in    vier 
Teile:    die    Naturverehrung,    die  Ahnen  Verehrung,    der  Kultus 
und   die   konfuzianische  Moral.     Im    Anhang   werden   Auszüge  1 
aus  dem  Tao-te  king  in  systematischer  Anordnung  gegeben.  — 
Mehr    dem    Parkerschen    Werke    vergleichbar,    aber    sehr    viel 
kürzer   ist   Herbert  A.  Giles'   kleines  Buch  „Religions   ot 
Ancient    China"    (London    1905),    das    der    volkstümlichen 
Sammlung:   „Religions:  Ancient  and  Modern"  angehört.     Der 
Verfasser  teilt  seinen  Stoff  in  fünf  Teile:  der  alte  Glaube  (d.  b. 
der     vorkonfuzianische     Kultus),     Konfuzianismus,     Taoismu 
Materialismus  und  Buddhismus  nebst  anderen  fremden  Religionei 
(Mazdeismus,      Islam,     Nestorianertum,      Manichäismus      um 


Die  religionswißsenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    117 

Christentum).  Die  Einteilung  hat  etwas  Unlogisches,  denn  ein 
guter  Teil  Materialismus  ist  sowohl  im  konfuzianischen  System 
enthalten  wie  in  den  Lehren  der  zahlreichen  heterodoxen 
Philosophen,  die  von  den  Konfuzianem  als  Irrlehrer  verachtet 
werden.  Giles  beginnt  denn  auch  seinen  Materialismus  mit  dem 
Konfuzianer  Yang  Hiung  (um  Christi  Geburt)  und  dem  Häre- 
tiker Wang  Ch'ung  (1.  Jahrhundert  n.  Chr.),  um  ihn  mit  dem  Vater 
der  neueren  Orthodoxie,  Chu  Hi,  zu  beschließen.  —  Genannt 
werden  muß  hier  noch  ein  Werk,  das  zwar  denselben  StoflF 
behandelt,  wie  die  bisher  erwähnten  Schriften,  aber  durchaus 
von  ihnen  getrennt  zu  halten  ist:  Ferdinand  Heigl,  Die 
Religion  und  Kultur  Chinas  (Berlin  1900).  Es  gehört  zu 
der  „populären"  Literatur  über  China,  die  in  Deutschland 
während  und  infolge  der  „Boxer "-Unruhen  den  Büchermarkt 
überschwemmt  hat,  und  von  der  man  im  allgemeinen  nur 
wünschen  kann,  daß  sie  möglichst  bald  im  Dunkel  der  Ver- 
gessenheit verschwinden  möge.  Das  Buch  von  Heigl  ist  eine 
Kompilation,  die  aus  anderen  europäischen  Büchern  mit  viel 
Fleiß,  aber  wenig  Urteil  zusammengeschrieben  ist,  voll  von 
Oberflächlichkeiten,  Mißverständnissen  und  Unrichtigkeiten.  Es 
behandelt  mehr  Gegenstände,  als  sein  Titel  erwarten  läßt:  außer 
der  „Religion  und  Kultur"  werden  auch  die  Geschichte,  die 
Verfassung  und  Verwaltung,  Sprache  und  Literatur  (wohl  der 
wunderlichste  Abschnitt  von  allen),  Anekdoten  und  Sprich- 
wörter herangezogen.  Man  sieht,  an  Mut  fehlt  es  dem  Ver- 
fasser nicht,  und  er  mag  sich  darauf  berufen,  daß  viele  seiner 
Gewährsmänner,  von  denen  er  abgeschrieben,  auch  nicht  mehr 
von  dem  Gegenstande  wußten  als  er  selbst. 

Wie  Grube  und  Giles  für  China,  so  hat  Maurice  Courant 
einen  kurzen  Abriß  der  verschiedenen  Kultussysteme  für  Korea 
gegeben  in  seinem  im  Musee  Guimet  gehaltenen  und  in  der 
Zeitschrift  T'oung  Pao  (Leiden)  Ser.  U  Bd.  I,  S.  295—326  ab- 
gedruckten Vortrage  „Sommaire  et  histoire  des  cultes 
coreens".  Auch  er  teilt  seinen  StofP,  entsprechend  den  korea- 
nischen mit  den  chinesischen  eng  verwandten  Verhältnissen,  in 


118  0.  Franke 

vier  Teile:  Staatsreligion,  d.h.  Kultus  der  kaiserlichen  Ahnen  (an- 
geblich schon  einheimisch  vor  dem  Eindringen  des  chinesischen 
Einflusses)  und  der  Naturkräfte  (Himmel,  Erde,  Wind,  Wolken, 
Berge,  Flüsse  u.  a.),  privater  Ahnenkultus,  alte  religiöse  Ge- 
bräuche (dahin  gehört  z.  B.  der  nicht  amtliche  Kultus 
des  Himmels,  der  in  Korea  ursprünglich  nicht  dem  Fürsten 
allein  vorbehalten  war),  und  Buddhismus  (seit  dem  4.  Jahr- 
hundert in  Korea  eingeführt).  —  Von  sonstigen  Abhandlungen 
über  Kultformen  ehemaliger  chinesischer  Tributstaaten  seien 
noch  genannt:  Louis  Finot,  La  Religion  des  Chams 
im  Bulletin  de  l'Ecole  fran^aise  d'Extreme- Orient  (Hanoi) 
Bd.  I  (1901)  S.  12— .33.  Die  Chams  waren  ein  Volk  malai- 
ischen Ursprungs,  das,  wohl  vom  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  an, 
das  heutige  Königreich  Annam  bewohnte  und  dem  indischen 
Kulturkreise  angehörte.  Femer  Gilhodes,  Mythologie  et 
Religion  des  Katchins  im  „Anthropos,  Internationale  Zeit- 
schrift für  Völker-  und  Sprachenkunde"  (Wien)  Bd.  III  (1908) 
S.  672—699  und  Bd.  IV  (1909)  S.  113-138  (noch  unbeendet). 
Katchin  ist  ein  bei  den  Engländern  üblicher  Sammelname  für 
die  zahlreichen  im  Norden  und  Nordosten  von  Birma  wohnen- 
den Stämme,  die  sich  frei  von  chinesischem  Einfluß  gehalten 
haben.  Der  Verfasser  behandelt  zwar  nur  die  Religion  der 
Cauris,  eines  Teilstammes  der  Katchin,  meint  aber,  daß  diese 
typisch  sei  für  sämtliche  Stämme  ihrer  Verwandtschaft. 

Unter  den  zahlreichen  Einzelstudien  auf  dem  Gebiete 
der  chinesischen  Religionswissenschaft  sind  zunächst  zwei  Ab- 
handlungen zu  nennen,  die  sich  mit  dem  Urgründe  der  alten, 
d.  h.  vorkonfuzianischen  Religion  beschäftigen.  Maurice 
Courant  untersucht  in  einem  Vortrage  „Sur  le  pretendu  mo- 
notheisme  des  anciens  Chinois"  in  der  Revue  de  l'histoire 
dcB  religions  (Paris)  Bd.  XLI  (19()0)  S.  1—21  den  Charakter 
der  ältesten  chinesischen  Vorstellungen  von  dem  göttlichen 
Wesen.  In  der  oft  erörterten  Streitfrage,  ob  der  alte  chinesische : 
Begriff  „Himmel"  oder  „höchster  Herrscher"  ein  monothei- 
stischer sei  oder  nicht,  entscheidet  er  sich  für  den  verneinenden 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    1  ]  9 

Standpunkt.      Auf  Grund    verschiedener    Textstellen    aus    dem 
Shi-king,  dem  Shu-king,  dem  Tso-chuan,  den  „vier  Büchern" 
und  dem  Shi-ki  sucht  er  zu  beweisen,  daß  der  „Himmel"  den 
Chinesen  nur  das  überirdische  „Gewölbe*'  gewesen  sei,  an  dem 
die  Gestirne   sich   bewegen,  und   in  dem  die  Jahreszeiten  ent- 
stehen.    Erst   in  zweiter  Linie  habe  man  dann  mit  „Himmel" 
die  bezeichnet,  die  das  „Gewölbe"  bewohnen,  nämlich  die  Kaiser 
der  alten  Dynastie  und  die  Ahnen  des  regierenden  Herrschers. 
Aus    dieser  Auffassung   heraus    sucht    dann  Courant   aus   den 
Texten  —  in  recht  angreifbarer  Weise  —  die  Wahrscheinlich- 
keit herzuleiten,  daß  der  chinesische  Ausdruck  für  den  „hohen 
Herrscher"  (shang  ti  oder  ti)  als  Pluralis   aufzufassen  sei  und 
daß  er  eben  die  früheren  Herrscher  und  Kaiser  bezeichne,  zu- 
mal das  Wort  ti  der  Titel  der  ältesten  mythischen  Kaiser  ge- 
wesen sei.      In   keinem  Falle,   meint  er,    sei  shang  ti  als   ein 
einheitliches  Wesen,  als   der   Gott  in   christlichem  Sinne  auf- 
zufassen, vielmehr  bilde  er  den  Ausdruck  polytheistischer  Vor- 
stellungen mit  der  animistischen  Grundlage  des  Ahnendienstes. 
—   Ganz   anders   wird  die   Frage  von  Edouard    Chavannes 
behandelt  in  seinem  Vortrage  „Le  dieu   du   sol   dans   l'an- 
cienne   religion  chinoise'',  den  er  auf  dem  internationalen 
Kongreß  für  Religionsgeschichte  i.  J.  1900  gehalten  und  in  der 
Revue  de  l'histoire  des  religions  Bd.  XLIII,  S    125 — 146  ver- 
öffentlicht hat.     Der  Inhalt  dieser  scharfsinnigen  Untersuchung 
ist  so   außerordentlich  wichtig  und   legt  die  tiefsten  Wurzeln 
der  ursprünglichen  chinesischen  Religion  so  klar  an  den  Tag, 
daß    es    notwendig    ist,    ihn   hier,    wenn    auch   in    aller   Kürze, 
wiederzugeben.      Im  hohen  Altertume   hatte   jeder    chinesische 
Stamm,  vielleicht  sogar  jede  Sippe  einen  Gott  des  Erdbodens 
■she),  der  die  schuldigen  Menschen  mit  Strafen  heimsuchte,  und 
dem    noch    im    6.    Jahrhundert    v.    Chr.    Menschenopfer     dar- 
gebracht wurden.     Zugleich  aber  war  er  auch  der  Wohltäter, 
der  die  Menschen  schützte  und  ihnen  Nahrung  gab.     In  dieser 
Eigenschaft   erscheint   er   schon   sehr  früh   mit   einer   anderen 
Gottheit,  dem  Genius  der  Ernte  (tsi)j  zu  einem  untrennbaren 


120  0.  Franke 

Ganzen  vereinigt.  Dieser  „Gott  des  Erdbodens  und  der  Ernte" 
(she-tsi)  wird  fast  zu  einer  übernatürlichen  Personifikation  des 
von  einem  Fürsten  beherrschten  Landes,  und  zwar  hat  jeder 
Fürst  seinen  besonderen  Landgott.  Wie  aber  das  Staatswesen 
einerseits  des  irdischen  Territoriums,  anderseits  der  geistigen 
Welt  der  Manen  der  Vorfahren  bedarf,  die  über  seinem  Schick- 
sal wachen,  so  verbindet  sich  mit  der  Personifikation  des  Landes 
die  Personifikation  der  Vorfahren  in  Gestalt  des  Ahnentempels 
(tsimg-miao),  und  der  „Gott  des  Erdbodens  und  der  Ernte" 
zusammen  mit  dem  Ahnentempel  (she-tsi  tsung-miao)  bilden 
den  Begriff  der  „Heimat"  und  des  Heimatstaates.  Wir  haben 
also  hier  einen  dualistischen  Begriff,  bestehend  aus  einem 
naturalistischen  Moment,  dem  Gott  des  Erdbodens,  und  einem 
animistischen,  den  Ahnen,  der  die  eigentliche  Grundlage  der 
chinesischen  Religion  bildet.  Nun  zeigt  Chavannes  an  einer 
sehr  merkwürdigen  Stelle  aus  dem  Shi-ki,  in  dem  Kapitel  über 
die  großen  Staatsopfer  fmg  und  shan,  daß  der  Herzog  von 
Chou,  der  eigentliche  Gründer  des  Chou- Staates,  bei  seinem 
Opfer  den  „Gott  des  Erdbodens"  (d.  h.  den  der  Chou)  mit  dem 
„Himmel"  und  seinen  Ahnen  Wen  wang  mit  dem  „hohen 
Herrscher"  (shang  ti)  verband.  Danach  sind  also  der  „erhabene 
Himmel"  (hao  fien)  und  der  „hohe  Herrscher"  (shang  ti)  zwei 
getrennte  Dinge  und  nicht,  wie  fast  alle  Sinologen  bisher  an- 
genommen haben,  ein  einheitliches  Wesen  („der  hohe  Herrscher 
im  erhabenen  Himmel");  beide  bilden  das  Gegenstück  zu  Dyaus 
und  Varuna  der  Inder,  Zeus  und  Uranos  der  Griechen.  Die 
weitere  Entwicklung  ist  nun  aber  in  China  verschieden  von 
der  im  Westen  gewesen:  während  hier  das  animistische  Moment 
des  Dualismus,  d.  h.  der  Gott,  das  Übergewicht  erhalten  hat, 
ist  in  China  das  naturalistische,  der  „Himmel",  das  stärkere 
geworden,  bis  schließlich  der  „hohe  Herrscher"  ganz  darin 
aufgegangen  ist.  Von  den  beiden  Dualismen,  „Gott  des  Erd^ 
bodens"  und  „Ahnen"  einerseits,  „Himmel"  und  „hoher  Herrschei 
anderseits  ist  der  letztere  zu  einer  Einheit  verschmolzen,  der 
„Himmel".     Dieser  aber  hat  so  viel  Persönlichkeit  von  seiner 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    121 

zweiten,  absorbierten  Momente  erhalten,  daß  er,  wie  ehedem 
der  „hohe  Herrscher",  zum  „Ahnen"  des  Fürsten  wird,  und 
zwar  des  Fürsten,  der  die  Bezeichnung  „Sohn  des  Himmels" 
führt,  d.  h.  des  Kaisers,  der  allein  seinem  „Ahnen",  dem 
„Himmel**,  zu  opfern  berechtigt  ist.  Eine  parallele  Umwand- 
lung ist  mit  dem  „Gott  des  Erdbodens  und  der  Ernte"  vor 
sich  gegangen:  um  die  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  v.  Chr.  finden 
wir  diesen  Teil  des  anderen  Dualismus,  den  der  Herzog  von 
Chou  mit  dem  „Himmel"  verbunden  hatte,  in  einen  weiblichen 
Begriff  verwandelt,  und  zwar  mit  einer  erweiterten  Bedeutung; 
aus  dem  Erdboden  des  Fürsten  ist  die  gesamte  Erde  geworden, 
und  der  „Gott"  ist  die  personifizierte  „Erde"  gegenüber  dem 
männlichen  „Himmel".  Die  Opfer  für  beide,  feng  und  shan 
genannt,  werden  das  höchste  Vorrecht  der  kaiserlichen  Macht. 
So  hat  sich  die  Weiterbildung  der  ältesten  religiösen  Vor- 
stellungen der  Chinesen  in  engem  Anschluß  an  die  politische 
Entwicklung  vollzogen.  Der  chinesische  Ackerbauer,  für  den 
schon  im  hohen  Altertume  der  Erdboden  die  eigentliche  Lebens- 
quelle war,  warb  um  die  Gunst  der  darin  wirkenden  geheimen 
Kraft  für  seine  Ernte  und  erflehte  den  Schutz  seiner  Vorfahren 
für  seine  Arbeit.  Die  wachsende  Macht  des  Fürsten  sah  dann 
in  dem  Territorium  des  ganzen  Staates  und  schließlich  der 
Welt  (des  „Reiches"  nach  chinesischer  Auffassung)  ihren  Erd- 
boden, so  wurde  der  Lokalgott  von  ehemals  zur  Göttin  der 
Erde.  Der  Sitz  seiner  Vorfahren  aber  war  für  den  Herrscher 
der  Himmel;  er  nahm  die  Persönlichkeit  des  obersten  Ahnen 
an,  und  ihm  brachte  der  „Himmelssohn"  das  Ahnenopfer  in 
besonderer  Form.  Daneben  aber  —  und  das  ist  wohl  zu  be- 
achten —  blieben  als  Zeugen  einer  l^gen  Vergangenheit  der 
„Gott  des  Erdbodens  und  der  Ernte"  und  der  Ahnentempel 
auch  als  solche  noch  bestehen.  Diesem  Gotte  opferte  nachher 
noch  jeder  Fürst  in  dem  alten  Feudalstaate,  den  Ahnen  aber 
jedes  Famüienhaupt.  Dieses  religiöse  System  besteht  noch 
heute  in  China  und  bildet  die  eigentliche  Staatsreligion,  von 
der  Konfuzius  nur  ein  Exponent  war.    Der  Gedankengang,  der 


122  0.  Franke 

hier  nur  ganz  gedrängt  wiedergegeben  werden  konnte,  wird  von 
Chavannes  in  jedem  einzelnen  Teile  durch  die  älteste  uns  er- 
haltene Literatur  sicher  gestützt. 

Ahnliche  Fragen  aus  der  alten  Religion  erörtert  Fernand 
Farjenel  in  dem  Aufsatze  „Quelques  particularites  du 
culte  des  ancetres  en  Chine"  im  Journal  Asiatique  (Paris) 
Ser.  X  Bd.  II  (1903),  S.  85  —  96.  Er  gibt  einige  liturgische 
Einzelbestimmungen  über  den  Ritus  der  Ahnenopfer  nach  dem 
von  Chu  Hi  (12.  Jahrhundert)  auf  Grund  des  Li-ki  und  I-li  zu- 
sammengestellten Werke  Kia-li,  „die  häuslichen  Riten".  Diese 
Bräuche  gelten  auch  heute  noch  beim  Ahnendienst  in  jeder 
Familie.  Mit  Recht  bekämpft  Farjenel  die  opportunistische 
Ansicht  mancher  Sinologen,  daß  der  Ahnenkultus  nur  eine 
Erinnerungsfeier  für  die  Verstorbenen  sei;  er  ist  ein  aus- 
gesprochener Gottesdienst  und  die  eigentliche  Religion  der 
Chinesen.  —  Von  demselben  Verfasser  ist  der  Aufsatz  „Le 
culte  imperial  en  Chine"  im  Journal  Asiatique  Ser.  X 
Bd.  VIII  (1906),  S.  491—516.  Farjenel  geht  von  der  richtigen 
Ansicht  aus,  daß  die  Religion  eines  Volkes  diejenige  sei,  die 
der  Gesellschaft  ihre  Form  gegeben  habe.  Daher  sei  die 
chinesisclxe  Religion  die  Gesamtheit  der  Glaubenssätze  und 
Bräuche,  die  sich  im  culte  imperial,  d.  h.  in  dem  kaiserlichen 
oder  staatlichen  Kultus  des  Himmels,  der  Erde  usw.,  sowie  in 
dem  culte  domestique,  d.  h.  in  dem  Ahnenkultus  jeder  Familie 
offenbare,  denn  sie  habe  das  gesamte  Familien-  und  Gesell- 
schafts-Recht  in  China  bedingt  und  durchdrungen.  Der  Ver- 
fasser gibt  dann  eine  Übersetzung  des  37.  Kapitels  der  Ab- 
teilung li-pu  des  Ta  T'sing  hui-tien  (Staatshandbuch),  in  dem 
das  große  Opfer  für  den  Himmel  am  Tage  der  Wintersonnen- 
wende beschrieben  wird.  Seine  Behauptung,  daß  die  alte 
chinesische  Religion  weitere  Beweise  dafür  gebe,  daß  die 
chinesische  Zivilisation  chaldäischen  Ursprungs  sei,  wird  mehr 
Widerspruch  finden  als  seine  sonstigen  Angaben.  —  Eine  von 
wesentlich  anderen  Gesichtspunkten  ausgehende  Erörterung  der 
chinesischen  Ausdrücke  für  „Himmel",  „Himmelsherr"  u.  ä.  ent- 


Die  religions wissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    123 

hält  die  Schrift  des  Jesuitenpaters  Henri  Havret,  T'ien-Tchou, 
Seigneur  du  Ciel,  die  als  Xr.  19  der  „Varietes  Sinologiques" 
(Shanghai  1901)  erschienen  ist.  Die  Untersuchung  des  Ver- 
fassers knüpft  an  eine  bei  der  Stadt  Chengtu  in  Ssechuan  ge- 
fundene buddhistische  Stele  aus  der  Zeit  der  T'ang- Dynastie 
an  (618 — 905),  deren  Inschrift  den  Ausdruck  f/ew-c/m  „Himmels- 
herr" enthält.  Da  dies  die  Bezeichnung  ist,  die  von  der  katho- 
lischen Kirche  für  ihren  christlichen  Gottesbegriff  gewählt  ist, 
so  verfolgt  Havret  sie  in  den  verschiedenen  Bedeutungen  und 
Gebrauchsarten  während  zweier  Jahrtausende  bei  Buddhisten 
(hier  dürfte  allerdings  öfters  eine  Verwechslung  mit  dem  ähn- 
lich geschriebenen  fieti-uang  „Himmelskönig"  vorliegen),  Mu- 
hammedanern,  Nestorianem,  Juden,  Katholiken  und  Protestanten 
in  China.  Die  Frage,  wie  der  Name  des  christlichen  Gottes 
im  Chinesischen  zu  übersetzen  sei  und  in  welchem  Verhältnis 
dieser  zu  dem  chinesischen  „Himmel"  stehe,  hat  als  „term- 
question"  zeitweilig  zu  lebhaften  Auseinandersetzungen  unter 
den  Missionaren  geführt.  Der  Verfasser  gibt  auch  hierüber 
einen  kurzen  Überblick,  sowie  über  die  Geschichte  des  Aus- 
drucks fien-clm  in  der  katholischen  Propaganda,  bis  zu  seiner 
endgültigen  Festsetzung  als  Bezeichnung  für  „Gott"  durch  den 
Papst  Benedikt  XIV.  i.  J.  1742. 

Von  den  Werken,  die  sich  mit  Konfuzius  und  der  ortho- 
doxen Lehre  beschäftigen,  ist  in  erster  Linie  der  i.  J.  1905 
erschienene  V.  Band  von  „Les  Memoires  Historiques  de 
Se-ma  Ts^en"  von  Edouard  Chavannes  zu  nennen,  der  die 
Biographie  des  Konfuzius  (XL VII.  Kapitel  des  Shi-ki)  enthält. 
Sse-ma  Ts'ien  hat  diese  Biographie  unter  die  den  ehemals 
regierenden  Fürstenfamilien  gewidmeten  Kapitel  eingereiht, 
eine  Tatsache,  die  bezeichnend  ist  für  die  Stellung,  die  der 
große  Historiker  dem  „ungekrönten  Fürsten"  im  Reiche  des 
Geistes  zuschreibt.  In  einem  besonderen  Nachtrage  (S.  436  bis 
445)  weist  Chavannes  auf  die  Wichtigkeit  der  Biographie  hin, 
und  zwar  nicht  bloß  in  geschichtlicher  Beziehung,  sondern  auch 
in  dogmatischer   und  philologischer.     Es  handelt  sich  hierbei 


124  0.  Franke 

vor  allem  um  den  Text  und  die  Auslegung  des  Lun-yü,  aus 
dem  Sse-ma  Ts'ien  große  Teile  zitiert  und  in  mittelbarer  Weise 
erklärt,  indem  er  sie  mit  bestimmten  Vorkommnissen  im  Leben 
des  Konfuzius  in  Verbindung  bringt.  Einige  offensichtliche 
Irrtümer,  die  er  hierbei  begangen,  mahnen  uns  zwar,  seine  Er- 
klärungen nicht  immer  kritiklos  hinzunehmen,  aber  ebensowenig 
wird  man  der  neueren  chinesischen  Exegese,  die  doch  ganz  im 
Banne  von  Chu  Hi's  Dogmatik  steht,  in  jedem  Falle  einen 
Vorrang  einräumen  dürfen,  Chavannes  scheint  hierin  zuweilen 
ein  wenig  zu  weit  zu  gehen.  (Vergl.  die  Besprechung  in  der 
Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenl.  Ges.  Bd.  LX,  S.  233  ff.  und 
T'oung  Pao  Ser.  II  Bd.  VII,  S.  315ff.)  Bei  künftigen  Über- 
setzungen des  Lun-yü  wird  jedenfalls  die  Biographie  von 
Sse-ma  Ts'^ien  sehr  sorgfältig  benutzt  werden  müssen.  —  Eine 
solche  Übersetzung  wird  jetzt  vorbereitet  von  R.  Wilhelm, 
der  eine  Probe  davon  in  den  Preußischen  Jahrbüchern  Bd.  134 
(1908)  I.  Heft,  S.  27-73  im  Anschluß  an  einen  „Konfuzius" 
betitelten  Aufsatz  veröffentlicht  hat.  Der  Verfasser  gibt  neben 
der  wörtlichen  Übersetzung  für  jeden  Satz  noch  eine  freie 
deutsche  Paraphrase  und  hat  sich  in  seiner  Auffassung  von 
der  Orthodoxie  Chu  Hi's  vollkommen  frei  gemacht.  Gerade 
im  Hinblick  auf  die  neueste  Bewegung  innerhalb  des  reforma- 
torischen Konfuzianertums  in  China  ist  sein  Bestreben,  die 
ältere  und  älteste  Exegese  wieder  stärker  heranzuziehen,  durch- 
aus  berechtigt.     Dagegen   dürften   seine   Ansichten   über  Kon- 

O  DO 

fuzius  selbst,  dem  er  ein  gut  Teil  Einsicht  und  Weisheit 
a  posteriori  zuschreibt,  nicht  überall  Zustimmung  finden.  Die 
Kultusstätten  der  Orthodoxie  behandelt  der  deutsche  Jesuiten- 
pater A.  Tschepe  in  zwei  Werken,  die  als  Nr.  1  und  II  der 
von  der  katholischen  Mission  in  Süd-Shantung  herausgegebenen 
Sammlung  „Studien  und  Schilderungen  aus  China"  i.  J.  1906 
erschienen  sind.  Das  erste,  „Der  T'ai-Shan  und  seine 
Kultusstätten",  beschreibt  den  T'ai  shan  und  seine  Heilig- 
tümer in  der  Provinz  Shantung,  jene  uralte  Opferstätte,  an  die 
sich    die    frühesten    religiösen    und    politischen    Legenden    der 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    125 

mvthisclien  chinesischen  Vorgeschichte  knüpfen.  Hier  läßt  die 
Überlieferung  schon  die  sagenhaften  Kaiser  Shen-Xung,  Huang- 
Ti  u.  a.  im  3.  Jahrtausend  v.  Chr.  ihre  großen  Opfer  darbringen, 
hier  fanden  später  die  Staatsopfer  feng  und  shan  für  Himmel 
und  Erde  statt,  von  denen  oben  die  Rede  war,  und  hier  sollte 
jeder  neue  Kaiser,  vor  allem  aber  jeder  Begründer  einer  neuen 
Dynastie  die  Anerkennung  seiner  Stellung  durch  den  Himmel 
erlangen.  (Vergl,  Charannes,  Memoires  Historiques,  Bd.  lU, 
S.  413  ff.)  Tschepe  beschreibt  die  ganze  Wallfahrtstraße  von 
der  Stadt  T'ai-ngan  fu  bis  auf  den  Gipfel  des  Berges  mit  allen 
ihren  zahlreichen  Toren,  Hallen  und  Tempeln  und  erläutert 
die  Rolle,  die  sie  einst  in  der  Geschichte  gespielt  haben.  Jetzt 
ist  der  T'ai  shan  ein  Abbild  des  wirren  Durcheinander  der 
chinesischen  Religionsbegriffe:  taoistische  wie  buddhistische 
Kultusstätten  bedecken  seine  Hänge  und  seinen  Gipfel  zusammen 
mit  den  konfuzianischen  Überbleibseln  der  ältesten  nationalen 
Religion.  Alles  aber  ist  gleichmäßig  verfallen  und  verwahrlost, 
der  T'ai  shan  hat  seine  Bedeutung  nur  noch  in  der  Theorie. 
Das  zweite  Werk  führt  den  Titel:  „Heiligtümer  des  Kon- 
fuzianisinus  in  K'ü-fu  und  Tschou-hien";  es  zerfallt  in 
drei  Teile:  die  Heiligtümer  des  Konfuzius,  die  Heiligtümer  des 
Yen  fu-tse  (eines  Lieblingschülers  des  Konfuzius)  und  die  Heilig- 
tümer des  Mencius.  Der  erste  Teil  behandelt  das  Vaterland 
des  Konfuzius  (der  alte  Staat  Lu  im  heutigen  Shantung),  die 
'Teschichte  des  Konfuziustempels  in  K'ü-fa  (Shantung),  den 
jetzigen  Tempel  des  Konfuzius  in  seiner  Vaterstadt  K'ü-fu  und 
'ias  Grab  des  Konfuzius.  Die  beiden  anderen  Teile  geben  ent- 
sprechend einige  geschichtliche  Bemerkungen  über  Yen  Hui 
und  Meng  tsö  und  eine  Beschreibung  ihrer  Tempel  in  K*ü-fti 
und  Tsou  hien  (von  Tschepe  Tschou  geschrieben).  Beide 
Werke  sind  mit  zahlreichen  Photographien  illustriert.  Daß  der 
wackere  Pater  tüchtig  auf  die  Heiden  und  Ketzer  schimpft,  ist 
seine  Amtspflicht;  seine  Kapuzinaden  sind  aber  zum  Teil  sehr 
belustigend.  (Vergl.  die  Besprechung  im  Journal  of  the  North- 
China  Brauch  R.  A.  S.  Bd.  XXXIX,  S.  189  ff.)  —  Nähere  An- 


126  0-  Franke 

gaben  über  das  Opferrituäl  in  einem  konfuzianischen  Tempel  (dem 
von  Hangchou)  macht  G.  E.  Moule  in  einem  Aufsatze:  „Notes 
on  the  Ting-chi,  er  half-yearly  Sacrifice  to  Confucius" 
im  Journal  of  the  China  Brauch  R.  A.  S.  (Shanghai)  Bd.  XXXIII 
(1900/01),  S.  37—73.  Ting-tsi  heißt  „Opfer  am  Ting(-Tage)", 
d.  h.  an  dem  Tage  im  2.  und  8.  Monat,  der  die  cyklische  Be- 
zeichnung ting  hat.  Der  Verfasser  gibt  eine  Schilderung  der 
Feierlichkeit  auf  Grund  seiner  persönlichen  Anwesenheit  bei 
einem  solchen  Opfer  und  schließt  daran  eine  Inhaltsangabe  und 
Übersetzungsauszüge  von  dem  Ting-tsi  p'u,  dem  amtlichen 
Ritualbuche  für  die  konfuzianischen  Opfer,  das  nach  dem 
Ta  Ts'ing  hui-tien  und  dem  T^ung-li  zusammengestellt  ist.  Die 
Hymnen,  die  bei  der  Kultushandlung  gesungen  werden,  ent- 
stammen den  kanonischen  und  klassischen  Schriften:  dem  Shi- 
king,  dem  Lun-yü,  dem  Chung-yung,  Meng-tse  und  dem 
Li-ki.  über  die  Musik  dazu  macht  der  Verfasser  einige  kurze 
Angaben  in  einer  besonderen  Zusatznotiz.  Weitere  Mit- 
teilungen über  die  konfuzianische  Musik  und  ihre  Instrumente 
finden  sich  dann  aber  in  der  ausführlichen  Arbeit  von 
A.  C.  Moule,  A  List  of  the  Musical  and  other  Sound- 
Producing  Instruments  of  the  Chinese  in  derselben  Zeit- 
schrift Bd.  XXXIX  (1908),  S.  1-160  (mit  Illustrationen). 
Danach  sind  die  44  Instrumente,  auf  denen  die  —  übrigens 
weit  leiser  und  harmonischer  als  im  taoistischen  Ritual  oder 
im  Theater  klingende  —  konfuzianische  Ritualmusik  hervor- 
gebracht wird,  zum  größten  Teil  dieselben,  wenigstens  dem 
Namen  nach,  die  bei  den  religiösen  Kultushandlungen  im 
Altertum  gebraucht  wurden.  Die  ritualistische  Verehrung  des 
Konfuzius  selbst  ist  verhältnismäßig  jungen  Datums.  —  Voi 
der  politischen  und  sozialen  Seite  wird  das  konfuzianisch« 
System  beleuchtet  von  E.  Chavannes  in  seiner  Abhandlung^ 
„Les  Saintes  Instructions  de  I'Empereur  Hong-Wou" 
(1368 — 1398)  im  Bulletin  de  l'Ecole  franyaise  d'Extreme- Orient 
Bd.  III  (1903)  S.  549  —  563.  Diese  „heiligen  Ermahnungen" 
(sheng-yü)  aus  der  Ming- Dynastie   sind  der  Vorläufer  des  be- 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    127 

rühmten  „heiligen  Edikts"  des  Kaisers  K'ang-Hi  vom  Jahre  1671 
und  decken  sich  im  Inhalte  völlig  mit  ihm.  Im  Anschluß  an 
die  konfuzianische  Ethik  belehren  sie  die  Bevölkerung  über 
ihre  sozialen  Pflichten  in  Familie  und  Gemeinde.  Chavannes 
hat  seiner  Übersetzung  einen  in  Stein  gemeißelten  Text  zu- 
grimde  gelegt,  der  dem  Jahre  1587  entstammt  und  sich  in  der 
Stadt  Si-ngan  fu  (Shensi)  befindet.  Er  enthält,  ähnlich  wie 
das  „heilige  Edikt'',  außer  den  Hauptsätzen  eine  Paraphrase, 
und  zwar  in  Prosa  und  Poesie,  und  daneben  eine  versinnbild- 
lichende Zeichnung  für  jeden  Hauptsatz. 

Der  Hauptgegner  eines  Fundamentalsatzes  der  kon- 
fuzianischen Ethik,  der  Philosoph  Sün  K'ing  oder  Sün  tsö 
(3.  Jahrh.  v.  Chr.),  der  gegenüber  der  Lehre  von  Konfuzius  und 
Meng  ts6,  daß  die  menschliche  Natur  ursprünglich  gut  sei,  den 
Satz  aufstellte,  daß  sie  ursprünglich  schlecht  sei,  und  diesem 
Grundgedanken  eine  besondere  Abhandlung  in  seinen  Schriften 
widmete,  ist  für  christliche  Missionare  immer  eine  besonders 
interessante  Erscheinung  gewesen.  Schon  Legge  hat  eine  Über- 
setzung der  kleinen  Schrift  im  II.  Bande  der  Chinese  Classics 
gegeben.  Seitdem  ist  eine  neue  Übersetzung  von  dem  Mis- 
sionar R.  A.  Haden,  The  Philosopher  Shnncius  (sie!),  im 
„North  China  Herald"  (Shanghai)  vom  I.September,  29.  September 
und  20.  Oktober  1905  veröffentlicht  worden.  Auch  J.  Edkins, 
Siün  King,  the  Philosopher,  and  his  Relations  with 
Contemporary  Schools  of  Thought  im  Journ.  China  Br. 
R.  A.  S.  Bd.  XXXm  (1899—1900),  Heft  I,  S.  46-55,  und 
der  Japaner  ü.  Hattori,  Schun-tzu's  Stellung  in  der 
Geschichte  der  chinesischen  Philosophie,  in  der  Fest- 
schrift der  deutsch -japanischen  Gesellschaft  zum  XHI.  inter- 
nationalen Orientalisten -Kongresse  (1902),  S.  5 — 27  haben  sich 
ausführlich  mit  ihm  beschäftigt. 

Die  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  des  Taoismus  gruppieren 
sich  wie  in  früheren  Jahrzehnten,  so  auch  in  diesem  noch 
immer  der  Hauptsache  nach  um  Lao  ts6  und  das  Tao-te  king, 
ja  die  Begeisterung  für  dieses  Werk  der  ältesten  chinesischen 


128  0.  Franke 

Metaphysik  scheint  sogar  im  XX.  Jahrhundert  noch  an  Stärke 
zuzunehmen  und  in  eine  förmliche  Epidemie  auszuarten.  Be- 
rufene wie  Unberufene  —  letztere  vielleicht  mehr  als  erstere 
—  haben  sich  seit  über  fünfzig  Jahren  in  kaum  unterbrochener 
Folge  damit  beschäftigt,  die  Geheimnisse  des  Tao,  jeder  auf 
seine  Weise,  zu  entschleiern.  Historische  Untersuchungen, 
Textkritik  und  philosophische  Vergleichung  hat  Lao  tse's  Werk 
in  reicher  Fülle  erfahren;  dabei  ist  die  Zahl  seiner  Über- 
setzungen Legion  geworden,  und  noch  ist  kein  Ende  dieser 
Flut  zu  sehen.  Heute  sind  sogar  die  der  chinesischen  Sprache 
gänzlich  Unkundigen  von  diesem  Ubersetzungsfieber  erfaßt, 
und  die  Art,  wie  sie  ihre  Weisheit  auf  den  Markt  bringen, 
läßt  an  Selbstbewußtsein  nichts  vermissen.  Es  würde  natürlich 
über  den  Rahmen  dieses  Berichtes  weit  hinausgehen,  wollten 
wir  die  Fragen  der  Echtheit  oder  Unechtheit,  der  chinesischen 
Ursprünglichkeit  oder  der  indischen  Beeinflussung  des  Tao-te 
king  erörtern,  wie  sie  seit  den  Tagen  Abel- Remusat's,  Pauthier's 
und  Stanislas  Julien's  vou  Sinologen  und  Nichtsinologen  um- 
stritten worden  sind  und  noch  heute  umstritten  werden;  wir 
können  hier  nur  die  neuen  Übersetzungen  und  Bearbeitungen 
aufzählen,  die  uns  das  neue  Jahrhundert  —  bis  jetzt!  —  beschert 
hat.  Von  Dvofäk's  und  Parker's  Werken  war  schon  oben 
die  Rede.  Eine  englische  Übersetzung  mit  einer  ausführlichen 
Einleitung  und  einem  chinesischen  Wortindex  hat  P.  J.  Maclagan 
in  der  China  Review  (Hongkong),  Bd.  XXHI,  S.  1  — 14, 
75—85,  125—142,  191—207,  261—264  und  Bd.  XXIV, 
S.  12—20,  86—92  (1898  —  1900,  „The  Tao-Teh  King"), 
gegeben.  Diese  Übersetzung  rief  Thos.  W.  Kingsmill  auf  den 
Plan,  der  seine  Ansichten  in  zwei  Aufsätzen:  „Notes  on  the 
Taoteh  King"  im  Journal  China  Branch  R.  A.  S.  Bd.  XXXI 
(1899),  S  206—209,  und  „Dr.  Maclagan  and  the  Taoteh 
King"  in  der  China  Review,  Bd.  XXIH,  S.  265—270  nieder- 
legte. Diesen  Einleitungen  folgte  eine  neue  Übersetzunu 
Kingsmill's:  „The  Taoteh  King,  a  Translation  with  Notes' 
in  der  China  Review,  Bd.  XXIV,  S.  147—155,  185—196.  Einen 


II 


Die  religionswissenschaftUche  Literatur  über  China  seit  1900    129 

sehr  interessanten  Fund   hat  E.  v.  Zach   in  Peking  gemacht; 
er   konnte   im  XXY.  Bande   der  China  Review   (1900—1901), 
S.  157 — 162,   228 — 234  eine  mandschurische  Übersetzung  des 
Tao-te   king   unter   dem    Titel:   „Manchurian    Translation 
of    Lao-Tzu's    Tao-te-ching.      Romanized    Text"    ver- 
öflfentlichen.       Zach     macht     leider    keinerlei    Angaben     über 
Herkunft   und   Art   dieses   Werkes.     (Vergl.  B.  Laufer,    Skizze 
der  manjurischen  Literatur  in   der  Revue  Orientale  von  1908, 
S.  A.  S.  50.)    Von  den  späteren  Übersetzern  hat  meines  Wissens 
bedauerlicherweise  keiner  von  diesem  Texte  Gebrauch  gemacht. 
—   G.  Ch.  Toussaint    erwarb    i.  J.    1904    in    dem    Taoisten- 
kloster  Po-yün  kuan  bei   Peking  Abdrücke  der  in   Stein  ge- 
meißelten Texte   des    Tao-te  king   und    des  Yin-fu  king   (ein 
anderes  bekanntes  taoistisches  Werk,  beide  sind  übersetzt  von 
Legge  in  den  „Sacred  Books  of  the  East",  Bd.  XXXIX  und  XL). 
Eine  Reproduktion   davon   mit  einer  Beschreibung,   „Le   Tao 
tö  king  grave   sur  pierre",   ist  in  der  T'oung  Pao,   Ser.  II 
|Bd.  VI  (1905),   S.  229  —  236   veröffentlicht   worden.     Die  In- 
schriften   sind    i.  J.    1858    nach    einem    aus    dem   Jahre    1316 
;  stammenden   Originaltexte    des    berühmten    Kalligraphen   Chao 
jMeng  Fu   (1254 — 1322)   angefertigt  worden   und   von   großer 
i  Schönheit.      Der    Text    zeigt    zahlreiche    Varianten    gegenüber 
dem    uns    sonst   überlieferten,   doch  sind  einige  davon  offenbar 
,  auf  Fehler  und  Ungenauigkeiten  zurückzuführen.    —    Eine  neue 
{deutsche  Übersetzung   des   Tao-te  king  (nicht  die  erste!)   hat 
jDr.    Franz    Hartmann    gegeben:    „Theosophie    in    China. 
Betrachtungen  über  das  Tao-Teh-King.    (Der  Weg,  Die 
Wahrheit  und   das  Licht.)     Aus  dem  Chinesischen   des 
ML?io-tze     übersetzt."       Femer     Alexander     ülar,     „Die 
Bahn  und  der  rechte  Weg;  der  chinesischen  Urschrift 
des  Lao-tse  in  deutscher  Sprache  nachgedacht"  (Leipzig 
1903).    Diesem  Produkte  war  schon  eine  französische  Ausgabe 
unter   dem    Titel:   „Le   Livre    de    la  voie    et    de   la   ligne 
I  droite  de  Lao-tse"  (Paris  1902)  vorangegangen,     ülar  ist  ein 
mit  hervorragender  Phantasie   ausgerüsteter  Journalist;   er  er- 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft   XIII  9 


130  0-  Franke 

scheint  deshalb  besonders  geeignet,  Gedanken  aus  einer  Sprach« 
„nachzudenken",  die  er  nicht  kennt!  Noch  zwei  englische  Über 
Setzungen  sind  zu  erwähnen:  J.  W.  Heysinger,  „The  Ligh 
of  China.  The  Tao  Teh  King  of  Läo  Tsze"  (Phila 
delphia  1903)  und  Lionel  Griles,  „The  Sayings  of  Lao  Tzü 
Translated  from  the  Chinese,  with  an  Introduction' 
(London  1904).  Herbert  A.  Giles,  der  temperamentvolh 
Bekämpfer  des  Lao  tse,  der  durch  seine  bekannte  Abhandlung 
„The  Remains  of  Lao  tzü",  im  XIV.  Bande  der  China  Reviews 
(1886)  die  Frage  nach  der  Echtheit  des  Tao-te  king  zuersi 
aufwarf  und  verneinte,  hat  seine  Argumente  noch  einmal  zu- 
sammengefaßt und  vervollständigt  in  einem  Aufsatze:  „Lao  tzij 
and  the  Tao  Te  ching^^  in  seinen  „Adversaria  Sinica"  Nr.  3 
(Shanghai  1906),  S.  58—78.  —  Daß  die  Anziehungskraft  des 
Lao  tse  in  Zukunft  eine  Abschwächung  erfahren  wird,  ist,  wie 
es  scheint,  nicht  anzunehmen,  da  ein  Gerücht  besagt,  daß  schon 
wieder  mehrere  Übersetzungen  in  Vorbereitung  sind.  Die 
Sinologen  werden  hoffentlich  ihre  Kräfte  den  zahllosen  anderen 
dringlicheren  Aufgaben  zuwenden  und  das  Tao-te  king  den 
philosophierenden  und  ästhetisierenden  Dilettanten  überlassen. 
—  Ein  anderes  taoistisches  Werk,  das  in  Europa  wiederholt 
Übersetzungen  und  Bearbeitungen  erfahren  hat  (von  St.  Julien, 
Legge,  Douglas),  ist  das  T'ai-shang  kan-ying  p'ien,  ein  in  China 
sehr  volkstümliches  Buch  über  taoistische  Ethik,  das  die  Be- 
lohnungen und  Strafen  für  die  Guten  und  Bösen,  sowie  den 
Charakter  beider  Menschengattungen  beschreibt.  Eine  neue 
Übersetzung  nebst  Erklärung  haben  Teitaro  Suzuki  und 
Paul  Carus  geliefert  unter  dem  Titel:  „T'ai-Shang  Kan- 
Ying  P'ien.  Treatise  of  the  Exalted  One  on  Responsfj 
and  Retribution"  (Chicago  1906).  Von  demselben  Verfassei 
stammt  das  „Yin  Chih  Wen,  The  Tract  of  the  Quiet  Way'j 
(Chicago  1906).  Das  Yin-chi  wen  ist  ebenfalls  ein  kurzes  un< 
volkstümliches  Handbuch  der  taoistischen  Morallehre,  das  abe 
mit  den  Grundbegriffen  der  konfuzianischen  Ethik  durchsetzi 
ist.     Er  wird   dem  Wen-ch'ang  ti-kün,    dem  „Gott  des   (litij 


Die  religionswissenschaflliche  Literatur  über  China  seit  1900    131 

rarischen)  Wissens"  zugeschrieben;  tatsächlicli  ist  sein  Verfasser 
ebenso  wie  der  des  vorigen  Werkes  unbekannt.  (Vergl.  Douglas, 
Confucianism  and  Taoism,  S.  256  ff.  und  272 ff.)  Auch  das 
Yin-chi  wen  ist  übrigens  bereits  früher  von  Klaproth  und  von 
Leon  de  Rosny  veröffentlicht  und  übersetzt  worden.  i^Yergl. 
T'oirng  Pao,  Ser.  II  Bd.  VII,  S.  536 f.)  Eine  unausgesprochene 
Weiterbildung  von  Lao  tse's  Lehre  vom  tao  im  konfuzianischen 
System  hat  F.  Farjenel  nachzuweisen  gesucht  in  seinem  Auf- 
satz „La  metaphysique  chinoise"  im  Journal  Asiatique, 
Ser.  IX  Bd.  XX  (1902),  S.  113  —  131.  Er  sieht  in  dem,  was 
Chou  Tun  Yi  (1017 — 1073),  der  Vater  des  späteren  metaphy- 
sischen Systems,  fai-ki  („die  höchste  Spitze")  nennt,  dasselbe, 
was  bei  Lao  tse  das  tao  ist.  Diese  Vorstellung  von  dem  fai-ki, 
dem  Urprinzip,  ist  dann  ein  Jahrhundert  später  von  Chu  Hi, 
dem  Begründer  der  Orthodoxie,  aufgenommen  und  weiter  ent- 
wickelt, so  daß  sie  die  ganze  orthodoxe  konfuzianische  Schule 
i  beherrscht.  Die  letztere  charakterisiert  Farjenel  als  „weder 
I  spiritualistisch,  noch  materialistisch,  wie  viele  meinen",  vielmehr 
sei  ein  „psychologischer  Pantheismus"  die  Grundlage  ihrer  ge- 
samten Metaphysik.  Chou  Tun  Yi  wird  von  Farjenel  Chou 
Lien  K^i  genannt.  Diese  Bezeichnung  ist  nicht  genau.  Lien-k'i 
jist  der  Heimatsort  des  Philosophen  in  Hunan,  Chou  wird  des- 
ihalb  auch  oft  Lien-kH  sien-sheng  „der  Meister  von  Lien-k'i", 
genannt.  —  Zu  einem  ähnlichen  Ergebnis  hinsichtlich  Chu  Hi's 
Philosophie  wie  Farjenel  kommt  Herbert  A.  Giles  in  seinem 
[Vortrage:  „Psychic  Phenomena  in  China"  in  „Adversaria 
ISinica"  Nr.  6  (1908),  S.  145—162.  Er  erörtert  den  alten  chine- 
sischen Dualismus  von  hun  und  po,  die  beide  zusammen  die 
menschliche  Seele  bilden,  und  schließt  aus  der  Art,  wie  Chu  Hi 
tnit  dieser  alten  Vorstellung  umgeht,  daß  dieser  trotz  seines 
Materialismus  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  glaubte.  — 
Abgesehen  von  den  erwähnten  Übersetzungen  ist  leider  das 
•  jebiet  der  späteren  taoistischen  Dogmatik  von  der  Sinologie 
:  follig  vernachlässigt  worden.  In  den  Untersuchungen  über 
?  [Volkskunde  und  Volksreligion  (s.  u.)  sind  zwar  die  taoistischen 


132  0.  Franke 

Elemente   erkannt  und  betont  worden,   aber  der  Taoismus  als 
System  ist  bis  jetzt  unerforschtes  Gebiet  geblieben. 

Besser  steht  es  mit  dem  Buddhismus,  obwohl  auch 
hier  die  eigentliche  Dogmatik  des  Mahäyäna- Systems  noch 
ihrer  Bearbeitung  wartet.  Im  folgenden  sind  nur  die 
wissenschaftlichen  Einzeluntersuchungen  berücksichtigt  worden; 
von  populären  Darstellungen  allgemeiner  Art  ist  abgesehen. 
E.  H.  Parker  gibt  unter  dem  Titel  „Chinese  Buddhism"  in 
The  Imperial  and  Asiatic  Quarterly  Review  Ser.  III  Bd.  XIV 
(1902)  S.  372—390  einen  kurzen  Überblick  über  die  Ge- 
schichte der  Einführung  und  Verbreitung  des  Buddhismus  in 
China  bis  zum  Jahre  400,  d.  h.  bis  zu  Kumärajiva's  Ankunft 
in  Ch'ang-an  (Si-ngan  fu)  am  Hofe  der  späteren  Ts'in-Dynastie. 
Parker  glaubt  nach  wie  vor,  daß  der  Buddhismus  erst  infolge 
des  Traumes  des  Kaisers  Ming  ti  i.  J.  61  n.  Chr.  in  China 
Eingang  gefunden  habe,  und  daß  „absolut  kein  Grund  vorhanden 
sei  für  den  Glauben,  der  Buddhismus  sei  in  irgendwelcher 
Form  den  Chinesen  vor  diesem  Jahre  zu  Ohren  gekommen". 
Wie  dann  aber  ein  solcher  Traum  und  seine  Auslegung  möglich 
gewesen  sein  sollen,  dafür  bleibt  Parker  die  Erklärung  schuldig. 
Auch  ist  damit  die  Angabe  der  Han-Annalen  nicht  zu  ver- 
einigen, nach  der  es  i.  J.  65  n.  Chr.  in  der  heutigen  Provinz 
Hunan  bereits  buddhistische  Mönche  gab  (vergl.  T'oung  Pao 
Ser.  II  Bd.  VI  S.  550  Anm.  1).  Die  Stelle  ist  aUerdings  Parker 
anscheinend  noch  nicht  bekannt  gewesen,  aber  er  macht  sich 
auch  die  Behandlung  der  anderen  chinesischen  Nachrichten, 
die  seiner  Behauptung  entgegenstehen  (so  besonders  die  des 
bekannten  Textes  aus  dem  We'i-lio  über  das  Bekanntwerden 
indischer  Sütras  in  China  i.  J.  2  v.  Chr.),  allzu  leicht.  (Vergl., 
hierzu  die  Abhandlung  über  „Die  Ausbreitung  des  Buddhismus | 
von  Indien  nach  Turkistän  und  China"  in  diesem  Archi"«| 
Bd.  XII  S.  207  ff.)  —  Die  Übersetzungsliteratur  über  die  s(| 
außerordentlich  wichtigen  und  lehrreichen  Berichte  von  dei,' 
Reisen  buddhistischer  Pilger  zwischen  Indien  und  China,  di- 
sich  an  die  Namen  St.  Julien,   Abel-Remusat,  C.  F.  Neumaiu 


Die  religionswissenschaffcliche  Literatur  über  China  seit  1900    133 

Beal,  Legge,  Giles,  Takakusu  und  Chavannes  knüpft,  ist  wälirend 
der  letzten  Jahre,  namentlich  durch  die  Arbeiten  Chavannes', 
wieder  bedeutend  bereichert  worden.  Der  bekannteste  und 
bedeutendste  unter  den  chinesischen  Pilgern,  Hüan  Tsang, 
hat  eine  neue  Bearbeitung  von  dem  englischen  Sinologen 
Thomas  Watters  erfahren,  der  aber  leider  starb,  bevor  sein 
Werk  gedruckt  wurde.  Die  Herausgabe  des  Manuskriptes 
wurde  deshalb  von  befreundeter  Seite  unternommen  und  dem 
Indologen  Rhys  Davids  übertragen,  der  sich  des  Beistandes 
des  jetzt  ebenfalls  verstorbenen  früheren  Arztes  der  englischen 
Gesandtschaft  in  Peking,  Dr.  S.  W.  Bushell's,  versicherte. 
Das  Werk  ist  unter  dem  Titel  „On  Yuan  Chwang's  Travels 
in  India  629—645  A.  D."  (London  1904—05)  in  zwei  Bänden 
erschienen.  Th.  Watters  war  sicher  ein  ausgezeichneter  Kenner 
der  chinesischen  buddhistischen  Literatur,  aber  er  starb  nach 
längerem  Leiden  i.  J.  1901,  und  die  Herausgeber  haben  das 
Manuskript  veröffentlicht,  ohne,  wie  sie  angeben,  daran  zu 
rühren.  Wenn  man  nun  bedenkt,  welche  Fülle  von  neuen 
Nachrichten  seitdem  über  Mittelasien  und  Nordindien  und 
deren  Geschichte  an  das  Licht  gebracht  ist,  so  daß  viele  bisher 
dunkle  und  zweifelhafte  Stellen  in  Hüan  Tsang's  Bericht  klar- 
gestellt und  zahlreiche  Mißverständnisse  berichtigt  werden 
konnten,  so  muß  man  bedauern,  daß  die  Herausgabe  nicht 
einem  Gelehrten  anvertraut  wurde,  der  weniger  ängstlich  in 
bezug  auf  Zusätze  zum  Text  gewesen  wäre  als  die  beiden  Ge- 
nannten. Das  dringende  Bedürfnis  einer  Neuausgabe  von 
Hüan  Tsang's  Si  yü  ki  ist  also  durch  das  engliche  Werk  nicht 
befriedigt  worden.  Wenn  übrigens  Rhys  Davids  in  einem  be- 
sonderen Artikel  der  Einleitung  sich  über  die  Aussprache  des 
Namens  des  berühmten  Pilgers  äußert  und  zu  dem  Ergebnis  kommt, 
daß  die  heutige  Version  des  Peking-Dialekts,  „Yuan  Chwäng"  (!) 
als  die  gültige  anzusehen  sei,  so  hätte  er  das  Urteil  über  diese 
verwickelte  Frage,  bei  der  sehr  viele  und  sehr  verschieden- 
artige Momente  hineinspielen,  getrost  den  Sinologen  überlassen 
sollen.     Seine  Ausführungen  zeigen,  daß  er  —  was  nicht  über- 


134  0.  Franke 

raschen  kann  —  vollständig  im  dunkeln  tappt.  Hüan  Tsang 
wird  nacli  wie  vor  die  wissenschaftlich  gerechtfertigtste  Form 
des  Namens  bleiben.  (Vergl.  die  ausführliche  Besprechung  von 
Pelliot,  Bull.  Ec.  fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  V  S.  423 ff.)  Auch  die 
Reise  eines  anderen  bekannten  Pilgers,  des  Sung  Yün,  die  in 
den  Jahren  von  518  bis  522  ausgeführt  wurde,  ist  neu  be- 
arbeitet worden.  Die  Arbeit  von  Chavannes,  „Voyage  de 
Song  Yun  dans  TUdyäna  et  le  Gandhära"  im  Bull.  Ec. 
fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  III  (1903)  S.  379—441  bedeutet  eine  wesent- 
liche Verbesserung  gegenüber  den  früheren  Übersetzungen  von 
Abel-Remusat  (unvollständig),  Neumann  und  Beal.  Sung  Yün's 
und  seines  Reisegefährten  Hui  Sheng  Berichte  sind  leider  ver- 
loren gegangen,  aber  eine  ausführliche  Inhaltsangabe  findet 
sich  in  dem  Lo-yang  kia-lan  ki  („ Greschichte  der  Klöster  von 
Lo-yang"),  das  unter  anderen  auch  in  der  bekannten  Sammlung 
Han  Wei  f  sung  shu  enthalten  ist.  Dieser  Text  ist  es,  den 
Chavannes  übersetzt  hat.  Der  Bericht  über  Sung  Yün's  Reise 
ist  deshalb  von  besonderer  Bedeutung  für  die  Geschichte  der 
Ausbreitung  des  Buddhismus  nach  China,  weil  er  zeigt,  daß  in 
Udyäna  und  Gandhära,  d.  h.  in  Nordindien,  sich  eine  neue 
Art  des  Buddhismus,  das  mahäyänistische  System,  entwickelt 
hatte,  das  von  dem  in  Mittelindien,  besonders  in  Magadha 
herrschenden  scharf  zu  trennen  ist.  Nordindien  aber  war  für 
China  zugänglicher  als  der  Süden.  In  einem  Anhange  gibt 
Chavannes  eine  sehr  wertvolle  Zusammenstellung  der  chine- 
sischen Werke  aus  der  Zeit  vor  der  T'ang-Dynastie  (618),  die 
auf  Indien  Bezug  haben.  —  Des  weiteren  hat  Chavannes 
noch  die  Tätigkeit  von  zwei  indischen  Buddhisten  beleuchtet, 
die  für  die  Verbreitung  ihrer  Religion  in  China  von  Wichtig- 
keit gewesen  sind.  In  dem  Artikel  „Gunavarman  (367 — 431)" 
in  der  T'oung  Pao  Ser.  H  Bd.  V  (1904)  S.  193—206  be- 
handelt er  die  Wirksamkeit  dieses  aus  Kaschmir  stammenden 
Mönches,  der  i.  J.  423  auf  Java  die  buddhistische  Lehre  ein- 
führte und  dann  auf  die  Einladung  des  Kaisers  Wen  ti  von  \ 
der  Sung-Dynastie  i.  J.  425  nach  China  und  i.  J.  431  an  den 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    135 

Hof  nach  Nankiag  kam.  Er  hat  während  dieser  Zeit  eine 
Anzahl  indischer  buddhistischer  Texte  in  das  Chinesische  über- 
setzt und  war  (i.  J.  425)  der  erste  buddhistische  Mönch 
in  Südchina.  Die  Lebensbeschreibung  des  Gunavarman,  die 
Chavannes  übersetzt  hat,  findet  sich  im  Kao  seng  chuan 
(„Lebensbeschreibungen  hervorragender  Sramanas").  Der 
Artikel  „Jinagupta"  (528  —  605)  in  der  T'oung  Pao  Ser.  II 
Bd.  YI  (1905)  S.  332 — 356  beschäftigt  sich  mit  einem  durch 
seine  umfangreiche  Ubersetzungstätigkeit  besonders  ausgezeich- 
neten indischen  Mönche.  Jinagupta  kam  von  Kaschmir  über 
den  Lop-nor,  durch  das  Kuku-nor- Gebiet  i.  J.  559  oder  560 
nach  ChWg-an,  wo  er  Chinesisch  lernte  und  die  Übersetzung 
buddhistischer  Sütras  begann.  Er  hat  im  ganzen  37  Werke  in 
170  Kapiteln  übersetzt,  darunter,  zusammen  mit  Dharmagupta, 
das  berühmte  Saddharmapundarika-sütra.  Die  Beschreibung 
seines  inhaltvollen  Lebens  und  seiner  Abenteuer  in  Ssechuan 
und  bei  den  Türkvölkern  ist  enthalten  in  dem  Sü  kao  seng 
chuan  (eine  Fortsetzung  des  eben  genannten  Werkes.).  —  Einer 
der  letzten  chinesischen  Pilger,  die  nach  Indien  vor  dem  großen 
Muhammedaner-Einbruch  zogen,  war  Ki  Ye,  der  i.  J.  964  oder 
966  mit  über  sechzig  anderen  chinesischen  Mönchen  und  zwei- 
hundert Uiguren  durch  Turkistän  nach  Kaschmir  und  weiter 
nach  Magadha  reiste,  um  dann  über  Nepal  um  976  nach  China 
zurückzukehren.  Yon  dieser  Reise  ist  uns  nur  das  Itinerar  in 
der  Enzyklopädie  Yuan  kien  lei  han  erhalten;  das  kurze  Do- 
kument ist  neu  übersetzt  worden  (es  gibt  bereits  eine  Über- 
setzung von  Schlegel)  von  Edouard  Huber  mit  dem  Titel 
„L'itineraire  du  pelerin  Ki  Ye  dans  l'Inde"  im  Bull. 
Ec.  fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  II  (1902)  S.  256  —  259.  Einige 
Zusätze  dazu  hat  Chavannes  gegeben  in  seinen  „Notes 
Sinologiques"  in  derselben  Zeitschrift  Bd.  IV  (1904)  S.75— 81. 
In  der  Toung  Pao  Ser.  H  Bd.  X  (1909)  S.  199—212  endlich 
veröffentlicht  Chavannes  die  Übersetzung  einer  Lebens- 
beschreibung des  Mönches  Seng  Hui  aus  Sogdiana  (Samarkand), 
der  um  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  über  Kiao-chi  (Tongking) 


136  0-  Franke 

nach  China  kam  und  im  Gebiete  des  unteren  Yangtse  den 
Buddhismus  verbreitete.  Er  hat  die  beiden  Sammlungen 
buddhistischer  Märchen  Shatpäramitä-sannipäta-sütra  und 
Samyuktävadäna-sütra  (Bunyiu  Nanjio's  Katalog  Nr.  143  und 
1359)  übersetzt  und  dadurch  zuerst  indische  Volkskunde  in 
China  bekannt  gemacht.  Mehrere  sehr  interessante  Studien 
über  den  buddhistischen  Patriarchen  Vasubandhu  und  den 
Verkündiger  seiner  Lehre  in  China,  Paramärtha,  hat  der  japa- 
nische Gelehrte  J.  Takakusu  veröffentlicht.  Vasubandhu  ist 
für  das  Studium  der  buddhistischen  Dogmatik  von  besonderer 
Wichtigkeit.  Bis  in  sein  hohes  Alter  hinein  ein  Anhänger  und 
Vorkämpfer  der  Sarvästiväda- Schule,  also  des  Hinayäna,  wurde 
er  später  von  seinem  Bruder  Asanga  zum  Mahäyäna  bekehrt; 
und  da  wir  Werke  von  ihm  aus  beiden  Perioden  seiner  Ent- 
wicklung besitzen,  so  ist  er  ein  lehrreicher  Wegweiser  für  das 
Studium  beider  Systeme.  Als  Hinayänist  verfaßte  Vasubandhu 
die  Paramärtha-saptati  zur  Bekämpfung  der  Sämkhya- Philo- 
sophie (in  der  Sämkhya-saptati),  aus  der  Buddha's  Lehre  hervor- 
ging, während  aus  seiner  Mahäyäna -Zeit  eine  große  Anzahl  von 
Kommentaren,  z.  B.  zum  Saddharmapundarika -  sütra  (vgl. 
Bunyiu  Nanjio's  Katalog  Nr.  1232  und  1233),  und  von  eigenen 
Sästras,  z.  B.  der  Vijnänamätra-siddhi  (ibid.  Nr.  1238 — 1240), 
erhalten  sind.  Der  eifrigste  Verbreiter  von  Vasubandhu's 
L|hren  und  Werken  in  China  war  der  indische  Mönch  Para- 
märtha,  der  auch  eine  Lebensbeschreibung  seines  Meisters 
übersetzt  und  vermutlich  auch  verfaßt  hat  (ibid.  Nr.  1463). 
Diese  Lebensbeschreibung  hat  Takakusu  ins  Englische  über- 
setzt unter  dem  Titel  „The  Life  of  Vasu-bandhu  by  Para- 
märtha  (A.  D.  499—569)"  in  der  T'oung  Pao  Ser.  II  Bd.  V 
(1904)  S. 269 -296.  Daran  schließt  sich  ein  Aufsatz:  „A  Study 
of  Paramärtha's  Life  of  Vasu-bandhu,  and  the  Date 
of  Vasu-bandhu"  im  Journal  R.  A.  S.  1905  S.33— 53.  Para- 
märtha  kam  auf  Einladung  des  Kaisers  Wu  ti  von  der  Liaug- 
Dynastie  i.  J.  548  nach  Nanking  und  starb  in  Kanton  i.  J.  569, 
nachdem  er  eine  große  Anzahl  indischer  Werke   in  das  Chine- 


Die  religions wissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    137 

sische  übersetzt  hatte.  Takakusu  stellt  aus  den  Angaben 
Paramärtha's  in  Verbindung  mit  anderen  Umständen  zuverlässig 
fest,  daß  Vasubandhu  vor  546,  wahrscheinlich  aber  etwa  von 
420 — 500  (er  wurde  achtzig  Jahre  alt)  gelebt  hat.  Danach 
ließe  sich  das  Datum  für  Isvarakrsna,  den  Verfasser  der  Säm- 
khyakärikä,  auf  etwa  450  ansetzen.  Dieses  Werk,  das  älteste 
über  die  Sämkhya- Philosophie,  das  uns  erhalten  ist,  hat 
Paramärtha  ebenfalls  in  das  Chinesische  übersetzt.  Takakusu 
hat  diese  Übersetzung  zum  Gegenstande  einer  umfangreichen 
Abhandlung  gemacht  mit  dem  Titel  „La  Sämkhyakärikä 
etudiee  ä  la  lumiere  de  sa  version  chinoise"  im  Bull.  Ec. 
fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  IV  (1904)  S.  1—65  und  S.  978—1064.  Der 
erste  Teil  enthält  die  Untersuchungen  des  gelehrten  Verfassers 
über  den  Text  des  Werkes  und  seiner  beiden  Kommentare,  über 
das  Leben  des  Vasubandhu,  der  einer  chinesischen  Überlieferung 
zufolge  einen  Kommentar  zu  der  Kärikä  und  dann  eine  Gegen- 
schrift, die  Paramärtha-saptati,  darüber  verfaßt  haben  soll,  und 
schließlich  über  das  Leben  des  Paramärtha.  Der  zweite  Teil 
gibt  dann  eine  französische  Übersetzung  der  Sämkhyakärikä 
oder,  wie  der  Titel  nach  dem  chinesischen  Text  wiederzugeben 
ist,  der  Suvarna-saptati  nebst  Kommentar.  Zwischen  den  An- 
hängern der  Sämkhya -Philosophie  und  den  Buddhisten  bestand 
zur  Zeit  Vasubandhu's  lebhafte  Gegnerschaft,  und  die  bud- 
dhistische Überlieferung  weiß  von  einer  großen  Disputation  beider 
vor  dem  König  Vikramäditya  zu  erzählen,  in  der  die  Buddhisten 
anfänglich  unterlagen,  bis  Vasubandhu  auftrat  und  ihnen  den 
Sieg  verschaffte.  (Vergl.  St.  Julien,  Memoires  etc.  Bd.  I  S.  117f.) 
Über  diese  Disputation  hat  außer  Paramärtha  und  Hüan  Tsang 
auch  der  chinesische  Mönch  K'uei"  Ki,  ein  Schüler  Hüan  Tsang's 
(632 — 682),  einen  Bericht  hinterlassen  in  seinem  Kommentar  zu 
Vasubandhu's  Vijnänamätra-siddhi.  Takakusu  hat  diesen  in 
einem  besonderen  Aufsatze:  „K'uei-Chi's  Version  of  a 
Controversy  between  the  Buddhist  and  the  Sämkhya 
Philoso phers'S  in  der  T^oung  Pao  Ser.  II  Bd.  V  (1904) 
S.  461 — 466,  behandelt.     Mit  Recht  nimmt  er  an  dem  Bericht 


138  0.  Franke 

Anstoß,  daß  Yasubandliu  einen  Kommentar  zu  der  Sämkhya- 
kärikä,  also  einem  Werke  seiner  Gegner,  geschrieben  haben 
soll,  und  vermutet,  daß  hier  eine  Verwechslung  der  beiden 
Namen  Sämkhya-saptati  (=  Sämkhyakärikä)  und  ParamSrtha- 
saptati  (Vasubandhu's  Gegenschrift)  vorliegt.  —  Eine  andere 
chinesische  Übersetzung  Paramärtha's ,  nämlich  die  von 
Asvaghosa's  Mahäyänasraddhotpäda-sästra  (Nanjio's  Katalog 
Nr.  1249 — 50)  hat  zwei  Bearbeiter  gefunden.  Teitaro  Suzuki, 
„Asvaghosha's  Discourse  on  the  Awakening  of  Faith 
in  the  Mahäyäna"  (Chicago  1900)  gibt  eine  sehr  lehrreiche 
Einleitung  und  dann  eine  englische  Übersetzung  des  Textes. 
In  der  Einleitung  erörtert  er  die  Tätigkeit  und  das  vermutliche 
Datum  des  Asvaghosa,  das  von  besonderer  Bedeutung  ist  wegen  der 
Verbindung  des  Patriarchen  mit  dem  König  Kaniska,  kommt  aber 
auch  zu  keinem  genaueren  Ergebnis ,  als  daß  Asvaghosa 
zwischen  der  zweiten  Hälfte  des  1.  Jahrh.  v.  Chr.  und 
dem  Jahre  80  n.  Chr.  gelebt  haben  muß.  Von  dem  (verlorenen) 
Sanskrit -Werke  gibt  es  außer  der  Übersetzung  von  Paramärtha 
noch  eine  von  Siksänanda  aus  Khotan,  der  i.  J.  700  nach  China 
kam.  Suzuki  vermutet,  daß  beiden  Übersetzungen  verschiedene 
Redaktionen  zugrunde  gelegen  haben.  Eine  zweite  englische 
Übersetzung  desselben  Werkes  stammt  von  Timothy  Richard 
und  Yang  Wen  Hui,  „The  Awakening  of  Faith  in  the 
Mahäyäna  Doctrine  —  The  New  Buddhism"  (Shanghai 
1907).  Richard  ist  ein  temperamentvoller  Missionar  und  be- 
trachtet daher  das  Mahäyäna-System  von  seinem  eigenen  Stand- 
punkte aus.  Er  hält  es  für  eine  mittelasiatische  Form  des 
Christentums,  mit  dem  es  zusammen  aus  Babylon  kam,  wo 
„einige  von  den  jüdischen  Propheten  ihre  wunderbaren  Visionen 
von  dem  kommenden  Reiche  Gottes  niederschrieben!"  Über 
Asvaghosa  selbst  sagt  er  nur,  „alle  stimmen  darin  überein", 
daß  er  ein  Zeitgenosse  des  Königs  Kaniska  war,  der  im 
1.  Jahrh.  n.  Chr.  lebte,  und  daß  er  der  Gründer  der 
Mahäyäna -Schule  war.  „Alle  stimmen  darin  überein"  ist  eine 
von  den  beliebten  englischen  Wendungen,  deren  man  sich  be- 


I 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    139 

dient,  wenn  man  etwas  sagen  will,  was  man  nicht  genau  kennt 
oder  was  man  nicht  beweisen  kann.  Über  die  Zeit  von 
Kaniska  ist  die  Übereinstimmung  durchaus  nicht  so  allgemein 
wie  Richard  annimmt,  und  als  Begründer  des  Mahäyäna- 
Systems  gilt  für  gewöhnlich  Nägärjuna.  Eine  andere  Über- 
setzung von  Richard,  „Guide  to  Buddhahood,  being  a 
Standard  Manual  of  Chinese  Buddhism"  (Shanghai  1907), 
ist  mir  leider  nicht  zugänglich.  Ich  weiß  daher  nicht,  um 
welches  chinesische  Werk  es  sich  hierbei  handelt.  Ebenso  habe 
ich  die  beiden  Arbeiten  von  Paul  Carus,  „Amithaba,  a  Story 
of  Buddhist  Theology"  und  „The  Buddha's  Nirvana. 
A  Sacred  Buddhist  Picture  by  Wu  Tao-tsze"  nicht  er- 
halten können.  —  Die  Übersetzung  eines  erst  später  in  den 
buddhistischen  Kanon  aufgenommenen  chinesischen  Werkes 
kündigt  H.  Hackmann  an  in  einem  Aufsatz  „Pai  chang 
ch'ing  kuei,  The  Rules  of  Buddhist  Monastic  Life  in 
China"  in  der  T'oung  Pao  Ser.  II  Bd.  IX  (1908)  S.  651—662. 
Das  Pai-chang  t^sing  kuei  ist  eine  Sammlung  von  Vorschriften 
für  das  mönchische  Leben  im  Kloster  und  zugleich  eine  Art 
Festkalender.  Die  Angaben  Nanjio's  (Katalog  Nr.  1642)  über 
die  Entstehung  des  Werkes  weichen  wesentlich  ab  von  denen, 
die  Hackmann  macht.  Nicht  recht  verständlich  erscheint  es, 
warum  Hackmann  sich  des  Englischen  bedient  anstatt  seiner 
deutschen  Muttersprache.  —  Dem  buddhistischen  Aeskulap 
widmet  Paul  Pelliot  eine  Studie  „Le  Bhaisajyaguru"  im 
BuU.  Ec.  fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  DI  (1903)  S.  33—37.  Der  Bhaisa- 
jyaguru ist  ein  Buddha  und  führt  im  Chinesischen  den  wört- 
lich übersetzten  Namen  Yao-shi  d.  h.  „Herr  der  Heilkunde".  Er 
ist  eine  in  China  wie  in  Japan  und  Tibet  sehr  volkstümliche 
Gottheit.  Ein  Sütra,  das  von  ihm  handelt,  die  Bhaisajyaguru- 
vaidürya-prabhä,  ist  zwar  im  Sanskrit  nicht  mehr  erhalten, 
wohl  aber  in  mehreren  chinesischen  und  tibetischen  Über- 
setzungen. (Vgl.  Nanjio  Nr.  170 — 173.)  PeUiot  hält  es  nicht 
für  ausgeschlossen ,  daß  sich  eine  Sanskritversion  mit  tibetischer 
Schrift  in  den  Tripitika-Sammlungen  der  Ming-Dynastie  befand. 


140  0.  Franke 

Übrigens  hat  sich,  was  Pelliot  entgangen  zu  sein  scheint,  schon 
J.  J.  M.  de  Groot  über  den  Yao-shi  und  sein  Sütra  aus- 
gesprochen. (S.  Le  Code  du  Mahäyäna  en  Chine  S.  157  f.)  — 
Gleichfalls  von  Pelliot  stammt  eine  Studie  über  zwei  bud- 
dhistische Sekten,  die  beide  eine  politische  Tätigkeit  ausgeübt 
haben,  und  von  denen  die  eine  als  berühmte  Geheimgesellschaft 
noch  heute  besteht:  „La  Secte  du  Lotus  blanc  et  la  Secte 
du  Nuage  blanc"  im  Bull.  Ec.  fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  III  (1903) 
S.  304—317  und  Bd.  IV  (1904)  S.  436—440.  .  Die  Sekte  des 
„weißen  Lotus",  die  öfters  die  Anstifterin  politischer  Umtriebe 
gewesen  ist  und  noch  1900  bei  den  „Boxer "-Wirren  beteiligt 
gewesen  sein  soll  (vgl.  Parker,  China,  her  History,  Diplomacy 
and  Commerce  S.  291),  wurde  im  Jahre  1133  gegründet,  während 
die  Sekte  der  „Weißen  Wolke"  (so  genannt  nach  einem  bud- 
dhistischen Kloster  in  der  Nähe  von  Hangchou),  die  in  der 
Geschichte  weniger  hervorgetreten  ist,  bereits  i.  J.  1108  ent- 
stand. Beide  Sekten  haben  ihre  Hauptwirksamkeit  unter  der 
Sung-  und  Yuan  -  Dynastie  (bis  1341)  entfaltet.  —  Durch  die 
russischen  und  deutschen  Ausgrabungen  im  Turfan-Gebiet  von 
Ost  -  Turkistän  sind  auch  manche  für  die  Geschichte  des  Bud- 
dhismus wertvolle  Denkmäler  ans  Licht  gebracht  worden.  Schon 
die  von  Klementz  geleitete  russische  Expedition  von  1898 
brachte  Schriftstücke  in  uigurischer  (alt- türkischer)  Sprache 
mit,  die  von  Radioff  als  Fragmente  buddhistischer  Werke  er- 
kannt wurden  (vergl.  Nachrichten  über  die  von  der  Kaiserl. 
Akad.  d.  Wiss.  zu  St.  Petersburg  i.  J.  1898  ausgerüstete 
Expedition  nach  Turfan  Heft  I  S.  68  ff.).  Das  hierdurch  dar- 
getane Vorhandensein  einer  uigurischen  buddhistischen  Literatur 
wurde  bestätigt  durch  einen  interessanten  Fund,  von  dem 
Berthold  Laufer  in  einem  Aufsatze,  „Zur  buddhistischen 
Literatur  der  Uiguren",  in  der  T^oung  Pao  Ser.  II  Bd.  VIII 
(1907)  S.  391 — 409  Mitteilung  macht.  Laufer  fand  in  einem 
tibetischen  Sütra  ein  Kolophon,  wonach  die  chinesische  Aus- 
gabe dieses  Sütras,  das  den  Titel  Pei-tou  t^si  sing  king  d.  h. 
„Sütra  von  dem  Siebengestirn  des  Großen  Bären"  führt,    i.  J. 


Die  religionswissenBchaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    141 

1330  von  Alin-Temur  in  das  Uigurische  übersetzt  und  in 
tausend  Exemplaren  gedruckt  wurde.  Das  Sütra  sei  von  Hüan 
Tsang  aus  Indien  mitgebracht  und  in  China  übersetzt  worden. 
Es  findet  sich  in  Nanjio's  Katalog  des  Tripitaka  nicht  auf- 
geführt, scheint  also  nicht  für  kanonisch  angesehen  zu  sein: 
vielleicht  ist  es  aber  in  den  älteren  Sammlungen  der  Ming 
enthalten.  Ein  Verzeichnis  der  von  Hüan  Tsang  mitgebrachten 
657  Werke  (vergl.  Edkins,  Chinese  Buddhism  S.  11 8  f.)  besitzen 
wir  auch  nicht,  so  daß  sich  also  der  Sanskrit -Titel  vorläufig 
nicht  ermitteln  läßt.  Die  von  Radioff  übersetzte  Stelle  eines 
uigurischen  buddhistischen  Fragments  findet  sich  in  der  tibe- 
tischen Version  des  Sütras  nicht.  Inzwischen  ist  die  von  Laufer 
ausgesprochene  Hoffnung,  daß  bei  der  weiteren  Forscherarbeit 
in  Turkistän  der  buddhistische  Kanon  oder  wenigstens  Teile 
davon  in  uigurischer  Sprache  ans  Licht  kommen  möchten, 
ihrer  Erfüllung  näher  gebracht  worden.  Die  letzte  Königl. 
Preußische  Turfan- Expedition  hat  eine  Menge  größerer  uigu- 
rischer Bruchstücke  mitgebracht,  und  unter  diesen  hat  F.  W. 
K.  Müller  die  Teile  eines  anderen  Sütras  gefunden,  die  er  in 
einer  Abhandlung,  üigurica,  in  den  Abhandig.  d.  Königl.  Preuß. 
Akad.  d.  Wiss.  vom  Jahre  1 908  S.  10—35  bekannt  gibt.  Es  handelt 
sich  hier  um  das  Suvarnaprabhäsa- sütra,  und  zwar  um  die  von 
I  Tsing  in  das  Chinesische  übersetzt«  Redaktion  Suvarnaprabhä- 
sottamaräja-sütra  (Xanjio's  Katalog  Xr.  126;  ich  weiß  nicht,  woher 
Müller  den  Titel  Suvarna-prabhäsa-uttama- sütra  indra-räja  hat). 
Ob  auch  diese  uigurische  Übersetzung  nach  dem  chinesischen  Text 
angefertigt  ist  oder  nach  dem  Sanskrit,  wird  sich  erst  dann 
entscheiden  lassen,  wenn  man  das  Datum  der  Übersetzung 
kennt.  Die  von  Laufer  auf  Grund  einer  Bemerkung  Grün- 
wedeis  (Mythologie  des  Buddhismus  S.  «>6)  wiederholte  Angabe, 
daß  unter  den  Mönchen,  die  auf  Befehl  des  Kaisers  Kubilai 
(13  Jahrh.)  buddhistische  Schriften  übersetzten,  auch  solche 
gewesen  seien,  die  uigurisch  verstanden,  wird  durch  die  chine- 
sischen Historiker  bestätigt.  In  den  Yuan-Annalen  (Yuan  shi 
Kap.  134  fol.  18r°)  wird  von  dem  Uiguren  Ka-la-na-ta-sse  er- 


142  0.  Franke 

zählt,  daß  er  auf  Befehl  des  Kaisers  Shi-tsu  (Kubilai  1280 — 94) 
zusammen  mit  dem  buddhistischen  Reichsprälaten  (kuo-shi), 
einem  Tibeter,  „indische  und  tibetische  Sütras  in  uigurische 
Schrift  übertragen"  mußte.  Von  einer  anderen  Übersetzung 
wird  aus  dem  14.  Jahrh.  berichtet  (Yuan  shi  Kap.  202 
fol.  3v°).  Ein  sprachkundiger  Mann  aus  Bishbalik,  namens 
Ka-le-wa-mi-ti-li,  später  Pi-lu-tsa-na-shi-li  genannt,  der  seit 
seiner  Jugend  das  Uigurische  und  das  Sanskrit  verstand,  erhielt 
1312  oder  1313  den  kaiserlichen  Befehl,  die  Sanskrit- Sütras 
zu  übersetzen.  Die  Arbeit  wurde  während  der  Periode  Yen-You 
(1314 — 1320)  beendet.  Pi-lu-tsa-na-shi-li  könnte  mit  dem 
Prajnasri  identisch  sein,  der  in  dem  tibetischen  Kolophon  als 
mongolischer  Übersetzer  erwähnt  wird.  (Vergl.  auch  Edkins, 
Chinese  Buddhism  S.  149.)  —  Eine  ebenfalls  im  Turfan-Gebiet 
ausgegrabene  große  buddhistische  Steininschrift  ist  von  mir 
übersetzt  und  erklärt  worden  in  der  Abhandlung  „Eine  chine- 
sische  Tempelinschrift  aus  Idikutsahri  bei  Turfan"  in 
dem  Anhang  zu  den  Abhandlungen  der  Königl.  Preuß.  Akad. 
d.  Wiss.  vom  Jahre  1907.  Die  Inschrift  stammt  aus  dem 
Jahre  469  und  feiert  den  Ruhm  des  Maitreya  Buddhn,  und 
eines  türkischen  Landesfürsten.  Sie  gibt  ein  gutes  Bild  davon, 
wie  sich  die  buddhistische  Dogmatik  jener  Zeit  in  weitgehendem 
Maße  der  Terminologie  der  Taoisten  bediente. 

Vom  Lamaismus  hat  sein  gründlichster  Kenner,  A.  Grüu- 
wedel,  eine  ausgezeichnete  knappe,  aber  sehr  klare  Skizze  in 
der  „Kultur  der  Gegenwart",  Teill,  Abt.  IIl  (1906),  S.  136-161: 
„Der  Lamaismus",  gegeben.  Neben  einem  Abriß  der  Ge- 
schichte Tibets,  mit  der  die  Entwicklung  des  Lamaismus  vielfach 
zusammenfällt,  beschreibt  Grünwedel  mit  wenigen  Zügen  das 
Wesen  dieses  Religionsgemisches,  „aus  spätindischem  Buddhis- 
mus und  einer  überwiegenden  Zutat  von  Mythologie,  Mystizis- 
mus und  Magie",  wie  es  von  Padmasambhava  und  Säntiraksita 
um  die  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  begründet  und  zur  Bekämpfung 
der  älteren  Bon- Religion  in  Tibet  eingeführt  wurde.  Zum 
Schluß    erörtert    er    das   Verhältnis   zwischen   Lamaismus    und 


Die  religionswissenschaftliche  Literatizr  über  China  seit  1900    143 

Europäertum.  Eine  grundlegende  wissenschaftliche  Arbeit  hat 
Grünwedel  aber  geliefert  in  seinem  Werke:  „Mythologie  des 
Buddhismus  in  Tibet  und  der  Mongolei"  (Leipzig  1900). 
Das  Buch  beansprucht  nur  ein  „Führer  durch  die  lamaistische 
Sammlung  des  Fürsten  E.  üchtomskij"  zu  sein,  es  ist  aber  in 
Wirklichkeit  weit  mehr  als  das:  an  der  Hand  zahlreicher  Ab- 
bildungen, von  denen  nur  ein  Teil  Stücke  aus  der  genannten 
Sammlung  wiedergibt,  führt  der  Verfasser  seinen  Leser  durch 
das  ganze  lamaistische  Pantheon  mit  allen  seinen  phantastischen 
Verzerrungen,  und  die  ausführlichen  Erklärungen  bilden  einen 
wahren  Thesaurus  für  das  Studium  der  tibetischen  Mythologie 
und  Ikonographie.  (Vergl.  die  Besprechungen  in  der  T^oung 
Pao  Ser.  II  Bd.  I  S.  349  ff.,  Journal  China  Brauch  R.  A.  S., 
Bd.  XXXin,  Heft  3,  S.  60ff  und  BuU.  Ec.  fr.  d'Extr.  Or. 
Bd.  I,  S.  144  f.)  —  über  die  vorlamaistische  Bon -Religion  in 
Tibet  und  Padmasambhava's  Stellung  dazu  hat  sich  Berthold 
Lauf  er  in  zwei  Arbeiten  ausführlicher  geäußert.  In  der  einen, 
„Über  ein  tibetisches  Geschichtswerk  der  Bonpo"  in  der 
T'oung  Pao  Ser.  II  Bd.  II  (1901),  S.  24—44,  behandelt  er  ein 
tibetisches  Werk,  in  dem  der  Ursprung  der  Bon- Religion,  ihre 
Dauer  und  Ausbreitung  und  ihr  Verfall  dargestellt  werden. 
Laufer  gibt  von  dem  einen  Kapitel  des  Buches  eine  Über- 
setzung, in  dem  die  Kämpfe  zwischen  den  altnationalen  Parteien 
und  dem  eindringenden  Buddhismus  in  der  Zeit  von  740 — 786 
geschildert  werden.  Eine  Ergänzung  hierzu  bildet  die  andere 
Arbeit:  „DieBru-za-Sprache  und  die  historische  Stellung 
des  Padmasambhava"  in  der  T'oung  Pao  Ser.  II,  Bd.  IX 
(1908),  S.  1 — 46.  Mit  Bru-za  identifiziert  Laufer  das  heutige 
Dardistän  mit  Giligit  am  oberen  Indus.  Die  uns  bis  jetzt 
noch  verschlossene  Bru-za -Sprache  wird  in  der  tibetischen 
Literatur  häufig  erwähnt.  Es  hat  auch  vermutlich  eine  Bru-za- 
Schrift  und  sicher  eine  Bru-za -Literatur  gegeben;  und  zwar 
sollen  fast  alle  Schriften  der  Bon-Religion  in  diesem  Alphabet 
abgefaßt  gewesen  sein.  Es  scheint  dies  auf  eine  engere  Be- 
ziehung  dieser   Religion   zu   dem   Lande   Bru-za    hinzudeuten, 


144  0.  Franke 

zumal  das  letztere  nach  climesischen  Quellen  noch  im  8.  Jahrh. 
unter  tibetischer  Herrschaft  stand.  Die  Bon -Religion  selbst, 
sagt  Laufer,  ist  keine  tibetische,  sondern  eine  fremde,  die 
auf  persischer  Grundlage  ruht,  mit  allen  möglichen  fremden 
Elementen  vermischt  in  Dardistän  entwickelt  wurde  und  von 
da  zunächst  in  das  westliche  und  schließlich  in  das  zentrale 
Tibet  gelangte.  Unmittelbar  südwestlich  an  Gilgit  nun  schloß 
sich  das  Land  Udyäna,  und  hier  begann  die  erste  Wirksamkeit 
des  Padmasanibhava,  der  dann  zur  Bekämpfung  der  Bon -Reli- 
gion nach  Tibet  berufen  wurde.  Auf  Grund  der  Berichte  der 
tibetischen  Königsannalen  (rGyal-rabs)  kommt  Laufer  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  große  Bedeutung,  die  Padmasambhava  im 
Laufe  der  Zeit  im  System  des  Lamaismus  erhalten  hat,  erst 
das  Erzeugnis  einer  späteren  Periode  ist.  Er  habe  den  Ruf 
eines  gefürchteten  Dämonenbezwingers  gehabt  und  sei  als 
solcher  populär  geworden,  das  eigentliche  fruchtbare  geistige 
Element  aber  sei  ein  anderer  buddhistischer  Lehrer  gewesen, 
der  mit  Padmasambhava  gleichzeitig  in  Tibet  gewirkt  habe, 
nämlich  Säntiraksita.  So  sei  dieser  als  der  eigentliche  Vater 
des  Lamaismus  anzusehen,  Padmasambhava  aber  habe  nur  zu 
einer  bestimmten  Richtung  darin  den  Anstoß  gegeben,  nämlich 
zu  dem  formelhaften  Zauberwesen  und  der  Teufelaustreibung. 
Mit  chinesischer  Volksreligion  und  Volkskunde  im  all- 
gemeinen beschäftigen  sich  mehrere  Arbeiten  von  verschiedenem 
Werte.  Frau  E.  T.  Williams  hat  sich  der  dankenswerten 
Aufgabe  unterzogen,  religiöse  Volksschriften  zu  sammeln,  von 
denen  sie  einige  in  ihrem  Aufsatze:  „Some  Populär  Religious 
Literature  of  the  Chinese"  im  Journal  China  Brauch  R.  A.  S.J 
Bd.  XXXIII  (1900—1901),  HeftI,  S.  11  —  29  mitteilt.  Die 
Verfasserin  hat  festgestellt,  daß  diese  Literatur  in  China  außer- 
ordentlich reichhaltig  ist  und  sich  beständig  erneuert.  SiSj 
zeichnet  sich  aus  durch  eine  große  Duldsamkeit  gegenüber  allen] 
herrschenden  Religionssystemen  im  Reiche  und  bildet  so  einen 
wohltuenden  Gegensatz  zu  der  eifernden  Gehässigkeit,  mit  der 
christliche  Bekenntnisse  sich  befehden.     Konfuzianische,  taois- 


Die  religionswiflsenschaftliche  Literatnr  über  China  seit  1900    145 

tische   und  buddhistische  Elemente  werden  ohne  Parteilichkeit 
aufgenommen:   wir  finden  die  Lehren  der  Pietät  vereinigt  mit 
den  Mahnunoren  zu  freundlicher  Geduld  dem  vorher  bestimmen- 
den  Schicksal   gegenüber  und  mit  Lobpreisungen  für  die  bud- 
dhistische Kuan-yin,  die  Helferin  in  allen  Nöten.     Sehr  viele 
von   den   kleinen  Schriften  sind   in   poetischer  Form   gehalten, 
wohl   in   der  Annahme,   daß   die  Yerse  und  Reime  sich  besser 
dem  Gedächtnis   einprägen.     Eine  große  Rolle  spielt  in  dieser 
Literatur  auch  der  Küchen-  oder  Herd-Gott.     Diesem  chinesi- 
schen Lar  hat  A.  Xagel,  .,Der  chinesische  Küchengott" 
in  diesem  Archiv  Bd.  XI  (1908),  S.  23 — 43,  einen  besonderen 
Aufsatz   gewidmet,   der   allerdings   zum   großen  Teil  mit  einer 
älteren  Arbeit   De   Groots   übereinstimmt.      (Vergl.  De  Groot, 
Les  fetes  annuellement  celebrees  ä  Emoui.    Annales  du  Musee 
Guimet  Bd.  XI— XII,  S.  449  ff.  und  in  diesem  Archiv  XII,  S.  145.) 
Der  Ursprung  des  Küchengottes  (im  Chinesischen  hat  er  die  Be- 
zeichnungen tsao-shefi,  tsao-tcang  oder  tsac-kün)  geht  ztirück 
in  die  mythische  Vorzeit.     Er  ist  der  Gott  des  Herdfeuers,  der 
Schutzpatron  des  Hauses,  aber  auch  der  streuge  Wächter  über 
die    Sitten    der    Bewohner.      Der   Buddhismus    hat    sich    dann 
später    seiner    bemächtigt   und    seinen    Kultus    ausgeschmückt. 
Nagel  wie  De  Groot  vergleicht  seine  religionsgeschichtliche  Be- 
deutung  mit    der   des   vedischen   Agni.  —  Eine   umfangreiche 
Sammlung  volkstümlicher  Sagen,  Legenden  und  Märchen  gibt 
der    englische   Missionar   John    Macgowan    unter    dem   Titel 
„Chinese    Folk-lore"    in    einzelnen    Abschnitten    in    der    zu 
Shanghai  erscheinenden  Zeitschrift:  „The  North -China  Herald" 
heraus.    Es  ist  anzunehmen,  daß  das  Werk  später  in  Buchform 
erscheinen  wird.  —  Einen  sehr  wertvollen  Beitrag  zur  Kennt- 
nis des  chinesischen  Volkstums  hat  W.  Grube  geliefert  durch 
sein  Werk  „Zur  Pekinger  Volkskunde"  (Veröffentlichungen 
aus    dem    Königlichen    Museum    für    Völkerkunde,    Bd.    VII, 
Heft  1 — 4.     Berlin  1901).     Die  Arbeit,  der  persönliche  Studien 
in  Peking   zugrunde   liegen,   gibt  eine  gründliche  fachkundige 
Darstellung  der   Gebräuche  bei  Geburten,   Hochzeiten,   Todes- 

ArchiT  f.  Religionswissenschaft  XIH  JQ 


146  0-  Franke 

fällen  und  Ahnenopfem,  sowie  der  Jahresfeste  und  Volks- 
belustigungen. Es  ist  eine  bedauerliche  Kurzsicbtigkeit  der 
Museums  Verwaltung,  dieses  Werk  zu  einem  Preise  in  den 
Buchhandel  zu  geben,  der  eigentlich  nur  für  Bibliotheken  er- 
schwinglich ist.  Aus  diesem  Grunde  hat  es  nicht  annähernd 
die  Verbreitung  gefunden,  die  es  verdient.  Angeregt  durch 
Grube's  Werk,  hat  der  Missionar  Georg  M.  Stenz  sich  ähn- 
lichen Studien  in  seinem  Bezirke  gewidmet  und  die  Ergebnisse 
in  einer  Schrift  „Beiträge  zur  Volkskunde  Süd-Shantungs" 
(Veröffentlichungen  des  städtischen  Museums  für  Völkerkunde 
zu  Leipzig,  Heft  I.  Leipzig  1907)  niedergelegt,  die  von 
A.  Conrady  herausgegeben  und  mit  einer  Einleitung  versehen 
ist.  Die  Arbeit  lehnt  sich  in  ihrer  Art  und  Einteilung  an  das 
Werk  von  Grube  an  und  sollte  andere  Missionare  zur  Nach- 
ahmung anspornen.  Beide  Werke  zeigen  deutlich,  wie  fest 
buddhistische  und  noch  mehr  taoistische  Lehren  und  Bezeich- 
nungen mit  dem  chinesischen  Volkstum  verwachsen  sind.  — 
Etwas  enger  gefaßt  ist  der  gleiche  Gegenstand  in  der  Ab- 
handlung von  Ernest  Box,  „Shanghai-Polk-lore"  im  Journ. 
China  Brauch  R.  A.  S.,  Bd.  XXXIV  (1901—1902),  S.  101—135. 
Hier  werden  lediglich  die  religiösen  Anschauungen  und  Ge- 
bräuche geschildert,  wie  sie  im  Leben  des  Volkes,  und  zwar 
in  der  Provinz  Kiangsu,  bei  allen  kleinen  und  großen  Er- 
eignissen sich  geltend  machen.  —  Lokale  Totenbräuche  be- 
handelt Gilbert  Walshe  in  einem  Aufsatz  „Some  Chinese 
Funeral  Customs"  in  derselben  Zeitschrift,  Bd.  XXX Vj 
(1903—1904),  S.  26—64.  Hier  handelt  es  sich  um  die  Provii 
Chekiang,  namentlich  die  Präfekturen  Ningpo  und  Shaohinj 
Der  Verfasser  gibt  eine  genaue  Beschreibung  aller  Riten  un^ 
Bräuche  von  der  Sterbestunde  bis  zum  T'sing-ming-Tag€ 
d.  h.  bis  zum  Ende  des  ersten  Jahres  nach  dem  Tode.  Aucl 
hier  zeigt  sich  deutlich,  wie  buddhistische  und  taoistische  Voi 
Stellungen  durcheinander  gehen,  wie  denn  auch  Priester  beider" 
Religionen  vor  und  bei  dem  Begräbnis  abwechselnd  tätig  sind. 
Der   oben  erwähnte  Dualismus  der  Seele   tritt  wieder   in  der 


Die  religionswiasenschaftliche  Literatur  über  China  seit  1900    147 

Auffassung  von  dem  Vorgang  des  Sterbens  in  die  Erscheinung: 
der  Jnin  steigt  hinauf  in  den  Äther,  der  po  hinab  in  die  Erde. 
(Vergl.  Grube,  Pekinger  Totenbräuche  im  Journal  of  the  Peking 
Oriental  Society  Bd.  IV,  S.  79  £f.)  —  Wie  Walshe  das  Ende  des 
Lebens,  so  behandelt  J.  Dols  den  Anfang  in  „L'enfance  chez 
les  Chinois  de  la  province  de  Kan-sou"  im  „Anthropos" 
Bd.  III  (1908),  S.  761—770.  Er  schüdert  die  Gebräuche  bei 
und  nach  der  Geburt,  die  Namengebung  des  Kindes  und  den 
ersten  Unterricht;  daneben  auch  die  von  den  Chinesen  in  Eansu 
angewandten  Mittel  zur  Verhinderung  der  Empfängnis,  zur 
Abtreibung  und  zur  Fruchtbarmachung  unfruchtbarer  Frauen. 
In  demselben  Bande  der  gleichen  Zeitschrift  S.  14 — 18  findet 
sich  eine  kurze  Notiz  von  A.  Volpert  über  „Gräber  und 
Steinskulpturen  der  alten  Chinesen"  (mit  Abbildungen), 
die  in  Süd-Shantung  aufgedeckt  sind.  Es  handelt  sich  um 
Steingräber  oder  vielmehr  Steinkisten  und  um  Grabkammem 
von  Zimmergröße,  die  aus  der  Zeit  der  Hau -Dynastie  (206  v. 
Chr.  bis  220  n.  Chr.)  stammen  soUen.  Sehr  bunten  Inhalts, 
aber  arm  an  Neuem  sind  die  beiden  Bücher  von  Paul  Carus, 
„Chinese  Life  and  Customs"  und  „Chinese  Thought" 
(beide  Chicago  1907).  Das  erste  ist  eine  Zusammenstellung  von 
chinesischen  Bildern  aus  einem  japanischen  Werke  mit  mehr 
oder  weniger  oberflächlichen  und  zum  Teil  mißverständlichen 
Erklärungen.  Das  zweite  enthält  vermischte  Angaben  über 
chinesische  Schrift,  Wahrsage  kirnst,  Astronomie  u.  a.  und  am 
Schluß  die  unvermeidliche  Erörterung  der  „chinesischen  Frage". 
Literatur  dieser  Art  gibt  es  die  Fülle  über  China,  es  war  un- 
nötig, sie  zu  vermehren.  —  Eine  interessante  kleine  Studie 
über  die  Miao-tse  in  der  Provinz  Kue'ichou,  Ureinwohner  im 
südwestlichen  China,  hat  Geo.  Edgar  Betts  unter  dem  Titel 
„Social  Life  of  the  Miao  tsi"  im  Journal  China  Brauch  ILA.  S 
Bd.  XXXIII  (1900—1901),  Heft  II,  S.  1—21  veröffentlicht.  Der 
Verfasser,  ein  Missionar  in  Kueichou,  behandelt  hauptsächlich 
die  Sitten  der  Chung-kia,  des  zahlreichsten  und  anscheinend 
zivilisiertesten   Stammes  der  Miao-tse.     Er  erzählt  von  ihren 

10* 


148  0.  Franke 

Bräuchen  bei  Hochzeiten  und  Todesfällen,  ihren  Festlichkeiten, 
ihrer  Kleidung  und  ihrer  Sprache.  Die  letztere  scheint  sehr 
stark  vom  Chinesischen  beeinflußt  zu  sein,  so  daß  man  zuweilen 
nicht  weiß,  was  in  einem  Satze  ursprünglich  ist.  Eine  eigene 
Schrift  haben  die  Miao-tse  nicht;  soweit  sie  schreiben  können, 
bedienen  sie  sich  chinesischer  Zeichen.  Betts  teilt  auch  mehrere 
Gesänge  in  Übersetzung  mit.  —  Aus  einem  chinesischen  Be- 
richte schöpft  T'ang  Tsai-fou  seine  Mitteilungen  über  „Le 
mariage  chez  une  tribu  aborigene  du  sud-est  du  Yun- 
nan^'  in  der  T'oung  Pao  Ser.  II  Bd.  VI  (1905),  S.  572—622.  Er 
gibt  die  Übersetzung  einer  chinesischen  Abhandlung  über  die 
Hochzeitsbräuche  bei  einem  Stamme  der  Ho-ni  im  äußersten 
Süden  der  Provinz  Yünnan,  die  zu  der  großen  Familie  der 
Thai -Völker  gehören.  Der  Verfasser  dieser  Abhandlung,  der 
Neffe  eines  chinesischen  Beamten  in  Yünnan,  folgte  i.  J.  1660 
seinem  Oheim  auf  seinen  entfernten  Posten  und  heiratete 
i.  J.  1667  selbst  die  Tochter  eines  Häuptlings  von  einem  der 
Ho-ni -Stämme.  Seine  Erzählung  kann  daher  auf  Glaubwürdig- 
keit besonderen  Anspruch  erheben;  und  da  er  sich  nicht  auf  die 
bloße  Schilderung  einer  Hochzeit  beschränkt,  sondern  auch 
zahlreiche  geschichtliche  und  ethnographische  Angaben  beifügt, 
so  ist  das  kleine  Werk  ein  sehr  wertvoller  Beitrag  zur  Kennt- 
nis jener  Gebiete  und  ihrer  nichtchinesischen  Bewohner. 

Über  fremde  Religionen  im  alten  chinesischen  Reiche  sind 
wenige,  aber  bedeutungsvolle  Arbeiten  erschienen.  Die  preußi- 
schen Expeditionen  nach  Turfan  unter  Grünwedel  und  Le  Coq 
haben  außer  vielen  anderen  interessanten  Dingen  auch  Frag- 
mente der  verloren  geglaubten  manichäischen  Literatur  zutage 
gebracht.  Daß  die  iranische  Lehre  des  Mani  in  den  Ländern 
der  üiguren  ihre  Vertreter  hatte,  war  durch  Nachrichten  der 
chinesischen  Historiker  bekannt  (vergl.  „Eine  chinesische  Tempel- 
inschrift aus  Idikutsahri  bei  Turfan"  S.  34),  aber  über  ihre 
Schriftwerke  ist  erst  durch  die  Entdeckungen  F.  W.  K.  Müllers 
einiges  Licht  verbreitet  worden,  der  unter  den  archäologischen 
Funden    von    Turkistän    die    erwähnten    Fragmente    erkannte 


Die  religionswissenschafÜiche  Literatur  über  China  seit  1900    149 

Seine  Aufsehen  erregenden  Mitteilungen  sind  in  den  Berichten 
der  Königl.  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  in  Berlin  erschienen  unter 
dem  Titel:  „Handschriften-Reste  in  Estrangelo-Schrift 
aus  Turfan,  Chinesisch-Turkistän"  (Sitzungsberichte  der 
phüos.-hist.  K\..  1904,  S.  348 — 352  und  Anhang  zu  den  Ab- 
handlungen 1904).  Die  Sprache  dieser  Fragmente  ist  teils 
türkisch,  teils  mittelpersiseh,  die  Schrift  aber  das  sogenannte 
Estrangelo,  eine  modifizierte  syrische  Schrift,  die  auf  Man! 
selbst  zurückgeführt  wird.  Den  von  Müller  veröffentlichten 
Handschriften  konnte  A.  von  Le  Coq  ein  neues  Stück,  und 
zwar  in  uigurischer  Schrift  hinzufügen.  In  seiner  Mitteilung 
„Ein  manichäisch-uigurisches  Fragment  aus  Idiqut- 
Schahri«  (Sitzungsberichte  1908,  S.  398—414)  schreibt  er 
dieses  Dokument  der  Zeit  der  Tang-Dynastie  (618  —  905)  zu. 
Müller  erwähnt  Ln  seinen  VeröflFentlichungen  auch  einige  un- 
bedeutende Fragmente  mit  nestorianischer  Schrift  in  syrischer 
und  türkischer  Sprache.  Das  bestätigt  die  Annahme,  daß  die 
Nestorianer  schon  in  früher  Zeit  Gemeinden  in  Turkistän  und 
China  gehabt  haben  müssen.  Die  Geschichte  dieser  alten,  un- 
gemein lebenskräftigen  christlichen  Sekte  ist  leider  noch  nicht 
so  durchforscht  worden,  wie  sie  es  verdient.  Ein  Franzose, 
Charles-Eudes  Bonin,  hat  i.  J.  1900  das  nordwestliche 
'  liina  zu  dem  Zwecke  bereist,  um  die  Spuren  der  Nestorianer 
aufzusuchen,  aber  YeröfiFentlichungen  über  seine  Erfolge  sind 
mir  nicht  bekannt  geworden.  Von  Ning-hia  in  Kansu  aus  hat  er 
eine  „Note  sur  les  anciennes  Chretientes  Nestoriennes 
de  l'Asie  Centrale"  im  Journ.  As.  Ser.  IX  Bd.  XV  (1900), 
S.  584 — 592  geschrieben,  in  der  er,  in  Anlehnung  an  Deverias 
..Notes  d'epigraphie  mongole-chLnoise"(Joum.As.  Ser.IXBd.VHI, 
S.  94 ff.  und  395 ff.),  eine  sehr  klare  Übersicht  über  die  Ver- 
breitung des  Nestorianertums  gibt.  Im  J.  1265  gab  es  in 
Asien  25  und  im  J.  1349  26  nestorianische  Erzbistümer, 
darunter  solche  in  Turkistän,  Tangut  (d.  h.  damals  Ost -Tibet, 
Kansu,  Shensi  und  Ssechuan)  und  China.  Offenbar  war  auch 
Si-ngan  fu,   unter  der  Mongolen -Dynastie  die  Hauptstadt  von 


150  0.  Franke 

Tangut  und  Fundort  der  berühmten  nestorianisclien  Inschrift 
von  781,  Sitz  eines  Erzbischofs.  Es  scheint  sich  hiernach  im 
13.  und  14.  Jahrh.  eine  Kette  von  christlichen  Gemeinden 
von  Baghdad  durch  Westturkistän,  über  Samarkand,  Ferghana, 
Kashgar,  an  den  Rändern  des  Tarimbeckens  entlang,  durch 
Kansu,  Shensi  und  Shansi  bis  Peking  gezogen  zu  haben.  Die 
Nestorianer  sind  für  die  geistige  Entwicklung  in  Innerasien 
von  großer  Bedeutung  geworden:  ihre  syrische  Schrift  ist  von 
den  uigurischen  Türken  angenommen  und  danach  in  veränder- 
ter Form  den  Mongolen  und  Mandschus  übermittelt  worden. 
Bonin  vermutet  auch,  ob  mit  Recht,  mag  dahin  gestellt  bleiben, 
daß  Tsong-kha-pa  bei  seiner  Reformation  des  Lamaismus  im 
Anfang  des  15.  Jahrhunderts,  wenigstens  im  Ritual,  von  dem 
Nestorianertum  beeinflußt  worden  sei.  —  Die  erwähnte  große 
nestorianische  Inschrift  von  Si-ngan  fu  hat  inzwischen  eine 
neue,  sehr  ausführliche  Bearbeitung  erfahren  durch  den  Jesuiten 
Henri  Havret.  Leider  ist  er  vor  der  Vollendung  seines 
Werkes  gestorben,  so  daß  uns  die  Geschichte  der  Inschrift 
nebst  den  reproduzierten  Texten  vollständig,  die  Erklärung  da- 
gegen nur  zum  Teil  vorliegt.  Das  Ganze  trägt  den  Titel  „La 
stele  chretienne  de  Si-ngan-fou"  und  bildet  die  Nummern 
7,  12  und  20  der  „Variete's  Sinologiques«  (Shanghai  1895,  1897 
xmd  1902).  —  Die  oft  erörterte  Frage  nach  der  Herkunft  der 
in  K'ai-feng  fu  (Provinz  Honan)  vorhandenen  Reste  einer 
jüdischen  Gemeinde  hat  während  der  letzten  Jahre  ihre  end- 
gültige Erledigung  gefunden.  Die  ältere  Sinologie  und  zu 
einem  kleinen  Teil  auch  die  neuere  (z.  B.  Cordier,  Wieger  u.  a.) 
nahm  an,  die  Juden  seien  im  1.  Jahrh.  n.  Chr.  über  Land  nach 
China  gekommen,  sei  es  nach  der  Zerstörung  von  Jerusalem 
i,  J.  70  n.  Chr.,  oder  infolge  einer  Vertreibung  aus  den 
persischen  Ländern.  Eine  noch  ältere  Lesart  wollte  sogar  die 
Einwanderung  der  Juden  in  die  Zeit  der  Chou -Dynastie,  in 
das  4.  oder  3.  Jahrh.  v.  Chr.  verlegen.  Der  ersteren  Annahme 
—  1.  Jahrh.  n.  Chr.  —  schloß  sich  auch  der  Jesuit  J^röme 
Tobar  an,  in  seinem  sehr  sorgfältigen  Werke  „Inscriptions 


Die  religionswissenschaftliche  Literatur  über  CMna  seit  1900    151 

Juives  deK'ai-Fong-Fou"  Nr.  17  der  „Varietes  Sinologiques" 
(Shanghai  1900),  in  dem  er  außer  einer  historischen  Übersicht 
über  die  ganze  Frage  eine  genaue  Übersetzung  der  Inschriften 
von  K'ai-feng  fu  mit  chinesischem  Text,  Plänen  der  Synagoge 
usw.  gab.  Tobar  gründet  seine  Ansicht  auf  die  eine  von  den 
Inschriften  vom  Jahre  1512  und  auf  die  mündliche  Über- 
lieferung der  Juden  selbst.  Dieser  bis  dahin  kaum  bestrittenen 
Ansicht  trat  P.  Pelliot  in  seiner  Besprechung  des  Tobarschen 
Werkes  in  BuU.  Ec.  fr.  d'Extr.  Or.  Bd.  I,  S.  263f.  entgegen. 
Er  wies  darauf  hin,  daß  die  älteste  Inschrift,  die  von  1489,  die 
Einwanderung  der  Juden  unter  die  Sung- Dynastie  (960 — 1278) 
verlegt,  eine  Ajigabe,  die  durch  weitere  geschichtliche  Er- 
wägungen sehr  wahrscheinlich  gemacht  wird,  während  die 
anderen  Vermutungen  durch  keine  einzige  sonstige  Quelle  zu 
stützen  sind.  Auch  sei  es  willkürlich,  anzunehmen,  daß  die 
Einwanderung  über  Land  stattgefunden  habe,  vielmehr  weise 
alles  auf  Indien  hin  als  das  Land  der  Herkunft  und  auf  den 
Seeweg  über  Süd -China  als  die  Straße,  auf  der  die  Juden  ge- 
kommen seien.  Unabhängig  hiervon  wurde  dieselbe  Ansicht 
mit  noch  größerer  Sicherheit  von  E.  Chavannes  in  der 
Revue  de  synthese  historique  Bd.  I  (1900)  und  später  in  der 
Toung  Pao  Ser.  II  Bd.  V,  S.  482f.  vertreten.  Eine  zusammen-* 
fassende  Arbeit  lieferte  dann  B.  Laufer:  „Zur  Geschichte 
der  chinesischen  Juden"  im  Globus  "Bd.  LXXXVII  (1905), 
S.  245 — 247.  Danach  kann  es  keinem  Zweifel  mehr  unter- 
liegen, daß  die  Juden  während  der  Sung- Dynastie,  und  zwar 
wahrscheinlich  in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jabrh.,  aus 
Indien  auf  dem  Seewege  nach  Nord -China  gekommen  sind. 
Die  Veranlassung  zu  dieser  Einwanderung  waren  zunächst 
Handelsgeschäfte,  hauptsächlich  mit  BaumwoUstoflFen;  später 
mögen  auch  die  Angriffe  der  Muhammedaner  in  Indien  gegen 
die  Juden  dazu  beigetragen  haben.  Angelockt  durch  die  großen 
Handelsfahrten  der  Araber,  schlössen  sich  die  unternehmenden 
Händler  deren  Zügen  nach  dem  Osten  an  und  gelangten  so 
zuerst    nach    Süd -China.      Für  das   J.   878    wird    hier    bereits 


152  0.  Franke  Die  religionswissenschaftliclie  Literatur  über  China  seit  1900 

die  Anwesenlieit  von  Juden  in  einer  arabischen  Quelle  bezeugt. 
Allmählich  drangen  sie  weiter  über  T'süan-chou  fu  (nicht  weit 
von  Amoy  in  Fukien),  Hangchou,  Ningpo,  wo  in  der  2.  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  eine  jüdische  Kolonie  bestand,  vielleicht 
auch  Nanking  nach  K'ai-feng  fu  und  selbst  nach  Peking  vor. 
Sie  sind  also  später  als  die  Christen  und  Muhammedaner  in 
China  bekannt  geworden.  Bemerkenswert  ist  es,  daß  das  Juden- 
tum in  China  ganz  von  dem  Einflüsse  des  Islam  abhängig  ge- 
worden ist,  in  der  Architektur  seiner  Bauten  sowohl,  wie  auch 
in  der  chinesischen  Terminologie  seiner  Schriften.  Es  bildet 
dies  ein  Seitenstück  zu  dem  Verhältnis  zwischen  dem  ein- 
wandernden Buddhismus  und  dem  älteren  Taoismus  im  4.  und 
5.  Jahrh.  —  Wenn  nach  dem  Gesagten  Giles  in  seinem 
Artikel  „Moses"  in  den  „Adversaria  Sinica"  Nr.  3  S.  55  —  57 
(Shanghai  1906)  doch  wieder  davon  ausgeht,  daß  die  Juden 
i.  J.  72  n.  Chr.  eine  Kolonie  in  Honan  gegründet  hätten,  und 
wenn  er  an  diese  vermeintliche  Tatsache  die  sehr  gewagte 
Hypothese  knüpft,  die  Chinesen  hätten  schon  um  300  n.  Chr. 
eine  Kenntnis  von  der  Legende  über  Moses  gehabt,  so  ist  dies 
wohl  nur  durch  seine  Unbekanntschaft  mit  der  vorhandenen 
Literatur  zu  erklären. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Diese  verschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesern  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  be- 
sonders neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke 
und  Nachweise  oder  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den 
verschiedenen  religionsgeschichtlichen  Forschern  hier  u.  E.  entwickeln 
können,  wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung 
widmen  würden.  Sog.  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig  ent- 
halten als  sie  „Berichte"  enthalten  soll. 


Verbot  des  Knochenzerbrechens 

(Nachtrag  zu  oben  S.  84) 

Wie  die  vergleichende  Religionsforschung  biblische  Vorschriften 
und  Vorstellungen  in  eine  neue  Beleuchtung  rückt,  mag  noch 
folgendes  zeigen:  Vom  Passahmahl  betont  das  Gesetz  zweimal  das 
Verbot,  daß  beim  Genuß  desselben  kein  Knochen  zerbrochen  werde 
(Exodus  12,  46  u.  Numeri  9,  12),  und  eine  genügende  Erklärung 
dafür  sucht  man  vergebens.  Im  vierten  Evangelium,  das  hier 
einer  älteren  Sckrift  angehört,  wird  bekanntlich  besonderer  Wei-t 
darauf  gelegt,  Jesus  den  Charakter  des  Passahlammes  dadurch  zu 
verleihen,  daß  erzählt  wird,  man  habe  bei  seinem  Leichnam  die 
Beine  nicht  zerbrochen  (Johannesevangelium  19,  33 — 36).  Nun 
erzählt  uns  Curtiß  a.  a.  0.  201,  daß,  wenn  die  Fellahim  Palästinas 
ein  Erlösungsopfer  für  ein  neugeborenes  oder  krankes  Kind  dar- 
bringen, sie  sich  davor  hüten,  dem  Tiere  einen  Knochen  zu  zer- 
brechen, „damit  nicht  auch  des  Kindes  Knochen  brechen"! 
Ebenso  darf  dem  am  Heiligtum  des  Ortsheiligen  (TVeli)  zum 
Jahresfest  dargebrachten  einjäkrigen  Schafbock  kein  Knochen 
zerbrochen  werden  (S.  242  das.). 

Dieselben  Vorstellungen  nun  herrschten  offenbar  auch  im  alt- 
deutschen oder  indogermanischen  Religionsleben  vor,  wie  des  aus- 
führlichen in  Mannhardts  Germanischen  Mythen  S.  57  —  74  zu  lesen. 
Die  Kinder  durften  von  der  vom  wütenden  Heer  geschlachteten 
Mastkuh  mitessen,  aber  keinen  Knochen  zerbeißen,  sonst  wird 
bei  der  Wiederbelebung  die  Kuh  lahm.  So  darf  der  heilige 
Garmon  oder  Germanus  an  dem  ihm  vorgesetzten  Kalb  keinen 
Knochen    zerbrechen,    damit  er  es  für  seinen  Wirt  wieder  beleben 


154  Mitteilungen  und  Hinweise 

kann.  Ebenso  dürfen  an  den  Böcken  Thors  in  der  nordischen 
Sage  die  Schenkelbeine  nicht  zerbrochen  werden,  sonst  werden  sie 
bei  der  Wiederbelebung  lahm.  Ob  nicht  bereits  dem  neutestament- 
lichen  Bericht  von  den  unverletzten  Knochen  des  Leichnams  Jesu 
die  Idee  der  Wiederauferstehung  in  unversehrter  Gestalt  zugrunde 
liegt?  Wahrscheinlich  geht  die  Sage  von  dem  wiederbelebten 
kostbaren  Pferde,  das  ein  allzu  freigebiger  Gastwirt  seinem  Gast 
zum  Essen  vorgesetzt  hat  (siehe  Gervasius  Otia  Imperialia,  heraus- 
gegeben von  Liebrecht,  S.  47,  vgl.  Anmerkung  70,  S.  158)  und 
die  Sage  von  Abu  Hatim  bei  Dunlop,  S  519,  auf  morgen- 
ländischen Ursprung  zurück,  wie  ja  bereits  im  Testament  Abrahams, 
das  dem  ersten  christlichen  Jahrhundert  angehört,  von  der  Wieder 
belebung  des  von  Abraham  den  Engeln  vorgesetzten  Kalbes  die 
Rede  ist  (siehe  meinen  Artikel  in  Jewish  Quarterly  Review  V  584). 
Wie  die  an  Virgil  den  Zauberer,  an  Maimonides  und  an  Theophrastus 
anknüpfenden  Wiederbelebungslegenden  auf  persische  Sagenkreise 
zurückweisen,  soll  in  einem  späteren  Artikel  auseinandergesetzt  werden. 
Cincinnati  K.  Kohler 


Nachtrag  zu  Archiv  XIII  S.  102  Anm.  5:  Die  beiden 
Mutternamen  stimmen  merkwürdigerweise  mit  dem  Vatersnamen 
der  beiden  Gründer  des  zweiten  Tempels  überein:  Zerubabel  ben 
Sealthiel  und  Jesua  ben  Jozadak.  Dies  Zusammentreffen  kann 
nicht  zufällig  sein,  sondern  setzt  gewisse  theologische  Spekulationen 
voraus.  Der  im  zehnten  Jahrhundert  lebende,  sehr  gut  informierte 
karäische  Schriftsteller  Qirqisäni  berichtet  (ed.  Harkavy,  Petersburg 
1894,  p.  306  oben),  daß  die  Christen  behaupten,  „daß  der  Tempel, 
dessen  Wiederaufbau  die  Propheten  verkündeten  und  Ezekiel  voraus- 
sah, derselbe  ist,  den  Zerubabel  baute.  Es  gibt  keinen  anderen." 
Dieselbe  Ansicht  teilt  er  (p.  319  Z.  5)  im  Namen  der  Karäer 
Mediens  und  Chorasans  mit,  indem  er  hinzufügt,  daß  nach  deren 
Meinung  „der  verspi'ochene  Messias  bereits  gekommen  und  in 
Wirklichkeit  getreten  ist".  Mit  anderen  Worten,  es  gab  eine 
Ansicht,  die  von  Christen  ausgesprochen  oder  geteilt  wurde,  daß 
der  zweite  Tempel  die  Erfüllung  der  messianischen  Weissagungen 
bedeutete  und  die  Zerubabel  eine  messianische  Rolle  zuweist. 
Malkisedek  wurde  wohl  mit  Zerubabel  als  Messias  oder  Jesua  als 
Hohepriester  in  Verbindung  gebracht. 

New  York  J.  Friedländer 


Zu  Archiv  XII  46  ff.:  Zu  der  verdienstlichen  Materialien- 
sammlung von  Hellwig  über  mystische  Meineidszeremonien 
sei  es  gestattet,  einige  Nachträge  zu  liefern.    Bei  den  oberschlesi- 


Mitteiluugen  und  Hinweise  155 

sehen  und  posenschen  Juden  werden,  wie  ich  von  einigen  von 
dort  stammenden  Zöglingen  unseres  Predigerseminars  höre,  um  das 
Zustandekommen  des  Eides  überhaupt  zu  verhindern,  die  Sehwur- 
finger  entweder  mit  Lehm  oder  einer  sonstigen  Masse  bestrichen 
oder  man  schneidet  sich  in  einen  oder  mehrere  der  Schwurfinger 
und  überklebt  diese  dann  mit  Heftpflaster.  Dadurch  soll  die  Be- 
rührung der  Schwurfinger  mit  der  Thora,  auf  die  der  schwörende 
Jude  bekanntlich  die  Hand  legt,  verhindert  werden.  Anderseits 
wird  mir  von  einem  Fall  in  Posen  erzählt,  wo  ein  meineids- 
verdächtiger Jude  ohne  weiteres  sich  bereit  erklärte,  die  Schwurfinger 
auf  die  infolge  zahlloser  Fingerabdrücke  mit  Schmutz  bedeckte 
betreffende  Thorastelle  zu  legen,  aber  sofort  zurückschreckte,  als 
ihm  der  Richter  auf  den  Rat  des  Rabbiners  ein  sauberes  Exemplar 
der  Thora  zvur  Ableistung  des  Schwures  vorlegte.  Hier  scheint  man 
also  bestrebt,  das  durch  die  Berührung  zwischen  Schwurfingem  und 
Thora  bedingte  Zustandekommen  des  Eides  überhaupt  zu  verhindern. 
In  Posen  soll  der  Glaube  herrschen,  man  könne  ruhig  einen  Mein- 
eid schwören,  wenn  man  während  des  Schwures  mit  der  linken 
Hand  etwa  einen  Rockknopf  festhalte  und  an  diesen  ausschließ- 
lich denke.  In  Posen,  wie  im  Rheinland,  soll  der  Schwörende 
sich  auch  einen  Stein  in  die  Tasche  stecken.  Wenn  er  an  diesen 
während  der  Eidesleistung  denkt,  so  kann  er  ruhig  etwas  Un- 
wahres beschwören.  Ob  hier  der  Knopf  oder  Stein  als  „Sünden- 
bock" gedacht  ist,  scheint  mir  zweifelhaft.  Ich  möchte  eher  glauben, 
daß  durch  das  intensive  Ablenken  der  Gedanken  von  der 
Gottheit  das  Zustandekommen  eines  rituellen  Eides  überhaupt 
verhindert  werden  soll.  Bekanntlich  lesen  wir  in  den  Evangelien, 
daß  die  Juden  zur  Zeit  Christi  einen  Eid  bei  dem  Brandopferaltar 
oder  Tempel  als  ungültig,  dagegen  bei  dem,  was  auf  dem  Altar 
liegt  oder  bei  dem  Golde  des  Tempels  als  gültig  betrachteten 
(Matth.  23,  16  ff).  Auch  das  Schwören  bei  Jerusalem,  bei  dem 
Himmel,  bei  dem  eigenen  Haupte  liigt  der  Heiland  doch  gewiß  nur 
deshalb,  weil  bei  solchen  Schiivüren  nur  ein  Scheineid  herauskommen 
konnte.  —  Im  Schwarzwald  herrscht  der  Glaube,  daß  die 
Schwurfinger  eines  Meineidigen  bei  lebendigem  Leibe  ver- 
faulen oder  doch  vor  dem  Tode  schwarz  werden.  Auch  findet  der 
Meineidige  nach  dem  Tode  keine  Ruhe.  Letztere  Sage  findet 
sich  auch  in  Angeln  (in  Schleswig):  Ein  Ritter,  der  mit  Laub  von 
seinen  eigenen  Bäumen  unter  seiner  Kopfbedeckung  und  mit  Erde 
von  seinem  eigenen  Felde  in  den  Schuhen  auf  einem  strittigen 
Stück  Land  stehend  geschworen  hatte,  er  stehe  auf  seiner  eigenen 
Erde  unter  dem  Schatten  seiner  eigenen  Bäume  und  dadurch  das 
Land  widerrechtlich  an  sich  brachte,  soll  noch  jetzt  in  Gestalt 
eines  schwarzen  Pudels  auf  einem  zu  dem  betreffenden  Felde  hin- 
führenden Stege  jede  Xacht  um  die  Geisterstunde  sitzen. 


156  Mitteilungen  und  Hinweise 

Zum  Schluß  noch  eine  Bemerkung!  Zur  Zeit  meiner  Kindheit 
wollte  man  in  meiner  Heimatprovinz  (Holstein)  nichts  von  Eiden 
wissen  und  betrachtete  jeden,  der  überhaupt  einen  Eid  geschworen 
hatte,  als  sozusagen  gebrandmarkt.  Unsere  Gesetzgeber  sollten  mit 
solcher  Abneigung  des  Volkes  gegen  den  Eid  rechnen  und 
ihn  nicht  durch  übermäßige  Vermehrung  zu  einer  alltäglichen  Kleinig- 
keit machen,  die  man  en  bagatelle  behandelt.  Ich  glaube,  die  Zahl 
der    Meineide    würde    dann    ganz    beträchtlich    zusammenschwinden. 

Krepp  (Schleswig)  H.  Stocks 

Zu  Archiv  XII  577  f.:  M.  P.  Nilsson  bemerkt,  ich  habe 
in  meiner  Dissertation  (Die  kultische  Keuschheit  im  Altertum, 
Heidelberg  1908)  S.  40  f.  zum  Beweise  für  die  Behauptung,  daß 
der  erste  Beischlaf  als  besonders  gefährlich  gelte,  u.  a.  die  Tobias- 
nächte angeführt.  Aus  Troels  Lund  Bd  XI ^  S.  220  ff.  ist  nach 
Nilsson-^  ersichtlich,  daß  die  Sitte  der  Enthaltung  in  den  ersten 
Tagen  der  Ehe  in  die  germanischen  Länder  von  der  Kirche 
eingeführt  worden  ist,  die  altgermanische  Ehe  aber  gerade  durch 
das  Beilager  rechtlich  vollzogen  wurde.  Daraus  schließt  Nilsson: 
„Die  Sache  liegt  also  für  die  nordischen  und  germanischen  Völker 
anders  als  Fehrle  will." 

Ich  will  nur  erweisen,  daß  der  Beischlaf,  weil  mit  dämonischen 
Wirkungen  verknüpft,  für  verunreinigend  gilt  und  besonders  der 
erste  Beischlaf.  Dieser  Verunreinigung,  d.  h.  diesem  gefährlichen 
Zusammentreffen  mit  dämonischen  Mächten,  sucht  man  durch  ver- 
schiedene Mittel  zu  entgehen:  entweder  verschiebt  man  wie  in 
den  Tobiasnächten  den  Akt  der  geschlechtlichen  Vereinigung  und 
führt  somit  die  Dämonen  irre,  „indem  man  ihnen  Unterlassung  der 
Ehevollziehung  vorspiegelt"  (H.  Oldenberg,  Die  Religion  des  Veda, 
Berl.  1894,  S.  271  u.  464f.),  oder  Braut  und  Bräutigam  müssen 
die  erste  Nacht  wachend  mit  Erzählungen  hinbringen  (ebenda 
S.  411),  oder  sie  dürfen  nicht  in  das  Ehebett,  wo  die  Dämonen 
sie  erwarten,  sondern  müssen  am  Boden  schlafen^,  oder  die  bösen 
Dämonen    müssen    aus    dem    Ehebett    und    der   Brautkammer   ver- 


•  Ich  selbst  habe  Troels  Lunds  Werk  nicht  einsehen  können. 

*  So  erklärt  Oldenberg  die  Sitte  \S.  411,  417,  590).  Man  könnte 
bei  der  Vorschrift,  daß  Braut  und  Bräutigam  in  den  ersten  Tagen  der 
Ehe  am  Boden  schlafen  müssen,  zunächst  auch  an  einen  Ritus  der 
Fruchtbarkeit  denken  (vgl.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  I  S.  480  ff.; 
A.  Dieterich,  Mutter  Erde  S.  97)  und  sich  daran  erinnern,  daß  durch 
das  Beilager  auf  der  Erde  die  Ehe  fruchtbar  werden  solle;  doch  wenn 
man  die  parallelen  Fälle  betrachtet,  die  Oldenberg  anführt,  wird  man 
seine  oben  erwähnte  Deutung  billigen.  Vgl.  besonders  auch  die  zahl- 
reichen Belege  bei  L.  v.  Schröder,  Hochzeitsbräuche  der  Esten  und  einiger 
anderer  finnisch-ugrischer  Völkerschaften  in  Vergleichung  mit  denen 
der  indogermanischen  Völker  (Berlin  1888)  S.  176  ff. 


Mitteilungen  und  Hinweise  157 

trieben  und  Bett  und  Kammer  gesegnet  werden,  wie  bei  der  christ- 
lichen Brautbettbenediktion  (s.  unten),  oder  man  vertreibt  die 
Dämonen  durch  Lärmen,  daher  die  Sitte  des  Polterabends  (s.  meine 
Diss.  S.  41,  1),  oder  Braut  und  Bräutigam  wechseln  die  Kleider, 
damit  die  Dämonen  die  Braut  nicht  kennen,  oder  die  Braut 
hängt  einen  Bart  um  (ebenda)  usw. 

Daß  die  Sitte,  die  Dämonen  zu  vertreiben,  bei  den  Germanen 
existiert  hat  und  in  irgendeiner  Form  ausgeübt  worden  ist,  scheint 
mir  sicher  \  ist  aber  hier  nicht  von  Belang.  Aber  daß  „die  nordischen 
und  germanischen  Völker"  gerade  diese  eine  Art  des  Schutzes 
gegen  Dämonen,  die  sog.  Tobiasnächte  vor  dem  Eindringen  der 
katholischen  Kirche  schon  gekannt  hätten,  will  ich  in  meiner  Diss. 
weder  beweisen  noch  bestreiten."  Das  ist  für  mich  hier  gleich- 
gültig. Es  kommt  mir  bei  meinen  Austührungen  nicht  darauf  an, 
ob  die  Germanen  diese  Sitte  seit  alter  Zeit  gekannt  oder  aus  einem 
anderen  Anschauungskreise  übernommen  haben,  sondern  ich  will  — 
und  so  ist  überhaupt  der  erste  Teil  meiner  Arbeit  über  die  kultische 
Keuschheit  angelegt  —  nur  zeigen,  daß  solche  Anschauungen  bei 
den  verschiedensten  Völkern  und  zu  den  verschiedensten  Zeiten  in 
Geltung  waren,  und  habe  deshalb  absichtlich  neben  Naturvölkern 
Juden  und  Christen  angeführt,  daß  die  Sitte  germanisch  sei  aber 
mit  keinem  Worte  erwähnt. 

Weiter  bemerkt  Nilsson,  diese  Sitte  der  Römerkirche  biete 
gegen  jene  Gefahr  keinen  Schutz.  Aber  ziemlich  allgemein  ist 
anerkannt,  daß  die  Tobiasnächte  ein  Schutz  gegen  die  Gefahr  des 
ersten  Beilagers  sein  sollen.  Und  wer  das  Material  übei-sieht,  wird 
dies  kaum  mehr  bestreiten.^ 


^  Vgl.  Schröder  a.a.O.  S.  57  fF.  ,,Da8  Verleugnen  und  Verstecken 
der  Braut,  Verschließen  und  Verrammeln  des  Brauthauses  u.  dgl.  m." 
Es  ist  schon  gelegentlich  betont  worden,  daß  Schröder  mit  Unrecht  all 
diese  Bräuche  auf  Raubehe  zurückführe ,  manche  erklären  sich  eher  aus 
der  Furcht  vor  den  drohenden  Dämonen;  S.  72  ff  :  Verhüllen  der  Braut; 
S.  166  ff. :  man  nimmt  einen  Degen  mit  ins  Bett  als  Schutzwehr  gegen 
die  bösen  Dämonen;  S.  192ff. :  Enthaltungen. 

*  Da  die  Germanen  die  Dämonengefahr  kannten,  wäre  es  möglich, 
daß  die  christliche  Kirche  die  Sitte  bei  den  Germanen  angetroffen  und 
in  ihr  Machtbereich  gezogen  und,  weil  sie  für  die  Tendenz  der  Kirche 
paßte,  gefördert  habe.  Damit  ist  nicht  gesagt,  daß  sie  vorher  überall 
bei  den  Germanen  verbreitet  war.  Vgl.  SchwaUy,  Aegyptiaca  in  den 
Orientalischen  Studien  Th.  Nöldeke  gewidmet  S.  419  A. 

*  Ich  verweise  neben  den  in  meiner  Diss.  S.  40  f.  angeführten  Belegen 
noch  auf  A.  H  Post,  Grundriß  der  ethnologischen  Jurisprudenz  S  41, 
der  viel  Literatur  über  solche  Enthaltungen  bei  Völkern  der  ganzen 
Erde  zusammenstellt,  dann  auf  K.  Schmidt  lus  primae  noctis  Freiburg 
i.  B.)  S.  148  ff.,  Wintemitz,  Das  altindische  Hochzeitsritnell,  Denkschriften 
der  Kaiserlichen  Akademie,  Philos  histor.  Classe,  40.  Bd.  iWien  1892) 
S.  87  ff,  Schwally,  Or.  Stud.  f.  Nöldeke  S.  418  ff.  Schwallys  Sem.  Kriegs- 
altertümer, die  Nüsson  erwähnt,  hatte  ich  schon  in  der  Dissertation  S.  40,  2 
angeführt. 


J58  Mitteilungen  und  Hinweise 

Es  sei  hier  erwähnt,  daß  die  Kirche  noch  einen  weiteren 
Schutz  gegen  die  Gefahr  des  ersten  Beischlafes  bietet  durch  die 
Brautbettbenediktion.  Diese  ist  keineswegs  nur  eine  Bene- 
dictio  thalami.  Wie  fast  immer  vor  Einweihungs-  oder  Segens- 
riten werden  auch  hier  zuerst  die  bösen  Dämonen  vertrieben  und 
damit  das  ^laö^a  beseitigt,  das  die  guten  Geister  fernhalten  oder 
dem  religiösen  Akt  schaden  könnte.  Dies  ist  deutlich  aus  den  nach 
dem  Augsburger  Diözesanritus  bei  der  Brautbettbenediktion  gebrauchten 
Worten^:  Omnipotens  aeterne  Deus,  .  .  .  quaesumus,  nt  Jiaec  indu- 
menta^  pro  tui  nominis  lionore  purificare  et  ienedicere  digneris  .  .  . 
Da  quoque,  Domine,  ut  famuU  tui,  qui  haec  vestimenta  portaverint, 
coelestis  gratiae  plenitudinem  et  tuae  protectionis  munimen  mereantur 
accipere:  atque  ah  omnibus  inimicorum  insidiis  incolumes  permaneani. 

Nach  einem  Straßburger  Ritual  vom  Jahre  1742  (abgedruckt 
bei  Schmidt  lus  primae  noctis  S.  147  Anm.  4)  besprengte  der  Priester 
die  Brautleute  und  das  Ehegemach  mit  Weihwasser  und  sagte  u.  a.: 
Visita  .  .  .  Domine,  hdbitationem  istam  et  omnes  insidias  ab  ea 
lange  repelle. 

Nach  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  II  S.  401  (Nr.  349) 
wurde  in  Konstanz  die  Brautbettbenediktion  folgendermaßen  vor- 
genommen: „Wenn  man  sich  verehelichte  und  das  Ehebette  zurecht 
machte,  so  ließ  man  den  Herrn  Pfarrer  oder  einen  Mönch  zu  sich 
bitten,  dasselbe  einzusegnen,  welche  Handlung  meistens  abends 
vorgenommen  wurde.  Man  zündete  zwei  Lichter  an,  der  Geistliche 
legte  seine  Stola  um  und  betete  aus  einem  lateinischen  Buche. 
Hierauf  nahm  er  das  Weihwasser,  und  segnete  das  Bett  ein,  wo- 
durch die  Teufel,  Hexen  und  Schrättle  (Alp)  verhindert  wurden, 
den  Eheleuten  schaden  zu  können." 

Auf  Nilssons  anderen  Hinweis,  der  die  Pythia  betrifft,  will  ich 
jetzt  nicht  näher  eingehen,  weil  ich  im  zweiten  Teil  meiner 
„kultischen  Keuschheit"  ausführlich  darüber  zu  sprechen  habe, 
sondern  nur  kurz  folgendes  bemerken:  Ob  das  yaa^a  in  Delphi 
vorhanden  war  oder  nicht,  ist  für  meinen  Beweis  gleichgültig;  es 
kommt  mir  nur  darauf  an,  daß  der  Glaube  an  die  aus  einem 
Erdspalt  aufsteigenden  Dämpfe  existiert  hat  oder  sogar  nur  darauf, 
daß  man  die  Begeisterung  der  Pythia  als  Liebesverkehr  mit  Apollon 
auffaßte.  Daß  dies  der  Fall  war,  konnte  Nilsson  schon  aus  dem 
von  mir  S.  7  f.  angeführten  Beleg  ti£qI  vipovg  1 3,2  ersehen.  Denn 
diese  Stelle  kann  man  nicht  als  „boshafte  Auslegungen  der  christ- 
lichen Schriftsteller"  erklären. 

Heidelberg  Eugen  Fehrle 

^  Der  Katholik,  Zeitschrift  für  katholische  Wissenschaft  und  kirch- 
liches Leben  (1903,  2)  N.  F.  28.  Bd  S.  81. 

*  Gemeint  sind  die  Kleider  des  Brautpaares,  die  im  Schlafzimmer 
auf  die  Betten  gelegt  sind. 


Mitteilungen  und  Hinweise  159 

Zum  Sarkophag  von  Hagia  Triada  (Archiv  XII  I6lff,): 
Das  Leidener  Museum  bewahrt  eine  dem  Flötenspieler  von  Taf.  2 
in  der  Haltung  ganz  analoge  kretische  Bronzefignr.  Sie  ist  bis 
zu  den  Knien  erhalten,  etwa  12  cm  hoch  und  stellt  einen  mit 
dem  bekannten  kretischen  Schurze  bekleideten  Jüngling  dar,  dessen 
Kopf  ein  petasosartiger  Hut  bedeckt.  Die  Beugung  der  Arme  ist 
genau  die  gleiche  wie  bei  der  Figur  des  Sarkophags,  nur  daß  die 
Unterarme  ganz  parallel  nebeneinander  liegen.  Flöten  sind  keine 
mehr  vorhanden.  Dieser  Umstand,  sowie  die  starke  Ausbeugung 
des  Überkörpers  nach  hinten  gab  wohl  den  Anlaß,  die  Figur  in 
Leiden  als  „Wagenlenker"  zu  bezeichnen,  der  sein  Gespann  zu- 
sammenreißt.* Wissenschaftlich  publiziert  ist  die  Figur  noch  nicht, 
eine  ungenügende  Abbildung  findet  sich  im  „  Führer  durch  das 
Reichsmuseum  für  Altertümer  zu  Leiden",  Leiden  1908  S.  7  Abb.  4. 
Diese  aus  Kreta  stammende  Bronze  hat  also  mit  der  anderen  bis- 
her bekannt  gewordenen,  der  Berliner  Klagefrau  (mit  der  unser 
Flötenspieler  in  der  Größe  zusammengeht)  das  sepulchrale  Motiv 
gemein. 

Die  kleinere  Bildung  des  Toten  auf  Taf.  3  läßt  vielleicht 
noch  eine  andere  Erklärung  zu,  als  die  von  Duhn  gegeben  hat. 
Durch  die  angezogenen  Knie  des  Hockers  ergäbe  sich  eine  ziemlich 
starke  Verbreiterung  des  Unterkörpers  in  der  Profilansicht,  die 
kaum  vorhanden  gewesen  sein  kann,  da  der  vordere  Gewandrand 
gradlinig  und  fast  genau  senkrecht  verläuft  Dagegen  ließe  sich 
diese  Gewandbildung  und  die  kleinere  Gestalt  vereinigen  mit  der 
Darstellung  eines  aus  der  Erde  emportauchenden  Toten,  der  erst 
zum  größeren  Teil  sichtbar  geworden  ist  und  nur  auf  diese  Weise 
von  den  Lebenden  im  Gemälde  unterschieden  werden  konnte. 

OfiFenbach  Ad.  Abt 


Vampirglauben  in  Bulgarien 

In  seinen  ausgezeichneten  „Slavischen  Volksforschungen" 
1  Leipzig  1908)  handelt  Fr.  Krauß  auch  über  den  Vampir 
(S.  124  fg.).  Wir  gestatten  uns  hier  eine  interessante  bulgarische 
Parallele  mitzuteilen.  Im  Dorfe  Kestric  (Bezirk  von  Varna)  hat 
bis  zum  Jahre  1885  folgender  Brauch  bestanden:  Bei  dem  Tode 
eines  nicht  einheimischen  Dorfbewohners,  der  kein  eigenes  Haus 
besessen  hat,  wird  sein  Leichnam  mit  neuen  Kleidern  angetan 
und  in  einem  Zimmer  bei  der  Kirche  zur  Übernachtung  unter- 
gebracht. Am  folgenden  Tage  wird  er  zum  Begräbnis  hinaus- 
getragen;   nachdem    man   den  Leichnam  ins  Grab  heruntergelassen 


'  Vgl.   dazu  die  ganz  andere  Ajmhaltung  der  zügelnden  Wagen- 
lenker auf  Taf.  4. 


160  Mitteilungen  und  Hinweise 

hat,  bevor  man  ihn  mit  der  Sargdecke  zugedeckt  hat,  zieht  einer 
von  den  Anwesenden  ein  altes  Messer  aus  seiner  Tasche  heraus  und 
sticht  dasselbe  in  den  Hals  des  Toten  an  der  linken  Seite  hinein.^ 

Dieser  Brauch  wurde  von  den  Dörflern  selbst  folgendermaßen 
erklärt:  da  der  Verstorbene,  als  nicht  Einheimischer,  niemanden 
hatte,  der  bei  seiner  Leiche  während  der  Nacht  Wache  hielte, 
so  wäre  man  nicht  sicher,  ob  nicht  etwa  eine  Katze  über  den 
unbewachten  Leichnam  geschritten  wäre^;  darum  muß  man  den 
Verstorbenen  zum  zweitenmal  töten,  sonst  verwandele  sich  seine 
Seele  in  einen  Vampir,  der  alle  vierfüßigen  Tiere  des  Dorfes  durch 
Aussaugen  des  Blutes  tötet  und  darauf  auch  die  Kinder  angreift.  — 
Es  ist  noch  hinzuzufügen,  daß  vor  der  Durchstechung  des  Halses 
der  Tote  mit  einem  Gurt  von  wilden  Dornrosen  umgürtet  wurde, 
wodurch  seine  Erhebung  aus  dem  Grabe  unmöglich  gemacht  wird. 
(Nach  Mitteilung  des  Popen  Antonov,  in  den  Mitteilungen  der 
archäol,  Gesellsch.  in  Varna,  II  1909,   74). 

Sofia  Gawril  Kazarow 

Zu  Archiv  XII  579:  Der  "^Lörracher  Segen'  gegen  das  Bett- 
zaierle  ist  auch  von  mir  veröffentlicht  (in  etwas  anderer  Fassung 
aber  gleichfalls  aus  Lörrach)  im  Schweizer  Archiv  für  Volks- 
kunde XIII  151. 

Basel  B.  Hoffmann  -  Krayer 

Zu  Archiv  XII  579:  Zum  ^Bettzaierle'  ist  mein  Krankheits- 
namenbuch  S.  844  heranzuziehen;  außerdem  Straßburger  Post 
24.  IX.  1905. 

Tölz  •  M.  Höfler 


^  Vgl.  Krauß,  a.a.O.  139:  „Einige  behaupteten  in  meiner  Gegen- 
wart, man  dürfe  den  Vampir  auch  mit  einem  Messer  durchstechen,  mit 
dem  man  noch  nie  ein  Brot  geschnitten." 

*  Vielerorts  in  Bulgarien  glaubt  man,  daß  der  Verstorbene  sich  in 
einen  Vampir  verwandelt,  wenn  eine  Katze  liber  seinen  Leichnam  geschritten 
ist;  um   das  zu  verhüten,  hält  man  strenge  Wache  bei  der  Leiche. 


[Abgeschlossen  am  9.  Dezember  1909.] 


I  Abhandlungen 


Alexanders  Zug  nach  dem  LebensqueU 
und  die  Chadhirlegende 

Von  L  Friedlaender  in  New  York 
I 

Fseudokallisthenes 

Die  Legende  von  Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell 
findet  sich  zuerst  in  jenem  Werke,  aus  dem  die  Aleiander- 
dichtung  aller  Zeiten  und  Länder  geschöpft  hat,  in  dem  so- 
genannten Fseudokallisthenes.^  Dieses  Werk,  dessen  Anfange 
in  die  Ptoleraäerperiode  hinaufreichen*  und  das  in  der  uns 
überkommenen  Gestalt  das  Produkt  eines  langsamen  literarischen 
Prozesses  bildet,  ist  uns  in  drei  Hauptrezensionen  überliefert, 
die  durch  verschiedene  Handschriftentypen  repräsentiert  sind.' 
Die  für  uns  erreichbar  älteste*  Redaktion  des  Romans  liefft 
in    der    sogenannten    Rezension    a    vor,    die     spätestens    um 

*  Herausgegeben  von  Carl  Müller  als  Anhang  zu  Dübners  Ausgabe 
Fon  Arrian,  Paris  1846.  Müllers  Text  geht  auf  drei  Pariser  Kodizes 
zurück,  die  von  ihm  Ä,  B  und  C  genannt  werden.  Diese  Eodizes 
repräsentieren  drei  verschiedene  Rezensionen,  die  mit  A',  B'  und  C 
oder  besser  mit  a,  ß  und  y  bezeichnet  werden.  Über  die  ungemein 
komplizierten  literarkritischen  Probleme  des  Pseudokallisthenes ,  die  im 
Texte  nur  gestreift  werden  konnten,  siehe  Müller  in  der  Einleitung  zu 
seiner  Ausgabe,  p.  XV ff.;  Zacher  Psettdo-Callisthenes  Halle  1867,  p.  5 ff., 
102 ff.;  Rohde  Der  griechische  Boman  und  seine  Vorläufer  Leipzig  1876, 
p.  184 ff.;  Kampers  Alexander  der  Große  und  die  Idee  des  Weltimperiums 
in  Propheti«  und  Sage  Freiburg  i.  Br.  1901,  p.  55 ff.  und  184 ff.;  Ausfeld 
Der  griechische  Alexanderroman  Leipzig  1907,  p.  8 ff. 

*  Rohde  a.  a.  0.  p.  184,  Anm.  1.         '  S.  oben  Anm.  1. 

*  Vgl.  Rohde  p.  185,  Anm.  2. 

Archiv  f.  Keligionswissenschaft  XHI  jj 


162  I-  Friedlaender 

300  n.  Chr.  abgeschlossen  war.^  Die  Rezension  ß  ist  eine 
etwas  jüngere  Fassung,  „welche  aus  jener  älteren  großenteils 
durch  eine  mit  bestimmter  Absicht  ausgeführte  Revision  her- 
vorging"^ und  dieselbe  „teils  durch  selbsterfundene  Züge,  teils 
aus  anderen  Quellen"^  ergänzte.  Die  Rezension  y  ist  nach 
dem  Urteile  Zachers*  „eine  ungeschickte,  kritik-  und  geschmack- 
lose Erweiterung  von  ß.  Einzelnes  wurde  zu  vermeinter  Ver- 
schönerung durch  bloßen  Aufputz  angeschwellt,  vieles  aus  ver- 
schiedenen Quellen,  wie  sie  gerade  der  Zufall  darbot,  zu  ver- 
meinter Vervollständigung  eingeschaltet,  namentlich  in  Be- 
ziehung auf  die  wunderbaren  Erlebnisse  und  Begegnisse 
Alexanders  im  fernen  Osten."  Es  muß  jedoch  energisch  be- 
tont werden,  daß  die  Rezensionen  ß  und  y,  wenn  auch  jünger 
als  cc,  so  doch  gelegentlich  ältere  Materialien  benutzen  und 
daher  auch  „ältere  Sagen  und  ältere  Textüberlieferungen  ent- 
halten können".^  Für  unsere  Zwecke  endlich  müssen  wir 
noch  der  Leidener  Handschrift^  gedenken,  die  im  allgemeinen 
ß  folgt,  aber  mehrfach  auch  mit  y  zusammengeht. 

Die  Episode  vom  Lebensquell  findet  sich  in  Alexanders 
Brief  an  seine  Mutter  Olympias,  der  in  Müllers  Ausgabe 
Kapitel  23 — 42  des  zweiten  Buches  umfaßt.^  Dieser  Brief 
findet  sich  in  a  überhaupt  nicht,  ß  bietet  ihn  in  kürzerer,  y 
in  bedeutend  ausführlicherer  Gestalt.  In  der  letzteren  Re- 
zension ist  überdies  die  Briefform  in  die  Erzählungsform  auf- 
gelöst. Kodex  L  geht  auch  in  diesem  Teile  des  Werkes  im 
allgemeinen   mit  ß   zusammen.     Allein    an   mehreren   Stellen, 


^  Ibidem  Anm.  1  und  Ausfeld  a.  a.  0.  p.  10,  Anm.  2. 

*  Zacher  a.  a.  0.  p.  12. 

»  Ausfeld  p.  16.         *  a.  a.  0.  p.  13. 

^  Wilhelm  Kroll  bei  Kampers  a.  a.  0.  p.  58. 

*  Herausgegeben  von  Heinrich  Meusel,  Leipzig  1871  (Sonderabdruck 
aus  dem  6.  Supplementband  der  Jahrbücher  für  klassische  Philologie). 
Über  die  Handschrift  selber  siehe  die  Einleitung  des  Herausgebers.  Ich 
bezeichne  die  Handschrift  im  folgenden  mit  L. 

'  Vgl.  über  die  Komposition  dieses  Briefes  Rohde  a.  a.  0.  p.  189. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     163 

die  für  unseren  Gegenstand  von  grundlegender  Bedeutung  sind, 
stimmt  er  mit  y  überein  und  weist  mehrfach  sehr  altertüm- 
liche Züge  auf.^ 

Ich  gebe  im  folgenden  eine  kurze  Übersicht  über  den 
Inhalt  des  Briefes,  wie  er  sich  in  den  verschiedenen  Rezen- 
sionen darstellt.^  Die  in  demselben  enthaltene  Episode  vom 
Lebensquell  gebe  ich,  soweit  es  für  unseren  Gegenstand  not- 
wendig erscheint,  in  wortlicher  Übersetzung  wieder.'  Ich  lege 
die  im  Kodex  C  niedergelegte  y-Rezension,  die  bei  weitem  die 
ausführlichste  ist,  zugrunde,  merke  jedoch  die  Abweichungen 
der  anderen  Rezensionen  an  Ort  und  SteUe  an.  Um  späteres 
Zitieren  in  dieser  Abhandlung  zu  erleichtern,  teile  ich  den 
folgenden  Auszug  in  Paragraphen  ein.  In  den  Anmerkungen 
deute  ich  die  mannigfachen  inhaltlichen  und  literarkritischen 
Schwierigkeiten  dieses  außerordentlich  komplizierten  Stückes  an. 

§  1.  Der  Brief,  der  an  Alexanders  Mutter  Olympias  und 
seinen  Lehrer  Aristoteles*  adressiert  ist,  beginnt  (Kapitel  23) 
mit  der  Mitteilung  von  Alexanders  Sieg  über  Darius.  C  fügt 
noch  die  Nachricht  über  seine  Heirat  mit  Roxane  hinzu,  ver- 
läßt sodann  plötzlich,  ohne  Schlußformel,  die  Briefform  und 
setzt  den  Bericht  in  der  dritten  Person  fort.  5  und  L  da- 
gegen behalten  die  Briefform  im  Verlaufe  des  ganzen  Ab- 
schnittes bei. 


'  Müllers  Ausgabe  folgt  in  diesem  Teile  des  Werkes  dem  Kodex  C. 
Den  Text  des  Olympiasbriefes  nach  B  samt  französischer  Übersetzung 
bietet  Berger  de  Xivrey  Traditians  Teratologiques  Paris  1836,  p.  350ff. 
Eine  kritische  Übersetzung  und  Rekonstruktion  dieses  Abschnittes 
nach  ß  bietet  Ausfeld  a.  a.  0.  p.  80flF. 

*  Eine  Analyse  dieses  Abschnittes  findet  man  bei  Zacher  a.  a.  0. 
p.  132 ff.     Für  unsere  Zwecke  jedoch  ist  sie  durchaus  unzureichend. 

'  Ich  lege  die  Übersetzung  von  Weismann  Alexander,  Gedicht  des 
12.  Jahrhunderts  vom  Pfaffen  Lamprecht  Band  II,  Frankfurt  a.  M.  1850, 
zugrunde,  folge  ihr  jedoch  nicht  im  einzelnen,  da  sie  keineswegs  frei 
von  Irrtümern  ist. 

*  C  läßt  Aristoteles  aus,  vgl.  Müllers  Ausgabe  Kap.  23,  Anm.  1. 

11* 


164  I-  Friedlaender 

§  2.  Die  folgenden  acht  Kapitel  (24— 31)  finden  sich  nur  in  C 

Kap.  24  handelt  von  Alexanders  Zug  nach  Judäa,  Kapp. 
25 — 28  von  seinen  Erlebnissen  in  Ägypten. 

§  3.  Nachdem^  Alexander  die  gesamte  bewohnte  Erde 
erobert,  will  er  in  die  unbewohnte  ziehen.  Er  begibt  sich  mit 
seiner  Armee,  die  sich  auf  seinen  Befehl  auf  sechs  Monate 
hinaus  verproviantiert,  auf  den  Weg.  Während  des  Zuges 
stoßen  sie  auf  allerlei  Ungeheuer,  die  ihnen  viel  zu  schafi'en 
machen  (Kap.  29). 

§  4.  Alexander  gelangt  an  einen  Sandstrom,  der  drei 
Tage  von  Wasser  und  drei  Tage  von  Sand  fließt.  Derselbe 
wird  vermittelst  steinbeladener  Holzkästen  überschritten  (Kap.  30). 

§  5.  Jenseits  des  Stromes  findet  er  eine  andere  Welt.^ 
Die  Menschen  sind  nicht  mehr  als  anderthalb  Ellen  groß.  Sie 
werden  wegen  ihrer  winzigen  Gestalt  in  Frieden  gelassen. 

§  6.  Vorwärtsschreitend  findet  Alexander  eine  Inschrift 
des  Königs  Sesonchosis,  die  verkündet,  daß  dieser  Herrscher 
hier  umkehren  mußte,  weil  er  nicht  weiter  vordringen  konnte. 
Alexander  verhüllt  die  Inschrift  und  zieht  weiter  (Kap.  31). 

§  7.  Die  folgenden  zwei  Kapitel  (32  —  33)  finden  sich 
auch  in  B  und  L. 

Nachdem^  Alexander  mehrere  Wegweiser^  in  Dienst  ge- 
nommen hatte,  wollte  er  in  die  entfernteren  Teile  der  Wüste' 
nordwärts^  ziehen. 


'  Man  hat  entschieden  den  Eindruck,  daß  mit  Kap.  29  eine  neue 
Quelle  beginnt. 

*  Unten  dagegen  (§  16)  findet  Alexander  die  andere  Welt  nach 
Überschreitung  der  Schlucht. 

'  Hier  scheint  wiederum  eine  neue  Quelle  vorzuliegen. 

*  jcXsiovag  odriyovg,  L  einfach  odrjyovj,  B  tovg  TiXslovag  öd/jyovf. 
Der  Artikel  zeigt,  daß  der  Brief  fragmentarisch  ist. 

*  Der  armenische  Pseudokallisthenes,  ebenso  die  Version  des 
Josippon,  die  mit  jenem  hälfig  zusammengeht,  fügen  hinzu:  der  Moder, 
siehe  Ausfeld  p.  81  zur  Stelle. 

^  xuTu  trjv  a/xalav  roU  nöXov  „nach  dem  Wagen  des  Polarsternes", 
vgl.  unten  S.  171,  Anm.  7. 


Alexanders  Zag  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     165 

§  8.  Alexander  und  seine  Begleiter  gelangen  in  einen 
Ton  Riesen  bewohnten  Wald,  dessen  Früchte  (nach  den  meisten 
Rezensionen  Apfel)  ihnen  als  einzige  Nahrung  dienen  (Kap.  32). 

§  9.  Kap.  33,  das  JB  und  L  in  etwas  abweichender  Ge- 
stalt bieten,  berichtet  von  allerhand  Kämpfen  mit  menschlichen 
Ungeheuern,  zu  dem  Kap.  34,  das  sich  nur  in  C  findet,  fernere 
Abenteuer  hinzufügt 

§  10.  Kap.  35,  das  sich  an  dieser  Stelle  nur  in  C  findet*, 
berichtet  von  Alexanders  Zusammentreffen  mit  den  Brahmanen 
auf  deren  Insel. 

§  11.     In  Kap.  36  setzen  B  und  L  wieder  ein. 

Alexander  stößt  auf  die  Eintagsbäume,  die  im  Laufe 
eines  Tages  aufblühen  und  verschwinden,  und  ähnliche  Aben- 
teuer mehr  (Kap.  36). 

§  12.  Am  darauffolgenden  Tage  ziehen  sie  irrend  umher.  Die 
Wegweiser  remonstrieren:  „Wir  wissen  nicht,  wohin  wir  kommen; 
laß  uns  umkehren,  damit  wir  nicht  in  schlimme  Gegenden  ge- 
raten".   Alexander  jedoch  schlägt  ihre  Warnungen  in  den  Wind. 

„Nachdem  er  nun  zehn  Tage  weiter  gezogen  war,  zeigte 
sich  kein  Tageslicht  mehr,  sondern  bloß  während  einer  Stunde 
ein  schwacher  Glanz." ^  Sie  stoßen  auf  allerlei  gräßliche 
Ungeheuer.  „Seine  Freunde  redeten  dem  Alexander  dringend 
zu,  er  möge  umkehren.  Aber  er  wollte  nicht,  weil  er  das 
Ende  der  Welt  zu  sehen  wünschte"^  (Kap.  37). 

§  13.  Sie  ziehen  durch  eine  tierlose  Wüste  am  Meere 
hin.  „Die  Sonne ^  erblickten  sie  nicht  mehr,  sondern  dunkel 
war  die  Luft  zehn^  Tage  lansr."" 


'  Den  Inhalt  dieses  berühmten  Kapitels  bietet  die  Rezension  a 
und    die    von  ihr  abhängigen  Bearbeitungen  im  dritten  Buche  Kap.  5  ff. 

*  Dieser  Satz  nur  in  C. 

'  Ähnlich  auch  B  und  L.  *  B  ovgavöv. 

^  Weismann  S.  130  irrtümlich  12. 

^  Ist  dies  eine  Doublette  des  Satzes  oben,  Z.  20—22,  und  ist  jener 
Satz,  der  sich  nur  in  C  findet,  in  den  anderen  Rezensionen  absichtlich 
beseitigt? 


166  I-  Friedlaender 

§  14.  Er  versucht  nach  einer  geheimnisvollen  Insel,  die 
sich  in  nächster  Nähe  befindet,  hinüberzusetzen,  aber  der 
Versuch  nimmt  einen  kläglichen  Ausgang. 

§  15.  Die  Entdeckung  von  Perlen  im  Bauche  eines 
Krebses  veranlaßt  Alexander,  in  einem  gläsernen  Fasse  in  die 
Meerestiefe  zu  steigen^,  aus  der  er  nach  vielen  Gefahren  ans 
Licht  kommt  2  (Kap.  38). 

§  16.  Man  gelangt  in  eine  Ebene,  die  von  einer  Schlucht 
geteilt  ist.  Alexander  überbrückt  die  letztere  und  bringt  eine 
Inschrift  an,  des  Inhalts,  daß  er  dieselbe  mit  seinem  ganzen 
Heere  überschritten  habe,  „um  das  Ende  der  Welt  zu  erreichen, 
wie  es  die  Vorsehung  beschlossen  hat".^ 

§  17.  Nach  drei*  Tagen  gelangt  man  an  einen  Ort,  wo 
die  Sonne  nicht  schien.  Dort  ist  das  sogenannte  Land  der 
Seligen.^ 


^  Der  Sachverhalt  ist  hier  anscheinend  verdunkelt.  Als  Beweg- 
grund figuriert  hier  Perlenfischerei,  während  er  in  Wahrheit  Wißbegierde 
ist,  vgl.  unten  S.  181  f. 

*  Den  Abstieg  in  die  Tiefe  läßt  B  aus. 

'  Alles  dies  nur  in  C.     Das  folgende  auch  in  B  und  L. 

*  BL:  zwei. 

^  C,  B  (vgl.  Berger  de  Xivrey  p.  366)  und  L  haben  gleichmäßig 
'Eaet  oiv  iörlv  tj  KaXovfisvT]  ^laKccgcov  jjföga.  Das  Land  der  Seligen  liegt 
demnach  innerhalb  des  Landes  der  Finsternis,  und  so  heißt  es  auch 
ausdrücklich  in  dem  Resume  des  Oljmpiasbriefes  (s.  über  dasselbe 
unten  S.  176  flF.),  daß  es  im  Lande  der  Seligen  völlig  Nacht  war  (unten 
S.  177,  Z.  15).  Indessen  liegt  hier  ohne  Zweifel  ein  sehr  altes  Mißverständnis 
vor.  Denn  nach  einer  anderen  Stelle  (S.  170)  gelangt  Alexander,  erst 
nachdem  er  dreißig  Schoinoi  im  Dunkeln  vorwärtsgeschritten  war,  ins 
Land  der  Seligen  und  sieht  daselbst  „einen  Glanz  ohne  Sonne,  Mond 
und  Sterne"  (§  27).  Das  Land  der  Seligen  liegt  demnach,  wie  man 
von  vorne  herein  erwartet,  jenseits  des  Landes  der  Finsternis.  Unser 
Text  will  demnach  besagen,  daß  die  Sonne  zwar  dort  nicht  schien,  daß 
es  aber,  im  Unterschied  von  der  irdischen  Welt,  ohne  Sonne  hell  war, 
und  der  Autor  hat  seine  Quelle  mißverstanden.  —  Woher  Ausfeld  (p.  83) 
seine  Übersetzung:  „von  dort  wollte  ich  mit  meinen  Dienern  das  Land 
der  Seligen  aufsuchen"  —  ein  Satz  der  freilich  die  erörterte  Schwierig- 
keit beseitigen  würde  — ,  geschöpft  hat,  ist  nicht  recht  ersichtlich. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadliirlegende     167 

§  18.  Alexander^  woUte  das  Fußvolk,  die  Greise  und 
Frauen  samt  deren  Gepäck-  zurücklassen  und^  nur  mit  aus- 
erwählten  Jünglingen^  in  jene  Gegenden  eindringen.^  „Kalli- 
sthenes  aber,  einer  seiner  Freunde,  riet  ihm,  mit  40  Freunden, 
100  Knaben  und  1200^  Soldaten  in  das  Land  zu  ziehen." 

„Der'  König  Alexander  brach  also  mit  diesen  auf*  und  gebot, 
daß  kein  Greis  ihm  folgen  solle."  Ein  Greis  jedoch,  dessen  zwei 
Söhne  Alexander  begleiteten,  verstellt  sich  und  zieht  heimlich  mit. 

§  19.  „So  zogen  sie  mit  Alexander^  und  fanden  einen 
nebligen  Ort.^°  Da  sie,  weil  der  Ort  unwegsam  war,  nicht 
weiter  vordringen  konnten,  so  brachen  sie  ihre  Zelte  ab." 

§  20.  „Am  folgenden  Tage  aber  nahm  Alexander  die 
tausend  Bewaffneten^^  und  drang  mit  ihnen  in  das  Land  ein, 
um  zu  erforschen,  ob  dort  das  Ende  der  Welt  sei."^' 

'  Hier  beginnt  anscheinend  ein  neuer  Bericht. 

*  Weismann  p.  132  1.  Z.  übersetzt  die  Stelle  falsch. 

'  Die  Worte:  „Das  Fußvolk  .  .  .  und"  fehlen  in  B.  Dies  ist  auch 
logischer,  da  der  Rat,  nur  Jünglinge  mitzunehmen,  erst  von  Kallisthenes 
kommt.  L  bietet  dieselben  Worte  inhaltlich  an  einer  anderen  Stelle 
(unten  Anm.  8).  *  B  und  L  rovg  idiovg  {lov  dovXovs. 

*  Ausfelds  Übersetzung  ist  hier  gekürzt  und  verdunkelt  den  Sinn. 
^  B  -\-  ixXsxTOig;  L  -j-  ^lovoig  yvriaioig. 

'  Das  Folgende  bis  S.  169,  Anm.  1,  fehlt  in  B. 

*  L  anstatt  dessen:  „Indem  ich  nun  daa  Fußvolk  samt  den  Greisen 
und  Frauen  zurückließ,  nahm  ich  alle  jungen  auserwählten  Soldaten 
und  zog  mit  ihnen."     Vgl.  oben,  Anm.  3.         ^  L  -{-  drei  Tage. 

"  xoTcov  outjjltö^rj.  Was  soll  dieser  neblige  Ort  im  Lande  der 
Finsternis  oder  im  Lande  der  Seligen  (letzteres  Josippon,  unten  S.  180, 
Anm.  3)?  Ist  damit  das  Paradies  gemeint,  das  nach  der  sehr  alter- 
tümlichen syrischen  Alexanderlegende  (s.  über  dieselbe  Kap. III)  von  Nebel 
umgeben  ist  und  das  dem  Alesander  wie  überhaupt  jedem  Sterblichen 
unzugänglich  ist?  (vgl.  Budge  The  History  of  Alexander  the  Great  beitig 
the  Syriac  Version  of  PseudocaUisthenes ,  Cambridge  1889  p.  152  und 
unten  p.  198ff.).  Überhaupt  hängt  dieser  Paragraph  sowohl  mit  dem  Tor- 
hergehenden wie  mit  dem  Folgenden  schlecht  zusammen.  Er  schwebt  gänz- 
lich in  der  Luft  und  scheint  das  Fragment  eines  anderen  Berichtes  zu  sein. 

"  C  xovg  xilLovg  ivönXovg  mit  Artikel,  den  L  ausläßt.  Torher 
(§  18)  waren  es  1200  Soldaten,  außerdem  40  Freunde  und  100  Knaben. 
Hier  liegt  anscheinend  eine  andere  Quelle  vor. 

**  ftT^itcog  ivTav9d  elet  rä  Sxga  (L  ro  tiXog)  x^g  yfjff. 


168  I-  Friedlaender 

§  21.  „Und  da  er  eingedrungen  war,  da  sah  er  zur  Linken  einen 
heilem  Raum  und  zog  durch  wüste  und  felsige  Gegenden  bis  zur 
Mitte  des  Tages.  Dieses  erkannte  er  aber  nicht  nach  der  Sonne, 
sondern  mit  Schnüren  {pxolvois)  maß  er  den  Weg  nach  der  Geo- 
metrie und  erkannte  daraus  die  Zeit.  Nachher  aber  ward  Alexander 
bange  und  er  kehrte  um,  weil  der  Weg  ungangbar  war."^ 

§  22.  „Als  er  aber  wieder  hinausgelangt  war,  wollte  er 
nun  nach  rechts  ziehen.  Denn  es  war  eine  flache  Ebene,  aber 
finster  und  dunkel."^ 

§  23.  „Er  war  nun  in  Verlegenheit,  weil  keiner  der  Jünglinge 
ihm  riet,  in  das  finstere  Land  einzudringen,  aus  Furcht,  daß  wenn 
die  männlichen  Pferde  durch  die  Dunkelheit  des  langen  Weges 
erschöpft  würden,  sie  nicht  wieder  zurückkehren  könnten." 

Alexander  sehnte  sich  nunmehr  nach  dem  Rate  eines 
Greises.  Der  Greis,  der  heimlich  mitgezogen  war,  stellt  sich 
sodann  Alexander  vor  und  spricht  ihn  folgendermaßen  an: 
„Das  kannst  du  einsehen,  o  König  Alexander,  daß  wenn  die 
Pferde  hineingegangen  sind,  du  das  Licht  nicht  mehr  sehen 
wirst.  Wähle  also  die  Stuten^  aus,  welche  Fohlen  haben  und 
lasse  die  Fohlen  hier.^  Wir  aber  wollen  mit  den  Stuten  in 
das  Land  eindringen  und  dieselben  werden  uns  wieder  hierher- 
bringen."    Alexander  folgt  dem  Rate  des  Greises. 

§  24.  „Der  Greis  aber  befahl  seinen  Söhnen,  das,  was 
sie  nach  dem  Eindringen  auf  der  Erde  finden  würden,  zu 
sammeln  und  in  ihre  Säcke  zu  stecken." 


'  Dieser  Paragraph  nimmt  sich  etwas  seltsam  aus.  Er  scheint  fast 
eine  Doublette  von  §  19  zu  sein. 

*  Das  heißt  wohl:  sie  hatten  die  dunkle  Ebene  vor  sich  und  sie 
waren  nun  darauf  bedacht,  in  dieselbe  einzudringen. 

'  B  (s.  unten  S.  171,  Anm.6)  hat  Eselinnen  statt  Stuten.  L  liest 
wie  C,  doch  eine  Bemerkung  am  Rande  von  L  (ed.  Meusel  p.  765,  Anm.  76) 
weist  auf  die  Variante  hin.  Der  armenische  Pseudokallisthenes,  ed.  ßaabe 
p.  72,  hat  bloß  eine  Eselin  (s.  unten  S.  180,  Anm.  2).  Dieser  Unterschied 
ist  ein  wichtiges  Merkmal  der  Rezensionen. 

*  Dies  heißt  anscheinend:  am  Eingang  zum  Lande  der  Finsternis.  Sie 
sind  also  noch  nicht  im  Dunkeln.  Dagegen  war  es  schon  §  18  und  §  21  dunkel. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensqnell  und  die  Chadhirlegende     169 

§  25.  „Und  es  zogen  mit  Alexander  360  Krieger,"^ 
§  26.  „So*  drangen  sie  auf  einem  finstem  Wege  fünf- 
zehn Schoinoi  vor.  Da  sahen  sie  einen  Ort  und  an  demselben 
war  eine  durchsichtige  Quelle,  deren  Wasser  blitzte  wie  der 
Blitz.  ^  Die  Luft  aber  dort  war  wohlriechend  und  sehr  lieb- 
lich.* Da  aber  der  König  Alexander  hungrig  geworden  war 
und  etwas  genießen  wollte,  so  rief  er  den  Koch  namens 
Andreas^,  und  befahl  ihm  Speise^  zurechtzumachen.  Dieser 
nahm  einen  gedörrten  Fisch  ^  und  ging  zu  dem  durchsichtigen 
Wasser  der  Quelle^,  um   denselben  zu  waschen.     Wie  er  aber 

'  Dies  stammt  anscheinend  aus  einer  anderen  Quelle,  die  möglicher- 
weise mit  der  des  folgenden  Paragraphen  identisch  ist.  Über  die  Zahl  360 
vgl.  später.  L  fügt  noch  den  Satz  hinzu:  „und  ich  befahl,  daß  die 
(rovs)  sechzig  Fußsoldaten  vorausschreiten."  Dies  kann  nur  aus  einem 
älteren  Berichte  stammen,  der  nicht  mehr  erhalten  ist.  —  Anstatt  dieses 
ganzen  Abschnittes,  der  oben  S.  167,  Anm.  7,  beginnt,  bietet  B  einen 
einzigen  Satz,  der  stark  verstümmelt  ist  xmd  nach  Ausfelds  Rekon- 
struktion (p.  84,  Anm.  1)  folgendermaßen  lautet:  „Außerdem  ließ  ich 
Eselinnen  mitführen,  deren  Fohlen  unterdessen  im  Lager  angebunden 
waren."    Ygl.  die  Übersetzung  Berger  de  Xivreys  p.  367. 

*  Hier  beginnt  höchstwahrscheinlich  eine  von  den  übrigen  Berichten 
verschiedene  Quelle,  s.  darüber  unten  S.  182 f.  §  25  mag  derselben  Quelle 
entstammen. 

'  i  -f-  xßi  sztQu  nXtlera  vddrav.     Vgl.  unten  S.  170,  Anm.  4. 

*  Der  Satz  fehlt  in  B.  Anstatt  „und  sehr  lieblich"  L:  „und  nicht 
im  geringsten  dunkel." 

*  Die  "^'orte  övoftari  xaXov^vov  kvdgiav  fehlen  in  B.  In  L  (cf.  ed. 
Meusel  p.  765,  Anm.  33)  sind  die  Worte  dvofuxTi  'Avdqiav  von  gleich- 
zeitiger Hand  am  Rande  nachgetragen.  Der  Xame  dürft«  von  dem 
Koche  Andreas  abgeleitet  sein,  der  nach  Diodor  8,  24  der  Stammvater 
der  sikyonischen  Herrscher  war.  Prof.  Carl  DjroflF  in  München  machte 
mich  in  liebenswürdiger  Weise  auf  die  Stelle  des  Diodor  auf- 
merksam. 

^  Genauer  „Zuspeise",  ,,Zuk^t":  TtQoetpäyiov  (nach  Stephanus  s.  v. 
ist  der  Ausdruck  vulgär).  Der  Unterschied  ist  nicht  gleichgültig.  Vgl. 
unten  S.  205,  Anm.  2. 

"  C  dioTUQixov,  das  Müller  in  avov  raptjror  verbessert.  B  und  L 
bloß  TÜQixov,  das  wohl  auch  in  der  Lesart  von  C  vorliegen  dürfte.  Vgl. 
Stephanus   Thesaurus  s.Y.ruQixog.    Ausfeld  übersetzt  „Salzfisch". 

*  Jtriyfis,  L  yfis.     Letzteres  dürfte  ein  bloßer  Schreibfehler  sein. 


170  I-  Friedlaender 

in  dem  Wasser  hin  und  her  geschüttelt  wurde,  ward  er  sofort 
lebendig  und  entschlüpfte  den  Händen  des  Koches.  Der  Koch 
sagte ^  niemandem,  was  geschehen  war,  sondern  nahm  von 
diesem  Wasser^  und  bewahrte  es  in  einem  silbernen  Gefäße.^ 
Es  hatte  die  ganze  Gegend  eine  überreiche  Fülle  von  Wasser.* 
Davon  tranken  alle  und  nahmen  Nahrung  zu  sich'^^  (Kap.  39). 
§  27.  „Nachdem  sie  Speise  zu  sich  genommen  hatten, 
zog®  Alexander  dreißig''  Schoinoi  weiter.  Da  sah  er  nun 
einen  Glanz  ohne  Sonne  und  Mond  und  Sterne."  Zwei^ 
Vögel  mit  menschlichen  Gesichtern  treten  ihm  in  den  Weg 
und  befehlen  ihm  umzukehren.  Einer  derselben  ruft  ihm  zu: 
„Das  Land,  welches  du  betrittst,  o  Alexander,  gehört  Gott 
allein.  Kehre  um,  Elender,  denn  das  Land  der  Seligen^  wirst 
du  nicht  betreten  können.  Kehre  also  um,  o  Sterblicher,  ziehe  in 
dem  Lande,  das  dir  gegeben  ist,  umher  und  füge  dir^"  keine  Trübsal 


*  L  -\-  cpoßrjd-sig  „aus  Furcht".    Wovor?  vgl.  unten  S.  188,  Anm.  1. 

*  i  -f  trank  davon,  s.  fg.  Anmerkung.  Dies  scheint  im  Kodex  C 
bloß  ausgefallen  zu  sein,  da  an  einer  anderen  Stelle  darauf  Bezug  ge- 
nommen wird,  vgl.  unten  §  31. 

'Der  ganze  Satz  fehlt  in  B.  Danach  machte  der  Koch  keinen 
widerrechtlichen  Grebrauch  vom  Lebensquell,  s.  unten  S.  188,  Anm.  2. 

*  ßgiav  vSarcc,  L  :  ß.  v.  jtoXXd,  vgl.  unten  S.  187,  Anm.  1. 

^  Dieser  Satz  fehlt  in  B.  —  L  bietet  folgenden  Zusatz:  w  rijg 
ifi^S  SvöTvxl-ciS  Ott,  ovK  ?x£iTO  (loi  Ttislv  ix  T^g  ad'avdrov  ixBivrjg  JtTjy^s 
rfis  ^(poyovovßrjs  rä  cctpvxcc ,  t]s  o  ifiog  (läysiQog  Tsxv%riv,sv.  Derselbe  Zu- 
satz findet  sich  inhaltlich  in  dem  aus  dem  13.  Jahrhundert  stammenden 
byzantinischen  Alexandergedicht,  vgl.  Christensen  in  den  Sitzungsberichten 
der  philosophisch -philologischen  und  historischen  Klasse  der  Kgl.  bayerischen 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  München  1877,  p.  50f.  Über  die 
Wichtigkeit  dieses  Zusatzes  s.  unten  S.  189,  Anm.  1. 

^  Mit  diesem  Worte  beginnt  eine  andere  Quelle,  die  wahrscheinlich 
mit  §  17  zusammenhängt.     Siehe  darüber  unten  S.  178  flf. 

'  Der  Armenier  hat  bloß  15,  s.  S.  180,  Anm.  2. 

^  So  BL.    C  ungenau:  drei. 

^  C:  Mccxägav  x^Q'^fi  S'  -M".  yrjv;  L:  M.  v-^aovg.  Siehe  unten 
S.  197,  Anm.  1. 

'"  .B  -f  „und  denen  mit  dir".  —  Weismanns  Übersetzung  dieser 
Stelle  (p.  185)  ist  unzuverlässig. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     171 

zu."  „Alexander  erbebte  und  gehorchte  in  höchst  lobenswerter 
Weise ^  der  Stimme,  die  durch  die  Vögel  an  ihn  gelangte."* 

§  28.  Alexander  aber,  „nachdem  er  sich  mit  der  Yor- 
sehung  im  Himmel  versöhnt  hatte",  ließ  verkünden,  daß  ein 
jeder  mitnehmen  solle,  was  ihm  in  die  Hand  komme,  „sei  es 
Stein,  oder  Kot,  oder  Holz".  Doch  nur  ein  Teil  gehorchte. 
Sein  Freund  Philon,  dem  er  denselben  Rat  erteilt,  versieht 
sich  mit  einem  scheinbar  unbrauchbaren  Steine.  Besonders  die 
Söhne  des  Alten  versahen  sich  reichlich.^ 

§  29.  „Alexander  aber*  schickte  den  Wegweiser*^  mit 
den  Eseln ^  voraus  und  zog  wieder  nordwärts.'  Den  Stimmen 
der  Stuten^  folgend,  gelangte  er  in  einigen^  Tagen  wieder  aus 
dem  Lande." 

„So  kamen  sie  aus  dem  mit  ewiger  Nacht  bedeckten 
Lande  heraus"  ^"^  (Kap.  40). 


'  Vgl.  Müllers  Ausgabe  Kap.  40  Anm.  4  und  die  Lesart  von  L. 

*  Die  armenische  Version  (s.  unten  S.  180,  Anm.  2)  lautet  anstatt 
dessen:  „da  wurde  ich  von  Zittern  und  Zagen  ergriffen  und,  voller  Furcht 
und  Demut,  gehorchte  ich  mit  Notwendigkeit  der  göttlichen  Stimme,  die 
durch  die  zwei  Vögel  sprach".  —  Nach  Nöldeke  Beiträge  zum  Alezander- 
roman p.  25,  Anm.  2,  ist  dieser  Paragraph  aus  einem  anderen  Teile 
eingeschoben.  Allein,  wie  unten  (S.  199)  nachgewiesen  wird,  ist  gerade 
dieser  Paragraph  der  Kern  der  ganzen  Erzählung. 

'  Der  ganze  Paragraph  fehlt  in  BL.  Er  ist  anscheinend  eine 
Dublette  von  §  24  und  ist  in  C  wohl  aus  einer  anderen  Quelle  ein- 
geschoben, 8.  unten  S.  188,  Anm.  4. 

*  BL  -\-  i^iXswöduevos ,  vgl.  den  ersten  Satz  des  vorhergehenden 
Paragraphen. 

'  L  und  C  Singular,  ebenso  die  armenische  Version  (cf.  L  ed.  Mensel 
p.  766,  Anm.  *).  B,  dem  Müllers  Text  folgt,  hat  den  Plural.  Vgl.  oben 
S.  164,  Anm.  4.  Diese  Differenz  ist  nicht  ohne  Belang,  s.  unten  S.  213, 
Anm.  8  und  S.  214,  Anm.  1. 

®  BC  tag  ovovs;  L  ras  iitTtovg.  Die  erstere  Lesart  stimmt  mit 
der  von  B  (oben  S.  168,  Anm.  3)  überein. 

"  xarä  T^v  aucc^av  .  .  .  twv  aericav,  vgl.  oben  S.  164,  Anm.  6. 

*  BL:  „der  Fohlen  und  deren  Mütter". 
®  BL:  22;  Josippon  Kap.  10:  zwanzig. 

•"  Dieser  Satz  fehlt  B  und  L.     Vgl.  S.  166,  Anm.  5. 


172  I-  Friedlaender 

§  30.  Ans  Licht  angelangt,  „da,  wo  die  anderen  Soldaten 
waren"  ^,  entdeckten  sie,  daß  sie  Perlen  und  Edelsteine  in 
Händen  hatten,  „Da  bereuten  es  die,  welche  nichts  genommen 
hatten;  diejenigen  aber,  welche  etwas  genommen  hatten, 
dankten  alle  dem  Alexander  und  dem  Greise^  für  ihren  guten 
Rat".^  Auch  der  Stein,  den  Philon  mitgenommen  hatte,  er- 
wies sich  als  reines  Gold.* 

§  31.  „  Jetzt ^  erzählte  auch  der  Koch,  wie  das  Essen 
(t6  sdsö^a)  lebendig  geworden  war.*'  Da  ward  Alexander  zornig 
und  befahl  ihn  fürchterlich  zu  peitschen.^  Dieser  sprach  jedoch 
zu  ihm:  Vas  nützt  dir  die  Reue  über  eine  vergangene  Sache?' 
Er  sagte  aber  nicht  ^,  daß  er  von  dem  Wasser  getrunken  oder  davon 

'  Die  in  Anführungszeichen  eingeschlossenen  Worte  fehlen  in  BL. 
Dies  ist  vielleiclit  nicht  unbeabsichtigt.  Denn  wenn  Alexander  auch 
jetzt  (§  29),  wie  am  Beginn  der  Reise  (§  7),  nordwärts  zieht,  dann  kann 
er  nicht  gut  ins  Lager  zurückgekehrt  sein,  -von  dem  aus  er  die  Reise 
begonnen  hatte.  Es  gibt  aber  eine  Gestalt  der  Sage  (s.  unten  S.  204), 
nach  der  er  durch  das  Land  der  Finsternis  hindurch  auf  demselben 
Wege,  auf  dem  er  gekommen  war,  zurückkehrte. 

*  Dies  ist  für  das  eklektische  Verfahren  von  C  charakteristisch. 
Nach  §  24  war  es  der  Greis,  der  diesen  Rat  erteilte.  Nach  einer  anderen 
Vorlage  von  C  (§  28)  war  es  vielmehr  Alexander:  also  müssen  hier  beide 
figurieren.  L  (s.  folgende  Anmerkung)  spricht  auch  hier  lediglich  vom  Greise. 

^  L  ist  hier  pointierter:  „Als  sie  dies  sahen,  bereuten  diejenigen, 
die  etwas  genommen  hatten,  daß  sie  nicht  mehr  nahmen;  diejenigen 
aber,  die  nichts  genommen,  (bei-euten  es),  daß  sie  nichts  nahmen.  Wir 
alle  aber  waren  dem  Greise  dafür  dankbar,  daß  er  uns  einen  derartigen 
Rat  gegeben."     Über  B  s.  Anm.  7.  *  Fehlt  BL. 

^  Hier  liegt  wiederum  eine  andere  Quelle  vor,  s.  unten  S  188,  Anm.  4. 

®  L  anstatt  dessen:  „erzählte  auch  der  Koch,  was  ihm  an  der 
Quelle  zugestoßen  war". 

'  L:  „als  ich  aber  dies  hörte,  da  wurde  ich  von  Schmerz  ergriffen 
und  bestrafte  ihn  fürchterlich".  —  B  gibt  den  Inhalt  dieses  Paragraphen 
in  viel  kürzerer  Fassung:  „als  wir  ans  Licht  gelangten,  da  fanden  sie, 
daß  sie  reines  Gold  genommen  hatten.  Da  erzählte  auch  der  Koch, 
wie  das  Essen  lebendig  geworden  war.  Da  wurde  ich  zornig  und  be- 
strafte ihn.  Lebe  wohl!"  Hier  schließt  der  Brief  und  unmittelbar 
darauf  folgt  das  dritte  Buch.     Alles  übrige  fehlt  in  B. 

*  X,  wo  die  Briefform  beibehalten  ist  (oben  §1):  „ich  wußte 
aber  nicht". 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensqaell  und  die  Chadhirlegende     173 

aufbewahrt  habe.  Dies  konnte  der  Koch  sich  nicht  entschließen  zu 
gestehen,  nur  daß  der  Salzfisch  ^  wieder  lebendig  geworden  war." 
§  32.  „Es  ging  aber  der  schlechte  Koch  zu  der  Tochter 
des  Alexander,  welche  vom  Kebsweib  üne'  geboren  war  und 
Kaie  hieß,  und  verführte  sie,  indem  er  ihr  versprach  Wasser 
aus  dem  Unsterblichkeitsquell  zu  trinken  zu  geben,  und  dies 
tat  er  auch.  Als  Alexander  dies  erfuhr,  mißgönnte  er  ihnen^ 
die  Unsterblichkeit.  Und  er  rief  seine  Tochter  zu  sich  und 
sprach  zu  ihr:  'Nimm  deine  Kleider  und  hebe  dich  hinweg; 
denn  siehe,  du  bist  ein  göttliches  Wesen  (da^/tov)  geworden, 
da  du  unsterblich  geworden  bist.  Du  wirst  Nere'is  heißen,  da  du 
durch  das  Wasser*  Unsterblichkeit  gewonnen  hast  und  dort^ 
wirst  du  wohnen.'  ^  Weinend  und  klagend  ging  sie  hinweg  von 
seinem  Angesicht  und  ging  in  die  Wüste  hin,  unter  die  Dämonen." 

'  C  oxuqüqixov,  danach  Müller  xo  tagixiov;  L  to  TUQtxog  (vgl.  oben 
S.  169,  Anm.  7). 

*  Müllers  Text  Ovpris,  L  olv  vag  (dazwischen  scheinen  zwei  Buch- 
staben zu  fehlen).  Ausfeld  p.  84  (Kap.  41,  Anm.  2)  emendiert  xoivfis 
„einem  gewöhnlichen  Kebsweib". 

'  X  +  iQöi  TO  uXri^ig.  *  Vgl.  die  Lesart  von  L  in  Anm.  6. 

'  Also  im  Wasser,  s.  dagegen  L  in  der  folgenden  Anmerkung. 

^  i  in  abweichender  Fassung:  lußoveä  eov  xbv  'utaTiciiov  l^sX9s 
TOÜ  TtQ06a)7C0v  fiov  ISov  yccQ  yiyovag  daiynav  ccnad'avaTißd^sieu.  xaXt]  [liv 
zä  ovöuati  ixXi^Q'Tis'  ccqticos  dh  xaXiaco  es  xaXi]v  zwv  ogiwv,  ort  iv  airoig 
TOÜ  Xoijtov  xccTOixjjöstff'  fffjj  ök  xsxXfi^vTi  NriQuida,  mg  ix  tov  vrjpoü  xcc 
iSia  (lies  cctdia?  vgl.  die  Lesart  von  C)  ds^auivri,  rovreeziv  zu  cc9dvaxa. 
xal  xavxa  ziniav  ngoßsza^a  xov  Xomov  (irj  olxsiv  iv  avO^gäitoig,  alV  iv 
zolg  oQsaiv.  Nach  C  (s.  jedoch  folgenden  Satz  im  Texte)  soll  Kaie  ein 
Seedämon,  nach  L  hingegen  ein  Berg-  oder  Wüstendämon  sein.  Hier 
liegen  anscheinend  zwei  alte  Vorstellungen  vor.  Der  Name  Nereis  läßt 
kaum  einen  Zweifel  darüber,  daß  die  erstere  Vorstellung  die  ursprüng- 
lichere ist,  denn  die  Erklärung  von  L,  die  C,  der  ^x  toü  vdaxog  statt 
ix  zov  vTiQov  liest,  schon  mißverstanden  zu  haben  scheint,  sieht  wie  ein 
exegetischer  Notbehelf  aus.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  in  der  ost- 
europäischen Sage  Kaie  als  Seedämon  fortlebt,  s.  darüber  die  inter- 
essanten Ausführungen  Wesselowskys  in  seinem  Buche  Iz  istoriji  romana 
i  poiciesti  (russisch,  über  die  slawische  Alexandersage),  Band  I  (1886), 
p.  377 f.  So  erzählt  man  sich  auf  Zacynthus,  daß  die  Herrscherin  der 
Nereiden   die   Schwester   Alexanders   sei,  und  man  beschwört   sie  bei 


174  I-  Friedlaender 

§  33.  „Dem  Koch  aber  ließ  er  einen  Stein  ^  um  den  Hals 
binden  und  ihn  ins  Meer  werfen.  Der  Hinabgeworfene  aber 
wurde  ein  Dämon  und  wohnte  dort  in  einem  Teile  des  Meeres, 
der  danach  der  Andreantische  genannt  wurde."  ^ 

,ySo  ging  es  mit  dem  Koch  und  dem  Mädchen." 

§  34.  „Alexander  aber  entnahm  aus  diesen  Zeichen^,  daß 
dort  das  Ende*  der  Welt  sei." 

§  35.  „Als  sie  an  die  Brücke  gelangten,  die  Alexander 
erbaut  hattet  ließ  er  wieder  eine  Inschrift  einhauen:  „diejenigen, 
die  das  Land  der  Seligen  betreten  wollen,  müssen  den  Weg 
nach  rechts  nehmen."^ 

§  36.  C  fährt  unvermittelt  fort:  „Er  befahl  nun  von  den 
Vögeln  jener  Gegend   zwei  zu  fangen."''     Er  wird   von  ihnen 


seinem  Namen.  Eine  ähnliche  Beschwörungsformel  wird  in  Mazedonien 
gebraucht,  wenn  sich  ein  heftiger  Sturm  erhebt,  für  den  die  Nereiden 
verantwortlich  gemacht  werden.  Auf  dem  Schwarzen  Meere  ist  es  eine 
Gorgone,  die  die  Schiffe  Halt  machen  läßt  und  dann  sich  erkundigt,  ob 
Alexander  noch  lebe.  Wenn  man  die  Frage  bejaht,  dann  beruhigt  sie 
die  See;  sonst  bringt  sie  die  Schiffer  um.  —  Fast  scheint  es,  als  ob  Kaie 
in  einen  Bergdämon  verwandelt  wurde,  um  dem  Koch  Andreas,  der  in- 
folge der  ihm  zugefügten  Strafe  (s.  im  Text  später)  nichts  anderes  als  ein 
Seedämon  werden  konnte,  keine  Konkurrenz  zu  machen.  Über  die 
ganze  Kaieepisode  s.  unten  S.  189,  Anm.  4  Anfang.  *  X:  Mühlstein. 

*  acp'  ov  i^X'^d'r}  6  rönog  XvSQsavri,K6g.  L:  äcp'  ov  nal  to  ovo[ia 
iKXij&ri  'AvSqias.  Danach  also  erhielt  im  Gegenteil  der  Koch  seinen 
Namen  vom  Meere. 

'  Aus  welchen  Zeichen?  Doch  nicht  aus  der  Verwandlung  des 
Koches?  Wahrscheinlich  beziehen  sich  die  Zeichen  auf  die  Warnungen 
der  göttlichen  Vögel.  §  34  schließt  wahrscheinlich  an  §  27  an.  Siehe 
unten  S.  179,  Anm.  3. 

*  C  za  axpa;  L  xo  riXog  (vgl.  oben  S.  167,  Anm.  12). 
"  Vgl.  §  16. 

^  L:  „nehmet  den  Weg  nach  rechts,  auf  daß  ihr  nicht  zugrunde 
gehet".  —  Auch  in  §  22  ziehen  sie  auf  dem  Wege  zum  Lande  der 
Seligen  nach  rechts.  Wahrscheinlich  hat  ursprünglich  §  21,  wo  sie  links 
ziehen,  viel  ausführlicher  von  den  sie  bedrohenden  Gefahren  und  Hinder- 
nissen berichtet. 

'  L  dagegen:  „Wiederum  überlegte  ich  in  meinem  Innern,  ob  dort 
überhaupt  das  Ende  {xh  xiQ^a)  der  Erde  sei  und  der  Himmel  sich  dort 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     175 

in  die  Höhe  gehoben,  so  daß  ihm  die  Erde  und  das  Meer  wie 
eine  von  einer  Schlange  umringte  Tenne  erscheint.  Aber  ein 
geflügeltes  Wesen  in  Menschengestalt  tritt  ihm  in  den  Weg 
und  machte  ihm  Vorwürfe  darüber,  daß  er  das  Himmlische 
zu  erlangen  begehrt.  Weit  weg  von  seinem  Heere  kommt  er 
auf  die  Erde  herunter.  Von  einem  seiner  Satrapen  erhält  er 
dreihundert  Reiter,  die  ihn  zu  seinem  Heere  geleiten.  „Nun 
ließ  er  sich  nicht  mehr  darauf  ein.  Unmögliches  zu  unter- 
nehmen." ^ 

§  37.  Die  Soldaten,  die  mit  ihm  ins  Land  der  Finsternis 
gezogen  waren,  kehren  gleichfalls  ins  Lager  zurück  und  finden 
ihn  dort. 

§  38.  Auf  dem  Rückwege  treten  Alexander  menschenähnliche 
Vogel  entgegen,  die  verkünden:  „Wer  auf  dem  Wege  rechts 
zurückkehren  wird,  wird  Wunderbares  schauen'^^  Alexander 
tat  also  (Kap.  41). 

§  39.  Alexander  und  sein  Heer  gelangen  an  einen  See  mit 
honigsüßem  Wasser.  In  dem  Bauche  eines  Fisches  von  ge- 
waltigen Dimensionen  wird  ein  Stein  von  ungeheurer  Leucht- 
kraft gefunden,  den  Alexander  einfassen  läßt  und  des  Xachts 
als  Leuchte  benutzt. 


neige.  Ich  wollte  nun  die  Wahrheit  erforschen.  Ich  gab  daher  Befehl, 
von  den  Vögeln  jener  Gegend  zwei  zu  fangen."  Siehe  unten  S.  180, 
Anm.  3. 

^  L  -\-  „Lebe  wohl!"  Hier  schließt  in  L  der  Brief  und  damit  das 
zweite  Buch.     Das  Folgende  nur  in  C. 

*  "Worauf  bezieht  sich  das  Wunderbare,  das  ihm  die  Vögel  in 
Aussicht  stellen?  Doch  kaum  auf  die  Abenteuer  im  folgenden  Kapitel? 
Denn  für  die  Verkündigung  dieser  im  Pseudokallisthenes  recht  gewöhn- 
lichen Abenteuer  sind  die  göttlichen  Vögel  doch  etwas  zu  gut.  Nach 
§  35  (vgl.  §  22)  führt  der  Weg  zum  Lande  der  Seligen  rechts.  Ist  dies 
das  Wunderbare,  das  ihm  die  Vögel  versprechen  und  stellt  dieser  Para- 
graph ein  Fragment  aus  einem  anderen  Berichte  über  Alexanders  Zug 
nach  dem  Lande  der  Seligen  dar?  Freilich  der  Auszug  (s.  über  den- 
selben unten  S.  176  ff.)  begünstigt  die  erstere  Vermutung,  denn  auch  nach 
ihm  zieht  Alexander,  nachdem  er  das  Land  der  Seligen  verlassen, 
rechts. 


176  -  ^-  Friedlaender 

§  40.  In  der  Nacht  steigen  Weiber  aus  dem  See,  die 
wunderschön  singen. 

§  41.  Nach  einem  Kampf  mit  Roßmenschen  (Hippo- 
zentauren)  kehrt  Alexander  mi4;  seinem  Gefolge  in  sechzig 
Tagen  in  bewohnte  Gegenden  zurück  und  ruht  von  seiner  An- 
strengung aus  (Kap.  42). 

Unmittelbar  auf  diesen  Bericht  folgt  in  C  noch  ein  be- 
sonderer Abschnitt  (Kap.  43  in  der  Müllerschen  Ausgabe), 
der,  ebenfalls  in  die  Form  eines  Briefes  an  Olympias  gekleidet, 
den  Inhalt  des  vorhergehenden  längeren  Briefes  (Kapp.  23 — 42) 
kurz  rekapituliert.  Da  das  Kapitel  sich  lediglich  in  C  findet, 
würde  man  von  vornherein  erwarten,  daß  es  die  Rezension 
C  (oder  y)  repräsentiert,  und  in  der  Tat  wird  in  demselben 
mehrfach  auf  Dinge  angespielt,  die  sich  ausschließlich  in  C 
finden.  Anderseits  aber  läßt  der  Auszug  eine  Reihe  von 
Dingen  aus,  die  in  C  (und  BL)  eine  zentrale  Stellung  annehmen, 
und  gibt,  infolge  dieser  Auslassungen,  eine  bedeutend  ver- 
änderte Darstellung  von  Alexanders  abenteuerlichem  Zuge.  Wie 
dem  auch  sei,  in  jedem  Falle  kann  kein  Zweifel  darüber  be- 
stehen, daß  Kap.  43  eine  Gestalt  der  Legende  voraussetzt,  die 
viel  älter  und,  wie  wir  unten  sehen  werden,  viel  ursprünglicher 
ist.  Wegen  der  Kürze  des  Auszuges  läßt  sich  manches  nicht 
mehr  mit  Sicherheit  feststellen.  Allein  auch  in  seiner  jetzigen 
Gestalt  ist  das  Resume  von  großem  literarkritischem  Werte 
und  setzt  uns  in  den  Stand,  den  ursprünglichen  Zusammen- 
hang der  Legende,  der  in  den  ausführlicheren  Darstellungen 
verdunkelt  ist,  viel  klarer  zu  erkennen.^ 

Der  Auszug  beginnt,  wie  der  große  Olympiasbrief,  mit 
dem  Siege  über  Darius   (Kap.  23;  §  1)*  und   erwähnt  sodann 

'  Die  Ausführungen  Rohdes  Der  griechische  Boman  p.  189  über 
Kap.  43  sind  vielfach  nicht  überzeugend. 

*  Die  Angabe  der  Kapitel  bezieht  sich  auf  die  MüUersche  Ausgabe, 
die  der  Paragraj^hen  auf  die  oben  gegebene  Synopsis.     C  bedeutet,  daß 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     177 

den  Einzug  in  Judäa  (Kap.  24)  und  den  Aufenthalt  in  Ägyp- 
ten (Kap.  25 — 28;  §  2  [C]).  „Dann  beschloß  ich  nach  dem 
Ende  (tijv  ccxquv)  der  Welt  zu  ziehen  (vgl.  §  12  Ende  und 
§  16  Ende  [C]),  und  der  Gedanke  wurde  zur  Tat.  Nachdem 
wir  das  bewohnte  Land  unter  der  Sonne  durchzogen  hatten, 
kamen  wir  in  wilde  unwegsame  Gegenden'*  (vgl.  Kap.  29 ;  §  3). 
Die  Abenteuer  werden  kurz  gestreift.  Kapp.  31 — 33  (§§  4  —  8) 
fehlen.  Kap.  34,  das  sich  nur  in  C  findet  (vgl.  §  9)  und  Kap.  35, 
das  sich  an  dieser  Stelle  nur  in  C  findet  (vgl.  §  10),  werden 
gestreift.  Kapp.  36—38  (§§  11—15)  fehlen  wieder.  „Wir  er- 
reichten eine  sehr  große  Ebene,  in  deren  Mitte  eine  Kluft  war. 
Diese  überbrückte  ich  und  zog  mit  dem  ganzen  Heere  hinüber 
(§  16  [C]).  Von  da  an  hatten  wir  kein  Tageslicht  mehr  und, 
nachdem  wir  in  gewöhnlicher  Weise  einige^  Tage  umhergezogen 
waren,  erreichten  wir  ein  Land,  in  dem  es  vöUig  Nacht  war. 
Dort  ist  das  sogenannte  Land  der  Seligen  (§  17).  Es  kamen 
mir  aber  zwei^  Vögel  in  Menschengestalt  entgegengeflogen 
und  rieten  mir  also:  'Es  ist  dir  nicht  gestattet,  o  Alexander, 
durch  dieses  Land  zu  ziehen'  (§27;  §§18 — 26  fehlen).  Wir 
kehrten  also  von  dort  um  und  ich  forderte  aUe  auf,  irgend- 
welche Gegenstände  von  da  mitzunehmen.  Aber  nur  wenige' 
erfüllten  den  BefehL  Als  wir  nun  ans  Licht  kamen,  da  be- 
reuten es  alle,  die  nichts  mitgenommen  hatten  (§§  28  und  30*; 
§  29  fehlt).  Nun  zogen  wir  aus  diesem  Lande,  indem  wir  die 
Richtung  nach  rechts^  einschlugen  (vgl.  §38;  §§31 — 37  fehlen). 


der   betreffende   Paragraph   eich  nur  in  C  findet.     Die  unbezeichnet  ge- 
lassenen Paragraphen  finden  sich  auch  in  den  anderen  Rezensionen. 

*  r,u.iQug  zivdg.  Oben  §  17,  vgl.  S.  166,  Anm.  4,  las  C:  drei;  BL: 
zwei.     Die  Lesart  von  C  steht  dem  Auszuge  näher. 

*  Stimmt  mit  BL  überein.    C  hat  drei  (§  27,  S.  170,  Anm.  8). 
'  Tgl.  dagegen  §  28. 

*  Der  Auszug  steht  demnach  §  28  näher  (vgL  auch  vorhergehende 
Anmerkung),  da  es  Alexander  ist,  der  den  Rat  erteilt,  Gegenstände 
mitzunehmen.  In  §  30  ist  es  der  Greis,  der  im  Auszug  überhaupt  nicht 
erwähnt  ist.  *  Vgl.  oben  S.  174,  Anm.  6. 

Archiv  f.  Beligionswisseiischaft  Xni  12 


178  !•  Friedlaender 

Nach  einem  Marsche  von  einigen  Tagen  hatten  wir  mit  den 
Hippozentauren  zu  kämpfen.  Wir  schlugen  sie  in  die  Flucht 
und  erreichten  dann  in  fünfzig^  Tagen  unter  vielen  Gefahren 
das  bewohnte  Land  (§41  [CJ;  §§39—40  [C]  fehlen).  Jetzt 
rüsten  wir  uns  zum  Kriege  gegen  Porus,  den  König  der  Inder 
(siehe  Kap.  44  der  MüUerschen  Ausgabe).  Die  Schilderung 
dessen,  was  wir  gesehen  haben ^,  werdet  ihr^  in  der  Einlage 
dieses  Briefes  finden.  Wenn  ihr  diese  leset,  so  werdet  ihr 
über  alle  unsere  Erlebnisse  belehrt  werden". 


Ein  Blick  auf  den  Olympiasbrief  in  der  obigen  Wieder- 
gabe —  um  von  dem  Auszug  für  eine  Weile  abzusehen  — 
genügt,  um  erkennen  zu  lassen,  daß  derselbe  keine  einheitliche 
Komposition,  sondern  eine  ungeschickte  Kompilation  darstellt, 
die  sich  aus  den  verschiedenartigsten  Bestandteilen  zusammen- 
setzt. Die  Schilderung  wimmelt  nicht  nur  von  Unklarheiten*, 
sondern  auch  von  Widersprüchen.^  Die  einzelnen  Teile  der 
Erzählung  werden  zusammenhanglos  aneinandergereiht;  oft 
lassen  sich  noch  die  Nähte  erkennen,  die  die  Erzählung  künstlich 
zusammenflicken.  Der  Verfasser  oder,  wohl  richtiger,  Redaktor 
des  Olympiasbriefes  hatte  augenscheinlich  zahlreiche  Quellen 
von  durchaus  heterogenem  Ursprung  und  Charakter  vor  sich, 
die  er,  weil  sie  alle  von  Alexander  handelten,  kritiklos  durch- 
einander würfelte,  wodurch  er  in  den  ihm  vorliegenden  Grund- 


^  Kap.  41  hat  sechzig. 

*  Es  ist  nicht  recht  klar,  -was  damit  gemeint  ist,  die  Erlebnisse 
in  Kap.  44  oder  die  in  Kapp.  23—42  erwähnten  Einzelheiten,  die  im 
Auszug  nur  kurz  gestreift  werden. 

'  Obwohl  an  Olympias  adressiert,  richtet  sich  der  Inhalt  des  Briefes 
ebensowohl  an  Aristoteles,  vgl.  oben  S.  163,  Anm.  4. 

*  Man  vergleiche  die  verworrene  geographische  Darstellung  des 
Zuges,  aus  der  man  unmöglich  klug  werden  kann. 

^  Vgl.  die  verschiedenen  Zahlenangaben  §§  18,  25  und  S.  169, 
Anm.  1  oder  die  Angaben  über  die  Finsternis,  §§  12  und  13,  17,  19  usw. 
und  vieles  andere. 


Alexanders  Zug  nacli  dem  Lebenequell  tmd  die  Chadhirlegende     179 

bericht  „vieles  aus  verschiedenen  Quellen,  wie  sie  gerade  der 
Zufall  darbot,  zu  vermeinter  Vervollständigung  eingeschaltet*' 
hat.^  Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  auf  die  literar- 
historische Struktur  dieses  außerordentlich  komplizierten  Stückes 
des  Alexanderromans  im  einzelnen  eingehen;  manches  Hierher- 
gehörige ist  bereits  oben  in  den  Anmerkungen  angedeutet 
worden.  Allein  ein  Moment,  das  für  unseren  Gegenstand  von 
der  größten  Tragweite  ist,  muß  an  dieser  Stelle  gebührend 
betont  werden,  wir  meinen  die  Tatsache,  daß  die  ganze 
Lebensquellepisode,  die  den  Ausgangspunkt  unserer  Unter- 
suchungen bildet,  ursprünglich  dem  Olympiasbrief  fremd 
ist  und  erst  nachträglich  in  denselben  eingeschoben 
wurde.  Denn  der  Versuch  Alexanders,  die  Unsterblichkeit  zu 
erlangen,  der  der  Natur  der  Sache  gemäß,  in  einer  jeden 
Lebensdarstellung  den  Höhepunkt  bilden  müßte,  trägt  hier 
einen  durchaus  episodenhaften  Charakter  und  hebt  sich  in 
keiner  Weise  von  den  sonstigen  zahlreichen  und  oft  recht 
blöden  Abenteuern  ab,  die  Alexander  dem  Großen  auf  seinen 
Wanderungen  zustoßen.  Von  Alexanders  Sehnsucht  nach 
Unsterblichkeit  findet  sich  keine  Spur.  Als  er  durch  die  Schuld 
des  Koches  um  Haaresbreite  den  Lebensquell  verfehlt,  stößt  er 
keinen  Hauch  der  Klage  aus.'  Die  ganze  Legende  nimmt  sich 
wie  ein  Fremdkörper  aus,  der  sich,  ohne  eine  Lücke  zu  hinter- 
lassen, restlos  entfernen  läßt.^  Diese  Beobachtung  wird,  man 
könnte  fast  sagen,  dokumentarisch  von  den  literar kritischen 
Indizien  bestätigt.  Der  Auszug,  der  die  meisten  Abenteuer 
auf  diesem  abenteuerlichen  Zuge,  darunter  auch  solche,  die 
sich  lediglich  in  C  finden,  getreulich  registriert,  läßt  die 
ganze  Episode  vom  Lebensquell  aus.  Ebenso  verhält  es 
sich   mit   der   armenischen  Alexanderversion.     Diese  altertüm- 


'  Vgl.  oben  S.  162. 

*  über  den  Zusatz  von  i,  der  eine  ursprünglichere  Form  der  Sage 
voraussetzt,  s.  oben  S.  170,  Anm.  5  und  später  S.  189,  Anm.  1. 
'  §§  26,  31—33. 

12* 


180  I.  Friedlaender 

liehe  Rezension,  die  dem  griecliischen  Roman  am  nächsten 
verwandt  ist^  und,  obwohl  sonst  a  folgend,  den  Olympiasbrief 
nach  ß  reproduziert,  erwähnt  den  Lebensquell  und  den  Koch 
mit  keiner  Silbe.^  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  hebräischen 
Rezension  des  Josippon,  die  sich  mehrfach  mit  der  armenischen 
Version  berührt.^ 

Wenn  wir  etwas  genauer  zusehen,  erkennen  wir  auch,  daß 
die   Tendenz,   die  dem  Olympiasbrief,   wie  dem    Gesamtroman 

^  Siehe  Zacher  a.a.O.  p.  85 ff.;  Auefeld  a.a.O.  p.  12 ff. 

*  Ich  setze,  um  den  ursprünglichen  Pragmatismus  der  Sage  zu 
illustrieren,  den  betreffenden  Passus  der  armenischen  Version  nach  der 
griechischen  Rekonstruktion  von  Raabe  (1896)  p.  72  hierher:  "HX%-oilsv 
8h  slg  roitovs  iv  övalv  rmigccig  onov  6  ^Xiog  ov  IdfiTcei.  xal  ^eXovrog 
[lov  letogfiöcci  xai  ijtixsiQTJCavrog  idsiv  Sicc  r&v  SovXav,  5itov  rj  r&v 
^laxägav  xaga  rjv,  KalXißd'ivrjg  (usw.,  vgl.  §  18).  ^^co  Öh  fistä  xr]v  oSbv 
insvorjßaiisv  ovov  ^rjXEiccv  ^jjouöav  naXä^iov  fjg  id^öanfv  svQ'iwg  ro 
naXdgiov  iv  rfj  JtagsiißoXy.  ElosQXOii^vmv  dh  r}[iwv  inl  6%oLvovg  dExajtevrs 
OQVsa  Svo  usw.  (vgl  §  27).  kccI  tqouco  Ttal  cpQiKr]  KccrocXricpd-Elg  iv  (poßa 
nccl  dsiXicc  ysvo^svog  ävayKaimg  ijxovöcc  ttjs  &SLag  q)a>vrjg  tfjg  V7t6  r&v 
Svo  OQvecüv  XaXriQ'Blarjg. 

'  Die  Darstellung  des  Josippon  (Kap.  10)  ist  der  des  Armeniers 
sehr  ähnlich.  Ich  führe  die  betreffende  Stelle  an:  „Er  wanderte  von 
dort  (gemeint  ist  die  geheimnisvolle  Insel,  oben  §  44)  zwei  Tage  lang 
und  gelangte  an  die  Berge  der  Finsternis.  Dort  aber  scheint  nicht  die 
Sonne  am  Tage  (d.  h.  es  ist  hell  ohne  Sonne,  vgl.  oben  §  iä7).  Er 
wünschte  aber  bis  zum  Aufenthaltsort  des  Jonadab  ben  Rechab 
(Jeremiah  35;  die  Rechabiten  werden  mit  den  Gymnosophisten  oder 
Brahmanen  und  diese  mit  den  Seligen  identifiziert)  und  einiger  Stämme, 
die  zusammen  hinter  den  Bergen  der  Finsternis  wohnen,  vorzudringen, 
und  er  rief  aus  seinem  Heere  1300  Helden  auf  (vgl.  §  18:  40  +  100  +  1200) 
und  begab  sich  auf  den  Weg.  Er  nahm  mit  sich  eine  Eselin,  die  ein 
Eselsfüllen  säugte  (dieses  Detail  findet  sich  nur  noch  beim  Armenier), 
band  das  Füllen,  ihr  Junges,  am  Eingang  zum  Orte  an  und  ging  hinein. 
Er  fand  die  Luft  des  Ortes  verdunkelt  durch  Finsternis  imd  Nebel  (§  19), 
80  daß  der  eine  den  zweiten  nicht  sehen  konnte,  und  die  Erde  daselbst  war 
mit  Schmutz  bedeckt.  Sie  begegneten  aber  großen  Vögeln,  die  Menscheu- 
gesichter  hatten  und  griechisch  sprachen,  und  sie  redeten  zu  ihm  also: 
0  Alexandros!  Kehre  zurück,  denn  das  Land  der  Gottesanbeter  darfst 
du  nicht  betreten.  Du  vermagst  nicht  ins  Haus  Gottes  und  ins  Haus 
seiner  Diener  zukommen.  Denn  du  kannst  die  Inseln  (vgl.  oben  S.  170 
Anm.  9),    woselbst   die   Heiligen    Gottes   und   die  Nachkommen   seines 


i 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     Igl 

des  Pseudokallistlienes  zugmnde  liegt,  von  der  der  Lebensquell- 
sage durchaus  verschieden  ist.  Der  Impuls,  der  Alexander 
vorwärts  treibt,  ist  nicht  Unsterblichkeitssehnen,  sondern  Herrsch- 
sucht und  Wissensdrang.  Wie  im  ganzen  Roman,  so  soll  auch 
im  Olympiasbrief  Alexander  als  der  Übermensch  geschildert 
werden,  der  alles  sehen,  alles  erforschen,  alles  erobern  will  und, 
in  Übereinstimmung  mit  seinem  Charakterbild,  wie  es  in  der 
Vorstellung  des  Orients  fortlebte,  als  der  Held,  „der  an  die 
Enden  der  Erde  gelangte  "\  zur  Anschauung  gebracht  werden. 
Immer  wieder  tritt  dieses  Motiv  im  Pseudokallisthenes  wie  in 
der  von  demselben  abhängigen  Alesanderdichtung  hervor. 
Alexander  schwört  bei  seinem  eigenen  Bilde,  daß  er  nicht  eher 
umkehren  wird,  bis  daß  er  an  den  Ort  gelangt  ist,  „wo  man 
weder  rechts  noch  links  sich  wenden  kann".*  Er  gibt  sich  daher 
mit  dem  Besitz  der  bewohnten  Erde  nicht  zufrieden,  sondern  muß 
in  die  unbewohnte  ziehen.^     Er  will  nichts  unerforscht  lassen.* 


Dieners  Abraham  wohnen,  nicht  betreten.  Bemühe  dich  nicht,  in  die 
Himmelshöhe  zu  steigen,  wie  du  versucht  hattest.  Ein  anderer  Vogel 
aber  (daher  wohl  die  drei  Vögel  in  C,  oben  S.  170,  Anm.  8)  sagte 
zu  ihm:  Empfange  die  frohe  Botschaft,  daß  du  Porös,  den  König  von 
Indien,  besiegen  wirst.  Alexander  aber  erzitterte  vor  den  Vögeln.  Er 
wanderte  zwanzig  Tage  rückwärts  und  erreichte  das  Lager,  das  er  ver- 
lassen hatte."  Auch  der  Schluß  des  Kapitals  stimmt  auffallend  mit  der 
armenischen  Version  überein,  vgl.  Ausfeld  p.  84  zu  Kap.  41,  Anm.  1. 

*  Vgl.  I.  Makkabäer  1,  3:  xal  difil9sv  ioag  axgwv  r^g  y^S  (auch  C 
gebraucht  axga,  vgl.  oben  S.  174,  Anm.  4). 

*  So  in  dem  hebräischen  Alexanderroman,  herausgegeben  von  Israel 
Levi  in  Steinschneiders  Festschrift  (1896)  p.  156  oben;  übersetzt  von 
Gaster  Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society  1897,  p.  531. 

'  Vgl.  Kampers  a  a.  0.  p.  25  unten:  „Ein  Jahr  nach  der  Schlacht 
bei  Arbela  läßt  Äschines  ihn  über  das  Sternbild  des  Bären  (vgl.  oben 
S.  164,  Anm.  6  und  S.  171,  Anm.  7)  und  die  Grenzen  der  bewohnten 
Welt  hinausgelangen." 

*  Vgl  die  altertümliche  syrische  Alexanderlegende  (über  dieselbe 
unten  S.  210  f.),  ed.  Budge  p.  145:  „Ich  begehre"  zn  wissen,  wie  groß  die 
Ausdehnung  der  Erde,  wie  hoch  der  Himmel,  wie  zahlreich  die  Länder 
meiner  Mitkönige,  worauf  die  Himmel  ruhen  und  was  die  Schöpfung 
umgibt."     Ähnlich   die   von   der  Legende   abhängige   Homilie  (s    unten 


182  I-  Friedlaender 

Er  fliegt  in  die  Höhe^,  dringt  in  die  Tiefe  ^  und  ist  felsenfest 
entschlossen,  bis  ans  Ende  der  Welt  zu  gelangen.^  Erst  als 
er  aus  gewissen  Zeichen  entnimmt,  daß  der  von  ihm  erreichte 
Ort  das  Ende  der  Welt  sei,  tritt  er  den  Rückweg  an.* 

Neben  diesem  Motiv  geht  ein  anderes  einher,  das  ur- 
sprünglich durchaus  selbständig  ist,  aber  in  der  Darstellung 
des  Olympiasbriefes  mit  dem  obigen  zusammengeschlossen  ist, 
wir  meinen  Alexanders  Zug  nach  dem  Lande  der  Seligen. 
Diese  Sage,  die  uralten  Ursprungs  ist  und,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  lange  vor  und  ebenso  lange  nach  Pseudokallisthenes 
eine  selbständige  Existenz  führte,  ist  in  ihrer  Tendenz  von 
der  Legende  von  Alexanders  Zug  nach  dem  Ende  der  Welt 
durchaus  verschieden.  Das  Ende  der  Welt  vermag  Alexander 
wohl  zu  erreichen;  das  Land  der  Seligen  bleibt  ihm  verschlossen. 
In  der  ersten  Sage  soll  Alexander  verherrlicht  werden;  in  der 
letztern  soll  er  in  seine  Schranken  verwiesen  werden.  In 
unserem  Berichte  aber  werden  beide  Sagen  miteinander  ver- 
schmolzen, indem  das  Ende  der  Welt  mit  dem  Lande  der 
Seligen    in    Verbindung    gebracht    wird.      Die   Welt    oder   die 

S.  211  f.).  Ähnlich  äußert  sich  Alexander  im  koptischen  Alexander- 
roman (etwa  6.  Jahrhundert),  Oscar  v.  Lemm  Der  Alexanderroman  bei 
den  Kopten  Petersburg  1903,  p.  94:  „Ich  werde  mich  nicht  zutrieden 
geben,  bis  daß  ich  finde,  was  ich  suche." 

*  Oben  §  36.  Vgl.  die  Lesart  von  L  oben  S.  174,  Anm.  7,  und  den 
hebräischen  Alexanderroman  (S.  181,  Anm.  2),  ed.  Levi  p.  156  (Gaster 
p.  532):  „Noch  bin  ich  nicht  zufrieden  mit  dem,  was  ich  bisher  getan 
habe."  Ähnlich  äußert  er  sich  beim  Abstieg  in  die  Tiefe  (ibidem): 
,,denn  noch  habe  ich  nicht  genug  an  dem,  was  ich  in  der  oberen  Welt 
getan  und  gesehen  habe".     Siehe  folgende  Anmerkung. 

*  Oben  §  15,  wo  der  Kompilator  das  Motiv  verdunkelt,  vgl.  S.  166, 
Anm.  1  und  vorhergehende  Anmerkung  gegen  Ende. 

'  Vgl.  oben  §  12  Ende,  §  16.  Ähnlich  motiviert  Josippon  Kap.  13 
die  Wanderungen  Alexanders:  ,,Nach  diesen  Begebenheiten  wollte 
Alexander  noch  ferner  die  Welt  erforschen  Er  ging  bis  an  die  Enden 
der  Erde,  der  Wüsten  und  der  Meere  und  er  beschloß,  in  der  Luft  in 
die  Höhe  zu  steigen  und  bis  auf  den  Grund  des  großen  Meeres  zu 
dringen.  Er  gelangte  an  die  Enden  der  Erde,  der  Wüsten  und  der 
Meere.     Dann  wandte  er  sich  nach  Babylon."         *  Oben  §§  34,  35. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     183 

Erde  ist,  nach  der  anscheinend  damals  gangbaren  geographischen 
Vorstellung,  vom  Lande  —  ursprünglich  vom  Ozean  ^  —  der 
Finsternis  umgeben*,  hinter  dem  das  Land  —  ursprünglich 
die  InseP  —  der  Seligen  eich  befindet*;  dieses  Land  oder  diese 
Lisel  gehört  nicht  mehr  den  Menschen,  sondern  Gott*  Als 
die  göttlichen  Vögel  Alexander  den  Eintritt  in  jene  Gegend 
verbieten,  da  erkennt  dieser,  daß  er  am  Ende  der  Erde  an- 
gelangt sei^  und  kehrt,  da  ja  sein  Wunsch  erfüllt  ist,  ge- 
horsamst hinter  die  der  Menschheit  gezogenen  Schranken  zurück.^ 
Woher  und  in  welcher  Weise  hat  nun  der  Olympiasbrief, 
um  auf  den  Gegenstand  unserer  Untersuchung  zurückzukommen, 
die  Legende  vom  Lebensquell  aufgenommen?  Doch  wohl  in 
derselben  Weise,  in  der  der  Brief  andere,  ihm  ursprünglich 
fremde  Bestandteile  sich  einverleibt  hat.  Der  Verfasser  oder 
Redaktor  des  Olympiasbriefes  hat  anscheinend  verschiedene 
Sagenstoffe,  die  unabhängig  voneinander  in  Umlauf  waren, 
zusammengearbeitet.  Auch  die  Legende  vom  Lebensquell  muß 
der  Redaktor  des  Olympiasbriefes  —  um  hier  Späteres  vor- 
wegzunehmen —  als  selbständiges  Produkt,  wahrscheinlich 
bereits  in  verschiedenen  Versionen  vorgefunden  haben.  Die 
Tendenz  dieser  Legende  war  von  der  des  übrigen  Berichtes 
verschieden.  Allein  der  eklektische  Bearbeiter  des  Briefes 
konnte   sich   einen   so   interessanten  Stoff  unmögflich  entgehen 


»  Vgl.  unten  S.  197,  Anm.  1. 

*  Vgl.  die  Bemerkung  Ausfelds  a.  a.  0.  p.  170f. 
»  Unten  S.  197,  Anm.  1. 

*  Vgl.  oben  §  17  und  S.  166,   Anm.  5.  *  Vgl.  oben  §  27. 

*  Vgl.  oben  §  34.  Im  hebräischen  Alexanderroman  ed.  Levi  p.  156 
(Gaster  p.  531)  wird  unmittelbar  nach  dem  Lebenswasser  das  Paradies 
erwähnt.  Doch  in  dem  folgenden  Abschnitt  (ib.)  dauert  es  nicht 
weniger  als  sechs  Monate,  bis  er  dorthin  gelangt.  Hier  liegt  augen- 
scheinlich eine  Dublette  vor  (nach  der  einen  Version  trägt  das  Tor  des 
Paradieses  als  Überschrift  Psalm  24,  7,  nach  der  andern  Psalm  118,  20). 

^  Vgl.  §  27  Ende  und  S.  171,  Anm.  2.  Die  armenische  Version 
reflektiert  sicherlich  die  ursprüngliche  Form  der  Legende  vom  Lande 
der  Seligen,  nach  der  er  umkehren  muß.     Siehe  unten  S.  199. 


184  I.  Friedlaender 

lassen.  So  schob  er  die  Legende  in  seinen  Bericht  ein,  in- 
dem er  sie  mehrfach,  aber  keineswegs  konsequent,  zustutzte 
und  modifizierte.  Aus  dieser  selbständigen  Sage  haben  aber 
unabhängig  voneinander  /3,  y  und  L^,  aber  nicht  minder  spätere 
Bearbeitungen  der  Lebensquellsage  geschöpft,  die  an  Alter  zwar 
dem  Pseudokallisthenes  nachstehen,  aber  durchaus  unabhängig 
von  ihm  sind^  und  mehrfach  ihm  gegenüber  ursprünglichere 
Züge  aufweisen. 

Die  Lebensquellsage,  wie  sie  uns  im  Olympiasbrief  ent- 
gegentritt, erscheint  demnach  nicht  in  ihrer  ursprünglichen 
Gestalt,  sondern  als  das  Produkt  einer  redaktionellen  Bearbeitung. 
Allein  der  Verfasser  oder  Kompilator  des  Olympiasbriefes  hat 
sich  nicht  darauf  beschränkt,  die  Legende  zu  überarbeiten  und 
seinem  Berichte  anzupassen;  er  hat  dieselbe  mehrfach  direkt  ver- 
stümmelt und  deren  Sinn  verdunkelt.  Es  ist  bereits  angedeutet 
worden,  daß  die  Legende  vom  Lebensquell  unter  den  plumpen 
Händen  des  Bearbeiters  von  der  Höhe  einer  philosophischen 
Erkenntnis  zu  einem  nichtssagenden  Abenteuer  herabsinkt. 
Allein  der  Kompilator  hat  nicht  nur  die  tiefsinnige  Tendenz 
der  Sage,  die  von  der  des  übrigen  Berichtes  verschieden  ist, 
verkannt;  er  hat  auch  eine  Reihe  von  Einzelzügen,  die  für 
das  Verständnis  der  Sage  unerläßlich  sind,  sei  es  aus  Nach- 
lässigkeit oder  Unkenntnis,  sei  es  weil  seine  Vorlage  bereits 
schwankend  war,  verwischt  und  unkenntlich  gemacht.  Wir 
werden  die  Veränderungen,  die  die  Sage  unter  seinen  Händen 
erlitt,  am  besten  erkennen,  wenn  wir  auf  Grund   allgemeiner 


*  y  ist  keine  „Erweiterung"  von  p,  wenigstens  in  diesem  Teile 
nicht,  wie  Zacher  (oben  S.  162,  Anm.  4)  annimmt.  Denn  y  kann  die 
Legende,  wie  er  sie  bietet,  nicht  aus  den  Fingern  gesogen  haben.  Auch 
L  weist,  wie  oben  gezeigt  wurde,  eine  Reihe  von  durchaus  selbständigen 
und  meistens  ursprünglichen  Zügen  auf.  Dies  Verhältnis  kann  nach 
meiner  Ansicht  nur  so  erklärt  werden,  daß  alle  diese  Rezensionen  aus 
der  Sage,  die  ihnen  in  verschiedenen  Gestalten  vorlag,  unmittelbar  ge- 
schöpft haben. 

»  Vgl.  unten  S.  206  ff.,  218  ff.  und  sonst. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     185 

Erwägungen,  einer  genauen  Prüfung  der  verschiedenen  Rezen- 
sionen und*  einer  vorsichtigen  Benutzung  der  späteren  Bear- 
beitungen^ die  ursprüngliche-  Form  der  Legende  zu  rekonstruieren 
versuchen. 

Alexander  von  Mazedonien,  der  große  Welteroberer,  dessen 
Macht  die  Grenzen  des  Menschlichen  erreicht  hat,  will  die 
letzte  Schranke  des  Menschlichen  durchbrechen  und  ewiges 
Leben  erlangen.'  Er  erfährt^,  daß  irgendwo  in  der  Nähe  des 
Landes  der  Finsternis^  sich  ein  Quell  befinde,  dessen  Wasser 

'  Von  diesen  sind  der  Talmud  (unten  S.  202  ff.)  und  die  syrische 
Homilie  (unten  S.  210  ff.)  die  wichtigsten. 

'  Wenn  ich  „ursprünglich"  sage,  so  ist  dies  cum  grano  salis  zu 
nehmen.  Denn  bei  einem  Sagenstoffe,  der  ohne  Zweifel  Jahrhunderte 
hindurch  hin  und  her  gewandert  ist,  ist  „ursprünglich"  ein  sehr  dehn- 
barer Begriff.  Insbesondere  ist  die  Rekonstruktion  der  Legende  von 
Alexanders  Zag  nach  dem  Lebensquell  so  schwierig,  weil  sie  mit  der 
ähnlichen  Legende  von  Alexanders  Zug  nach  dem  Lande  dfr  Seligen 
zusammengearbeitet  worden  ist  und  infolgedessen  eine  Reihe  von  Zügen 
erhalten  hat,  die  ,, ursprünglich"  der  Schwesterlegende  angehört  haben 
mögen.  Worauf  es  uns  hauptsächlich  ankommt,  ist,  die  Tendenz  der 
Sage  hervortreten  zu  lassen  und  sodann  diejenigen  Züge  zu  fixieren,  die 
die  späteren  Bearbeitungen  und  mittelbar  auch  die  Chadirlegende  be- 
einflußt haben. 

'  Im  PseudokaUisthenes  tritt  dieser  Wunsch  Alexanders  vollständig 
zurück.  L  hat  eine  Spur  dieses  zweifellos  ursprünglichen  Zuges  bewahrt 
(oben  S.  170,  Anm.  5).  In  der  Homilie  (unten  S.  216  f.)  tritt  er  scharf 
hervor. 

*  In  vielen  späteren  Bearbeitungen,  wahrscheinlich  auch  bereits 
im  Talmud,  erfährt  er  dies  auf  Befragen.  Auch  diesen  Zug,  der  im  Pseudo- 
kaUisthenes verwischt  ist,  wird  man  auf  Grund  allgemeiner  Erwägungen 
für  ursprünglich  halten:  Alexander  kennt  das  Ziel,  nach  dem  er  strebt 
(die  Unsterblichkeit),  aber  nicht  das  Mittel.  Dieses  wird  ihm  —  in  den 
verschiedenen  Versionen  auf  verschiedene  Weise  —  angegeben.  In  der 
Homilie  (unten  S.  211  f.)  weiß  Alexander  von  vornherein,  woher  wird 
nicht  gesagt,  von  der  Existenz  der  Lebensquelle. 

*  Das  Land  der  Finsternis  erscheint  mit  dem  Lande  der  Seligen 
unzertrennlich  verbunden,  so  im  Resume  (oben  S.  177)  und  in  der  arme- 
nischen Version  (S.  180,  Anm.  2),  ebenso  im  Josippon  (S.  180,  Anm.  3), 
ja  sogar  schon  im  altbabylonischen  Mythus  (unten  S.  197,  Anm.  1).  Daß  es  ur- 
sprünglich auch  zum  Lebens  quell  gehört,  ist  zwar  nicht  unzweifelhaft 
(die  Wanderung  durch  die  Finsternis  erscheint  unabhängig  im  Pseudo- 


186  I.  Friedlaender 

ewiges  Leben  verleilie.  Alexander  begiebt  sich,  nachdem  er 
sich  für  die  gefahrroUe  Reise  entsprechend  mit  Proviant  ver- 
sehen, mit  auserlesenen  Jünglingen,  deren  Tapferkeit  und 
Ausdauer  den  Gefahren  des  Zuges  gewachsen  sind^,  auf  den 
Weg.  Nachdem  er  das  Land  der  Finsternis  erfolgreich  durch- 
quert hat^,   gelangt  er  in  eine  quellenreiche  Gegend.     Es  gilt 

kallisthenes  III,  27,  28),  aber  durchaus  wahrscheinlich.  Im  Olympias- 
brief,  in  welchem  das  Land  der  Finsternis  in  beiden  Sagen  figuriert, 
ebenso  wie  im  Talmud,  in  der  Homilie  und  in  den  späteren  Formen  der 
Sage  wird  diese  Verbindung  überall  vorausgesetzt.  Das  geheimnisvolle 
dunkle  Land  war  eben  ein  bequemer  Unterschlupf  für  alles  Geheimnis- 
volle und  Abenteuerliche.  Auch  „im  altpersischen  Mythenkreise  liegt 
die  Quelle  des  Lebens  gegen  Osten  in  einem  unbekannten  dunklen 
Lande"  (Wünsche  Die  Sagen  vom  Lebensbaum  und  Lebensivasser  Leipzig 
1905,  p.  74). 

^  Dies  ist  der  Grund,  warum  kein  Greis  mitkommen  darf.  Dieser 
Zug,  der -im  Pseudokallisthenes  verwischt  ist,  erscheint  viel  deutlicher 
in  jüngeren  Bearbeitungen,  vgl.  Weismann  Alexander  (1850)  I,  p.  363. 
Die  ursprüngliche  Tendenz  tritt  in  kurioser  Weise  in  einem  späten 
christlich-äthiopischen  Alexanderroman  hervor  (Budge  Life  and  Exploits 
of  Alexander  the  Great  London  1896,  11,472):  Alexander  nahm  bloß 
erwachsene  Männer,  die  einen  Bart  hatten,  mit.  Bartlose  durften  da- 
gegen nicht  mit,  ,, damit  sie  nicht  von  Furcht  ergriffen  würden,  während 
sie  durchs  Land  der  Finsternis  wanderten". 

*  Die  Episode  vom  Greise,  der  heimlich  mitkommt  und  durch 
seinen  Rat  (Stuten  resp.  Eselinnen  mitzunehmen,  deren  Junge  draußen 
bleiben),  erst  den  Eintritt  ins  dunkle  Land  ermöglicht,  ist  ein 
selbständiges  Motiv,  das  ebensogut  für  die  Legende  vom  Lande  der 
Seligen  wie  für  die  vom  Lebensquell  verwendet  werden  konnte,  bildet 
aber,  wie  es  scheint,  keinen  integrierenden  Bestandteil  dieser  Sagen. 
Der  Auszug  z.  B.  (oben  S.  177  f.)  läßt  die  ganze  Episode  vom  Greise  und 
seinem  Rate  aus.  B  (oben  S.  169,  Anm.  1)  kennt  den  Rat,  der  Alexander 
selbst  zugeschrieben  wird,  aber  nicht  den  Greis,  ebenso  die  armenische 
Version  (S.  180,  Anm.  2).  —  Das  Motiv  mit  dem  Füllen  ist  im  Pseudo- 
kallisthenes bereits  einigermaßen  verwischt.  Der  ursprüngliche  Sinn  ist 
natürlich  der,  daß  die  weiblichen  Tiere,  trotz  der  Finsternis,  den  Weg 
zu  ihren  Jungen  instinktiv  zurückfinden  würden  und  daher  als  Wegweiser 
vorzüglich  geeignet  sind,  vgl.  z.  B.  Marco  Polo  ed.  Yule  II,  485.  Daher 
hat  wohl  die  armenische  Version  (oben  S.  180,  Anm.  2),  ebenso  Josippon 
(S.  180,  Anm.  3),  bloß  eine  Eselin  mit  ihrem  Jungen,  da  ja  ein  Tier  genügt, 
um  den  Weg   zu   zeigen.     Nach   Pseudokallisthenes  (oben  §  23)   scheint 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende      187 

nun  unter  den  vielen  Quellen  jener  Gegend  den  Lebensquell 
ausfindicr  zu  machen.*  Einst  traf  es  sich,  daß  Alexander 
hungrig  wurde  und  von  seinem  Koche  zu  essen  verlangte. 
Dieser  nahm  einen  gesalzenen  oder  gedörrten  Fisch*  und  ver- 

es  jedoch,  als  ob  es  eich  um  die  Ausdauer  der  Tiere  (die  wohl  auch 
als  Lasttiere  gedacht  werden)  handelte,  die  auf  dem  dunklen  und 
schwierigen  Wege  zusammenbrechen  könnten  und  nur,  wenn  vom  Mutter- 
instinkt getrieben,  ans  Licht  zurückgelangen  würden.  Diese  Ver- 
schiedenheit der  Motivierung  spiegelt  sich  auch  in  den  späteren  Be- 
arbeitungen wider.  So  schon  im  Talmud,  wo  die  Füllen  überhaupt 
nicht  genannt  werden,  sondern  bloß  von  „Libyschen  Eseln,  die  im 
Dunkeln  marschieren  können"  und  deren  Ausdauer  bekannt  ist 
(unten  S.  204,  Anm.  3),  gesprochen  wird,  und  als  Orientierungsmittel 
daneben  der  Ariadnefaden  erscheint.  In  der  Homilie  (unt^n  S.  214) 
scheint  das  ursprüngliche  Motiv  vorzuherrschen.  Es  ist  interessant, 
daß  diese  Verschiedenheit  der  Motivierung  sich  in  der  arabischen 
Alexandersage  in  einer  sprachlichen  Variante  widerspiegelt:  es  handelt 
sich  darum,  ob  die  in  die  Finsternis  mitziehenden  Tiere  'absar',  'am 
scharfsichtigsten'  oder,  mit  L'mkehrung  der  mittleren  Konsonanten, 
'asbar*,  'am  ausdauerndsten'  sind.     Vgl.  später. 

*  „Viele  Quellen  gibt  es  in  der  Gegend,  und  niemand  weiß,  welche 
der  Born  des  Lebenswassers  ist"  (Homilie,  ed.  Hunnius,  ZDMG  60,  Zeile 
168 — 169).  Nach  dem  alten  französischen  Alexanderroman  (vgl.  Weis- 
manu  Alexander  I,  338;  Meyer  Alejcandre  II,  175)  gab  es  in  der  Wüste 
hundert  Quellen.  Dasselbe  Motiv  liegt  der  Bemerkung  des  Pseudo- 
kallisthenes  zugrunde,  daß  die  Gegend,  in  der  sich  der  Lebensquell 
befindet,  ßgimv  vdccra  (L  nachdrücklicher:  ß.  v.  itoXXd,  vgl.  S.  170, 
Anm.  4)  war.  Der  Kompilator  hat  diesen  Zug  vollständig  verkannt. 
Man  begreift  nach  seinem  Berichte  (§  26  Anfang)  nicht,  wie  Alexander 
den  Lebensquell  verfehlen  konnte.  Die  Lesart  von  L  (S.  169,  Anm.  3) 
ist  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  bedeutsam. 

•  TdQi,xog  (oben  S.  169,  Anm.  7)  bedeutet  beides.  —  Dieser  Zug  ist 
ungemein  treffend.  Salzfische  oder  Dörrfische  sind  nicht  nur  als  Proviant 
für  eine  längere  Reise  am  geeignetsten;  sie  veranschaulichen  auch  am 
besten  die  belebende  Kraft  der  Quelle  (vgl.  ixsivrig  «Jiy^s  ^^s  t<poyovov6riS 
TU  aipvxccy  S.  170,  Anm.  5).  Die  späteren  Bearbeitungen  akzentuieren 
diesen  Zug  noch  schärfer.  Nach  der  Homilie  (ed.  Hunnius,  Zeile  189) 
war  der  Fisch  „gesalzen  und  getrocknet  seit  vielen  Tagen".  Nach 
einer  arabischen  Version  (siehe  später)  war  es  ein  gebratener  Fisch, 
nach  einer  andern  sogar  ein  halb  gegessener.  Nach  einer  äthiopischen 
Darstellung  (S.  189 ff.,  Anm.  4,  Absatz  3)  war  es  ein  gekochter  Fisch, 
nach  dem  altfranzösischen  Roman  (Meyer  Alexandre  II,  175)  sogar  zwei 
gekochte  Fische,  die  zufällig  in  den  Lebensquell  hineinfielen. 


188  I  Friedlaender 

suchte  ihn  in  einer  der  Quellen  zu  reinigen.  Da  wurde  der 
Fisch  lebendig  und  entschlüpfte  seinen  Händen.  Der  Koch 
sprang  dem  Fische  nach,  um  ihn  zu  fangen^,  und  nahm  auf 
diese  Weise  ein  unwillkürliches  Bad.^  In  seiner  Beschränktheit^ 
merkte  der  Koch  die  Bedeutung  des  Vorganges  nicht  und  er- 
zählte daher  keinem,  was  ihm  passiert  war.  Erst  als  sie  nach 
vergeblichem  Suchen  durch  das  Land  der  Finsternis  hindurch 
zurückgekehrt  waren  und  ein  jeder  seine  Erfahrungen  in  diesem 
merkwürdigen  Lande  zum  Besten  gab*,  da  fühlte  sich  auch  der 


'  „Der  Koch  fürchtete,  der  König  könnte  von  ihm  verlangen,  daß 
er  den  Fisch  zurückgebe  .  .  .  und  er  sprang  in  den  Born  herab,  um  ihn 
zu  fangen"  (Homilie  Zeile  105 f.).  Dieser  Zug,  der  für  das  Verständnis 
der  Sache  unerläßlich  ist,  fehlt  im  Pseudokallisthenes.  Vielleicht  liegt 
dasselbe  Motiv  der  Lesart  von  L  (S.  170,  Anm.  1)  zugrunde:  der  Koch 
fürchtete  etwas  zu  sagen,  damit  Alexander  nicht  den  Fisch  zurück- 
verlange. 

*  So  nach  der  Homilie  (unten  S.  215)  und  vielen  späteren  Be- 
arbeitungen. Nach  dem  Talmud  spritzte  er  sich  das  Wasser  ins  Gesicht 
oder,  nach  einer  Variante  (unten  S.  205,  Anm.  5),  wusch  sich  damit,  ein 
Zug,  der  der  Homilie  nahekommt.  Daß  der  Koch,  und  zwar  mit  Ab- 
sicht, vom  Wasser  getrunken,  berichten  bloß  C  und  i,  aber  nicht  B. 
Nach  B  (vgl.  S.  170,  Anm.  3  und  S.  172,  Anm.  7)  wurde  der  Koch 
anscheinend  nur  deswegen  bestraft,  weil  er  den  Vorgang  nicht  rechtzeitig 
meldete.  Diese  Verschiedenheit  hängt  mit  der  Frage  zusammen,  ob  der  Eoch 
in  den  Besitz  des  Lebenswassers  absichtlich  oder  unbewußt  gelangte,  eine 
Frage,  die  die  verschiedenen  Formen  der  Sage  verschieden  beantworten. 
Daß  letzteres  das  richtige  ist,  ergibt  sich  aus  dem  Verlauf  und  der 
Tendenz  der  Legende,  vgl.  S.  191,  Anm.  1.  —  Daß  der  Koch  etwas 
Lebenswasser  aufbewahrt,  um  die  Gunst  der  Kaie  zu  gewinnen,  ist  dem 
Rest  der  Erzählung  gegenüber  sekundär:  Über  die  Kaieepisode  vgl. 
unten  S.  189,  Anm.  4,  Anfang. 

*  Ursprünglich  ist  der  Koch  beschränkt,  nicht,  wie  im  Pseudo- 
kallisthenes, böswillig,  s.  vorhergehende  Anmerkung  und  unten  S.  219  f. 

*  Die  Perlen  und  Edelsteine,  die  Alexander  und  sein  Heer  im 
Lande  der  Finsternis  auflesen,  gehören  anscheinend  zum  zweiten  Zuge 
durch  die  Finsternis  auf  dem  Rückwege  (vgl.  §§  28,  30).  Diese  Episode 
kann  ebensogut  zur  Legende  vom  Lande  der  Seligen  wie  zu  der  vom 
Lebensquell  gehören  (§  28  gehört  wohl  zur  ersteren,  §  30  zur  letzteren), 
aber  die  Legende  ist  auch  ohne  sie  durchaus  verständlich.  Die  armenische 
Version  (oben  S.  180,  Anm.  2)  und  Josippon  Kap.  10  lassen  die  Episode  ans. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensqnell  und  die  Chadhirlegende     189 

Koch  gedrungen,  die  Begebenheit  mit  dem  Fische  zu  erzählen. 
Alexander  wird  Ton  wildem  Schmerz  ergriffen^,  als  er  aus  dem 
Berichte  seines  Koches  erfährt,  daß  ihm  durch  dessen  Nach- 
lässigkeit die  heißersehnte  Gelegenheit,  sich  ewiges  Leben  zu 
verschaffen,  so  nahe  an  der  Verwirklichung  entschlüpft  ist. 
Sein  Arger  entlädt  sich  nun  auf  das  Haupt  des  unglückseligen 
Koches.  Zwar  sucht  dieser  ihm  die  Nutzlosigkeit  der  Reue 
vor  Augen  zu  halten.*  Aber  dieser  philosophische  Einwand 
vermag  die  Wut  des  enttäuschten  Welteroberers  nicht  zu  be- 
sänftigen. Alexander  gibt  Befehl,  seinen  Koch  hinzurichten. 
Allein  —  der  Tod  hat  keine  Gewalt  über  ihn:  er  ist  ja,  ohne 
es  zu  wissen,  durch  das  Bad  in  der  Lebensquelle  unsterblich 
geworden.'  Alexanders  Mißgunst  und  Beschämung  kennt  nun- 
mehr, da  er  sich  bewußt  wird,  daß  sein  Koch  mühelos  erlangt 
hat,  was  er  selber  mit  heißem  Bemühen  vergeblich  erstrebt 
hatte,  keine  Grenzen.  Um  den  garstigen  Koch  endlich  los  zu 
werden,  läßt  er  ihm  einen  Stein  (nach  L  einen  Mühlstein)  um 
den  Hals  hängen  und  ins  Meer  versenken.  Sterben  kann  der 
Koch,  der  mit  dem  Lebenswasser  in  Berührung  gekommen, 
nicht.  Aber  auch  die  Unsterblichkeit  fruchtet  ihm  wenig. 
Er  wird  zu  einem  Seedämon,  der  bestimmt  ist,  in  dem  Teile 
des  Meeres,  in  dem  er  versenkt  wurde,  in  alle  Ewigkeit  hinaus 
ein  freudloses  Dasein  zu  fristen.* 


*  Vgl.  die  lebhafte  SchUdenmg  der  Homilie  Zeile  221  £F.  Auch  L 
setzt  diesen  ursprünglichen  Zug  voraus  (oben  S.  170,  Anm.  5).  In  C 
fehlt  er  gänzlich.  B  ist  zu  kurz,  um  ein  sicheres  Urteil  zu  ge- 
statten. 

*  Nur  80  ist  der  Einwand  des  Koches  (§  31)  verständlich:  meine 
Bestrafung  ist  nutzlos;  dein  Zorn  kann  den  Lebensquell  ja  doch  nicht 
zurückbringen.  In  der  Darstellung  des  Pseudokallisthenes  schweben  die 
Worte  des  Koches  in  der  Luft. 

'  AU  dies  ist  im  Pseudokallisthenes  vollständig  verwischt,  tritt  da- 
gegen in  den  anderen  Versionen  scharf  hervor.     S.  unten  S.  217. 

*  VgL  Nöldeke  Beiträge  zum  Alexanderroman  p.  25:  „Der  Koch 
Alexanders  und  seine  Tochter,  denen  es  geglückt  ist,  vom  Lebenswasser 
zu  trinken,  gelangen  doch  nicht  zu  wirklichem  Heil,  sondern  werden  zu 


190  I-  Friedlaender 

Die  Tendenz  der  Sage  tritt  in  dieser  Form  in  scharfen 
Umrissen  hervor.  Die  Unsterbliclikeit  ist  für  den  Sterblichen 
nicht  nur  nicht  erreichbar;  sie  ist  für  ihn  nicht  einmal  be- 
gehrenswert. Mit  dramatischem  Effekt,  ich  möchte  fast  sagen, 
mit  dramatischem  Hohn  wird  diese  Wahrheit  am  Schicksal 
Alexanders  zur  Anschauung  gebracht.  Der  große  Welteroberer, 
dem  die  gesamte  Erde  zu  Füßen  liegt,  lechzt  vergebens  nach 

Seedämonen."  Kaie,  die  in  einen  Dämon  verwandelt  wird,  geht  „weinend 
und  klagend"  von  Alexanders  Angesicht  hinweg  (§  32  Ende),  Im  Pseudo- 
kallisthenes  ist  all  dies  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt.  —  Die 
Episode  mit  Kaie  (§  32)  sieht  altertümlich  aus,  dürfte  aber  ursprünglich 
kaum  zur  Legende  gehört  haben.  Sie  fügt  nichts  Wesentliches  zur 
Ökonomie  der  Sage  hinzu  und  hat  auf  die  orientalische  Alexanderdichtung 
keinerlei  Einfluß  ausgeübt. 

Interessant  und  für  unseren  Gegenstand  wichtig  sind  diejenigen 
Parallelen  zur  Verwandlung  des  Koches,  die  vom  Pseudokallisthenes 
unabhängig  sind  und  sehr  altertümliche  Züge  aufweisen.  Ich  führe 
zunächst  den  hier  mehrfach  zitierten  hebräischen  Alexanderroman  an 
(oben  S.  181,  Anm.  2),  von  dem  auch  Harkavj  (im  Sbornik  otdielenia 
russkawo  jazyka  i  sloiviesnosti ,  herausgegeben  von  der  Kaiserlichen 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Petersburg,  Band  53,  1892)  eine  aus- 
führliche Analyse  nach  einer  Handschrift  aus  Damaskus  gibt  (vgl.  auch 
die  Bemerkungen  Wesselowskys  und  Gasters  in  demselben  Bande).  Der 
Roman  dürfte  kaum,  wie  Gaster  behauptet,  vormohammedanisch  sein, 
aber  er  ist  jedenfalls  vom  Pseudokallisthenes  unabhängig.  Es  beißt 
dort:  Der  König  und  seine  Armee  gelangen  an  einen  großen  Fluß, 
dessen  Wasser  jedoch  untrinkbar  ist.  Sie  graben  Quellen  in  der  Nähe 
des  Flusses  und  finden  in  denselben  vorzügliches  Wasser.  Sie  lassen 
sich  daher  in  jener  Gegend  nieder  Am  zehnten  Tage  tötete  ein  könig- 
licher Jäger  einige  Vögel,  die  aber,  als  er  sie  in  jenem  Flusse  reinigen 
wollte,  ins  Leben  zurückkamen  und  davonflogen.  „Als  der  Diener  des 
Königs  dies  sah,  eilte  er  an  den  Fluß  und  trank  von  dessen  Wasser. 
Er  meldete  dies  dem  Könige,  der  ausrief,  daß  es  das  Wasser  des 
Paradieses  sein  müsse  (vgl.  unten  S.  205)  und  daß  jeder,  der  aus  dem- 
selben trinke,  ewig  leben  werde.  'Gehe  hin  und  bringe  mir  etwas  Wasser 
zum  Trinken!'  Der  Diener  nahm  ein  Gefäß  und  ging  hin,  um  etwas 
Wasser  zu  holen.  Aber  er  suchte  den  Fluß  und  konnte  ihn  nicht 
finden.  Er  kehrte  zurück  und  sagte  zum  König:  'Ich  war  nicht  im- 
stande, das  Wasser  jenes  Flusses  (Ms.  Damascus;  jener  Quelle,  vgl.  unten 
S.  207,  Anm.  4)  zu  finden,  denn  der  Herr  hat  es  vor  mir  verborgen.'  Als 
der  König  dies  hörte,  geriet  er  in  solche  Wut,  daß  er  sein  Schwert  er- 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     191 

Unsterblichkeit.  Seinem  Koche  fällt  sie  durch  puren  Zufall^ 
in  den  Schoß,  vermag  aber  nichts,  als  ihn  in  einen  elenden 
Seedämon  zu  verwandeln. 

Die  Legende  von  Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell 
zeigt  sovrohl  in  Tendenz  wie  in  Form  eine  so  frappante 
Ähnlichkeit  mit  der  griechischen  Glaukossage,  daß  ein  Zu- 
fall ausgeschlossen  erscheint.     Die  Glaukossage,  die  im  alten 


griff  und  dem  Diener  den  Kopf  abschlug.  Der  kopflose  Diener  begab 
sich  aber  nach  dem  großen  Meere.  Menachem  der  Schreiber  (derselbe 
figuriert  im  Roman  als  Alexanders  Sekretär;  berichtet  im  Namen  der 
Weisen,  daß  es  kopflose  Menschen  in  der  See  gebe,  die  die  Schiffe  um- 
stürzen. Doch  wenn  sie  sich  einem  Schiffe  nähern,  um  es  umzustürzen 
und  die  Passagiere  ausrufen:  'Flieh!  flieh!  Dein  Herr  Alexander!'  dann 
fliehen  sie  auf  der  Stelle  und  das  Schiff  ist  gerettet"  (zum  letzteren 
Tgl.  oben  S.  173,  Anm   6). 

Die  von  Budge  herausgegebene  und  übersetzte  äthiopisch -christ- 
liche Alexanderlegende  (Budge  Life  and  Exploits  of  Alexander  the  Great, 
London  1896),  die  sonst  tou  wildester  Natur  ist,  bietet  die  obige  Episode 
(p,  481  ff.,  Kap.  XI)  in  einer  Form,  die  sich  teilweise  sehr  altertümlich 
ausnimmt:  Ein  Fischer  fing  in  einem  Teiche,  dessen  Wasser  weiß  wie 
Milch  war,  Fische,  die  unter  keinen  Umständen,  selbst  wenn  sie  gekocht 
wurden,  getötet  werden  konnten.  Alexander,  der  davon  hörte,  befahl 
dem  Fischer,  ihm  den  Weg  zu  jenem  Teiche  zu  zeigen,  damit  er  in 
demselben  bade  (vgl.  oben  S.  188,  Anm.  2).  Aber  der  Fischer  verirrte 
sich  und  konnte  den  Teich  nicht  finden.  Alexander  will  den  Fischer 
töten,  aber  dieser  kommt  immer  wieder  ins  Leben  zurück.  Schließlich 
legt  er  ihn  in  Ketten  und  wirft  ihn  ins  Land  der  Finsternis,  ,,weil  kein 
Mensch  ihn  mit  irgendeiner  Todesart  töten  konnte". 

Interessant  ist  die  Variante  im  altfranzösischen  Alexanderroman 
(Meyer  Alexandre  II  175 f.):  Enoc  (d  h.  Henoch,  der  ewig  lebt)  findet 
die  Lebensquelle  und  badet,  trotz  Alexanders  Verbot,  in  derselben.  Da 
Alexander  ihn  nicht  töten  kann,  läßt  er  ihn  lebendig  in  eine  Säule 
einmauern. 

*  „Indes  Iskender  (=  Alexander)  ihn  (den  Lebensquell)  nicht   sah 

trotz  seines  Strebens, 
WardChiser  (=  Chadir)  ungesucht  zuteil  der  Quell  des  Lebens." 
So  der  Dichter  Nizänü  (s.  unten).  Diese  Antithese  zu  Alexanders 
fieberhaftem  Suchen  ist  notwendig.  Sie  ist  wohl  im  Zusatz  von  L 
(oben  S.  170,  Anm.  5)  angedeutet:  T,g  6  i^og  iiäysigos  rervxriyisv.  Siehe 
oben  S.  188,  Anm.  2  und  unten  S.  215. 


192  I-  Friedlaender 

Grieclienland  weit  verbreitet  war,  wird  in  verschiedenen 
Fassungen  überliefert.^  Nach  der  gangbarsten  Version  war 
Glaukos  ein  Fischer  aus  Anthedon  in  Böotien.^  Als  er  einst 
vom  Fischfang  am  Meeresufer  ausruhte,  bemerkte  er,  daß  einer 
der  erbeuteten  Fische,  der  von  ungefähr  mit  einem  Kraute  in 
Berührung  gekommen  war,  wieder  lebendig  wurde  und  ins 
Meer  sprang.  Glaukos  genoß  von  demselben  Kraute,  sprang, 
von  göttlicher  Begeisterung  ergriffen,  ins  Meer,  und  wurde 
hierauf  von  den  Göttern  in  einen  Seedämon  verwandelt.  Nach 
einer  andern  Version^  gelangte  Glaukos  in  den  Besitz  der 
Unsterblichkeit,  indem  er  zufällig*   auf  den  Lebensquell  stieß 


^  Siehe  Gaedechens  Glaukos  der  Meergott,  Göttingen  1860  (im 
folgenden  als  „Gaedechens"  zitiert)  und  den  Artikel  Glaukos  von  dem- 
selben Verfasser  in  ßoschers  Ausführlichem  Lexikon  der  griechischen  und 
römischen  Mythologie  p.  1678  vorl.  Z.  ff.,  bes.  p.  1679  unten  (im  folgenden 
als  „Röscher"  zitiert).  Vgl.  auch  Wünsche  Die  Sagen  vom  Lebensbaum 
und  Lebenswasser,  Leipzig  1905,  p.  17. 

*  „Im  jagdliebenden  Aitolien  ward  Glaukos  zu  einem  Jäger,  das 
Tier  zu  einem  Hasen,"  Röscher  p.  1679,  61.  Vgl.  die  Parallele  im 
hebräischen  Alexanderroman  oben  S.  189,  Anm.  4  Absatz  2. 

'  Scholia  in  Platonem  ed.  Bekker,  London  1824,  p.  88  (zu  Republik 
Kap.  10,  p.  611 C).  Ich  setze  die  sehr  interessante  Stelle,  auf  die  ich 
unten  mehrfach  zurückkomme  und  auf  die  mich  eine  Bemerkung  Dyroffs 
in  der  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII  321  führte,  hierher:  Tov  FXavyiöv 
(pccGi,  2/i6vq>ov  Kai  MsQOTCrjg  slvai  viov,  ysvieO'ca  Sh  Q'aXätTLOv  daifiova. 
ovTog  yccQ  TtSQirvxoiv  zjj  ccd^aväro)  nriyfj  k<xI  Karsi.Q'cbv  slg  avxr]v  icd'avaeLag 
^Tvxs,  (ii]  dvvrid'Elg  dk  Tavxr\v  naiv  inidst^ai  slg  d'dXaCöav  iggicpri.  xal 
neqUiGi  rovg  alyiaXovg  nävtag  xal  tag  vrjGovg  aitcc^  rov  ivuxvrov  a^LU 
TOtg  XJJT6CI.  fiavrsverai,  Sh  nävta  (pavXa.  y,al  yag  intxriQOvaiv  ol  aXistg 
vvKxa,  KaO"'  i)v  a'brolg  XQ9^  ''^'^  i^arayo}  TCoXXä,  nal  KaraSvvrsg  slg  to 
KoiXov  rfig  vsag  ioTQU^ifiivrig  avrfjg  (aogatog  yag  6  öaiyiav  avtotg) 
d'Vfii&öiv,  insvxoiisvoi  a7taXXayi]v  cov  TtQoayoQSvsi.  6  Si  Ttgoevri^ä^isvog 
ry  nivQcc  dXocpvQStai,  ttjv  äO'avaaiav  'EXXdcSt  cpav^  aloXi^ovciD,  xal  TcgoXiysi 
Saxov  xal  xuQn&v  (p&OQav.  oi  3h  &Tisvxovxai  &7t6cixoi  xai  &Jtoxoi  dia- 
xsXovvxsg.  Vgl.  über  diese  Stelle  Gaedechens  p.  197  f.,  der  diese  Fassung 
der  Sage  aus  Korinth  ableitet;  cf.  ib.  p,  43,  Anm.  2. 

*  Dies  liegt  wohl  in  dem  Verbum  :tsQi,xvxmv  (vorhergehende  An- 
merkung).    Vgl.  oben  S.  191,  Anm.  1. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     193 

und  in  denselben  kinunter stieg. ^  Doch  stimmen  alle  Versionen 
der  Legende  darin  überein,  daß  der  Besitz  der  Unsterblichkeit 
Glaukos  keineswegs  zum  Heile  gereicht.  Alljährlich  einmal 
durchzieht  er  des  Nachts  alle  Meere  und  Inseln,  laut  klagend, 
daß  er  nicht  sterben  könne.'  Seine  Prophezeiungen  sind  düster 
und  unheilvoll.  Aber  die  Fischer  und  Schiffer,  deren  Schutz- 
patron er  ist^,  vermögen  durch  Opfer  und  Fasten  die  drohende 
Gefahr  abzuwenden.* 

Es  muß  den  Kennern  der  griechischen  Mythologie  über- 
lassen bleiben,  den  feineren  Beziehungen  zwischen  dem  griechi- 
schen Glaukosmythus  und  der  Lebensquellsage  nachzuspüren. 
Aber  so  viel  steht  fest,  daß  die  wesentlichen  Merkmale  der 
beiden  Legenden  identisch  sind:  Lebensquell,  Auffindung  des- 
selben vermittelst  eines  toten  Fisches,  Sprung  ins  Meer,  Ver- 
wandlung in  einen  Dämon,  Unerquicklichkeit  des  ewigen 
Lebens.^ 


*  Um  zu  baden  oder  zu  trinken?     Vgl.  oben  S.  188,  Anm.  2. 

'  Gaedechens  176,  189,  Röscher  1682,  54.  Vgl.  oben  S.  189, 
Anm.  4  Anfang. 

'  Gaedechens  39,  187  f.,  Röscher  ibid. 

*  Vgl.  oben  S.  192,  Anm.  3  gegen  Ende 

®  Vielleicht  hängt  auch  die  merkwürdige  Motivierung  im  Scholion, 
daß  Glaukos  deswegen  ins  Meer  stürzte,  weil  er  die  errungene  Un- 
sterblichkeit Zweifelnden  nicht  beweisen  konnte,  irgendwie  mit  unserer 
Legende  zusammen,  nach  welcher  die  Unsterblichkeit  des  Koches  auch 
nach  der  Berührung  mit  der  Lebensquelle  unerkannt  blieb  und  sich 
erst  bei  dem  Versuche,  ihn  hinzurichten,  herausstellte  (vgl.  S.  217).  Nach 
Bergk,  bei  Gaedechens  p.  197,  Anm.  3,  können  die  betreflFenden  Worte 
des  Scholiasten  auch  bezeichnen,  „daß  man  verlangte,  er  solle  diesen 
Quell  anderen  zeigen,  und  da  er  dies  Verlangen  nicht  erfüllen  konnte, 
ward  er  ins  Meer  geworfen,  oder  stürzte  sich  selbst  hinein".  Diese 
Fassung,  falls  sie  richtig  wäre,  würde  lebhaft  an  die  oben  S.  189,  Anm.  4 
erwähnten  Versionen  und  an  die  Homilie  unten  S.  215)  erinnern.  —^  Ich 
verweise  noch  femer  darauf,  daß,  ähnlich  dem  Andreas  (oben  §  33), 
auch  Glaukos  dem  Orte,  an  dem  er  ins  Meer  stürzte,  den  Namen  gibt 
(Gaedechens  185,  Röscher  1679  unten),  daß  er  sich  aufs  engste  an 
Nereus  (Gaedechens  56,  Röscher  1680,  65)  und  die  Nereiden  (Gaedechens 
69ff ,  Röscher  1681,  1)  anschließt  (vgl.  Andreas  und  Kaie,  die  Nereide) 

Archiv  f.  Beligionswissenschaft  XTTT  13 


194  I-  Friedlaender 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  der  Verfasser  des  Olympias- 
briefes, der  gelegentlich  jüdischen  oder  christlichen  Einfluß 
verrät^,  hier,  wie  sonst^,  aus  einer  griechischen  Quelle  ge- 
schöpft hat.  Das  ganze  Kolorit  der  Lebensquellsage,  die 
Figur  des  Koches  Andreas,  der  überdies  in  einem  andern  Zu- 
sammenhange in  einer  alten  sikyonischen  Tradition  erscheint^, 
die  Gestalt  der  Kale^  vor  allem  aber  die  Grundtendenz  —  das 
Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht,  wenn  es  nicht  mit  dem 
Genuß  von  Ambrosia  und  Nektar  verbunden  ist^  —  ist  durch 
und  durch  hellenisch.  Die  Alexanderdichtung®  verfuhr  eben 
unkritisch.  Sie  bemächtigte  sich  eines  jeden  Sagenmotives, 
das  ihr  in  den  Weg  kam,  um  es  in  ihren  Schleier  zu  ver- 
weben. Sie  griff  auch  den  Glaukosstoff  auf  und  verwertete 
ihn,  wie  wir  gestehen  müssen,  mit  großem  Geschick  für  das 
Charakterbild  ihres  Helden.' 


und,  gleich  Andreas,  sich  durch  seine  Neigung  zum  weiblichen  Ge- 
Bchlechte  auszeichnet  (Gaedechens  passim.  Röscher  1684,  12).  Manche 
Berührungspunkte  mögen  in  der  Darstellung  des  Pseudokallisthenes 
bereits  verdeckt  sein.  In  der  ursprünglichen  Fassung  der  Lebensquell- 
eage  waren  wohl  die  Zusammenhänge  klarer. 

*  Vgl.  Müller  Einleitung  zu  seiner  Edition  p.  XVI  a.  Zacher 
Pseudokallisthenes  p.  132,  Meißner  Alexander  und  Gilgamos  p.  8  ff. 

*  Vgl.  Rohde  Der  griechische  Roman  p.  190,  Nöldeke  Beiträge  zum 
Alexanderroman  p.  25,   Dyroff  in    Zeitschrift   für  Assyriologie  VII,  321. 

'  Siehe  oben  S.  169,  Anm.  6.       *  Vgl.  Nöldeke  a.  a  0.  p.  25  unten. 

'  Vgl.  dagegen  Ecclesiastes  9,  4.  Treffend  sagt  Hopkins  in  seinem 
Artikel  The  Fountain  of  Youth  im  Journal  of  the  American  Oriental 
Society  26,  p.  37:  „the  real  quest  of  the  Semite  is  for  life  immortal; 
of  the  Hindu  for  renewed  youth  .  .  .  Nor  does  the  Semite  lay  stress 
on  'youth  and  beauty',  as  does  the  Hindu.  The  Hindu,  in  a  word, 
seeks  to  secure  the  whole  charm  of  life;  the  Semite  seeks  to  avoid  death". 

®  Ich  sage  absichtlich  Alexanderdichtung,  nicht  Pseudokallisthenes, 
weil  dieser  ohne  Zweifel  die  fremden  Sagenstoffe  in  ihrer  Übertragung 
auf  Alexander  bereits  vorgefunden  hat.  Soviel  Originalität,  als  zu  einer 
solchen  Übertragung  notwendig  ist,  darf  man  dem  Verfasser  des  Pseudo- 
kallisthenes nicht  zutrauen.  Die  Unklarheiten  und  Widersprüche  in 
seiner  Darstellung  wären  auch  kaum  verständlich. 

'  Ungemein  treffend  und  sowohl  fiir  das  Obige  als  auch  insbesondere 
für  die  unten  zu  erörternden  Probleme  beachtenswert  sind  die  Worte,  mit 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     195 

In  neuerer  Zeit  ist  von  assjriologischer  Seite  ^  mehrfach 
die  Behauptung  aufgestellt  worden,  daß  die  Lebensquellsage, 
wie  die  Alexandersage  überhaupt,  aus  Babylonien  entlehnt  sei. 
Was  den  letztern  weitergehenden  Anspruch  betrifft,  so  scheint 
er  uns  auf  zwei  irrigen  Voraussetzungen  zu  beruhen:  einer 
allgemeinen,  die  das  Wesen  der  Sagenbildung  verkennt  und 
derselben   zu   viel   Methode   und   Bewußtsein   zuschreibt*,   und 

denen  B.  Beer  in  seinen  Beiträgen  zur  Ahxatidersage  (ZDMG  9  [1855] 
p.  787)  das  kompilatorische  Verfahren  der  Sage  überhaupt  und  ins- 
besondere der  Alexandersage  charakterisiert:  „Es  kömmt  hierbei  gar 
nicht  darauf  an,  ob  diese  Ereignisse  mit  einem  und  demselben  Helden 
sich  zutrugen,  ob  sie  überhaupt  in  derselben  Weise  vereinigt  irgend- 
einem Sterblichen  zukamen,  ob  sie  einen  geographischen  oder  historischen 
Halt  haben  oder  nicht;  es  sind  einzelne  Data  aus  verschiedenen  in 
Umlauf  gewesenen  Volkssagen,  die  vielleicht  aus  ganz  verschiedenen 
Zeiten  und  Quellen  stammen,  in  ganz  verschiedenen  Kreisen  und 
Gegenden  ans  Licht  traten,  ursprünglich  von  ganz  verschiedenen  Heroen 
erzählt  wurden  und  hier  auf  das  eine  Haupt  zusammengetragen  sind, 
das  mit  unvergleichlichem  Lorbeer  geschmückt  werden  soll.  Die  Über- 
tragung solcher  Tatsachen  von  einer  Individualität  auf  eine  andere, 
zuweilen  um  Jahrtausende  davon  getrennte  Persönlichkeit  ist  in  der 
jüdischen  und  überhaupt  in  der  morgenländischen  Sage  so  häufig,  daß 
es  eigentlich  gar  keiner  weiteren  Beispiele  hiervon  bedarf  ...  Es  bilden 
also  die  einzelnen  Fakta  durchaus  kein  Kriterium,  den  Mann  und  sein 
Zeitalter  daraus  zu  erkennen,  der  ims  vorgeführt  wird.  Der  Charakter, 
der  ihm  in  dem  Berichte  aufgeprägt,  der  höhere  Wirkungskreis, 
der  ihm  angewiesen  ist,  dies  vielmehr  sind  die  Hauptargumente,  die 
über  ihn  entscheiden." 

»  Lidzbarski  in  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII  (1892)  p.  109; 
Meißner  Alexander  und  Gilgamos  1894,  passim.  Vgl.  Kampers  Alexander 
der  Große  880^.,  der  aber  bloß  referiert. 

^  Nach  Meißner  könnte  es  so  scheinen,  als  hätte  die  Alexander- 
sage das  Bild  des  Mazedoniers  dem  des  babylonischen  Nationalhelden 
systematisch  nachgezeichnet  (vgl.  den  Titel  und  insbesondere  den  Schluß- 
satz seiner  Abhandlung).  In  Wirklichkeit  aber  dürfte  es  sich  so  ver- 
halten, daß  die  uralten  Sagenmotive,  die  auf  Gilgamesch,  weil  er  der 
Nationalheros  war,  (aber  auch  auf  andere  babylonische  Helden)  über- 
tragen wurden,  auch  in  der  Zeichnung  der  Gestalt  Alexanders  zur  Ver 
Wendung  gelangten,  weil  er  der  Heros  des  späteren  Orients  geworden 
war  (vgl.  Kampers  a.  a.  0.  p.  134).  Die  Ähnlichkeit  erklärt  sich  daher 
nicht  aus  bewußter  Nachahmung,  sondern  aus  einer  unbewußten  Ver- 
la* 


196  I-  Friedlaender 

einer  speziellen  literarhistorischen,  die  den  babylonischen  Tal- 
mud wegen  seines  Ursprungsortes  als  die  Quelle  des  Pseudo- 
kallisthenes  oder  eines  Teiles  desselben  auffaßt.^  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  daß  die  Alexanderdichtung  vielfach  mit  Sagen- 
motiven operiert,  die  in  letzter  Instanz  auf  Babylonien  zurück- 
gehen.^ Bei  dem  hohen  Alter  der  babylonischen  Kultur  und, 
was  damit  vielfach  identisch  ist,  der  babylonischen  Mythologie 
und  bei  dem  überwältigenden  Einfluß  derselben  auf  das  ge- 
samte Altertum,  wie  er  sich  immer  großartiger  vor  unseren 
Augen  entrollt,  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn  wir  auch 
im  spätem  Mythus  Elemente  entdecken,  die  wir  in  ähnlicher 
Form  in  Babylonien  wiederfinden.  Babylonische  SagenstoflFe 
oder  Sagenmotive  waren  ohne  Zweifel,  in  unzähligen  Varia- 
tionen überliefert  und  durch  unzählige  Kanäle  vermittelt,  im 
ganzen  Altertum  verbreitet,  und  keine  neue  Sagendichtung 
vermochte  es,  sich  deren  Einfluß  zu  entziehen  und  sie  unbenutzt 
beiseite  zu  lassen.  Denn  auch  die  menschliche  Phantasie  folgt 
dem  Gesetze  vom  geringsten  Widerstände  und  erfindet  nicht, 
wo  sie  entlehnen  kann.  Aber  eine  babylonische  Parallele 
braucht  daher  noch  nicht  eine  direkte  babylonische  Ent- 
lehnung zu  sein.  Jene  Elemente  sind  vielmehr  als  Material 
aufzufassen,  das  auch  für  einen  andern  Zweck  verwertet  werden 
kann;  sie  sind  nichts  als  „einzelne  Data  aus  verschiedenen  in 
Umlauf  gewesenen  Volkssagen,  die  vielleicht  aus  ganz  ver- 
schiedenen Zeiten  und  Quellen  stammen,  in  ganz  verschiedenen 
Kreisen  und  Gegenden  ans  Licht  treten,  von  ganz  verschiedenen 
Heroen  erzählt  wurden"^,  die  aber  einer  neuen  selbständigen 

arbeitung  umlaufender  Sagenstoffe.  Siehe  die  Ausführungen  im  Texte 
und  die  oben  S.  194,  Anm.  7  zitierte  Bemerkung  Beers.  Der  Unterschied 
zwischen  diesen  beiden  Auffassungen  ist  der,  daß  nach  der  letzteren 
auch  für  nichtbabylonische,  in  unserem  Falle  hellenische,  Einflüsse 
genug  Raum  übrig  bleibt.         *  Vgl.  darüber  unten  S.  206  ff. 

*  Vgl.  Meißner  a.a.O.  p.  13tf.,  wo  jedoch  einzelnes  zum  Wider- 
spruch reizt.     Siehe  auch  S.  198 

»  Oben  S.  194,  Anm.  7. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     197 

Idee  oder  Tendenz  dienstbar  gemacht  werden.  Und  gerade 
diese  Idee  oder  Tendenz  ist  es,  die  das  Wesen,  den  Charakter 
einer  Sage  ausmacht.  Was  nun  speziell  den  Gegenstand  unserer 
Untersuchung  betrifft,  so  ist,  infolge  der  ungenügenden  Er- 
kenntnis der  Struktur  des  Olympiasbriefes,  übersehen  worden, 
daß  die  babylonischen  Parallelen  und  Berührungs- 
punkte sich  auf  die  Legende  vom  Lande  der  Seligen 
beschränken^,  während  die  Lebensquellsage  mit  dem  baby- 
lonischen Mythos  nichts  gemeinsam  hat.  Der  Quell  im  6il- 
gameschepos-   ist   doch  recht   problematisch.     Der  Lebensquell 


'  Nach  der  Darstellung  im  Pseudokallisthenes  liegt  das  Land  der 
Seligen  hinter  dem  Lande  der  Finsternis  (vgl.  oben  S.  166,  Anm.  5). 
Nach  dem  Talmud  (unten  S.  203,  Anm.  7)  und  der  syrischen  Homilie  (unten 
S.  213,  Anm.  8)  sind  es  Berge  der  Finsternis  (vielleicht  ist  damit  auch 
der  Berg  in  der  syrischen  Alexanderlegende  identisch,  vgl.  Meißner  p.  13). 
Statt  des  Landes  der  Seligen  liest  i  an  einer  Stelle  (oben  S.  170,  Anm. 9) 
die  In.seln  der  Seligen  (vgl.  auch  Wilhelm  Herz  Gesammelte  Abhand- 
lungen Stuttgart  und  Berlin  19ü5,  p.  93  und  besonders  Anm.  1).  Statt  des 
Landes  der  Finsternis  liest  ein  Kodex  der  Homilie,  der  auch  sonst  alter- 
tümliche Züge  aufweist,  Meer  der  Finsternis  (vgl.  auch  den  arabischen  Namen 
'bahr  az-zulumät',  'Meer  der  Finsternisse'  für  den  Atlantischen  Ozean). 
Demnach  Hegen  hier  zwei  Anschauungen  vor.  Nach  der  einen  lagert 
vor  dem  Lande  der  Seligen  das  Land  (oder  die  Berge)  der  Finster- 
nis. Nach  der  anderen  liegt  die  Insel  (oder  Inseln)  der  Seligen  hinter 
dem  Meer  der  Finsternis.  Von  beiden  Auffassungen  finden  sich  deut- 
liche Spuren  im  Gilgameschepos.  Vgl.  einerseits  das  Gebirge  Mäschu 
und  den  Götterpark,  den  Gügamesch,  nachdem  er  aus  der  Finsternis 
ans  Licht  getreten,  findet  (s.  Jensen  Das  Gilgameschepos  in  der  Welt- 
literatur I,  Straßburg  i.  E.  1905,  p.  24  und  27),  anderseits  die  Gewässer 
des  Todes  (den  stinkenden  Ozean  in  der  syrischen  Legende,  vgl.  Meißner 
p.  15)  und  den  Aufenthaltsort  des  Xisuthros  (Jensen  ib.  32,  33).  —  Den 
Park,  dessen  Bäume  Edelsteine  tragen  (Jensen  ib.  27;  derselbe  in  Keü- 
inschriftliche  Bibliothek  [=  KB.]  VI,  209),  möchte  ich  (gegen  Meißner  p.  14) 
mit  den  Edelsteinen  identifizieren,  die  Alexander  und  sein  Heer  im 
Lande  der  Finsternis  finden  (oben  §  30).  —  Über  die  geographische 
Lage  des  Landes  der  Seligen  vgl.  unten  S.  223,  Anm.  4.  —  Über  die 
Tendenz  der  Sage  im  Pseudokallisthenes  im  Gegensatz  zu  der  im 
Gilgameschepos,  vgl.  später  S.  198,  Anm.  3. 

*  Jensen  a.  a.  0.  47;  KB.  VI,  249. 


198  I.  Friedlaender 

ist  er  jedenfalls  nicht.^  Die  charakteristischen  Züge  der 
Lebensquellsage,  wie  der  tote  Fisch,  die  Verwandlung  in  einen 
Seedämon,  die  für  das  Verständnis  der  Sage  unentbehrlich  ist^, 
und  vor  allem  die  Tendenz  sind  dem  babylonischen  Mythos 
fremd.''  Jedenfalls  aber  scheint  es  uns  durchaus  verkehrt,  aus 
dem  Vorhandensein  babylonischer  Parallelen  in  der  Alexander- 
sage auf  eine  direkte  babylonische  Abhängigkeit  zu  schließen 
oder  gar  auf  diesen  Umstand  weitgehende  Identifikationen  mit 
viel  jüngeren  Formen  der  Sage  zu  gründen.* 

Wir  haben  oben  gesehen,  daß  in  der  Darstellung  des 
Pseudokallisthenes  das  Land  der  Seligen  eine  sekundäre  Rolle 
spielt  und  gewissermaßen  als  eine  Dekoration  für  Alexanders 
Zug  nach  dem  Ende  der  Welt  verwendet  wird.    Als  ihm  eine 

■  Das  Kraut  (KB.  252f.;  Gilgameschepos  49)  scheint  die  Funktion 
eines  Lebenskrautes  zu  besitzen  und  würde  dann  an  das  Glaukoskrant 
(oben  S.  192)  erinnern.  Aber  Jensen  (Gilgameschepos  p.  49,  besonders 
Anm.  2)  bestreitet  diese  Ansicht. 

*  Meißner  p.  10  und  nach  ihm  Kampers  p.  89,  die  diesen  Zug  für 
sekundär  halten,  verkennen  vollständig  Zweck  und  Bedeutung  der  Sage. 

'  Andreas  wird  ein  elender,  lebensüberdrüssiger  Seedämon.  Xisuthros 
dagegen  wird  nicht  nur  unsterblich,  sondern  auch  selig.  Daß  der 
Mensch  sterblich  ist  und  Alexander  ebensowenig  wie  Gilgamesch  ewiges 
Leben  erringen  kann,  ist  doch  zu  sehr  eine  Binsenwahrheit,  als  daß 
daraus  ein  Abhängigkeitsverhältnis  erschlossen  werden  könnte.  Dagegen 
findet  sich  vielleicht  ein  Anklang  an  unsere  Sage  im  Adapamythua 
(KB.  VI,  93 f.,  vgl.  Jensen  Das  Gilgameschepos  p.  75).  Adapa,  ein 
Fischer  und  Schiffer  der  Stadt  Eridu  (erinnert  an  Glaukos,  oben 
S.  192 f.),  zerbricht  dem  Südwind,  der  ihn  einst  angriff,  als  er,  um  Fische 
zu  fangen,  aufs  Meer  hinausfährt,  die  Flügel.  Er  wird  vor  Anu  zitiert, 
der  ihm  Speise  des  Lebens  und  Wasser  des  Lebens  anbietet.  Aber  auf 
den  Rat  des  Gottes  Ea  schlägt  er  die  ihm  angebotene  Gabe  aus  und 
kehrt  als  Sterblicher  zur  Erde  zurück.  Falls  die  Tendenz  hier  ist,  daß 
die  Unsterblichkeit  dem  Menschen  kein  Heil  bringt,  würde  der  Mythus  an 
die  Lebensquellsage,  besonders  an  die  Glaukoslegende,  erinnern.  Doch  ist 
hier  auch  eine  andere  Deutung  möglich  (s.  Jensen  Gilgameschepos  p.  76  Z.  1, 
vgl.  p.  122  Z   5).     Jedenfalls  aber  liegen  hier  nichts  als  Anklänge  vor. 

*  Wie  ea  Lidzbarski  Zeitschrift  für  Ässyriologie  VII,  104  ff.  ver- 
aucht  hat.     Vgl.  noch  unten  S.  206  ff. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     199 

höhere  Stimme  den  Eintritt  in  dasselbe  verwehrt,  zieht  sich 
Alexander  ohne  weiteres  zurück,  indem  er  daraus  entnimmt, 
daß  er  am  Ende  seiner  Wanderung,  das  für  ihn  mit  dem 
Ende  der  Welt  zusammenfällt,  angelangt  ist.  Allein  es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  hier  eine  Form  der  Legende  durchschimmert, 
in  welcher  dieser  Rückzug,  der  im  Oljmpiasbrief  als  etwas 
Natürliches  und  Freiwilliges  erscheint,  als  eine  Demütigung 
des  Welteroberers  gedacht  war  und  in  welcher  der  herrsch- 
süchtige Mazedonier,  der  in  seinem  Übermut  die  Grenzen  des 
Irdischen  zu  überschreiten  wagt,  nachdrücklich  an  die  mensch- 
liche Ohnmacht  gemahnt  wird.^  Hier  lag  ein  Motiv  vor,  das 
wegen  seiner  religiösen  Färbung  auf  Juden  und  Christen  den 
gleichen  R^iz  ausüben  mußte.  Diesem  Motive'  entsprang  wohl 
die  berühmte  Sage  von  Alexanders  Zug  nach  dem 
Paradies.  Das  Land  —  oder  die  Lisel  —  der  Seligen  wird 
begreiflich  genug  mit  dem  Paradies  identifiziert'  und  der  ehr- 


'  Vgl.  bereits  die  Ausdrucksweise  der  anneniscben  Version  oben 
S.  180,  Anm.  2,  die  ein  ähnliches  Motiv  widerspiegelt.  Siehe  auch  Pseudo- 
kallisthenes  ed.  Müller  II,  41  (oben  §  27,  S.  170). 

*  Die  Überhebung  Alexanders  wird  bereits  I.  Makkabäer  1,  3  {xal 
v\l)m9r]  xal  iTf^Q&r}  rj  Kugdia  avrov)  vorausgesetzt.  Vgl.  S.  Fraenkel 
ZDMG  45,  324. 

'  Diese  Identifikation  wurde  vielleicht  durch  die  Brahmaneninsel 
(oben  §  10)  vermittelt,  die  schon  früh  (vgl.  Wesselowsky  Jz  istoriji  ro- 
viana  i  powiesti  I  [1886],  p.  280  ff.)  mit  der  Insel  der  Seligen  identifiziert 
wurde.  Denn  bereits  nach  PseudökaXlisthenes  ed.  MüUer  III  7  liegt  die 
Brahmaneninsel  am  Ganges,  der  für  den  Paradiesfluß  Pison  erklärt  wird. 
Die  Brahmanen  werden  unter  anderem  auch  mit  den  im  Paradies 
wohnenden  Nachkommen  Seths  identifiziert  (vgl.  Wesselowsky  ibidem  und 
Budge  Life  and  exploits  of  Alexander  the  Great,  in  der  äthiopischen 
Alexandersage  II  129).  Nach  einer  hebräischen  Alexanderversion,  die 
von  der  oben  mehrfach  zitierten  verschieden  ist  (vgl.  Gaster  in  dem  oben 
S.  189,  Anm.  4  zitierten  SbomiJc  otdielienia  etc  p.  48)  „zieht  Alexander 
nach  dem  Flusse  Pison,  d.  i.  dem  indischen  Ganges,  aus  dem  der  ägyp- 
tische Nil  fließt."  S.  unten  S.  201.  Vgl.  Gaster  im  Journal  of  the  Royal 
Asiatic  Society  1897,  p.  497,  und  Hopkins  im  Journal  of  the  American 
Oriental  Society  26,  p.  20  f.  —  Die  Verquickung  der  Lebensquellepisode 
mit  der  Paradiessage  tritt  deutUch  im  koptischen  Alexanderroman  (etwa 


200  I-  Friedlaender 

geizige  Held  wird,  abweichend  vom  Pseudokallisthenes,  in  seine 
Schranken  verwiesen  und  von  seiner  unersättlichen  Herrsch- 
sucht geheilt.^ 

Diese  Legende,  die  verdientermaßen  in  zahlreichen  Varia- 
tionen in  die  Weltliteratur  eingedrungen  ist,  findet  sich  bereits 
im  Talmud.^  Doch  läßt  die  Form  der  Darstellung  darauf 
schließen,  daß  sie  hier  nicht  ursprünglich,  sondern  aus  einer 
anderen  und  natürlich  älteren  Quelle  entlehnt  ist.^  Eine  aus- 
führlichere und  teilweise  ursprünglichere  Form  der  Sage  findet 
sich  in  der  lateinischen  Schrift  „Alexandri  Magni  iter  ad 
Paradisum"^,  die  zwar  dem  zwölften  Jahrhundert  angehört, 
aber  ohne  Zweifel  auf  eine  alte  jüdische  (oder  christliche) 
Aggada  zurückgeht.^ 

Nach  dieser  Fassung  der  Sage,  um  deren  Inhalt  kurz  zu 
skizzieren,  wandert  Alexander  nach  dem  Paradiese,  um  das- 
selbe  zu  unterwerfen^   und   so  seinen  Eroberungen  die    Krone 

6.  Jh.)  hervor,  vgl.  Oskar  von  Lemm  Der  Alexanderroman  hei  den  Kopten, 
Petersburg  1903,  p.  94:  Alexander  gelangt  an  die  vier  Paradiesströme, 
die  mit  Namen  genannt  werden.  „Sie  tranken  aber  aus  ihnen  und  jubelten, 
denn  jene  Wasserquelle  (!)  war  süß.  Darauf  sahen  sie  eine  große 
Finsternis."  Hierauf  folgt  der  Zug  ins  Land  der  Finsternis.  —  Herz 
Abhandlungen  p.  94 f.  ist  sicherlich  im  unrecht,  wenn  er  annimmt,  daß 
das  Paradies  ursprünglich  ist  und  durch  das  bekanntere  (!)  Land  (oder 
Insel)  der  Seligen  ersetzt  wurde, 

^  Vgl.  den  Satz  am  Ende  von  §  36  (oben  S.  176). 

«  Unten  S.  206. 

'  Mit  dem  höheren  Alter  der  Sage  würde  auch  die  Tatsache 
korrespondieren,  daß  die  syrische  Alexanderlegende,  die  um  514  n.  Chr. 
entstanden  ist  (unten  S.  211),  dieselbe  wohl  als  bekannt  voraussetzt 
und  gegen  sie  leise  polemisiert  (unten  S.  211). 

*  Ed.  Julius  Zacher,  Königsberg  1859.  Vgl.  über  diese  Schrift 
Israel  Lövi  in  Bevue  des  Etudes  Juives  [=  E.  E.  J.]  II  299  ff.  und  XIII 
117 f.;   Herz  Abhandlungen  84 ff. 

*  Vgl.  Nöldeke  Beiträge  zum  Alexanderroman  p.  29,  Anm.  1. 

^  Im  Pseudokallisthenes  ist  der  Zweck  seiner  Wanderung  nach  dem 
Lande  der  Seligen  bereits  verdeckt,  wenn  auch  die  Rede  des  Vogels 
(oben  §  27)  denselben  erraten  läßt.  Der  in  der  lateinischen  Legende  an- 
gegebene Zweck  klingt  durchaus  natürlich  und  ursprünglich.  Auch  der 
Talmud,  der  diese  Sage  in  fragmentarischer  Gestalt  bietet,  läßt  in  der 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebenequell  and  die  Chadhirlegende     201 

aufzusetzen.  In  Begleitung  von  fünfhundert  tapferen  Jüng- 
lingen^ steigt  er  auf  dem  Ganges  oder  dem  Paradiesfluß  Pison^ 
zu  Schiff  und,  unter  furchtbaren  Schwierigkeiten  und  Gefahren 
stromaufwärts  segelnd,  gelangt  er  endlich  ans  Paradies,  Ton 
dessen  Einwohnern  er  eine  Tributleistung  verlangt.  Auf  diese 
Aufforderung  hin  wird  ihm  durch  eine  kleine  Öffnung,  die 
einzige,  durch  die  das  Paradies  mit  der  Außenwelt  in  Be- 
rührung kommt,  ein  St^in  gereicht',  der  einem  menschlichen 
Auge  ähnlich  sieht.  Nach  seiner  Rückkehr  erbittet  und  er- 
hält Alexander  von  einem  weisen  Juden*  die  Erklärung  dieses 
seltsamen  Geschenkes.  Wenn  auf  eine  Wagschale  gelegt,  kann 
der  Stein  von  keinen  Schätzen  aufgewogen  werden.  Doch 
springt  die  Wagschale  federleicht  in  die  Höhe,  wenn  man 
etwas  Staub  über  den  Stein  streut.  Dieselbe  Bewandtnis  habe 
es  mit  dem  menschlichen  Auge.  Solange  der  Mensch  am 
Leben  ist,  kann  es  nicht  gesättigt  werden.  Aber  der  Tod 
setzt  aller  menschlichen  Gier  ein  rasches  Ende.  Alexander  ist 
tiefbewegt.  Er  sieht  die  Eitelkeit  seines  Strebens  ein  und 
zieht  sich  von  allen  seinen  Unternehmungen  zurück.  Bald 
darauf  stirbt  er,  von  einem  seiner  Diener  vergiftet.^ 

Diese  Legende,  die,  wie  man  sieht,  Jahrhunderte  hindurch 
unabhängig  vom  Alexanderroman  als  selbständiger  SagenstofF 
tradiert  wurde,  wurde  den  orientalischen  Versionen  des 
Alexanderromans    einverleibt    und    bildete   von    nun   an  einen 


Aufforderung  Alexanders  an  die  Paradiesbewohner:  „Gebt  mir  etwas!" 
dieselbe  Auffassung  durchschimmern.  —  Der  Besuch  des  Gilgamesch  auf 
der  Insel  der  Seligen  gilt  eigentlich  XiButhros,  nicht  der  Insel. 

'  Vgl.  oben  §  18. 

»  Vgl.  oben  S.  199,  Amn.  3. 

'  Der  Stein  ist  als  Tribut  gedacht.  In  den  späteren  Bearbeitungen 
wird  er  als  Andenken  aufgefaßt. 

*  Derselbe  wird  in  der  lateinischen  Legende  Papas  genannt,  ein 
Xame,  der  in  Babylonien  heimisch  ist,  Tgl.  Israel  Levi  E.  E.  J.  II  299, 
Anm.  4. 

*  Die  verschiedenen  Versionen  Tom  Wunderstein  vgl.  bei  Herz  Ab- 
handlungen p.  73  ff 


202  I.  Friedlaender 

integrierenden  Bestandteil  desselben.  Wir  werden  später  sehen, 
in  welcher  Gestalt  sie  in  der  orientalischen  und  insbesondere 
arabischen  Alexandersage  wieder  erscheint  und  in  welcher 
Weise  sie  mit  der  Lebensquellsage  und  der  Chadirlegende 
kombiniert  wird. 

II 
Der  Talmud 

Die  Legende  von  Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell 
findet  sich  auch  im  babylonischen  Talmud.  Aus  dieser  Tat- 
sache sind  weitgehende  Schlüsse  über  Entstehung  und  Über- 
lieferung dieser  Legende  wie  des  Alexanderromans  überhaupt 
gezogen  worden.^  Um  diese  Schlüsse,  die  auch  für  den 
Gegenstand  dieser  Abhandlung  von  einschneidender  Bedeutung 
sind,  richtig  beurteilen  zu  können,  müssen  wir  auf  die  be- 
treffende Talmudstelle  des  genaueren  eingehen.  Wir  geben 
die  Stelle,  die  häufig^,  aber  kaum  erschöpfend  behandelt 
wurde,  in  wörtlicher  Übersetzung  wieder^  und  prüfen  sodann  die 
literarhistorischen  Folgerungen,  die  sich  aus  derselben  ergeben. 

Die  Legende  findet  sich  im  Traktat  Tamid  fol.  31^  am 
Ende  eines  Abschnittes,  in  Übereinstimmung  mit  einer  tal- 
mudischen Gewohnheit,  einen  Abschnitt  mit  einem  aggadisahen 
oder  legendären  Stoff  abzuschließen.  Sie  schließt  sich  — 
und  auch  dies  ist  im  Talmud  gang  und  gebe  —  an  das  Vor- 
hergehende nur  lose  an.*     Sie  beginnt  folgendermaßen:  „Zehn 

»  S.  unten  S.  206  ff. 

*  Vogelstein  Adnotationes  quaedam  ex  litteris  orientalibus  petitae 
ad  fabulas,  quae  de  Älexandro  Magno  circumferuntur,  Breslau  1866, 
p.  16 f.,  20 f,  26.  Israel  Lävi  R.  JE.  J.  II  299 ff.  Vgl.  ferner  die  von  Herz 
Abhandlungen  p.  83,  Anm.  3  verzeichnete  Literatur. 

'  Ich  benutze  die  große  Wilnaer  Ausgabe  (1880—1886).  Die  im 
folgenden  angeführten  Kommentare  finden  sich  in  dieser  Ausgabe,  und 
zwar  teils  am  Rande  des  Talmudtextes,  teils  am  Ende  des  Traktates. 

■*  Die  Überleitung  scheint  durch  die  vorher  erwähnte  Zehnzahl  her- 
gestellt zu  sein.  Nach  S.  Rapoport  Erech  Miliin  68  b,  69  a  ist  die 
Talmudstelle  ein  Zitat  aus  einem  verloreneu  selbständigen  Werke 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     203 

Fragen  stellte  Alexander  der  Mazedonier  an  die  Altesten  des 
Südens."^  Darauf  werden  die  Fragen  spezifiziert,  deren  Inhalt 
wir  aus  dem  im  Pseudokallisthenes  überlieferten  Gespräch 
Alexanders  mit  den  Gymnosophisten  (vgl.  oben  §  10)  kennen. 
Wie  Nöldeke'  nachgewiesen  hat,  sind  diese  Fragen  und  Ant- 
worten „weder  aus  dem  Roman  (d.  h.  dem  Pseudokallisthenes) 
genommen,  noch  bilden  sie  eine  Quelle  desselben",  da  sie  im 
einzelnen  eher  mit  Plutarch  als  mit  Pseudokallisthenes  über- 
einstimmen.^ Unmittelbar  auf  dieses  Stück,  das  ein  palä- 
stinensisches Kolorit  trägt  und  sich  sprachlich  vom  Idiom 
des  babylonischen  Talmuds  abhebt  *,  folgt  eine  andere  Alexander- 
sage, die  den  sonstigen  Sprachcharakter  des  babylonischen 
Talmuds  verrät.  Ich  übersetze  wörtlich:  „Er  sagte  zu  ihnen ^: 
'Ich  wünsche  in  die  Provinz"  Afrika  zu  ziehen'.  Da  sagten 
sie  zu  ihm:  'Du  kannst  nicht  (hin)gehen,  da  die  Berge  der 
Finsternis    dazwischen    lieoren'.'      Da    sagte  er  zu  ihnen:    'ich 


'  Nach  Rapoport  a.  a  0.  69  a  soll  der  Süden  (Negeb)  hier  für  Indien 
stehen.         *  Beiträge  zum  Alexanderroman  p.  7,  Anm.  1. 

»  Vgl.  Beer,  ZDMG9,  788  und  S.  Fraenkel  ibidem  45,  323. 

*  Fraenkel  ib.  45,  322  unten  und  Israel  Levi  a.  a.  0.  II  293  f. 

^  Im  Zusammenhange  des  Talmuds  können  damit  nur  die  „Ältesten 
des  Südens"  gemeint  sein.  Doch  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen, 
daß  dieses  Stück  mit  dem  Vorhergehenden  nichts  zu  tun  hat  und  daß 
ursprünglich  die  Greise  gemeint  sind,  die  Alexander  über  den  Weg  nach 
dem  Lande  der  Finsternis  befragt.     Vgl.  unten  in  der  Homilie  S.  211  f. 

®  "'"■'"IDN  m7:b.  über  Afrika  in  diesem  Zusammenhang  vgl.  S.Krauß 
in  Jeicish  Encyclopedial  226;  Harkavy  in  Sbornik  otdielienia  (oben  S.  189, 
Anm.  4)  p.  95ff. ;  Nöldeke  Beiträge  p.  26  unten;  Wesselowsky  Jz  istoriji 
romana  i  potciesti  I  291.  —  Über  die  Richtung  des  Alexanderschen 
Zuges  vgl,  unten  S.  223,  Anm.  4. 

'  ycn  ■'-irj  ■'pOST,  vgl.  oben  S.  197,  Anm.  1.  Die  „Berge  der 
Finsternis"  werden  auch  sonst  in  der  rabbinischen  Alexanderlegende 
erwähnt,  vgl.  Harkavy  a.  a.  0.  p.  94  und  unten  S.  204,  Anm.  6).  Auch 
der  hebräische  Alexanderroman  (oben  S.  181,  Anm.  2)  spricht  (ed.  Levi  p.  149 
oben.  Gaster  p.  516  oben),  sicherlich  nicht  in  Abhängigkeit  vom  Talmud,  von 
den  Bergen  der  Finsternis.  —  Es  ist  bemerkenswert,  daß  der  hebräische 
Ausdruck  ^'CT\  "'"iri  mitten  in  einem  aramäischen  Texte  festgehalten  wird. 
Er  macht  den  Eindruck  einer  starren  vielsrebrauchten  Bezeichnung. 


204  I-  Friedlaender 

kann  nicht  anders  als  hingehen.^  Deswegen  frage  icli  euch 
(um  Rat):  Was  soll  ich  tun?'^  Da  sagten  sie  zu  ihm:  'Nimm 
libysche  EseP,  die  im  Dunkeln  marschieren  können.*  Nimm 
ferner  einen  Knäuel  Stricke^  und  befestige  denselben  auf 
dieser  Seite  (d.  h.  am  Eingang  zur  Finsternis).  Wenn  du 
nun  in  den  Weg  ziehst,  halte  sie  (die  Stricke)  fest,  dann 
wirst  du  an  deine  (gegenwärtige)  Stelle  (zurück)gelangen/ 
Er  tat  also  und  begab  sich  auf  den  Weg.  Er  gelangte  an 
eine  Stadt,  die  ganz  aus  Weibern  bestand."  Hier  folgt  die 
bekannte  Episode  mit  den  Amazonen.^  Sodann  fährt  der 
Talmud  fort:    „Als    er    weiter    ging,    setzte    er^    sich   an  jene 

*  Nj"ibTN  Nbl  N-»5D  Nb,  wörtlich:  „es  ist  nicht  möglich,  daß  ich 
nicht  hingehe." 

*  l-^nyn  ■^H'72  NbN  IDb  Üjb'^^'O^  "«Dr;  r^lOH.  Raschi  (starb  1105) 
las  anscheinend  NbN  nicht. 

*  Die  wegen  ihrer  Ausdauer  auch  sonst  im  Talmud  erwähnt  werden, 
vgl.  Levy  Neuhebräisches  Wörterbuch  s.  v.  "^N^ib. 

*  N'^3|j3  ";IJ"1D1.  Nach  Jastrows  Dictionary,  der  N^?n  punktiert, 
bedeutet  es  „Dunst,  Nebel".  Die  Haggadoth  ha -Talmud,  eine  alte 
anonyme  Sammlung  von  Talmudlegenden  (im  folgenden  mit  Hagga- 
doth bezeichnet),  gedruckt  mit  Kommentar  Konstantinopel  1611,  lesen 
N"im"a  ■'OIC  „auf  denen  man  das  Feld  (oder  den  Wald)  durch- 
zieht". Der  Kommentar  folgt  der  gewöhnlichen  Lesart.  Der  Rabbenu 
Gerschom  (starb  1040)  zugeschriebene  Kommentar,  der  jedenfalls  älter 
ist  als  Raschi  (vgl.  über  denselben  Epstein  in  Steinschneiders  Festschrift 
p.  115 ff.),  liest  N"'i3n3  (mit  Heth)  und  übersetzt:  „welche  marschieren, 
wenn  man  ihnen  zuredet". 

*  Da  das  ursprüngliche  Motiv  mit  den  Tieren  (oben  S.  186,  Anm.  2) 
vergessen  ist  und  die  Esel  anscheinend  als  Reit-  oder  Lasttiere  gedacht 
werden,  so  tritt  notwendigerweise  das  Motiv  vom  Ariadnefaden  hinzu, 
um  das  Wandern  im  Dunkeln  zu  ermöglichen.  —  Nach  Fraenkel 
ZDMGr  46,  323  stammen  die  Stricke  von  den  exoivoi  her  (oben  §  21), 
mit  denen  Alexander  in  der  Finsternis  die  Länge  des  Weges  mißt. 

®  Vgl,  Nöldeke  Beiträge  p.  26  unten.  Dieselbe  Geschichte  von 
den  Amazonen,  die  hinter  den  Bergen  der  Finsternis  hausen,  findet  sich 
auch,  aber  ohne  die  Erwähnung  der  Esel  vorher  und  des  Lebensquells 
nachher,  in  der  Pesiqta  (etwa  V. — VL  Jahrhundert),  ed.  üuber,  p.  72  a  f., 
und  im  Leviticus  Babba  (etwa  VII.  Jahrhundert)  Kap.  27  gegen  Anfang. 

^  Anscheinend  ist  Alexander  gemeint.  Doch  liegt  hier  ein  Miß- 
verständnis vor,  vgl.  unten  S.  207 f. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     205 

Quelle  und  aß  Brot.  Er  hatte  in  seiner  Hand^  kleine  Salz- 
fische.^  Während  man  sie  wuscht  kam  in  sie  der  Lebens- 
odem .^  Da  sagte  er:  ^hieraus  folgt,  daß  dieser  Quell  aus  dem 
Paradiese  kommt'.  Einige  behaupten:  er  nahm  von  jenem 
Wasser  und  spritzte  es  sich  ins  Gesicht.^  Andere  dagegen 
behaupten:    er    ging    an    demselben  seiner  ganzen  Länge  nach 


*  Haggadoth  besser   JT'l^ts  *bei  sich'  statt   rfT'n. 

*  ar'-Dtz-i  ■'nb-'i,  Haggadoth  "'mb?:  ■'rNnb-J.  Vgl.  über  diesen 
Ausdruck  Immanuel  Low  in  Xöldekes  Jubelschrift  (Orientalische  Studien) 
p.  552.  —  Die  Fische  sind  hier  offenbar  als  Zukost  gedacht.  Vgl. 
itgoGcpäyiov  im  Pseudokallisthenes  (oben  S.  169,  Anm.  6).  Dieser  ohne 
Zweifel  ursprüngliche  Zug  kehrt  in  der  arabischen  Alexandersage  wieder. 

'  "^-ninT:"!.  Levi  a.a.O.  298  Anm.  2  liest  den  Singular:  -.■.in'cn. 
(Ebenso  scheint  Rosch  [Ascher  b.  Jechiel,  starb  1328]  gelesen  zu  haben, 
obwohl  er  den  Plural  übersetzt.)  Diese  Emendation  ist  unnötig.  Levi 
vergißt,  daß  im  Talmud  nicht  der  Koch,  sondern  Alexander  die  handelnde 
Person  ist.  Das  wußte  wohl  auch  der  Talmud,  daß  nicht  Alexander 
selber  die  Fische  reinigte. 

*  Nn**".  "17:2  Vd;.  Unser  Talmudtext,  so  schon  editio  princeps 
(Venedig  1522),  liest  'Reha',  'Wohlgeruch',  und  Raschi  erklärt  dem- 
entsprechend: „während  man  sie  im  Wasser  wusch,  um  das  Salz  zu 
entfernen,  fiel  in  die  Fische  ein  guter  Geruch,  da  die  Quelle  aus  dem 
Paradiese  kam".  Dagegen  der  Rabbenu  Gerschom  zugeschriebene 
Kommentar,  Rosch  und  die  aggadische  Sammlung  des  Jakob  ben  Habib 
('En  Jakob,  editio  princeps  Saloniki  1516),  ebenso  wie  Haggadoth  lesen 
'Rühä',  'Wind,  Odem'.  Auch  R.  Bezahl  Aschkenazi  (16.  Jahrhundert)  in 
seinem  Schittah  Mekubbezeth  verzeichnet  dieselbe  Lesart.  Ebenso  kennt 
R.  Samuel  Edels  (starb  1631)  dieselbe  und  polemisiert  gegen  sie.  — 
Manche  der  angeführten  Kommentare  paraphrasieren  'Rühä'  durch 
'Ru*h  hajjim',  'Lebensodem'.  Der  Kommentar  zum  'En  Jakob  (editio 
princeps  faßt  es  dagegen  als  'Wind'  auf  und  erklärt  rationalistisch: 
„Ein  Wind  kam  von  der  Quelle  und  brachte  die  Fische  ins  Leben 
zurück".  —  Es  braucht  kaum  bewiesen  zu  werden,  daß  'Rühä'  die  ur- 
sprüngliche Lesart  ist.  Der  Ausdruck  kehrt  merkwürdigerweise  mehr- 
fach in  der  arabischen  Alexandersage  wieder.  —  Freilich  war  auch  nach 
Pseudokallisthenes  (oben  §  26)  die  Luft  in  der  Xähe  der  Lebensquelle 
wohlriechend. 

^  rfSNn  ir-a.  Rosch  gibt  die  zweifellos  ursprünglichere  Lesart 
-■"DN  "im  NCt:  „wusch  sich  damit  das  Gesicht".  Der  Rabbenu  Gerschom 
zugeschriebene  Kommentar  und  Raschi,  die  'r'z  yrr.  paraphrasieren, 
hatten  vielleicht  dieselbe  Lesart  vor  sich. 


206  I-  Friedlaender 

aufwärts^,  bis  er  an  die  Pforte  des  Paradieses  gelangte."  Hier 
wird  ihm  eine  Augenkugel ^  geweiht,  die  alles  aufwiegt,  bis 
man  Staub  über  sie  streut. 

Der  Versuch  ist  vielfach  unternommen  und  auch  nach 
dem  energischen  Einsprüche  Nöldekes^  wiederholt  worden*, 
die  obige  Talmudstelle  als  das  Original  der  Lebensquellsage 
des  Pseudokallisthenes  hinzustellen  und  aus  der  Priorität  des 
babylonischen  Talmuds  auf  den  babylonischen  Ursprung  der 
Sage  zu  schließen.  Allein  es  genügt,  den  in  Frage  stehenden 
Passus  aufmerksam  zu  lesen,  um  die  völlige  Unhaltbarkeit 
dieser  Ansicht  zu  erkennen.  Zunächst  sind  die  Differenzen 
zwischen  der  Darstellung  des  Talmuds  und  der  des  Pseudo- 
kallisthenes doch  zu  zahlreich  und  charakteristisch^,  als  daß 
die  eine  als  eine  Entlehnung  aus  der  anderen  aufgefaßt 
werden  könnte.  Der  Verfasser  des  Pseudokallisthenes  hätte 
sich  kaum  das  Motiv  vom  Ariadnefaden,  der  in  seiner  Dar- 
stellung eine  empfindliche  Lücke  ausfüllen  würde",  vor  allem 
aber  die  ebenso  anziehende  wie  erbauliche  Episode  von  der 
wundersamen  Augenkugel  entgehen  lassen.  Auch  ist  es  kaum 
denkbar,  daß  der  Autor  des  Pseudokallisthenes,  dessen  jüdische 
Tendenzen   die  Vertreter  jener  Ansicht   so   nachdrücklich  her- 

^  Die  Kommentare  ergänzen  als  Subjekt  Alexander:  er  folgte  der 
Strömung  der  Quelle,  bis  er  ans  Paradies  gelangte.  Natürlich  paßt  in 
diesem  Falle  eine  Quelle  durchaus  nicht.  Daher  sprechen  Rabbenu 
Gerschom  und  Rosch  von  einem  Flusse  statt  einer  Quelle,  s.  oben  die 
Variante  im  hebräischen  Alexanderroman  S.  189,  Anm.4  und  unten  S.207. 
Harkavy  (oben  S.  189,  Anm.  4)  will  als  Subjekt  den  Quell  ergänzen:  der 
Quell  stieg  (iTT'bia?)  hinauf,  bis  er  an  die  Pforte  des  Paradieses  gelangte. 
Diese  Auffassung  läßt  sich  jedoch  kaum  aufrecht  erhalten. 

*  Raschi  übersetzt  irrtümlich  'Schädel',  vgl.  Levi  II,  298  Anm.  3. 
R.  Samuel  Edels  gibt  die  richtige  Erklärung. 

'  Beiträge  zum  Alexanderroman  im  Kapitel  „über  die  angeblich 
jüdischen  Einflüsse  auf  den  Alexanderroman"  p.  25 f. 

♦  Lidzbarski  Zeitschrift  für  Assyriologie  VII  (1892),  109,  111; 
Meißner  Alexander  und  Gilgamos  (1894)  p.  7  ff.  Vorher  schon  Vogel- 
Btein  (oben  S.  202,  Anm.  2),  p.  18,  und  andere.        ^  Vgl.  S.  207  f. 

«  Vgl    oben  S.  186,  Anm.  2. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     207 

vorheben  ^,  das  Paradies,  das  er  auch  sonst  (Buch  IIT,  Kap.  7) 
erwähnt,  durch  die  heidnische  Insel  der  Seligen  ersetzt  haben 
sollte.  Die  heidnischen  Elemente  der  Sage  wurden  bereits 
von  Nöldeke  hervorgehoben  und  Harkavy*  wies  mit  Recht 
darauf  hin,  daß  eine  jüdische  Tradition  die  Legende  mit 
dem  Lebensbaum  in  Verbindung  gebracht  hätte,  nicht  aber 
mit  dem  Lebens  quell,  von  dem  sich  in  der  jüdischen  Literatur 
keine  Spur  findet.'  Allein  die  Darstellimg  des  Talmuds,  an 
und  für  sich  betrachtet,  schließt  die  Möglichkeit  ihrer  ür- 
sprünglichkeit  aus.  Der  Talmud  ist  sich  allem  Anscheine 
nach  des  Sinnes  und  Zusammenhanges  der  Legende  nicht  mehr 
bewußt.  Er  verquickt  die  Sage  von  Alexanders  Zug  nach  dem 
Lebensquell  mit  der  Legende  von  dessen  Zuge  nach  dem  Para- 
diese: Alexander  findet  das  Paradies,  indem  er  der  Quelle 
entlang  nach  demselben  hinaufmarschiert,  was  natürlich  ein 
Ding  der  Unmöglichkeit  ist.  Hier  liegt  anscheinend  die  Vor- 
stellung von  einem  Flusse  vor,  den  Alexander,  wie  im  Iter 
ad  Paradisum,  hinaufzieht.^     Sodann  ist  sich  der  Talmud  über 


'  Vgl.  insbesondere  Meißner  p.  8flF. 

•  a.  a.  0.  (oben  S.  189,  Anm.  4)  p.  122  oben. 

'  Das  biblische  'Meqor  hajjim'  ist  ein  erstarrter  Ausdruck,  eine 
Formel,  aber  keine  lebendige  Vorstellung.  —  Bemerkenswert  ist,  daß 
der  oben  mehrfach  zitierte  Rosch,  der,  nebenbei  gesagt,  aus  Deutschland 
stammte  und  später  als  Rabbiner  in  Toledo  tätig  war,  die  beiden  Vor- 
stellungen miteinander  verknüpft,  indem  er  erklärt,  daß  der  Lebens- 
quell  dem  Lebensbaum  entströmte. 

*  Es  ist  bezeichnend,  daß  mehrere  Kommentare  (oben  S.  206,  Anm.  1) 
den  Quell  als  Fluß  interpretieren.  —  Es  ist  meines  Wissens  nicht  be- 
achtet worden,  daß  von  den  zwei  Versionen,  die  der  Talmud  als  solche 
anfuhrt,  die  erstere  die  Lebensquellsage,  die  letztere  die  Paradieslegende 
reflektiert.  Nach  der  ersteren,  wie  Raschi  scharfsinnig  bemerkt,  „wusch 
er  sein  Gesicht  und  that  nichts  mehr",  d.  h.  damit  war  die  Geschichte 
zu  Ende  und  das  im  folgenden  vom  Paradies  Erzählte  fand  nicht  mehr 
statt.  Xaeh  der  anderen  Version  wusch  er  sich  überhaupt  nicht,  sondern 
die  Quelle  diente  ausschließlich  als  Wegweiser,  Ursprünglich  hieß  es 
wohl  in  dieser  Version:  er  zog  den  Fluß  hinauf,  und  der  Talmud  hat 
diese  Verbindung  mit  dem  Quell  künstlich  hergestellt. 


208  I-  Friedlaender 

die  eigentliche  lebenspendende  Funktion  der  Quelle,  um  derent- 
willen diese  von  Alexander  gesucht  wird,  nicht  mehr  klar; 
daß  Alexander  sich  mit  deren  Wasser  das  Gesicht  wäscht  — 
statt  zu  trinken  oder  zu  baden  — ,  erscheint  ganz  zwecklos. 
Alexander  wird  mißverständlich  mit  seinem  Koche  verwechselt. 
Mit  der  Ausschaltung  des  Koches  kommt  auch  dessen  Ver- 
wandlung in  einen  Seedämon  in  Wegfall,  die,  wie  wir  oben 
sahen,  die  eigentliche  Pointe  der  Sage  bildet.  Durch  ein 
anderes  Mißverständnis  werden  die  Gymnosophisten  mit  dem 
Zug  nach  dem  Lande  der  Finsternis  in  Verbindung  gebracht.^ 
Dieser  Zug  selber  gilt  nicht  der  Lebensquelle,  sondern  den 
Amazonen.*  Das  ursprüngliche  Motiv  für  das  Mitnehmen  der 
Esel  ist  vergessen;  die  Fohlen  werden  nicht  einmal  erwähnt. 
Und  so  erscheint  die  ganze  Darstellung  „unzusammenhängend 
und  zum  Teil  verstümmelt,  so  daß  nur  der  sie  recht  verstehen 
kann,  welcher  die  vollständige  Geschichte  kennt".^  Unter 
diesen  Umständen  ist  es  kaum  begreiflich,  wie  man  die  tal- 
mudische Fassung,  die  offenbar  nichts  als  eine  Kompilation 
verschiedenartiger  mündlich  überkommener  und  von  außen  her 
aufgegriffener  Alexanderepisoden  darstellt^,  als  die  ursprüng- 
liche Gestalt  ansehen  oder  gar  für  die  Quelle  des  Pseudo- 
kallisthenes  erklären  kann,  der  eine  vielfach  abweichende,  un- 
verhältnismäßig ausführlichere  und  im  ganzen  und  großen 
ursprünglichere  Version  darbietet. 

Noch  ein  Wort  über  die  für  die  talmudische  Version  vor- 
auszusetzende Vorlage.       Dieselbe    war   höchst    wahrscheinlich 


>  Oben  S.  203,  Anm.  5. 

*  So  im  Talmud  und  noch  viel  deutlicher  in  den  S.  204,  Anm.  6 
zitierten  rabbinischen  Quellen. 

'  Nöldeke  Beiträge  p.  26  oben.  —  Wie  man  dies  durch  die  kürzere 
Fassung  des  Talmuds  erklären  kann,  wie  es  Lidzbarski  a.  a.  0.  p.  109 
tut,  ist  mir  unerfindlich. 

*  So  unabhängig  von  einander  Nöldeke  p.  26  und  Lävi  M.  E.  J.  II, 
300.  Derselbe  ibid.  p.  299:  „c'est  un  ramassi  des  diverses  l«$gendes 
prises  de  tous  les  cötäs". 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     209 

ein  mündlich  überKeferter  Sagenstoff. ^  Bei  der  vagen  Dar- 
stellung der  Legende  dürfte  sich  Genaueres  kaum  feststellen 
lassen.  Doch  darf  man  wohl  auf  Grund  der  ,^byschen  Esel" 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  gewisse  Verwandtschaft' 
mit  der  /3- Rezension  schließen.^  Vielleicht  läßt  sich  dadurch 
auch  das  gänzliche  Verschwinden  des  Koches  erklären.  Denn 
auch  in  ß  kommt  der  Koch  wenig  zur  Geltung/  Wäre  die 
talmudische  Vorlage  der  Rezension  y  (oder  L)  verwandt,  in 
der  die  Figur  des  Koches  einen  so  breiten  Raum  einnimmt, 
so  wäre  wohl  ein  Reflex  derselben  auch  in  der  talmudischen 
Sage  zu  finden.  Die  Einzelheit,  daß  sich  Alexander  mit  dem 
Lebenswasser  das  Gesicht  wäscht  (oder  sich  dasselbe  ins  Gesicht 
spritzt),  stimmt  weder  zu  y  und  L,  die  den  Koch  vom  Lebens- 
wasser trinken  lassen^,  noch  zu  der  /3- Rezension,  nach  der  er 
das  Wasser  überhaupt  nicht  gebraucht®,  noch  zu  der  ursprüng- 
lichen Form,  nach  der  er  im  Lebensquell  badet",  steht  aber 
der  letztern  merklich  näher.  Eine  entschiedene  Verwandtschaft 
mit  der  sofort  zu  besprechenden  syrischen  Homilie  zeigen  die 
Berge  der  Finsternis*,  eine  Verwandtschaft,  die  sich  auch 
sonst  nachweisen  läßt."  Es  ist  von  vornherein  unwahrschein- 
lich, daß  die  Alexandersage,  oder  genauer  die  Alexander  sagen  — 

'  Vgl.  oben  S.  207,  Anm.  4.  Falls  Rapoports  Annahme  (oben  S.  202, 
Anm.  4)  richtig  ist,  gilt  das  Gesagte  für  die  talmudische  Vorlage. 

*  Mehr  als  dies  sicherlich  nicht,  denn  der  Talmud  läßt  die  in  ß 
figurierenden  Fohlen  (oben  §  23)  aus. 

'  Selbstverständlich  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  daß  der  Talmud 
aus  dem  Pseudokallisthenes  oder  überhaupt  aus  dem  Griechischen  ge- 
schöpft hat,  was  nach  meiner  Ansicht  äußerst  unwahrscheinlich  ist.  Ich 
glaube  vielmehr  an  eine  orientalische  Vermittelung,  s  den  folg.  Abschnitt. 
Dagegen  nehme  ich  an,  daß  die  Quelle  des  Talmuds  in  letzter  Instanz 
—  in  wievielter  läßt  sich  nicht  mehr  bestimmen  —  auf  ein  griechisches 
Original  zurückgeht  —  denn  die  Sage  ist  griechisch  — ,  welches  seiner- 
seits der  Stammvater  —  in  welchem  Grade  läßt  sich  nicht  mehr  ent- 
scheiden —  unseres  Pseudokallisthenes  ist.  , 

*  Oben  S.  172,  Anm.  7.  ^  Oben  S.  170,  Anm.  2. 
«  Oben  S.  188,  Anm.  2.  '  Ibidem. 

8  Oben  S.  203,  Anm.  7.  »  Unten  S  219  f. 

Archiv  f.  Beligionswissenscliaft  Xm  n 


210  I.  Friedlaender 

denn*an  einen  zusammenliängenden  Alexanderroman  darf  man 
in  dieser  frühen  Zeit  wohl  kaum  denken  —  zu  den  Rabbinen 
direkt  aus  dem  Griechischen  gelangt  ist.  Es  ist  sehr  viel 
wahrscheinlicher,  daß  die  Vermittelung  durch  den  Osten  statt- 
fand. Vielleicht  haben  die  Syrer  Babyloniens,  denen  die 
griechischen  Quellen  direkt  zugänglich  waren,  hierbei  als  Ver- 
mittler gedient. 

III 
Die  syrische  Homilie 

Eine  ausführliche  Darstellung  der  Lebensquellsage  findet 
sich  in  der  sogenannten  Homilie^  des  syrischen  Bischofs  Jakob 
von  Sarüg,  einem  Bezirk  am  Euphrat  (starb  521  n.  Chr.).^ 
Diese  Homilie^   ist  eine  metrische  Bearbeitung  der  syrischen 


'  Ich  folge  der  Bezeichnung  Nöldekes  Beiträge  zum  Alexander- 
roman p.  30. 

*  Vgl.  über  diesen  Dichter,  der  später  Bischof  seines  Bezirkes  wurde  und 
von  dem  nicht  weniger  als  763  metrische  Homilien  stammen,  Brockelmann 
in  Geschichte  der  christlichen  Literaturen  des  Orients  Leipzig  1907,  p.  25  f. 

'  Der  syrische  Text  wurde  zuerst  nach  einer  Pariser  Handschrift 
(=  P)  von  Knös,  Göttingen  1807,  sodann  nach  einem  Manuskript  des 
British  Museum  (=  Lo)  von  Budge  Zeitschrift  für  Assyriölogie  VI  (1901) 
p.  359 ff.  und  endlich,  mit  Zuhilfenahme  einer  zweiten  Pariser  Hand- 
schrift (=  P')  von  Carl  Hunnius  nebst  einer  deutschen  Übersetzung 
ZDMG  60, 169  ff.  herausgegeben.  Eine  englische  Übersetzung  der  Homilie 
gibt  Budge  in  seinem  Buche  The  History  of  Alexander  the  Great  being 
the  Syriac  Version  of  Pseudo-Callisthenes  Cambridge  1889,  p.  163  ff.  — 
Hunnius  (a.a.O.  p.  171;  seine  dort  zitierte  Dissertation  war  mir  leider 
—  auch  im  British  Museum  —  nicht  zugänglich)  bestreitet  die  Echthiit 
der  Homilie  und  möchte  sie  um  ein  Jahrhundert  später  ansetzen. 
Brockelmann  a.  a.  0.  p.  26  Anm.  1  schließt  sich  dieser  Ansicht  an.  Doch 
scheint  dieser  zu  vergessen,  daß  die  „Geschichte  vom  gläubigen  König 
Alexander"  und  seiner  Errichtung  des  Tores  gegen  Gog  und  Magog  in 
den  Augen  Jakobs  keineswegs  ein  „weltlicher  Stoff"  war,  sondern,  wie  aus 
dem  ganzen  Tone  des  Gedichtes  hervorgeht,  als  ein  durchaus  erbauliches 
Thema  erschien.  —  Nöldeke  (vgl.  Beiträge  p.  30,  Anm.  5)  hält,  einer 
privaten  Mitteilung  zufolge,  nach  wie  vor  an  der  Echtheit  der  Homilie  fest. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     211 

Alexanderlegende^  die  nach  den  Untersuchungen  Nöldekes- 
kurz  vorher  —  um  514  oder  515  n.  Chr.  —  entstanden  sein 
muß.  Indessen  findet  sich  in  der  Legende,  die  Jakob  einer- 
seits mit  großer  Treue,  anderseits  mit  ziemlicher  Freiheit 
reproduziert',  die  Episode  vom  Lebensquell  nicht,  und  ist  von 
ihm  in  die  Homilie  aus  einer  andern  Quelle  eingeschoben. 
Anscheinend  war  der  syrischen  Legende  die  Sage  vom  Lebens- 
quell unbekannt^,  während  sie  die  Paradiessage  wahrscheinlich 
kennt,  ja  vielleicht  gegen  dieselbe  polemisiert.^ 

Im  Mittelpunkt  der  Legende  sowohl  als  auch  der  Homilie 
steht  das  von  Alexander  errichtete  eiserne  Tor  gegen  Gog 
und  Magog®,  das  bereits  in  älteren  Quellen  erwähnt  wird.^ 
Doch  macht  sich  daneben  sehr  stark  das  Motiv  von  Alexanders 
Wissensdrang  geltend.^  Die  Episode  vom  Lebensquell  ist  so 
eingeschoben,  daß  sie  sich  leicht  und  lückenlos  abtrennen  läßt. 

Alexander^  versammelte  einst ^°  seine  Heeresobersten  und 
Weisen  und  tat  ihnen  seine  Absicht  kund,  sich  auf  Wande- 
rungen  zu   begeben.      „Groß  ist  meine  Begier  hinauszuziehen 

'  Im  folgenden  einfach  als  'Legende'  bezeichnet.  Text  und  Über- 
setzung von  Budge  History  of  Alexander  the  Great  p.  255  ff.  (Text)  und 
144  ff.  (Übersetzung).  Eine  ausführliche  Inhaltsangabe  und  eingehende  Be- 
handlung der  Legende  bei  Nöldeke  Beiträge  p.  27  ff.         *  a.  a.  0.  p.  31. 

»  ib   30.         *  So  urteilt  Nöldeke  p.  31  oben. 

*  Vgl.  ib.  p.  29,  Anm.  1.  «  Nöldeke,  p.  30. 
^  Fseudolallisthenes  ed.  Müller,  KI,  26. 

*  So  schon  im  Titel  der  Legende  (Budge  Text  p.  255)  und  der 
Homilie  in  der  Variante  von  P'  (ZDMG  60,  170,  Anm.  1).  Vgl.  ins- 
besondere den  Anfang  der  Legende. 

®  Ich  zitiere  die  Homilie  nach  Hunnius'  Text  und  nach  seiner 
Verseinteilung.  Ich  bemerke  hier  gleich,  daß  Kodex  P'  nicht  nur  einen 
ausgezeichneten  Text  (Hunnius  a.  a  0.  p.  169),  sondern  auch  sehr  häufig 
viele  altertümliche  Züge  bietet.  In  meinen  Zitaten  lege  ich,  soweit 
tunlich,  Hunnius'  Übersetzung  zugrunde.  Die  Legende  zitiere  ich, 
soweit  nicht  auf  den  Text  verwiesen  ist,  nach  der  Seitenzahl  der  Über- 
setzung von  Budge. 

*"  Nach  der  Legende  im  zweiten  (oder  siebenten)  Jahre,  vgl.  Nöldeke, 
p.  27,  Anm.  5.  In  der  Homilie  ist  anscheinend  der  Anfang  seiner  Re- 
gierung gemeint. 

14* 


212  I-  Friedlaender 

und  Länder  zu  sehen  und  (zu  erfahren),  wie  es  sich  mit  den 
fernen  Gegenden  verhält.  Ich  will  hinausziehen,  um  die  Meere, 
die  Enden  (der  Erde)  und  alle  Himmelsgegenden  zu  sehen, 
vor  allem  aber  ins  Land  der  Finsternis^  einzudringen  und  zu 
erfahren,  ob  es  in  Wahrheit  so  ist,  wie  ich  gehört  habe" 
(W.  39  —  41).^  Seine  Räte  suchen  ihn  von  seinem  Vorhaben 
abzubringen,  insbesondere  drohen  sie  ihm  mit  dem  stinkenden 
Meere,  das  voller  Entsetzen  sei  (V.  50  f.).^  Allein  der  König 
besteht  auf  seinem  Vorsatz.  Er  läßt  nun  eine  ungeheure  Armee 
und  Flotte  ausrüsten  und  schlägt,  nachdem  er  vom  ägyptischen 
König,  zwecks  Errichtung  des  eisernen  Tores  gegen  Gog  und 
Magog,  eine  große  Anzahl  von  Erz-  und  Eisenarbeitern  erhalten 
hatte,  den  Seeweg  nach  Indien  ein  (V.  98)^,  wo  er  nach  vier 
Monaten^  landet.  Der  Versuch,  sich  dem  stinkenden  Ozean ^ 
zu  nähern,  scheitert.  Alexander  wendet  sich  schleunigst  nach 
Norden  (V.  109).'^  Die  Bewohner  fliehen  in  Schrecken.  Allein 
Alexanders    Boten    verkünden    überall    seine    friedfertigen   Ab- 


*  )'>"'•-  ^«2>\  in  allen  Manuskripten.  Jn  Vers  62  haben  zwei 
Handschriften  )\.\l\  „Land"  (vgl.  Hunnius  ib.  p.  176,  Anm.  6),  während 
P'  ).aju.j  )^Ä^  „Meer  der  Finsternis"  hat,  eine  Bezeichnung,  die 
dieses  Manuskript  mit  Vorliebe  gebraucht  (Hunnius  ibidem).  Vgl.  oben 
S.  197,  Anm.  1. 

*  Ahnlich,  nur  noch  ausführlicher,  die  Legende  am  Anfang.  Vgl. 
oben  S.  181,  Anm.  4.  Das  Land  der  Finsternis  erwähnt  die  Legende  nicht. 

'  Vgl.  Legende  p.  146  (Text  266):  „Die  schrecklichen  Meere,  die 
die  Welt  umgeben,  werden  dir  den  Durchzug  nicht  gestatten.  Denn 
es  gibt  elf  helle  Meere,  die  die  Schiffe  der  Menschen  befahren.  Aber 
jenseits  derselben  gibt  es  ein  Stück  Felsen,  zehn  Meilen  lang,  und 
hinter  demselben  befindet  sich  das  stinkende  Meor  Okeanos,  das  die 
gesamte  Schöpfung  umgibt." 

*  Der  Seeweg  nach  Indien  fehlt  in  der  Legende  (p.  147). 

'  Legende,  ibid.  genauer:  „vier  Monate  und  zwölf  Tage".  Ebenso 
in  der  äthiopischen  Alexanderversion,  die  die  Legende  reproduziert, 
Budge  Life  and  Exploits  of  Alexander  the  Oreat  being  a  series  of 
Ethiopic  texts  London  1896,  II,  223. 

*  Der  eich  also  im  Osten  befindet.     Vgl.  unten. 
'  Vgl.  oben  S.  164,  Anm.  6  und  S.  171,  Anm.  7. 


Alexanders  Zng  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     213 

sichten  (V.  113  ff.)^,  so  daß  er  schließlicii  imstande  ist,  die  Vor- 
nehmen und  Greise  des  Landes  bei  sich  zu  Tersammebi,  „um 
von  ihnen  die  geheimnisvollen  Verhältnisse  des  Landes  zu  er- 
fahren" (V.  124).  „Und  als  sich  dreihundert  hochbetagte  Greise 
versammelt  hatten,  verständige  Männer,  der  Geheimnisse  (fremder) 
Länder^  kundig^' ^  (V.  125  f.),  da  rückt  er  mit  seinem  Anliegen 
heraus.*  »Nur  eine  Sache  verlangt  meine  Seele,  daß  ihr  mir 
kundtut:  wo  ist  das  Land^  der  Finsternis,  das  ich  sehen  will?" 
(V.  137  f.).^  Als  die  Greise  sich  nach  dem  Zwecke  seiner  An- 
frage erkundigen,  werden  sie  kurz  abgefertigt;  „Seinetwegen 
sind  wir  in  diese  Gegend  gekommen.  Es  ist  nicht  anders 
möglich,  als  daß  ich  es  sehe"  (V.  144).'  Daraufhin  bequemen 
sich  die  Greise  zu  einer  Auskunft:  „Es  gibt  ein  großes  Gebirge* 
zwölf  Tagereisen  von  hier  entfernt"  (V.  145  f.).  Der  König 
verlangt  ortskundige  Führer,  woraufhin  sich  einer  der  Greise, 
„der  weise  und  in  den  Geheimnissen  des  Landes  bewandert 
war"    (V.  150)   als  Wegweiser    anbietet.^      Der   König   begibt 


'  Ist  dies  ein  Reflex  von  Pseudokallisthenes,  ed.  Müller,  11,  31  (oben 
§  5,  S.  164)? 

*  lioVlji  lifi.  Budge  und  Hunnius  übersetzen  gleichmäßig:  die  Ge- 
heimnisse des  Landes. 

*  Legende  p.  147  unten. 

*  Legende  p.  149  unten  folgen  die  von  Alexander  gestellten  Fragen, 
die  durchaus  vernünftig  klingen:  wer  seid  ihr?  wem  zahlt  ihr  Tribut? 
wer  herrscht  über  das  Land?  usw.  Diese  Fragen  finden  sich  in  der 
Homilie,  Zeile  237  ff.  Dazwischen  ist  recht  geschickt  die  Lebensquell- 
episode eingeschoben,  von  der  sich  in  der  Legende  keine  Spur  findet. 

*  Ursprünglich  wohl:  das  Meer.  Vgl.  die  Varianten  Hunnius, 
p.  186,  Anm.  17   und  oben   S.  212,  Anm.  1.     Vgl.  oben  S.  197,   Anm.  1. 

®  P' -j-  „und  um  dessentwillen  ich  ohne  Zaudern  gekommen  bin". 
Hunnius,  p.  187,  Anm.  18. 

^  i».*)  U  jcuSoa  ojiwi*.  Ujo.  Vgl.  die  frappant  ähnliche  Antwort 
Alexanders  im  Talmud  oben  S.  204,  Anm.  1. 

'  Also  Berge  der  Finsternis,  oben  S.  203,  Anm.  7. 

®  Also  ein  6dT]y6g,  wie  wohl  ursprünglich  im  Pseudokallisthenes  oben 
§  23  und  S.  171,  Anm.  5. 


214  I-  Friedlaender 

sich  mit  den  Greisen  und  Edlen  ^  auf  den  Weg.  Als  sie  vom 
Lande  der  Finsternis  eine  Tagereise^  entfernt  waren ^,  dringt 
jener  Greis**  wiederum  in  Alexander,  ihm  den  Zweck  seines 
Zuges  ins  finstere  Land  zu  offenbaren.  Alexander  läßt  sich 
schließlich  herbei,  ihm  seine  wahre  Absicht,  den  Lebensquell 
zu  erreichen,  zu  erkennen  zu  geben.  Als  ihm  der  Greis  ent- 
gegenhält, daß  es  viele  Quellen  in  der  Gegend  gebe,  ohne  daß  je- 
mand wüßte,  welche  darunter  die  Lebensquelle  sei^,  schneidet  ihm 
Alexander  das  Wort  ab.  „Streite  nicht  mit  mir  deswegen. 
Es  gibt  keine  andere  Möglichkeit,  als  daß  ich  ins  Land  ein- 
dringe^ und  es  in  Augenschein  nehme"  (V.  171).  Hierauf 
gibt  der  Greis  Anweisungen,  wie  man  ins  Land  der  Finsternis 
eindringen  könne.  Dementsprechend  läßt  Alexander,  gemäß 
der  Anzahl  seiner  Begleiter,  fünfhundert^  Eselinnen  auslesen, 
deren  Füllen  am  Eingang  in  die  Finsternis  zurückgelassen 
werden.  Vor  Eintritt  in  die  Dunkelheit  schärft  Alexander, 
einer  Anregung  des  Greises  folgend,  seinem  Koche®  ein,  in 
jedweder    Quelle   einen    Salzfisch  ^  zu    waschen  (V.  182)    und. 


'  liLo  JüqqV  (Vers  154).  Also  zieht  der  König  mit  vielen  den 
Weg.  Der  Bericht  schwankt  zwischen  der  Einzahl  und  der  Mehrzahl 
der  Führer.     Vgl.  vorhergehende  Anmerkung. 

*  Ijo^qq»  »a-  (156),  was  am  Rande  von  P'  durch  o)iA..',x>  =  RJL>y« 
erklärt  wird  (Hunnius,  p.  189,  Anm.  17  weiß  mit  der  Glosse  nichts  an- 
zufangen). 

"  P  liest  den  Singular.  Soll  dies  heißen,  daß  die  Greise  und  Edlen 
(oben  Anm.  1)  nicht  weiter  mitzogen? 

*  oo)  J^QD  (157).  P  liest  »*.  jziCD  „ein  gewisser  Greis",  will  also  damit 
andeuten,  daß  der  Greis,  der  das  folgende  Gespräch  führt  iind  Ratschläge 
gibt,  mit  dem  Wegweiser  nicht  identisch  ist.    Vgl  oben  S.  213,  Anm.  9. 

0  Vgl.  oben  S.  187,  Anm.  1. 
«  Vgl.  oben  S.  204,  Anm.  1. 
^  Dieselbe  Anzahl  von  Begleitern  im  Iter  ad  Paradisum  oben  S.  200. 

*  Anstatt  .^;^yis.  „deinem  Koche"  (iidysiQog)  liest  P  .^yi\\  o»^ 
„deinen  Leuten".  „P  vermeidet  stets  den  Ausdruck  Icdvod"  (Hunnius, 
p.  192,  Anm.  4).     Dies   ist  wichtig,    s.  unten  S.  215  Anm.  8. 

'  Vers  189  nachdrücklicher:  ^odo.  ys^  ^  .^•3.0  -.-A»?  „gesalzen 
und  gedörrt  seit  vielen  Tagen",  P  jo^j  )jqj  „einen  getrockneten  Fisch". 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     215 

falls  dieser  lebendig  wird,  ihm  sofort  Bericht  zu  erstatten, 
da  dies  das  Kennzeichen  des  Lebensquells  sei  (V.  192).^  So 
drang  Alexander  mit  seinen  „auserlesenen  Leuten"*  in  die 
Finsternis  ein,  in  der  sie  planlos  umherirren,  während  der  Koch 
gewissenhaft,  aber  vergeblich  die  Waschungen  des  Salzfisches 
vornimmt.  Endlich  stößt  er  auf  die  richtige  Quelle.  „Und 
er  nahte  sich  und  wusch  den  Fisch  im  Wasser  und  dieser 
lebte  auf  und  entwischte.  Der  Koch'  fürchtete,  der  König 
werde  von  ihm  verlangen,  daß  er  den  Fisch  zurückgebe,  der 
ungehindert  losgezogen  war*,  und  er  sprang  in  den  Quell  hinab, 
um  ihn  zu  fangen.  Er  versuchte  auf  alle  mögliche  Weise  ihn 
zu  greifen,  vermochte  es  aber  nicht"  (VV.  204 — 207).  Darauf 
stieg  er  aus  dem  Wasser  und  lief  dem  König  eine  Strecke^ 
nach,  um  ihm  das  Vorgefallene  pflichtschuldigst  zu  melden. 
Voller  Freude  macht  der  König  kehrt,  um  im  Lebensquell  zu 
baden  (V.  216).  Aber  der  Koch  konnte  den  Weg  zum  Lebens- 
quell nicht  zurückfinden.^  „Er  (der  König)  wanderte  eine 
Strecke^  in  der  Finsternis  und  traf  nicht  auf  ihn.  Denn  nicht 
ward  es  ihm  vom  Herrn  gewährt,  ewig  zu  leben"  (VV.  217 — 218;. 

Tgl.  oben  S.  187,  Anm.  2.  Die  Variante  von  P',  die  Hunniua  (p.  193 
Anm.  14)  sehr  zögernd  als  ..»'»aXM  liest  (das  jedoch  keinen  passenden 
Sinn  ergibt),  ist  vielleicht  jl.',di    , gefroren"  zu  lesen. 

'  P' -\-  „damit  ich  hinabsteige,  um  in  demselben  zu  baden,  und 
durch  ihn  ewiges  Leben  erwerbe".  Vgl.  auch  den  Zusatz  Ton  P\ 
Hunnius,  p.  192,  Anm.  8. 

*  ooo)  ^;mm^?  |ij|  (196).  Lo  liest  Irioa,  also  zogen  nach  ihm  die 
Oreise  in  die  Dunkelheit  mit.  Ursprünglich  natürlich  waren  es  bloß 
Jünglinge,  oben  §  18.  Die  Greise,  mit  Ausnahme  des  Wegweisers, 
dürfen  nicht  mit.     Vgl.  oben  S.  186,  Anm.  1. 

'  P  (vgl.  oben  S.  214,  Anm.  8)  anstatt  dessen  l^oll  „der  Armselige, 
der  Elende". 

*  Vgl    die  Variante  Hunnius,  p.  194,  Anm.  16. 

5  Vgl.  Nestle  ZDMG  60,  820,  der  taura  „Strecke"  statt  türa 
„Gebirge"  liest.  Freilich  spricht  die  Homilie  von  einem  Gebirge, 
oben  S.  213,  Anm.  8. 

®  Dies  wird  ohne  Zweifel  vorausgesetzt.  Vgl.  die  oben  S.  189,  Anm.  4 
zitierten  Versionen.  ^  Oder  ins  Gebirge,  oben  Anm.  5. 


216  I-  Friedlaender 

Des  Königs  Schmerz  ist  grenzenlos.^  Der  Greis  ^  bemüht  sich 
vergebens,  ihm  Trost  zuzusprechen.  Schließlich  gelangen  sie 
mit  Hilfe  der  Eselinnen  ans  Licht.  Die  „Greise  und  Edlen"^ 
finden  sich  mit  ihren  Huldigungen  und  Mitleidsbezeugungen 
ein.  Alexander  stellt  hierauf  allerlei  Fragen  an  sie,  die  mit 
denen  der  Legende  übereinstimmen  und  durchaus  vernünftiger 
Natur  sind.*  Die  Homilie  fährt  sodann  ähnlich  wie  die 
Legende  fort. 

Am  Schlüsse  der  Homilie^  bietet  die  Pariser  Handschrift 
P'®  einen  längeren  Zusatz,  der  vom  fernem  Schicksal  des 
Koches  berichtet.  Der  Zusatz,  der  im  Metrum  der  Homilie 
abgefaßt  ist,  ist  sicherlich  authentisch.'  Er  dürfte  in  den 
anderen  Handschriften  absichtlich  weggelassen  worden  sein, 
einerseits  weil  die  Figur  des  Koches  in  der  Darstellung  der 
Homilie  überhaupt  in  den  Hintergrund  tritt  ^,  anderseits  weil 
er  zu  sehr  der  Ökonomie  des  Gedichtes  widerstreitet,  dem  ja 
ohnehin  die  ganze  Lebensquellepisode  ursprünglich  fremd  ist.^ 

Ich  gebe  im  folgenden  den  Zusatz,  den  der  Herausgeber 
unübersetzt  läßt,  inhaltlich  wieder. 

Alexander,  der  über  seinen  Mißerfolg  tief  betrübt  ist, 
macht  seinem  Schmerze  in  bitteren  Klagen  Luft.  „Ich  wollte 
im  Quell  des  Lebens  baden.  Aber  nicht  wollte  der  Herr  meine 
Bitte  gewähren,  noch  meinen  Wunsch  erfüllen.  Siehe,  in  der 
Schlacht  verlieh   der  Herr  mir  Sieg,    wohin  ich  mich  kehrte 


'  Vgl.  Vers  219  ff. 

•  Hier  wiederum  nur  ein  Greis,  vgl.  oben  S.  214,  Anm.  4. 

"  Die  oben  S.  214,  Anm.  1  mit  dem  König  mitgezogen  waren, 
während  sie  sich  hier  (vgl.  auch  oben  S.  214,  Anm.  3)  anscheinend  erst 
nach  der  Rückkehr  des  Königs  aus  der  Finsternis  einstellen.  Lo  läßt 
„und  die  Kdlen"  aus,  weil  nach  ihm  (oben  S.  215,  Anm.  2)  die  Greise 
allein  mitgezogen  waren.         *  Vgl.  oben  S.  213,  Anm  4. 

"  ZDMG  60,  817 ff.  «  Vgl.  oben  S.  210,  Anm.  3. 

'  Dies  ist  auch  (einer  privaten  Mitteilung  zufolge)  Nöldekes  Ansicht. 

8  Siehe  unten  S.  219  f. 

^  Wahrscheinlich  trug  auch  die  heidnische  Tendenz  des  Zusatzes 
zur  Unterdrückung  desselben  bei,  vgl.  unten  S.  219  f. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     217 

und  wandte.  Aber  das,  worum  icli  bat,  gewährte  er  einem 
andern,  nicht  aber  mir.  Meinem  Koch  gewährte  er  es,  daß  er 
lebe  für  ewig."^  Voller  Grimm  gibt  er  Befehl,  den  Koch  zu 
enthaupten.  Aber  der  Henker  hat  keine  Gewalt  über  den  Koch, 
der  unsterblich  geworden  war.  Er  wird  auf  eine  Anhöhe  ge- 
stellt und  von  geübten  Schützen  beschossen-  Aber  die  Pfeüe 
prallen  wirkungslos  an  ihm  ab.  Endlich  ersinnen  die  Weisen 
Alexanders  ein  Mittel,  den  unzerstörbaren  Koch  loszuwerden. 
Auf  ihren  Rat  verfertigen  die  Erzgießer-  aus  900^  Pfund  Erz 
„ein  großes  Gefäß  auf  vier  Seiten"*,  an  dem  zwei  Ringe  und 
eine  Kette  befestigt  werden.  Hierauf  wird  der  Koch  auf  ein 
Schiff  gebracht-,  das  sich  sieben  Tage  im  Meere  auf  und  ab 
bewegen  soll.^  „Fahret  auf  dem  Meere,  bis  ihr  die  Berge  aus 
den  Augen  verliert.  Wenn  ihr  bemerkt,  daß  ihr  ins  Meer 
Rom  gegenüber  eingefahren  seid^,  dann  fesselt  seine  (des  Koches) 
Hände  mit  den  Ringen  und  der  Kette,  und  nachdem  ihr  seine 
Hände  und  Füße  sorgfältig  gefesselt,  dann  laßt  ihn  in  den 
Abgrund  im  großen  Meere"  hinabsinken,  auf  daß  er  nicht 
seinen  Sinn  ändere  und  keinem  Sterblichen  sich  wieder  zeige, 
weil  er  jene  Quelle  vor  mir  verbarg,  damit  ich  darin  nicht  bade." 
Hier  bricht  die  Erzählimg  stumpf  ab.  Man  erwartet  die 
Ausführung  des  Befehles,  wohl  auch  die  Verwandlung  des 
Koches  in  einen  Seedämon.  Ebenso  vermißt  man  die  Über- 
leitung zur  Homilie,  mit  der  der  Zusatz  ursprünglich  verknüpft  war. 

*  Vgl.  oben  S.  191,  Anm.  1. 

*  Die  ja  für  den  Bau  des  eisernen  Tores  gegen  Gog  und  Magog 
zur  Hand  waren.  '  Später  sind  es  bloß  300. 

*  ^3)  ^\^'|j  tii  |jfco  zweimal  p.  819.  Der  Ausdruck  ist  mir  nicht 
recht  klar.  Ist  vielleicht  damit  Quadrat  oder  Kubus  gemeint?  „Mänä" 
könnte  eventuell  auch  „SchifF"  heißen  Doch  wird  letzteres  im  Gedicht 
durch  l'=>>\  f  wiedergegeben. 

^  p.  819,  1  Z.  ,^;X>Q.)j  l\:i«.  ba.r>  «Ao^io  ]y>i  )2ik.)o. 

ö  ix>o>  W^oo.'s  bio  v^l^yj  p.  820.  In  der  Rede  der  Weisen,  p  819, 
heißt  es  |sV  booo)!.  ^^nods.  „gegenüber  dem  großen  Abgrund". 

'  Jra»  bo^zj.  Auch  in  der  hebräischen  Alexanderversion  (oben  S.  189, 
Anm.  4''  begibt  sich  der  Diener,  dem  Alexander  den  Kopf  abgeschlagen. 


218  I.  Friedlaender     - 

Die  Darstellung  der  Homilie  zeigt  die  Lebensquellsage  in 
einer  Form,  die  sicli  auf  den  ersten  Blick  als  die  ursprünglicliere 
zu  erkennen  gibt.  Sinn  und  Zusammenbang  der  Legende  treten 
bier,  im  Gegensatz  zu  den  vorber  erörterten  Versionen,  scbarf 
und  deutlicb  bervor.  Alexander  ist  vom  Wunscbe  nacb  Un- 
sterblicbkeit  beseelt.  Er  bestebt  energiscb  auf  seinem  Vorsatz. 
Sein  Mißerfolg  erfüllt  ibn  mit  bitterm  Scbmerze,  der  durcb  den 
Erfolg  des  Kocbes  nocb  verscbärft  wird.^  Das  Motiv  mit  den 
Eselinnen  und  deren  Füllen  ist  vollkommen  durcbsicbtig.^ 
Der  Rat  bezüglicb  derselben  wird  rechtzeitig  vor  Eintritt  in 
die  Dunkelbeit  erteilt.^  Es  gibt  viele  Quellen  und  es  gilt,  den 
Lebensquell  unter  ibnen  ausfindig  zu  macben.^  Der  Kocb  fübrt 
nichts  Böses  im  Schilde.  Er  trinkt  vom  Lebensquell  nicht. 
Er  badet  ^  lediglich  in  demselben,  und  zwar  ohne  es  zu  wollen, 
ja  ohne  es  zu  wissen.  Seine  Unsterblichkeit  stellt  sich  erst 
bei  der  Hinrichtung  heraus.  Daher  die  Notwendigkeit,  ihn  ins 
Meer  zu  versenken. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diese  Züge,  wie  die  Gesamt- 
darstellung überhaupt,  im  Vergleiche  mit  Pseudokallisthenes, 
viel  durchsichtiger  und  ursprünglicher  sind,  daß  also  die  Homilie 
oder  deren  Vorlage  unmöglich  aus  dem  griechischen  Roman 
geschöpft  haben  können."  Aus  der  Art  und  Weise,  wie  Jakob 
von  Sarüg  die  ganze  Sage  in  die  von  ihm  bearbeitete  syrische 
Legende  fein  säuberlich  einschaltet,  läßt  sich  erkennen,  daß 
die  ihm  vorliegende  Version  der  Lebensquellsage  keinen  Bestand- 
teil eines  Alexanderromans  bildete,  sondern,  gleich  der  Legende 

iinjn  w^  „ins  große  Meer".  In  der  Homilie  ist  anscheinend  das  Mittel- 
meer  gemeint,  obwohl  die  Bestimmung  „Rom  gegenüber"  etwas  merk- 
würdig klingt.         '  Vgl.  oben  S.  191,  Aum  1.         *  Vgl.  oben  S  186,  Anm.  2 

*  Vgl.  Pseudokallisthenes  oben  §  23,  S.  168,  während  es  schon  §§  13 
und  21  dunkel  war. 

*  Vgl.  oben  S.  187,  Anm.  1,         *  S.  188,  Anm.  2. 

*  Ebenso  urteilt  auch  Kampers  Alexander  der  Große  p.  34.  Hier 
zeigt  sich  bereits,  was  später  noch  schärfer  hervortreten  wird,  wie 
wenig  im  einzelnen  das  kategorische  Urteil  von  Rohde  Der  griechische 
lioman  p.  186,  Anm.  1  begründet  ist.     „Es  kann,   sagt  Rohde,   als  voll- 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     219 

vom  Lande  der  Seligen  (oder  dem  Paradiese) ^,  als  unabhängiger, 
für  sich  allein  tradierter  Sagenstoff  in  Umlauf  war.- 

Die  Ausführlichkeit  der  Darstellung  gestattet  uns  einen 
Einblick  in  die  ungefähre  Gestalt  der  von  Jakob  von  Sarüg 
benutzten  Vorlage.  Hier  wiederum  zeigt  die  Erwähnung  der 
Eselinnen'  Verwandtschaft  mit  ß.  Damit  hängt  wohl  auch 
der  Zug  zusammen,  daß  der  Koch  vom  Lebenswasser  nicht 
trinkt.^  Er  wird  bestraft,  weil  er  den  Weg  nicht  finden  kann^ 
Eine  Unsicherheit  besteht  bereits''  über  die  Zahl  der  Weg- 
weiser, die  Alexander  ins  Land  der  Finsternis  begleiten.^ 
Ebenso  schwankend  ist  das  Verhalten  dieser  Version  dem 
Koche  gegenüber.  Sämtliche  Handschriften  der  Homilie  stellen 
übereinstimmend,  im  Gegensatz  zu  Pseudokallisthenes,  den  Koch 
als  musterhaften  Knaben  dar,  der  pflichtschuldigst  den  Fisch 
wäscht  und  dessen  Aufleben  dem  König  gehorsamst  meldet 
und  der  lediglich  das  Pech  hat*,  den  Weg  zum  Lebensquell 
zu  verfehlen.  Dagegen  scheint  der  Gedanke,  daß  ein  Koch  in 
den  Besitz  der  Unsterblichkeit  gelangt  sein  soll,  die  der  fromme 


kommen   bewiesen    angesehen    werden,    daß  alle  bis  jetzt   bekannt  ge- 
wordenen  orientalischen   Versionen   der  Alexandersage  auf  den  Roman 
des  Pseudokallisthenes  zurückgehen." 
»  Oben  S.  200  f. 

*  Für  die  Unabhängigkeit  vom  Pseudokallisthenes  oder  von  irgend- 
einem anderen  zusammenhängenden  Alexanderroman  würde  auch  der 
Umstand  sprechen,  daß  Jakob  weder  vom  Lande  der  Seligen  noch  von 
den  im  Lande  der  Finsternis  aufgelesenen  Kdelsteinen  —  Dinge,  die 
im  Pseudokallisthenes  einen  breiten  Raum  einnehmen  —  spricht. 

'  Vgl    oben  S.  168,  Anm.  3  und  S.  171,  Anm   6. 

*  Vgl,  S   188,  Anm   2. 

*  Oben  S.  189,  Anm.  4.  Alexander  hingegen  (vgl.  den  Schluß  des 
Zusatzes  von  P',  oben  S.  217)  glaubt,  daß  der  Koch  ihm  absichtlich  den 
Weg  nicht  zeigen  will. 

J  Wie  im  Pseudokallisthenes,  vgl.  S.  171,  Anm  5. 
'  Vgl.  S.  164,   Anm.  4;  171  ,   Anm.  5;  213,    Anm.  9;   214,  Anm.  4; 
215,  Anm.  2;  216,  Anm.  2. 

*  Die  Variante  von  P  (oben  S.  215,  Anm.  3)  bedeutet  nichts  anderes 
als  Pechvogel. 


220  I-  Friedlaender 

christliche  Weltherrscher  ^  nicht  erringen  konnte,  Anstoß  erregt 
zu  haben.  Daher  wissen  die  Handschriften  Lo  und  P  nichts 
über  die  Unsterblichkeit  des  Koches  oder  über  dessen  Verbleib. 
Hier  sinkt  der  Koch  lediglich  zum  Statisten  herab,  der  nichts 
als  den  Fisch  zu  bedienen  hat.^  P'  dagegen  läßt  den  Koch  zu 
seinem  Rechte  kommen,  ohne  jedoch  seine  Verwandlung  in  einen 
Seedämon  zu  erwähnen.^  Die  Episode  mit  Kaie,  die  ja  für  das 
Verständnis  des  Romans  entbehrlich  ist^  und  überdies  einen 
typisch  heidnischen  Charakter  trägt,  mag  schon  in  der  Vorlage 
gefehlt  haben.  Die  Bestrafung  des  Koches,  über  die  nur 
P'  zu  berichten  weiß,  weicht  von  der  Darstellung  des  Pseudo- 
kallisthenes  wesentlich  ab.  Dagegen  läßt  die  Umständlichkeit, 
mit  der  der  Fisch  sowohl  als  gesalzen  wie  als  gedörrt  bezeichnet 
wird^,  auf  eine  Abhängigkeit  vom  griechischen  xdQi%os^  schließen. 
Nichts  hindert  uns  anzunehmen  —  und  diese  Annahme  gewinnt 
an  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  den  Ursprung  der  Lebens- 
quellsage sowie  die  literarischen  Verhältnisse  im  syrischen 
Schrifttum  in  Betracht  zieht  — ,  daß  die  Homilie  oder  deren 
Vorlage  die  Lebensquellsage  aus  einem  griechischen  Original 
entlehnt  hat. 

In  einem  wichtigen  Detail,  das  uns  noch  später  be- 
schäftigen wird,  weicht  die  Homilie  von  den  bisher  erörterten 
Versionen  ab.  Während  in  allen  Rezensionen  des  Pseudo- 
kallisthenes  und  im  Talmud  der  Fisch  zufällig  auflebt,  in- 
dem Alexander  hungrig  wird   und   zu  essen   verlangt,    wird  in 

*  Denn  als  solcher  figuriert  er  sowohl  in  der  Legende  als  auch  in 
der  Homilie  und  in  vielen  späteren  Bearbeitungen,  vgl.  oben  S.  210, 
Anm.  3. 

'  Höchstwahrscheinlich  hängt  damit  die  Tendenz  von  P  (oben 
S.  214,  Anm,  8)  zusammen,  den  Koch  überhaupt  nicht  zu  erwähnen. 
Vielleicht  hatte  die  Vorlage  des  Talmuds,  der  vom  Koch  nichts  weiß 
(vgl.  S.  208),  eine  ähnliche  Tendenz. 

'  War  dieser  Zug  vielleicht  in  der  Vorlage  weggelassen,  weil  er 
zu  heidnisch  war? 

*  Vgl.  oben  S.  189,  Anm.  4  Anfang. 

*  Oben  S.  214,  Anm.  9.  «  Oben  S.  169,  Anm.  7. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     221 

der  Homilie  der  Fisch  von  vornherein  als  Mittel  zur  Auf- 
findung des  Lebensquells  benutzt  und  daher  mit  Vorbedacht 
in  einer  jeden  Quelle  ad  hoc  gewaschen.  Es  ist  jedoch  sehr 
wohl  denkbar,  daß  dieser  reflektierende  Zug,  der  dem  Charakter 
der  Sage^  und  der  sonstigen  Darstellung  der  Homilie*  wider- 
streitet, vom  Dichter  der  letzteren  in.  seine  Vorlage  hineininter- 
pretiert wurde 

IV 
Der  Koran 

Eine  Anspielung  auf  die  Lebensquellsage  findet  sich  im 
Koran,  Sure  18  Vers  59 — 63.  Die  Stelle  ist  rings  von  Legenden 
umgeben,  die  deutlich  christlichen  Ursprung  verraten.  Sure  19, 
die  in  diesen  Zusammenhang  gehört^,  gibt  sich  ohne  weiteres 
als  christlich.  In  Sure  18  ist  die  Siebenschläferlegende,  die 
unserer  SteUe  vorangeht,  christlich.*  Die  dieser  nachfolgende 
Erzählung  von  Alexander  =  Du'l-Qamein  (Vers  82 ff.)  ist,  wie 
Nöldeke^  nachgewiesen  hat,  aus  der  christlich-syrischen  Legende 
geflossen.  Was  nun  unsere  Stelle  selbst  betrifll,  so  wird 
sie  allgemein  sowohl  von  muhammedanischen  wie  auch  von 
europäischen®  Koranforschern  mit  den  unmittelbar  folgenden 
Versen  64 — 81  verbunden  und  für  eine  zusammenhängende 
Geschichte  erklärt.  Es  ist  jedoch  vermutet  worden"  und  kann 
unwiderleglich  nachgewiesen  werden^,  daß  die  Verse  64 — 81, 

'  Vgl.  oben  S.  191  Anna.  1.         »  Ibid.  215. 

'  „Sie  hat  denselben  Reim  wie  Sure  18  und  hat  vielleicht  ur- 
sprünglich  eine   Einheit  mit  ihr  gebildet",   Fraenkel  in  ZDMG  45,  326. 

*  Vgl.  Fraenkel  ibidem.  Sie  wurde  von  Jakob  von  Sarüg  bearbeitet. 
Nach  Xöldekes  Ansicht  (Beiträge  p.  32,  Anm.  5)  war  Jakob  vielleicht  die 
Quelle  des  Korans.  —  Auch  die  matte  Legende  Sure  18,  31  ff.  ist  wohl 
christlich,  vgl.  Fraenkel  ibidem.         *  Beiträge  p.  32. 

^  Zuletzt  auch  von  Völlers  im  Archiv  für  Eeligionsicissensch<ift  XII 
(1909),  p.  238  ff. 

'  Fraenkel  a.  a.  0.  p.  326  und  Dyroff  Zeitschrift  für  Assyrio- 
logie  VII,  324. 

*  Eine  Andeutung  darüber  in  meinem  Artikel  im  Archiv  für  Re- 
ligiotmcissenschaft  XIII  98  f. 


222  I-  Friedlaender 

die  nach  Inhalt  und  Tendenz  durchaus  verschieden  sind,  mit 
unserer  Stelle  (Vers  59 — 63)  ursprünglich  nicht  das  Geringste 
zu  tun  haben ^,  sondern  eine  durchaus  selbständige  Legende 
enthalten,  die  nachweisbar^  in  jüdischen  und  christlichen  Kreisen 
als  unabhängiger  Erzählungsstoff  in  Umlauf  war.  Ich  gebe 
die  Koranstelle  in  wörtlicher  Übersetzung  wieder.  Die  exegetische 
und  traditionelle  Literatur,  die  oft  nicht  auslegt,  sondern 
unterlegt,  lasse  ich  vorläufig  mit  Absicht  beiseite. 

Vers  59.  „Und  da  Moses  zu  seinem  Diener  sprach:  'Ich 
will  nicht  eher  rasten,  als  bis  ich  die  Vereinigung  der  beiden 
Meere  erreicht  habe,  und  sollt'  ich  auch  eine  Ewigkeit^  wandern.' 

Vers  60.  Als  sie  jedoch  die  Vereinigung  der  beiden* 
erreicht  hatten,  da  vergaßen  sie  ihren  Fisch,  der  seinen  Weg 
durch  einen  unterirdischen  Gang  ins  Meer  genommen  hatte. 

Vers  61.  Als  sie  weiter  gewandert  waren,  da  sprach  er 
(Moses)  zu  seinem  Diener:  'Bring  uns  unser  Mahl,  denn  wir 
sind  von  dieser  unserer  Reise  ermattet.' 

Vers  62.  Er  (der  Diener)  sprach:  'Siehst  du  wohl  (was 
mir  passiert  ist)?  Als  wir  beim  Felsen  einkehrten,  da  vergaß 
ich  den  Fisch,  und  nur  der  Satan  war  es,  der  mich  den  Fisch 
vergessen  ließ,  so  daß  ich  seiner  nicht  gedachte.  Er  hatte 
aber  auf  wunderbare  Weise  seinen  Weg  ins  Meei  ge- 
nommen.' 

Vers  63.  Er  (Moses)  sprach:  'Dies  ist  es,  was  wir  suchten.' 
Und  sie  kehrten,  ihren  eigenen  Spuren  folgend,  zurück." 

Die  Episode  ist  mit  der  dem  „Deutlichen  Buche"  eigen- 
tümlichen Undeutlichkeit  erzählt.     Doch   läßt   uns  der  Fisch, 

'  Ich  will  hier  bloß  darauf  hinweisen,  daß  die  Verse  59  —  63  fast 
durchweg  den  Reim  „ba^",  dagegen  Vers  64fif.  fast  durchweg  den  Reim 
„ran"  aufweisen. 

*  Vgl.  Israel  L^vi  in  Eevue  des  Etudes  Juives  VIII  (1884),  p.  64flF. 
Ich  komme  auf  diesen  Punkt  in  anderem  Zusammenhange  zurück. 

'  LJjv  wörtlich  „achtzig  Jahre". 

••  Wörtlich:  „Die  Vereinigung  dessen,  was  zwischen  ihnen  beiden 
liegt."     Vgl.  unten  S.  223,  Anm.  4, 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     223 

der  auf  wunderbare  Weise  seinen  Weg  ins  Meer  genommen, 
keinen  Augenblick  darüber  im  Zweifel,  daß  wir  es  hier  mit 
der  Lebensquellsage  zu  tun  haben.  Wie  sonst,  so  war  Mu- 
hammed  auch  hier  auf  mündliche  Berichte  angewiesen  und, 
wie  in  unzähligen  anderen  Fällen,  hat  er  auch  hier  schlecht 
gehört  und  schlecht  wiedergegeben.  Er  verwechselt  Alexander 
mit  Moses  ^  und  bringt  manches  hinein,  was  nicht  dazu  gehört.- 
Allein  trotz  dieser  Verschwommenheit  können  wir  dennoch, 
wenn  wir  die  oben  erörterten  Darstellungen  der  Sage  fest  im 
Auge  behalten,  die  Grundzüge  der  Erzählung,  die  dem  Propheten 
dunkel  vorschwebte,  wiedererkennen  und  die  verwitterten  Linien 
mit  einiger  Sicherheit  nachzeichnen. 

Alexander   (Moses)   erklärt^,  er  werde  nicht   eher   rasten 
als  bis  er  (den  Lebensquell)  ^  erreicht  habe,  und  sollte  er  noch 


'  Vgl.  Nöldeke  Beiträge  p.  32  1.  Z.  —  Für  die  Verwechslung,  die 
man  sehr  wohl  auf  Muhammeds  Konto  setzen  darf,  könnte  man  ver- 
schiedene Gründe  anführen  Der  Name  Du'1-Qamein  'der  Zweigehömte', 
unter  dem  Alexander  im  Koran  und  in  der  arabischen  Legende  er- 
scheint, mag  auf  Moses  'den  Strahlenden  oder  Gehörnten'  {Exodus 
34,  29 ff.,  vgl.  Geiger  Was  hat  Muhammed  aus  dem  Judentum  auf- 
genommen? p.  172)  gedeutet  worden  sein.  Man  denkt  auch  an  die 
Legende  (vgl.  Weil  Biblische  Legenden  der  Muselmänner  p.  181),  nach 
der  Moses,  wie  Alexander,  die  gesamte  Erde  bereiste  und,  wie  schon 
Josephus  Antiquitates  II,  9,  §  2 ff.  berichtet,  auch  in  Äthiopien  —  die 
Verwechslung  von  Äthiopien  mit  Indien  (vgl.  Fraenkel  ZDMG  45,  311) 
gab  in  der  Alexandersage  zu  unendlichen  Verwirrungen  Anlaß  — 
König  war.  —  Ob  die  Angabe  der  syrischen  Legende  (Budge  p.  147), 
daß  Alexander  und  seine  Armee  am  Beginne  ihres  Zuges  nach  dem  Berge 
Sinai  gelangen,  irgend  etwas  damit  zu  tun  hat,  ist  schwer  zu  entscheiden. 

*  So  den  unterirdischen  Gang  oder  Graben  (Vers  60).  Über  die 
Vereinigung  der  beiden  Meere  und  den  Felsen  vgl.  Anm.  4. 

'  Der  Koran  ergänzt:  seinem  Diener.  Doch  sind  ursprünglich 
wohl  die  Ratgeber  gemeint,  die  er  zu  diesem  Zwecke  versammelt, 
Homilie  Vers  30fF.,  51  ff.  und  wiederum  125 ff.  (vgl.  oben  S.  213).  Viel- 
leicht dachte  Muhammeds  Gewährsmann  an  den  einen  Greis,  dem 
Alexander  eine  ähnliche  Antwort  gibt,  Homilie  Vers  170,  oben  S.  214,  Z.  9. 

*  Der  Lebensquell,  der  in  der  Tradition  zur  Geltung  kommt,  ist 
im  Koran  ausgefallen,  und  an  seine  Stelle  tritt  „magma'   al  bahrein", 


224  I-  Friedlaender 

„die  Vereinigung  der  beiden  Meere",  die  wohl  ursprünglich  als  Ort  der 
Quelle  gedacht  war.  Bezüglich  dieser  mysteriösen  Bezeichnung  möchte 
ich  mich  der  Ansicht  Fraenkels  (ZDMG  45,  325)  anschließen,  der  sie 
aus  der  syrischen  Legende  ableitet  und  für  den  Berührungspunkt  der 
hellen  Meere  mit  dem  stinkenden  (und  dunklen)  Ozean  erklärt  (vgl.  die 
Stelle  in  der  Legende  oben  S,  212,  Anm.  3).  Lidzbarski  {Zeitschrift  für 
Assyriologie  VII  111)  wendet  dagegen  ein,  daß  ja  das  in  der  Legende 
erwähnte  Stück  Landes  die  Meere  nicht  vereinige,  sondern  trenne.  Allein 
80  genau  darf  man  es  mit  der  syrischen  Legende,  die  sich  auch  sonst 
keineswegs  durch  übergroße  Klarheit  auszeichnet,  nicht  nehmen.  Der 
zehn  Meilen  lange  Landstreifen  braucht  nicht  unbedingt  eine  Landenge 
zu  sein.  Es  kann  sich  ebensogut  um  einen  Landvorsprung  handeln. 
Vielleicht  spielen  auch  die  Worte  l^gÄ.^>  «.^j^v^  „ die  Vereinigung  dessen, 
was  zwischen  ihnen  liegt"  (Koran,  Vers  60)  auf  diese  Vorstellung  an 
Der  geographische  Hintergrund  der  syrischen  Legende,  der  auch  für  die 
Alexandersage  im  allgemeinen  von  großem  Interesse  ist,  läßt  sich  mit 
ziemlicher  Sicherheit  feststellen.  Die  elf  hellen  Meere,  die  die  Schiffe 
der  Menschen  befahren,  können  sich  in  der  Hauptsache  auf  die  ver- 
schiedenen Teile  des  mittelländischen  Meeres  beziehen.  Der  Landstreifen 
ist  sodann  höchstwahrscheinlich  der  Vorsprung  des  Gibraltar,  und  das 
dahinterliegende  stinkende  (und  dunkle)  Meer  ist  der  Atlantische  Ozean  oder, 
gemäß  der  alten  Anschauung  (vgl.  die  lichtvolle  Darstellung  in  Istachri, 
ed.  de  Goeje,  p.  5 ff.),  der  unbekannte,  geheimnisvolle  Ozean  (syrisch 
5DQj|ajdo),  arabisch  (w„»iL3.t,  Jäqüt  I,  504),  der  die  gesamte  Schöpfung 
umgibt  und  daher  im  Arabischen  „al-bahr  al-muhit",  „das  allumgebende 
Meer"  (Jäqüt  ib.,  Istachri  ib.)  genannt,  auch  als  „bahr  az-zulumät", 
„das  Meer  der  Finsternisse"  (Qazwini,  ed.  Wüstenfeld ,  I  126)  bezeichnet 
wird.  Diese  geographische  Bestimmung  der  Wanderungen  Alexanders 
würde  sehr  gut  zu  der  Schilderung  der  Fahrt  des  Gilgamesch  im  baby- 
lonischen Epos  stimmen.  Denn  wie  Jensen  Das  Gilgameschepos  in  der 
Weltliteratur  I  33,  Anm.  3 ff.,  eingehend  nachweist,  wandert  der  baby- 
lonische Held  nicht,  wie  man  bis  jetzt  allgemein  glaubte,  nach  der 
Mündung  des  Euphrat  und  Tigris,  sondern  nach  dem  Westen.  Er 
zieht  auf  genau  demselben  Wege  wie  sein  griechisches  Nachbild  durch 
das  Mittelmeer  und  die  Straße  des  Gibraltar  hindurch  nach  den 
stürmischen  Wassern  des  Todes  westlich  derselben,  wo  sich  im  fernsten 
Westen  die  Insel  der  Seligen  befindet.  Über  „ina  pi  näräti",  das  ge- 
wöhnlich als  das  Vorbild  des  koranischen  „magma'  al-bahrein"  be- 
trachtet wird,  8.  Jensen  a.  a.  0.  p.  37,  Anmerkung.  Auch  in  vielen 
späteren  Alexanderversionen  wandert  Alexander  nach  dem  Westen. 

Was  nun  die  muhammedanischen  Gelehrten  betrifft,  so  waren  die- 
selben schon  früh  über  die  Bedeutung  des  Ausdrucks  im  unklaren,  den 
manche  in  ihrer  Verlegenheit  sogar  allegorisch  —  als  Meer  des 
inneren  und  Meer  des  äußeren  Wissens  —  erklären  und  auf  Moses  und 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensqnell  und  die  Chadhirlegende     225 

al-Chadir  beziehen  (Beidäwi,  starb  685/1286,  ed.  Fleischer  1  567,  Damiii, 
Hajät  al-bajawän  s.  v.  -*«•-«  v:y».>-  Kairo  ISll^i  I  234,  auch  sonst  oft 
zitiert).  Unter  den  geographischen  Erklärungen  des  Xamens  ragen  zwei 
besonders  herror,  von  denen  die  eine  „die  Vereinigung  der  beiden  Meere'' 
mit  der  Gibraltarstraße,  die  andere  denselben  Ausdruck  mit  der  Suezenge 
verbindet.  Die  erst^re  Ansicht  wird  von  Qazwini  (ibidem;  und  Damiri 
(ibidem)  verfochten,  die  einen  ausführlichen  Bericht  reproduzieren,  nach 
welchem  der  Fisch  des  Moses  (Koran  18,  60)  noch  in  einer  an  der 
Küste  von  Ceuta  befindlichen  Fischart  fortlebt.  Nach  der  anderen 
Ansicht,  die  auf  den  Basrier  Qatäda  (starb  117 h)  zurückgeführt 
wird  (Damiri  ibidem  und  bei  anderen,  anonym  Beidäwi  ibidem) 
„bedeutet  die  Vereinigung  der  beiden  Meere  den  Ort,  an  dem  die 
Meere  von  Persien  und  Rom,  und  zwar  in  östlicher  Richtung,  znsammen- 

treffen":  sJj-S^(  Ja  U*  (.jyJjj  j-yli  ^j,y^  J^^  Crlr=^'!^'  ^*^?^J  • 
Das  „Meer  von  Persien"  wird  als  Zweig  des  indischen  Ozeans  be- 
trachtet (Jäqüt  I  502)  und  umfaßt  sämtliche  Meere  der  asiatischen  Süd- 
küste, einschließlich  des  Roten  Meeres  (vgl.  Istachri  p.  7,  Z.  1 
^j-.li  ysvj  ,jL*wJ  ^  ,^_^vX!f  i«jB  ,^\j  und  anderseits  Jäqüt  I  503 
lXjl^^^^^j  ^^  S-»ju;  Li,!.!  ja  *jAjÜ(yS'j)  Das  „Meer  von  Rom"  ist 
einer  der  vielen  Namen  für  das  Mittelländische  Meer,  vgl.  Istachri  p.  6  und 

Laue  8.  V.  *»j .     (Ob    diese  Erklärung  mit   der   anderweitigen    Angabe 

Damiris  f^\  r*^J  O'^J^'  y^^  '"*^  v^^j  identisch  ist,  ist  mir  nicht 
klar.)  Diese  Verschiedenheit  der  Erklärung  scheint  mit  der  verschiedenen 
Auffassung  von  der  Richtung,  die  Alesander  bei  seinen  Wanderungen 
einschlug,  zusammenzuhängen.  Die  Anschauung,  nach  der  Alesander 
durch  die  Gibraltarstraße  zieht,  ist  nach  dem  Vorangegangenen  die 
altertümlichere.  Dagegen  ist  es  sehr  wohl  denkbar,  daß  Muhammed, 
der  Moses  für  Alesander  einsetzt,  eher  an  den  Suez  und  die  Sinai- 
halbinsel dachte. 

Vielleicht  sind  diese  Ausführungen  geeignet,  einiges  Licht  auf  die 
rätselhafte  Erwähnung  des  Felsens  in  V.  62  und  des  unterirdischen 
Ganges  in  V.  60  zu  werfen.  Der  Felsen,  bei  dem  Moses  und  sein 
Diener  einkehren  und  bei  dem  sich  anscheinend  die  Meere  vereinigen, 
könnte  der  Gibraltarfelsen  sein.  Er  dürfte  schon  in  dem  Berichte  des 
Gewährsmannes  von  Muhammed  figuriert  haben.  Er  mag  mit  dem 
Gebirge  in  der  Homilie  (oben  S.  213  Anm  8  und  215  Anm.  5)  und 
den  'Bergen  der  Finsternis'  im  Talmud,  der  Alexander  ebenfalls  nach 
dem  Westen  (über  Nordafrika)  ziehen  läßt,  identisch  sein. 

Der  unterirdische  Gang  mag  sich  auf  den  Suez  beziehen  und  auf 
die  Legende  anspielen,  nach  welcher  Alexander  der  Große  das  Rote 
und  Mittelländische  Meer  durch  einen  unterirdischen  Gang  zu  vereinigen 
Archiv  f.  B«Ugionswi88enscIi»ft  YTTT  jg 


226  I-  Friedlaender 

SO  viele  Jahre  wandern.'  Als  sie  an  der  Stelle  angelangt 
waren,  da  entsprang  der  Fisch  (der  mit  dem  Lebensquell  in 
Berührung  gekommen  war).  Der  Diener  aber,  der  den  Auf- 
trag hatte,   einen  Vorfall   dieser  Art   zu   melden^,   vergaß   es.^ 


unternahm.  Vgl.  Wesselowsky  im  Journal  des  Ministeriums  für  Volks- 
aufldärung  (russisch)  Petersburg  1885,  p.  171  f.:  Daniel,  der  Metropolit  von 
Ephesus,  der  in  den  Jahren  1493 — 1499  Ägypten  und  Palästina  be- 
suchte, berichtet,  daß  er  am  Gestade  des  Roten  Meeres  „einen  unter- 
irdischen Graben  sah,  den  Alexander  von  Mazedonien  begann,  indem  er 
die  beiden  Meere,  das  Eote  und  das  nördliche  (anscheinend  das  Mittel- 
ländische) Meer,  zwischen  denen  die  Entfernung  nicht  groß  und  ungefähr 
drei  Tage  beträgt,  miteinander  vereinigen  wollte.  Doch  brachte  er  das 
Unternehmen  nicht  zu  Ende,  durch  welches  er,  seinem  Wunsche  ent- 
sprechend, Ägypten  gewissermaßen  in  eine  Insel  verwandelt  hätte.  Ich 
weiß  nicht,  was  ihn  daran  verhindert  hat".  Eine  andere  Erklärung, 
die  jedoch  die  Schwierigkeiten  nicht  löst,  s.  bei  Wahl  Der  Koran  1828, 
p.  247  Anmerkung. 

^  Vgl.  die  ähnliche  Äußerung  Alexanders,  als  er  von  der  großen 
Entfernung  des  Landes  der  Finsternis  hört,  in  der  Homilie  Vers  146 f.: 
,,Wa8  aber  den  Weg  betrifft,  so  kommt  es  mir  auf  seine  Länge  nicht  an." 

*  Dies  geht  aus  Vers  61  hervor. 

'  So   verstehen   das   „Vergessen"   in   Vers  60  und  62   die   meisten 

Kommentare.  So  Beidäwi  ed.  Fleischer  1,568,  der  die  Worte  ^^ 
cyjjs\J|  c;,o«**i  (in  Vers  62)  durch  »ULc  c^^jK   Uj  Vjfö   c/-iy-*i    erklärt: 

„ich  vergaß  zu  erwähnen,  was  ich  am  Fische  beobachtet  habe".  Die  Worte 
„sie  vergaßen  beide  ihren  Fisch"  (Vers  62)   erklärt  er    ^\  ^c**'^^  i?*^ 

.^tvaJI  ,, Moses  vergaß,  ihn  (den  Fisch)  zu  verlangen  und  sich  nach  ihm 
zu  erkundigen;  Josua  dagegen  (vergaß),  ihm  mitzuteilen,  wie  er  auf- 
lebte und  ins  Meer  fiel".  Bagawi  (starb  516/1122)  in  seinem  Kommentar 
(Ma'älim  at-tanzil,  Bombay  1879)  I,  555  erklärt  die  Stelle  in  sehr  ähn- 
licher Weise.  Zui:yj-:^J(  c>^A-w*i^li  sagt  er  ausdrücklich:  s::,^a*«j    -ili 

cyj.^(  j^l  ,s^Jy'>3!  jjl  c.yj-*Ö^L4.>öl  5^'^f  ^  J^:      'deun     ich     habe 

vergessen'  (Vers  60).  Es  wird  behauptet,  daß  der  Vers  subintelligiert 
werden  muß:  „ich  habe   vergessen,   dir  die  Geschichte  mit  dem  Fische 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     227 

So  wanderten  sie  weiter.^  Alexander,  von  der  langen  Wanderung 
hungrig  und  ermüdet,  verlangt  zu  essen.  Da  erinnert  sich  der 
Diener  des  Yerschwindens  des  Fisches  und  teilt  es  Alexander 
mit.  Erfreut  ruft  dieser  aus:  „Dies  ist  es  ja,  was  wir  suchten." 
Und  sie  kehrten,  ihren  eigenen  Spuren  folgend,  zurück,  um  den 
Lebensquell,  an  dem  sie  vorbeigegangen  waren,  wiederzufinden. 

Hier  bricht  die  Erzählung  ab.  Sie  bleibt  ein  Torso.  Der 
weitere  Verlauf  der  Legende,  den  wir  von  anders  woher  kennen, 
wird  dem  Leser  vorenthalten. 

Die  Darstellung  des  Korans  zeigt  mehrfache  Berührungen 
mit  der  Version  der  Homilie.  In  beiden  besteht  Alexander 
energisch  auf  seinem  Vorsatz.*  In  beiden  wird  das  Wieder- 
aufleben des  Fisches  erwartet  und  der  Diener  (oder  Koch) 
erhält  den  Auftrag,  Bericht  zu  erstatten.'  Koran  Vers  63  setzt 
dieselbe  Situation  voraus  wie  Homilie  Vers  215  —  217:*  Ale- 
xander (Moses)  ist  über  die  Mitteilung  erfreut  und  kehrt  auf 
demselben    Wege    zurück,    um    den    Lebensquell    zu    suchen.^ 


mitzuteilen".  Vgl.  Bagawis  anderweitige  Bemerkungen  zur  Stelle  und 
Tabaris  Korankommentar  (Kairo  1321h)  XV,  163.  —  Mubammed  hatte 
offenbar  keine  klare  Vorstellung  vom  Hergang  der  Geschichte.  Jeden- 
falls hat  er  sich  sehr  schlecht  ausgedrückt. 

*  So  fasse  ich  |;jl-^  Uü  in  Vers  61  auf.    Vgl.  unten  S.  229  Anm.  1. 
»  Koran  V.  59;    Homilie  V.  144,    171,    oben    S.  211  flF      Vgl.    auch 

die  Äußerung  im  Talmud  oben  S.  204,  Anm.  1. 

*  Koran  V.  62:  Homilie  V.  192,  s.  oben  S.  215.  Ganz  anders  im 
Pseudokallisthenes.         *  Vgl.  oben  S.  215. 

^  Vielleicht  erklärt  sich  durch  diese  Verwandtschaft  mit  der  Homilie 
auch  die  fragmentarische  Gestalt  des  Korans,  der  über  Alexanders 
Mißerfolg  und  den  Verbleib  des  Dieners  nichts  aussagt.  Denn  wäre 
Muhammed  über  das  Schicksal  des  Koches  nach  dem  Bericht  des  Pseudo- 
kallisthenes oder  der  P'-Version  der  Homilie  unterrichtet  gewesen,  so 
hätte  er  sich  kaum  ein  so  interessantes  Spezimen  der  'Geschichten  der 
Alten'  entgehen  lassen.  Dagegen  wäre  sein  Stillschweigen  verständlich, 
wenn  ihm  die  Sage  in  der  gewöhnlichen  Gestalt  der  Homilie,  wie  sie 
die  Handschriften  Lo  und  P  bieten,  vorgelegen  hätte.  Denn  auch  hier 
wird  nichts  über  den  Verbleib  des  Koches  gemeldet  (s.  oben  S.  220). 
In  P  kommt  er  sogar  um  seinen  Beruf  (oben  S.  214,  Anm.  8).     Auch 

15* 


228  I-  Friedlaender 

Somit  könnte  man  geneigt  sein,  die  Koranschilderung  aus  der 
Homilie  abzuleiten/  und  dies  um  so  eher,  als  die  rasche  Auf- 
einanderfolge der  Lebensquellsage  (Koran  18,  59 — 63)  und 
der  Alexandersage  (Vers  82  ff.)  den  Gedanken  nahelegt,  daß 
Muhammed  aus  einer  Quelle  schöpfte,  die  beide  Sagen  ver- 
einigte.^ Allein  in  einem  charakteristischen  Detail  weicht  der 
Koran  von  der  Homilie  ab.  Denn,  abweichend  von  dieser 
und  übereinstimmend  mit  der  Darstellung  des  Pseudokallisthenes 
und  des  Talmuds,  wird  (Vers  61)  Alexander  (Moses)  hungrig 
und  verlangt  zu  essen.  Muhammed,  wohl  seinem  Gewährs- 
mann folgend,  versucht  anscheinend  beide  abweichenden  Dar- 
stellungen miteinander  in  Einklang  zu  bringen:  der  Diener 
war  beauftragt,  über  das  Wiederaufleben  des  Fisches,  der  als 
Orientierungszeichen  dienen  sollte,  Bericht  zu  erstatten  (Vers  62, 
wie  in  der  Homilie).  Allein  der  Koch  vergaß  seinen  Auftrag. 
Er    erinnerte    sich    an    denselben    erst    dann,     als    Alexander 


Alexanders  Mißerfolg  wird  verschwiegen.  Da  Muhammed  nicht 
mehr  wußte,  daß  es  sich  um  Alexander  und  um  den  Lebensquell 
handelte,  so  hatte  auch  der  Mißerfolg  Alexanders  seine  Pointe 
verloren. 

^  Nöldeke  scheint  dieser  Ansicht  zu  sein,  wenn  er  Beiträge  p.  32 
(vgl.  daselbst  Anm.  5)  darauf  hinweist,  daß  Sure  18,  deren  Erzählung 
von  Alexander  (Du'l-Qarqein,  Vers  82  ff.)  von  der  syrischen  Legende  ab- 
hängig ist,  sowohl  die  Geschichte  mit  dem  (gesalzenen)  Fisch  als  auch  die 
ebenfalls  von  Jakob  von  Sarüg  bearbeitete  Siebenschläferlegende  ent- 
halte. Fraenkel,  ZDMG  45,  325,  ist  zu  der  Annahme  geneigt,  daß 
Jakobs  Homilie  „die  Grundlage  einer  verlorenen  ausführlicheren  Rezen- 
sion der  Legende"  vrarde,  aus  der  sodann  Muhammed  sowohl  die  Sage 
von  Du'l-Qarnein  als  auch  die  Lebensquellsage  schöpfte.  Diese  An- 
nahme würde  zugleich  die  Tatsache  erklären,  daß  auch  in  der  Lebensquell- 
sage einige  Züge  auf  die  Legende  hindeuten  (oben  S,  223,  Anm.  4). 
Natürlich  muß  man  dabei  immer  im  Auge  behalten,  daß  die  Sage, 
woher  sie  auch  stammen  mag,  Muhammed  in  mündlicher  Form 
zukam. 

*  Dies  trifft  auf  die  Homilie  zu,  die  die  Sage  vom  Zweigehörnten 
nach  der  Legende  bietet  und  auch  über  den  Lebensquell  berichtet, 
von  dem  die  Legende  nichts  weiß.  Siehe  vorhergehende  An- 
merkung. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     229 

(Moses),  die  Reise  fortsetzend^,  hungrig  wurde  und  Speise  ver- 
langte (wie  im  Pseudokallisthenes  und  Talmud).  Wenn  man 
daher  auf  die  Ableitung  aus  der  Homilie  Wert  legt',  so  wird 
man  annehmen  müssen,  daß  Jakobs  Gedicht,  das  zur  Zeit 
Muhammeds  bereits  auf  ein  volles  Jahrhundert  zurückblicken 
konnte,  demselben  in  einer  Form  zukam,  in  der  der  ursprüng- 
liche Zug  der  Sage  und  die  reflektierende  Umwandlung  des 
Dichters'  eklektisch  vereinigt  waren.  Wie  dem  aber  auch  sei, 
jedenfalls  beweisen  die  angeführten  Tatsachen  zur  Genüge,  daß 
die  Legende  vom  Lebensquell  zur  Zeit  Muhammeds  vielfach 
tradiert  wurde  und  durch  syrische  Yermittelung  in  Arabien 
eingedrungen  war. 

V 
Chadir  und  der  Koch  Alexanders* 

Nach  der  einstimmigen  Behauptung  der  muhammedanischen 
Theologen,  die  sich  sämtlich  auf  Ihn  'Abbäs*  berufen,  enthält 

*  Nach  der  Homilie  ging  Alexander  dem  Koch  voraus,  so  daß 
dieser  ihm  nachlaufen  mußte.  Nach  dem  Koran  (18,  61,  vgl.  oben  S.  227 
Anm.  1)  wanderten  sie  auch  weiter  zusammen.  Allein  der  unterschied 
ist  nicht  wesentlich.  Muhammed  hat  sich  unklar  ausgedrückt.  Der 
Dual  in  fjjL^  ist  ebensowenig  zu  pressen  wie  in  I  «.■,i.>>  (Vers  60). 

*  Die  literarhistorischen  Schwierigkeiten  könnten  auch  durch  die 
Annahme  behoben  werden,  daß  der  Passus  vom  Du'1-Qamein  (Koran 
18,  82 ff.)  aus  der  syrischen  Legende  stammt,  dagegen  die  Lebensquell- 
episode (Vers  59 — 63)  aus  einer  selbständig  tradierten  Sage  (vgl.  oben 
S.  219),  die  von  der  Version  der  Homilie  unabhängig  ist  und  auch  von 
ihr  abweicht.  Allein  diese  Annahme  wäre,  in  Anbetracht  der  oben  S.  228, 
Anm.  2  angedeuteten  Tatsache,  doch  recht  unwahrscheinlich. 

»  Vgl.  oben  S.  221. 

*  Mangel  an  Raum  und  der  Charakter  dieser  Zeitschrift  ließen  es 
ratsam  erscheinen,  den  Abschnitt  über  „die  muhammedanische  Tradition", 
in  dem  die  zahlreichen  Versionen  der  Lebensquellsage  des  Hadith  zu- 
sammengestellt und  erörtert  wurden,  beiseite  zu  lassen..  Derselbe  wird 
in  anderer  Form  binnen  kurzem  zur  Veröffentlichung  gelangen.  —  Das 
folgende  Kapitel,  das  die  Resultate  gibt,  ist  auch  nach  jener  Ausschaltung 
verständlich.  "Wo  sich  ein  Verweis  auf  „oben''  ohne  beifolgende 
Seitenzahl  findet,  bezieht  sich  derselbe  auf  den  hier  ausgelassenen 
Abschnitt.  '  Den  Vetter  des  Propheten.     Siehe  oben. 


230  I-  Friedlaender 

die  im  vorstehenden  behandelte  Koranstelle  eine  Beziehung 
auf  Chadir,  und  somit  hätten  wir  in  der  18.  Sure  die  früheste 
Spur  der  Chadirlegende  vor  uns.  Zwar  wird  Chadir  ohne  Aus- 
nahme mit  dem  in  Yers  64  erwähnten  „Knecht"  identifiziert, 
„dem  Allah  seine  Barmherzigkeit  gewährt  und  sein  Wissen 
verliehen  hat"  und  dessen  Belehrung  zu  erlangen  Moses  die 
beschwerliche  und  ereignisvolle  Reise  unternimmt.  Doch  wird 
uns  der  ursprüngliche  Sachverhalt  durch  die  Behauptung  der 
muhammedanischen  Gelehrten  selber  nahegelegt,  die  mit  der- 
selben Entschiedenheit  erklären^,  daß  Chadir  ein  Vezier  und 
Begleiter  Du'1-Qarneins  (Alexanders)  war,  der  den  LebensquelP 
fand  und  sich  auf  diese  Weise  ewiges  Leben  erwarb.^  Kom- 
binieren wir  diese  Erklärung  mit  der  oben  zitierten  Behauptung 
des  nämlichen  Ibn  'Abbäs,  daß  es  der  Diener  des  Moses  war, 
der  widerrechtlicherweise  durch  einen  Trunk  aus  dem  Lebens- 
wasser in  den  Besitz  ewigen  Lebens  gelangte,  und  rufen  wir 
uns  die  oben  mehrfach  berührte  Tatsache  ins  Gedächtnis  zu- 
rück, daß  an  der  genannten  Koranstelle  Moses,  infolge  eines 
Mißverständnisses,  statt  Alexander  erscheint,  dann  bleibt 
auch  nicht  der  Schatten  eines  Zweifels  übrig,  daß  ursprünglich 
Chadir  nicht  der  rätselhafte  Knecht  in  Vers  64  ist  —  der 
einem  durchaus  verschiedenen  Vorstellungskreise  angehört  — , 
sondern  der  um  den  Fisch  besorgte  Diener  Moses'  (Alexanders) 
in  Vers  59  ff.,  mit  anderen  Worten,  mit  dem  uns  aus 
Pseudokallisthenes  und  der  syrischen  Homilie  wohl- 
bekannten Koche  Alexanders  identisch  ist.    Somit  wäre 


-  Tabari  I  414,  16  ff,  dessen  Notiz  mit  und  ohne  Quellenangabe 
außerordentlicti  häufig  zitiert  wird.  Vgl.  Ta'labi  'Arä'is  126,  15 ff.  Daß 
Chadir  aus  dem  Lebensquell  getrunken,  wird  imzählige  Male  erwähnt. 
Auch  die  persischen  Dichter  spielen  häufig  auf  diese  Tatsache  an,  vgl. 
August  Wünsche  Die  Sage  vom  Lehensbaum  und  Lebenswasser,  Leipzig 
1906,  p.  82 

■  Genauer  „den  Lebensfluß"  (nähr  al-hajät).    Vgl.  oben. 

'  Für  Tabari  steht  diese  Tatsache  so  fest,  daß  er,  von  ihr  aus- 
gehend, die  anderen  Identifikationen  des  Chadir  zurückweist;  vgl.  I  414 f. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     231 

die  Gestalt  Chadirs,  die  in  der  Legendengeschichte  des  Islam 
eine  domiaierende  Stellung  einnimmt  und  einen  integrierenden 
Bestandteil  des  muhammedanischen  Volksglaubens  bildet,  ein 
Abklatsch  der  typisch  heidnischen  Figur  des  Koches  Andreas, 
der  mit  der  Lebensquelle  in  Berührung  gekommen  und  der 
als  Seedämon  ein  ewiges  Dasein  fristet. 

Wenn  wir  diese  Tatsache,  an  der  nicht  zu  rütteln  ist,  fest 
im  Auge  behalten,  dann  dürfte  es  uns  gelingen,  auch  den 
Namen  Chadirs  aus  demselben  Vorstellungskreise,  dem  er 
seinen  Ursprung  verdankt,  abzuleiten.  Der  Xame  oder  genauer 
das  Attribut,  al-Chadir  „der  Grüne"  —  denn  als  solches  wird 
er  von  den  muhammedanischen  Gelehrten  empfunden^  —  hat 
von  jeher  ein  Rätsel  gebildet,  um  das  sich  der  Scharfsinn 
muhammedanischer  und  europäischer  Gelehrter  eifrig  aber  ver- 
gebens bemüht  hat.  Die  muhammedanischen  Gelehrten  bieten 
nicht  weniger  als  drei  Erklänmgen  für  den  Namen  unseres 
Sagenhelden.    Nach  einer  vielzitierten-  Überlieferung,  die  nicht 


*  Es  ist  interessant,  daß  der  Name  sowohl  mit  wie  ohne  Artikel 
gebraucht  wird.  Letzteres  scheint  ursprünglicher  zu  sein;  vgl.  oben. 
(Auch  riavxog,  s.  u.  S.  235,  wird  ohne  Artikel  gebraucht.)  Daß  die  Be- 
zeichnung durchaus  als  epitheton  omans  galt,  ersieht  man  nicht  nur  aus 
den  verschiedenen  Erklärungen  derselben,  sondern  auch  aus  den  zahl- 
reichen Versuchen ,  den  eigentlichen  Namen  Chadirs  ausfindig  zu  machen. 

*  Z.  B.  Ta'labi  124,  Damiri  I  235,  Nawawi,  Tahdib  228,  Sibt  Ibn 
al-Gauzi  (starb  654  1257),  Mir'ät  az-Zamän,  Ms.  British  Museum 
Or.  4215  (im  folgenden  als  „Sibt  Ibn  al  Gauzi"  zitiert)  fol.  124 b,  ebenso 
Abü'1-Fath  Muhammad  b.  Muhammed  b.  'Ali  as-Sikandari  (zehntes 
Jahrhundert  der  Hidschra)  in  seiner  handschriftlichen  Heiligengeschichte 
Ibtigä'l-qurba  bi'l-Hbäs  wa's-sahba,  Ms.  der  Leipziger  Universitäts- 
bibliothek fol.  116».  Das  zuletzt  genannte  Werk,  das  ich  im  folgen- 
den mit  ,,Abü'l-Fath"  zitiere,  enthält  unter  anderem  einen  sehr 
ausführlichen  Abschnitt  über  unsem  Propheten  (fol.  116» — 149*),  von 
dem  ich  eine  Kopie  besitze.  YoUers  gab  seinerzeit  eine  kurze  Be- 
schreibung des  Werkes  {Katalog  der  Handschriften  der  Universitäts- 
bibliotheli  zu  Leipzig  11,  Leipzig  1906.  Nr.  252),  machte  jedoch  keinen 
Gebrauch  von  demselben  in  seinem  hier  mehrfach  zitierten  Artikel  über 
Chadir. 


232  I-  Friedlaender 

nur  von  den  beiden  kanonischen  Hadithsammlungen^  son- 
dern auch  von  der  schiitischen  Tradition  ^  adoptiert  und 
von  Tabari^  unabhängig  tradiert  wird,  und  die,  wenn  auch 
nicht  auf  den  Propheten  zurückgehend^,  so  doch  durch 
ihre  Sprache  einen  altertümlichen  Eindruck  macht  ^,  „wurde 
er  al-Chadir  genannt®,    weil    er    auf   einer    weißen    „Farwa"^ 

*  Buchäri  ed.  Krehl  II  357,  9.  Muslims  Versionen  werden  von  Ibn 
Hagar,  Isäba  I  884  zitiert  und  besprochen.  Beide  haben  dieselben 
Gewährsmänner:  Ibn  al-Mubärak  aus  Merv  (starb  181>i,  Huffäz  VI,  30) 
nach  Ma'mar  aus  Basra  (starb  153  ii,  Hutf.  V,  26)  nach  Hammäm,  dem 
Bruder  des  berühmten  Wahb  b.  Munabbih,  aus  Jemen  (Tabari  III  2554,  7 
Appendix)  nach  Abu  Hureira  im  Namen  des  Propheten. 

*  Ibn    Bäbüje    (starb    381/991)    in    seinem    Kitäb    'ilal    as-sarä'i" 

«  .^ 
(Ms.    British    Museum    Add.    23261    fol.   25  b:    ^  ,jL^    2<öf   JüC^f  c^L<^ 

^\yh£ä-  cy^l  '3\  =  Laöjo  ij^A  "^  X*<*iU  XaäS^  ^  j*Jjs\^  „sein(al-Chadir8) 
Wunderzeichen  war,  daß  er  sich  auf  kein  trockenes  Holz  oder  weiße 
Erdscholle  setzte,  ohne  daß  sie  grünend  aufblühten".  Die  Tradition, 
die  auch  in  seinem  Werke  Kamäl  ad-din,  Ms.  Berlin  (Ahlwardt  Nr.  2721) 
fol.  173b,  zitiert  wird,  wird,  wie  die  meisten  schiitischen  Traditionen, 
auf  Ga'far  as-Sädiq,  den  Schutzpatron  der  Si'a  (starb  146h)  zurück- 
geführt. Doch  ist  sie  zweifellos  nichts  als  ein  Widerhall  der  kano- 
nischen Tradition,  deren  Wortlaut  sie  zu  erklären  sucht. 

'  I,  429,  4,  mit  demselben  Isnäd  wie  oben.  Auch  in  seinem 
Korankommentar  XV,  168. 

*  Die  Berufung  auf  den  Propheten,  wie  auch  auf  den  Genossen 
Abu  Hureira,  ist  sicherlich  bloße  literarische  Fiktion  (vgl.  oben). 
Es  ist  unbegreiflich,  wie  Lidzbarski  {Zeitschrift  für  Assyriologie  VIII,  264 
unten)  den  Propheten  für  diese  Namenserklärung  verantwortlich  machen 
kann,  der  doch  augenscheinlich  den  Namen  Chadirs  überhaupt  nicht 
kannte  und  über  seinen  Ursprung  nur  die  verworrensten  Vorstellungen 
hatte. 

^  Vgl.  unten  Anm.  7. 

®  Muslim  und  Tabari:  „wurde  al-Chadir  Chadir  genannt",  vgl.  oben. 

'  Muslim  bloß  „auf  einer  Farwa".  Auch  die  Lesart  bei  Buchäri 
schwankt.  Vgl.  Nawawi,  Tahdib  p.  229,1,  der  ebenfalls  ^L^äo  ausläßt. 
Die  eigentliche  Bedeutung  von  „Farwa"  war  anscheinend  schon  früh  in 
Vergessenheit  geraten  Die  muhammedanischen  Gelehrten  schlagen 
allerlei   Erklärungen    vor.     Nach  'Abdarrazzäq  (b.  Hammäm  aus  San'ä, 

Btarb  211h,  Mizän  n,  114£f.)  bedeutet  es  [Jaxii\  jÄuyÄ-srvJI  „trockenes 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     233 

saß*  und  dieselbe  plötzlich  hinter  ihm  —  oder  unter 
ihm-  —  grünend  wogte ".^  Nahe  verwandt  und  muslimisch 
gefärbt  ist  eine  andere  auf  den  Mekkaner  Mugähid  (starb 
ca.  lOO^y  zurückgeführte  Tradition^  nach  der  Chadir  so 
genannt  wurde,  „weil,  wo  immer  er  auch  betete,  es  um 
ihn  herum  —  oder  unter  ihm  —  grün  ward*'.^  Eine  dritte, 
anscheinend  spätere  Erklärung,  die  vielfach  zitiert  wird, 
leitet  Chadirs  Namen  „von  der  Schönheit  und  dem  Glänze 
seines  Antlitzes"  ab.^     Nicht  minder  vielfältig  und  unannehm- 


weißes  Gras"  (bei  Ibn  Hagar  ibidem),  Nawawi  erklärt  es  als  |»jyiy4i( 
cyL-JI  ^^  „vertrocknete  Pflanze",  nach  Abü'1-Fath,  ebenso  Nawa-wi  und 

Damiri,  bedeutet  es  bloß  {jOj^^  »>*5  „Erdoberfläche".  Ibn  Bäbüje 
(oben  S.  232,  Anm.  2)  bietet  zwei  Erklärungen  (im  Zitat  im  Eamäl  ad- 
din  bloß  ''L^ä-o  jj^;l}-  Ihn  al-Gauzi  (ibidem)  erklärt  es  gar  als 
!woU  jyt*j::sv«  ?j^J>jL«  V^V*  **^  „Stück  (Ausschnitt?)  von  herrlichen 
verbundenen  (?)  trockenen  Gewändern".  Die  letztere  Erklärung  deutet 
wohl  auf  den  Gebetsteppich  hin,  vgl.  unten  Anm.  6.  Das  Wort  ist 
jedenfalls  alt.  Vielleicht  ist  es  jemenisch.  Denn  die  Tradition  rührt 
vom  Jemeniten  Hamm  am  her,  oben  S.  232,  Anm.  1. 

^  jjwuLs*.     Tabari  Jmä.  *  Tabari  außerdem   so  „durch  ihn". 

'  Ibn  Bäbüje  scheint  o'^ji  „blühte"  gelesen  zu  haben. 

*  fluf^z  lU,  18. 

^  Ta'labi  124,  Damiri  I,  235,  Sibt  Ibn  al-Gauzi  ibidem,  Abü'l- 
Fath  ibidem,  Lisän  s.  v.  _*ä^.  Tag  al-'arüs  s.  h.  v.  (III,  181,  10),  und 
sonst  häufig. 

^  Ahnlich  erklärt  Ja'la  am  Ende  seines  oben  zitierten  Be- 
richtes (Buchäri  III,  279)  im  Namen  des  mir  sonst  unbekannten  'Otmän 
b.  Abi  Suleimän,  daß  Chadir  auf  einer  grünen  Matte  (tanfasa)  mitten 
in  der  See  saß.  Nach  Ta'labi  (127  oben)  stand  er  betend  auf  einer 
grünen  „tanfasa"  auf  der  Oberfläche  des  Wassers.  Nach  Eisäl  fand  ihn 
Moses  auf  einer  Meeresinsel  sein  Gebet  verrichtend  (oben).  Es  dürfte 
die  Idee  vom  Gebetsteppich  zugrunde  liegen.  Chadir  ist  natürlich 
ein  orthodoxer  Muhammedaner.  Vgl.  Völlers  in  dieser  Zeitschrift 
Xn  278. 

'  ».g^j  '^^Ir^  ?üU«js\J.  So  z.  B.  Ta'labi  p.  124,  Sibt  Ihn  al- 
Gauzi,  Abü'1-Fath  fol.  124a,  Lisän  und  Tag  al-'Arüs  (III,  181, 12),  letzterer 
mit  der  erklärenden  Glosse:  „wegen  dessen  Ähnlichkeit  mit  der  grünen 


234  I-  Friedlaender 

bar  sind  die  Erklärungsversuche  der  europäischen  Gelehrten. 
Die  vielfach  beliebte  Deutung  des  Namens  Chadirs  als  des 
Grünen,  des  Immergrünen,  des  Ewiglebenden  ist  nichts  als 
philologische  Spiegelfechterei.^  Yon  den  anderen  modernen  Er- 
klärungen ist  die  ansprechendste  sicherlich  die  von  Völlers^, 
der  al-Chadir  „den  Grünen"  als  den  Genius  der  Vegetation 
auffaßt,  eine  Erklärung,  die  lebhaft  an  die  kanonisch-  muham- 
medanische  Deutung^  erinnert.  Doch  wenn  auch,  nach  den 
Darlegungen  von  Völlers,  dieser  Zug  in  der  vielseitigen  Gestalt 
Chadirs,  dem  anscheinend  jene  muhammedanische  Erklärung 
Ausdruck  zu  verleihen  sucht,  nicht  abzuleugnen  ist,  so  ist  er 
doch  nicht  hervorragend  genug,  um  ihn  für  den  Namen  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Überdies  leidet  diese  Namenserklärung 
an  dem  schwerwiegenden  Fehler,  daß  sie  keine  historische 
Vorlage  für  die  muhammedanische  Bezeichnung  nachweisen 
kann;  denn  an  eine  Neuschöpfung  ist  bei  dem  völligen  Mangel 
an  Originalität,  der  die  muhammedanische  Chadirvorstellung 
charakterisiert^,  durchaus    nicht    zu  denken.      Wenn    wir    uns 

frischen  Vegetation".  Abü'1-Fath  (fol.  121a)  läßt  sich  über  diese  Er- 
klärung in  einer  interessanten  Notiz  aus:  „Gott,  gepriesen  sei  er, 
zeichnete  al-Chadir  durch  das  Lebenswasser  (mä'  al-hajät)  aus,  welches 
vom  Springbrunnen  (janbü')  des  Paradieses  (kommt)  —  vgl.  oben  S.  205  — 
und  aus  welchem  keiner  außer  ihm  (je)  getrunken  hat.  Die  Lebens- 
quelle ('ain  al-hajät)  aber  befindet  sich  an  der  Vereinigung  der  beiden 
Meere,  verborgen  vor  den  Augen,  unter  Gottes  Geheim(wis8en)  und 
Allmacht  (stehend).  Sein  (Chadirs)  Name  weist  auf  sein  (ewiges)  Leben 
hin.  Denn  das  Grün  (hudra)  ist  ein  Attribut  der  grünen  Pflanze,  und 
es  ist  bekannt,  daß  das  Grün  der  Pflanze  deren  vitales  Element  ist." 
^  Vgl.   Lidzbarski   in   Zeitschrift  für  Assijriologie  VII,  105. 

*  Archiv  für  Beligionsivissenschaft  XII,  278  f.  »  Oben  S.  231  f. 

*  In  der  gesamten  Chadirlegende  dürfte  es  kaum  ein  einziges 
Moment  geben,  das  sich  nicht  aus  nichtislamischen  Quellen  ableiten 
ließe,  vgl.  meinen  Aufsatz  im  Archiv  für  EeUgionswissenschaft  XIII,  92  ff. 
Wenn  für  Völlers  ib.  XII  237  1.  Z.  Chadir  „recht  eigentlich  ein  Erzeugnis 
des  islamischen  Synkretismus"  ist,  so  ist  dies  nur  insofern  zutreffend, 
als  der  Islam  viele  alte  Legendenstoffe  adoptiert  und  aus  diesen  die 
Chadirlegende  zusammengesetzt  hai  Neuschaffend  war  der  Islam  auch 
hier  nicht. 


1 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhixlegende     235 

dagegen  auf  die  oben  nachgewiesene  Identität  Chadirs  mit  dem 
in  einen  Seedämon  verwandelten  Koche  Alexanders  erinnern, 
dann  drängt  sich  die  Erklärung  des  Namens  von  selbst  auf: 
al-Chadir  „der  Grüne"  ist  der  Seedämon.  Eine  passendere 
Bezeichnung  für  einen  Seedämon  dürfte  sich  schwerlich  finden 
lassen.  Daß  die  Figur  des  Seedämons  auch  in  der  muhamme- 
danischen  Lebensquellsage  einen  Platz  hatte,  konnten  wir  oben 
feststellen.  Daß  diese  ursprüngliche  Bedeutung  des  Namens 
den  muhammedanischen  Gelehrten  früh  abhanden  kam,  ist  be- 
greiflich und  verzeihlich.  Sie  hätten  diese  Erklärung,  die  ihren 
ewiglebenden  Propheten  auf  einen  heidnischen  Dämon  reduziert, 
auch  wenn  sie  ihnen  bekannt  gewesen  wäre,  mit  Entrüstung 
zurückgewiesen.  Allein  es  zeugt  von  der  beispiellosen  Zähig- 
keit sagengeschichtlicher  Überlieferung,  daß  die  viel  spätere 
äthiopische  Alexanderversion,  die,  auf  eine  arabische  Vorlage 
zurückgehend,  ein  kurioses  Gemisch  der  verschiedenartigsten 
Rezensionen  darstellt  und  durch  ihr  fromm  christliches,  gelegent- 
lich auch  fromm  muhammedanisches  Gewand  hindurch  häufig 
heidnische  Einflüsse  verrät,  die  von  uns  verfochtene  Namens- 
ableitung voraussetzt.^ 

Die  Bezeichnung  des  in  einen  Seedämon  verwandelten 
Dieners  als  al-Chadir,  „der  Grüne",  erinnert  unwillkürlich  an 
den  Namen  des  einem  ähnlichen  Schicksal  verfallenen 
Glaukos,  und  so  wurde  schon  von  anderer  Seite*  die  Ver- 
mutung ausgesprochen,  daß  die  Benennung  Chadirs  lediglich 
eine  Kopie  von  rXavxos  sei.  Diese  Vermutung  gewinnt  an 
Wahrscheinlichkeit,  wenn  wir  die  oben'  nachgewiesene  Tatsache 


*  S.  unten  245  Anm.  1. 

'  Zuerst  von  Clennont-Ganneau  Eorus  et  Saint  Georges  d" apres  un 
has-relief  ine'dit  du  Louvre.  Notes  d'archeologie  Orientale  et  de  mytho- 
logie  semitique.  Extrait  de  la  Revue  Ärcheologique  Paris  1877,  p.  31  ff., 
besonders  p.  33.  Sodann,  unabhängig  von  ihm,  Dyroff  in  Zeitschrift  für 
Assyriologie  VII  (1892)  p.  327. 

»  S.  191  ff. 


236  I-  Friedlaender 

in  Betracht  ziehen,  daß  die  Lebensquellsage,  der  die  Chadir- 
konzeption  ihren  Ursprung  verdankt,  mit  der  Glaukoslegende 
auf  das  engste  verwandt  ist.  Gegen  diese  Identifikation  sind 
philologische  und  historische  Argumente  ins  Feld  geführt 
worden.  Es  wurde  darauf  hingewiesen^,  daß  die  Wurzel 
„chdr"  nicht  die  grüne  Farbe  des  Wassers,  sondern  die  der 
Vegetation  bezeichne.  Allein  dieser  Einwand,  der  nebenbei 
nicht  ganz  den  Tatsachen  entspricht^,  geht  von  falschen  Vor- 
aussetzungen aus.  Die  Bezeichnung  des  in  einen  Seedämon 
verwandelten  Sagenhelden  als  FXavxos  oder  Chadir  (der  Grüne, 
genauer  der  Dunkelgrüne)^,  geht  eben  nicht  von  der  Farbe 
des  Wassers,  sondern  von  der  der  Vegetation  aus:  es 
ist  der  den  Seedämon  bedeckende  Seetang,  der  zuerst  in  die 
Augen  springt  und  jener  populären  Bezeichnung  zugrunde 
liegt.*  Man  braucht  nur  das  herrliche  platonische  Gleichnis^ 
zu  lesen,  in  dem  der  Seegott  Glaukos,  gleich  der  Wahrheit, 
„überwachsen  mit  einer  Oberschicht  von  Seetang  und  Muscheln 
und  Steinen"  erscheint,  „so  daß  er  eher  irgendeinem  Ungeheuer, 
denn  seiner  eigenen  ursprünglichen  Gestalt  ähnelt",  um  zu  er- 
kennen, wie  gang  und  gäbe  diese  Vorstellung  von  der  äußeren 
Erscheinung  des  Glaukos  war,  die  auch  die  antiken  Bildwerke 


^  Lidzbarski  Zeitschr.  für  Ass.  VIII,  268. 

*  Ibn  al-A'räbi  (starb  231/844ii)  sagt  ausdrücklich,  daß  „chdr"  auch 
auf  Wasser  anwendbar  ist  (zitiert  im  Tag  al-*arüs,  III.  179)  Vgl.  auch 
Völlers  in  dieser  Zeitschrift  XII  p,  282. 

'  Über  yXavv,6s  in  dieser  Bedeutung  vgl.  Gaedechens  Glaukos  der 
Meergott  p.  38.  Daß  diese  Bedeutung  nach  Gaedechens  erst  in  späterer 
Zeit,  namentlich  bei  römischen  Schriftstellern,  nachweisbar  ist,  kommt 
für  unsere  Legende,  die  viel  später  ist,  nicht  in  Betracht.  Über  Chadir 
als  dunkelgrün  vgl.  Lane  s.  v.  Tag  al-'arüs  III,  179  definiert  die 
durch  chudra  bezeichnete  Farbe  als  „zwischen  Schwarz  und  Weiß" 
stehend.  Auch  die  äthiopische  Wiedergabe  von  Chadir  durch  „hamalmil" 
deutet  dieselbe  Farbennüance  an. 

*  yXavKOi  wird  auf  alle  meerfarbenen  Gegenstände,  unter  anderem 
auf  das  Schilf  und  das  Sumpfgras,  angewandt,  Gaedechens  p.  38. 

"  Bepublik  X,  p.  61lC. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     237 

fast  durchgängig  zur  Anschauung  bringen.^  Dieselbe  Erklärung 
des  Namens  scheint  der  Angabe  der  äthiopischen  Alexander- 
legende- zugrunde  zu  liegen  und  sie  schimmert  auch  in  der 
muhammedanischen  Vorstellung  durch,  nach  welcher  Chadir  in 
grüne  Gewänder  gekleidet  ist.' 

Viel  schwerer  wiegt  das  historische  Argument*,  das  sich 
gegen  die  unmittelbare  Ableitung  einer  muhammedanischen, 
dazu  noch  einer  so  alten  muhammedanischen  Vorstellung  aus 
einer  griechischen  Sage  geltend  machen  läßt.  Es  ist  kaum 
zulässig,  daß  man  Chadir  schlecht  und  recht  für  Glaukos  er- 
klärt^ oder  den  Namen  des  einen  als  eine  „Übersetzung"  oder 
gar  eine  „sachgemäße  Übersetzung"  des  Namens  des  andern 
betrachtet.'  Wohl  aber  lösen  sich  die  Schwierigkeiten,  wenn 
man  das  Ergebnis  der  vorstehenden  Untersuchungen  in  Betracht 
zieht,  nach  welchem  die  Syrer  die  Hauptrermittler  der  Lebens- 
quellsage waren.  Die  syrische  Form  der  Lebensquell- 
sage bildet  die  Brücke,  die  nicht  nur  die  Lebens- 
quellsage   des    Pseudokallisthenes,    sondern    auch    die 


*  Gaedechens  p.  79:  „zottige  Brust,  besetzt  mit  Moos  und  Meer- 
tang"; p.  167:  „denn  da  Glaukos  fischschwänzig  wurde,  wie  Schrift- 
steller und  Bildwerke  ihn  fast  durchgängig  schildern,  sein  Leib  mit 
Muscheln  und  Seetang  bewachsen,  so  ist  sein  Aufenthalt  ohne  Zweifel 
im  Meere  zu  denken".     Vgl.  auch  pp.  212,  216. 

*  S.  unten  245  Anm.  1. 

'  Ta'labi  p.  127,  1;  1001  Nacht  (ed.  Büläq  U,  U;  304»«  Nacht); 
Laue  Arabian  Nights  (1865)  I,  20,  Anmerkung.  Nach  einigen  soll  gar 
sein  Name  von  den  grünen  Gewändern  herkommen  (Lane,  ibidem). 
Nach  einer  anderen  Vorstellung,  die  nicht  hierher  gehört,  trägt  Chadir 
weiße  Kleider.  —  Mit  der  äußeren  Erscheinung  des  Glaukos  mag  die 
Beobachtung  Sa'id  b.  Gubeirs  zusammenhängen  (Buchäri  HI,  279  in  der 
Version  Ja'las  Muslim  IX,  242  f.  in  der  Version  des  Abu  Ishäq),  daß 
Chadir  „musagga°  bi-taubihi"  „in  sein  Gewand  eingehüllt"  war,  vgl. 
Völlers  p.  246.  —  Auch  die  oben  S.  234 f.  zitierte  Namenserklärung 
mag  Ahnliches  andeuten. 

*  Vgl  Völlers  a.  a.  0    p.  282. 

"  Clermont-Granneau  a.  a.  0.  p.  31flF. 
^  Dyroff  Zeitschr.  f.  Assyr.  VII,  327. 


238  I-  Friedlaender 

Legende  des  Glaukos  mit  der  muhammedanisclien 
Chadirvorstellung  verbindet.  Unter  den  zahlreichen  Ge- 
stalten der  syrischen  Lebensquellsage,  die  unter  dem  direkten 
Einfluß  der  hellenischen  Sagenwelt  stand,  mag  es  auch  solche 
gegeben  haben,  in  denen  der  Koch  Alexanders  mit  den  Zügen 
seines  Leidensgenossen  Glaukos  ausgestattet  erschien.  In  einer 
dieser  Versionen  war  vielleicht  der  Koch  Alexanders,  passender- 
weise, wie  wir  oben^  sahen,  als  „der  Grüne"  charakterisiert, 
und  von  den  Syrern  ist  diese  heidnische  Figur  des  Glaukos- 
Andreas  zu  den  Muhammedanern  gedrungen,  um  Namen  und 
Gestalt  des  Chadir  zu  erzeugen  und  kurz  darauf  in  dem 
Strudel  der  theologischen  Spekulationen  des  Islam  zu  ver- 
schwinden. 

Doch  wie  sich  auch  der  Name  des  Chadir  zu  dem  des 
Glaukos  verhalten  mag,  unzweifelhaft  ist  es,  daß  die  Gestalt 
Chadirs  Züge  enthält,  die  mit  Sicherheit  auf  Glaukos  hin- 
weisen. Nirgends  tritt  dieser  merkwürdige  Zusammenhang 
frappanter  hervor  als  in  der  Umwandlung,  die  die  muhammeda- 
nische  Chadirvorstellung  im  Norden  Indiens,  der  schon  früh  der 
Waffengewalt  des  Islams  unterlag,  erfahren  hat,  eine  Umwand- 
lung, die  zugleich  die  wunderbare  Lebensfähigkeit  mytholo- 
gischer Motive  grell  illustriert.  Denn  im  Norden  Indiens^  ist 
Chadir,  „Chwäga  Chisr",  „Herr  Chidr",  wie  er  von  den  Muhamme- 
danern, oder  „Räga  Kidär",  wie  er  von  den  Hindus  tituliert  wird, 
schlecht  und  recht  eine  Wassergottheit  geworden  oder,  richtiger, 
—  geblieben.  Genau  so  wie  Glaukos,  ist  Chadir  im  Bengal 
„die  Schutzgottheit  der  Schiffer,  die  ihn  anrufen,  um  ihre 
Schiffe  vor  dem  Zusammenbrechen  und  Versinken  zu  bewahren, 
oder  um  ihnen  den  Weg   zu   zeigen,   wenn   sie   denselben  ver- 


'  S.  236. 

*  Die  folgenden  Daten  entnehme  ich  W.  Crooke  Tfie  populär 
religion  and  folk-lore  of  Northern  India,  London,  1896,  Band  I, 
p.  47—48. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     239 

loren  haben "^  Als  sein  Gefährte  wird  ein  Fisch  angesehen, 
der  über  den  Türen  von  Muhammedanem  und  Hindus  gemalt 
wird  und  der  auch  das  Wappen  des  früheren  Königshauses  Ton 
Ud  bildete.*  Im  Zusammenhang  mit  dem  Chadirkultus  ist  es 
üblich,  ein  Schiffchen  in  einem  Flusse  oder  Wasserbehälter 
vom  Stapel  zu  lassen  oder  ein  winziges,  mit  Gras  überdecktes 
Floß,  auf  dem  ein  Licht  angezündet  wird,  im  Dorfteich  in 
Bewegung  zu  setzen.  An  die  Haarlocke,  die  dem  Glaukos  als 
Opfer  besonders  willkommen  ist',  erinnert  die  bei  den  Muhamme- 
danern  übliche  Sitte,  bei  dem  ersten  Haarabnehmen  eines  Jungen 
ein  Gebet  an  Chadir  zu  richten,  eine  Sitte,  die  sich  sogar  bei 
den  eingeborenen  Juden  in  Bombay  und  Umgegend  erhalten  zu 
haben  scheint*  Mag  auch  einzelnes  im  indischen  Chadirbild 
sich  aus  anderen  Vorstellungskreisen  ableiten  lassen:  als  Ganzes 
ist  es  ohne  Zweifel  ein  Abklatsch  der  Glaukosfigur,  der  al- 
Chadir  auch  seinen  Namen  verdankt. 

Dieser  Zusammenhang  mit  Glaukos  tritt  im  Zentrum  des 
Islams,  wo  die  heidnischen  Elemente  früh  abgestoßen  wurden, 


*  Auch  die  Seeleute  von  Beirut  in  Syrien  rufen  noch  heute,  wenn 
ein  Sturm  im  Anzug  ist:  „Ja,  Chidrl",  Clermont-Ganneau  a.  a.  0.  p.  33, 
Anm.  2.  Freilich,  für  sich  allein  betrachtet,  könnte  letzteres  all- 
gemein die  Hilfsbereitschaft  Chadirs  ausdrücken.  „Unser  'zu  Hilfe 
kommen'  wird  im  Türkischen  auch  ausgedrückt:  'wie  ein  Chizr  kommen'*' 
(Völlers  a.  a.  0.  p.  272,  Anm.  1). 

*  Der  Fisch  kann  natürlich  sowohl  von  der  Glaukoslegende  als 
auch  von  der  LebensqueUsage  herrühreu. 

'  Gaedechens  p.  185;  Röscher  p.  1679. 

*  Vgl.  den  Reisenden  Jakob  Saphir,  der  um  1870  Indien  besuchte, 
in  seinem  Reisewerke  Eben  Saphir  U  (Mainz  1874)  47*:  Die  so- 
genannten Bene  Israel,  von  denen  dort  die  Rede  ist,  lassen  ihren  Kindern 
nicht  vor  dem  vierten  oder  fünften  Lebensjahr  das  Haar  abnehmen.  „Der 
Tag,  an  dem  diese  zuerst  geschoren  werden,  gilt  als  Fest-  und  Freudentag, 
gleich  dem  Tage,  an  dem  sie  in  den  heiligen  Bund  CAbrahams)  auf- 
genommen werden."  Die  Sitte,  die  Saphir  ausführlich  beschreibt,  wird 
von  ihm  als  „uralt"  bezeichnet.  Die  Bene  Israel  haben  sich  auch  in 
vielen  anderen  Dingen  den  Hindus   assimiliert. 


240  I-  Friedlaender 

gänzlich  zurück.  Indessen  zeigt  sich  auch  hier  der  ursprüng- 
liche Charakter  al-Chadirs  als  Seedämon  in  der  Vorstellung, 
die  ihn  als  einen  Schutzgeist  der  See  auffaßt  und  die  im 
gesamten  Bereiche  des  Islams  herrschend  geworden  ist. 

Diese  intime  Beziehung  Chadirs  zum  Meere  und  den 
Meerfahrern  tritt  bereits  im  Hadith  hervor,  obwohl  Chadir 
hier  mit  dem  frommen  Knecht  des  Korans  (18,  64)  identifiziert 
und  infolgedessen  in  einen  Gottesmann  verwandelt  worden  war. 
In  der  Portsetzung  des  Berichtes  des  Sa^id  b.  Grubeir  über  die 
Lebensquellepisode,  den  Sufjän  b.  'üjeina  nach  'Amr  b.  Dinar 
überliefert \  heißt  es:  „Als  sie  beide  (d.  h.  Moses  und  Chadir) 
am  Meere ^  zu  wandern  begannen,  da  fuhr  an  ihnen  ein  Schiff 
vorbei.  Sie  sprachen  sie  (die  Schiffsleute)  an,  damit  die 
letzteren  sie  beförderten.^  Diese  aber  erkannten  al- Chadir  und 
beförderten  ihn  ohne  Fahrgeld."*  In  etwas  anderer  Wendung 
wird  dasselbe  in  Ja^las  Version  des  Sa'idschen  Berichtes^  aus- 
gedrückt: „sie  bestiegen  beide  ein  Schiff  und  fanden  kleine 
Küstenbote,    die    die    Leute    von    dem    einen    Ufer   nach    dem 


1  Buchäri  11  355,  III  277,  281;  Muslim  IX  234£F.;  Tabari  I  417 f. 
Vgl.  oben. 

*  Daß  sie  am  Meere  wandern,  war  bereits  durch  den  Koran  nahe- 
gelegt, der  den  Schauplatz  ebenfalls  nach  dem  Meere  verlegt. 

'  Deutlicher  bei  Tabari,  I,  425  in  al-Hakam  b.  'Uteibas  Version 
des  Sa'idschen  Berichtes:  „sie  (beide)  begegneten  allerlei  Volk,  indem 
sie  jemand  suchten,  der  sie  befördern  sollte,  bis  schließlich  ein  Schiff 
an  ihnen  vorbeifuhr  ...  Da  ersuchten  sie  beide  die  Leute  auf  dem- 
selben sie  zu  befördern". 

*  Buchäri,  III,  278,  1.  Bei  Ta'labi  127,  13,  wo  diese  Tradition 
zitiert  ist,  ist  dreimal  der  Dual  statt  des  Plurals  zu  lesen.  Bei  Buchäri, 
II,  356  und  Tabari,  I,  418,  8  scheint  mir  die  Tradition  etwas  poliert 
zu  sein:  „Da  stieß  er  (Chadir)  plötzlich  auf  einen  Kapitän  in  einem 
Schiffe.  Dieser  aber  erkannte  al-Chadir  und  beförderte  ihn  ohne  Fahr- 
geld." In  allen  bisher  zitierten  Versionen  wird  „Fahrgeld"  durch 
„naul"  (=  vavXov)  ausgedrückt  (vgl.  Völlers  a.  a.  0.  p.  246).  Siehe 
dagegen  unten  S.  241,  Anm.  3. 

"  Buchäri  III  278  f. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     241 

andern  hinüberführten.  Sie  erkannten  ihn  und  sprachen:  (hier 
ist)  der  fromme  Gottesknecht  I  —  wir  fragten  Sa'id  b.  Gubeir: 
(ist  damit)  Chadir^  (gemeint)?  Er  sagte:  jawohl I-  —  wir 
werden  ihn  nicht  um  Zahlung'  befördern."  In  dieser  Eigen- 
schaft als  Vorgesetzter  der  See*  wird  Chadir  seinem  Zwillings- 
propheten Elias  entgegengesetzt,  der,  unter  dem  Einfluß  einer 
alten  jüdischen  Vorstellung^,  als  Schutzengel  der  Wüsten  und 
Einöden,  sodann  auch  des  Festlandes  erscheint.  So  erklärt 
eine  auf  den  berühmten  al- Hasan  al-Basri  (starb  110*)  zurück- 
gehende Tradition",  daß  Gott  „Iljäs  über  die  Wüsten,  al- 
Chadir  aber  über  die  Meere  eingesetzt  hat".  Ahnlich  über- 
liefert al-Härit  b.  üsäma  (starb  282/895)  in  seinem  Traditions- 
werk', „daß  al- Chadir  auf  dem  Meere  und  Elisa*  auf  dem 
Festland  sich  befindet".^  „Zwei  (ewiglebende  Propheten)  gibt 
es  auf  Erden:  al- Chadir  und  Iljäs.  Was  al- Chadir  betrifft,  so 
ist  er  auf  dem  Meere.     Was  aber  seinen  Genossen  betrifft,  so 


1  Ohne  Artikel.     Vgl.  oben  S.  231.  Anm.  1. 

*  Der  eingeschobene  Satz  rührt,  wie  der  Kommentator  Ibn  Hagar 
richtig  zur  Stelle  bemerkt,  tou  Ja'la  her.  Man  sieht,  daß  damals  die 
Identität  des  frommen  Knechtes  mit  Chadir  noch  nicht  für  ausgemacht 
galt.     Vgl.  auch  oben. 

'  „bi-agrin".  „agru»"  steht  hier,  wie  Ibn  Hagar  (auch  Qastalläni) 
zur  Stelle  bemerkt,  für  „ugratun".  Es  ist  wohl  das  aramäische  „agrä". 
Ob  dies  auf  Ja'la,  der  aus  dem  "Iräq  (Basra)  stammte,  zurückgeht,  ist 
schwer  zu  sagen.     Der  Mekkaner  'Amr  b.  Dinar  gebraucht  „naul". 

*  Arabisch  mehrfach  „mukaUaf  fi'1-bahr". 

"  Vgl.  Pirqe  Aboth,  Kap.  6:  im  babylonischen  Talmud  Berachoth  3», 
Sanhedrin  98».  Siehe  die  Bemerkung  in  meiner  Abhandlung  The 
Heterodoxies  of  the  Shütes  according  to  Ibn  Hazm  II  (=  Journal  of  the 
Avierican  Oriental  Society  XXIX)  p.  48. 

*  Zitiert  bei  Ibn  Hagar  Isäha  I,  889 

'  Vgl.  über  dasselbe  Goldziher  Muhammednnische  Sttidien  II,  228. 

*  Elisa  steht  hier,  wie  sonst  oft,  für  Elias,  weil  Chadir  häufig  mit 
letzterem  identifiziert  wird.  Vgl.  meinen  Artikel  Archiv  für  Beligiom- 
tcissenschait  XIII  97. 

*  Zitiert  bei  Ibn  Hagar  ibidem  889  f. 

ArclÜT  f.  Beligionswissenschaft  YTTT  jg 


242  I-  Friedlaender 

ist  er  auf  dem  Festlande."  ^  „Was  al-Chadir  anlangt,  so  ist 
er  der  Schutzengel  des  Meeres,  und,  wenn  jemand  den  Tod  im 
Wasser  findet,  wäscht  al-Chadir  seine  Leiche  und  spricht  das 
Totengebet  über  ihn.  Elias  dagegen  ist  der  Schutzengel  der 
Wüsten."^  „al-Chadir  umkreist  die  Meere,  indem  er  den 
Irrenden  den  Weg  zeigt,  während  Iljäs  die  Berge  ^  umkreist, 
diejenigen  zurechtweisend,  die  von  einem  Gül  (Irrgeist)  ver- 
führt wurden."*  Ein  Seefahrer,  der  sich  auf  dem  Wege 
zwischen  Indien  und  China  befindet,  wird  von  zwei  auf  den 
Meereswellen  einherreitenden  Männern  besucht,  von  denen  der 
eine  sich  als  Elias  offenbart,  während  der  andere,  der  al-Chadir  ist, 
als  „der  über  die  Meeresinseln  gesetzte  Engel"  vorgestellt  wird.^ 
Als  Schutzherr  des  Meeres  beherrscht  al-Chadir  die  Seetiere 
und  kontrolliert  die  Winde."  Er  schreitet  auf  dem  Rücken 
des  Meeres  einher^  und  wird  „Durchwater  der  Meere"  tituliert.^ 
Sein  Aufenthaltsort  ist  eine  Insel  im  Meere,  auf  der  er  Gott  an- 
betet^ und  auf  der  ihn  auch  Moses  zuerst  findet.-'*'  Sein  Kultus 


*  Ibidem  890  aus  Ibn  Sabin  (starb  385  ii).  —  Ebenso  Dijärbekri, 
Ta'rih  al-hamis  I  107  (aus  Zamahiaris  [starb  638/1143]  BabV  dl-dbrär): 
„Iljäs  ist  auf  dem  Festlande,  al-Chadir  auf  dem  Meere". 

*  In  der  persischen  Version  Tabaris  ed.  Zotenberg  I  374.  Die  Version 
wurde  im  10.  Jahrhundert  angefertigt. 

'  Ob  wohl  der  Urheber  dieser  Anschauung  in  einer  gebirgigen 
Gegend  wohnte?  Sie  erinnert  an  Kaie  als  Dämon  der  Berge  oben  S.  173, 
Anm.  6. 

*  Sibt  Ibn  al-Gauzi  (oben  S.  231,  Anm.  2)  fol.  124b.  Vgl.  Lane 
Arabian  Nights  1  (1865),  p.  20.  Sibt  Ibn  al-Gauzi  gibt  als  seine  Quelle 
Wahb  b.  Munabbiha  Buch  dl-Mubtada  an. 

^  Abä'1-Fath  fol.  125»,  aus  der  Schrift  Manäqib  al-Imäm  Ahmad. 

*  Ibn  Hagar  890  aus  'Uqaili  (starb  322  h),  angeblich  auf  Ka'b 
zurückgehend. 

'  Abü'1-Fath  fol.  1276.  Vgl.  die  Darstellung  'Omäras  und  die 
äthiopische  AlexanderTersion. 

*  Curtiss  Ursemitische  Religion  III. 

®  Kisäl  oben.     Abü'i-Fath  fol.  125b.     Auch  sonst  häufig. 
'"  Mehrfach  in  den  oben  zitierten  Traditionen. 


Alexanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     243 

ist  auf  der  ganzen  Ausdeimung  der  syrischen  Küste  verbreitet, 
an  der  zahlreiche  Heiligtümer  seinen  Namen  tragen  ^  Daher 
wird  Chadir  als  al-Bahri  „der  Seeische"  bezeichnet,  während 
sein  Genosse  Elias  al-Barri  „der  Festländische"  tituliert 
wird.^ 

Wie  tief  diese  Vorstellung  von  Chadir'  in  die  islamischen 
Kreise  eingedrungen  ist,  kann  man  aus  der  Tatsache  ersehen, 
daß  sie  sich  selbst  dem  Hadith  gegenüber  zu  behaupten  ver- 
mocht  hat.     Ein   auf  Muhammed   zurückgeführter   Ausspruch 


'  Clermont-Ganneau  a.  a.  0.  p.  34,  Anna.  3. 

*  Ibn  Hagar  I  903,  7,  im  Namen  des  Ibn  Gureig  (starb  löOh); 
Abü'l-Fath  fol.  123».  [Die  Handschrift  ist  hier  falsch  gebunden, 
123»  gehört  nach  117^,  während  118»  nach  125^  folgen  sollte].  — 
Im  Gegensatz  zu  allen  eben  angeführten  Stellen  stehen  zwei  Zitate 
des  Abü'l-Fath,  die  aber  wohl  tendenziös  sind  Als  Elias  und  Chadir, 
die  4000  Jahre  auf  die  Offenbarung  der  Eröffnungssure  des  Korans  ge- 
wartet hatten,  nunmehr,  da  sie  dieselbe  aus  dem  Munde  Muhammeds 
vernommen,    zu   sterben   wünschten,    da    hielt   ihnen   Muhammed    ent- 

,  ^i  . 

gegen:  ^^^  ^f  J-Jt  ^j-'-^JLäj  JjLaJI  ^  ^i  q**^"  o'  «^^y^^  U 

,«j:s\xJ(  ^i  JC*!  „0  Chadir!  Dir  liegt  es  ob,  meiner  Gemeinde  in  den 
Einöden  behilflich  zu  sein,  und  dir,  o  Iljäs,  liegt  es  ob,  meiner  Ge- 
meinde auf  den  Meeren  behilflich  zu  sein"  (fol.  118^  aus  dem  Werke 
Kitäh  bahgat  al-anwär  des  Abü'r-Rabi'  Suleimän  b.  Däwüd  ,jJU*»JL*J( 
(sie)).      Ebenso    heißt    es     (fol.   121 1)     im    Namen     des    Scheichs    'Isä 

BjjIjJs^  .j_srJU  (jJ-JLjaJL  v^ftlX*  yirs^f  „al-Chadir  ist  über  das 
Trockene  gesetzt,  Iljäs  dagegen  über  das  Meer  und  dessen  Inseln". 
Doch  verrät  sich  diese  Tendenz,  den  unter  den  Süfis  besonders  populären 
Chadir  gegen  Elias  auszuspielen,  in  den  Worten:  ^LaJI  rj*  ji^^   y^^ 

^_i^^:viLaiL  Lc.Ltaa*(jiJ'(  „er  (Chadir)  ist  bekannter  als  Elias  und  kommt 

häufiger  mit  den  Frommen  zusammen".  —  Zahlreiche  Reflexe  des 
maritimen  Charakters  Chadirs  finden  sich  in  den  Darstellungen  der  Lebens- 
qnellsage,  die  wir  an  anderem  Orte  (s.  unten  S.  246)  zitieren  werden. 
'  Aus  diesem  Zusammenhang  Chadirs  mit  dem  Meere  dürfte  es 
sich  auch  erklären,  daß  er  es  ist,  der  von  einem  Engel  Aufschluß 
über  Ebbe  und  Flut  erhält,  Muqaddasi  ed.  de  Goeje  p.  12  (angeblich 
von  Ka'b). 

16* 


244  I-  Friedlaender 

lautet:  „Am  Beginn  des  (zweiten)  Jahrhunderts  (der  Hidschra) 
wird  keiner  von  denen,  die  sich  heute  auf  der  Erde  befinden, 
am  Leben  sein".^  Dieser  als  wohlbekannt^  bezeichnete  Hadith 
ist  ohne  Zweifel  aus  Opposition  gegen  den,  insbesondere  unter 
den  Mystikern^,  überhandnehmenden  Glauben  an  die  Fortdauer 
Chadirs  entstanden,  gegen  welchen  hervorragende  muhamme- 
danische  Autoritäten  auch  offen  protestierten.^  Da  sich  jedoch 
die  Erfinder  jenes  Hadith  unvorsichtigerweise  verklausulierten, 
indem  sie  das  ewige  Leben  nur  denen  absprachen,  die  sich 
auf  der  Erde  befinden,  so  haben  sie  ihren  Zweck  verfehlt. 
Denn  die  Chadirgläubigen    durften   ihnen  mit  Recht  entgegen- 


1  lX»-(  L^aJLc^j.^  q.*^  {J^P>^  J^  i5^  ^  '^'^'^  ^^'^  U^l>  J^-  ^'^56r 
diesen  kanonischen  Hadith  und  dessen  verschiedene  Rezensionen  vgl. 
Ibn  Hagar  I  892  und  896  (vgl.  Damiri  s.  v.  hüt  Müsa).  In  abvsreichender 
Form   bei   Abü'1-Fath    fol.  136»:    HjUw  RjLe  lXji^  iJc3\  «>ä-.  J*.  ^J^,  ^ 

G  ^ 

kXt-f  fy^\  l^xJL.  j.S>  Q,4»«  „nach  hundert  Jahren  wird  kein  einziger  auf 
der  Erde  am  Leben  sein,  der  sich  heute  auf  ihr  befindet." 

*  Abü'1-Fath  ibidem. 

'  Der  Chadirglaube  ist  besonders  unter  den  Süfis  gang  und  gäbe; 
vgl.  Ibn  Hazm  Tlie  Heterodoxies  of  ilie  Shiites  according  to  Ibn  Hazin 
I  46,  Nawawi,  Tahdib  p.  229,  9,  Ibn  Hagar  I  891,  9  und  sonst  oft. 

*  Vgl.  die  bei  Ibn  Hagar  I  895 ff.  (im  Kapitel  „Erwähnung  derer, 
die  da  glauben,  daß  Chadir  tot  ist")  und  in  Tag  al-'arüs  III  187  zitierten 
Autoritäten.  —  Es  gab  auch  andere  gegen  den  Chadirglauben  ge- 
richtete Hadithe ,  vgl.  Ibn  Hagar  ibidem.  So  sucht  Sa'räni  (starb 
973/1565),  der  mit  Chadir  häufige  Zusammenkünfte  zu  haben  behauptete, 
in   seinem  Latä'if  al-minan  (Kairo  1903)  I,  p.  86,  den  Hadith  ^^If  jJ 

_i.|jJ  Lx^i yÄs^Jf  „wäre  Chadir  am  Leben,  so  würde  er  mich  (den 
Propheten)  besuchen",  zurückzuweisen.  Auch  Abü'1-Fath,  fol.  136», 
spielt  auf  solche  Hadithe  an.  Es  gab  natürlich  ebenso  zahlreiche  Pro- 
Chadirhadithe.  Im  Namen  des  Ibrahim  at-Teimi  (starb  92  ii)  wird 
erzählt,  daß  er  den  Propheten  im  Traume  gesellen  und  von  ihm  folgenden 

Ausspruch  vernommen  habe:  oä.>.  ybJ^\  qc.  ^-Xjst^  Ui/  „alles,  was 
von  Chadir  erzählt  wird,  ist  wahr"  (Sibt  Ibn  al-Qauzi  fol.  125«,  zitiert 
von  Abü'l   Fath  fol.  124iJ  unten). 


Alezanders  Zug  nach  dem  Lebensquell  und  die  Chadhirlegende     245 

halten,  daß  Chadir  sich  nicht  auf  der  Erde,  Bondem  auf  dem 
Meere  befinde/* 


Wir  haben  oben  gesehen,  daß,  infolge  der  allmählichen 
Abstoßung  der  heidnischen  Elemente  der  Lebensquellsage  und 
der  hierdurch  bedingten  Ausschaltung  der  Figur  des  Seedämons, 
die  ursprüngliche  Identität  Chadhirs  in  Vergessenheit  geriet 
und   sich   lediglich  in  einigen   verschwommenen  Erinnerungen 


»  Abü'1-Fäth  fol.  125»  ^^Jf  Jt  ,^1/  jül  Jt  v>aO»-*^l  OJ^^^J 
ijcp^  Jx.,  ebenso  fol.  136«  Jws-j  Jx.  ^\J  wL  sJLi^f  ^^  jOc  fjjL&.lJ 
.^'^\  ■  —  Ich  möchte  zum  Schlüsse  auf  die  interessante  Stelle  bei  Ihn 
Faqih,  ed.  de  Goeje,  88flF.  (vgl.  Jäqüt  IV  455 ff.),  hinweisen,  die  mir  ein 
dunkles  Echo  der  Lebensquellsage  zu  sein  scheint.  Sie  betrifft  den 
Bericht  des  Abu  Müea  b.  Nuseix  an  den  Chalifen  'Abdalmalik  über  die 
sagenhafte  Stadt  al-Baht  in  Andalus  (vgl.  über  diese  Stadt  die  letzten 
Kapitel  in  Nizämis  Iskendemäma.  Sie  scheint  der  Beschreibung  des 
äthiopisch -christlichen  Romans  bei  Budge  Zj/ie  and  Exploits  of  Alexander 
the  Great,  London  1896,  II  457,  zugrunde  zu  liegen).  Nach  erfolgreichen 
Versuchen,  die  Stadt  zu  betreten,  „erreichte  ich  den  See  (gleichfalls 
sagenhaft)  in  der  Nähe  des  Sonnenunterganges,  und  wir  blickten  hin 
und  siehe,  da  stand  ein  Mann.  Wir  riefen  ihm  zu:  wer  bist  du?  Er 
sagte:  ich  bin  ein  Mann  von  den  Genien  (Ginn).  Suleimän,  der  Sohn 
Däwüds,  hat  meinen  Vater  in  diesem  See  angebunden,  und  ich  kam, 
um  zu  sehen,  wie  es  ihm  gehe.  Darauf  sagten  wir:  warum  stehst  du 
denn  über  dem  Wasser?  Er  sagte:  ich  hörte  eine  Stimme  und  ich 
glaubte,  daß  dies  die  Stimme  eines  Mannes  war,  der  an  diesen  See 
kommt  [Jäqüt:  der  jedes  Jahr  einmal  an  diesen  See  kommt,  und  dies 
ist  die  Zeit  seines  Kommens],  um  am  Rande  desselben  einige  Tage  zu 
beten  und  Gott  zu  lobpreisen  und  zu  lobsingen.  Da  sagten  wir:  wer 
mag  er  wohl  sein?  Er  sagte:  ich  glaube,  es  ist  al- Chadir"  (Ibn 
Faqih  91,  3 ff.).  Natürlich  ist  hier  vieles  durcheinandergewürfelt.  Aber 
irgendwie  hängt  diese  Erzählung  mit  dem  Alexanderroman  zusammen, 
da  Alexander  (Dü'1-Qamein)  als  der  Erbauer  der  Stadt  gilt  (Jäqü 
rV  355,  12)  und  die  letztere  als  Ort  der  Lebensquelle  gepriesen  wird 
(b.  das  Gedicht  bei  Jäqüt  ibidem^.  Ibn  Faqih  p.  90  erinnert  lebhaft 
an    die  Amazonen    und    deren    Geschenk.      Vgl.  noch   Jäqüt  I  268   s.  v. 


246     I-  Friedlaender  Alexanders  Zug  n.  d.  Lebensquell  u.  d.  Chadhirlegende 

der  Sage  erhielt.  Die  Verbindung  der  Chadhirlegende  mit  einer 
anderweitigen  Koransage,  in  der  der  namenlose  Held  als  frommer 
und  allwissender  Gottesmann  erscheint,  machte  es  aber  auch 
notwendig,  Chadhir  aus  seiner  untergeordneten  Stellung  als 
Koch  (oder  Diener)  Alexanders  zu  befreien  und  ihn  in  einen 
höhern,  ihm  angemessenem  Rang  zu  befördern.  Es  war  daher 
nichts  natürlicher,  als  daß  unser  Held,  der  bereits  im  Koran 
als  der  Führer  und  Mentor  des  Moses  erscheint,  nach  dieser 
Transformation  als  der  Vezier  Alexanders  emportauchte,  der, 
gleich  den  allmächtigen  Yezieren  der  orientalischen  Wirklich- 
keit, die  Geschäfte  des  Welteroberers  verrichtete  und  der 
eigentliche  Urheber  seiner  Großtaten  war.  In  dieser  Funktion 
wird  die  Gestalt  „des  Veziers  al- Chadhir"  ein  integrierender 
Bestandteil  des  orientalischen  Alexanderromans  und  nimmt 
einen  immer  breitern  Raum  in  demselben  ein,  während  der 
gewaltige  Mazedonier  allmählich  zur  Schattenfigur  herabsinkt. 
Es  ist  eine  außerordentlich  anziehende  Aufgabe,  diese  Umbildung, 
in  der  die  Dichtung  über  die  Wahrheit  triumphiert,  in  den 
mannigfaltigen  Verzweigungen  der  orientalischen  Alexandersage 
des  nähern  zu  verfolgen.  Allein  der  Rahmen  dieser  Zeitschrift 
verbietet  ein  weiteres  Eingehen  auf  diesen  faszinierenden  Gegen- 
stand. Der  Verfasser  hofft,  die  Resultate  seiner  Studien,  die 
dieses  seltsame  Verhältnis  zwischen  dem  gigantischen  Heros 
der  geschichtlichen  Wirklichkeit  und  einem  luftigen  Phantasie- 
gebilde der  Sage  ins  Klare  setzen,  denen,  die  sich  für  die  Fort- 
entwicklung des  Alexanderromans  und  die  Geistesgeschichte 
des  Morgenlandes  interessieren,  binnen  kurzem  in  Buchform 
vorlegen  zu  können. 


Zur  neuplatonischen  Theologie 

Von  Konrat  Ziegler  in  Breslau 

Firmicus  de  errate  prof.  rel.  c.  V  (p.  12  ed.  Ziegler): 

Persae  et  Magi  omnes  qui  Persicae  regionis  incdunt  fines 
ignem  praeferunt,  et  omnibus  ele^nentis  ignem  pufant  debere 
praeponi.  Hi  itaqiie  ignem  in  duas  dividunt  potestates,  naturam 
eins  ad  iitriiisque  sexus  transferentes,  et  viri  et  feyninae  simulacro 
ignis  substantiarn  depidantes.  Et  midierem  quidem  triformi 
vultu  constitiiimt,  monstrosis  eam  serpentibus  inligantes. 

Es  folgen  einige  Bemerkuncren  über  Mithras,  unterbrochen 
durch  den  Ausfall  von  2  Blättern  in  der  einzigen  Handschrift, 
die  uns  den  Traetat  erhalten  hat,  wonach  der  Text  folgender- 
maßen wieder  einsetzt: 

quae  armata  clypeo  Jorica  tecta  in  arcis  summae  vertice^ 
consecratur.  Tertia  etiam  pars  est  quae  in  asperis  secretisque 
silvarum'  agrestium  ferarum  sortitur  imperium.  Ultima  pars 
tripertitae  istius  divisionis  est  quae  libidinum  vias,  qiiae  prava 
desideria,  quae  praeposterae  ciipidiiatis  monstrat  inlecebras.  Ideo 
unam  partem  capiii  adsignant,  id  hominis  iram  qiiodammodo 
teuere  videatur.  Aliam  in  corde  statuunt  ut  diversarum  cogitatio- 
nnm  varietatem,  qiias  multiplid  intentione  concipimus,  in  modum 
silvarum  tenere  videatur.  Tertia  pars  constituitur  in  iecore,  unde 
libido  nascittir  et  voluptas.  lUic  etiim  goiitalium  seminum 
cöüecia  fecunditas.  naturalibus  stimidis  desiderium  cupiditatis 
exagitat  Quid  ergo  perficit  ista  divisio,  düigenter  aspicite,  ut 
facile  commentum  ratio  veritatis  inpugnet.     Si  dimditur  anima  et 


'  Dies  die  einzusetzende  richtige  Lesung  Alfons  Müllers  in 
seiner  ausgezeichneten  Schrift  Zur  Überlieferung  der  Apologie  des  Firmicus 
Matemiis  Tübingen  1908,  S.  69. 


248  Konrat  Ziegler 

substantia  sua  diverso  efficaciae  gener e  separatur,  dissdluto 
ordine  suo  f  incipit^  esse  quod  fuerat.  Aliud  enim  mens  est'  aliud 
ira'  aliud  lihido. 

Im  folgenden  sucht  Firmicus  zu  erweisen,  daß  durch  diese 
Dreiteilung  das  einheitliche  Wesen  der  Seele  aufgehoben  und 
damit,  da  nur  Körperliches  teilbar,  alles  Körperliche  aber 
sterblich  sei,  die  Unsterblichkeit  der  Seele  geleugnet  werde. 

Bisher  hat  man  sich  vergeblich  um  das  Verständnis  dieser 
merkwürdigen  Stelle  bemüht.  Was  die  Commentatoren  (Wower, 
Muenter,  Oehler)  geben,  ist  völlig  unzureichend,  wenn  auch 
Oehler  wenigstens  den  rechten  Weg  schon  gesehen  hat.  Neuer- 
dings haben  sich  Th.  Friedrich  (In  lulii  Firmici  Materni  de 
errore  profanarum  religionum  libellum  quaestiones,  Bonn  1905, 
p.  8)  und  Alfons  Müller  a.  a.  0.  S.  70—78  mit  der  Frage 
beschäftigt,  beide  aber  haben  sich  (ebenso  wie  ich  im  Rhein. 
Mus.  LX  419)  von  der  durch  Oehler  schon  angedeuteten 
richtigen  Lösung  hinweg  auf  Abwege  verirrt.  Friedrich  sucht, 
auf  einer  falschen  Textgestaltung  fußend,  durch  Vergleich  von 
Macrobius  Sat.  I  17,  66  der  Stelle  beizukommen.  Dieser  Ver- 
gleich ist,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  unfruchtbar,  berührt 
aber  noch  nicht  das  eigentliche  Problem.  Müllers  durch- 
geführte Deutung  wird  dadurch  genügend  charakterisiert,  daß 
sie,  in  dem  unmotivierten  Bestreben,  nationalrömische  Gott- 
heiten wiederzufinden,  zu  der  Absurdität  gelangt,  in  der 
kriegerischen  Gottheit,  quae  armata  clypeo  lorica  tecta  in  arcis 
stimmae  vertice  consecratur ,  die  Juno  Moneta  von  der  Arx  des 
Kapitols,  und  in  der  göttlichen  Vertreterin  der  lihido  Diana, 
speziell  die  dea  nemorensis  von  Aricia  zu  erkennen,  ein  Sprung, 
der  dadurch  möglich  gemacht  wird,  daß  Müller  die  "Agts^ig 
Xofjia  der  ^AtpgodCri]  Ttccvdrjßog  gleichsetzt:  haben  sie  doch  beide 
mit  Frauen  und  mit  geschlechtlichen  Dingen  zu  schaffen.   Wenn 

'  'incipit  <esse  quod  non  erat,  desiuit^  esse*  ergänzt  jetzt  sehr 
wahrscheinlich  S kutsch,  vgl.  seinen  Aufsatz  'Ein  neuer  Zeuge  der  alt- 
christlichen Liturgie'  in  diesem  Jahrgang  des  Archivs,  unten  S.  305. 


Zur  neuplatonischen  Theologie  249 

dazu  kein  Wort  der  Widerlegung  nötig  ist,  so  will  ich  be- 
züglich der  ersten  Gleichsetzung  doch  noch  darauf  hinweisen, 
daß  die  Parallelen,  durch  die  Müller  sie  zu  stützen  sucht, 
nichts  besagen  können.  Allerdings  steht  bei  Ovid  Fast.  I  262  und 
VI  183  summa  arx  zur  Bezeichnung  der  römischen  Arx,  aber 
au  beiden  Stellen  kann  nach  dem  Zusammenhang  über  die 
Lokalität  kein  Zweifel  bestehen,  und  diejenige  (von  Müller 
S.  69  beigebrachte)  Parallelstelle,  die  Firmicus  wirklich  vor- 
geschwebt zu  haben  scheint,  Lucrez  VI  749  est  ut  Athenaeis  in 
moenibus,  arcis  in  ipso  vertice  bezieht  sich  vielmehr  auf  die 
Akropolis  von  Athen.  Nach  allem  scheint  es  mir  nicht  un- 
nützlich,  wenn  ich  die  kurzen  Andeutungen,  die  ich  über  den 
wahren  Sinn  der  Stelle  in  der  Praefatio  meiner  Ausgabe 
p.  XXXI V  ff.  gegeben  habe,  hier  durch  eine  eingehendere  Inter- 
pretation ergänze,  zumal  dadurch  unsere  Kenntnis  der  in  den 
Kreisen  der  Xeuplatoniker  gepflegten  theosophischen  Speku- 
lationen eine  Bereicherung  erfährt. 

Wir  hören,  die  Perser  und  Magier  hätten  als  ürelement 
das  Feuer  angesehen  und  es  in  zwei  göttlichen  Gestalten  ver- 
bildlicht und  verehrt,  einer  männlichen,  Mithras,  und  einer 
weiblichen,  die  sie  triformi  vidtu,  dreigestaltig,  und  von  Schlangen 
wimmelnd  darstellten.  In  dem  verlorenen  Stück  muß  nach 
Besprechung  des  männlichen  Gottes  von  seinem  weiblichen 
Seitenstück  noch  genauer  die  Rede  gewesen  sein.  Wo  der 
Text  einsetzt,  wird  von  der  bekannten  pythagoreisch-platonischen 
Seelenteilung  mens  ira  lihido  =  vovs  ^vpLos  STCi&v^Ca  gehandelt, 
derartig,  daß  jeder  dieser  Teile  zu  einem  göttlichen  Wesen  in 
Beziehung  gesetzt  wird,  das  in  einer  dem  zu  ihm  gehörigen 
Seelenteil  innerlich  entsprechenden  Weise  charakterisiert  er- 
seheint. 

Die  richtige  Erkenntnis,  wie  Sache  und  Bild  zusammen- 
gehören, ist  nun  der  Schlüssel  zum  Verständnis  des  Folgenden. 
Hier  ist  Müller  gescheitert,  und   eine  ausführliche  Erörterung 


250  Konrat  Ziegler 

erscheint  darum  gerade  wegen  der  sonstigen  Gediegenheit  seiner 
Arbeit  und  ihrer  Ergebnisse  geboten. 

Alles  hängt  ab  von  der  richtigen  Auffassung  der  Worte: 
Tertia  etiam  pars  est  quae  in  asperis  secretisque  silvarum  agre- 
stium  ferarum  sortitur  imperiuni.  Ultima  pars  tripertitae  istius 
divisionis  est  quae  libidinum  vias,  quae  prava  desideria,  quae 
praeposterae  cupiditatis  monstrat  inlecebras.  Ich  übersetze  sie: 
'Das  zweite  DritteiP  ist  diejenige  (Göttin),  welche  in  der 
rauhen  Öde  der  Wälder  die  Herrschaft  über  die  wilden  Tiere 
übt^.  Der  letzte  Teil  dieser  Dreiteilung  ist  diejenige  (Gottheit), 
welche  die  Wege  der  Lüste  usw.  weist '.  Müller  nimmt  —  veranlaßt 
wohl  durch  das  später  folgende  tertia  pars  constituitur,  welches 
allerdings  diese  Bedeutung  hat  —  das  tertia  etiam  pars  für  den 
dritten  Teil  der  Reihe  und  bezieht  also  das  ganze  obige  Stück 
auf  die  Vertreterin  des  dritten  Seelenteils,  der  lihido.  Das 
nötigt  ihn,  die  vorangehenden  Worte  quae  armata  clypeo  lorica 
tecta  in  arcis  summae  vertice  consecratur  für  die  Verbildlichung 
des  zweiten  Seelenteils  in  Anspruch  zu  nehmen  und  die  Be- 
schreibung des  personifizierten  ersten  Teils  für  gänzlich  in  der 
Lücke  ausgefallen  zn  betrachten.  Abgesehen  nun  davon,  daß 
durch  diese  Auffassung  die  oben  bezeichnete  Absurdität  — 
Diana  als  mater  libidinum  —  zustande  kommt,  so  wird  auch 
die  materielle  wie  formelle  Struktur  des  sprachlich  klar  und 
kunstvoll  gebauten  Stücks  dadurch  zerstört.  Wir  haben  drei 
parallele  Relativsätze:  quae  .  .  .  consecratur  —  quae  . . .  sortitur 


*  Daß  dies  tertia  etiam  pars  heißt,  hat  Oehler  gesehen,  welcher 
erklärt  h.  e.  altera  pars  tertia;  Bursian  konjizierte  altera. 

*  sortitur  =  Xay%ävBt,:  das  ist  typischer  Ausdruck  zur  Bezeichnung 
des  Herrsch aftsgehiets  einer  Gottheit.  Hom.  hymn.  VI  2  Abel  (Aq)QoSLxri) 
ri  7tä6T]s  KvitQOv  v.Q-q8£[iva  Xiloyxe.  XIX  6.  XXIX  8.  Find  Ol.  XIV  1 
Kacpialav  vdatav  Xa^oiöai  .  .  .  Xägirsg.  Nem.  XI  1.  Eurip.  Or.  819. 
Trag.  fg.  adesp.  17  Nauck».  Callim.  hytmi.  II  43.  IV  74.  etc.  Plat.  The- 
aetet  149  B  rr]v  "Agrefiiv,  ori  äXoxos  ovßa  ttjv  Xoxsiccv  sUrixe.  Phaed. 
107D.     Phileb.  6lC.     Tim.  23 D.     Grit.  109 B.     Axioch.  371  B.  etc.  etc. 


Zur  neaplatoni8chen  Theologie  251 

Imperium  —  quae  .  . .  monstrat  inlecebras^ .  Vor  dem  zweiten 
und  dritten  stehen  die  parallelen  Vordersätze  tertia  .  .  .  est  — 
ultima  ...  est,  und  vor  dem  ersten  ist  zweifellos  (am  Ende  der 
Lücke)  ein  analoges  una  pars  est  ausgefallen.  Das  gibt  ein 
woMgefügtes  tqCxcoXov  aus  dCxcoXa  von  sprachlich  wie  sachlich 
gleichem  Wert.  Ständen  Glied  2  und  3  nicht  zueinander  in 
diesem  korrespondierenden  Verhältnis,  sondern  brächten  sie 
nur  zwei  Aussagen  über  dasselbe  Subjekt,  wie  Müller  will,  so 
wäre  das  ultima  pars  etc.  eine  sachlich  sinnlose  Anapher  von 
rein  dekorativem  Charakter.  Firmicus  ist  aber  in  der  Apologie 
—  wenn  man  die  barocke  Gespreiztheit  dieser  verkünstelten 
Sprache,  für  die  er  selbst  ja  nichts  kann,  als  eijimal  gegeben 
hinnimmt  —  ein  ganz  sorgfältiger  Stilist;  er  ist  es  auch  in 
den  literarischen  Teilen  der  Mathesis,  nur  das  Fachliche  darin 
ist  ohne  die  geringst«  Spur  von  stilistischer  Feile  zusammen- 
geschrieben. 

Weiter  folgt  in  einem  ähnlichen,  eleganten  xqCxcjXov  die 
Lokalisierung:  ira  Kopf,  mens  Herz,  lihido  Leber.  Die  Reihen- 
folge muß  dieselbe  sein  wie  im  vorigen  Absatz;  das  ist  bei 
dem  unmittelbaren  Anschluß  und  der  Übereinstimmung  des 
stilistischen  Baus  unerläßlich.  Dort  war  am  Schluß  die  Ver- 
treterin der  lihido  geschildert,  die  gerüstete  Göttin  am  Anfang 
kann  nur  der  ira  entsprechen-:  also  müssen  wir  zwischen 
beiden  die  Charakterisierung  des  göttlichen  Wesens  suchen,  das 
der  mens  seinen  Stempel  aufgeprägt  hat;  das  tertia  etiam pars  etc. 
muß  sich  auf  diese  beziehen.  Man  wende  nicht  ein,  daß  in 
dem  später  kommenden  Satz  aliud  enim   mens  est'  aliud   ira' 


'  Müller  rechnet  allerdings  noch  mit  der  alten,  unrichtigen  und 
unverständlichen  Lesung  aestimat  (libidinumj  statt  est  quae. 

*  Müller  schwankt  zwischen  mens  und  ira  Daß  es  nur  diese  sein 
kann,  beweist  abgesehen  von  der  unverkennbaren  Beziehung  der  Waffen 
zur  ira  die  typische  Parallelisierung  von  arx  und  caput:  Cic.  Tusc.  I  20 
Plato  . . .  rationem  m  capite  sicut  in  orce  posuit.  Lactant  de  opif.  dei 
VIII  3.  (Müller  S.  73).  Weitere  Parallelen  bei  Bünemann  zu  letzterer 
Stelle. 


252  Konrat  Ziegler 

aliud  libido  die  Folge  der  Müllersclien  Auffassung  günstig  sei. 
Hier  haben  wir  eine  nachlässige  Rekapitulation,  bei  der  es  auf 
die  Folge  der  Teile  nicht  mehr  ankommt;  wenn  libido  ira  mens, 
ja  wenn  nur  zwei  daständen,  das  täte  gar  nichts  zur  Sache. 
Dort  aber  lag  engste  Bezüglichkeit  vor,  die  scharfes  Gleichmaß 
des  Ausdrucks  forderte. 

Soviel  lehrt  uns  die  Logik  der  Form:  wie  steht  es  mit 
dem  Inhalt,  mit  der  Beziehung  der  göttlichen  Person  zur  be- 
züglichen Sache,  zur  mens?  Diese  Beziehung  ist  nun  aller- 
dings so  unsäglich  gequält  und  naiv  zugleich,  daß  sie  kaum 
glaubhaft  klingt.  Aber  es  steht  doch  mit  nicht  zu  über- 
bietender Deutlichkeit  da:  die  deöTtoiva  d-}]Qäv  herrscht  in 
asper is  secretisque  süvarum,  in  der  rauhen  Öde  der  Wälder, 
und  das  Herz  faßt  die  diversarum  cogitationum  varietatem,  quas 
multiplici  intentione  concipimus,  das  vielfältige  Gewimmel  der 
Gedanken,  in  modum  silvarum,  wie  wildes  Waldgebüsch ^  Die 
vielgestaltige  Wirrnis  ist  das  Tertium  comparationis.  Die  silvae 
der  Artemis  und  die  silvae  der  Gedanken  des  Herzens  sind  zu- 
einander in  Parallele  gesetzt  wie  die  Burghöhe  der  gewappneten 
Göttin  und  das  die  ira  bergende  Haupt. 

Für  das  dritte  Paar  ist  dem  Firmicus  oder  vielmehr  seiner 
Vorlage  diese  bizarre  Phantasie  freilich  ausgegangen.  Aber  es 
bedurfte  auch  keines  Spintisierens,  um  die  Verknüpfung  der 
libido  mit  ihrer  olympischen  Vertreterin  zu  begründen;  ist  diese 
doch  nichts  anderes  als  eine  Personifikation  jenes  Begriffes. 

Wir  dürfen  nunmehr  mit  Sicherheit  die  Namen  einsetzen: 
Athena  —  d-vfiög,  Artemis  —  vovg,  Aphrodite  (oder  ein  Aphro- 
dite-artiges Wesen)  —  ijtid'v^iCa  heißt  die  Trias  der  Seele. 
Wie  diese  ein  Ganzes  ist,  so  sind  auch  jene  drei  Gottheiten 
zu  einer  Einheit  zusammengeschmolzen,  deren  partes  sie  ja 
geradezu  genannt  werden.     Damit  ist  die  Verbindung  mit  der 

*  silvae  =  Wälder  in  eigentlicher  Bedeutung,  nicht  =  vXtj,  wie 
Müller  meint;  nur  der  Singular  silva  könnte  das  heißen,  b.  Marie  Gothein 
im  Rhein.  Mus.  LXIII  476. 


Zur  neuplatonischen  Theologie  253 

vor  der  Lücke  bezeichneten  dreigestaltigen  Göttin  hergestellt. 
Sie  ist  es,  die  diese  drei  göttlichen  Wesen  in  sich  faßt,  sie 
ist  es,  in  der  als  Ganzheit  die  philosophisch-theologische  Spe- 
kulation eine  Verbildlichung  —  um  zunächst  diesen  Ausdruck 
zu  brauchen  —  der  Seele  erblickt  hat,  deren  Teile  jenen  Teil- 
gestalten wesensverwandt  sind.  Nach  seiner  Gewohnheit  (vgl. 
Osiris,  Isis,  Typhon  im  Kap.  II,  Attis  Kap.  III)  hat  unser 
Apologet  zuerst  von  der  Gottheit  und  ihrem  Kult,  sodann  von 
der  seitens  der  Verteidiger  der  alten  Kulte  gegebenen  physica 
ratio,  der  natürlichen  oder  philosophischen  Deutung  der  reli- 
giösen Gebilde  gesprochen. 

Hierüber  zur  Klarheit  gelangt,  haben  wir  der  Frage  näher 
zu  treten,  was  das  für  eine  Gottheit  ist,  der  man  diese  psycho- 
logische Deutung  gegeben  hat,  und  in  welche  Gedankenkreise 
diese  Spekulation  gehört. 

Der  ganze  Charakter  der  vorgetragenen  Lehre  weist  sogleich 
auf  die  Neuplatoniker,  gegen  die  ja  so  vielfach  in  dem  christ- 
lichen Traktat,  einmal  unter  Anführung  eines  ihrer  philo- 
sophischen termini  (cap.  VII  p.  23,  2  tbv  äfisQLörov  xai  rbv 
^snsQi6^evov  vovv),  ein  andermal  auch  mit  Namensnennung 
gegen  ein  bestimmtes  Werk  (cap.  XIII  p.  33,  6  Porphyrios^ 
negl  r^g  ix  XoyCav  cpiXo6o(flas)  geeifert  wird.  Und  wirklich 
finden  sich  bei  ihnen  eine  Reihe  von  Anknüpfungspunkten,  die 
es  möglich  machen,  die  von  Firmicus  fragmentarisch  überlieferte 


*  Gegen  diesen,  den  er  einst  (im  Prooemium  des  VII.  Buchs  der 
Mathesis)  noster  Porphyrius  genannt  hatte,  scheint  sich  auch  an  unserer 
Stelle  der  Nachweis  zu  richten,  daß  die  Dreiteilung  der  Seele  mit  ihrer 
Einheit  unvereinbar  sei.  Denn  Porphyrios  gerade  hat  sich  bemüht, 
durch  eine  sublimere  Auffassung  dieser  'Teilung'  den  Begriff  ihrer  Ein- 
heit zu  retten  (Zeller  III  2'  S.  653  ff.).  Firmicus  ist  freilich  außerstande, 
wirklich  auf  die  Frage  einzugehen:  er  begnügt  sich  damit,  die  alten, 
abgenutzten  und  unzulänglichen  Argumente  zu  wiederholen.  Müller 
zitiert  Tertull.  De  anima  c.  14;  direkte  Beziehung  hat  die  Firmicus- 
stelle  zu  Amob.  YII  5. 


254  Konrat  Ziegler 

Lehre  als  ein  neues  Detail  in  den  Bau  der  neuplatonischen 
Philosopheme  einzufügen. 

Wir  lenken  unser  Augenmerk  zunächst  aaf  Proklos.  Wenn 
dieser  —  der  als  Quelle  natürlich  schon  aus  chronologischen 
Gründen  ausscheidet  —  auch  in  der  Ansetzung  seiner  Drei- 
heiten  nicht  konstant  ist,  sondern  sie  nach  eigener  Willkür 
und  nach  dem  Bedarf  des  Augenblicks  variieren  läßt,  so  daß  es 
im  allgemeinen  nicht  angeht,  seine  Anschauungen  ohne  weiteres 
in  frühere  Perioden  des  Neuplatonismus  hinaufzuprojizieren  ^, 
so  bietet  er  doch  zu  unserer  Stelle  so  deutliche  Parallelen,  daß 
man  in  diesem  Falle  sicher  sein  darf,  nicht  seine  eigenen 
Kombinationen  vor  sich  zu  haben,  sondern  eine  mehr  oder 
"weniger  getreue  Wiedergabe  solcher  Vorbilder,  wie  sie  auch 
Firmicus  benutzt  hat. 

Im  System  des  Proklos  erscheint  als  zweite  Trias  der 
d-Eol  ijye^ovLxol  oder  acpo^oia^arixoC,  der  ^  ähnlichmachenden' 
Götter,  welche  Mas  Geschäft  haben,  dem  Sinnlichen  das  Bild 
der  Idee  aufzuprägen'  (Zeller,  d.  Philos.  d.  Griechen  III  2^,  805), 
eine  Dreiheit  von  weiblichen  Gottheiten,  dazu  bestimmt,  'die 
Ströme  des  Lebens  in  seine  einzelnen  Teile  zu  leiten',  darum 
^aoTtoibg  und  ^aoyövog  genannt  (Hauptstelle  Plat.  theol.YI  11; 
vgl.  besonders  p.  373,  40  [ed.  Portus]  ...  17  vXrj  ^aoyövog  iv 
sttvty  nsQLsixs  tag  nrjyäg  tijg  ts  ccQSTfjg  xai  rfjg  ^v;u^g;  über 
Prokl.  in  Grat.  s.  unten).  Die  einzelnen  Glieder  dieser  Trias 
{[lovddsg)  nennt  Proklos  a.  a.  0.  "AQTe^ig  Koqixi],  ÜSQöscpövr], 
lA&rjvä  KoQixij.  Dies  seien  die  Namen,  welche  die  griechischen 
Theologen  anführten,  die  ßccQßaQoi  hätten  statt  dessen  die 
Namen  ^Exdrr},  ^v^^,  ccqeti]  (372,  4fiF.).  Diese,  hier  nur  bei- 
läufig von  Proklos  eingefügte  Notiz  führt  uns  zu  verwandten 
Gleichungen  hinüber.  Mit  den  ßccQßaQOi  hat  Proklos  die  so- 
genannten chaldäischen  Theologen  im  Auge,  deren  theosophische 

^  Auf  diesen  Gesichtspunkt  macht  mich  Herr  Prof.  Kroll  auf- 
merksam, der  die  Güte  hatte,  diesen  Absatz  der  vorliegenden  Abhandlung 
noch  im  Manuskript  zu  revidieren. 


Zur  neuplatonischen  Theologie  255 

Spekulationen  seit  Porphyrios  und  lamblichos  eine  bedeutsame 
Rolle  in  den  neuplatonischen  Systemen  spielten.  In  der  neu- 
platonischen  Literatur,  welche  sich  mit  der  Ausdeutung  der 
sogenannten  chaldäischen  Orakel  befaßt  —  die  selbst,  wie 
Kroll  hervorhebt,  nur  Keime  zu  diesen  Vorstellungen  enthalten, 
noch  nicht  die  systematisch  entwickelten  Dreiheiten  —  erscheint 
Hekate  regelmäßig  wie  in  der  zitierten  Notiz  des  Proklos  als 
dxQÖtrjg,  führende  [loväg  der  rgiäg  ^aoyövog,  deren  fießöxTjg 
die  i>vxi]  ccQxt>ii]  ist,  während  die  ägerri  ägif-^V  ^^^  nsgäzoGig 
die  Reihe  beschließt.  So  liegt  die  nriyr]  ^vx^g  in  der  Hekate. 
Vgl.  die  weiteren  Belege  bei  Kroll,  de  orac.  Chaldaicis,  Breslau 
1894,  p.  28^  (Bresl.  phUol.  Abhdlg.  VII  1).  Dazu  Augustin. 
serm.  242,  7. 

Es  ist  klar,  daß  es  diese  lebenschaffende  Gottheit  der 
Chaldäer  und  Neuplatoniker,  die  'Quelle  der  Seele*,  ist,  von 
der  Firmicus  an  unserer  Stelle  gesprochen  hat.  Etwas  Neues 
aber  gegenüber  den  angezogenen  Parallelen  ist  bei  Firmicus 
die  ausgeführte  Beziehung  der  einzelnen  Gestalten  der  gött- 
lichen Trias  auf  die  einzelnen  Seelenteile.  Um  diese  Korre- 
spondenz ermöglichen  zu  können,  ist  die  Trias  offenbar  in 
dieser  Weise  zusammengestellt  und  gedeutet,  verschieden  von 
der  chaldäischen  Trias,  die  nur  die  eine  göttliche  Person  Hekate 
gibt,  abweichend  aber  auch  von  der  bei  Proklos  a.  a.  0.  genauer 
behandelten  griechischen  Version.  Mit  dieser  Trias  deckt  sich 
die  des  Firmicus  zwar  in  den  beiden  Gestalten  der  Athena 
und  Artemis  —  über  die  dritte,  Persephone,  s.  unten  — , 
doch  die  Deutung  ist  eine  verschiedene.  Bei  Proklos  sind 
die  beiden  noch  nicht  eigentlich  differenziert  und  ihre 
Funktionen  nicht  scharf  voneinander  getrennt.  Gemäß  der 
platonischen  Etymologie  (Cratyl.  406 B)  bezeichnet  Proklos  ein- 
mal dL\e"AQrEnig  KoQixr}  als  ccQsrfig  idroga  (p.  372,  28),  während 
sonst  regelmäßig  dieses  und  ähnliche  Prädikate  der  'Ad-rjvä 
KoQixij  gegeben  werden:  372,  14  tfjg  olrjg  ägsriig  altCav;  38 
vovg  9£tog  xai  axQccvTog,   iv  ivl  rag  oXag   ccQ6Täg  ijysnovLxag 


256  Konrat  Ziegler 

nsQisxcov;  373,  7  rö  fisv  toivvv  rfjs  6o(pCag  TiQÖdtjlov  oti  r^g 
'Jld-rivag  k6ti  0'6vd-rjfia  tcccI  rijg  ccQsrfjs  tb  axQÖratov;  11  tj  tcav 
ccQST(3v  7Ca6(Sv  7CQC3tovQ'yog  altCa  etc.' 

Besser  als  die  weitschweifigen  Ausführungen  der  'plato- 
nischen Theologie'  informieren  die  knapperen  und  klareren  Dar- 
legungen des  Proklos  über  diese  Trias  im  Kommentar  zum 
Platonischen  Kratylos.  Ausschließlich  und  konsequent  wird 
hier  (p.  95,  4  und  105,  22  Pasquali)  der  Athene  die  agsT-^  zu- 
gewiesen, die  ja  auch  in  der  chaldäischen  XQiäg  die  dritte  Stelle 
einnimmt.  Da  theol,  Plat.  372,  42  dafür  ävdQsla  gesetzt  ist 
(Athena  heißt  cpiXo^dXsiiog  .  .  .  xal  r^g  olrjg  avdgsCag  sq^ogog; 
q)iXon6XB^og  steht  auch  372, 15),  so  ist  damit  eine  Brücke  zu  der 
kriegerischen  Burggöttin  des  Firmicus,  die  die  ira  vertritt,  ge- 
schlagen. Ferner  wird  die  iiso'ötrjg  Persephone,  die  il^vxi^'f}  ccQXVt 
{ij^vxi}  die  chaldäische  ^sßorrjg)  regelmäßig  als  erzeugendes  Prinzip 
den  beiden  sie  umgebenden  Göttinnen  Artemis  und  Athena,  deren 
Jungfräulichkeit  betont  wird,  gegenübergestellt:  95,  2  xatä  dh 
tijv  ^EßrjV  dvvccniv  xal  ysvvrjnxrjv  xcov  oXov.  cf.  95,  9.  106,  5 
od'Ev  dij  xccl  rj  KÖQr]  xatä  fihv  tijv  "Agtsfiiv  xiiv  hv  euvrij 
xccl  tijv  y4d"r]väv  nccQd'Svog  Xeystai  pisvsLv,  xara  de  f^v  r^g 
ÜEQösqiövrjg  yönfiov  dvvccfiiv  xai  TCgoöisvat  xccl  ßvvdnxeG&ai 
rq)  XQlxca  dr]fiiovQyq)  (d.  i.  Pluton)  xal  tCxxsiv  . .  .  Dazu  stimmen 
etliche  Stellen  der  Plat.  theol.:  373,19  xb  ds  ^(paxxsöd^ai  tov 
(fSQO^svov  xal  xfig  ysvsßscog  ilfvxrjg  ccv  sirj  dicccpSQÖvtcog  oixslov. 
314,21  ilfvxfj  yocQ  dij  XQoG^xei  xb  yevväv,  34  Sib  xal  nsQöscpövrj 
xaXatxai,  öiä  xb  i3taq)(o^Evov  dyg  slgrixai  tfig  yeviöBcog  xal 
tG)v  (pegofievcov.  iTCsl  xal  xolg  (ihv  axgoig  xb  dfiiyhg  1]V 
TtQOßfjxov  xal  xb  nagd-sviov,  xq)  öh  ^£6g),  ngoöSoig  x^^^Qovxl  xal 
3CoXXajtXa0ia6fiolg ,  r}  ^liig  olxela  xal  ^  x&v  ysvvrjxäv  ijcaifrj. 


'  Über  die  enge  Verwandtschaft  zwischen  Athena  und  Artemis  vgl. 
Prokl.  in  remp.  I  p.  18,18  Kroll:  O'^xoüv  &nq><o  (ihv  itatdeg  Jiog,  fifiqpo) 
naq&ivoi,  TtgoöKsiöd-a}  dh  ort  kccI  ä^cpco  (pcoacpOQOi,  sl  xal  i]  ^ikv  ms  slg  qprö? 
äyovou  Tovs  u(pavEls  loyovg  x^g  (pvcemg  iati  (p(ooq>6Qog,  i]  Sk  atg  t6  vosqov 
&vdntovaa  tp&g  talg  i/jvjjafg  ktX. 


Zur  neuplatonisclien  Theologie  257 

Hiermit  tritt  diese  nsöötris  Persephone  dem  dritten  Seelenteü, 
der  libido  näher,  wie  Athena  der  ira.  Vergeblich  aber  suchen  wir 
nach  einer  solchen  Verbindung  für  Artemis,  die  Führerin  der 
Trias.  Von  ihr  heißt  es  nur  in  Crat.  105,  24:  xal  iiaXiöxa 
T&v  tQi&v  -fj  nQCitri  icfaQfiö^ec  trj  rfis  ^£ov  7CQo6d<p,  xaO''  i]v 
kv  xfi  t,Gioy6v(a  räv  aqyßiv  tgiciSL  xriv  vjtaQ^tv  eXa^sv,  slrs 
'Exutixi}  jCQOöayoQSvoiisvTj  d-sörtjs^  ^S  ol  dsovQyoC  (die  Chaldäer) 
qpatftv,  «l'r«  "Aqxs^ls^  ag  'Oq^svs-  Für  sie  hat  freilich  auch 
der  Gewährsmann  des  Firmicus  nur  einen  rein  äußerlichen  und 
gewaltsamen  Zusammenhang  mit  der  mens  zu  konstruieren 
gewußt. 

So  fehlt  von  der  Lehre  des  Proklos  zu  der  des  Firmicus 
nur  noch  ein  Schritt:  die  Seele  mußte  nicht  nur  aus  dem 
{leöov  yJvxQov  Persephone,  sondern  aus  der  ganzen  Trias  ab- 
geleitet und  hierbei,  in  Fortbildung  der  vorhandenen  Keime, 
die  durchgeführte  Parallelisierung  der  altbekannten  Seelen- 
trichotomie  mit  der  dreifachen  Gliederung  der  rptdg  t,G)oy6vos 
vollzogen  werden.  Irgendein  Neuplatoniker  hat  diese  Kom- 
bination gemacht,  und  Firmicus  ist  ihm  gefolgt.  Seinen 
Namen  weiß  ich  nicht  zu  nennen;  man  mag  am  ehesten  an 
lamblichos^  tceqI  t^x^S  denken;  Porphyrios  scheint  es  diesmal 
nicht  zu  sein  nach  Macrob.  Sat.  I  17,  70. 

Ein  Moment  spielt  bei  dieser  Kombination  noch  mit,  das, 
wie  es  scheint,  auf  den  Geist  unseres  Neuerers  befruchtend  ge- 
wirkt hat:  die  einzelnen  Göttinnen  haben  nicht  nur  Bezug  auf 
die  Seelenteile,  sondern  auch  auf  die  körperlichen  Organe,  in 
denen  diese  wohnen.  Nur  auf  diesem  Wege  konnten  Artemis 
und  mens  glücklich  zusammengebracht  werden,  und  für  die 
Gleichung  Athene  —  ira  ist  die  Parallele  arx  —  Caput  min- 
destens  von   gleichem   Belang  wie    die   innere  Verwandtschaft. 

*  Auf  ihn  führt  Niggetiet  De  Comelio  Labeone,  Münster  1908,  auch 
die  Orakeldeutungen  bei  Arnobius  zurück  (nach  Mitteilung  Krolls;  mir 
selbst  war  die  Dissertation  noch  nicht  zugänglich;  vgl.  die  Besprechung 
von  Tolkiehn  in  der  Wchschr  f.  kl.  Phil.  1909,  432). 

Archiv  f.  ReligioDSwiBsenschaft  Xm  17 


258  Konrat  Ziegler 

Was  bedeutet  und  woher  schreibt  sich  diese  Art  zu  kon- 
struieren? —  Wir  finden  Analoges  über  die  verglichene  'chal- 
däische'  Trias  'Exdti]  ipv%ri  aQStri  (oben  S.  254)  gesagt;  ihre 
^ovädsg  werden  aus  einzelnen  Körperteilen  der  Führerin  der 
Trias  Hekate  abgeleitet.    Ein  Orakel  (Psell.  1136  a.  Kroll  p.  28) 

lautet: 

AaLfjg  iv  Xayößiv  'Exdtrjg  aQSXTig  nsle  mqyri 

"Evdov  oXri  ^C^vovßa  tb  xccq&bvov  ov  TCQoulöa. 

Dazu  bemerkt  Psellos:  ocal  sv  ^hv  rolg  ds^iolg  avtf}s 
IIBQB61   tid-aaöL  xriv  Tcrjyiiv  r&v  ijjvx&v. 

Auf  eine  andere  Variation  der  rgiäg  ^a)oy6vog,  in  der  die 
(pvöig  als  ^oväg  gestanden  haben  muß  (cf.  p.  256  Anm.  und  unten 
im  Macrobiusbericht  S.  268  die  natura),  bezieht  sich  der  Vers 
(Prokl.  in  Parm.  821,  5.     Kroll  p.  29): 

VGJTOig  S*  a^Kpl  d'säg  (pv6ig  ccTtXstog  ^(OQTjtccL. 
Weiteres  derart  bei  Kroll  a.  a.  0.;  vgl.  auch  Procl.  in  Crat.  92,  2, 
Die  Ähnlichkeit  liegt  auf  der  Hand,  aber  es  ist  doch  gewisser- 
maßen eine  ümkehrung  zu  konstatieren:  hier  werden  die  Kräfte 
und  Erscheinungen  der  sinnlichen  Welt  {tj^vxr}  ägsrij  (pv6ig  etc.^ 
hergeleitet  aus  den  Körperteilen  einer  kaum  noch  als  Per- 
sönlichkeit empfundenen  Göttin;  bei  Firmicus  sind  die  einzelnen, 
noch  durchaus  individuell  gefärbten  göttlichen  Gestalten  die 
Xfjyai  der  in  gewissen  menschlichen  Körperteilen  stationierten 
Seelenteile.  Verschiedene  Gottheiten  als  Schöpfer  verschiedene! 
(physischer  oder  psychischer)  Teile  oder  Eigenschaften  des 
Menschen:  damit  rühren  wir  an  einen  Vorstellungskreis  von 
weitester  Verbreitung,  in  den  als  wichtigstes  Material  die  zahl- 
reichen Variationen  des  Märchenmotivs  von  guten  oder  bösen 
Dämonen  gehören,  die  dem  neugeborenen  Kinde  ihre  guten 
oder  schlimmen  Gaben  mit  auf  den  Weg  geben.  In  der  philo- 
sophischen Umbildung  des  Motivs  treten  Elemente  an  die  Stelle 
der  Gottheiten,  und  das  bekannte  Dogma  von  der  Erschaffung 
des  Menschen,  des  Mikrokosmos,  aus  den  gleichen  vier  TeileUj 
die  den  großen  Kosmos  bilden,  führt  gerade  auch  unser  Fir- 


Zur  neuplatonischen  Theologie  259 

micus,  der  Heide  wie  der  Christ,  ständig  im  Munde  (s.  meinen 
Kommentar  zum  Anfang  Ton  de  errore).  Ein  Gebiet,  wo  dieses 
allgemein -ethnische  Motiv  besonders  üppig  gewuchert  hat,  ist 
kürzlich  wieder  behandelt  worden  von  Max  Foerster  'Adams 
Erschaffung  und  Namengebung'  in  dieser  Zeitschrift  XI  477. 
Speziell  auf  unsere  Frage  führt  uns  zurück  der  Nachtrag,  den 
Wuensch  zu  dem  genannten  Aufsatz  ebenda  XII  160  gibt.  Er 
berichtet  über  eine  Erzählung,  die  sich  in  der  Excerpten- 
sammlung  des  Maximos  Planudes  ^  findet,  worin  neben  Hephaistos 
als  Menschenschöpfer  sieben  andere  Gottheiten  mitwirken  und 
einzelne  Teile  seines  Körpers  bilden.  Unter  ihnen  ist  Aphrodite, 
welche  ihm  die  Leber  gibt:  unde  libido  nascitur  et  voluptas, 
fahren  wir  mit  Firmicus  fort.  Diese  Erzählung  ist,  wie  Wuensch 
bemerkt,  eine  nach  platonischem  Muster  gemachte  Fortbildung 
des  Hesiodischen  Pandoramythos  (Op.  60  ff.).  Dort  sind  neben 
dem  Bildner,  dem  Feuergott  Hephaistos,  drei  andere  Gott- 
heiten beteiligt,  Athene,  Aphrodite,  Hermes.  Daß  Aphrodite 
auch  hier  das  Amt  hat, 

xai  xuQiv  äiKpLxiai  xstpakf^  .  .  . 

xal  :i6d^ov  ocQyaXsov  xat  yvio/.ÖQOvs  pisXsdcövag, 
liegt  notwendig  in  ihrem  Wesen  und  begründet  keinen  Zu- 
sammenhang, um  so  mehr  als  Athenes  und  Hermes'  Funktionen 
nichts  mit  denen  der  anderen  Monaden  des  Firmicus  zu  tun 
haben.  Aber  daß  Aphrodite  und  Athene  hier  wie  da  zu 
gleichem  Wirken  vereinigt  sind,  und  daß  eine  göttliche  Dreiheit 
zum  Behuf  des  Schaffens  dem  Gott  beigesellt  ist,  dessen 
Wesen  das  Feuer  ist,  wie  bei  Firmicus  die  tgiäg  taoyövog 
mit  Mithras  verbunden  erscheint,  das  ist  vielleicht  nicht  mehr 
Zufall,  und  im  ganzen  haben  wir  hier  sicherlich  eine  der 
Wurzeln  bloßgelegt,  aus  der,  wenn  auch  durch  viele  Zwischen- 
glieder, die  Version  des  Firmicus  hervorgewachsen  ist. 

'  Gedruckt  von  E.  Piccolomini  in  der  Riv.  di  filol.  11  (1874),  p.  152, 
wie  ich,  einem  Hinweis  von  R.  "Wuensch  folgend,  nach  S.  Kugeas,  Ana-- 
lecta  Planudea,  Byz.  Ztschr.  XVIII  (1909)  S.  126,  feststellen  konnte. 


260  Konrat  Ziegler 

Ein  Sondergebiet,  auf  dem  diese  Kombinationen  vorzüglich 
grassiert  haben,  anzuschneiden  erfordert  nicht  so  sehr  die  Sache, 
als  der  Schriftsteller,  der  sie  berichtet.  Wir  können  sagen, 
wie  er  dazu  kam,  jene  uns  sonst  nirgends  belegten  Detailzüge 
neuplatonischer  Psychologie  in  sein  Werk  aufzunehmen:  aus 
seiner  astrologischen  Praxis  war  Firmicus  gerade  die  Vorstellung 
einer  Sonderbeziehung  zwischen  einzelnen  Körperteilen  des 
Menschen  und  einzelnen  Göttern  geläufig.  Bouche-Leclercq 
hat  in  seinem  großen  Werk  L'astrologie  grecque  (Paris  1899) 
ein  interessantes  und  auch  amüsantes  Kapitel  diesem  Thema 
gewidmet  (X.  Proprietes  et  patronages  terrestres  des  astres  p.  311). 
Es  gibt  kaum  einen  Kreis  irdischer  Erscheinungen,  dessen 
einzelne  Glieder  die  Astrologie  nicht  unter  die  himmlischen 
Lenker  aufgeteilt  und  dem  Patronat  der  einzelnen  unterstellt 
hätte.  Minerale,  Metalle,  Edelsteine,  Farben,  Pflanzen  Und 
Tiere  werden  wie  das  All  und  die  Zeit  teils  nach  mechanischen, 
mehrenteils  aber  nach  raffiniert  erklügelten  Gesichtspunkten 
klassifiziert;  so  bildet  natürlich  auch  der  Mensch,  die  Welt  im 
kleinen,  ein  Hauptstück  in  diesem  Kapitel,  und  zwar  sowohl 
in  der  Zodiakalastrologie  als  in  der  planetarischen.  Beide 
Disziplinen  haben  den  Menschen  der  Zahl  ihrer  Götter  gemäß 
zerlegt,  die  einen  in  zwölf,  die  andern  in  sieben  Teile.  Die 
ersten  verfahren  dabei  rein  äußerlich,  indem  sie  "^so  zu  sagen 
den  Menschen  über  den  aufgerollten  Tierkreis  ausbreiten' 
(B.  L.  319),  so  daß  der  Kopf  in  den  Widder,  die  Füße  in  die 
Fische  zu  liegen  kommen.  Qualitativ  nicht  komplizierter  wird 
die  mit  Hilfe  der  'Dekane'  (der  Herren  von  je  10  Graden) 
zuwege  gebrachte  Teilung  in  36  Teile  gewesen  sein.  Wahre 
Orgien  aber  hat  die  ausschweifende  Phantasie  gefeiert  in  der 
Erfindung  immer  neuer,  feinster  Beziehungen  bei  der  Auf- 
teilung des  äußeren  und  inneren  Menschen  unter  die  sieben 
Planeten.  Hier  finden  sich  in  der  Art  der  Vergleichung  von 
Gott  und  Körper-  oder  Seelenteil  reichliche  Analogien  zu  Fir- 
micus.    Erwähnt   sei   aus   diesem   unendlichen    Wust    der    uns 


Zur  neuplatonisclien  Theologie  261 

besonders  interessierende  Proklos,  der  (in  Tim.  p.  348a  =  III 
355,  II ff.  Diehl)  gemäß  seiner  spirituellen  Richtung  das 
Körperliche  ignoriert  und  die  mit  leichter  Mühe  gesiebenteilte 
Seele  {^eoQrjXLXöv,  tcoXltixÖv,  ^vfiosidsg,  alöd-rjTixov ,  km- 
■O'u/iTjTixdv,  qicovrjTLxöv,  (pv6Lx6v)  den  Planeten  unterwirft.  Daß 
das  iyCLd^v^Tjtixbv  der  Aphrodite  zufällt,  welche  bei  Demo- 
philos  die  Galle  (die  in  der  Leber  sitzt),  im  Dialog  Hermippos 
die  Geschlechtsteile  und  Umgebung  regiert,  versteht  sich;  auch 
Ares,  die  männliche  Athena,  als  Repräsentant  des  ^vfioeiöhg 
war  selbstverständlich;  wie  er  denn  bei  anderen  zu  den  er- 
regenden Organen  des  Körpers  in  Beziehung  gesetzt  wurde. 

Firmicus  hat  in  der  Mathesis  nur  vom  Standpunkt  der 
Zodiakalastrologie  über  die  Verteilung  des  Körpers  unter  die 
Zeichen  des  Tierkreises  gehandelt  (II  24  =  72,  24  Kr.  Sk.),  gewiß 
aber  ist  ihm  auch  die  melothesie  planetaire  nicht  unbekannt 
gewesen.  In  Erinnerung  an  diese  Studien,  die  er  mit  unzu- 
länglichem Können,  aber  mit  heißem  Eifer  betrieben  hatte, 
brachte  er  mit  noch  wachem  Interesse  in  der  Apologie  jene 
obskure  SpeziaLnotiz  über  die  göttlichen  Urbilder,  Quellen  und 
Beherrscher  der  einzelnen  Seelenteile  und  ihrer  Sitze  aus  einem 
Autor,  der  die  neuplatonische  Lehre  von  der  rgiäg  t,cioy6vo<s 
mit  dem  zuletzt  besprochenen  körperlicheren  Kombinations- 
prinzip kontaminiert  hatte.  Freilich  tat  er  es  nur,  um  —  nicht 
das  einzigemal  in  der  Apologie  —  zu  verhöhnen,  was  er  einst 
verehrt  hatte. 

Aber  auch  einen  direkten  Gewinn  wirft  diese  Betrachtung 
für  unsere  Stelle  noch  ab.  Die  Darstellung  der  Seelendrei- 
teilung im  Firmicus  weicht  nämlich  in  zwei  Beziehungen  von 
der  üblichen  Lehre,  wie  sie  seit  Piaton  ständig,  noch  von 
Plotin  und  lamblichos  vorgetragen  wird,  ab.  In  dieser  herrscht 
erstens  stets  die  Anordnung  vovg,  -^-v/iög,  hm^vnCa,  während 
Firmicus  die  beiden  ersten  Glieder  vertauscht,  und  zweitens 
ist  auch  bezüglich  der  Sitze  dieser  Seelenteile  dieselbe  Um- 
kehrung vorgenommen:  Piaton  ordnet  vovg  —  Kopf,  und  &v^bs  — 


262  Konrat  Ziegler 

Herz,  Firmicus  dagegen  ira  —  Kopf,  und  tnens  —  Herz.  Die 
Parallelstellen,  durch  die  Müller  (der  übrigens  S.  73  dieses 
Verhältnis  genauer  aufklärt)  zeigt,  daß  auch  anderwärts  eine 
von  Piaton  abweichende  Stationierung  vorkommt,  können  nichts 
beweisen,  da  an  allen  diesen  Stellen,  wie  Müller  selbst  bemerkt, 
nicht  von  der  platonischen  Trichotomie,  sondern  von  anderen 
psychologischen  Theorien  die  Rede  ist.  Sein  erklärender  Hin- 
weis 'auf  die  Wirkungen,  die  die  ira  am  Kopf  hervorbringt', 
genügt  auch  nicht  zur  Erklärung.  Diese  ergibt  sich  aus  der 
erkannten  Identität  der  die  Seele  repräsentierenden  Götter- 
dreiheit  mit  der  tQuäg  ^cjoyövog  Artemis- Köre -Athena.  Der 
Mann,  der  die  Gleichsetzung  vollzog,  konnte  die  avÖQsCas 
eg)OQog  Athena  nicht  wohl  anders  als  mit  dem  d-v^iög  iden- 
tifizieren. Damit  aber  war  ihm  sogleich  auch  die  Versetzung 
des  d'v^bg  in  den  Kopf  vorgezeichnet,  einmal  durch  die  Be- 
ziehung Caput  —  arx,  denn  Athena  ist  ja  die  Burggöttin  xar' 
s^ox^jv,  und  zweitens  wohl  noch  mehr  durch  den  nicht  aus- 
gesprochenen^, aber  sehr  nahe  liegenden^,  sicher  wirksam  ge- 
wesenen Gedanken  an  die  Geburt  Athenas  aus  dem  Haupte  des 
Zeus.  Die  Reihe  Athena,  Kriegs-  und  Burggöttin  —  Mut  — 
Haupt  gefiel  dem  glücklichen  Finder  zu  wohl,  als  daß  er  um 
ihretwillen  nicht  leichten  Herzens  von  der  hergebrachten 
Doktrin  hätte  abweichen  sollen.  Es  könnte  nun  scheinen,  daß 
er  dieser  wenigstens  in  der  Ordnung  der  körperlichen  Zentren 
treugeblieben  sei,  und  um  die  Reihe  capiit  —  cor  —  iecur 
retten  zu  können,  die  ira  und  die  mens  umgestellt  habe.  Viel 
wahrscheinlicher  aber  ist  es  mir,  daß  nicht  die  Ehrfurcht  vor 
der  Überlieferung  ihn  dazu  bestimmt  hat,  sondern  der  oben 
bei  dem  astrologischen  Abstecher  erkannte  Grundsatz,  beim 
Verteilen  der  Organe  des  Menschen  an  die  entsprechenden 
Götter  von  oben,  beim  Kopfe  anzufangen.     In   der  S.  259  er- 


'  Er  könnte  übrigens  in  der  Lücke  gestanden  haben. 
'  Muller  denkt  (S.  77)  auch  sogleich  daran. 


Zur  neaplatonischen  Theologie  263 

wähnten  Erzählung  bei  Maximos  Planudes  ist  er  auch  be- 
folgt: Zeus  als  Bildner  des  Kopfes  eröffnet  den  Reigen,  es 
folgen  Hermes  —  Zunge,  Athene  —  Schultern  und  Hände, 
Poseidon  —  Brust,  Ares  —  Herz,  Aphrodite  —  Leber ^,  und 
nur  der  siebente,  Eros,  der  die  Lippen  schafft,  fällt  aus  der 
Rolle.  Eben  dieses  Prinzip  hatte  schon  auch  den  Finder  der 
üblichen  platonischen  Trichotomie  geleitet,  und  er  hatte  den 
äußerlichen  Abstieg  vom  Kopf  zur  Leber  mit  dem  qualitativen 
Niedersteigen  vom  Denken  zum  Begehren  zusammengehen 
lassen.  Nicht  konservativer  Anschluß,  sondern  Zurückgreifen 
auf  denselben  naiven  Grundgedanken  ist  es  also  wohl,  daß  in 
diesem  Punkte  der  Gewährsmann  des  Firmicus  mit  der  alten 
Lehre  übereinstimmt. 

Wir  sind  über  Wesen  und  Herkunft  der  metaphysischen 
Psychologie  des  Firmicus  und  ihrer  transzendentalen  Quelle  zu 
genügender  Klarheit  gelangt.  Die  letzte  Aufgabe,  die  unser 
noch  harrt,  ist  eine  nähere  Betrachtung  des  Kultes,  dessen 
philosophische  Deutung  hier  vorliegt. 

Zunächst  ist  der  Beweis  zu  geben,  daß  die  psychologisch 
gedeutete  Götterdreiheit  wirklich  —  wie  S.  252  schon  ge- 
schlossen wurde  —  identisch  ist  mit  der  im  Anfang  des  Kapitels 
genannten  dreigestaltigen  Gottheit,  die  die  weibliche  Seite  des 
Feuers  repräsentiert;  denn  von  vornherein  wäre  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen,  daß  in  dem  verlorenen  Stück  Firmicus 
von  ihr  auf  eine  andere  dea  triformis  übergegangen  sein  könnte, 
auf  die  sich  dann  das  Folgende  bezöge.  Nun  hat  er  aber  im 
Einleitungskapitel  eine  Widerlegung  der  heidnischen  Elementen- 

*  Zeus  —  Kopf  —  vovs,  Ares  —  Herz  —  9vu6g,  Aphrodite  — 
Leber  —  i:zi9vni<x  scheinen  nicht  ohne  Rücksicht  auf  die  übliche  plato- 
nische Verteilung  so  verbunden.  Sind  doch  auch  Hermes  —  Zunge, 
Eros  —  Lippen,  Athene  (Meisterin  der  Handarbeit)  —  Schultern  und 
Hände  mit  deutlicher  Absicht  in  Beziehung  gesetzt.  Nur  was  Poseidon 
mit  der  Brust  zu  tun  hat,  sehe  ich  nicht.  Wünsch  verweist  auf  ComutuB 
c.  22:   xalftrai  d'avQvörsQvos  6  Uoesidäv. 


264  Konrat  Ziegler 

kulte  angekündigt,  liat  in  Kap.  II — IV  Wasser,  Erde,  Luft 
erledigt  und  im  Kap.  V  das  einzige  noch  übrige  Element,  das 
Feuer,  vorgenommen.  Im  Beginn  des  Kap.  VI  wird  der  Ab- 
schnitt über  die  Elemente  beschlossen  und  zu  einem  neuen 
Teile  übergegangen:  Sic  sunt  sacratissimi  imperatores  elementa 
a  perditis  hominihus  consecrata.  Sed  adhuc  siipersunt  aliae 
superstitiones  quarum  secreta  pandenda  sunt.  So  muß  also  der 
von  der  Seelenteilung  handelnde  Schluß  des  Kap.  V  noch  auf 
das  letzte  besprochene  Element,  das  Feuer,  bezüglich  und  die 
Trias  der  Seele  mit  der  besagten  Kultgenossin  des  Mithras 
identisch  sein. 

Nun  wird  von  dem  berufensten  Kenner^  die  Möglichkeit, 
daß  Mithras  ein  weibliches  Seitenstück  habe,  bestritten  und  für 
einen  Irrtum  des  Firmicus  erklärt,  obwohl  derselbe  doch  sonst,  wie 
gerade  die  jüngsten  Forschungen  gezeigt  haben,  eine  Autorität 
ersten  Ranges  in  diesen  Dingen  ist  und  seine  intime  Kenntnis  auch 
des  Mithraskultes  sogleich  durch  Anführung  eines  liturgischen 
Verses  aus  diesem  Kult  verrät,  der  uns  von  keinem  andern 
Zeugen  überliefert  ist.  Untersuchen  wir,  ob  und  inwieweit  der 
erkannte  Zusammenhang  mit  dem  Folgenden  und  dessen  er- 
reichtes Verständnis  diese  Beurteilung  zu  modifizieren  ge- 
eignet ist. 

Die  angebliche  Genossin  des  Mithras  vereinigt  in  sich 
Artemis,  Athene  und  eine  Gottheit  der  animalischen  Frucht- 
barkeit, deren  Name  —  Persephone  oder  Aphrodite  —  nichts 
zur  Sache  tut.  Für  ein  solches  Wesen  finden  wir  eine  An- 
knüpfung im  persischen  Anaitiskult.*  Gewöhnlich  wird  diese 
Gottheit  von  den  Griechen  ihrer  Artemis  gleichgesetzt.  Aber 
Berosos   fg.  16   (bei  Clem.  Alex.  Protr.  V  65,  4  =  p.  50,  2  ff. 

'  Cumont  Textes  et  monuments  figure's  relatifs  aux  mysteres  de 
Mithra,  Bd  I  S.  29.  II  S.  14  Anm. 

*  Ed.  Meyer  in  Roschers  Lexikon  I  830.  Cumont  hei  Pauly-Wissotca 
I  2030.  —  Auch  Kroll  a  a.  0.  p.  68  u.  69  setzt  die  '  chaldäische'  Hekate 
schon  mit  Anaitis  in  Verbindung. 


Zur  neuplatonischen  Theologie  265 

Stählin)  und  Agathias  II  24  (=  bist.  Gr.  min.  ed.  Dindorf  11 
221,  9)  bezeichnen  ^AvKlxig  als  'A(fQo8irri,  Ton  einer  'AcpgodCrrj 
Tdvuig^  spricht  lamblichos  im  ÖQa^arLxbv  (bei  Pbot.  bibl.  cod. 
94  S.75b  15),  Hesych  gibt  die  Glosse  Tlsgöi^ia-  ii  'AtpQoöCxri^  und 
hinzu  tritt  sachlich  Herod.  I  131  xaXiovöi  81  'Aöövqiol  ti^v 
'A(pQo8Ctriv  MvXixxa,  Agdßioi  8h  ^A/.ü.c'ix.,  Tligöui  8s  MCxgav, 
gleichgültig  ob  man  den  Namen  MCrgav  beläßt  oder  mit 
Ed.  Meyer  a.  a.  0.  eine  Verwechslung  mit  *AvaCxa  annimmt.* 
Endlich  der  Athena  gleichgestellt  wird  Anaitis  von  Plutarch 
Artax.  III.  Artaxerxes  begibt  sich  nach  Pasargadai,  um  dort 
die  königlichen  Weihen  zu  empfangen:  löxi  8e  d-eäg  jioXefiLxrig 
isQÖv,  TJy  'A&r^väv  <CaVy>  xt,g  slxaGsuv.^  Später  heißt  es  ebenda 
c.  XXVII  (V  132,  7  Sintenis)  wiederum:  t^s  yäg  ^AQXEfii8og 
xfjg  hv  ^Exßaxdvoig,  t^v  ^Avatxiv  xakovßLv,  und  wir  entnehmen 
dieser  Stelle,  daß  die  Priesterin  dieser  Anaitis  von  Ekbatana 
zur  Keuschheit  verpflichtet  war.  Hiernach  dürften  sich  die  ver- 
schiedenen griechischen  Umbenennungen  der  Anaitis  von  den 
Verschiedenheiten  der  Kulte  an  den  einzelnen  Kultorten  her- 
schreiben, Konfundierung  dieser  verschiedenen  Eigentümlich- 
keiten, wie  sie  beispielsweise  bei  Gründung  eines  neuen  Kultes 
nahe  gelegt  wurde,  konnte  alsdann  in  hellenistischer  oder  noch 
späterer  Zeit  leicht  eine  Anaitis  schaffen,  die  auch  in  ihrer 
äußeren  Bildung  verriet,  daß  sie  jene  drei  göttlichen  Wesen 
in  sich  vereinigte.     Dazu   kam,    daß   für   diejenige   griechische 


*  ravatSos  steht  auch  an  der  eben  genannten  Stelle  des  Clemens 
in  der  (einzigen)  Handschrift;  'Avatridog  ist  Emendation  von  Bochart. 

*  Die  Aphrodite -artige  Auffassung  und  Bildung  der  Anaitis  ist  auf 
babylonischen  Einfluß  (Angleichung  an  Astarte)  zurückzuführen.  Ed.  Meyer 
a.  a.  0.  332. 

'  Ed.  Meyer  a.  a.  0.  333  bezweifelt,  daß  diese  Göttin  von  Pasargadai 
Anähita  sei.  Aber  nach  G.  Hoffmann  (Auszüge  aus  syrischen  Erzählungen 
von  persischen  Märtyrern  =  Ahhandlgn  für  d.  Kunde  des  Morgenlandes 
VII  3  S.  136)  ist  diese  Göttin  es  gerade,  'welche  nach  dem  Äbänjast 
(passim)  die  Könige  Eräns  um  die  Verleihung  des  Kavaem  h'^arenö  an- 
flehen: und,  was  davon  unzertrennlich  ist,  sie  ist  Sieges-  und  Kampfes- 
göttin'. 


266  Konrat  Ziegler 

Göttin,  der  sie  am  häufigsten  gleichgesetzt  wurde,  Artemis, 
durch  ihre  nahe  Verwandtschaft  mit  Hekate  eine  derartige  Auf- 
fassung und  Bildung  nahe  gelegt  wurde.  Eine  Gottheit,  ge- 
wöhnlich als  Artemis  angesehen  und  benannt,  aber  auch  als 
Aphrodite  und  Athena  auftretend:  diese  Bedingungen  forderten 
fast  ihre  Hekate -artige  Ausgestaltung. 

Bilder  der  Anaitis  gab  es  seit  Artaxerxes  IL  (404 — 362)  im 
ganzen  persischen  Reiche.  Dieser  selbe  Artaxerxes  hat  aber 
für  ihren  Kult  weiter  auch  die  Bedeutung,  daß  sie  von  ihm 
zur  offiziellen  Gottheit  erhoben  wird^  und  zwar  gemeinsam  mit 
Mithra.  Er  ist  der  erste,  welcher  in  den  Inschriften  der 
Achaemeniden  ^ neben  Ahuramazda  den  Mithra  und  die  Anahita 
anruft'  (Ed.  Meyer  a.  a.  0.  331).  Daß  beide  zugleich  dieser 
Ehre  teilhaftig  wurden,  kann  entweder  beweisen,  daß  sie  schon 
in  einem  gewissen  näheren  Verhältnis  zueinander  standen,  oder 
aber  es  konnte  zum  Anlaß  dienen,  daß  ein  solches  sich  bildete 
und  schließlich  da  oder  dort  zur  Kultgemeinschaft  führte.  Diese 
konnte  dann  leicht  eine  Assimilation  des  Wesens  der  Anahita 
an  ihren  Kultgenossen  bewirken,  zumal  ihr  eigentliches  Wesen 
als  Wassergöttin,  wie  die  griechischen  Benennungen  erweisen, 
längst  zu  einem  für  die  Praxis  des  Kultes  bedeutungslosen, 
bloß  theologischen  Lehrsatz  verblaßt  war. 

Wenn  wir  nach  dieser  Betrachtung  wieder  den  Bericht 
des  Firmicus  ins  Auge  fassen,  so  fügt  sich  diese  Über- 
lieferung so  wohl  in  die  erkannten  sonstigen  Verhältnisse, 
daß  es  bedenklich  scheint,  sie  länger  für  einen  Irrtum  des 
Firmicus  zu  erklären.  Wenn  wir  anderwärts  keinen  Bericht 
über  eine  Kultgemeinschaft  des  Mithras  mit  einer  weiblichen 


*  Vielleicht  hängt  damit  zusammen,  was  Plut.  Artax.XXII  (V  128,  8;, 
natürlich  aus  Ktesias,  erzählt,  daß  Artaxerxes,  als  seine  geliebte  Tochter 
und  Gattin  Atossa  an  einem  Ausschlag  erkrankt  war,  um  ihretwillen 
der  Hera  einen  eifrigeren  Dienst  als  allen  anderen  Göttern  dargebracht 
und  ihren  Tempel  mit  den  reichsten  Weihgeschenken  habe  schmücken 
lassen. 


Zur  neuplatoniachen  Theologie  267 

Dublette  haben,  so  genügt  das  noch  nicht,  um  den  erhaltenen 
unzweideutigen  Beleg  einer  solchen  zu  diskreditieren,  zumal  in 
einer  im  Gründen  neuer  Kulte  durch  Vereinigung  Torher  ge- 
trennter so  außerordentlich  fruchtbaren  Zeit. 

Aber  auch  unser  positives  Beweismaterial  ist  noch  nicht 
erschöpft.  Ein  archäologisches  Argument  von  erheblicher  Be- 
deutung für  die  Authentizität  des  Firmicusberichts  hat  v,  Römer  ^ 
beigebracht.  An  einer  kapitolinischen  Bronzestatuette  (ab- 
gebildet bei  Röscher  in  Röscher s  Lexikon  I  1905)  der  Hekate  ist 
eine  der  drei  Gestalten  mit  phrygischer  Mütze  und  Sonnenstrahlen 
versehen,  weshalb  schon  Wolters  (ohne  auf  unsere  Firmicusstelle 
Bezug  zu  nehmen)  das  Vorhandensein  einer  Beziehung  zu  Mithras 
konstatierte.  Beachtung  verdient  auch  im  Hinblick  auf  die 
Deutung  der  Mithrasgenossin  als  xQiäg  ^aoyövog  Wolters'  spon- 
tane Bemerkung:  'Hekate  scheint  als  eine  das  ganze  All  durch- 
dringende Göttin  aufgefaßt  zu  sein.'  Eine  mit  den  gleichen 
Attributen  (phrygischer  Mütze  und  großen  Strahlen)  versehene 
Hekatebüste  besitzt  das  British  Museum  (Abbildung  in  der 
Archäol.  Ztg  IV  222).* 

Endlich  lenken  wir  unsern  Blick  nunmehr  auf  die  Macro- 
biusstelle,  die  Friedrich  beigebracht,  aber  nicht  in  unserm 
Sinne  verwertet  hat  (Sat.  I  17,  66  [nicht  16]  =  101,  21 
Eyssenhardt).  HieropoUtani  praeterea,  qui  sunt  gentis  Ässyri- 
oruni,  omnes  solis  effectus  atque  virtutes  ad  unius  simtdacri  har- 


•  'über  die  androgynische  Idee  des  Lebens'  im  Jahrbuch  für  sexuelle 
Zicischenstufen  Y  li  p.  725  —  727  (Leipzig  1903). 

*  V.  Römers  zweites  Argument,  daß  die  Beinamen  ÜBgerig  und 
Usgesia  (auch  Usgeia  und  UeeöTji's,  s.  Bruchmann  Epitheta  deorum  S.  98) 
zu  Mithras  und  Hekate  eine  Beziehung  verrieten,  ist  abzulehnen  wegen 
der  verschiedenen  Herkunft  des  Beinamens  für  jeden:  für  Mithras  ist  er 
offenbar  eine  nationale  Bezeichnung  'der  Perser',  wie  Anaitis- Aphrodite 
ÜBQei&sa  heißt  (oben  S.  265),  Hekate  hingegen  heißt  so  als  Tochter  des 
Titanen  nsQar,g  (Hesiod  theog.  409  ff.).  Der  so  tatsächlich  vorhandene 
Parallelismus  der  Beinamen  mag  freilich  als  beförderndes  Moment  für 
ihre  Vereinigung  im  Kult  mitgewirkt  haben,  eine  solche  ist  aber  nicht 
aus  ihm  zu  erschließen. 


268  Konrat  Ziegler 

hati  speciem  redigunt,  eumque  ÄpolUnem  appellant  .  .  .  (102,  2) 
ante  pedes  imago  feminea  est,  cuius  dextra  laevaqiie  sunt  Signa 
feminarum,  ea  cingit  flexuoso  volumine  draco.  Gedeutet  werden 
letztere  zwar  als  terra,  hyle,  natura^,  die  von  der  Sonne  be- 
leuchtet werden,  aber  nichtsdestoweniger  springen  die  Ver- 
gleichspunkte in  die  Augen:  dem  männlichen  Sonnengott 
ist,  wenn  auch  in  untergeordneter  Stellung,  eine  Dreiheit 
weiblicher  Gottheiten  beigeordnet  mit  dem  Attribut  der 
Schlange,  d.  h.  kein  wesentliches  Merkmal  des  bei  Firmicus 
angezweifelten  Kultes  fehlt. 

Die  letzte  Stütze  für  die  Autorität  des  Firmicusberichts 
gibt  die  chaldäisch- neuplatonische  Theologie.  Die  rgiäg 
t^gyoyövos  Hekate,  welche  wir  als  identisch  mit  der  drei- 
gestaltigen  Kultgenossin  des  Mithras  erwiesen  haben,  steht  in 
ihr  in  enger  Verbindung  mit  männlichen  göttlichen  Prinzipien, 
und  zwar  als  ^söörrjg  zwischen  den  TCr^yaioi  natsQes  (vgl.  Kroll 
a.  a.  0.  p.  16.  27),  welche  als  dualistische  Fassung  des  :jtatQixbg 
vovSj  wesensverwandt  untereinander,  das  fortzeugende  weibliche 
Prinzip  in  derselben  Weise  einschließen,  wie  dieses  wieder  aus 
zwei,  die  ysvvTjtizrj  dvva^ig  Persephone  als  lisöörtjs  umfassen- 
den Wesen  komponiert  ist,  welche  miteinander  korrespondieren 
(z.  B.  Procl.  in  Grat.  105,  24 ff.:  rcov  tqkSv  tj  n:Q(xirrj  .  .  .  slts 
'Exatixrj  TtQOöayaQevo^svrj  d'söri^s  •  •  •  ^'-^^  "AQte^Lg  ...  slg  dh 
xiiv  tfig  aQStfig  ßXsnu  Ttrjyijv  (d.  i.  Athena)  /mI  xriv  naQ^svCav 
avxfig  a6%dt,sxai).  Bedeutungsvoll  ist  auch  die  Stelle  Psell. 
1152c:  x(5v  8s  ävd-QcuTtCvcav  ipvxcdv  aixia  dixxä  nriyala  xlQ^svxai 
(seil,  ol  laXdaloC)'  x6v  xe  naxQixbv  vovv  xccl  xijv  JctjyaCav  tjjvxtjv. 
xal   nQOBQ%Bxai   fihv   ccvxotg   ^   ^s^mi]   ccnh   xijg   yirjyaCccg   xaxä 


^  Daß  vXt)  an  die  silvae  der  Artemis,  natura,  wenn  man  es  im 
sexuellen  Sinne  nehmen  könnte,  an  Aphrodite  erinnern  würde,  ist  ein 
Zufall,  in  dem  man  sich  hüten  möge,  einen  Sinn  zu  suchen.  Denn  die 
natura  ist  vielmehr  mit  der  cpvaig  (S.  256  Anm.  u.  S.  258)  zu  vergleichen, 
und  die  silvae  haben  nichts  mit  dem  philosophischen  Begriff  der  CItj  zu 
tun  (S.  262  Anm.). 


Zur  neaplatonischen  Theologie  269 

ßovXriOiv  xov  TcatQog.  Das  Wesen  des  TCUTQixbg  vovg  wie  das 
der  Hekate  ist  feurig.  So  ergibt  sich  auch  von  hier  aus  das 
Postulat:  der  Kult,  an  den  diese  Lehre  geknüpft  werden  konnte, 
mußte  das  Feuer  in  männlicher  und  weiblicher  Auffassung  kon- 
sekriert  haben,  d.  h.  er  mußte  wesentlich  die  Elemente  in  sich 
schließen,  welche  Firmicus  an  der  fraglichen  Stelle  dem  Mithras- 
kult  gibt. 

Die  Torstehenden  Darlegungen  —  dies  sei  zum  Schluß 
bemerkt  —  stehen  zu  dem  Satz  Cumonts,  daß  der  reine 
Mithraskult  nichts  mit  einem  weiblichen  Parallelwesen  zu 
schaffen  habe,  in  seinem  Kern  nicht  im  Gegensatz.  Derselbe 
behält  seine  wesentliche  Richtigkeit.  Nachgewiesen  aber  ist, 
daß  eine  Vermischung  dieses  ursprünglich  rein  männlichen 
Kults  mit  einem  weiblichen  in  Gegenden,  die  dafür  geeignete 
Bedingungen  boten,  tatsächlich  stattgefunden  hat,  also  nicht 
als  Irrtum  des  Firmicus  aus  der  Reihe  der  religionswissen- 
schaftlichen Tatsachen  zu  streichen  ist. 


Mythologische  Studieii  aus  der  neuesten  Zeit 

Von  Richard  M.  Meyer  in  Berlin 

Die  Zeit  ist  vorbei,  in  der  man  die  Mythologie  ausschließ- 
lich längst  überwundenen  Epochen  der  Menschheit  zuwies; 
und  wenn  noch  Auguste  Comte  ein  besonderes  mythologisches 
Zeitalter  annahm,  erscheint  uns  darin  heute  der  Positivist  selber 
mythologisch.  In  der  Tat:  jene  Zeit,  die  ganz  anders  ge- 
dacht und  zumal  ganz  anders  gesehen  und  gehört  haben  soll 
als  die  unsere  —  sie  ist  selbst  ein  großes  Mythologem.  Wohl 
hat  die  neuere  Zeit  und  zumal  die  neueste  andere  Kontrollen 
der  Wahrnehmung,  andere  Kategorien  der  Verknüpfung,  andere 
Schemata  der  Einteilung  geschaffen,  als  die  Yorwelt  sie  kannte; 
die  ursprüngliche  Art  aber,  die  Sinne  und  den  ordnenden  Ver- 
stand zu  gebrauchen,  hat  niemals  aufgehört,  eben  weil  sie  die 
ursprüngliche  ist.  Sind  positive  Definitionen  des  Mythologischen 
schwierig,  so  darf  man  statt  ihrer  vielleicht  eine  negative 
wagen:  der  mythologischen  Anschauungsweise  und 
Denkart  gehören  alle  Gebilde  an,  die  nicht  durch  ver- 
standesmäßige Kontrollapparate  hindurchgegangen 
sind.  Sie  ist  nicht  etwas  Sekundäres,  was  zu  der  gewöhnlichen 
Anschauung  hinzutritt,  sondern  im  Gegenteil  das  Primäre,  aus 
dem  diese  herausgearbeitet  werden  muß.  Wie  noch  heute  jeder 
Abkömmling  einer  hochkultivierten  Rasse,  der  alle  moralischen 
und  sozialen  Hemmungen  von  sich  wirft,  ein  „Wilder"  werden 
kann,  ja  wie  Mängel  der  Erziehung  den  Unterschied  von  Natur- 
und  Kulturmenschen  fast  völlig  zu  verwischen  imstande  sind, 
so  produziert  noch  heute  der  Mensch  Mythen,  wo  er  sich  gehn 
läßt,  sei  es  unter  welchen  Umständen  immer. 

In  drei  Typen  vor  allem  tritt  uns  der  mythenbildende 
Mensch  der  Gegenwart  entgegen.     Das  Kind  kennt  jene  Kon- 


Mythologische  Stadien  aus  der  neuesten  Zeit  271 

trollmaßregeln  noch  nicht,  oder  doch  nicht  recht;  der  Fanatiker 
wirft  sie  von  sich;  der  Phantast  verliert  sie.  In  der  Kinder- 
stube, bei  den  religiösen  Sektierern  und  bei  den  politischen, 
sozialen,  wissenschaftlichen  Konsequenzmachem  finden  wir  die 
sichersten  und  überraschendsten  Analogien  zu  den  Mythen- 
schöpfungen ganzer  Völker. 

Freilich  ist  dennoch  eine  Verschiedenheit  nicht  zu  über- 
sehen. Die  ursprünglichen  Mythen  sind  zwar  auch  nicht  so  alt 
wie  die  Menschheit,  sind  auch  einmal  entstanden  und  haben 
sich  gegenseitig  beeinflußt;  aber  eine  relative  Ursprünglichkeit 
wird  man  ihnen  zugestehen  müssen.  Dem  gegenüber  wird 
eine  wenn  auch  noch  so  geringe  Beeinflussung  moderner  durch 
ältere  Mythenbildungen  vielleicht  nicht  einmal  bei  dem  Kind, 
gewiß  aber  nicht  bei  dem  Sektierer  oder  gar  bei  dem  Gelehrten 
angezweifelt  werden  können.  Natürlich  müssen  wir  jedes- 
mal prüfen,  wie  weit  eine  solche  Beeinflussung  nachzuweisen 
oder  doch  zu  vermuten  ist;  im  übrigen  jedoch  ist  dies  für  uns 
eine  Nebenfrage,  da  sekundäre  Mythenbildung  eben  auch  Mythen- 
bildung ist.  Der  psychologische  Prozeß,  der  unter  Anleitung 
alter  Messiasverkündigungen  in  irgendeinem  Häresiarchen  des 
18.  oder  19.  Jahrhunderts  den  Messias  erscheinen  läßt,  ist  von 
jenen  antimythischen  Hemmungen  gerade  so  frei,  wie  das  Ver- 
fahren, das  die  erste  Messiasgestalt  erschuf.  Oder  mit  andern 
Worten:  beide  Prozesse  sind  nach  der  negativen  Seite,  die  uns 
hier  zunächst  berührt,  identisch,  mag  auch  ein  verschiedenes 
Maß  tätiger  Phantasie  sie  in  positiver  Hinsicht  unterscheiden. 

Am  merkwürdigsten  verquicken  Nachahmung  und  spontane 
Gleichartigkeit  sieh  (wie  in  der  Kindersprache,  so)  in  der 
Kindermvtholocrie.  Mein  einer  Sohn  beschäfticrte  sich  etwa  vom 
sechsten  bis  achten  Jahr  mit  einer  Phantasiegestalt  „PruUi". 
Sie  war  undeutlich,  bald  männlich  bald  weiblich  gedacht,  starb 
und  ward  wieder  lebendig;  fest  war  nur  ihr  Heim:  sie  wohnte 
in  Erdlöchern,  in  Höhlungen  unter  Wurzeln  und  dgl.  Dieser 
,, Dämon"  war  von  ihm  selbständig  entwickelt,  wahrscheinlich 


272  Richard  M.  Meyer 

aus  irgendeinem  bestimmten  Anlaß  heraus  (vgl.  den  Roman 
„Mao"  von  Friedrich  Huch);  aber  eine  Einwirkung  der  Märchen, 
die  er  gern  las,  mit  ihren  Erdmännchen  ist  sicher.  Er  glaubte 
nicht  fest  an  PruUi;  aber  auf  dem  Weg  zu  einem  „Anpassungs- 
mythus" war  er  doch  schon. 

Sehr  häufig  aber  sind  sogar  überraschende  Überein- 
stimmungen nicht  aus  Übertragung  und  Anpassung,  sondern 
aus  der  Wirkung  gleicher  Ursachen  zu  erklären.  Zu  einer 
solchen  Übereinstimmung  führen  nämlich  einerseits  psycholo- 
gische, andererseits  logische  Notwendigkeiten. 

Die  psychologischen  Ursachen  übereinstimmender 
Mythenbildung  sind  längst  bekannt  und  anerkannt.  Sie  liegen 
darin,  daß  die  mythenbildende  Anschauung  sich  hemmungslos 
einem  bestimmten  Anstoß  hingibt.  Namentlich  sind  es  zwei 
Gruppen  von  Veranlassungen,  die  einen  solchen  Stoß  geben: 
in  der  Sache,  und  im  Ausdruck  liegende  Anlässe. 

In  der  Sache  ist  jenes  mythische  Element  begründet, 
das  wir  vom  rationalistischen  Standpunkt  aus  als  Übertreibung 
bezeichnen.  Wenn  die  indische  Mythologie  einem  Gott  zahl- 
lose Köpfe  gibt,  wenn  die  altgermanische  den  Gott  Thor  das 
Meer  nahezu  mit  einem  Schluck  austrinken  läßt,  wenn  sogar 
die  maßvolle  griechische  des  Homer  die  goldene  Kecte  des 
Zeus  bildet,  an  der  er  alle  andern  Mächte  allein  aufwiegt,  so 
ist  das  jedesmal  nur  der  schrankenlose  Ausdruck  für  die  Macht 
und  Größe,  die  der  Gläubige  seinem  Patron  zutraut.  Nichts 
anderes  ist  die  märchenhafte  Wunderkraft,  mit  der  die  merk- 
würdig atavistische  Legende  der  russischen  Sektierer  ihre 
Häresiarehen  feiert.  „Aber  Suslow  ging  durch  alle  Foltern 
unversehrt  hindurch,  das  Feuer  berührte  ihn  nicht  .  .  .  Am 
Donnerstag  hauchte  er  seine  Seele  aus,  und  die  Wache  nahm 
ihn  ab  und  begrub  ihn  .  .  .  Aber  am  Sonnabend  auf  Sonntag 
stand  er  wieder  auf"  Er  wird  gekreuzigt  und  geschunden, 
steht  wieder  auf  und  wird  frei  (K.  Graß,  Die  russischen  Sekten 
1, 20).      Gewiß    hat   hier   in   der  Form  —  Kreuzigung,    Auf- 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  273 

rstehung  —  die  Bibel  eingewirkt;  inhaltlich  aber  würde  diese 
)hantasti9che  Art,  die  Unverletzlichkeit  des  Heiligen  in  allen 
Jartern  auszudrücken,  ohne  dies  Vorbild  auch  ihr  Recht  ge- 
ordert haben,  so  gut  wie  bei  den  Anbetern  des  Osiris  oder 
les  vielleicht  ursprünglich  heidnisch  -  mythischen  Sankt 
jeorg. 

In  der  Form  liegt  nicht  minder  ein  Anstoß  zu  hemmungs- 
osem  Ausmalen.  Hat  doch  einst  Max  Müller,  freilich  ohne 
illes  tiefere  psychologische  Verständnis,  alle  Mythen  aus 
iprachlichen  'Mißverständnissen'  ableiten  wollen.  Wie  in  den 
schwanken  unseres  Eulenspiegel  hätten  die  Menschen  Metaphern 
vörtlich  genommen  und  etwa  aus  der  Wendung  „die  Sonne 
jeht  unter"  ein  Herunterschreiten  des  Helios  gefolgert.  Wir 
Verden  doch  wohl  annehmen  müssen,  daß  in  der  Regel  die 
Anschauung  älter  ist  als  das  Mißverständnis,  ohne  doch  so  weit 
;u  gehen,  wie  das  neue  religionsgeschichtliche  Dogma,  welches 
autet:  „Wortbilder  stammen  durchweg  aus  ursprünglichen 
liealitäten"  (Vierkandt,  Die  Stetigkeit  im  Kulturwandel, 
3.  41,  nach  Dieterich,  Eine  Mithrasliturgie,  S.  94).  Aber 
vie  immer  die  Metapher  entstanden  sein  mag  —  ist  sie  einmal 
la,  so  kann  sie  unzweifelhaft  für  den  sie  prüfungslos  ge- 
)rauchenden  Menschen  zur  Quelle  von  mythologischen  Ge- 
)räuchen,  d.  h.  Riten,  werden.  Hierfür  ist  wiederum  das 
Sektierertum  die  beste  Fundgrube  von  Beweisen.  Fast  jede 
jhristliche  Kirche  hat  sich  um  ein  'Zentraldogma'  angebaut, 
las  sie  wörtlich  deutete  und  wörtlich  befolgte.  So  beruht 
las  Skopzentum  darauf,  daß  die  Anhänger  dieser  Sekte  sich 
selbst  verschneiden  in  wörtlicher  Befolgung  der  biblischen 
Vorschrift:  „Wenn  dich  dein  Auge  ärgert,  so  wirf  es  von  dir'' 
[Marc.  9,  47,  zgl.  Math.  5,  29  und  18,  9),  die  schon  der  große 
Kirchenvater  Origenes  ebenso  ausgelegt  und  angewandt  haben 
soll.  (Über  die  Selbstentmannung  in  anderem  Zusammenhang 
Nöldeke,  Arch.  f.  Rel-Wiss.  10,  150.)  Eine  ganze  Reihe  von 
Sekten   verbietet,  Arzte   zu  befragen  oder  Arzneimittel   zu  ge- 

Archiv  f.  BeligionAwiaaeiischaft  "yrrr  j^g 


274  Richard  M.  Meyer 

brauchen,  weil  das  dem  Gebot  widerspreche:  „Widerstehe  nichl 
dem  Übel"  —  einem  Satz,  den  auch  Tolstoi  zum  Mittelpunkl 
seiner  Lehren  gemacht  hat.  Matth.  5,  37  ist  für  die  Menno- 
niten  ein  Zentraldogma:  sie  erleiden  lieber  Strafen,  als  da£ 
sie  einen  Eid  leisten;  und  in  Altona  und  Rendsburg  hat  mar 
Musketiere  zu  je  einem  Jahr  Gefängnis  verurteilt,  die  ah 
Adventisten  an  dem  alttestamentarischen  Sabbathgebot  fest- 
hielten und  sich  weigerten,  Sonnabends  eine  Arbeit  zu  ver- 
richten. Kann  man  nun  in  all  diesen  Fällen  noch  sagen,  du 
Sektierer  unterschieden  sich  von  den  Orthodoxen  nur  durct 
die  Strenge,  mit  der  sie  Gebote  befolgen,  die  im  Prinzip  odei 
in  anderer  Form  (mit  bibelwidriger  Verschiebung  von  Sonn- 
abend auf  Sonntag)  auch  die  Kirche  anerkennt,  so  wird  dag 
mythologische  Element  der  unbegrenzten  Hingabe  an  der 
Wortlaut  an  individuellen  Exzessen  ganz  deutlich;  so  an  jenem 
Kapuziner,  der  (wie  K.  J.  Weber  berichtet)  die  Mahnung  Jesu: 
„So  ihr  nicht  seid  wie  die  Kinder"  —  dahin  deutete,  daß  ei 
sich  in  eine  Wiege  legte  und  alle  Unarten  der  Kinder  nach- 
ahmte, oder  an  dem  hl.  Benoit  Labre,  der  die  Liebe  zu  allei 
Kreatur  (wie  indische  Büßer)  so  weit  trieb,  sich  von  Ungeziefer 
verzehren  zu  lassen  (vgl.  Joly,  Psychologie  des  Saints,  S.  67). 
Den  Paradefall  solcher  hemmungslosen  Wortanschauungeu 
können  aber  die  talmudischen  Vorschriften  über  Rein  und 
Unrein  abgeben. 

Psychologische  Ursachen  also  können  aus  der  Sache  oder 
der  Form  heraus  leicht  zu  Anschauungen  führen,  die  der 
prüfende  Verstand  als  unverträglich  selbst  mit  dem  Geist  der 
ganzen  Religion  ansehen  kann:  Christi  Meinung  kann  es  nicht 
gewesen  sein,  daß  Gott  die  Menschen  heranwachsen  lasse, 
damit  sie  wieder  sich  selbst  in  die  Kinderschuhe  zwängen.  Er 
dachte  an  bestimmte  Eigenschaften  des  Kindergemüts;  der 
fanatische  Mönch  verallgemeinert  und  unterwirft  sich  deshalb, 
mythologisch  ausgedrückt,  einem  Ritus,  der  uns  kindisch  an- 
mutet und  nicht  kindlich. 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  275 

Denn  nicht  nur  Anschauungen,  sondern  auch  Gebräuche 
entstehen  aus  der  ungehemmten  Einwirkung  von  Sache  oder 
Form. 

Seit  Robertson  Smith  ist  es  ein  Dogma  geworden,  der 
Kultus  sei  älter  als  der  Mythus.  In  dieser  Allgemeinheit  ist 
auch  das  wieder  nichts  Besseres  als  ein  wissenschaftlicher 
Mythus.  Denn  daß  Kulte  und  Riten  sekundär  entstehen,  ist 
in  zahllosen  Fällen  nachzuweisen.  Ich  habe  schon  früher  auf 
den  ganz  jungen  Ritus  der  Anbetung  des  Herzens  Maria  hin- 
gewiesen, der  innerhalb  der  katholischen  Kirche  eine  neue 
Kultform  darstellt  und  von  den  Marienlegenden  herstammt, 
ihrer  keine  aber  erzeugt  hat.  Noch  lehrreicher  ist  ein  anderes 
modernes  Beispiel:  die  Kulteinsetzungen  der  Französischen 
Revolution.  Aulard  (Le  culte  de  la  raison)  hat  soeben  ein- 
gehend dargetan,  wie  der  „culte  de  la  raison"  und  der  „culte 
de  l'Etre  supreme"  entstanden.  Philosophische  Grund- 
anschauungen, wie  die  von  der  „Xatürlichen  Religion",  gingen 
voraus;  die  antikisierende  Neigung  zu  Nationalfesten  mit  Altar, 
Festrede  und  Tanz  folgte,  die  politische  Tendenz  in  der  Hand 
von  einzelnen  (erst  Hebert,  dann  Robespierre)  gab  den  Aus- 
schlag. So  ist  erst  die,  wenn  man  will,  mythische  Personi- 
fikation der  „Göttin  Vernunft"  da,  dann  erst  erwächst  ihr  ein 
bestimmter  Kultus,  und  zwar  in  Anlehnung  und  Umdeutung 
früherer  Riten  (katholischer  und  hellenischer  Form),  wie  die 
Sitte  sich  so  leicht  „Bedeutungsänderungen"  preisgibt  (vgl. 
Vierkandt  a.  a.  0.  S.  28);  so  entstehen  denn  auch  gleich 
jakobinische  Dreieinigkeiten  (Marat  —  Chalier  —  Le  Peletier, 
vgl  Aulard  S.  61.  99.  102),  zwölf  Apostel  werden  ernannt 
(ebd.  S.  127),  die  Taufe  wird  parodiert  (S.  139),  usw. 

Die  Regel  freilich  wird  die  sein,  daß  zuerst  eine  all- 
gemeine, unbestimmte  mythologische  Anschauung  erstanden  ist 
und  daß  aus  dieser  „Dumpfheit"  (wie  Goethe  es  nennen 
i  würde)  gleichzeitig  und  aneinander  gestickt  sowohl  Mythus 
als  Kultus  erwachsen:    der  Mythus  als  ein  Versuch,  mit  dem 

18* 


276  Richard  M.  Meyer 

Wort  die  Anschauung  zu  verdeutliclien,  der  Kultus  als  ein 
Versuch,  sie  in  Tat  umzusetzen.  Gehören  doch  Wort  und 
Tat  bei  dem  Zauber,  jener  uralten,  sonst  freilich  überschätzten 
Form  des  „Gottesdienstes",  untrennbar  zusammen,  und  jedes 
Begleit  wort  einer  rituellen  Handlung  hat  bereits  Elemente  des 
Mythus  zur  Voraussetzung,  wenn  nicht  einen  fertigen  Mythus. 
Ich  erinnere  an  jenen  über  die  ganze  Welt  verbreiteten  Typus 
der  Heil-  und  Segenssprüche,  die  mit  einer  epischen  Einführung 
beginnen.  So  unser  berühmter  Merseburger  Zauberspruch:  er 
erzählt,  wie  der  Gott  Wodan  ein  krankes  Götterpferd  heilte 
und  reproduziert  dann  Wodans  Segen,  um  ihn  unmittelbar 
auf  ein  vorhandenes  krankes  Pferd  zu  übertragen.  Das  ist 
eine  rituelle  Handlung  auf  mythischer  Grundlage.  Aber  jede 
Libation,  jedes  Gebet  setzt  doch  mindestens  die  Vorstellung 
voraus,  daß  etwa  Indra  den  Soma  schon  einmal  getrunken 
hat,  den  man  ihm  wieder  anbietet. 

Wie  aus  der  sogenannten  „chorischen  Poesie"  Epos,  Drama, 
Lyrik  sich  entwickeln,  so  gehen  aus  der  ungehemmten,  grenzen- 
losen Stimmung  der  Andacht  (in  ruhigeren  Momenten)  oder 
Ekstase  (in  erregten  Augenblicken)  Mythus  und  Kultus  hervor 
(vgl.  Joly,  Psychologie  des  Saints  S.  135 f  und  S.  90^.).  Die 
Andacht  verdichtet  sich  zu  der  Meditation,  wie  sie  heute  wieder 
von  Spiritisten  und  Halbspiritisten  (z.  B.  Mitchell,  Meditation) 
gerade  wie  einst  von  Buddhisten  und  Mystikern  als  der  „große 
Weg"  zu  Gott  gepredigt  wird;  sie  steigert  sich  zur  Vision  und 
aus  dem  Bericht  von  der  Vision  wird  der  Mythus.  (Keineswegs 
will  ich  behaupten,  daß  er  nur  so  entstehe;  davon  bin  ich 
weit  entfernt.  Aber  es  ist  Eine  Form  seiner  Entstehung.) 
Der  Mönch  sieht  in  angestrengter  Andacht  das  Fegefeuer  des 
heiligen  Patricius;  eine  russische  Nonne  sieht  einen  heiligen 
Bischof,  der  ihr  verbietet,  sich  mit  zwei  Fingern  zu  bekreuzen 
(Grass,  Die  russischen  Lehren  1,  103). 

Solche  Visionen  kann  leidenschaftliche  Erregung  gewiß  jeder 
lebhafteren  Natur  bringen,  aber  für  den  „Visionär"  ist  kennzeich* 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  277 

nend,  daß  er  sich  ihnen  ohne  Widerstand  hingibt.  Der  Feldmarschall 
V.  Steinmetz  berichtet  (v.  Krosigk,  Feldmarschall  v.  Steinmetz 
S.  146),  wie  der  Tod  seiner  geliebten  Tochter  ihn  in  furcht- 
baren Schmerz  versetzte  und  wie  sich  deutlich  die  Vision  der 
Verlorenen  einstellte:  „Alles,  worauf  mein  Blick  sich  richtete, 
besonders  im  Zwielicht  oder  im  Dunkeln,  selbst  des  Abends 
bei  Licht,  nahm  Gestalt  an,  wenn  irgend  möglich  die  meines 
Kindes.  Wenn  ich  eine  Stelle  der  Wand  besonders  fixierte, 
so  dauerte  es  nicht  lange,  so  fing  diese  Stelle  an  hin  und  her 
zu  wanken,  und  es  löste  sich  davon  ein  geistiges  Xebelbild 
los,  welches  bald  nach  dieser,  bald  nach  jener  Richtung  hin 
schwebte,  oft  meinem  Kinde  ähnlich,  oft  aber  auch  in  anderer 
Gestalt,  mehr  oder  minder  schwarz  oder  verschleiert.  Oft  auch, 
wenn  ich  ins  Dunkle  sah,  entstieg  der  Erde  wie  ein  Dampf, 
der  nach  einiger  Zeit  ebenfalls  zu  einer  Gestalt  wurde."  — 
Nicht  anders  sah  Saul  den  Geist  Samuels  bei  der  Hexe  von 
Endor.  Der  alte  General  widerstand  aber  spiritistischen  Aus- 
deutungen und  war  nur  von  der  Vision  beglückt,  ohne  an  ihre 
Realität  zu  glauben. 

Ja  diese  Kraft,  Gestalten  zu  sehen,  kann  kunstmäßig 
entwickelt  werden,  wie  manche  Romantiker,  E.  T.  A.  Hoff  mann 
voran,  sie  geübt  haben:  sie  suchten  aus  Falten  in  der  Gardine, 
aus  Tintenklexen  sogar  —  hier  übte  es  Justinus  Kern  er 
mehr  als  Sport  —  Gesichter  herauszulesen,  wie  Hamlet  Figuren 
aus  der  Wolke;  aber  sie  blieben  Herren  des  Spiels. 

Andererseits  entsteht  aus  der  Ekstase,  aus  der  leidenschaft- 
lich erregten  Stimmung  der  Verehrung,  eine  Kulthandlung,  und 
zwar  wieder  mit  psychologischer  Notwendigkeit  eine  bestimmte 
Kulthandlung,  weshalb  sich  über  die  ganze  Welt  hin  die 
Riten  so  ähnlich  sehen  wie  die  Visionen.  So  ist  für  die  russi- 
schen Chiliasten  das  „Drehen"  charakteristisch  (Grass  a.  a.  0. 
S.  67.  73.  103.  106.  110;  zum  Ursprung  S.  63.  65)  d.  h.  das- 
selbe erregende,  betäubende  Umdrehen  im  Kreis,  nach  dem 
auch    die   tanzenden  Derwische   benannt   sind.     Es   kann   sich 


278  Richard  M.  Meyer 

mit  solchen  Bewegungen,  bei  denen  der  ekstatische  Mensch 
sich  willenlos  dem  Mechanismus  der  Rotation  hingibt,  noch 
Singen,  Schreien,  Musizieren  verbinden,  oder  auch  bei  weiterer 
Hingabe  an  die  fast  bewußte  Entäußerung  von  allen  Hemmungen 
die  Selbstzerfleischung:  was  die  antiken  Korybanten,  was  die 
Derwische  übten,  übt  heut  wieder,  in  gemäßigteren  Formen 
freilich,  der  Enthusiasmus  der  Heilsarmee  oder,  fast  epidemisch, 
die  amerikanischen  revivals  (C.  H.  Hahn,  Die  große  Erweckung 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  Basel  1859;  Brückner, 
Erweckungsbewegungen,  Hamburg  1909). 

Man  darf  annehmen,  daß  in  solchen  Fällen  die  Entäußerung 
vom  eigenen  Willen  geradezu  als  Wohltat  empfunden  wird. 
Destojewski  erzählt  in  seinen  „Brüdern  Karamasan"  von  einer 
wunderbaren  russischen  Sitte:  daß  fromme  Menschen,  die  ihren 
Willen  gepflegt,  ihn  sich  gleichsam  aus  der  Brust  nehmen 
und  einem  geistlichen  Berater  übergeben.  Was  der  „directeur 
de  conscience"  der  vornehmen  Welt  Frankreichs  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  nur  in  gewissen  Fragen  tut,  tut  dann  dieser 
Mund -Fetisch  jederzeit:  er  verfügt  nicht  nur  über  das  Tun, 
sondern  sogar  über  das  Wollen  seines  Akolyten.  Diese  unbe- 
dingte Hingabe  erreicht  ihren  Gipfel  in  jenen  Zeremonien,  in 
denen  sich  die  Derwische  oder  Chiliasten  um  ihr  Oberhaupt 
drehen:  als  seien  sie  leblose  Sterne  geworden,  Himmelskörper, 
die  ohne  Hemmung  den  Gesetzen  der  Gravitation  folgen. 

Wie  nun  aus  der  psychologischen  Nötigung  heraus  Mythus 
und  Ritus  erwachsen  und  an  sie  eine  ganze  „Religion"  mit  den 
schlimmsten  Auswüchsen  sich  ansetzt,  lehrt  anschaulich  ein 
neueres  Beispiel  der  Sektiererei. 

Thomas  Pöschl  (vgl.  A.  F.  Ludwig,  Neue  Untersuchungen 
über  den  Pöschlianismus  1906;  Beiträge  zur  Geschichte  des 
Pöschlianismus  1907;  meinen  Aufsatz  Österreichische  Rund- 
schau 12,  113)  war  ein  unbedeutender  österreichischer  Geist- 
licher. Sein  mystisches  Gemüt  erhält  den  ersten  Anstoß  zur 
Häresie  durch  ein  Andachtsbüchlein.    „Hier  war  in  sehr  krasser 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  279 

Weise  das  Herz  des  Sünders  dargestellt,  in  welchem  der  Teufel 
und  die  durch  Tiere  (Pfau,  Bock,  Schwein,  Löwe,  Schlange, 
Kröte)  symbolisierten  Leidenschaften  dargestellt  waren,  während 
in  dem  Herzen  des  Bekehrten  teils  der  von  Feuerzungen  um- 
gebene Heilige  Geist  in  Gestalt  einer  Taube,  teils  der  Ge- 
kreuzigte von  Leidenswerkzeugen  umrahmt  sich  zeigten." 
Diese  Bilder  faßt  eine  Schwärmerin  seiner  Gemeinde  wörtlich 
und  bildet  sich  danach  eigene  Visionen.  La  ihnen  spielt  der 
verehrte  Seelsorger  eine  Hauptrolle.  Dies  wieder  steigert  ihn 
selbst  zur  Ekstase,  zum  Gefühl  des  berufenen  Propheten.  Auch 
er  hat  sein  Zentraldogma:  durch  die  Bekehrung  der  Juden  soll 
die  Kirche  vollendet  werden.  Er  will  sie  in  die  Hand  nehmen. 
Widerspruch  der  Oberen  macht  ihn  zum  Haupt  einer  fanatischen 
Sekte.  Unter  ihnen  entwickelt  sich  ein  Kultus:  bei  brennender 
Kerze  erwartet  man  die  Ankunft  des  Herrn.  Ein  Mädchen 
stört  die  leidenschaftliche  Erwartung  durch  ihr  angstvolles 
Geschrei;  sie  wird  von  dem  bis  zur  Tobsucht  erregten  Vater 
getötet  und  als  Reinigungsopfer,  mit  brennendem  Werg  um- 
geben, dargebracht.  Bis  zu  einer  furchtbaren  Steigerung  des 
Ritus,  die  man  als  Menschenopfer  deuten  könnte,  geht  die 
psychologisch  notwendige,  hemmungslos  fortschreitende  Ent- 
wicklung! 

Chamisso  schildert  in  einem  Gedicht  einen  Bildhauer, 
der  sein  Modell  ans  Kreuz  schlägt,  um  die  Gebärden  des 
Crucifixus  zu  studieren.  Leu  au  schreibt  einmal,  er  wolle  sich 
selbst  kreuzigen,  wenn  es  nur  ein  gutes  Gedicht  gebe.  Hier 
sehen  wir  symbolisch  die  beiden  Stufen:  eine  furchtbare 
Handluncr,  die  sich  in  die  Phantasie  eines  seiner  Siime  immer 
noch  mächtigen  Menschen  als  bloßes  Gleichnis  drängt,  kann 
von  einem  bis  zu  völliger  Verleugnung  alles  sonstigen  Gefühls 
erregten  Menschen  wirklich  vollzogen  werden.  Der  Ritus  ist 
eine  in  Handlung  umgesetzte  Metapher:  wenn  Hedwig  in 
Ibsens  „Wildente"  das  mit  liebender  Scheu  gehegte  Tier  er- 
schießen soll,  ist  die  Meinung  von  Gregers  Werle,  daß  sie  ihrem 


280  Richard  M.  Meyer 

Vater  „ihr  Liebstes  opfern"  soll.  Selbstverständlich,  wird  aber 
auch  umgekehrt  (im  Sinn  jener  Formel  von  Dieterich  und 
Vierkandt)  die  Opferhandlung  zur  bloßen  Redewendung. 
Dieser  beständige  Umtausch  ist  für  das  sprachliche  Leben 
überhaupt  kennzeichnend:  es  werden  keineswegs  nur,  wie  man 
zu  behaupten  pflegt,  Concreta  zu  Abstractis,  sondern  auch  das 
Umgekehrte  kommt  fortwährend  vor,  und  „die  Macht",  die 
abstrakte  „potestas",  sitzt  als  sehr  leibhaftiger  „podesta"  zu 
Florenz  auf  dem  Markte I 

Die  unbegrenzte  Hingabe  an  einen  Eindruck  also  ist  die 
psychologische  Voraussetzung  zahlloser  mythologischer  Gebilde 
in  der  Gegenwart.  Mythen,  Kulte,  Religionen  entstehen  so 
noch  heute,  natürlich  nicht  ohne  Anlehnung  an  schon  Vor- 
handenes; das  größte  Beispiel  ist  das  Mormonentum  (Busch, 
Geschichte  der  Mormonen).  Aber  wir  betonten  schon,  daß 
die  Forderung  der  absoluten  Ursprünglichkeit  in  der  Mytho- 
logie (wie  in  der  Kunst  oder  Wissenschaft  auch!)  durchaus 
unberechtigt  ist.  Wenn  die  eddischen  Mythen  so  stark  von 
irisch -katholischem  Einfluß  durchdrungen  wären,  wie  Bugge 
(schwerlich  mit  Recht)  annahm,  würden  sie  so  wenig  aufhören 
Mythen  zu  sein,  wie  ein  eingeführter  Kult,  etwa  der  Gottes- 
mutter von  Pessinunt  in  Rom,  oder  der  rheinischen  Wasen 
in  Norwegen,  ein  Kult  zu  sein  aufhört.  Hat  doch  Gruppe 
neuerdings  die  gesamte  außerbabylonische  Mythologie  auf 
Adaptation  zurückgeführt!  und  ist  nicht  selbst  innerhalb  einer 
geschlossenen  nationalen  Mythologie  die  Übertragung  von 
Mythen  und  Kulten  eine  alltägliche  Erscheinung? 

Die  Ursprünglichkeit  ist  so  wenig  Postulat  der  Mythologie, 
daß  vielmehr  gerade  die  Nachahmung  eine  Hauptquelle  von 
Mythen  werden  kann. 

Über  die  Psychologie  der  Religionsstifter  und  Heiligen 
ist  neuerdings  vielfach  gearbeitet  worden.  Peschels  all- 
gemeine Betrachtungen,  Görres'  ungemein  fleißige  aber  allzu 
kritiklose   Sammlungen   in   der  „Christlichen   Mystik"   werden 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  281 

in  modernerem  Geist  fortgeführt  von  Henry  Joly  (Psychologie 
des  Saints)  und  besonders  William  James  (The  varieties  of 
religious  experience);  Brauchbares  neben  viel  unbrauchbarem 
Material  bringt  seit  zwei  Jahren  auch  die  „Zeitschrift  für  Re- 
ligionspsychologie". Unzweifelhaft  ist  es  dabei  wiederholt  ge- 
lungen, Phänomene  der  „mythologischen  Epoche"  an  Lebenden 
zu  beobachten.  Man  nehme  das  Wunder  der  Bekehrung  des 
Saulus  (vgl.  Edv.  Lehmann,  Mystik  S.  61):  hat  man  Grund 
anzunehmen,  daß  es  sich  von  modernen  Konversionen  wesent- 
lich unterscheidet,  wie  sie  Huguet  (Celebres  conversions 
contemporaines,  Paris  1852)  analysiert  (vgl.  auch  M.  Prince, 
Zeitschr.  f.  Religionspsychologie  I  59,  Hahn,  Die  große  Er- 
weckung S.  38 f.)?  Eine  intensive  Beschäftigung  mit  der 
gegnerischen  Gedankenwelt  geht  vorher;  sie  führt  unmerklich 
dazu,  daß  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  Gegners  versetzt 
—  und  plötzlich  bemächtigt  sich  die  bekämpfte  Anschauung 
des  so  lang  Widerstrebenden!  So  braucht  die  Wandlung  des 
Saulus  zu  Paulus  nicht  anders  erklärt  werden  als  die  berühmte 
des  Alphonse  Ratisbonne  am  20.  Januar  1835  (vgl.  Huguet 
S.  359,  James  S.  223.  257).  Eine  Vision  als  Zwischenglied 
zwischen  der  noch  unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins 
bleibenden  Vorbereitung  und  dem  Moment,  den  man  theologisch 
als  „Durchbruch  der  Gnade"  bezeichnet,  ist  in  beiden  Fällen 
bezeugt  und  hat,  abgesehen  von  der  augenscheinlichen  Wahr- 
haftigkeit beider  Aussagen,  noch  alle  psychologische  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich.  Aber  ein  Moment  wird  bei  den  Kon- 
versionen zumeist  übersehen,  das  mir  von  großer  Wichtigkeit 
scheint:  die  Nachahmung  im  engeren  Sinne,  die  Anpassung  an 
das  Wesen  einer  bestimmten  Persönlichkeit. 

Daß  bei  Ratisbonne  ein  gewisses  Eingehen  auf  die  Art 
seines  Bekehrers,  des  H.  de  Bassierre,  mitgewirkt  hat,  scheint 
auf  der  Hand  zu  liegen.  Aber  für  die  gesamte  Heiligenwelt  des 
Christentums  wie  des  Buddhismus  spielt  vor  allem  die  unmittel- 
bare Nachahmung  des  Religionsstifters  eine  fundamentale 


282  Richard  M.  Meyer 

Rolle.  Jene  „Nachfolge  Christi",  die  das  unsterbliche  Andachts- 
buch des  Thomas  a  Kempis  predigt,  ist  von  Heiligen  wie 
Franz  von  Assisi  als  so  greifbare  Wahrheit  erlebt  vrorden,  daß 
die  Suggestion  der  Stigmata,  man  möchte  fast  sagen,  gar  nicht 
unterbleiben  konnte.  Freilich  gehört  zu  solchem  Maß  der 
„Einfühlung"  (um  einen  wichtigen  Kunstausdruck  der  deut- 
schen Ästhetik  in  die  Religionspsychologie  zu  übertragen),  des 
Hineinversetzens  in  eine  fremde  Individualität,  um  wieder 
theologisch  zu  reden,  „Gnade";  und  die  innere  Verwandtschaft 
des  Pater  Seraphicus  mit  Christus  beruht  eben  darauf,  daß  er 
ein  „religiöses  Genie"  war;  ein  typischer  Religionsstifter,  bietet 
er  deshalb  der  Legende  Gelegenheit  zu  den  wunderbarsten 
„conformitates"  wie  mit  Christus,  so  mit  Buddha  (vgl.  meinen 
Aufsatz  in  der  „Nation"  24,  392).  Aber  die  penetration  des 
sentiments  d'autrui  bezeichnet  Joly  (S.  23)  sehr  treffend  als 
ein  Hauptelement  im  Wesen  auch  der  geringeren  Heiligen;  von 
hier  aus  erklärt  er  die  Prophetengabe  der  hl.  Katharina  von  Siena. 
Man  wird  auch  für  die  Wunderheilungen  dies  Moment  nicht 
außer  acht  lassen  dürfen;  nur  wirkt  es  da  auf  beiden  Seiten, 
Der  Thaumaturg  steigt  hinein  in  die  Seele  des  Gelähmten, 
und  indem  er  gleichsam  von  dort  aus  den  Gestus  des  Genesen- 
den vornimmt,  hilft  er  dem  Kranken,  der  seinerseits  die  Ge- 
bärden des  Wundertäters  instinktiv  wiederholt,  sich  erheben. 
Der  Arzt  holt  aus  der  Seele  des  Kranken  die  Vorbereitung, 
der  Kranke  aus  der  des  Arztes  den  „Heilwillen",  wie  unsere 
Romantiker  sagten:  durch  Entschluß,  aufzustehen  und  zu 
wandeln.  Die  körperliche  Heilung  wird  ganz  so  behandelt 
wie  die  moralische,  bei  der  auch  der  Prediger  unverständlich 
bleibt,  wenn  er  sich  nicht  in  die  Seele  des  Sündigen  versenkt, 
und  der  Hörer  ungeheilt,  wenn  er  sich  nicht  an  die  Seele  des 
Predigers  anklammert  Nicht  wenige  Zeugnisse,  die  unmittel- 
bar auf  diese  „Rettung  durch  den  Glauben"  deuten,  findet  man 
noch  bei  den  neuesten  Thaumaturgeu,  bei  Mrs.  Eddy,  bei  dem 
Propheten    Doure;    wobei    noch    daran    erinnert    werden    muß. 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  283 

welche  starke  Rolle  die  Autosuggestion  sogar  bei  einem 
Scharlatan  spielt.  In  dem  Augenblick,  da  er  Wunder  tun 
wollte,  glaubte  wahrscheinlich  Cagliostro  selber  daran:  so  stark 
durchdrang  er  sich  mit  der  Yorstellung  eines  Wundertäters. 

Diese  Nachahmung  verehrter  Persönlichkeiten  hat  nun 
aber  wiederum  ihren  Hauptsitz  in  den  religiösen  Sekten.  Sie 
beginnt  mit  der  äußeren  Nacbahmung  einzelner,  bezeichnender 
Taten.  Auf  manchem  ^\  allfahrtsweg  schleppen  die  Gläubigen 
Kreuze;  aber  es  kommt  noch  anderes  vor:  Prof.  Balz  teilte  auf 
der  Stuttgarter  Naturforscherversammlung  (21.  Sept.  1906)  mit, 
daß  sich  eine  Frau  1731 — 34  jedes  Jahr  am  Karfreitag  „ganz 
nach  der  Art  des  Heilands  ans  Kreuz  nageln  ließ  und  so  voll- 
kommen in  Ekstase  war,  daß  sie  keinen  Schmerz  fühlte."  — 
Indessen  sind  das  erst  Vorstufen:  Nachahmung  nicht  der  Per- 
sönlichkeit, sondern  einzelner  Kundgebungen  Nichts  ist  aber 
häufiger,  als  daß  der  Verehrer  die  verehrte  Persönlichkeit  un- 
mittelbar und  als  Ganzes^  zu  reproduzieren  versucht,  oder  viel- 
mehr, da  dieser  Ausdruck  viel  zu  viel  bewußten  Willen  an- 
deutet: daß  infolge  jener  „Einfühlung"  in  seinen  Willen  er 
sich  völlig  mit  diesem  eins  fühlt.  So  entsteht  eine  der  häufigsten 
Formen  moderner  Mythologie:  die  des  „falschen  Messias". 

In  allen  Zeiten  hat  die  Sehnsucht  gläubiger  Menschen  einen 
Vollender  all  ihres  Sehnens  erhofft  und  in  der  Gestalt  eines 
Messias  realisiert  (C.  Scholl,  Die  Messiassagen  des  Morgenlandes 
Hamburg  1852).  Selbst  die  nüchternen  Chinesen  sollen  am 
Ende  der  Tage  einen  vollendenden  „großen  Heiligen"  erwarten 
(ebd.  S.  12).  Dieses  Verlangen  nach  einem  Erfüller  aller 
Sehnsucht  vereinigt  sich  bei  christlichen  Sekten  mit  dem 
Glauben  an  Christus  als  den  Messias.  Während  also  in  den 
„falschen  Propheten"  des  Islams  —  noch  zuletzt  in  dem  von 
Lord  Kitchener  im  Sudan  besiegten  Mahdi  —  nur  die  allgemeine 
Idee  des  Messias  verkörpert  wird,  nimmt  sie  bei  den  christlichen 
Ketzern  spezifisch  die  Gestalt  des  wiedergeborenen  Christus  an. 
Hierfür  gerade  sind  die  russischen  Sekten  mit  ihrer  archaischen 


284  Richard  M.  Meyer 

Einfaclilieit  ungemein  bezeichnend.  Der  Stifter  des  Chlüstentums 
erklärt  sich  für  Christus  und  den  Sohn  Gottes  (Grass,  Die 
russischen  Sekten  1,  57  u.  ö.);  der  Begründer  der  Skopzen  hält 
sich  für  den  göttlichen  Erlöser  und  Sohn  Gottes  (Grass,  Die 
geheime  heilige  Schrift  der  Skopzen  S.  1  u.  ö.);  und  eben  jetzt 
berichten  die  Zeitungen,  daß  die  „Johanniten"  den  bekannten 
Priester  Johann  von  Kronstadt  für  den  auferstandenen  Christus 
in  Persien  halten  (s.  Vossische  Zeitung  1.  Nov.  1907).  In 
weiterer  Nachahmung  des  Vorbildes  findet  sich  zu  dem  Gottes- 
sohn fast  regelmäßig  eine  Gottesgebärerin;  so  bei  Pöschl,  bei 
Skopzen  und  Chlüsten,  bei  den  Johanniten  und  eben  jetzt  wieder 
bei  der  polnischen  Sekte  der  Mariaviten  (verdammt  durch  Dekret 
der  Inquisition  am  4.  Sept.  1904  und  durch  Enzyklika  an  die 
polnischen  Bischöfe  vom  26.  Mai  1906;  vgl.  allg.  B.  Merwin, 
Österr.  Rundschau  8,  484,  Zs.  f.  Rel.  Psychol.  1,  469).  Und 
weiter  führt  diese  Nachahmung  des  Vorbildes  dahin,  daß  die 
ganze  Passion  wirklich  nacherlebt  wird;  wofür  der  arme  italie- 
nische Prophet  Lazzaretti  ein  typisches  Beispiel  ist.  Nicht  aus 
innerer  Verwandtschaft  heraus  wie  bei  Franz  von  Assisi  sondern 
aus  dem  „Nachleben  Christi"  heraus  finden  sich  da  Einzelzüge, 
wie  der  Judas,  der  angekündigte  Tag  der  Vollendung,  der  feier- 
liche Einzug;  auch  die  gut  mythologischen  Zahlen  (E.  Ras- 
mussen.  Ein  Christus  aus  unseren  Tagen  S.  160  u.  ö.),  die 
sich  natürlich  auch  z.  B.  bei  den  Chlüsten  einstellen  (400 
Jahre:  Grass  a.  a.  0.  S.  400;  33  Jahre:  S.  24;  im  hundertsten 
Jahr  S.  26,  27).  Als  letztes  Siegel  der  Göttlichkeit  kommt 
dann  die  „Trauer  der  ganzen  Natur"  hinzu  —  ein  so  uralt 
mythischer  Zug,  daß  er  bei  den  russischen  Gottesleuten 
(„und  so  lange  war  ein  Nebel  über  der  ganzen  Erde, 
wie  lange  Danila  Philipo witsch  im  Kerker  saß"  S.  13)  so 
wenig  aus  dem  biblischen  Bericht  entlehnt  zu  sein  braucht 
wie  bei  Osiris  oder  bei  Balder  —  bei  dem  wieder  Bugge  das 
behauptet  hat.  Dagegen  sind  natürlich  die  Jungfrauengeburt 
(durch   eine    Greisin   S.  16:    die   hl   Anna    mit    der   hl.   Maria 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  285 

kombiniert)    oder    die    zwölf  Gebote    (S.  15)    eine    Folge    des 
Wiedergeburtsmythus. 

Natürlich  kann  das  Maß  des  Mystischen  in  diesen  „Xach- 
folgem  Gottes"  sehr  verschieden  sein  (vgl,  Joly  a.  a.  0.  S.  45 f.). 
Daß  die  russischen  (und  polnischen)  Häresiarchen  so  unmittelbar 
mythologisch  anmuten,  daß  in  ihnen  nicht  nur  Apollonius  von 
Tyana  erneut  scheint,  sondern  viel  Älteres:  die  uralte  Gleich- 
setzung von  Gott  und  Priester,  ein  Hauptstück  im  Kultus  der 
alten  Azteken  wie  der  alten  Germanen  und  in  Tibet  wie  in 
Rom  —  das  liegt  freilich  an  der  Kulturlosigkeit  dieser 
slawischen  Bauern,  die  fast  Geschichtslosigkeit  heißen  dürfte. 
Aber  wo  immer  der  Verstand,  die  Sitte,  die  täglichen  Be- 
dürfnisse aufhören,  Hemmnisse  für  das  freie  Ausleben  der  An- 
schauungen zu  sein,  da  haben  wir  Mythologie.  Die  Ducho- 
borzen,  deren  sich  Tolstoi  so  tapfer  annahm,  sind  in  ihrer 
Lebenshaltung  viel  normaler  als  die  Skopzen;  aber  auch  sie 
erwarten  so  heiß  den  Messias,  daß  die  Zeitungsnachricht  (am 
23.  November  1906,  Vossische  Zeitung),  auch  sie  hätten  einen 
leibhaftigen  Christus  unter  sich  gefunden,  nicht  unwahrscheinlich 
klingt.  Ebenso  mußte  die  glühende  Sehnsucht  der  Juden  nach 
einem  Messias  Erfüllung  finden:  sie  verkörpert  sich  in  histo- 
rischen Gestalten  wie  Sabbathai  -  Zewi  oder  dem  Baal  Schem 
der  Chassidim  im  18.  Jahrhundert,  dessen  höchst  interessante 
Legenden  (von  Martin  Buber  1907  und  1908  übersetzt) 
noch  lehrreicher  wären,  wenn  man  den  Grad  der  wissenschaft- 
lichen Genauigkeit  bei  dem  Bearbeiter  kennte.  Aber  Analogien 
zu  Kriterien  christlicher  Heiligkeit  wie  dem  Erraten  fremder 
Gedanken  (Joly  S.  23)  stehen  fest  —  Das  einfache  Liedchen 
der  Spohnianer,  deutscher  Chiliasten  im  Kaukasus  (vgl.  Moritz 
Busch,  Wunderliche  Heilige,  Leipzig,  1879,  S.  128)  steht 
weit  ab  von  den  ekstatisch  verzerrten  Gesängen  der  Chlüsten; 
aber  die  Visionen  und  die  Anbetung  einer  Gottesmutter  teilen 
sie  mit  jenen.  Und  der  sachliche  Bericht  Hyram  Smiths  über 
die  Verfolgungen  der  Mormonen    (M.  Busch,    Geschichte    der 


286  Richard  M.  Meyer 

Mormonen,  S.  98)  sticlit  von  dem  Selbstbericht  des  Skopzen 
Seiiwanow  so  stark  ab  wie  der  „Amerikanismus"  von  dem 
Wesen  der  russischen  Orthodoxie;  aber  das  mythische  Element 
befehlender  Offenbarungen  und  die  Herrschgewalt  des  Pro- 
pheten teilen  die  sehr  weltlichen  Heiligen  der  Letzten  Tage 
mit    den    asketischen    Selbstverstümmelern. 

Und  dies  mythologische  Element  läßt  sich  nicht  einmal  durch 
ein  großes  Maß  von  Wissenschaftlichkeit  allein  vertreiben.  Des 
ist  Zeuge  der  gelehrte  Visionär  Swedenborg,  dessen  Neue  Kirche 
noch  heute  Missionare  aussendet,  die  die  unmittelbare  Realität 
seiner  Offenbarungen  predigen.  Gerade  diese  Lehren  sind  sehr 
interessant,  weil  dieselben  Männer,  die  so  Eigentümliches  über 
die  Natur  der  Engel  verkündigen,  die  wörtliche  Auslegung  von 
Bibelstellen  öfters  ablehnen  (die  Lehren  der  Neuen  Kirche 
in  der  Deutschen  Synode  der  Neuen  Kirche,  S.  9.  27).  Des  ist 
Zenge  aber  auch  ein  so  großer  Gelehrter  und  Denker  wie 
Nietzsche,  wenn  er  sich  am  Ende  seiner  Laufbahn  mit  be- 
wußter Hemmungslosigkeit  dem  Mythologem  der  „Ewigen 
Wiederkehr"  hingab. 

Aber  selbst  wo  Phantastik  oder  Leidenschaft  nicht  mit- 
wirken, führt  die  unbegrenzte  Hingabe  an  eine  Anschauung 
zum  Mythus.  Denn  in  solchen  Fällen  ist  der  Atavismus  der 
mythologischen  Begriffsbildung  zwar  nicht,  wie  in  den  bisher 
besprochenen  Fällen  allen,  psychologisch,  wohl  aber  logisch 
bedingt. 

In  einem  Aufsatz  über  „Die  Grenzen  des  Irrtums" 
(wieder  abgedruckt  in  meinen  „Gestalten  und  Problemen", 
S.  299)  habe  ich  zu  erweisen  gesucht,  daß  dem  Menschen  nicht 
einmal  im  Irren  unbegrenzte  Freiheit  gegeben  ist.  Es  bleibt 
ihm  auch  für  die  kühnsten  Phantasien,  für  die  tollsten  Hypo- 
thesen, für  die  unglaublichsten  Kombinationen  nur  ein  be- 
schränkter Spielraum.  Deshalb  kommt  auch  die  geschulte  wissen- 
schaftliche Phantasie,  wenn  sie  das  ihr  abgesteckte  Gebiet  über- 
fliegen will,  über  mythische  Anschauungen  und  Ideen  nicht  heraus. 


Mythologische  Studien  ans  der  neuesten  Zeit  287 

Diese  Seite  ist  fast  so  wenig  beachtet  worden,  wie  die 
psychologische  häufig.  Gewiß  ist  auch  ihre  praktische  Be- 
deutung um  so  viel  geringer,  wie  gelehrte  Phantasten  seltener 
sind  als  sektiererische  Visionäre.  Theoretisch  aber  ist  die 
Wichtigkeit  kaum  weniger  groß. 

Ich  spreche  hier  nicht  von  den  „gelehrten  Legenden",  in 
denen  auf  wissenschaftlichem  Wege  unrichtige  Ergebnisse  ge- 
wonnen werden,  die  sich  dann  wie  Tatsachen  in  unserer  An- 
schauung festsetzen.  Hier  könnte  man  ein  mythologisches 
Element  höchstens  in  dem  festen  Glauben  finden,  in  dem 
etwa  Goethe  mit  den  unrichtigen  Ergebnissen  seiner  Farben- 
lehre beharrte.  Aber  hier  handelt  es  sich  nur  um  die  Kano- 
nisation  eines  Irrtums;  dieser  selbst  aber  ist  ohne  jene 
hemmungslose  Hingabe  an  eine  Anschauung  erzeugt,  die  uns 
für  das  Mythologische  wesentlich  und  charakteristisch  schien 
Für  diese  dagegen  scheinen  mir  zwei  besonders  lehrreiche 
Gruppen   die   Meditations-    und    die   Schöpfungsmythen 

Die  Meditation,  die  Versenkung  in  andächtige  Stimmung, 
die  wir  als  eine  HauptqueUe  der  Mythologie  ansahen,  ist  bei 
den  Mystikern  aUer  Zungen  zum  Gegenstand  gelehrter  Schulung 
und  künstlicher  Technik  geworden.  Am  weitesten  geht  dies 
„Training"  im  Yoga  der  Inder  (vgl.  z.  B.  James  S.  400 f.; 
K.  Schmidt,  Fakire  und  Fakirtum  passim).  Von  irgend- 
welcher ürsprünglichkeit  ist  bei  der  mit  allen  Hilfsmitteln 
genährten  „Loslösung  von  der  Existenz"  gewiß  nicht  die  Rede. 
Auch  kann  man  ohne  gewaltsame  Ekstase  durch  sie  hindurch- 
gehen, wie  Max  Müllers  schönes  Buch  über  den  edlen  und 
reinen  Ramakrishna  (London  1898)  lehrt.  Ramakrishna 
(1833  — 1886)  erreicht  durch  fromme  Versenkung  die  höchsten 
Stufen  der  Meditation:  die  Einheit  mit  dem  weltdurchdringenden 
Brahman  (Ekam  advitigam  a.  a.  0.  S.  79)  und  die  Identi- 
fikation mit  allem  was  lebt  {Tat  tvam  asi  S.  91).  Aber  was 
ist  beides  anders  als  jene  urmythologische  Gleichsetzung  von 
Priester  und  Gott    (s.  oben)    oder    als    jene    Übertragung    der 


288  Richard  M.  Meyer 

eigenen  Überkraft  in  unbelebte  Dinge,  die  wir  Fetischismus 
nennen  (vgl.  meinen  Aufsatz,  Arcb.  f.  Rel.-Wiss.  11,  320). 

Noch  seltsamer  zeigt  sich  auf  einem  anderen  Gebiet  der 
Zwang  des  Mythischen. 

Über  nichts  pflegten  sich  unsere  Aufklärer  so  grenzenlos 
zu  verwundern,  wie  über  die  „Abgeschmacktheit"  der  heid- 
nischen Schöpfungssagen.  Und  in  der  Tat:  sieht  man  Lukas' 
gutes  Buch  (Die  Grundbegriffe  in  den  Kosmogonien  der  alten 
Völker,  Leipzig  1893)  durch,  so  erschrickt  man  zuerst  vor 
einem  Höllenbreughel  phantastischer  Anschauungen.  Die  Welt 
entsteht,  indem  aus  dem  ürwasser  ein  Ei  hervorgeht  (bei  den 
Ägyptern,  a.  a.  0.  S.  59)  oder  der  Sohn  eines  Eies  (bei  den 
Indern,  S.  89);  oder  sie  blüht  aus  der  Knospe  auf  (ebenfalls 
bei  den  Indern,  S.  91).  Häufig  wird  sie,  was  begreiflich  ist, 
als  Produkt  eines  geschlechtlichen  Aktes  dargestellt  (auch  bei 
den  Indern,  S.  91).  Doch  schon  früh  tritt  an  die  Stelle  solcher 
rasch  aus  der  Vermutung  in  den  Glauben  übergegangener 
Hypothesen  die  wissenschaftliche  Arbeit:  Hesiod  schon  kommt 
(nach  Zeller)  auf  dem  Wege  „der  stufenförmigen  Abstraktion" 
zu  dem  Chaos  als  Urprinzip  (S.  158)  —  wohin  altindische, 
altgermaniscbe,  vor  allem  auch  altbabylonische  Kosmogonie 
längst  auch  gelangt  war. 

Die  Kosmogonie  hat  die  Forscher  nicht  wieder  losgelassen: 
Lucrez,  Descartes,  Kant  (verglichen  von  A.  Ho  ff  mann. 
Vossische  Zeitung,  29.  Febr.  1908),  Haeckel,  Svante  Arrhenius 
(Das  Werden  der  Welten,  S.  107,  vgl.  allg.  Troels-Lund, 
Himmelsbild  und  Weltanschauung  im  Wandel  der  Zeiten, 
Leipzig  1908;  Svante  Arrhenius,  Die  Vorstellung  vom 
Weltgebäude  im  Wandel  der  Zeiten,  Leipzig  1908).  Über- 
wiegend haben  diese  sich  wohl  noch  in  wissenschaftlichen 
Grenzen  gehalten,  d.  h.  Hemmungsmaßregeln  walten  lassen, 
obwohl  Ostwald  in  seiner  Naturphilosophie  alle  kosmogonische 
Spekulation  an  sich  für  unwissenschaftlich  erklärt.  Sicher 
aber  ist  sie  das  wenigstens  oft  geworden. 


Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit  289 

Im  Anhang  zu  seiner  Streitschrift  gegen  den  Materialisten 
Carl  Vogt  („Der  Kampf  um  die  Seele  vom  Standpunkt  der 
Wissenschaft",  Göttingen  1857)  teilt  Rudolf  Wagner  in 
ironischer  Absicht  drei  „Ansichten  über  Menschenschöpfung 
aus  den  Kosmogonien  deutscher  Gelehrten  im  19.  Jahrhundert" 
mit.  Schelver,  der  Botaniker,  vermutet  (a.  a.  0.  S.  136),  daß 
in  Afrika  noch  „der  Keim  und  der  Embryo  der  körperlichen 
Natur  des  Menschengeschlechts"  zu  entdecken  sei.  Da  haben 
wir  den  Urmenschen  der  Mythologien  und  Schöpfungssagen, 
der  sich  noch  größtenteils   in  den  Hau  den  der  Natur  befindet 

—  die  Natur  also  gut  mythologisch  als  eine  Gottheit,  ein 
Prometheus  gedacht,  die  formt  und  fertig  Geformtes  aus  ihrer 
Hand  entläßt!  —  Der  Zoolog  Oken  erklärt  i^S.  139)  das  Meer 
für  den  Uterus,  in  dem  sich  der  erste  Mensch  als  Fötus  ent- 
wickelt habe,  aus  dem  Schleim,  das  Infusorien  bildet  (^S.  141), 
in  einer  bestimmten  Temperatur  (S.  143).  Da  haben  wir  die 
Entstehung  aus  dem  „Urschlamm"  (vgl.  R.  Wagner  S.  121), 
wie  sie  auch  Phönizier  und  Orphiker  (Lukas  S.  193)  verkünden! 

—  Der  Physiker  Rötgen  kombiniert  diesen  Urschlamm  mit  dem 
Menschenei  (S.  144)  und  legt  dies  Ei  auf  den  Himalaya  (S.  166). 
Auch  zahlreiche  Kosmogonien  (Lukas  S.250)  kombinieren  Ei  und 
Urmaterie,  und  die  Bibel  kennt  den  Ort  der  Menschenschöpfung. 

Man  wiederhole  nicht  einfach  Goethes  Verse: 

Man  kann  nichts  Kluges,  kann  nichts  Dummes  denken, 
Was  nicht  die  Vorwelt  schon  gedacht, 

sondern  man  erkenne  die  logische  Notwendigkeit  an,  die  bei 
jeder  hemmungslos  ausgedachten  und  ausgesprochenen  Hypo- 
these den  über  die  Entstehung  des  Lebendigen  grübelnden 
Gelehrten  in  die  Nähe  uralter  Kosmogonien  und  somit  „in 
innigste  Beziehung  zu  Mythus,  Religion  und  Ritus"  der  Ur- 
völker  (Lukas  S.  256)  treten  läßt! 

Auch  dies  ist  kein  neuer  Gedanke,  und  Carl  Haupt- 
mann hat  schon  ein  Buch  über  die  Mythologie  in  der 
modernen  Physiologie  geschrieben,   und   einst  hat  Alexander 

Archiv  f.  Beligionsinrigsenschaft  XIII  jg 


290     Richard  M.  Meyer    Mythologische  Studien  aus  der  neuesten  Zeit 

V.  Humboldt  den  physiologischen  Gedanken  der  Lebenskraft 
(in  den  „Ansichten  der  Natur "j  in  einem  Mythus  verkörpert. 
Oder  Gottfried  Keller  erzählt,  wie  seine  Dichterphantasie 
die  „Blut wellen"  bei  Jakob  Huches  anatomischem  Vortrage 
fließen  und  wogen  sah.  Aber  nicht  darauf  kommt  es  uns  hier 
an,  Rückfälle  in  die  Vergötterung  oder  Substantialisierung 
von  BegriflFen  vorzuzeigen.  Vielmehr  sollten  unsere  Beispiele 
aus  dem  Treiben  neuerer  Sekten,  aus  dem  Leben  moderner 
Propheten,  aus  dem  Denken  unlängst  verstorbener  Gelehrten 
die  ungeschwächte  Fortdauer  des  mythenbildenden  Triebs  und 
seine  psychologische  oder  logische  Notwendigkeit  zeigen.  Die 
Seele  und  der  Verstand  des  Menschen  besitzen  nur  ein  be- 
grenztes Maß  von  Möglichkeiten,  ihre  Anschauungen  oder 
Stimmungen  zum  Ausdruck  zu  bringen;  wer  bis  an  die  Grenzen 
dieser  Möglichkeiten  geht,  wird  immer  mit  denen  zusammen- 
treffen, die  in  Urzeiten  bis  zu  diesen  Grenzen  gegangen  sind. 
Was  Seh  er  er  die  Methode  der  wechselseitigen  Erhellung 
nannte,  das  hat  in  der  Religionsgeschichte,  Religionspsycho- 
logie, Mythologie  noch  eine  weite  Laufbahn  vor  sich.  Es 
würde  sich  wohl  verlohnen,  moderne  Thaumaturgen  wie  Mr. 
Dowie  und  Mr.  Eddy  systematisch  auf  die  Elemente  ihres 
Prophetentums  zu  prüfen:  was  ist  hier  Nachahmung  christ- 
licher Vorbilder,  was  psychologischer  Zwang  zum  Mythischen? 
Nicht  minder  dankbar  wäre  eine  systematische  Prüfung  philo- 
sophischer Spekulationen  über  das  unserer  Beobachtung  Ent- 
zogene; denn  etwa  die  Spekulationen  über  das  Weltende  be- 
rühren sich  nicht  minder  unvermeidlich  mit  alter  Eschatologie, 
als  die  über  die  Weltentstehung  mit  alter  Kosmogonie.  Den 
Spielraum  der  menschlichen  Phantasie  auszumessen  ist  eine 
so  lockende  als  dringende  Aufgabe  der  Psychologie  —  Ribots 
bekanntes  Werk  über  die  Phantasie  hat  das  Problem  nicht 
einmal  gestreift;  kennen  wir  erst  ihre  Bewegungsfreiheit,  so 
werden  wir  auch  über  „Ähnlichkeiten"  und  „Entlehnungen" 
in  der  Mythologie  vorsichtiger  zu  urteilen  lernen! 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie 

Von  F.  Skutsch  in  Breslau 

In  seiner  Besprechung  von  Zieglers  Firmicus  (Berl.  phil. 
Woch.  1909  Nr.  25)  erwähnt  Weyman  eine  ihm  von  mir  brief- 
lich mitgeteilte  Vermutung.  Ich  hätt«  sie  lieber  noch  zurück- 
gehalten und  künftig  in  etwas  größerem  Zusammenhang  be- 
gründet; nachdem  sie  aber  einmal  das  Licht  der  Öffentlichkeit 
erblickt  hat,  mochte  ich  ihr  doch  ein  paar  Geleitworte  mit- 
geben, so  gut  mir  das  im  Augenblick  möglich  ist.  Nach  zwei 
Seiten  muß  ich  dazu  etwas  weiter  ausholen. 

I 

Bereit«  im  Jahr  1870  hat  F.  Probst  (Liturgie  der  drei  ersten 
christlichen  Jahrhunderte)^  die  Beobachtung  gemacht,  daß  das 
eucharistische  Gebet  im  8.  Buch  der  apostolischen  Konstitutionen 
(CA)  mit  Stellen  namentlich  bekannter  christlicher  Autoren  so 
genau  übereinstimmt,  daß  an  einer  gemeinsamen  Quelle  kein 
Zweifel  sein  kann.  Diese  Quelle  fand  er  unter  Berufung  auf 
Justin  apol.  I  13  u.  65  in  einem  von  alters  her  bei  der  Kom- 
munion üblichen  Gebete:  Justins  Inhaltsangabe  eines  solchen 
stimmt  genau  zu  jenem  aus  den  CA  und  den  anderen  Autoren 
erschlossenen  Gebete  (Preis  Gottes  für  die  Schöpfung,  Dank 
für  die  daraus  sich  ergebenden  Vorteile,  für  den  Wandel  der 
Jahreszeiten). 

Nur  allmählich  hat  sich  die  Forschung  entschlossen,  Probst 
zu  folgen  und  hier  wirklich  an  ein  Stück  altchristlicher  Liturgie 


'  Ich  bin  auf  die  ganze  Frage  an^erksam  geworden  durch  den 
nachher  zu  zitierenden  Aufsatz  von  Weyman.  Diesem  Aufsatz  verdanke 
ich  auch  viel  von  meiner  Literatuxkenntnis. 

19* 


292  F.  Skutsch 

zu  glauben.  Aber  die  rasch  aufeinanderfolgenden  Entdeckungen 
des  gleichen  Gebetstextes  in  älteren  christlichen  Schriftstellern 
müssen  nachgerade  jeden  Zweifel  beheben.  Ich  führe  hier 
diejenigen  Gelehrten  auf,  die  sich  (ohne  freilich  immer  die 
Konsequenz  mit  voller  Entschiedenheit  zu  ziehen)  durch 
Heranziehung  neuen  Materials  und  in  anderer  Weise  um  die 
Frage  verdient  gemacht  haben.  Gelegentlich  behandelt  ist  sie 
von  Kattenbusch  (Das  apostol.  Symbol  II  348  ff.),  von  Wilpert 
(Fractio  panis,  Freiburg  1895,  S.  48  ff.)  und  von  Gregoire  in 
seiner  Ausgabe  des  Martyriums  der  Drillinge  Speusippos,  Ela- 
sippos  und  Melesippos  (Saints  jumeaux  et  dieux  cavaliers, 
Paris  1905,  S.  32  ff.),  energisch  in  Angriff  genommen  von  Drews 
(Untersuchungen  über  die  sog.  dement.  Liturgie,  Tübingen  1906)- 
Dann  hat  neuestens  Weyman  einen  neuen  Zeugen  (Ps.-Cyprian 
=  Novatian  de  spect.)  vorgeführt  und  bei  der  Gelegenheit  sehr 
förderliche  Einzelbemerkungen  gemacht  (Histor.  Jahrbuch  d. 
Görres-Gesellschaft  1908  S.  575ff.).^ 

n 

Unter  dem  Namen  des  Julius  Firmicus  Maternus  besitzen 
wir  bekanntlich  aus  dem  4.  Jahrhundert  ein  umfängliches 
astrologisches  Werk  'mathesis'  und  eine  christliche  Schrift  ^de 
errore  profanarum  religionum'.  Frühere  Philologengeschlechter 
glaubten  die  beiden  Erzeugnisse  nicht  einem  und  demselben 
Firmicus  zutrauen  zu  dürfen;  seit  Kroll  und  ich  die  Identität 
der  Verfasser  zuerst  bestimmt  ausgesprochen  haben  (Herm.  29, 
519),  haben  sich  die  Beweise  so  gehäuft,  daß  heute  kein 
Zweifel  mehr  sein  kann:  es  genügt  dafür  hier  ein  Verweis  auf 
BoUs  vorzüglichen  Artikel  'Firmicus'  im  Pauly-Wissowa. 

Die  Verschiedenheit  der  Anschauungen  in  beiden  Werken 
schien  ein  Blick  auf  die  Chronologie  genügend  aufzuklären. 
Buch  II  der  Mathesis  fällt  ins  Jahr  336  oder  in  den  Anfang  von 

*  E.  V.  d.  Goltz  Das  Gebet  in  der  ältesten  Christenheit   (Leipzig  1901) 
ist  auf  diese  Fragen  nicht  eingegangen. 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie  293 

337  (Mommsen  Herrn.  29,  470 ff.);  die  christliche  Schrift  fällt 
sicher  nicht  vor  343,  wahrscheinlich  346  (siehe  z.  B.  Boll  a.  a.  0.). 
Firmicus  hätte  also  Zeit  gehabt,  sich  inzwischen  zum  Christen- 
tum zu  bekehren. 

Tatsächlich  war  man  auf  irgendwie  bedeutsame  Spuren 
des  Christentums  in  der  mathesis  nicht  gestoßen.  Denn  KroUs 
Beobachtung,  daß  die  Mathesis  den  hebraisierenden  Ersatz  des 
ablativus  comparationis  durch  a  kennt  (Rhein.  Mus.  52,  588), 
konnte  an  sich  Bekanntschaft  des  Astrologen  Firmicus  mit 
christKcher  Literatur  nicht  überzeugend  beweisen  Schwerer 
fäUt  schon  ins  Gewicht  ein  merkwürdiger  Satz,  der  der  Mathesis 
mit  der  christlichen  Schrift  gemeinsam  ist,  unter  den  zahlreichen 
sprachlichen  Berührungen  beider  die  auffallendste,  trotzdem  aber 
Ziegler  in  seiner  trefflichen  Ausgabe  des  Christen  entgangen 
und  erst  ganz  neuerdings  von  Weyman  (in  seiner  Besprechung 
Zieglers)  und  von  mir  beobachtet.  ,,Was  Gott  will,  ist  schon 
geschehen"  drückt  der  Christ  (S.  68,  11  Z.)  so  aus:  volunius  dei 
perfedi  operis  snhstantia  est.  Wörtlich  dasselbe  steht  S.  280, 
17  f.  unserer  Ausgabe  des  Astrologen,  und  zwar  nicht  etwa  bei- 
läufig,  sondern  in  dem  feierlichen  Gebete  an  den  quicumque  es 
deus,  mit  dem  er  sein  fünftes  Buch  erööhet. 

Aber  dies  selbe  Gebet  zeigt  noch  in  weit  umfassenderer 
und  sichrerer  Weise,  wie  nahe  schon  der  Astrologe  Firmicus 
dem  Christentum  stand;  denn  es  deckt  sich  mit  wesentlichen 
Teilen  jenes  alten  liturgischen  Gebets,  dessen  Spuren  Probst 
uns  verfolgen  gelehrt  hat.  Und  um  jeden  Gedanken  an  Zufall 
auszuschließen,  ein  wiederum  ganz  ähnliches  Gebet  eröffnet 
auch  das  siebente  Buch  der  Mathesis  und  ergänzt  sich  mit  dem  im 
fünften  Buch  zu  einem  vollkommenen  Ebenbild  des  christlichen. 

III 

Der  Beweis  für  diese  Behauptung  wird  hier  einfach  durch 

Zusammenfassung  der  so  verschiedenartig  gebrochenen  Strahlen 

geliefert.    Ich  zerlege  die  Gebete  des  Firmicus  in  ihre  einzelnen 

Sätze   und   schreibe  jedem  die   christlichen  Parallelen    bei   aus 


294  F.  Skutsch 

jenen  Stellen,  deren  liturgisclier  Charakter  schon  von  den  oben 
genannten  Gelehrten  durch  Vergleich  mit  den  CA  erkannt 
worden  ist  oder  die  ich  hier  zum  erstenmal  auf  Grund  des 
gleichen  Indiciums  beiziehe  (insbesondere  Theophilus  an  Auto- 
lycus).  Die  Sätze  des  ersten  firmicianischen  Gebetes  habe  ich 
fortlaufend  numeriert.  Wo  die  des  zweiten  sich  damit  inhaltlich 
decken  oder  berühren,  habe  ich  die  beiden  Fassungen  als 
a  und  b  unter  dieselbe  Nummer  gesetzt;  diejenigen  Sätze  des 
zweiten  Gebets  aber,  für  die  im  ersten  eine  Entsprechung  fehlt, 
habe  ich  als  10 — 12  zwischengeschoben. 

Im  übrigen  habe  ich  meiner  Zusammenfassung  nur  noch 
wenig  Torauszuschicken.  Ich  habe  nicht  zu  erschöpfen  versucht. 
Nicht  nur,  daß  sich  gewiß  noch  bei  andern  christlichen  Schrift- 
stellern als  den  hier  herangezogenen  Benutzung  der  Liturgie  nach- 
weisen lassen  wird^  —  ich  hätte  auch  aus  den  von  mir  angeführten 
noch  mehr  beischreiben  können.  Anderseits  bin  ich  daraufgefaßt, 
daß  man  vielleicht  nicht  alle  meine  Vergleiche  berechtigt  finden 
wird.  Man  möge  aber  .hierbei  folgendes  bedenken.  Ich  muß 
des  Vergleiches  halber  aus  dem  Zusammenhang  reißen,  und 
diese  Isolierung  verringert  bisweilen  die  unmittelbare  Verständ- 
lichkeit eines  Satzes  und  damit  die  Ähnlichkeit  des  Verglichenen, 
die  sich  im  Zusammenhang  ohne  weiteres  ergibt  —  daher  ich 
auch  den  Leser  dringend  bitten  möchte,  wenigstens  einige  der 
Stellen  (namentlich  etwa  CA,  Theophilus  und  Novatian)  im 
Original  nachzulesen.  Dies  gilt  besonders,  wo  etwa  der  Schrift- 
steller die  Liturgie  für  seine  Zwecke  so  umformt  wie  Irenaeus, 
der  sie  in  Frageform  umsetzt:  „was  haben  die  Heidengötter 
getan,  das  der  Schöpfung  unseres  Gottes  sich  vergleichen  ließe? 
quos  caelos  firmaverunt?  quam  terram  solidaverunt?"  usw.  Auch 
die  größere  oder  geringere  stilistische  Eleganz  des  einzelnen 
Benutzers  kann  natürlich  äußerliche  Difi'erenzen  hervorbringen.* 

*  Ähnliches  z.  B.  bei  Lactant.  inst.  II  9. 

*  Siehe  z.  B.  über  den  stilistischen  Charakter  des  ersten  ClemenS' 
Briefes  Harnack  Sitz.-Ber.  d.  Berl  Akad.  1909  S.  69. 


Ein  neuer  Zenge  der  altchristlichen  Liturgie  295 

Endlich  ließ  es  die  verschiedene  Zerlegbarkeit  der  Sätze  oft 
zweifelhaft,  zu  welchem  Firmicussatz  eine  Parallele  am  prak- 
tischsten beizuschreiben  war.  Zwar  habe  ich  darum  einige 
Wiederholungen  nicht  gescheut;  aber  ich  rechne  doch  vor  allem 
darauf,  daß  der  Leser  das  Ganze  zu  überblicken  versucht 

Indes  es  soll  nicht  scheinen,  als  ob  ich  für  meinen  Beweis 
Nachsicht  erbitte;  die  braucht  er  nicht,  denn  er  verträgt  manchen 
Abstrich.  Die  Reihenfolge  der  Exzerpte  habe  ich  belassen,  wie 
sie  sich  mir  zuföllig  ergeben  hatte;  nur  daß  ich  die  CA  voran- 
stellte, war  selbstverständlich. 

1  Qui   per   dies  singulos   caeli  cursum  celeri  festinatione  con- 
tinuas. 

CA  VII  34  S.  426   Z.  27:   Jta^tpatig  tf  cpoiax^qti;  .  .  .   &mtQußaxov 

öco^ovTEg  TOP  öokixov  usw.,  s.  zu  Nr.  9. 
Min.  Fei.  17,5:  caelum  ipsum  vide  quam  late  tenditur,  quam  rapide 

volvitur. 
Clem.  Rom.  ad  Cor.  I  20  (Patres  apostoL  ed.  F.  X.  Funk  I»  S.  126 

Z.  4):    Ol    ovQavol    zy    öioixrjaei    avvov    Galevofievoi    iv   et^^vy 

{moxuOßovrai  avrtp. 
Novatian  de  trinit.  Anfang:  qui  caelum  alta  sublimitate  suspenderit. 

Es  folgen  Sonne,  Mond  und  Sterne,  dann:    haec  omnia  legi- 

timis    meatibus    circumire    totum    mundi    ambitum  voluit    etc. 

(vgl.  Nr.  9). 
Novatian    (=  Ps.-Cjprian   Bd  in  H.)    de    spect.  9    S.  11    Z.  13: 

astrorum  micantes  choros  et  assidue  de  (?)  summa  mobilitate 

fulgentes. 
Theoph.  ad  Autol.  I  6:  Gtoiieicov  zbv  iVTay.rov  ögöfiov  .  .  .  t^v  ovqu- 

vicov  Tta^TioiKiXov  Ktvtjöiv  usw.,  s.  Nr.  9. 
MuQz.  £rt£vG.  S.  12  Z.  22  Gre?. :  äözigcov  lOQohg  iv  ovQavä  <patSQvvag 

usw.  usw.  (lat.   S.  11    Z.  22:  lunae    cursum    certis    metarum 

anfractibus  per  plateas  caeH  ire  constituit  etc.). 

2a)  Qui  maris  fluctus  mobili  agitatione  perpetuas. 

b)  Qui  maris  fluctus  intra  certos  terrae  terminos  coartavit. 

CA  TU  35  S.  430  Z.  1:  d^älaößa  Kvuaivo^tvri  rtertiörjzai  afiiicOy 
rrjv  ßT}v  ßovXriGiv  TtetpQixvia.  YIII  12  S.  498  Z.  27:  o  t^v 
fieydkyjv  d^dlaGßav  j;taptffag  r^g  y^g.  500,  4:  6  avazrjßccfisvog 
aßvößov     y.al     ^iya    xvzog    ctvzrj     7t£qt.9sig,    aXuvQäv     i'ödzotv 


296  F.  Skutsch 

öEöcoQSv^sva  Ttsldyti  .  .  6  nvevfiaöl  Ttors  fiev  avzriv  xoQvq)S)v 
elg  OQicov  fieys&og,  Ttore  6s  ötqcovvvcou  avrriv  elg  nsöiov,  xul 
nore  ^ev  infiatvcov  %£i^&vi^  noxe  dl  n^avvav  yaXi^vri. 
Das.  VII  34  S.  426  Z.  12:  6  öia'/^coQiöag  vöaru  vödrcov  öregsco- 
(luri',  Z.  21:  avxrjv  Ss  t-^v  &(iXa6Gav  n&g  av  rig  i'K(pQd6EUv; 
^xig  eQ%sxai  (lev  ano  TiEXdyovg  ^atvofiivrj,  TtaXivÖQOfist  6e  änb 
ipdfifiov  usw. 

Min.  Fei.  17,  9:  aspice  oceanum:  refluit  reciprocis  aestibus. 

Clem.  Rom.  S.  126  Z.  14:  t6  xvxog  xi]g  ccTteiQOv  &ald66r}g  %axd  xrjv 
öri(iiovQytav  avxov  ßvöxad'sv  slg  xdg  Gvvaycoydg  ov  itaQEKßatvei 
XU  TtSQtxs&eifisva  avxrj  kIsi&qu  usw.;  cf.  S.  140  Z.  12  ff. 

Novatian  trin.:  qui  .  .  .  maria  soluto  liquore  diffuderit  .  .  .  fines 
(maris)  litoribus  inclusit,  quo  cum  fremens  fiuctus  et  ex  alto 
sinu  spumans  unda  venisset,  rursum  in  se  rediret  nee  ter- 
minos  concessos  excederet,  servans  iura  praescripta. 
Ders.  de  spect.  S.  11  Z.  17:  extensa  maria  cum  suis  fluctibus 
atque  litoribus. 

Theoph.  17:  6  ßvvxaQdößcov  xb  Kvxog  xfjg  d-aXdßörjg  kuI  iiypv  xa 
KVfiaxa  avxrjg,  6  öeöito^cov  xov  xgdxovg  avxrjg  etc. 

MaQX.  Sjtive.  S.  12  Ti.  2b:  neXdyrj  övv  aiyiaXoig  'Kv^axovGi  xexeiitö- 
fiivcc  b  vofio&ixrjg  XQtGxbg  övveöxrjßaxo. 

3a)  Qui  terrae   soliditatem  inmoto   fundamentorum  robore  ro- 
borasti. 
b)  Qui    terram    in    medio    collocatam    aequata    moderaiione 
sustentat. 

CA  S.  498,  Z.  15:  xrjv  yi^v  iit    ovdevbg  tÖQVöag  ...   6  niq^ag  6xE- 

Qicona;    500,  10:    6  .  .  .    xbv  .  .  .  xdffftov  .  .  .  TtSQißcpiy^ag   sig 

eÖQav  dxQefirj  yrjg  aöcpaXsßxdxrjv. 
Das.   S.  426  Z.  12:  6  yrjv  sÖQdßag. 
Clem.  Rom    S.  140    Z.  10:   yrjv  .  .  .   ijÖQaaev   enl    xbv  ccatpccXrj   xov 

ISlov  ßovXi]fiaxog  ^SfiiXiov. 
Novatian  trin.:  qui  .  .  .  terram  deiecta  mole  solidaverit. 

Ders.  de  spect.  S.  11  Z.  16:  terrae  molem  libratam  cum  montibus. 
Iren,  contra  haer.  11  30,  3:  quos  caelos  firmaverunt?  quam  terram 

solidaverunt? 
Theoph.  I  7:  6  xavvöag   xbv   ovQavbv  ftovog   xat   d'elg  xb  svQOg  xijg 

KyV?y  '^'^  ovQUVov  .     .  6  d'e^eXi-coßag  r^v  yrjv  inl  x&v  {^ddxcov .  .  . 

6  ■9'fog  xfj  öocpitt  i&E^eXtooßs  xrjv  yrjv. 
MuQx.  Z%EvG.  S.  12  Z.  24:    oixovfiivrjg  nXdxog  ccitEQavxov    avv   xoig 

OQEÖtV    OQOd-EXT^aag. 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie  297 

■t  Qui  laborem  terrenorum   corpomm   noctumis    soporibus   re- 

creasti. 
CA  S.  498   Z.  16:  xul   vvv.xu  x«i   fifiJQav  yMxaaKtvdöag   (auch    zum 

folgenden);     S.   498    Z.   18:    xci    z^    xovrov    {(patibg)     6v6ioi.fj 

Inayuyiüv   xb    öKOxog    £tg   ccvaTcavhtv   x&v  tv   xä   xöofioi  xtvov- 

(livcov  ^cocov. 
Das.  S.  426  Z.  18:  xai  vv^  ayvofiü^ixo  Kai  rmiqa   7iQ06riyoQ£vexo 

(auch  zum  folgenden;   hier   besonders    muß    man    den  ganzen 

Zusammenhang  in  den  CA  beachten). 
Min.  Fei.  17,  6:    quid    tenebrarum    et    luminis    dicam    recursantes 

vices,  ut  sit  nobis  operis  et  quietis  altema  reparatio? 
Novat.  de  spect.  S.  11  Z.  11:  solis  ortum  aspiciat,  rursus  oecasum 

mutuis  vicibus  dies  noctesque  revocantem  (auch  zum  folgenden). 

5  Qui  refectis  viribus  rursus  gratiam  dulcissimi  luminis  reddis. 

CA   S.  499   Z.  17:    6  i^ayccyatv  q>&g  ix  d^rjGavQäv;   19:  ö  xbv  ffkiov 

xcc^ag  sig  aQ'iag  r^g   i]uiQag  iv   oi'Quvä. 
Das.  S    426    Z.  17:    <pä)g    de    nal    ^iiog  eig    rifugag  xai   nutqnCov 

yovi]v  yeyivrjvxut. 
Min.  Fei.  17,  6  (siehe  oben). 
Clem.  Rom.  S.  126   Z.  5:     >;uf?a   xe  xai    vv|     xbv    xnayuivov    vii 

avxov  ÖqÖ^ov  öiavvovoiv,  ftTjötv  aXXi]koig  i^-xo6i^ovxa. 
Novatian  (s.  zum  vorigen). 

Clem.  Alex,  tlg  xbv  naiS.  V  13:  6  Sei^ag   avxbg  i]^iQav  xe  xai  cpäog. 
Iren.  1.  1.:  quae  luminaria  elucidaverunt?  (wohl  eher  auf  Schaffung 

der  Sterne  zu  beziehen). 
Theoph.  I  6:    i^äycnv    xb    <pä>g    xb  yXxmv    xai    xb    Tto&scvbv  xai  Irtt- 

XEQ'xhg  ix   d^rjOavQ&v  ai'xov. 
MaQX.  2%£v6.    S.    12    S.    19:    og    ju.fr«     xrjv    ^ocpiQccv    xai  yvocpüSi] 

vvxxa    'Öq&qov    civixBiXtv    usw.    (lat.    S.    11     Z.    20:    qui    post 

tenebrosam  et  caecam  noctem  lumen  prodire  iussit), 

6  Qui  fragiiitatera  corporis  divina  mentis  inspiratione  sustentas. 

CA  S.  500  Z.  20:    xai    ov    uovov  xbv   xoöuov    idijuiovgyt^öag,   cdXä 

xai  xbv  xo6uo:toXixj]v  uvd'Qa:rov  .  .  .  -xfxoi^xag  avxov  ix  '^v]lf^g 

ad^avüxov  xai  ödo^caog  öxsöaöxov. 
Das.   S.  428   Z.  7:  ix  juv  xäv  xsaac'iQcov  öcofidxcov  öianXdöag  avx(5 

to    eäfia,   xaxaaxevccöag    d'   at»Tc5  tj^v    ipvir]v  ix    xov  (lij   bvxog. 
Min.  Fei.  17,  4:   numen  praestantissimae  mentis  quo  omnis  natura 

inspii-etur  moveatur  alatur  gubernetur. 
Novatian    trin.:    hominem  quoque  mundo  praeposuit  et  quidem  ad 

imaginem    Dei    factum,    cui    mentem    et   rationem  indidit  et 


298  F.  Skutsch 

prudentiam,  ut  Deum  posset  imitari,  cuius  etsi  corporis 
terrena  primordia,  caelestis  tameu  et  divini  halitus  in- 
spirata  substantia. 
Theoph.  l  7 :  ov  Tj  Ttvorj  ^moyovst  xb  nav'  og  iav  Gvßxy  ^o  nvev^a 
TtccQ  eccvroä  mksiipsi  ro  n&v.  rovrov  ^«Aerg,  äv&QcaTie,  xovtov 
xb  TCVEVficc  ccvaTCveig. 

7a)   Qui    omnem   operis   tui   substantiam   salutaribus  yentomm 
flatibus  vegetas. 
b)  Qui  ventorum  flatus  cum  quadam  facit  necessitatis  mode- 
ratione  variari. 

CA  S.  498,    22:  6  Ttotrjöag  .  .  .  ccsqu    fcouxöv;    500,   18:    axa&iibv 
avsfjicav  SiaTtveovxcov  ote  TtQOöxay^&wGiv  Ttaqä  6ov. 
Das.  S.  426  Z.  12:   6    öia'ji^coQißag   vdaT«    vödxav    Gre^fwftart  aal 
Ttvsvfia  ^(OTtKov  xovtoig  ifißaXcov. 

Clem.  Rom.  S.  126  Z.  21:  avificov  ava&fiol  naxcc  xbv  löiov  KuiQbv 
xrjv  XsixovQyiav  ccvx&v  ccjtQOßKOJtcog  iittrslovCtv. 

Novat.  S.  11  Z.  19:  extensum  aerem  medium  tenuitate  sua  cuncta 
vegetantem. 

Theoph.  I  7:  6  d'EiiEXcdoGag  xrjv  yfiv  .  .  .  Kai  dovg  nvsvfia  xb  xoicpov 
wiixTijv,  0-5  '^  Ttvor)  ^(ooyovsi  xb  näv,  og  iav  ()v6')(rj  xb  nvsvfia 
naq'   iavxä  inXeitpei  xb  Jtäv. 

MuQX.  Z%Ev6.  S.  12  Z.  27:  atQu  .  .  .  dioin&v,  jfoxe  ftev  iq)aitx6^£vov 
vs(peXS)v,  OfißQOvg  xe  aal  ii^si^&vag  iitifisxQOvvxa  xrj  yrj.,  noxe 
yaXrjvi&vxa  Kai  svSiov  (lat.  S.  11  Z.  29:  laxavit  nubibus  cur- 
sum,  ut  illic  influant  pluviam  ubi  ipso  iubente  eas  distinxerunt 
flabra  ventorum,  quae  nunc  tepenti  molliore  temperant  sae- 
culum,  nunc  rigenti  algore  penetrant  mundum,  ut  fertilitatera 
agris   impertiant   et   viventium   omnium   muniant   sospitatem). 

8  a)  Qui    fontium    ac    fluviorutn    undas    infatigabili    necessitate 
profundis. 
b)  Qui  terram  perennibus  rigat  fontibus. 

CA  498,  22:   6  noitjöag  iidcoQ  ngbg  nöatv  kuI  Kcc&aQaiv,    500,  10: 

6    Ttoxafiotg    Sia^coßag    xbv  .  .  .  KOdiiov  Kai  ')^sifidQQOig  iitiKXvöag 

Kai  nriyalg  äevdoig  (is&vöag. 
Min.   Fei.   17,   9:    vide   fontes:    manant   venis    perennibus;    fluvios 

intuere:  eunt  semper  exercitis  lapsibus. 
Clem.  Rom.  S.  126   Z.  23:    aivaol   xs    nriytti,    n^bg    dnöXavGiv    kuI 

'hydav  6rjiiiovQyf]&£taai^    dl^a    iXXsliltecag   Ttagixovxai   xovg  tt^oj 

^mfjg  dv&QCoitoig  fia^ovg. 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Litorgie  299 

Novatian   trin.:  fontium  ora  reseravit  et  lapsuris  fluminibus  infadit. 

Ders.  de  spect.  S.  11  Z.  IH:  profusa  flumina  cum  suis  fontibus. 

Iren.  1.  1.:  quae  flumina  abundare  fecerunt?  quos  autem  eduxerunt? 

Theoph.  1.  L:  Tttjyäv  rs  ykvueQ&v  xat  Tcorafiäv  asvdcav  Qvaiv. 

MaQt.  Znsvö.  S.  12  Z.  24:    noxa^ovg  äiväovg   avv  nrjyalq  a<p96voig 

TtaQSxcav  (lat.  S.  11  Z.  24:   fontes  aperuit  .  .  .  perpetuos  cursus 

fluminibus  contulit). 

9  a)  Qui  varietatem  temporum  certis  dierum  cursibus  reddis. 
b)  Qui  solem  formavit  et  lunam,  qui  omnium  sidenim  cursus 
ordinesque  disposuit. 

CA  S.  426  Z.  27:  itaficpaeig  rs  qiaaxiiQsg  xovtodv  (divögav  xal 
^(ocov  seil.)  ri&t]voi,  aTtuqußcaov  aco^ovreg  zbv  döXixov  xat  tuci^ 
ovösv  TtaoaXXdaöoircsg  tTj?  öTig  Tr^oöray^g,  cdX^  otit]  uv  mXevOrjgf 
xavTt]    civiGfpvQL    Kul    övovßtv   sig   örjfieia  xuigwv  %ai  iviavx&v. 

CAS.  498  Z.  19:  o  xbv  rjXiov  rd^ag  eig  d^idg  r^g  Tifiigag  kv 
ovQuvä  «al  TTjv  GsXiQvrjv  sig  ccQiag  xT]g  vvKzog. 

CAS.  500  Z.  13:  iTcXriQcaöag  xbv  aoöfiov  xat  öunoöfiijöag  avzbv  .  .  . 
iviavx&v  KVTiXoig,  (x.rjväv  rjuegäv  KQi&fioTg,  xqotiSiv  xd^sGiv. 

Min.  Fei.  17,  5:  caelum  ipsum  vide  .  .  .  quod  in  noctem  astris 
distinguitur  vel  quod  in  diem  sole  lustratur  .  .  .  vide  et  annum 
ut  solis  ambitus  faciat,  et  mensem  vide  ut  luna  auctu  senio 
labore  circumagat;  ib.  7:  quid  cum  ordo  temporum  ac  frugum 
stabili  varietate  distinguitur  .  .  .  qui  ordo  facile  turbaretur, 
nisi  maxima  ratione  consisteret. 

Clem.  Rom.  S.  126  Z.  6:  i^Xiog  xe  nal  ösXi^vr},  döxegcov  x£  x^Q'^''  ''«t^ 
xriv  Öiaxayrjv  avxov  iv  Ofiovota  dix^  Ttdörjg  naQSKßdöecog  i^eXiö- 
GovGiv  xovg  imxsxayfiivovg  avxoig  OQißfiovg. 

Novatian  trin.  1:  in  solidamento  caeli  luciferos  solis  ortus  excita- 
vit,  lunae  candentem  globum  ad  solacium  noctis  mensurnis 
incrementis  orbis  implevit,  astrorum  etiam  radios  variis  fulgori- 
bus  micantis  lucis  accendit  et  haec  omnia  legitimis  meatibus 
circumire  totum  mundi  ambitum  voluit,  humano  generi  dies 
menses  annos  signa  tempora  utilitatesque  factura. 
Ders.  de  spect.  S.  11  Z.  11  ff.:  solis  ortum  aspiciat  .  .  .,  globum 
lunae  temporum  cursus  incrementis  suis  detrimentisque 
signantem,  astrorum  micantes  choros  assidue  de  (?)  summa 
mobilitate  fulgentes,  anni  totius  per  vices  membra  divisa  et 
dies  ipsos  cum  uoctibus  per  horarum  spatia  digestos. 

Clem.  Alex.  V.  15:  6  öel^ag  avxbg  rjuigav  xs  xal  g}dog,  aal  xbv 
noXovGiv  aGxqa  vr}(i£Qxij  Sq6(iov  .  .  .  xgo^mv  xe  Kaigbv  evßxoxcag 
ÖT^Gag  kvkXo). 


300  F.  Skutsch 

Iren.  1.  1.:  quas  emiserunt  Stellas?  .  .  .  quibus  autem  circulis  in- 
frenaverunt  ea? 

Theoph.  I  6:  xaxavörjöov,  d)  av&QcoTCS,  xa  egya  avrov,  kuiq&v  ^sv 
%axa  i^övovii  akXay'r\v  v.ca  ccGxeqodv  XQOTtccg,  Gxotj^slcov  xbv  svxanxov 
öqohov  r]^eQü)v  xe  nul  vvkxwv  xal  ^tjväv  aal  iviaxn&v  xrjv 
evxaKTOV  noqdav  .  .  .  oicd  xrjv  x&v  Xom&v  äöxQov  ypqdav 
ytvo^ivtjv  iv  xä  hvkIo)  xov  ovqkvov. 

Magx.  Unevö.  S.  12  Z.  20  ff.:  avaxoXag  rjUov  Kai  övGsig  ccvapxi^aagj 
TjfiSQag  XE  Kai  vvuxbg  aXdXovg  ötaXlayccg  OQißag,  ßsXiqvrjg  Kvakcav 
KQt&fibv  SiavE(i(ov,  ')(^q6vcov  TCQOoöovg^  iviavx&v  oiccl  fxtjv&v 
öxdaeig  dtaaxrjöag,  äßxeQcov  ')(^OQOvg  sv  ovQccvä  cpatögvvag  (lat. 
S.  11  Z.  21:  qui  .  .  .  ortum  solis  et  occasum  segregavit,  dies 
constituit,  tempora  dispunxit,  lunae  cursum  .  .  .  per  plateas 
caeli  Ire  constituit,  stellis  quoque  splendentibus  varia  claritate 
caelum  ornavit). 

10  (Buch  VII).    Qui  ignem  ad  sempiternam  substantiam  divinae 
perpetuitatis  inflammat. 

CA  VIII 12  S  498  Z.  25:  6  noiriaag  tivq  . . .  ngog  ivöetag  avaTtkrjQCDGiv 
v,ai  xb  d'EQfialvsö&ai  '^fiäg  aal  (pcoxC^eßd-at  vn    avxov. 

11  (Buch  VII).    Qui  omnes  homines   feras   alites  et  omne  ani- 
mantium  genus  divina  artificii  maiestate  composuit. 

CAVini2S.  500  Z.  1:  koI  xrjv  fihv  (^d'dXaxxav)  ^cooig  fiiKQOig  '/.al 
^eyccXotg  nXrjd'vvag ,  xriv  6e  (yJjv)  'q^iigoig  aal  aiid'ccßoig  TzXrjQCo- 
Oag.  Alinlich  Z.  13ff. ,  Z.  20:  aal  ov  ^6vov  xbv  xoöjttov  iörj- 
^LOVQyrjßag ,  öcXXa  xal  xbv  aoG^OTtoXixrjv  ard-gconov  iv  avxm 
ETtoirjöag. 

Clem.  Rom.  S.  140  Z.  11  ff.:  xd  xe  iv  avxfj  ^&a  (poix&vxa  xrj  iavxov 
öiaxd'^Ei  iyiiXEvßEv  slvai'  &dXa66av  aal  xd  iv  avxfj  ^&a  nQOExoip.d- 
6ag  ivEY.XEiGEv  xrj  iavxov  övvd^Ei  .  inl  näßt,  xb  i^oitaxaxov  .  .  . 
avd'QfOTtov  xatg  UQaig  Kai  dfico^oig  ;(£^<>iv  STiXaGEv. 

Min.  Fei.  17,  10:  quidue  animantium  loquar  adversus  sese  tutelam 
multiformem?  .  .  .  aut  pedum  celeritate  liberas^  aut  elatione 
pinnarum?  ipsa  praecipue  formae  nostrae  pulchritudo  deum 
fatetur  artificem  usw. 

Novatian  trin.  1  spricht  von  den  multimoda  animalia  des  Meeres: 
.  .  .  Post  quae  hominem  quoque  mundo  praeposuit,  et 
quidem  ad  imaginem  dei  factum. 


'  Die  Vermutun<;  libratas  Hegt  nahe   und  wird  durch  die  Klausel 
empfohlen ,  scheint  aber  dem  Zusammenhang  nicht  angemessen. 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie  301 

Iren.  11  30,  3:  quam  multitudinem  animalium  formaverunt  partim 
quidem  rationabilium  partim  autem  irrationabilium,  univer- 
sorum  forma  ornatorum? 

Theoph.  I  6:  yxcxavörjßov  .  .  .  r^v  xs  TiolmoiKilov  yovr,v  y.Ti}vä)v  mQa- 
:t66(ov  YMi  ■xvciivSiv  '/Ml  BQ'xexäv  y.al  vrjKxäv. 

MuQX.  ETitvö.  8.  12  Z.  30:  Iv  aiqi  uiv  fiixitogov  oqutjv.  ev  vöaßi 
Se  vi]Kzöiv  KuruXXrilov  (pvGiv,  ^(ocov  6k  Siacpöoav  tujcI  iorc£z&v 
Tuxl  KvoaddXcov  uvaQi^urjfia  yivrj  ini  yijsi  Ttoila  de  jiXtj&i} 
ävdQConav  iTtiÖEi^s  (^lat.  S.  1 1  Z.  28  ff.). 

12  (Buch  VII).  Qui  ad  fabricationem  omniam  quattuor  ele- 
mentorum  diversitate  composita  ex  contrariis  et  repugnanti- 
bus  cuncta  perfecit. 

CA  All  34  S.  428  Z.  7:  ix  fiiv  xäv  xeGsägcav  öcouccxav  6ia:tXu6ag 
uvxä  (scU.  Tü5  uvd'QcoTioi)  xb  eäfia.  VUI  12  S.  500  Z.  22: 
(xbv  av&QcoJiou)  xoß^ov  Koötiov  avaöei^ag  .  .  .  dib  %ai  junoitj- 
Ttag  avxbv  ir.  ^pv^f^g  ■a^aväxov  y,ai  öäucaog  öxedaßxov  .  .  .  xov 
de  ey.  xäv  xeöGaoav  Gxoiyeiav. 

Novatian  trin.  2:  in  concordiam  elementorum  omnium  discordantes 
materias  sie  conectens,  ut  ex  disparibus  elementis  ita  sit  unus 
mundus  ista  coagmentata  conspiratione  solidatus,  ut  nulla  vi 
dissolvi  possit  usw. 

13  Solus  omnium  gubernator  ac  princeps,  solus  imperator  ac 
dominus. 

CA  S.  496  Z.  18:  xbv  fiovov  c.yevvijxov  xal  avaqjpv  aßaßiXevxov 
■Kai  äöeGTCoxov  u.  ä.  ö.    S.  428  Z.  18:  TtavxoKQccxog. 

Min.  Fei.  18,  7  cum  palam  sit  parentem  omnium  deum  nee  princi- 
pium  habere  nee  tenninum,  qui  nativitatem  Omnibus  praestet, 
sibi  perpetuitatem  .  .  .  qui  universa  quaecumque  sunt  verbo 
iubet,  ratione  dispensat,  virtute  consummat  (auch  zu  allen 
folgenden  Stellen  des  Firmicus). 

Clem.  Rom.  S.  126  Z.  26:  6  fuyag  öjjfiiovgybg  xai  8e6:i6xi]g  xa>v 
ccTidvxcov.  S.  140  Z.  6:  avxbg  yccg  b  dtjuiovQybg  y.a.1  öeßTtoxtig 
xü)i'  ciTtavxfov. 

Theoph.  I  7:  6  x&v  bXav  y.voiog.  I  4:  Ofo?  8e  Xiyetat  Sut  xb  xe- 
Q'eiy.ivui  xu  nävxa  .  .  .  y.ai  öia.  xb  d-ieiv  iöxlv  xb  xQeieiv  tuxl 
xiveiv  y.al  ivegyeiv  xal  xgicpeiv  y.al  nqovoelv  yxu  xvßeoväv 
xal  ^aoTioeiv  xä  navxa.  xvQiog  öi  iöxiv  6ia  xb  xvoieveiv  avxbv 
xäv  oXtov  .  .  .  Tiuvxoxodxcoo  6s  oxi  usw.  usw. 

14  Cui  tota  potestas  numinum  servit. 

CAS.  498  Z.  10:  6  öt*  avxov  ngb  navxtov  jrot^öcg  xu  XsQOvßlfi 
yxcl  xä  SeQacpiu,  ai&vdg  xe  xai  axocexucg.  dwccueig  xe  xai 
e^ovaiag,    u^x'^S   t£  xai  ^Qovovg,    ägxj'^yyeXovg  xe  xai  ayyeXovg. 


302  F.  Skutsch 

1 5  Cuius  voluntas  perfecti  operis  substantia  est  (siehe  oben  S.  293). 
CAVn  35  S.  430  Z.  25:    örs  yccQ   d^iXstg,  nd^tGti  aoi  rb  6vvaö9ai. 

16  a)  Cuius    incorruptis    legibus    con venia   natura   cuncta   sub- 

stantia perpetuitatis  ornavit. 
b)  Qui  omnia  necessitate  perpetuitatis  excolit  (excoluit?). 
CA  496,  26  ff? 

17  Tu  omnium  pater  pariter  ac  mater,  tu  tibi  pater  ac  filius 

uno  vinculo  necessitudinis  obligatus. 

S.  z.  B.  CA  498,  9:  6  d-sbg  Kai  narriQ  rov  ^ovoyevovg  vtov  6ov. 
Vgl.  Dieterich  Mithrasliturgie  S.  156. 

IV 

Man  muß  ähnliche  Stellen  der  klassischen  Profanliteratur, 
wie  sie  auch  Weyman  heranzieht,  vergleichen,  um  die  ganze 
Festigkeit  der  Verbindung  zwischen  Firmicus  und  den  Christen 
zu  erkennen.  Bei  Cicero  de  nat.  deor.  II  91  f.  und  98  (d.  h.  doch 
wohl  Poseidonios)  z.  B.  findet  sich  wohl  eine  ähnliche  Lob- 
preisung des  Schöpfers  in  den  Einzelheiten  der  Schöpfung  und 
die  Übereinstimmung  geht  gelegentlich  bis  in  die  Worte 
(z.  B.  98:  adde  huc  fontium  gelidas  perennitates,  liquores  perluci- 
dos  amnium),  aber  ganz  fremde  Dinge  stehen  dazwischen,  andere 
fehlen;  es  ist  eine  gewisse  Familienähnlichkeit,  die  ja  ihren 
natürlichen  Grund  haben  wird,^  aber  nicht  jene  sprechende  in 
jedem  Zuge,  die  das  Gebet  des  Firmicus  und  das  christliche 
geradezu  zu  Zwillingen  stempelt.  Ahnliches  gilt  von  Seneca 
Marc.  18  und  Helv.  9,  6.  Vor  allem  fehlt  an  diesen  rein  kon- 
templativen Stellen  die  Gebetsform,  die  die  einzelnen  Schöpfungs- 
akte in  Form  von  Relativsätzen  oder  Partizipien  als  Apposita 
von  Deus  (oder  wie  der  Schöpfer  sonst  genannt  wird)  bringt. 

Gerade  hierin  zeigt  sich  dagegen  eine  gewisse  Verwandt- 
schaft des  Firmicusgebets  mit  Formeln  der  in  die  Zauberpapyri 

'  Vgl.  über  den  Zusammenhang  griechischer  und  christlicher  Gebete 
neuestens  Th.  Schermann,  Griech.  Zauberpapyri  und  das  Gemeinde-  und 
Dankgebet  im  I.  Klemensbriefe  (^Texte  und  Untersuchungen  XXXIV  26). 


Ein  neuer  Zenge  der  altchristlichen  Liturgie  303 

eingeschobenen  Gebete  und  Beschwörungen  wie  ogxCtco  6b  ^bov 
(pcaötpoQov  ädäficcötov  .  .  .  tov  tivxvovvxu  tu  Vc'gcjj  xai  vsxlZovxa 
rrfV  yrjv  .  .  .  bv  vy.vil  6  ovQUVog  täv  ovQuväv  .  .  .  xbv  :i£qi- 
^ivzu  ogtj  rfi  &ttXä66ri  rstxos  i^  amiov  xal  ixLzä^avra  avtfj 
yuil  vxsQßfivav  .  .  .  tov  ewösCovra  Tovg  reöeagag  ävsiiovg  .  .  . 
xbv  icpogävxa  ini  yf^g  xai  Tioiovvxa  exxgofiu  xä  Q^eusXia 
avx^g  usw.  (Pap.  Paris.  3009,  bei  Dieterich  Abraxas  S.  138)  oder 
xCg  d*  ävBiiovg  ixiXsvösv  ix^iv  iviavöia  igyw, 
slg  ^sbg  ad'dvaxog  xdvxav  ysvaxag  6v  3CS(fvxag 

xai  xgonBovöLV 

ovgBa  6vv  :tadCoig  TCVjyäv  Ttoxo-iiäv  xb  xä  gal^ga 
xai  ßv66oi  yaCrjg  xai  nvBvnaxa  %dvxa  xä  g:vvxa. 
oi}gttvbg  v^ifparig  6b  xgBfiSL  xai  aäöa  &ttXu66a^ 
xvgiB  aavxoxguxag  üyiog  xai  Siönoxa  xdvxcov, 
6fi  övvdiiBi  öxoixBia  hbXbl  xai   q^vBd-'  dzavxa, 
rjBXCov  ^r^vr^g  xb  dgöiiog  vvxxög  xb  xai  i]Ovg 
(nach  dem  Leydener  Papyrus  von  Dieterich  hergestellt  Fleckeis. 
Jahrb.  Suppl.  XVI  778f.)^.     Aber   auch    hiermit  (um  auf  die 
Anlehnung   der   Pariser  Beschwörung  an   Formeln    des  Alten 
Testaments"  u,  dgl.  nicht  erst  einzugehen)  hat  Firmicus  weder 
im  Ausdruck  noch  in  der  Anordnung  noch  in  der  Auswahl  der 
einzelnen  Aussagen   solch  starke  Verknüpfungen    wie    mit   der 
Liturgie  der  CA. 

V 

Firmicus  war  entweder  Christ  in  aller  Form,  bereits  als  er 
seine  Astrologie  schrieb,  oder  mit  dem  Christentum  mindestens 
innig  vertraut,  wie  er  sich  ja  auch  von  anderen  Kulten  seiner 
Zeit  nach  Ausweis  der  apologetischen  Schrift  genaue  Kenntnis 

'  Papyr.  Brit.  Mus.  XL  VI  i^bei  Kenyon)  Z.  473  ff.:  inixalov(iai  os 
TOV  XTLGavTa  yfiv  .  .  .  xai  Tt&v  TtvBv(ia  xai  tov  6V6Ti^0avra  tt]V  9oila66av  xai 
ßaXsvtov  ZOP  ovgavov,  6  xagieaq  xo  cpmg  &no  zov  exörovg.  Auch  in 
Schermanns  oben  S.  302  Anm.  zitierter  Schrift  finde  ich  nichts  "weiter,  was 
hier  in  Betracht  käme. 

*  Siehe  Dieterichs  Nachweise. 


304  ^^-  Skutsch 

verschafft  hatte.  Welche  von  beiden  Möglichkeiten  man  an- 
nimmt, jedenfalls  haben  wir  es  mit  einem  höchst  charakte- 
ristischen Fall  von  religiösem  Synkretismus  zu  tun.  Neben  dem 
christlichen  Formular,  mit  dem  zu  Anfang  von  Buch  V  (S.  280, 
4)  und  Buch  VII  der  quicumque  es  deus  angerufen  wird,  steht 
nicht  nur  die  Bezeichnung  des  Astrologen  als  antistes  Solis  ac 
Lunae  et  ceterorum  deoruni,  per  quos  terrena  omnia  guhernantur 
(1130,2  S.  85,  21),  sondern  auch  das  große  Gebet  für  Kaiser 
Constantin  am  Schlüsse  von  Buch  I,  das  sich  an  die  sieben  Tla- 
neten'  richtet,  zu  denen  Sol  optimus  maximus  (S.  38,  6)  und 
luppiter  Tarpeiae  rupis  hdbitator  (S.  38,  16)  zählen. 

Und  darin  liegt  das  Eigenartige  dieses  Falles.  Denn  daß 
gläubige  Christen  sich  der  Astrologie  ergeben,  ist  trotz  Augustin s 
ebenso  scharfer  wie  glänzender  Polemik  oft  genug  dagewesen  — 
nur  haben  sie  dann  eben  den  Planeten  die  göttliche  Natur  ab- 
gesprochen.^) Ich  möchte  keine  Beispiele  dafür  häufen:  an  den 
Hermippus  z.  B.  denkt  jeder;  anderes  bei  Krumbacher,  Byzant. 
Liter.^  S.  627.  Auch  auf  den  Stephanus  philosophus  im 
Catalogus  cod.  astrol.  II  181  ff.  sei  verwiesen  (Anfang  des  8.  Jahrb.), 
der  den  Satz  aufstellt:  ei  Sd  tig  tag  rovrcov  hvsQyeCag  avu- 
XQBTtsiv  k%i%£iQri6oci,  £v&vg  tilg  tov  dsov  öocpiag  ccovi]tiiQ 
yCyvetav.  tavtb  yaQ  iötL  tovxG)  t6  XiyBiv  ravra  ^dtrjv  TCagä 
tov  dsCov  Xoyov  nQorJx&cci  usw.  (S.  183,  34  ff.),  worauf 
S.  185  ein  Abschnitt  folgt:  ort  ovx  avt e^ovöla  ol  adtSQsg 
IvEQyovGiv,  all'  äitb  tilg  tov  dij^LovQyov  dvvd^sag.  Aus 
neuerer  Zeit  habe  ich  Entsprechendes  in  den  Mitteilungen 
der  Schles.  Gesellschaft  für  Volkskunde  IX  S.  38  erwähnt  und 
setze  hier  wenigstens  einiges  aus  der  Widmung  eines  in  seiner 
Zeit  hochberühmten  Werkes,  der  Astrologia  Gallica  des  Jean 
Baptiste  Morin  (Haag  16(il,  darin  das  Horoskop  Ludwig  XIV., 
Richelieus  usw.),  her:  Epistula  dedicatoria  ad  regem  regum  et 
dominum  dominantium  lesum  Christum  filium  dei.  ...  Tu  enim 


*  Vergl.  Boll   Neue  Jahrbücher  1908  I  S.  109   (besonders  Anm.  2). 


Ein  neuer  Zeuge  der  altchristlichen  Liturgie  305 

me  fecisti .  .  .  non  Atheum,  non  Idololatram,  non  Mahumetanum, 
non  ludaeum,  sed  Christi anum ;  non  Haereticum,  non  Schisma- 
ticum,  sed  Catholicum  ...  Tu  hoc  opus  Astrologiae  ...  ad 
honorem  tuae  infinitae  sapientiae  .  .  .  absolvere  mihi  dedisti 
mentemque  meam  ad  te  perpetuo  attendere  voluisti,  ne  quid 
contra  supercoelestem  tuam  doctrinam  veramque  Religionem 
scriberem  usw.* 


*  Cardanus  hatte  das  Horoskop  Christi  aufgestellt  und  Morin  ver- 
teidigt das  in  seiner  Vorrede  S.  XXI.  Die  Vorrede  ist  überhaupt  das, 
was  an  dem  fürchterlichen  Wälzer  allein  noch  ein  gewisses  Interesse 
bietet,  z.  B.  in  der  Polemik  gegen  GassendL,  der  die  Astrologie  angegriffen 
hatte  wie  einst  die  Akademiker.  —  Um  zum  Schluß  noch  einmal  zu 
Firmicus  zurückzukehren,  sei  die  Stelle  S.  14,  2  ff.  Ziegl.  hier  verbessert. 
Die  platonische  Dreiteilung  der  Seele  ist  undenkbar,  sagt  F.:  si  di- 
viditur  anima  .  .  .,  dissoluto  ordine  suo  incipit  esse  quod  fuerat.  Den 
richtigen  Sinn  gibt  desinit  statt  incipit,  aber  wer  wird  das  glaublich 
finden?  Weyman  bringt  in  der  Rezension  von  Ziegler  drei  Stellen  aus 
christlichen  Schriftstellern  mit  incipit  esse  quod  non  erat,  desinit  esse  quod 
fuerat  (Optat.  Milev.  V  7)  u.  ä.  und  schlägt  daher  vor  incipit  esse  quod 
non  fuerat.  Das  ist  unannehmbar,  weil  es  den  Rhythmus  des  Satz- 
schlusses stört  (—  o  —  —  o).  Das  Richtige  geben  Weymans  Parallelen 
ohne  weiteres  an  die  Hand:  incipit  <^esse  qi*od  non  erat,  desinity  esse 
quod  fuerat. 


Archiv  f.  BeligionfwisBenachaft  XIII 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen 
Philosophie 

Von  Otto  Gilbert  in  Halle  a.  S. 

Daß  die  ionischen  Philosophen  —  Thaies,  Anaximander, 
Anaximenes  von  Milet,  Heraklit  von  Ephesus  —  einen  Hylo- 
zoismus  und  Pantheismus  vertreten,  ist  die  allgemeine  Annahme. 
So  bezeichnet  z.B.  Zeller,  Philosophie  der  Griechen  1^,  672 f. 
Heraklits  Spekulation  als  „ausgesprochenen  Pantheismus". 
Doch  hat  man  noch  niemals  im  einzelnen  nachzuweisen  unter- 
nommen, wie  jene  Forscher  in  ihren  Schriften  diese  ihre 
pantheistische  Grundanschauung  in  deren  Konsequenzen  ent- 
wickelt und  zum  Ausdruck  gebracht  haben.  Es  wird  daher 
ein  Versuch,  die  grundlegenden  Gedanken  und  deren  logische 
Folgerungen  aus  den  eigenen  Aussprüchen  der  ionischen 
Denker,  wie  aus  den  über  ihre  Lehre  erhaltenen  Referaten 
wieder  herzustellen  und  in  ihrer  Bedeutung  zu  würdigen,  als 
berechtigt  anerkannt  werden  müssen.^ 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zunächst  den  Grundgedanken, 
auf  den  sich  das  ganze  System  der  vier  Denker  aufbaut,  so 
wurzelt  derselbe  in  der  Einheit,  der  Einheitlichkeit  der  Materie. 
Die  ganze  Erscheinungswelt  in  all  ihrer  Verschiedenheit  und 
Wandelbarkeit  ist  aus  einer  einzigen  Grundsubstanz  hervor- 
gegangen, deren  Entwicklung  aus  sich  selbst  die  mannigfachen 
Stofformen  hervorbringt,  in  denen  die  Materie  tatsächlich  ge- 


'  Ich  zitiere  im  folgenden  nach  Diels  Fragmente  der  Vorsokratiker, 
1.  Aufl.  Berlin  1903;  2.  Aufl.  1906/07.  Ich  verweise  zugleich  im  allgemeintn 
auf  meine  Abhandlungen:  lonier  und  Eleaten  im  Rhein.  Mus.  Bd  64, 181  fi". 
und  Heraklits  Schrift  jtsgl  (pvctog  in  den  Jahrb.  f.  d.  Mass.  Altertum  Bd  23, 
161  flF. 


Spektilation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      307 

schieden  erscheint.  Die  entscheidenden  Definitionen  des  Ari- 
stoteles ovQ.  ri.  298^  29  ff.;  nstaq).  A  5.  983*  24  ff.  betonen 
bestimmt  diese  Lehre  von  der  Einheit  einer,  allen  Dingen  zu- 
grunde liegenden,  Substanz,  eines  sv,  aus  dem  alles,  was  exi- 
stiert, entsteht:  es  ist  somit  alles,  d.  h.  alle  Dinge  der  Welt, 
nur  die  y.Bxu6xriiidTi6ig  oder  die  %a^ri  dieser  einen  ovöCa  oder 
9?v(?iS,  als  des  i  :tox£C^svov ,  des  stofflichen  Substrats.  Der 
Stoff  ist  und  bleibt  demnach  einheitlich:  er  unterscheidet  sich 
in  seinen  einzelnen  Entwicklungsphasen  nur  durch  die  sich 
wandelnde  Struktur,  indem  er  —  aus  eigener  Kraft  —  sich 
bald  fester  zusammenschließt,  bald  loser  sich  gestaltet,  und, 
diesen  verschiedenen  Zuständen  entsprechend,  mit  verschiedenen 
Namen,  als  Erde,  Wasser,  Luft,  Feuer,  bezeichnet  wird.  Daher 
alle  Berichterstatter  gleich  dem  Aristoteles  stets  das  ylyviö^at 
aller  Dinge  J|  iv6s  betonen  So  sagt  Theophrast  bei  Aetius 
1,  3,  1.  3.  4.  11,  daß  nach  der  Lehre  der  lonier  alles  aas  dem 
einheitlichen  Grundstoffe  entstehe  und  in  eben  diesen  sich 
seinerzeit  zurückbilde;  der  Verfasser  der  Schrift  thqI  q:v6Log 
ttvd-Qchxov  (Hippokrates  ed.  Littre  6,  32)  sagt  gleichfalls  von 
den  loniern  iv  xi  slvui  6  tC  l6xi  xal  tcvt*  slvai  xo  Iv  xal  xo 
näv,  Diogenes  von  Apollonia,  der  auch  seinerseits  das  ionische 
Dogma  vertritt,  betont  (fr.  2  Diels)  Ttdvxu  tu  5vxa  utc'o  xov 
avxov  ix£QOLov69ai  xal  xb  avxb  etvai;  Sextus  Emp.  adv.  mathem. 
10,  315  definiert  die  ionische  Lehre  mit  den  Worten  i|  ivbg 
de  ysysvfje^ai  xä  ndvra  ^iXovöiv.  Daher  es  nach  der  Lehre 
der  lonier  überhaupt  kein  wirkliches  Entstehen  und  Vergehen 
gibt,  sondern  alles  nur  auf  dkXoC(o6ig  oder  6X€QoCc)6ig  eben 
jenes  Grundstoffs  beruht:  vgl.  darüber  meine  meteorologischen 
Theorien  254  ff. 

Wenn  sich  hiernach  die  ionische  Weltanschauung  als  ein 
konsequenter  Monismus  darstellt,  so  gestaltet  sich  derselbe  nun 
dadurch  zum  Pantheismus,  daß  die  aller  kosmischen  Ent- 
wicklung zugrunde  liegende  einheitliche  Substanz  zugleich 
als  das  Göttliche,   die  Gottheit  schlechthin,   erfaßt  worden  ist. 

20* 


308  Otto  Gilbert 

So  sagt  Aristoteles  von  dem  ä^tsiQov  des  Anaximander  <pv6.  F  4. 
203^  13  tovt'  slvai  xh  %^£lov;  die  Luft,  welche  Anaximenes 
als  die  Urform  der  Materie  und  als  die  bleibende  Substanz 
aller  Stoffentwicklung  ansieht,  wird  von  Theophrast  bei  Aetius 
1,  7,  13  bestimmt  als  6  d^ed?  charakterisiert;  und  dem  Anaxi- 
menes schließt  sich  hierin  wieder  Diogenes  von  ApoUonia  an, 
der  von  seinem  Luftstoffe,  als  der  Grundsubstanz,  (fr.  5  Diels) 
sagt:  ai^TÖ  yaQ  iioi  rovto  d^ebg  doxsl  slvai  (hdschr.  l'-O-og,  von 
Usener  in  -S-fdg  verb.;  vgl.  dazu  Aetius  1,  7,  17);  für  Heraklit 
wird  das  Feuer  —  weil  in  seiner  Lehre  die  Weltsubstanz 
bildend  —  das  Göttliche  schlechthin  (Aetius  1,  7,  22);  die  Schule 
des  Thaies  endlich  erkennt  in  dem  Wasser  (Aetius  1,  7,  11)  die 
göttliche  Substanz  aller  Dinge  {dvva^iiv  d'sCav  zLvr]Tixi]v) 
Indem  sich  also  diese  göttliche  Grundsubstanz  der  Welt  —  sei 
dieselbe  als  Wasser,  Luft  oder  Feuer,  oder  sei  sie  als  ein  noch 
ungeschiedener  Urstoff  {ansiQov  oder  ccoQiötov)  gefaßt  —  aus 
sich  heraus  entwickelt  und  somit  alle  Stoffwandlungen  nur 
Entwicklungsphasen  und  verschiedene  Zustände  jener  göttlichen 
ovöCa  sind,  gestaltet  sich  die  ganze  kosmische  Evolution  zu  einer 
Entfaltung  der  Gottheit;  alle  Dinge,  weil  aus  demselben  ein- 
heitlichen göttlichen  Grundstoffe  hervorgegangen,  haben  Anteil 
an  der  Substanz  und  damit  zugleich  an  der  Gottheit.  Der 
ionische  Monismus  wird  damit  zum  Pantheismus. 

Ist  hiermit  der  Grundgedanke  gezeichnet,  aus  dem  alle 
ionischen  Lehrsysteme,  trotz  ihrer  Verschiedenheit  in  der  Auf- 
fassung des  Grundstoffes,  hervorgegangen  sind,  so  fragt  es  sich 
nun,  ob  wir  noch  genauer  den  Weg  erkennen  können,  auf 
dem  die  ionischen  Denker  die  göttliche  Substanz  sich  allmählich 
in  die  Einzeldinge  umbilden  lassen.  Hierfür  ist  ein  Ausspruch 
Anaximanders  entscheidend,  den  uns  Simplicius  in  seinem 
Kommentar  zu  Aristoteles'  Physik  (p.  24,  18  ff.  Diels)  aus 
Theophrasts  cpvöixal  dd|afc  (Doxogr.  p.  476)  erhalten  hat  und 
welcher  uns  einen  tiefen  Blick  in  die  Weltanschauung  jenes 
Forschers   tun   läßt.     Die   Worte   lauten:   i^   av  dh  ij  ysvsöCg 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      309 

86X1  Tolg  ovöi,  xai  xfjv  (p&OQav  slg  xavrcc  yCveö&ai  xaxä  xb 
XQ£(ov.  didövai  yuQ  avxä  öCxr^v  xal  xCöiv  «XAtjAois?  t^s  ädixCag 
xaxä  Tjjv  xov  xQOvov  xd^iv.  Sehen  wir,  was  Anaximander  in 
diesen  Worten  sagen  will.  Zunächst  ist  klar,  daß  xä  üvxa, 
d.  h.  die  Einzeldinge  der  Erscheiniingswelt,  in  ihrer  Existenz 
auf  andere  Faktoren  zurückgeführt,  aus  anderen  Substanzen 
oder  Stoffen  hergeleitet  werden.  Denn  daß  unter  den  Dingen,  aus 
welchen  («|  av)  die  Zvxa  entstehen  und  in  welche  {slg  xavxa)  sie 
sich  wieder  auflösen,  Stoffe  oder  Substanzen  zu  verstehen  sind, 
welche  über  den  Einzeldingen  stehen,  und  nicht  etwa  andere 
Einzeldinge,  ist  klar:  denn  alle  Einzeldinge  —  namentlich  die 
organischen  Bildungen  von  Pflanze  und  Tier  —  gehen  tatsächlich 
bei  ihrer  (p^oga  nicht  in  andere  Einzeldinge  über,  sondern 
lösen  sich  in  ihre  Urbestandteile,  in  ihre  Elemente  auf.  Es 
kann  also  der  Ausspruch  Anaximanders  nur  den  Sinn  haben, 
daß  die  Einzeldinge  aus  den  Grundstoffen,  den  Elementen  ent- 
stehen und  in  eben  diese  sich  wieder  auflösen.  Als  Grund- 
stoffe Anaximanders,  welche  sich  zunächst  aus  dem  einheitlichen 
ccTtsiQov  entwickeln,  kennen  wir  aber  die  vier  Elemente:  vgl. 
meine  meteorol.  Theorien  S.  44  und  Aristot.  cpv6.  Fo.  204^  22S. 
Denn  da  die  Worte  J|  öv  —  slg  xavra  bestimmt  auf  die 
Existenz  mehrerer  Stoffe  hinweisen,  aus  welchen  die  Einzel- 
dinge hervorgehen  und  in  die  sie  sich  wieder  auflösen,  so 
kann  nicht  an  das  äzsigov  selbst  gedacht  werden,  sondern  es 
können  nur  die  aus  diesem  in  einer  ersten  Evolutionsphase 
ausgeschiedenen  vier  Elemente  verstanden  werden,  welche 
so  als  die  Mittelstufen  zwischen  die  Grundsubstanz  des  axeigov 
und  die  Einzeldinge  treten. 

In  dieser  Auffassung  stuft  sich  die  Existenz  der  aus  der 
Ursubstanz  entstehenden  Gebilde  gradweise  ab.  Denn  da 
Anaximander  ein  Vergehen  des  ganzen  Kosmos  annahm  (Aetius  1, 
3,  3),  indem  sich  alles  wieder  in  das  ajcsigov,  als  in  die  ein- 
heitliche Substanz,  zurückbildet,  so  können  die  vier  Elemente, 
als  die  Grundformen  der  entwickelten  Materie,  nur  so  lange  be- 


310  Otto  Gilbert 

stehen  bleiben,  als  der  Kosmos  selbst  Bestand  hat.  Es  ist  also 
allein  die  Grundsubstanz,  das  anEiQov,  ewig  und  unvergänglich 
[ad-dvatov  xal  ävaXsd'Qov^  &s  (pTqöiv  6  'Ava^CficcvdQog  Arist. 
(pv6.  r4:.  203^  13);  nach  Bildung  des  Einzelkosmos  sind  es 
sodann  die  vier  Elemente,  welchen  eine  bleibende  Existenz 
zukommt,  solange  eben  der  Kosmos  in  seinem  Bestände  sich 
erhält;  die  Einzeldinge  dagegen,  welche  wieder  aus  den  vier 
Elementen  hervorgehen,  haben  nur  Anspruch  auf  eine  vorüber- 
gehende Existenz,  da  sie  nach  einer  längeren  oder  kürzeren 
Spanne  Zeit  sich  wieder  in  die  elementaren  Grundstoffe,  aus 
denen  sie  hervorgegangen,  zurückbilden.  Sie  zerfallen  in 
ihren  Zusammenhängen  und  werden  wieder,  was  sie  einst  ge- 
wesen, Erde  und  Wasser,  Luft  und  Feuer. 

Dieses  stufenweise  Abwärtssteigen  der  Substanz,  wie  es 
sich  in  der  Absolutheit  der  Existenz  einerseits  —  im  änsiQOv  — 
in  der  größeren  oder  geringeren  zeitlichen  Begrenzung  ander- 
seits —  in  den  Elementen  und  in  den  Einzeldingen  —  aus- 
spricht, tritt  noch  schärfer  und  charakteristischer  uns  entgegen, 
wenn  wir  auf  das  persönliche  Leben  der  Stoffgebilde  und  auf 
ihren  Anteil  an  der  Gottheit  blicken.  Aus  der  Fassung  der 
Worte  Anaximanders  ergibt  sich,  daß  derselbe  durchaus  noch 
auf  dem  Standpunkte  animistischer  Weltanschauung  steht; 
jedes  Einzelgebilde  führt  noch  ein  persönliches  Leben.  Und 
ebenso  nimmt  alles  und  somit  auch  jedes  Einzelding,  wie  wir 
gesehen  haben,  teil  an  der  Gottheit.  So  konnte  Anaximander 
den  ganzen  Kosmos  oder  ovgavög  in  seiner  Gesamtheit  als 
d-eög  bezeichnen  (Aetius  1,  7,  12;  Cic  nat.  deor.  1,  10,  25).  Aber 
es  ist  anderseits  doch  klar,  daß  die  vergänglichen  Dinge,  von 
denen  Anaximander  als  charakteristisch  nur  die  dÖLxCa  aus- 
zusagen weiß,  einen  weit  geringeren  Rang  beanspruchen  dürfen 
als  das  äitaiQov  in  seiner  Göttlichkeit  schlechthin.  Die  Folgerung 
ist  unab weislich,  daß  die  Substanz  in  ihrer  Entwicklung  in  die 
Einzelelemente  und  aus  diesen  wieder  in  die  Einzeldiuge  an 
ihrer   Absolutheit    graduelle    Einbußen    erleidet:    je    tiefer    sie 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      311 

hinabsteigt    in    die    irdische   Welt,    desto    mehr    büßt    sie    an 
persönlichem  Leben  wie  an  Göttlichkeit  ein. 

Um  das  zu  verstehen,  müssen  wir  auch  den  zweiten  Teil 
des  Ausspruchs  Anaximanders  einer  genaueren  Betrachtung 
unterziehen.  Es  heißt  hier  von  den  bvta:  didövai  yäg  avvä 
dCxrjv  xul  rCöiv  dX>.r}XoLg  Tfjg  ädixCag  y.arä  ttjv  tov  ;|jpdrou 
tdhv.  Die  Dinge,  als  lebende  und  persönliche  Wesen  gefaßt, 
stehen  gegeneinander  im  Zustande  der  Feindschaft:  das  dXX^loig 
wird  zwar  in  der  Aldina  ausgelassen,  steht  aber  handschriftlich 
fest  und  ist  unantastbar.  Der  Sinn  der  Worte  kann  also  nur 
der  sein,  daß  die  Dinge  sich  gegenseitig  schädigen  und  be- 
rauben. Wie  dieses  zu  verstehen,  scheint  mir  klar  zu  sein. 
Denn  fast  immer  treten  uns  die  Einzeldinge  in  der  Welt  als 
aus  verschiedenen  Grundelementen  zusammengesetzt  entgegen, 
und  diese  Hereinziehung  fremder  Stoffe  in  die  eigene  Wesen- 
heit erscheint  wie  ein  widerrechtliches  Aneignen  fremden  Guts, 
eine  ddixCa.  Von  diesem  Standpunkte  aus  hat  Anaximander 
das  ganze  Getriebe  der  Welt  aufgefaßt:  es  ist  ein  Kampf-  und 
Raubzustaad,  welcher  das  ganze  kosmische  Werden  beherrscht. 
Kann  überall  da,  wo  die  Einzelelemente  nicht  geschieden  für 
sich  erscheinen,  sondern  die  Dinge  aus  verschiedenen  Grund- 
stoffen zusammengesetzt  sind,  von  einer  Aneignung  fremden 
Stoffs  gesprochen  werden,  so  läßt  sich  diese  Auffassung  eines 
Raubes  überall  durchführen.  Im  animalischen  Körper  z.  B. 
eignet  sich  der  Erdstoff,  den  man  als  das  eigentliche  Substrat 
und  als  den  ersten  Grundstoff  bezeichnen  kann,  die  übrigen 
Elemente  im  Aufbau  des  Leibes  an  (vgl.  dazu  meine  meteorolog. 
Theorien  S.  332 ff.):  im  Tode  muß  er  dieselben  wieder  frei- 
lassen, indem  sie  sich  nun  wieder  mit  ihren  Grundstoffen 
vereinen,  Wasser  mit  Wasser,  Luft  mit  Luft,  Feuer  mit  Feuer. 
Die  Bildung  der  Wolke  vollzieht  sich  —  um  noch  ein  anderes 
Beispiel  anzuführen  —  in  der  Weise,  daß  das  Luftelement 
einen  Teil  des  Wassers  an  sich  zieht,  das  letztere  also  um 
einen  Teil  seines  Stoffes  und  Volumens  beraubt,  um  denselben 


312  Otto  Gilbert 

für  sich  zu  verwenden.  Dieser  Raub  aber  soll  nicht  bleibend 
sein:  die  Luft  oder  die  Wolke  muß  nach  der  Ordnung  der  Zeit 
ihren  geraubten  Wasserbestandteil  wieder  hergeben  und  um- 
gekehrt in  der  Umbildung  von  Luftteilen  in  Wasser  Buße  für 
ihr  widerrechtliches  Tun  geben.  Die  Zeit  ist  es,  welche  einen 
Ausgleich  aller  dieser  ä8iy,iai  vornimmt,  daher  Anaximander 
eben  die  Ordnung  der  Zeit  entschieden  betont.  Die  (p%-OQä 
xarä  tb  XQsav  wird  im  folgenden  aaTic  tijv  tov  %q6vov  xd^iv 
erklärt;  die  (p%-OQ(x.  ist  eben  dCinri  xal  tCöig  xfis  ddixCag:  weil 
die  kosmischen  Gebilde  für  ihr  Unrecht  Strafe  und  Buße  geben 
müssen,  gehen  sie  zugrunde.  Damit  tritt  aber  dem  tatsächlich 
bestehenden  Kampf-  und  Raubzustande  der  Welt  eine  höhere 
sittliche  Ordnung  gegenüber  und  diese  letztere  kann  nur  auf 
t6  d^stov  schlechthin,  das  absolut  Göttliche  des  änsiQov,  zurück- 
geführt werden. 

So  vollzieht  sich  die  ganze  kosmische  Entwicklung  in 
abstufender  Folge.  Zwar  ist  der  Kosmos  in  seiner  Gesamtheit 
von  Bewegung  und  Leben,  wie  von  persönlichem  Wesen  und 
Anteil  an  der  Gottheit  erfüllt:  aber  dieses  persönliche  und 
göttliche  Leben  stuft  sich,  je  weiter  es  sich  von  dem  Urquell 
der  Gottheit  entfernt,  mehr  und  mehr  ab.  Denn  indem  sich 
das  göttliche  anuQov  in  die  vier  elementaren  Stoffe  scheidet, 
und  indem  es  diesen,  als  Einzelpersönlichkeiten,  die  Freiheit 
des  Handelns  läßt,  öffnet  es  damit  dem  Unrechte,  der  vßQig, 
Tor  und  Tür.  Ist  und  bleibt  die  ewige  Einheitssubstanz  der 
göttliche  Gesamtwille  der  höheren  Weltordnung,  so  treten  ihm 
nun  in  den  Einzelwillen  der  Elemente  und  weiterhin  in  den 
freien  Entscheidungen  der  aus  diesen  sich  bildenden  Einzeldinge 
Widerstände  und  Hemmungen  entgegen,  die  damit  zugleich  zu 
sittlichen   Verfehlungen   dieser    Sonderpersönlichkeiten   werden. 

Dieselbe  Weltanschauung,  wie  wir  sie  hier  von  Anaximander 
haben  nachweisen  können,  vertritt  auch  sein  Schüler  Anaximenes. 
Hippolytus  berichtet  ref.  1,  7,  1  von  seiner  Lehre  aiga  üneiQOv 
scprj  rijv  oiQX'^v  slvai,  il  oi  rä  yivönsva  xal   rä  ysyovöta  xal 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      313 

rä  sGÖfisva  xai  d^sovs  xai  &Ha  yCvsä&ai,  zä  6b  Xoi%a  ix  xäv 
rovTov  dnoyovcov.  In  dem  Ausspruche,  daß  aus  dem  göttlichen 
Urstoffe  alles,  was  je  geworden  ist,  wird  und  werden  wird, 
entsteht,  wird  mit  voller  Klarheit  zum  Ausdrucke  gebracht, 
daß  der  ganze  Kosmos  in  all  seinen  Einzelerscheinungen  eine 
Evolution  der  Gottheit  ist.  Da  aber  die  Worte  tä  yivopLEva 
xai  rä  yeyovöta  xal  tä  eöö^sva  schon  alles  umfassen,  was 
existiert  und  je  existieren  wird,  so  kann  man  in  den  folgenden 
Worten  xai  ^sovg  ff.  nicht  etwas  Neues  und  Weiteres  erkennen: 
sie  können  nur  als  Erklärung  und  Scheidung  jener  ersten 
Worte  verstanden  werden.  Während  der  Ausspruch  rä  yivötieva  ff. 
die  kosmischen  Gebilde  einfach  nach  ihrer  Existenz  allgemein 
charakterisiert,  erklärt  der  zweite  Teil  des  Satzes  xai  ^tovg  ff. 
dieselben  nach  ihrer  näheren  oder  entfernteren  Stellung  zur 
göttlichen  Grundsubstanz,  dem  ärJQ.  Hier  werden  offenbar 
zwei  Phasen  unterschieden:  einmal  d'eoi  xai  d^sta,  sodann  tä 
koind.  Die  erste  Entwicklungsphase  aus  der  uqx^^  ^^^  ^'^P 
schafft  &soC  (xai  d-£la),  dagegen  gehen  tä  Xoina,  d.  h.  tä  5vta, 
die  Einzeldinge,  aus  den  ä:iöyovoi,  d.  h.  aus  eben  den  d^{o£, 
hervor.  Damit  werden  die  ^soC  als  die  unmittelbar  von  dem 
aijp  erzeugten,  als  seine  Söhne  charakterisiert,  während  tä 
Xoixd,  die  Einzeldinge,  erst  in  zweiter  Linie  aus  der  Grund- 
Bubstanz  stammen,  da  sie  nicht  direkt  vom  äi^Q  selbst,  sondern 
von  den  aus  diesem  hervorgegangenen  &eol  abgeleitet  werden. 
Wer  sind  nun  diese  ^boC,  die  als  Söhne  und  Erzeugte  des 
göttlichen  äriQ  bezeichnet  werden?  Da  wir  wissen  (vgl.  meine 
meteorol.  Theorien  44 f.),  daß  Anaximenes  die  andern  drei 
elementaren  Grundstoffe  in  direkter  Evolution  aus  der  Grund- 
substanz hervorgehen  ließ,  so  ist  damit  von  selbst  eine  Identifi- 
kation eben  dieser  Elemente  mit  den  ^boC  gegeben:  jedenfalls 
müssen  dieselben  in  erster  Linie  unter  den  %^boC  verstanden 
werden.  Und  diese  unsere  Auffassung  des  Berichtes  Hippolyts 
wird  durch  Ciceros  Angabe  bestätigt,  welcher  Acad.  2,  37,  118 
sagt:  Anaximenes  infinitum  aera,  sed  ea  quae  ex  eo  orerentur 


314  Otto  Gilbert 

definita:  gigni  autein  terram,  aquam,  ignem,  tum  ex  his  omnia. 
Man  wird  unschwer  in  dieser  Scheidung  der  drei  Grundstoffe 
einer-,  der  omnia  anderseits  die  beiden  von  Hippoljt  hervor- 
gehobenen Phasen  d'soC  xccl  d^sia  und  tä  Xoltccc  erkennen.  Und 
damit  stimmen  wieder  die  Worte  Augustins  de  civit.  dei  8,  2 
überein,  welcher  von  Anaximenes  sagt:  qui  omnes  rerum  causas 
aeri  infinito  dedit,  nee  deos  negavit  aut  tacuit;  non  tamen  ab 
ipsis  aerem  factum,  sed  ipsos  ex  aere  ortos  credidit.  Die 
Grötter,  welche  hier  aus  dem  aer  als  ihrer  ocq^V  hervorgehen, 
können  wieder  nur  die  andern  drei  Elemente  —  wenigstens 
in  erster  Linie  —  sein:  da  aber  zugleich  omnes  rerum  causae 
auf  die  Grundsubstanz  zurückgeführt  werden,  so  können  die 
res,  rä  'dvra  des  Anaximander,  eben  nur  als  von  den  Elementen 
in  einer  zweiten  Entwicklungsphase  hervorgebracht  erklärt 
werden.  Auch  Anaximenes  faßt  also  alle  Dinge  als  persönlich, 
d.  h.  er  steht  gleich  dem  Anaximander  auf  dem  Standpunkte 
animistischer  Weltanschauung;  und  er  läßt  nicht  minder  auf 
dem  Wege  einer  stufenweisen  Evolution  alle  kosmischen 
Bildungen  aus  der  göttlichen  Grundsubstanz  entstehen.  Damit 
wird  wieder  der  ganze  Kosmos  mit  der  Gottheit  verknüpft 
und  erhält  selbst,  da  alles  auf  einer  Umbildung  des  göttlichen 
Einheitsprinzips  beruht,  Anteil  an  der  Gottheit:  aber  dieser 
Anteil  stuft  sich  ab,  je  weiter  die  Entwickluug  von  der  ccqxi^ 
selbst  sich  entfernt. 

Und  dem  Anaximenes  folgt  wieder  Diogenes  von  Apollonia. 
Ist  für  ihn  gleichfalls  der  äriQ  (fr.  5  Diels)  der  alles  regierende 
und  beherrschende  und  gibt  es  nichts,  was  nicht  teilhat  an 
ihm,  da  der  ganze  Kosmos  in  all  seinen  Einzelteilen  wieder 
nichts  anderes  ist  als  die  Umbildung  und  Ausgestaltung  eben 
jenes  einen  Grundstoffs,  so  wird  damit  bestimmt  ausgesprochen, 
daß  die  ganze  kosmische  Entwicklung  die  Selbstentfaltung  des 
Gottesprinzips  ist.  Anderseits  aber  hebt  auch  Diogenes  den 
Unterschied  der  Einzeldinge  gegenüber  der  Grundsubstanz  her- 
vor, der  sich  vor  allem   (fr.  2)    in  der  zeitlichen  Begrenzung 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      315 

der  Existenz  jener  ausspricht,  während  die  ccQx^i  allein  (fr.  7) 
ewig  und  unsterblich  ist.  Auch  Diogenes  muß  also  den  Kosmos 
sich  stufenweise  aus  der  einheitlichen  göttlichen  Grundsubstanz 
haben  entwickeln  lassen:  aber  je  tiefer  diese  sich  entfaltende 
ccQxV  i^  *ii®  Dinge  herabsteigt,  desto  mehr  büßt  sie  von  ihrer 
Absolutheit  und  Göttlichkeit  ein. 

Dieselbe  Weltanschauung  findet  endlich  auch  in  Heraklits 
Schrift  ihren  Ausdruck.  Ist  nach  seiner  Lehre  das  Feuer, 
d.  h.  in  antiker  Auffassung  die  Materie  in  ihrer  losesten  und 
feinstteiligen  Struktur,  die  aQxij,  aus  der  alles  was  überhaupt 
existiert^  durch  allmähliche  Verdichtung  entsteht,  so  wird 
damit  der  Kosmos  in  all  seinen  Einzelbildungen  wieder  zu 
einer  Entwicklung  des  Gottesprinzips,  der  göttlichen  Grund- 
substanz  selbst.  So  kann  es  vom  Feuer  Heraklits  Simplic. 
cpvö.  24,  Iff.  heißen  ix  xvqos  :toisl  tu  ovxa  TCvxvaöSL  xai  /*«- 
vadsL]  Aetius  1,  3,  11  ix  xvQog  ndvxa  y(v£69aL]  1,  7,  22  tö 
nvQ  —  dy]niovQybs  t&v  5vrcov]  wie  auch  Heraklit  selbst  fr.  90 
sagt  stvQÖg  re  ävTafioißrj  rä  Tiävta  xccl  xvq  axavtav.  Wenn 
so  die  ganze  kosmische  Entwicklung  auf  einem  aXloLovö^at 
des  zvQ  beruht  (Hippol.  9,  10),  so  treten  doch  wieder  die 
Elemente  selbst  —  Luft,  Wasser,  Erde  —  als  die  ersten  und 
unmittelbarsten  Schöpfungen  der  Feuersubstanz  und  als  die 
lebendig  und  persönlich  gefaßten  Grundstoffe  uns  entgegen. 
So  kann  es  heißen  fr.  76  ^/J  ^^Q  ^ov  äagos  &ccvatov  xal  ccriQ 
^fl  rbv  avQog  &ccvatov,  vöoq  ^ij  rbv  yfjs  d^dvavov,  y^  xov  vdarog. 
Damit  soll  nicht  gesagt  werden,  daß  der  eine  Grundstoff  als 
solcher,  in  seiner  Gesamtheit,  dem  andern  Platz  macht,  sondern 
nur,  daß  Teile  des  einen  Grundstoffs  in  dem  ewigen  Kreislaufe 
des  Naturprozesses  in  den  andern  Grundstoff  übergehen.  In- 
dem aber  Heraklit  hier  die  elementaren  Grundstoffe  wieder  als 
einheitliche  und  persönliche  Bildungen  faßt,  stellt  er  dieselben 
offenbar  gleichfalls  als  Mittler  und  Vermittler  zwischen  die 
Einheitssubstanz  und  die  Vielheit  der  Einzeldinge,  bvtu  und 
Tidvra',   er  muß  also  auch  seinerseits,  gleich  dem  Anaximander 


316  Otto  Gilbert 

und  dem  Anaximenes,  diesen  Grundformen  der  Stoffevolution 
in  erster  Linie  göttlichen  Charakter  gegeben  haben.  Wie  sehr 
aber  Heraklit  gerade  das  Abwärtssteigen  der  göttlichen  Sub- 
stanz und  damit  ihr  Verlieren  an  Kraft  und  Göttlichkeit  be- 
tont hat,  das  habe  ich  in  den  Jahrbüchern  für  das  klassische 
Altertum  Bd  23,  166  ff.  nachzuweisen  gesucht. 

So  dürfen  wir  als  die  Einheitslehre  aller  ionischen  Forscher 
das  Dogma  von  der  einen  und  einheitlichen  göttlichen  Grund- 
substanz und  ihrer  allmählichen  und  stufenweisen  Evolution 
in  die  Gebilde  des  Kosmos  aufstellen.  Aus  dem  göttlichen 
Urquell,  in  dem  die  höchste  Potenz  schaffenden  Energiestoffes 
in  persönlicher  Konzentration  vereinigt  ist,  flutet  ein  schöpfe- 
rischer Strom  belebten  und  belebenden  Stoffes  und  bildet 
zeugend  und  formend  in  einem  ersten  Schöpfungsakte  die 
Grundstoffe,  welche  damit  zu  den  persönlichen  Erzeugten  und 
Trägern  der  Gottheit  werden.  Und  indem  aus  diesen  persön- 
lich gefaßten  Strömen  göttlicher  Substanz  wieder  alle  Einzel- 
bildungen des  Kosmos  in  ihrer  unendlichen  Mannigfaltigkeit 
hervorgehen,  gestaltet  sich  die  Welt  zu  einer  Selbstentfaltung 
und  einheitlichen  Schöpfung  der  Gottheit.  Es  hat  somit  zwar 
alles  teil  an  der  Gottheit  und  an  der  Persönlichkeit:  aber  je 
weiter  der  Gottesstrom  persönlichen  Lebens  seine  Wellen 
treibt,  desto  mehr  trübt  er  sich.  Es  ist  nicht  mehr  die  volle, 
unmittelbar  göttliche,  nicht  mehr  die  ungetrübt  reine  Substanz, 
welche  sich  in  den  vielen  Einzeldingen  offenbart:  dieselbe  ver- 
liert von  ihrer  göttlichen  Kraft  und  Wesenheit,  sie  sinkt  zu 
unvollkommeneren  Formen  herab  und  gibt  so  zugleich,  indem 
sie  jedem  Einzelwesen  und  Einzeldinge  die  Freiheit  des  WoUens 
und  Handelns  läßt,  Raum  der  vßQig,  der  ädixCa,   dem  Bösen. 

Wenn  so  in  der  Lehre  der  lonier  die  einheitliche  Grund- 
substanz der  Welt  als  das  absolut  Göttliche,  die  elementaren 
Grundstoffe  als  göttliche  Persönlichkeiten  erscheinen  —  Ana- 
ximenes nennt  sie  d^eoC  — ,  so  liegt  die  Frage  nahe,  ob  diese 
als    Einzelgötter    gefaßten     Stoffbildungen     mit     bestimmten 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      317 

Göttern  des  Volksglaubens  in  Beziehung  gebracht  worden 
sind.  Um  die  Beantwortung  dieser  Frage  zu  ermöglichen, 
mag  es  gestattet  sein  etwas  weiter  auszuholen. 

Die  Gleichsetzung  der  Grundstoffe  oder  bestimmter  sich 
gleich  bleibender  Stoffverbindungen  mit  einzelnen  Göttern  des 
Volksglaubens  war  zur  Zeit  der  ionischen  Denker  keineswegs 
unbekannt  oder  ungewöhnlich.  Wir  haben  hierfür  das  inter- 
essante Beispiel  des  Theagenes  von  Rhegium,  dessen  axfir] 
in  die  Regierungszeit  des  Kambyses  529 — 522  gesetzt  wird. 
Porphyrius  berichtet  über  ihn  in  den  Scholia  B  zu  Homer  T  67 
(ed.  Schrader  1,  240,  14),  daß  derselbe  —  die  Götterkämpfe 
der  Ilias  allegorisch  durch  die  ivavricoGig  aller  der  Groix^la, 
J|  rav  TÖ  TCäv  övvsGxrjXSv,  erklärt  habe,  wie  er  nicht  minder 
schon  einzelne  Gottesgestalten  als  Abstraktionen  —  so  Athene 
als  (pQÖvrjöig,  Ares  als  d(pQ06vvrj,  Aphrodite  als  ixi&vfiCa, 
Hermes  als  köyog  —  gedeutet  habe.  Denselben  Standpunkt 
vertreten  auch  die  Kosmologen.  Auf  alle  diese  einzugehen, 
würde  zu  weit  führen:  nur  die  Schrift  des  Pherekydes  von 
Syros  möge  hier  etwas  näher  betrachtet  werden,  die  durch 
den  Fund  der  GrenfeU-Hunt  Greek  Papyri  Ser.  H  no.  11  (über 
den  Diels  Berl.  Sitzungsber.  1897,  144ff.;  Fragm.  d.  Vorsokr. 
2.  Aufl.  507  f.)  ein  besonderes  Interesse  gewonnen  hat.  Seine 
Schrift  nsvTefivxos  (vgl.  dazu  die  tcsvxs  "xxvytg  21 481)  ist 
offenbar  nach  den  fünf  Welträumen  benannt,  die  er  als  \x.vioi 
xccl  ßo&QOi  xai  avxQu^  mit  Türen  und  Toren  versehen,  auffaßte 
(Porphyr,  antr.  nymph.  31),  in  denen  er  sich  die  Weltstoffe 
und  Weltpotenzen  verborgen  hausend  dachte.  Den  fünf 
Welträumen  entsprechen  die  fünf  Weltmächte,  die  aber  ihrer- 
seits wieder  den  fünf  Stofformen  entsprechen,  in  welche  der 
Kosmos  geschieden  ist.  An  die  Spitze  aller  kosmischen  Ent- 
wicklung stellte  Pherekydes  Zag  und  X&ovCi],  in  denen  wir 
unschwer  die  personifizierten  Ovgavög  und  rij  erkennen  können 
(über  deren  Bedeutung  vgl.  meine  Meteorolog.  Theorien  327  ff.). 
Gleichzeitig  mit  diesen  Weltprinzipien  setzte  Pherekydes  Kgovog, 


318  Otto  Gilbert 

d.  h.  das  Prinzip  aller  zeitlichen  und  genetischen  Evolution: 
aus  ihm  gehen  (Eudemus  fr.  117  bei  Damasc.  1,  321  Ruelle) 
xvQ  xal  nvEviia  'xal  vdcoQ  hervor.  Damit  sind  die  fünf 
Weltenstoffe  und  Weltenpotenzen,  und  damit  zugleich  die 
fünf  (ivxoC  oder  Weltenräume  gegeben:  außer  der  Erde  er- 
scheinen hier  die  Elemente  Wasser,  Feuer,  Luft  {nvsv^a). 
Wenn  außer  diesen  vier,  später  allgemein  anerkannten,  Ele- 
menten als  fünfte  Macht  noch  Zeig,  von  Hermias  irris.  12 
(Doxogr.  654)  als  alQ-iJQ  erklärt,  erscheint,  so  ist  das  nicht 
auffallend:  auch  die  Pythagoreer  haben  den  Äther  als  wesent- 
lich verschieden  vom  Feuer  aufgefaßt,  und  Aristoteles  ist  den 
letzteren  hierin  auch  seinerseits  gefolgt.  In  Zds — aid-rJQ  wird 
offenbar  die  höchste  Weltregion  erkannt,  der  dann  im  ^vq 
die  Feuersphäre  der  Gestirne  untergeordnet  wird,  während  die 
Sphären  der  Erde  und  des  Wassers  gegeben  sind.  Nur  betreffs 
des  nvBvna  scheint  Pherekydes  eine  Auffassung  zu  vertreten, 
die  sich  von  der  gewöhnlichen  Fixierung  der  Luftregion  in 
interessanter  Weise  unterscheidet.  Denn  die  von  Origenes  c. 
Geis.  6,  42  aus  Pherekydes'  Schrift  überlieferten  Worte  xaCvr^g 
dh  rijg  iioiQccs  £VSQd-sv  iötiv  rj  tagt ccgCrj  ^otga'  (pvldööovöLV 
d'  avTYiv  Q-vyat BQsg  Boqsov  "AQXviaC  xs  yial  QvsXXa'  sv&a 
Zsvg  ExßccXXsL  d'S&v  otav  rig  s^vßQCöy  werden  sich  schwerlich 
anders  deuten  lassen,  als  daß  der  Tartarus,  d.  h.  die  unter 
dem  Erdkörper  befindliche  Sphäre,  der  eigentliche  [ivxög  des 
stvsv^a  —  des  als  fünfter  Weltstoff  bei  Damascius  a.  a.  0. 
genannten  Luftelementes  —  sei.  Aus  dieser  ihrer  eigentlichen 
Wohnstätte  kommen  die  Winde  —  d.  h.  die  Luft  in  ihrer 
Bewegung  —  zeitweilig  auf  die  Oberwelt,  daher  Pherekydes 
die  d-vQag  und  nvXag  hervorhebt  (Porphyr,  a.  a.  0.),  durch 
welche  eben  die  nv^oC  gegeneinander  abgeschlossen  oder  ge- 
öffnet werden  können. 

Jedenfalls  scheint  es  mir  sicher  zu  sein,  daß  wir  in  der 
Darstellung  des  Pherekydes  den  Versuch  zu  erkennen  haben, 
die  gegeneinander  geschiedenen  Einzelsphären  des  Kosmos  — 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      319 

die  unterirdische  und  die  irdische,  die  Hydro-,  Atmo-  und 
Feuersphäre  —  in  engere  Beziehung  zu  den  verschiedenen 
Stoflformen,  Erde,  Wasser,  Luft,  Feuer,  zu  bringen.  Er  ist 
darin  ein  Vorgänger  aller  späteren  Physiker,  die  gleichfalls 
—  als  der  erste  nachweisbar  Anaximander  [Plut]  Strom.  2  — 
die  Elemente  an  bestimmte  Einzelsphären  des  Kosmos  binden. 
Wenn  Pherekydes  hierbei  die  von  den  loniern  einheitlich  ge- 
faßte Feuersphäre  in  die  Räume  des  aW^iJQ  und  des  xvq 
scheidet,  so  kann  das,  wie  schon  bemerkt,  nicht  auffallen. 
Jedenfalls  ist  Zag  oder  Z«v5  der  Vertreter  des  uIQ-iIq,  und  die 
Anjgabe  Laur.  Lyd.  mens.  4,  3  "HXios  a-örbg  (näml.  Zsvg)  xar« 
^SQSxvdi^v  beruht  auf  einem  Irrtume:  Lydus  hat  nachweisbar 
(vgl.  mens.  2,  7  und  dazu  Diels  Fragm.  d.  Vors.  2.  Aufl.  510,  19) 
ein  gefälschtes  Exemplar  der  Pherekydischen  Schrift  benutzt, 
aus  der  auch  jene  Identifikation  des  ijhos  mit  Zeus  stammt. 
Pherekydes  hat  nun  aber,  wie  die  Fragmente  und  Referate 
ergeben,  die  Hauptpunkte  der  Göttermythen  in  seine  Dar- 
stellung hereingezogen:  wir  können  also  nicht  zweifeln,  daß 
er  das  Wesen  der  Götter  physikalisch  gedeutet  hat.  Daher 
kann  Theopomp  bei  Diog.  L.  1,  116  (Fr.  Hist.  Graec.  1,  287 
=  fr.  66)  von  ihm  sagen  xovxov  ng&Tov  tisqI  tpvöscog  xul 
&säv  ypa^at;  während  seine  Schrift  anderseits  (Suidas  s.  v. 
^fpfxvdijs;  ApoUon.  Dysk.  de  pron.  fr.  65,  15  Schneider)  ge- 
radezu als  &so/.oyCa  bezeichnet  wird.  Wenn  daher  Aristoteles 
von  den  :tQ&toL  ^soXoyilöavrsg  ^eratf.  A  3.  983**  29  spricht, 
die  zugleich  %b^\  xf^g  (pvösag  handeln;  B  4.  1000*  von  den 
negi  ^HäCodov  xal  xdvxsg  o6oi  &£olöyoL,  welche  die  a^xmi  der 
Dinge  mit  bestimmten  ^fhoi  identifizieren;  A  6.  1071*»  27  ferner 
die  %BoX6yoi  oX  ix  vv/cxog  ysvvävxsg  erwähnt  und  AlO.  1075^27 
die  d-EoXöyoL  und  die  cfvßixoi  TtdvxBg  zusammenfaßt;  endlich 
yL£xs(DQ.  B  1.  353*  35  die  dQxc^lot  xal  diaxgCßovxsg  tisqI  xäg 
d^soXoyCag  wieder  mit  physikalischen  Fragen  beschäftigt  sein 
läßt  und  den  Pherekydes  und  sxegoC  rivsg  ^Bxatp.  N  4.  1091^4 
als  diejenigen  bezeichnet,  welche  Mythisches  und  Physikalisches 


320  Otto  Gilbert 

zu  vereinigen  suchen,  so  dürfen  wir  aus  all  diesen  und  anderen 
Angaben  den  Schluß  ziehen,  daß  die  eigentliche  physikalische 
Forschung  —  wie  sie  von  den  ionischen  Philosophen  scheinbar 
zuerst  vertreten  wird  —  aus  der  theologischen  hervorgegangen 
ist:  die  ältere,  als  theologisch  charakterisierte  Forschung  hat 
schon  ihrerseits  in  den  verschiedenen  Stofformen  des  Kosmos 
göttliche  Persönlichkeiten  erkannt  und  diese  letzteren  mit  be- 
stimmten Einzelgöttem  des  Volksglaubens  identifiziert.  Sehen 
wir  nun,  ob  auch  die  ionischen  Philosophen  selbst  noch  diese 
Tendenz  vertreten. 

Pherekydes  hat  aus  dem  Grunde  für  uns  noch  ein  be- 
sonderes Interesse,  weil  wir  es  als  sicher  ansehen  dürfen,  daß 
Heraklit  die  Schrift  desselben  in  Händen  hatte.  Denn  die 
enge  Beziehung  des  Pherekydes  zu  Ephesus  geht  aus  der 
Legende  über  sein  Grab  Diog.  L.  1,  11 7 f.  hervor:  mit  Ephesus 
war  aber  auch  Heraklits  altes  königliches  Geschlecht  unlöslich 
verknüpft.  Wenn  daher  Heraklit  einen  besonderen  Teil  seiner 
Schrift  als  Xöyos  d^sokoyixög  Diog.  L.  9,  5  bezeichnete,  so  ist 
es  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  er  hier  die  Schrift  des 
Pherekydes,  die  gleichfalls  Tcagl  (pvöiog  xal  dsäv  handelte, 
vor  Augen  hatte.  Denn  man  kann  die  Gottheit,  auf  die  sich 
dem  Titel  nach  dieser  Xöyog  Q^soXoyixög  Heraklits  bezog,  nicht 
in  dem  Heraklitschen  Sinne  des  ^vq  ccsC^coov  verstehen,  da 
der  erste,  über  rö  Ttäv  handelnde  Teil  der  Schrift  die  eigent- 
lich physikalische  Betrachtung  der  Welt  vorweg  genommen 
hatte.  Denn  da  Welt  und  Natur  nach  Heraklit  nichts  anderes 
waren  als  eine  Manifestation  der  Einen  Gottheit,  so  war  auch 
der  ganze  Welt-  und  Naturprozeß  ohne  Begründung  und  Aus- 
legung des  göttlichen  Wirkens,  d.  h.  eben  der  Tätigkeit  des 
Feuers  und  seiner  Wärmeenergie,  unverständlich:  Heraklit 
muß  also  schon  im  ersten  Teile  seines  Werkes  die  Bedeutung 
und  das  Wesen,  wie  die  Entwicklung  und  die  Metamorphosen 
der  Gottessubstanz  gezeichnet  haben  (vgl.  hierzu  meine  Ab- 
handlung in  den  Jahrbüchern  f.  d.  klass.  Altertum  Bd  23,  164  ff.). 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      321 

Hat  er  daneben  noch  in  einem  besonderen  Teile  die  Theologie 
behandelt,  so  kann  die  letztere  nur  in  Beziehung  zu  den 
nationalen  d^soC  stehen,  die  er  somit  einer  erklärenden  oder 
kritischen  Betrachtung  unterzog.  Nun  existiert  aber,  wie  wir 
sahen,  für  Heraklit  nichts  anderes  als  die  Materie:  alle  Er- 
scheinungen und  Zustände  der  Natur  sind  die  verschiedenen 
Entwicklungsphasen  des  einheitlichen  Grundstoffes  und  deren 
Wirkungen.  Hat  also  Heraklit  bestimmte  Einzelgötter  des 
Volksglaubens  in  der  Natur  und  deren  Erscheinungen  und 
Zuständen  erkannt,  so  können  dieselben  nur  in  Beziehung  zu 
der  ursächlichen  Gottessubstanz  selbst  und  deren  Einzel- 
hypostasen, wie  dieselben  in  den  wechselnden  Stofformationen, 
in  den  elementaren  Bildungen  und  in  den  verschiedenen  Ge- 
bieten und  Teilen  der  Natur  und  der  Welt  zur  Erscheinung 
kommen,  verstanden  werden.  Als  solche  göttliche  Hypostasen 
bezeichnet  Epicharm  (fr.  8  Diels)  ävsfiovg,  vdoQ,  yrjv,  ilhov, 
jcvQ,  aäTsgas,  wo  also  außer  den  Elementen  selbst,  Erde, 
Wasser,  Feuer,  Luft,  für  welche  letztere  die  Einzelwinde  ge- 
nannt werden,  noch  Sonne  und  Gestirne  als  ^soC  erscheinen: 
auch  Heraklit,  wie  die  ionischen  Philosophen  überhaupt, 
müssen  für  ihre  Bestimmungen  der  ^eoL  von  diesen  und  ähn- 
lichen feststehenden  Bildungen  ausgegangen  sein. 

Wir  haben  nun  noch  bestimmte  Anzeichen,  daß  und  wie 
Heraklit  die  Volksgötter  mit  seiner  Gotteslehre  in  Verbindung 
brachte.  Es  ist  nämlich  mit  Recht  darauf  hingewiesen  worden, 
daß  Piatos  Dialog  Kratylos  sichere  Spuren  einer  Beeinflussung 
durch  Heraklits  Lehre  aufweist.  In  dem  Streite,  ob  die  Namen 
der  Dinge  (pvöu,  oder  ob  sie  ^vvdiqxri  xai  byioXoyla,  bzw. 
v6^Gi  xai  sd-si  (383 AB;  384 D),  entstanden  anzunehmen  seien, 
vertritt  Kratylos  die  erstere  Alternative,  wonach  die  Namen  und 
Bezeichnungen  der  Dinge  die  getreuen  Abbilder  und  Wieder- 
gaben (/tt^Tj/tata  414  D;  423;  slxövsg  432  B;  ^vfiqxova  436  C 
und  ähnlich)  der  nQKynaxa  oder  ^vra  seien.  Und  diese  Auf- 
fassung der  Namen  wird  wiederholt   und  bestimmt   als  Stand- 

Archiv  f.  Beligionswissengcbaft  Xm  21 


322  Otto  Gilbert 

punkt  Heraklits  und  der  Heraklitschen  Scliule  bezeichnet, 
daher  immer  von  neuem  die  Übereinstimmung  mit  Heraklit 
betont  wird:  vgl.  401 D  xad-'  'HqccxXsltov]  402 A  XsysL  'Hqcc- 
xXsitos;  B  'HQaxXsltov,  440 C  ol  ttbqI  'HqüczIsitov,  440E  ag 
'HQccxXsLTog  Xsysi.  Man  hat  von  anderer  Seite  diese  Erklärung 
der  Namen  als  ein  von  der  Schule  der  Herakliteer  später  auf- 
gebrachtes Novum  deuten  wollen.  Es  ist  aber  schwer  glaub- 
lich, daß  die  unter  Heraklits  Namen  später  blühende  Schule 
völlig  neue  Lehren  sollte  aufgebracht  haben,  die  keinen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Lehrsystem  ihres  Meisters  und  keine 
Begründung  in  dessen  eigenen  Ideen  und  Aussprüchen  fanden. 
Tatsächlich  bieten  denn  auch  die  Bruchstücke,  welche  wir  von 
Heraklits  Werk  besitzen,  deutliche  Spuren  einer  Verwertung 
der  Namen  für  seine  Lehre;  und  diese  Überzeugung,  daß  die 
Namen  und  Bezeichnungen  der  Dinge  der  echte  und  wahre 
Ausdruck  des  Wesens  dieser  seien,  fügt  sich  so  naturgemäß  in 
seine  allgemeine  Weltanschauung  ein,  daß  wir  nicht  zweifeln 
können,  hier  tatsächlich  die  Lehre  Heraklits  vor  uns  zu  haben. 
Das  wird  sich  aus  folgendem  ergeben. 

Die  in  allen  Dingen,  wenn  auch  in  verschiedenen  Graden, 
lebendige  und  schaffende  Feuer-  und  Wärmesubstanz  ist  zu- 
gleich die  psychische,  die  vernünftige,  die  denkende  Kraft, 
welche,  dem  Kosmos  in  seiner  Gesamtheit  wie  den  Einzelwesen 
immanent,  das  Seelen-  und  Vernunftleben  aller  zu  einem  ge- 
meinsamen und  einheitlichen  gestaltet.  Wie  aber  das  Denken 
des  einzelnen  in  der  Rede,  in  der  zusammenhängenden  Sprache, 
im  Xöyog,  seinen  naturgemäßen  Ausdruck  erhält,  so  muß  nach 
Heraklits  Auffassung  auch  die  in  allen  Wesen  gemeinsam  und 
einheitlich  wirkende  und  schaffende  Gottesvernunft  ihren  sprach- 
lichen Ausdruck  erhalten:  und  diese  natürliche  Äußerung  ihrer 
immanenten  Wirksamkeit  schafft  sich  die  göttliche  Denk- 
tätigkeit in  den  Begriffen  und  in  der  vernünftigen  Rede.  Der 
Xöyog  wird  so  die  Bezeichnung  des  vernünftigen  Denkens, 
sowie  seines  Ausdruckes  in  der  Sprache.     Die   Schöpfung   der 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      323 

Sprache  in  den  feststehenden,  von  allen  angenommenen  Be- 
griffen und  Bezeichnungen  der  Wesen  und  Dinge,  der  Hand- 
lungen und  Zustände,  ist  so  die  eigenste  Tat  der  in  den  Seelen 
der  Menschen  gemeinsam  und  gleichmäßig  wirkenden  einheit- 
lichen Gottes  Vernunft,  die  somit  in  der  von  allen  gleich  ge- 
brauchten Sprache  ein  gemeinsames  Band,  einen  köyog  ivvog, 
d.  h.  xoivos,  schafft  (fr.  2).  Diese  Auffassung  der  Sprache, 
und  in  erster  Linie  der  sie  zusammensetzenden  Begriffe  und 
Namen,  gibt  dem  Heraklit  das  Recht,  die  övouara  der  ^rpay- 
fiata  als  cpvöSL  geschaffen,  d.  h.  als  den  natürlichen  Ausdruck 
der  immanenten  göttlichen  Vemunfttätigkeit  zu  fassen  und  zu 
erklären.  So  kann  Kratylos,  der  Herakliteer,  im  Sinne  seines 
Meisters  sagen  438  C:  oi^iui  ^hv  iya  rbv  äkrj^iötarov  Xoyov 
nsQl  xovtcjv  slvai,  a»  2^c)XQaTsg,  ^leC^co  tivcc  dvvaiiiv  elvui  ^ 
ävd-QcoTCsCav  ri^v  d-£[isvrjv  tu  ngara  dvo^ata  roig  TrQccypiaötv, 
&6r£  ocvayxalov  slvai  uvzä  ÖQ&äg  sx^iv.  Es  ist  nicht  mensch- 
liches Machwerk,  wie  es  in  der  Sprache  zum  Ausdruck  kommt, 
sondern  eine  höhere  Kraft,  eben  die  immanente  Gottesvemunft, 
schafft  sich  in  ihr  den  natürlichen  und  damit  zugleich  not- 
wendigen Ausdruck.  So  dürfen  wir  mit  Recht  behaupten,  daß 
die  Lehre,  die  övoiiara  seien  cpvßsi,  geschaffen  und  demnach 
ein  Mittel,  das  Wesen  der  Dinge  zu  erkennen,  organisch  mit 
der  allgemeinen  Weltanschauung  Heraklits  zusammenhängt. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  muß  Heraklit  in  den 
Namen  der  Volksgötter  zugleich  eine  Bestätigung  für  ihre 
Realität  und  nicht  minder  ein  Mittel  für  die  Erschließung  ihres 
inneren  Wesens  erkannt  haben.  Dementsprechend  werden  im 
Kratylos  die  Göttemamen  selbst,  395  E — 408  D,  wie  nicht 
minder  die  Begriffe  Sonne,  Mond,  Sterne,  Äther,  Luft,  Feuer, 
Wasser,  Erde,  Hören,  Jahr,  408 D  —  410 D,  einer  Betrachtung 
unterzogen,  um  aus  der  etymologischen  Deutung  ihrer  övönata 
Schlüsse  auf  ihr  Wesen  zu  ziehen.  Da  hier  aber  jede  Sicher- 
l^eit  fehlt,  was  auf  Heraklit  selbst,  was  auf  die  Deutungen  der 
späteren  Schule  zurückgeht,  und  jedenfalls  die   meisten  dieser 

21* 


324  Otto  Gilbert 

Erklärungen  späterer  Zeit  angehören,  so  müssen  wir  es  uns 
versagen,  auf  diese  Deutungen  näher  einzugehen:  wir  halten 
uns  an  die  geringen,  aber  sicheren  Spuren,  die  uns  die  Bruch- 
stücke Heraklits  selbst  liefern. 

Hier  ist  es  vor  allem  bedeutsam,  daß  Heraklit  sein  höchstes 
Gottesprinzip  mit  dem  höchsten  Gotte  des  Volksglaubens  identi- 
jBziert  und  hierfür  ausdrücklich  auf  den  Namen  des  letzteren 
sich  beruft.  ^'Ev  tö  6o(pbv  fiovvov  Xsysöd'ai  ovy,  id-iXsi  xal 
hd^iXsi  Zrjvbg  ()vo(ia  heißt  es  fr.  32.  Das  Zögernde  dieses 
Ausspruchs,  „es  will  nicht  und  will  doch",  darf  man  dahin 
erklären,  daß  der  Hinweis  auf  rö  ^ijv,  der  in  dem  Namen  Zi/jv 
liegt,  nicht  genügend  ist,  um  das  Wesen  dieses  höchsten  Welt- 
prinzips zu  erschöpfen.  Auch  Sokrates  erklärt  in  Kratylus' 
Sinne  396 Af.  Zfjva  —  o<?rtg  ^ötlv  aitiog  ^äXXov  rov  ^fiv  — 
dl*  ov  t,f}v  ccsl  Tiäöi  tolg  ^caöiv  vTtaQiEi.  Daß  auch  Heraklit 
tatsächlich  auf  das  t/fiv  anspielen  will,  erkennt  man  daraus, 
daß  er  sonst  (fr.  120)  den  gebräuchlicheren  Namen  Zeus  an- 
wendet, gleichfalls  zur  Bezeichnung  seines  höchsten  Gottes, 
wie  auch  die  Referate  von  Zeus  als  dem  höchsten  Gotte 
Heraklits  wie  selbstverständlich  sprechen. 

Und  in  gleicher  Weise  redet  Heraklit  von  anderen  Gott- 
heiten des  nationalen  Kults  in  einer  Weise,  die  den  Glauben 
an  die  wirkliche  Existenz  derselben  voraussetzt.  Apollon, 
Dionysos  —  Hades  treten  in  bestimmten  Aussprüchen  als  reale, 
leibhafte  und  lebende  Göttergestalten  uns  entgegen,  deren 
Wirklichkeit  für  Heraklit  keinem  Zweifel  unterliegt.  Von 
Dionys  und  Hades  sagt  Heraklit  fr.  15  hvxog  dh  'Al$r}g  xal 
^diöwöog,  8t£C)  fiaCvovTccL  xal  Xr^vat^ovöiv:  und  diese  Identi- 
fizierung der  beiden  Götter  bedarf  der  Erklärung.  Nun  ist  es 
bekannt,  daß  Dionys  in  Mythus  und  Kult  ebenso  Beziehungen 
zum  Lichte  wie  zum  Dunkel,  zur  Oberwelt  wie  zur  Unterwelt 
zum  Ausdruck  bringt.  Er  heißt  Xu^jiti^q  Paus.  7,  27,  3  und 
zugleich  vvxTÜLog  Paus.  1,  40,  6;  Plut.  Ei  9.  389 B;  er  ist 
^tvQiysvTjg  Diod.  4,  5;  Str.  13,  628   und   nicht   minder  x^oviog 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      325 

Orph.  hy.  53,  1.  Sein  unterirdisches  Dasein  wurde  namentlich 
in  Delphi  während  der  Wintermonate  gefeiert,  wofür  es  genügt, 
auf  Praller -Robert  1,  686  ff.  zu  verweisen.  Anderseits  aber  er- 
klärt Heraklit  wiederholt  (fr.  57.  67)  6  dsbs  W^QV  «vqppdvjj, 
mit  der  bestimmten  Motivierung  aXkoiovtai  öh  oxag  tisq  <Ät;(»>: 
Tag  und  Nacht  sind  also  nur  die  wechselnden  Erscheinungs- 
formen einer  und  derselben  Gottheit.  Und  weiter  sagt  er  von 
der  Sonne  (fr.  100),  daß  sie  die  Trägerin  aller  yaraßolai  der 
Natur  sei.  Aller  Wandel  von  Tag  und  Nacht  sowie  aller 
Wechsel  der  Jahreszeiten  besteht  in  der  aXXoCcoöis  der  einen 
göttlichen  Feuer-  und  Lichtsubstanz.  Der  Schluß  liegt  nahe, 
daß  Heraklit  —  durchaus  im  Rahmen  seiner  Gesamtwelt- 
anschauung —  Dionysos  und  Hades  als  die  alternierenden 
Phasen  des  göttlichen  Lichts  gefaßt  hat.  Während  Dionysos 
das  letztere  in  seiner  himmlischen  Erscheinung  und  Wirksam- 
keit darstellt,  bringt  Hades  die  Periode  des  verschwindenden, 
des  sich  verbergenden  Lichts  zum  Ausdruck.  So  wird  Dionysos 
und  Hades  (dutoV,  wie  auch  rj^SQrj  und  svtpgovt]  derselbe  -d^fcg 
ist.  Es  ist  demnach  auch  wahrscheinlich,  daß  Heraklit  schon 
die  später  gebräuchliche  etymologische  Deutung  des  bvofia 
'ACdrjg  als  äsidrjg  (Plato  Kratylos  403  A)  gebilligt  und  ver- 
treten hat. 

Mit  besonderer  Ehrfurcht  spricht  Heraklit  von  Apollon, 
dem  die  Worte  gelten  (fr.  93)  6  äva^,  ov  t6  fiutnslov  iöri 
t6  iv  ^sXcpolg,  ovt£  Xsysi  ovrs  xQvntSL  äXXä  Gr^ftaCvei.  Daher 
die  Sibylle  (fr.  92)  ^aLvo[isv<p  Gto^ati  ayeXaära  xai  axaXXä- 
niöta  xai  äßVQLöta  (pd^syyonsvrj  xiXlav  irav  i^ixvstrai  Tfj 
(pcivfi  diä  röv  d-eov.  Auch  in  diesen  Worten  spricht  sich  der 
unerschütterte  Glaube  an  die  Realität  der  hehren  Gottheit 
Apolls  und  an  die  Wahrheit  seiner  Verkündigungen  aus.  Im 
Tempel  der  Artemis  femer  legte  Heraklit  als  Weihegabe  seine 
Schrift  nieder  (Diog.  L.  9,  6),  und  nichts  deutet  an,  daß  diese 
Beziehung  zu  der  nationalen  Göttin  als  Widerspruch  mit  seiner 
Überzeugung  empfunden  wurde.    In  den  unter  Heraklits  Namen 


326  Otto  Gilbert 

gefälschten  Briefen,  die  aber  manche  Reminiszenz  an  echte 
Aussprüche  Heraklits  enthalten  (vgl.Bernays  Heraklits  Briefe  3  ff.), 
findet  sich  (Ep.  7  Zeile  53  ff.)  eine  Polemik  gegen  die  'Ad-tjvä  no- 
Xs^CöTQia  und  den  Ares  evvciXtos''  auch  hier  wird  nicht  die 
Existenz  dieser  beiden  Gottheiten  geleugnet,  sondern  nur  ihre 
traditionelle  Auffassung  bekämpft.  Zur  Eleusinischen  Demeter 
stand  Heraklits  Geschlecht  (Strabo  14,  633)  in  alter  Be- 
ziehung: schon  Pherekydes  hatte  dieselbe,  soweit  wir  urteilen 
dürfen  (fr.  1.  2;  Paus.  3,  14,  5),  als  Erdgöttin  gedeutet.  Wenn 
Heraklit  das  königliche  Priesteramt,  welches  eng  mit  diesem 
Kulte  verknüpft  war,  später  an  seinen  Bruder  abtrat  (Diog. 
L.  9,  6),  so  weist  doch  nichts  darauf  hin,  daß  er  diesen  Schritt 
deshalb  tat,  weil  er  in  seiner  religiösen  Überzeugung  in  Zwie- 
spalt mit  dem  Glauben  an  die  Existenz  der  Göttin  gekommen 
war.  Von  der  Dike  und  den  Erinnyen  redet  Heraklit  (fr.  23. 
28.  94)  wie  von  Realitäten,  und  betreffs  der  ersteren  betont 
er  wieder  ihr  '6vo[ia  in  Deutung  ihres  Wesens,  wie  er  auch 
fr.  48  das  ovona  eines  Dinges  als  bestimmend  für  das  Wesen 
desselben  hervorhebt. 

So  tritt  uns  in  dem,  was  wir  von  der  Götterlehre  Heraklits 
erfahren,  nichts  entgegen,  woraus  wir  auf  eine  Mißachtung  der 
Götter  des  nationalen  Glaubens  zu  schließen  ein  Recht  hätten. 
Freilich  wollen  christliche  Schriftsteller  von  einer  Klage  wissen, 
die  gegen  ihn  wegen  döeßsia  anhängig  gemacht  sei:  kein  altes 
Zeugnis  aber  bestätigt  diese  Nachricht,  die  nichts  als  eine 
Kombination  ist  (vgl.  Bernays  a.  a.  0.  35  f.).  Hat  Heraklit  an 
den  Volksgöttern  Kritik  geübt,  so  kann  sich  das  nur  auf  die 
Form  beliehen,  in  der  die  unverständige  Menge  diese  heiligen 
Persönlichkeiten  auffaßte  und  verehrte.  Daher  der  Ausspruch 
(fr.  5):  ovTS  yiväöxovöLv  &£ovg  ovd'  iJQNccg  oitives  elöi. 
Nicht  die  Existenz  der  Götter  und  Heroen  wird  hier  bezweifelt, 
nur  die  Auffassung  ihres  Wesens  wird  bekämpft.  Denn  für 
die  Menge  sind  die  Götter  beschränkte,  menschenähnliche 
Geschöpfe,  die,  wenn  auch  mit  mehr  als  gewöhnlichen  Kräften 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      327 

begabt,  nur  in  äußerlicher  Beziehung  zur  Natur  und  zum  Leben 
stehen:  für  Heraklit  aber  sind  sie  die  lebendigen  Natur- 
erscheinungen selbst,  die  vernünftigen  immanent  schaffenden 
Normen  und  Ordnungen  der  Dinge  und  Geschehnisse,  die  in 
allem  wirkenden  und  über  allem  waltenden  Gott^skräfte. 
Und  der  Naturordnung,  welche  alle  diese,  auf  eine  einzige 
agyi]  zurückgehenden,  Einzelhypostasen  der  Gottheit  vertreten, 
entspricht  wieder  die  Sittenordnung,  welche  die  Welt  beherrscht. 
So  verschieden  auch  die  vönoi  der  einzelnen  Staaten  sein 
mögen,  sie  gehen  als  Ordnungen  auf  die  einzige  Gottesordnung 
zurück.  Daher  das  schöne  Wort  (fr.  114):  Tgscpovrai  yäg 
:iävt6g  ol  avd-Qäxeioi  voaot  vno  ivbg  rov  ^sCov  HQUxil  yäg 
Toöovtov  öxoöov  l&iXu  xal  i^agxsl  nä6L  xal  asQiyCvBxai. 
Dieser  innigen  Wechselbeziehung  zwischen  der  göttlichen  Natur- 
orduung  und  dem  Sittengesetze  der  Staatsordnung  hatte  Heraklit 
einen  besonderen  Teil  seiner  Schrift,  den  Xdyog  nohrixög,  ge- 
widmet, Diog.  L.  9,  5. 

Die  tiefe  Auffassung  der  Gottheit  als  der  immanenten 
Welten  Vernunft  und  Sittenordnung  erklärt  es,  daß  Heraklit 
mit  einem  so  leidenschaftlichen  Zorn  alle  frivole  und  ober- 
flächliche Erfassung  der  Götter  bekämpft.  Wenn  er  erklärt 
(Diog.  L.  9,  1),  Homer  und  Archilochus  hätten  verdient,  aus  den 
Preiswettkämpfen  verwiesen  und  mit  Ruten  gezüchtigt  zu 
werden,  so  kann  sich  ein  solches  scharfes  Wort  nur  aus  der 
sittlichen  Entrüstung  über  die  unwürdige  Art  erklären,  mit 
der  namentlich  der  erstere  die  Götter  dargestellt  hat.  Und  aus 
diesem  sittlichen  Zorn  erklärt  sich  auch  der  Haß  und  die  Verach- 
tung, aus  denen  heraus  er  immer  wieder  gegen  die  vernunftlose 
Menge  die  Pfeüe  seines  Grimms  richtet.  Die  Menschen  beten, 
sagt  Heraklit  voU  Entrüstung,  zu  den  Götterbildern,  wie  wenn 
jemand  mit  Gebäuden  Zwiesprache  halten  woUte  (fr.  5.):  denn 
für  Heraklit  ist  das  Walten  der  Götter  unabhängig  von  Bildern 
und  Kultstätten.  Die  polemischen  Bemerkungen  gegen  die 
räumliche   Fixierung  der  Gottheiten  und  ihr  Gebundensein  an 


328  Otto  Gilbert 

Tempel  und  Altäre  in  Ep.  4,  Zeile  9  ff.  {vaolg  ccTtoxsxXsLö^svos  — 
iv  6x6teL  —  im  neQCßoXog  und  als  Statue)  scheinen  wieder 
auf  tatsächlichen  Aussprüchen  Heraklits  zu  beruhen.  Sein 
Eifern  gegen  Bakchen  und  Mysten  (fr.  14.  15)  geschieht  nicht, 
weil  er  den  Kult  als  solchen  verwirft,  sondern  nur  weil  Mysterien 
und  Dionysien  in  schamloser  Weise  gefeiert  werden.  Auch 
hier  also  kann  sein  Tadel  sich  nur  auf  die  Form  beziehen, 
in  welcher  der  Kult  vollzogen  wird.  Und  so  verlangt  er  auch 
von  den  Opfernden  innerliche  Reinheit;  die  Sühngebräuche  gelten 
ihm  nur  dann  als  wirkliche  Heilmittel  der  Seele,  wenn  sie  in 
rechtem  Sinne  geschehen  (fr.  68,  69);  die  Blutrache  geißelt  er 
(fr.  5),  weil  dieselbe  unter  religiösem  Deckmantel  nichts  ist 
als  die  Betätigung  von  Rache,  Haß  und  Ungöttlichkeit. 

Man  ersieht  aus  alledem,  daß  Heraklits  Polemik  nicht 
den  Göttern  selbst  und  auch  nicht  der  Götterverehrung  an 
sich  gilt:  nur  die  verständnislose  Auffassung  der  Götter  als 
toter  Götzen  und  die  rohe,  sinnlose  und  unsittliche  Form  des 
Kults  ist  es,  gegen  die  sein  Haß  und  sein  Tadel  gerichtet  ist. 
Denn  für  Heraklit  sind  die  Götter  die  Hypostasen  bestimmter 
lebendiger  Stofformationen  und  Phasen  des  Naturprozesses, 
die  als  Sonderbildungen  der  einen  Grundsubstanz  denselben 
Charakter,  wenn  auch  in  abgeschwächter  Wesenheit,  tragen 
wie  die  letztere  selbst.  So  kann  Heraklit  vom  d-sög  und  dem 
»slov  schlechthin  (Aetius  1,  7,  22-,  fr.  11;  33;  67;  78;  83; 
102)  und  von  den  d^soC  und  den  d'sta  (Aristot.  part.  anim. 
A  5.  645»  20 f.;  fr.  5;  24;  86)  sprechen.  Ist  6  »eög  identisch 
mit  der  Vernunft,  dem  Logos  (Sext.  matli.  7,  129),  der  Har- 
monie (fr.  51)  und  der  (pvGig,  als  der  lebendigen  Natureinheit, 
so  sind  die  Einzelgötter,  als  die  bestimmten  Einzelphasen  und 
Zustände  der  lebenden  Materie,  nicht  minder  Träger  der  ver- 
nünftigen Weltordnung.  So  kann  Heraklit  ferner  vom  Blitz 
des  Zeus  sagen  (fr.  64)  xä  dh  ndvxa  olaxC^Bi  xBQavv6g  und 
doch  den  Prozeß  der  Gewitterbildung  in  ihren  Einzelphaseu 
festzustellen  suchen  (Aetius  3,  3,  9):  denn  Blitz  und  Donner 


Spekulation  tind  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      329 

und  was  mit  ihnen  zusammenhängt  ist  für  Heraklit  der  un- 
mittelbare Lebensprozeß,  die  sich  wandelnde  Körperform  der 
Gottheit  selbst  und  die  Ordnung  jener  ist  die  Manifestation 
eben  der  Gottes  Vernunft.  Und  ferner:  wenn  in  Heraklitscher 
Auffassung  Helios  täglich  stirbt  (fr.  6),  so  ist  das  kein  Hindernis, 
in  ihm  zugleich  diejenige  Erscheinungsform  der  Gottheit  zu 
erkennen,  welche  die  für  das  kosmische  Leben  höchste  und 
entscheidendste  Bedeutung  hat.  Sein  wechselseitiges  Leben  und 
Sterben  ist  eben  die  für  den  Kosmos  notwendige  Ordnung,  der 
sich  der  Gott  bereitwillig  unterzieht.  Die  Aussprüche  Heraklits 
über  Helios  (fr.  94;  100)  lassen  die  zentrale  Bedeutung  des 
letzteren  erkennen:  nichts  steht  der  Annahme  im  Wege,  daß 
Heraklit  den  allgemeinen  Glauben  teilt,  welcher  auch  Apollon 
als  Kultnamen  des  Sonnengottes  faßte  und  erklärte. 

Für  Heraklit  steht  es  fest,  daß  es  nur  einen  gemeinsamen 
Seelenstoff,  als  die  feinste  und  die  eigentlich  ätherische  Form 
der  Weltmaterie  schlechthin,  gibt,  welche  den  Kosmos  erfüllt 
und  in  seinem  ewigen  Auf-  und  Abwogen  die  Götter  ebenso 
bildet  wie  die  irdischen  Wesen:  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  jene  reiner  und  unvermischter  die  ursprüngliche  Wesenheit 
bewahren,  während  die  tellurischen  Gebilde,  durch  den  Erde- 
stoff des  Leibes  beschwert,  ihre  göttlichen  Seelen  nicht  rein 
zu  erhalten  vermögen.  So  kann  Heraklit  Götter  und  Menschen 
prinzipiell  gleichsetzen  (fr.  62);  von  Seelen  und  Dämonen  ist 
ihm  die  Welt  erfüllt  (Diog.  L.  9,  7);  es  ist  derselbe  Stoff, 
welcher  die  Sonne  täglich  neu  bildet  und  welcher  die  Seelen 
gestaltet.  Aber  die  Götter,  als  die  sich  ewig  gleich  erneuernden 
höheren  Bildungen  von  Äther  und  Licht,  von  Luft  und  Winden, 
von  Sonne,  Mond  und  Gestirnen,  werden  als  Träger  der  Natur- 
ordnung zugleich  zu  sittlichen  Gewalten,  deren  Verehrung  reine 
Hände  und  reine  Seelen  verlangt. 

Es  ist  nur  eine  Konsequenz  der  Weltanschauung  Heraklits, 
in  der  Materie  und  Vernunft  in  unlöslichem  Bunde  vereinicrt 
sind,   daß  Heraklit  am   Glauben  an  die  Wahrheit   der  Mantik 


330  Otto  Gilbert 

festhält.  Denn  sind  alle  Naturerscheinungen  die  Manifestationen 
der  Gottheit  und  steht  ferner  die  menschliche  Seele,  da  sie 
selbst  eine  stoffliche  Bildung  und  zugleich  ein  Teil  der  all- 
gemeinen Weltvernunft  ist,  in  intensivstem  geistigen  Verkehre 
mit  der  göttlichen  Außenwelt,  so  ist  damit  von  selbst  die 
Möglichkeit  gegeben,  daß  ein  auf  die  Zeichen  der  Gottheit 
achtender  Sinn  dieselben  auch  zu  verstehen  und  zu  deuten 
weiß.  Heraklit  spricht  sich  denn  auch  (fr.  92.  93)  entschieden 
für  die  Wahrhaftigkeit  des  Apollinischen  Orakels  aus,  und 
Chalcidius  in  Tim.  249  sagt  allgemein:  asserit  (Heraclitus) 
divinationis  usum,  et  praemoneri  meritos,  instruentibus  divinis 
potestatibus.  Auch  hierfür  verweise  ich  auf  meine  Abhandlung 
in  den  Jahrbch.  f.  d.  kl.  Altert,  a.  a.  0. 

So  dürfen  wir  unser  Urteil  über  die  Lehre  Heraklits  dahin 
zusammenfassen,  daß  dieselbe  keineswegs  gegen  die  Volks- 
religion selbst  gerichtet  gewesen  ist.  Gleich  dem  Pherekydes, 
welcher  in  seiner  Schrift  die  Betrachtung  der  (pv6is  mit  der 
Deutung  der  &soC,  der  Volksgötter,  als  der  Personifikationen 
stofflicher  Formbildungen  und  räumlicher  Sphären,  verband, 
hat  auch  Heraklit  im  ersten  Teile  seiner  Schrift  eine  Darstellung 
der  einheitlichen  Kosmosbildung  und  der  Stoffevolution  ge- 
geben, um  im  zweiten  Teile  eine  Kritik  der  religiösen  Vor- 
stellungen anzuschließen,  die  an  der  Realität  und  der  physi- 
kalischen Wesenheit  der  Volksgötter  keinen  Zweifel  erhob, 
wohl  aber  gegen  die  fetischistische  und  unsittliche  Auffassung 
derselben  und  die  rohe  Art  ihres  Kults  entschiedenen  Protest 
einlegte. 

Daß  wir  über  die  älteren  lonier  —  Thaies,  Anaximander, 
Anaximenes  —  nichts  erfahren,  was  uns  berechtigte,  in  ihrer 
Auffassung  der  Gottheit  und  der  Götter  Beziehungen  auf  die 
Tatsachen  des  Volksglaubens  zu  erkennen,  kann  bei  der  Dürftig- 
keit unserer  Quellen  nicht  auffallen.  An  und  für  sich  liegt 
kein  Grund  vor,  eine  solche  Wechselbeziehung  zwischen  ihrer 
Spekulation  und  dem  Volksglauben  zu  bezweifeln.     Denn  haben 


Spekulation  und  Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie      331 

sie,  Avie  wir  sahen,  die  aus  dem  ürprinzipe  abgeleiteten 
elementaren  Bildungen  bestimmt  als  einzelne  göttliche  Per- 
sönlichkeiten aufgefaßt,  so  ist  die  Möglichkeit,  ja  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  sie  diese  Einzelgötter  mit  bestimmten  Ge- 
stalten des  Volksglaubens  identifiziert  haben,  nicht  ausgeschlossen. 
Beachtenswert  bleibt  es  jedenfalls,  daß  Diogenes  von  Apollonia, 
dessen  Abhängigkeit  von  Anaximenes  in  allen  wesentlichen 
Punkten  feststeht,  auch  seinerseits  das  höchste  Gottesprinzip 
mit  Zeus  identifiziert,  Philodem,  de  piet.  6^  (Doxogr.  536).  Wie 
schon  Homer  O  192  in  den  Worten 

Zevg  d'   Ivl«;^'   oi'Quvbv  evgvv  iv  ald'eQi  y.ul  vecpskrjoiv 

als  die  in  dem  Begriffe  des  Zeus  geeinten  Teile  des  Himmels 
den  ald-ijQj  die  Feuerregion,  einerseits,  und  den  ai^'p,  die  Luft- 
region, anderseits  hervorhebt,  so  hat  Heraklit  ebenso  seine 
Feuersubstanz,  wie  Anaximenes  —  Diogenes  ihre  Luftsubstanz 
mit  dem  nationalen  Himmelsgotte  Zeus  zu  identifizieren 
vermocht. 

Hiernach  haben  wir  ein  Recht  zu  behaupten,  die  ionische 
Gottes-  und  Götterlehre  sei  kein  Bruch  mit  dem  Volksglauben 
gewesen,  sondern  der  Versuch,  den  letzteren  tiefer  zu  erfassen 
und  zu  begründen.  Hatten  die  Götter  des  griechischen  Poly- 
theismus, wie  Zeller  a.  a.  0.  P,  54  sagt,  in  Wahrheit  nur  die 
Teile  und  Kräfte  der  Welt,  die  verschiedenen  Gebiete  der 
Natur  und  des  Menschenlebens  zum  Inhalt,  so  sehen  wir  die 
ionischen  Denker  dieser  Auffassung  der  Gottheit  und  der  Götter 
sich  anschließen.  Aber  in  dem  Ringen  ihrer  Seelen  nach  einer 
einheitlichen  Weltanschauung  gestaltet  sich  ihnen  der  ganze 
Kosmos  zur  Entfaltung  einer  einheitlichen  Gottessubstanz,  aus 
der  die  einzelnen  Phasen  der  Stoffevolutipn  in  organischem 
Werden  hervorgehen.  Mit  dieser  Gottessubstanz  und  mit  den 
aus  ihr  hervorgegangenen  Stofformationen,  Entwicklungsstufen 
und  Zuständen  der  Materie  den  höchsten  Gott  und  die  ihm 
untergeordneten  Einzelgötter  des  Volksglaubens  in   Beziehung 


332     Otto  Gilbert   Spekulation  u. Volksglaube  in  der  ionischen  Philosophie 

zu  bringen,  ja  jene  mit  diesen  zu  identifizieren,  haben  sie  kein 
Bedenken  getragen.  So  wird  ibre  Spekulation  zu  einer  Recht- 
fertigung des  Volksglaubens :  nur  aus  diesem  religiösen  Gesichts- 
punkte ist  die  ionische  Forschung  verständlich,  die  hierin 
durchaus  als  die  Portsetzung  der  älteren  theologischen  Spekulation 
erscheint.  Wie  die  scholastische  Philosophie  mit  ihrer  subtilen 
Dialektik,  tiefen  Spekulation  und  großartigen  Gelehrsamkeit 
nichts  anderes  ist  als  die  Rechtfertigung  des  christlichen  Dogmas 
vor  dem  Verstände,  so  gelten  auch  die  Anfänge  der  griechischen 
Philosophie  —  in  der  ionischen,  eleatischen  und  pythagoreischen 
Forschung  —  in  erster  Linie  der  Frage  nach  dem  Wesen  der 
Gottheit  und  der  Götter.  Es  ist  nur  der  eine  bedeutsame 
Unterschied  zwischen  der  Scholastik  und  der  älteren  griechi- 
schen Philosophie,  daß  jene,  von  den  eisernen  Banden  des 
Dogmas  festgehalten,  niemals  in  die  reinen  Höhen  der  freien 
Forschung  gelangt,  während  die  griechischen  Denker,  selb- 
ständig und  unbefangen  dem  Glauben  gegenüberstehend,  aus 
seinen  Fesseln  sich  in  immer  freieren  und  kühneren  Spekulationen 
zu  lösen  wissen. 


San  Lucio 

Hagiographisches  nod  Ikonographisches 
Von  E.  A.  Stückelberg  in  Basel 

Mit  drei  Abbildnngen  im  Text 

Hart  an  der  Schweizergrenze,  1545  m  über  Meer  liegt  auf 
der  Paßhöhe  zwischen  dem  tessinischen  Val  Colla  und  dem 
italienischen  Val  Cavargna  das  einsame  Bergkirchlein  San  Lucio. 
In  kirchlicher  Beziehung  ist  das  Gebiet  maüändische  Enklave, 
umgeben  vom  Bistum  Como,  heute  angrenzend  an  die  1888 
errichtete  Diözese  Lugano. 

Zu  diesem  Heiligtum  pilgerte  man  seit  vielen  Jahrhunderten 
jeweilen  am  12.  Juli,  dem  Festtag  des  heiligen  Lucio;  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  hat  man  die  Feier  auf  den  Rochustag, 
den  16.  August  verlegt. 

Den  Heiligen  und  die  Wallfahrt  nach  San  Lucio  zu  er- 
forschen, erschien  dem  Verfasser  als  eine  schöne  und  lohnende 
Aufgabe.  Vor  allem  galt  es  Person,  Namen  und  Lebens- 
zeit San  Lucios  festzustellen;  er  hat  nichts  zu  tun  mit  dem 
bekannten  heiligen  Bischof  von  Chur,  dem  heiligen  Papst  und 
den  vielen  anderen  Konfessoren  und  Märtyrern  des  Namens 
Lucius.  Er  ist  vielmehr  ein  Hugo  bzw.  Uguccio  gewesen.  In 
Ober-  und  Mittelitalien  finden  wir  zahlreiche  Varianten  dieses 
Namens:  1150  zu  Vercelli,  1190  zu  Ferrara,  im  12.  Jahrhundert 
zu  Lodi,  1256  und  1268  zu  Pesaro  und  Jesi,  1297  zu  Sini- 
gaglia,  um  1300  zu  Lucca,  1302  zu  Sarsina,  um  1304  zu 
Novara.  Viele  dieser  Personen  mögen  ihren  Namen  von  dem 
heiligen  Uguzo  herleiten,  insbesondere  die  Prälaten,  die  als 
Uguccio,  Ugutio,  Huguitio  oder  Ugucius  urkundlich  und  offiziell 
auftreten.  Mit  Recht  nennen  die  Bollandisten  unsem  Heiligen 
Uguzo;  sie  widmen  ihm  eine  halbe  Seite  und  zwar  auf  Grund 


334  E.  A.  Stückelberg 

gedruckten  oberitalienischen  Materials.^  Aus  Uguzo  wurde  nun 
durch  Vorsetzung  des  italienischen  Artikels  il  Luguzon  (Dasio 
1516),  Luguzonus  (Lugano  1280  und  Giornico),  Lugutionus 
(Semione),  Lugutio  (B.  Giovio  1545)  und  Luguzzone  (Giussani 
1582).  Durch  Zusammenziehung  entsteht  aus  dieser  Namens- 
form dann  Luzzono  (Carlazzo  1496)  und  Luzzon  (Tavordo  1628), 
Luzone  (Scaria  1588).  Eine  weitere  Abkürzung  macht  hieraus  Lüz, 
Lüzi,  Luci  und  schließlich  Lucio  (seit  1700),  Lucius  (seit  1612). 
Aber  nur  der  Name  des  Heiligen  hat  sich  verändert;  sein 
Charakter  und  sein  Patronat  ist  dasselbe  geblieben.  Das  be- 
weisen uns  nicht  literarische  —  diese  setzen  erst  im  17.  Jahr- 
hundert ein  — ,  sondern  ikonische  Quellen.  Lucio  wird  nämlich 
dargestellt  als  der  Schutzherr  der  Älpler;  das  älteste  Bild 
zeigt  ihn  mit  dem  Bergstock,  neben  ihm  einen  Ochsen  und  zwei 
Ziegen  (Lugano  1280).  Das  Zweitälteste  Gemälde  stellt  drei 
Schafe  (Semione)  und  Berge  neben  den  Heiligen.  Diese  Attri- 
bute charakterisieren  S.  Lucio  deutlich  als  einen  anderen 
Wendelin,  einen  Viehpatron  in  den  Bergen.  Aber  noch  ein 
weiteres,  ganz  spezielles  Kennzeichen  findet  sich  seit  dem 
15.  Jahrhundert  ausnahmslos  auf  allen  Bildern  des  Heiligen; 
es  ist  ein  Käse.  Der  Schreiber  dieser  Zeilen  ist  diesen  Bildern 
auf  zahlreichen  Fahrten  in  Berg  und  Tal  nachgegangen  und 
hat  sie  sorgfältig  skizziert,  gezeichnet,  gepaust  oder  photo- 
graphiert;  eine  Sammlung  von  etwa  vierzig  authentischen 
Bildern,  vom  Mittelalter  bis  auf  den  heutigen  Tag  reichend, 
kam  zustande.  Sie  zeigt,  Avie  das  Patronat  sich  gleich  bleibt, 
die  Darstellung  sich  aber  erweitert.  Das  Vieh  wird  nicht 
mehr  abgebildet,  aber  dafür  treten  die  Empfänger  des  Käses 
neben  S.  Lucio  auf:  in  Carona  1486,  in  der  S.  Luciokapelle 
auf  der  Paßhöhe  im  16.  Jahrhundert  (Deckenfresko  mit  einem 
Manne,  Ölgemälde  mit  zwei  Frauen).     In  Medeglia   1687  und 

>  Die  ganze  —  recht  spärliche  —  Literatur  über  S.  Lucio  findet 
sich,  zusammengestellt  vom  Verfasser  dieser  Zeilen,  im  Schweiz.  Archiv 
für  Volkskunde  1910  Heft  1. 


San  Lacio 


335 


in  Mailand  (um  1840)  sehen  wir  Arme  beider  Geschlechter 
und  Kinder  vor  dem  Heiligen.  San  Lucio  wird  in  der  älteren 
Zeit  jugendlich  und  bartlos,  fast  als  Knabe  (Yerscio,  Fig.  1) 
und    Semione    (Fig.  2),    seit    dem   15.  Jahrhundert   regelmäßig 


(fe  lu^unon^ 


Fig.  1 

Uguzo  mit  dem  angeschnittenen  Käse 

Fresko  in  Verscio -Pedemonte 

(Originalseichnong  des  Verfassers) 


Fig.  2 

Uguzo,  den  Käse  anschneidend 

Fresko  in  Semione 

(Originalzeichnung  des  Verfassers) 


mit  blondem  Barte  abgebildet.  Seine  Tracht  besteht  aus 
einem  breitkrempigen  Alplerhut  aus  Wolle;  er  trägt  eine  Jacke 
oder  ein  Hemd,  darüber  einen  dunklen  Mantel,  lange  meist 
ganz  anliegende  Hosen,  niedere  Schuhe  oder  Sandalen;  am 
Gürtel  ein  Messer,  seltenerweise  auch  ein  Leck-  oder  Salz- 
täschchen (Puria,  Mailand).  Auf  einzelnen  Bildern  sieht  man 
das  Innere  einer  Alphütte,  oder  deren  Geräte  (Medeglia,  Kirche 
und  Bildhaus,  sowie  S.  Annakapelle  auf  dem  Luciopaß).  Alle 
mittelalterlichen  Bilder  sowie  einige  des  16.  und  die  des  19.  Jahr- 


336  E.  A.  Stückelberg 

hunderts  legen  dem  Heiligen  den  Nimbus  bei.  Nur  beiläufig 
erwähnt  sei,  daß  S.  Lucio  auch  dargestellt  wird  in  betender 
Haltung,  entweder  mit  erhobenen  Händen  (S.  Lucio)  oder  vor 
dem  Bild  des  Gekreuzigten  (S.  Lucio,  Gewölbefresko  des  16.  Jahr- 
hunderts, und  Isone  1901).  Auch  Blinde  und  Lahme  erscheinen 
vor  dem  Heiligen.^ 

Diese  Bilder  geben  deutlich  zu  verstehen,  was  sich  das 
Volk  von  S.  Lucio  dachte  und  was  es  von  ihm  wünschte. 
Er  ist  der  Patron  der  Alpwirtschaft,  im  besonderen  der  Seunen, 
die  Milch  und  Käse  erzeugten  und  verkauften;  dann  ist  er  der 
Spender,  der  Wohltäter  der  Armen,  endlich  der  fromme  Beter 
und  Fürbitter. 

Die  urkundlichen,  literarischen  und  monumentalen  Quellen 
fügen  noch  einige  Züge  bei.  Schon  im  15.  Jahrhundert  heilt 
S.  Lucio  Augenleidende:  ein  Pilger  aus  Puria  eilt  zu  seinem 
Heiligtum;  Brautio^  singt:  fons  ortus  medicis  rubescit  aquis. 
Damit  ist  der  Teich  auf  S.  Lucio  gemeint,  in  dessen  trübem 
Wasser  man  sich  die  Augen  wusch  oder  das  man  sich  zu  Tale 
bringen  ließ,  wenn  man  selber  die  mühevolle  Wallfahrt  nicht 
unternehmen  konnte.  Die  Bollandisten  erwähnen  die  Augen, 
die  ex  voto  in  Silber  und  Wachs  ins  Heiligtum  von  S.  Lucio 
gestiftet  wurden.  Es  ist  klar,  daß  die  Namensformen  Luzzon 
und  Lucio  so  gut  wie  Lucia  an  Lux,  das  Augenlicht,  erinnerten. 
Als  der  Schreiber  voriges  Jahr  das  San  Luciofest  mitmachte, 
war  der  von  den  Augenkranken  sonst  besuchte  Teich  des 
Heiligen  ausgelaufen  und  vollständig  trocken;  und  Votivgaben, 
die  auf  Augen  bezüglich  waren,  fehlten  sowohl  in  der  Kirche 
als  in  den  Verkaufsständen.  Dafür  gilt  S.  Lucio  gleich  den 
benachbarten  Bergheiligen  S.  Mirus,  S.  Donatus,  S.  Amatus 
als  Wetterpatron;  Frauen  aus  dem  Cavargnatal,  deren  Felder 
und  Bäume  nach  Regen  lechzten,  wandten  sich  noch  voriges 
Jahr  am  Luciofest  an   unseren  Heiligen. 

*  Heilungen  von  Blinden  und  Lahmen  finden  sich  in  Dutzenden  von 
italienischen  Heiligenlegenden.  '  S.  unten  S.  340. 


San  Lncio 


33: 


Der  Heilige  hat  jedenfalls  vor  dem  zwölften  Jahrhundert 
gelebt;  er  muß  im  Geruch  der  Heiligkeit  gestorben  sein  und 
an  seinem  Grab  geschahen  Wunder.  In  jedem  Fall  wallte 
man  schon  im  Mittelalter  aus  vielen  italienischen,  zum  Teil 
recht  entlegenen  Diözesen  zu  seinem  Heiligtum.  Von  welcher 
Richtung  man  auch  kommen  mag,  die  Reise  ist  beschwerlich, 
denn  nur  auf  überaus  steilen  und  nicht  ohne  weiteres  findbaren 
Fußwegen*  erreicht  man  die  Paßhöhe,  auf  der  St  Lucio's 
Kirchlein  steht.  Es  ist  ein  grauer  langgestreckter  niederer  Bau  mit 
kurzem  und  stumpfem  Turm ; 
der  Chor  und  das  einschiffige 
Langhaus  sind  von  derselben 
Höhe  und  Breite,  beide  nur 
durch  Bogen  in  einige  Kom- 
partimente,  die  eingewölbt 
sind,  geschieden.  Ein  Gitter 
trennt  Altarraum  und  Schiff. 
Auf  dem  Hochaltar  steht 
eine  hölzerne  Statue  .  des 
Heiligen,  vielleicht  10  oder 
20  Jahre  alt.  Das  ehemalige, 
aus  dem  15.  Jahrhundert 
stammende  Standbild  wird 
in  der  Sakristei  aufbewahrt. 
Es  ist  behängt  mit  Rosen- 
kränzen und  anderen  kleinen 
Gaben  (Fig.  3). 


*  Sie  waren  früher  noch 
weit  schlechter;  denn  daß S.  Carl 
mit  heiler  Haut  die  Reise 
Porlezza-Cavargna-San  Lucio- 
Sonvico  überstand ,  betrachtet 
sein  Biograph  Guissano  als 
Wunder. 


Fig.  3 

UgQZo  mit  dem  Volikäse 

Statue  auf  detä  S.  ItnciopaB 

(OriginalphotOirrarhie) 


Archiv  f.  Religionswissenschaft  XIII 


338  E.  A.  Stückelberg 

Die  Pilger  ziehen  in  der  Nacht  zum  Heiligtum  empor, 
geistliche  Lieder  singend,  in  größeren  oder  kleineren  Gruppen, 
die  zum  Teil  vom  Ortsgeistlichen  geführt  oder  begleitet  sind. 
Voriges  Jahr  waren  6  Pfarrer  und  etwa  1500  Pilger  oben.  Gleich 
nach  der  Ankunft  pflegen  diese,  einer  hinter  dem  andern,  den 
Rand  des  ehemaligen  Lucio -Teiches,  ein  paar  Schritte  nörd- 
lich von  der  Kirche  abzuschreiten.  Sie  ziehen  mehrmals  im 
Kreis  herum,  den  Rosenkranz  betend,  um  sich  dann  in  zwei 
weitere  Kreise,  nördlich  davon,  etwas  höher  gelegen,  zu  be- 
geben, wo  derselbe  Umgang  stattfindet.  Dann  gehen  die  Wall- 
fahrer in  die  Kirche,  oder  wohnen  unter  der  Tür  der  Messe 
bei.  Nachher  kaufen  sie  Kerzen,  welche  beim  Lucio -Altar 
auf  einem  eisernen  Gestell  herunterbrennen;  am  Rochustag  er- 
hält auch  die  Rochuskapelle  derartige  Gaben. 

Am  Hochaltar  und  in  der  Sakristei  pflegen  Priester  ver- 
schiedene Gegenstände  zu  segnen,  welche  die  Andächtigen  in 
ihren  Bündeln  zu  Berge  getragen  haben.  Es  sind  meistens 
Kleidchen  von  Kindern  und  Windeln.  Auch  Eheringe 
werden  präsentiert.  Viele  Pilger  bitten  je  nach  dem  Be- 
dürfnis um  Regen  oder  Trockenheit.  Daß  viele  Wünsche  in 
Erfüllung  gegangen  sind,  bezeugten  mir  zahlreiche  Aussagen 
von  Geistlichen  und  Laien,  bewies  die  als  Votivgaben  auf- 
gehängte Krücke,  ein  wächsernes  Bein,  ein  Arm.  Und  als 
1909  tausend  Gebete  um  Regen  gen  Himmel  gestiegen  waren, 
ballten  sich  Wolken  und  es  kam  der  ersehnte  Regen;  die 
Alpler  waren  vollauf  befi.odigt  von  ihrer  Wallfahrt, 

Doch  es  gilt  nun  die  Bilder  des  Heiligen  zu  erklären; 
sind  dieselben  doch  die  ältesten  sicheren  Zeugnisse  über 
S.  Uguzo. 

Das  stehende  Attribut  ist  der  Käse  (Fig.*  1 — 3);  an  der  alten 
Statue  der  Luciokirche  ist  es  eine  volle,  runde  Scheibe,  später 
sind  es  stets  angeschnittene  Scheiben  und  das  weggeschnittene 
Dreieck  ist  in  der  gebenden  Hand  des  Heiligen  oder  in  der 
ausgestreckten  Hand  eines  Armen.     Die  Absicht  der  Bildner, 


San  Lucio  339 

den  Heiligen  als  Wohltäter,  als  Schenker  des  Landesprodukts 
darzustellen,  ist  klar.  In  gleicher  Weise  wird  als  Patron  des 
Weins  und  der  Reben  S.  Morand  im  Elsaß,  S.  ürban  in  der 
Champagne,  S.  Theodul  im  Wallis  mit  einer  Traube  abgebildet. 
Überall  sind  dann  aus  dem  Bilde  volkstümliche  Legenden 
entstanden. 

Im  Kultgebiet  S.  Uguzos  wird  erzählt  —  seit  dem  17.  Jahr- 
hundert wird  die  Legende  auch  aufgezeichnet  — ,  der  Heilige 
habe  als  armer  Knecht  so  viel  Käse  verschenkt,  daß  sein  Brot- 
herr ihn  unter  dem  Verdachte,  er  verschenke  nicht  das  Er- 
sparte, sondern  des  Herrn  Gut,  davonjagte.  Uguzo  habe  ver- 
standen, aus  den  übrig  gebliebenen  Molken  ein  zweites  Mal 
Käse  zu  machen*;  dadurch  brachte  er  die  Sennerei  seines  neuen 
Brotherrn  zur  Blüte,  während  die  Habe  des  frühern  Herrn 
abnahm.  Voll  Neid  habe  dieser  ihn  getötet;  nach  einer  Version 
ist  er  erdolcht  worden,  nach  anderer*  ist  er  von  bösen  Knechten 
in  siedender  Milch  zu  Tode  gebracht  worden. 

Ein  Quell  entsprang  an  der  Stätte  des  Martyriums.' 
Der  blutige  Leib  sei  in  den  Teich  geworfen   worden   und 
dessen  Gewässer  färben  sich  alljährlich  rot^  am  Todestag  des 


'  Wunderbare  Vermehrung  von  Speisen  begegnen  in  vielen  Heüigen- 
legenden. 

*  Diese  Version  wurde  Rahn  im  Bleniotal  mitgeteilt.  Ob  sie  nun 
ludividuelle  Meinung  eines  Pfarrers  oder  Volkstradition  ist,  in  jedem 
Fall  hängt  sie  mit  den  Darstellungen  S.  Uguzos,  die  neben  den  Heiligen 
einen  großen  Milchkessel  (über  dem  Feuer)  stellen,  zusammen.  Vgl.  die 
Gemälde  zu  Medeglia  (in  der  Pfarrkirche  und  einem  Bildhaus  an  der 
Straße),  sowie  in  der  S.  Annakapelle  auf  S.  Lucio.  Gesottene  Heilige 
waren  dem  Volk  aus  den  Legenden  von  S.  Johann  und  S.  Veit  geläufig. 

'  Das  ist  ein  dem  Hagiographen  geläufiger  Zug  der  Legenden; 
erinnert  sei  nur  an  die  Quellen  von  Tre  Fontane  und  Zürich  (Marter- 
stätte von  SS.  Felix  und  Regula  bei  der  Wasserkirehe),  in  Carrara, 
Aquileia. 

*  Auf  eine  heidnische  Parallele  zur  Blutfarbe  weist  mich  Wünsch: 
den  alljährlich  sich  rotfärbenden  Adonisfluß;  vgl.  dessen  Schrift  Das 
FrvMingsfest    der  In^el  Malta   S.   22  f.     Ein    Beispiel    aus    der    italie- 

22* 


340  E.  A.  Stückelberg 

Heiligen.  Dieser  Zug  tritt  besonders  in  den  Versen  der  Dichter, 
die  den  Heiligen  im  17.  Jahrhundert  besangen,  hervor.  Im 
Martyrologium  poeticum  des  Brautius  lesen  wir: 


dann; 


A  primo  pulsus,  quoniam  benefecit  egenis 
Alterius  Domini  Pastor  adauxit  oves, 

Invidia  dominum  rebus  stimulante  minutis 
Insons  Uguzo  damna  cruore  luit, 


und  schließlich: 

Sanguis  ubi  cecidit  Pastoris  caede  perempti 
Föns  ortus  medicis  sponte  rubescit  aquis. 

Bulzius  singt  in  seinem  Sacrarium  poeticum  (Como  1665  H  23): 

(Annua  die,  qua  caesus  est,  fons 
ortus  in  eius  obitu  rubescit). 
Nox  ubi  funestis  illata  est  improba  talis 
Saxea  fontanas  terra  profundit  aquas. 

Annua  sacrilega  cum  lux  necis  atra  recurrit 
Viscere  de  gravido,  quae  fluit,  unda  rubet. 

Deflet  humus,  cum  fundit  aquas,  fretus,  anxia  fundens 
Rubras;  sanguineis  deflet  humus  laehrymis. 

-Beide  Lieder  sind  in  Boscas  Martyrolog  von  Mailand  169.") 
(mit  orthographischen  Variationen)  abgedruckt  (p.  190  und  191). 

Der  rote  Teich  ist  abgebildet  auf  einem  Freskogemäldo 
an  einem  Privathaus  zu  Tavordo  vom  Jahre  1628. 

Der  Heilige  wurde  mit  einem  Dolch  (pugio),  der  landes- 
üblichen Waffe,  getötet.  Ein  Wandgemälde  zeigt  diesen  Dolch 
in  der  Hand  des  Mörders  (Pfarrkirche  zu  Puria);  auf  zwei 
Bildern  (Deckengemälde  auf  San  Lucio'  und  Wandbild  zu  Puria"^ 
sieht  man  die  blutige  Seitenwunde  an  der  rechten  Brust  de.- 
Märtyrers. 

nischen   Hagiographie   bietet    Ferraris    Catalogus   p.   75    im    Leben    dos 
h.  Gemulus  Martyr:  lapides  fontis,  in  quem  sanguis  »irirtyris  profluit  .  .  .i 
inrubescunt  quasi  sanguinc  tincti. 


San  Lucio  341 

Die  große  Zahl  der  Bilder  aber  zeigt  ein  Messer  in  der 
Hand  des  Heiligen:  die  Scheide  hängt  am  Gürtel.  Erwähnt 
seien  nur  die  Fresken  des  15.  Jahrhunderts  in  Semione,  Verscio 
und  Carona,  femer  die  Statuen  Ton  Sonvico  und  Puria,  alles 
Denkmäler  in  Kirchen.  Überall  aber  hat  der  Künstler  das 
Messer  in  die  Hand  des  Heiligen  gelegt,  als  Käsemesser,  d.  h. 
mit  der  Gebärde  des  Schneidens,  und  regelmäßig  ist  der  Käse, 
von  dem  der  Heilige  verschenkt,  angeschnitten.  Ist  wohl  das 
Marterinstrument,  das  dem  Heiligen  nach  normaler,  allgemeiner 
Sitt«  der  Heiligen -Ikonographie  beigelegt  wurde,  im  Laufe 
der  Zeit  als  Käsemesser  verstanden  worden? 

Die  Frage  verlangt  zusammen  mit  der  Behandlung  der 
anderen  Attribute  erklärt  zu  werden. 

Käse  ist  das  Hauptlandesprodukt  auf  den  Alpen,  wo 
S.  Lucio  verehrt  wird.  Nichts  ist  natürlicher,  als  daß  man, 
da  bares  Geld  rar  war,  die  Opfer  in  Form  von  Käsen  dar- 
brachte. Solches  bezeugen  auch  die  Bollandisten.  Man  hat 
nun  den  Heiligen  mit  den  zu  seinen  Füßen  niedergelegten 
Gaben,  eben  den  Käsen,  gesehen;  man  hat  das  Bild  wiederholt 
Man  hat  das  Attribut  nach  allgemeiner  Sitte  in  die  Hand  des 
Heiligen  gelegt,  wie  die  Traube  den  Weinbeschützern,  wie  das 
Haupt  den  enthaupteten  Heiligen.^  Die  Statue  in  der  Wall- 
fahrtskapelle repräsentiert  diesen  Typus:  der  volle  (unan- 
geschnittene) Käse  in  der  Linken  des  Heiligen.  Die  anderen 
Bilder  gehen  einen  Schritt  weiter:  sie  geben  den  Heiligen  den 
Käse  anschneidend.  Dann  den  Käse  angeschnitten.  Ein 
Armer  empfängt  ein  Stück,  ein  zweiter  geht  mit  einem 
empfangenen  Stück  davon  (Carona  1486).  Spätere  Bilder  zeigen 
den  Heiligen  inmitten  seiner  Molkereigeräte  in  der  Sennhütte, 
unter  deren  Tür  die  Bedürftioren  erscheinen.    Die  Entwickeluns 


*  Beispiele:  Urs,  Victor,  Felix,  Regula,  Exuperanz,  Placid  von 
Disentis,  Victor  von  Tomils,  Dionys  von  Paris,  Eleutherius  und  ßusticus, 
Boetius  (Pavia),  Dalmatius,  Ursicin  (Ravenna).  Domneo  (Bergamo). 
Emygdius  (Äscoli). 


342  E.  A.  Stückelberg 

der  Legende  aus  dem  Bild  dürfte  einleuchtend  sein,  und  aus 
der  Legende  entstehen  wiederum  die  ausführlicheren  Bilder. 

Das  Messer,  ein  Instrument,  das  seit  langem^  und  heute 
noch  als  Gerät  und  als  Waffe  bei  den  Italienern  gebraucht 
wird,  ist  vielleicht  ursprünglich  das  Marterinstrument  gewesen. 
Im  Verlauf  der  Zeit  wird  es  aber,  seitdem  der  Käse  in  die 
eine  Hand  des  Heiligen  gelegt  wird,  als  Käsemesser  zu  dem 
Käse  in  Beziehung  gesetzt.  Das  Bild  des  Heiligen  fängt  an 
zu  erzählen:  es  zeigt,  wie  er  Käse  zerschnitten,  um  ihn  den 
Armen  zu  geben.  Und  seit  dem  17.  Jahrhundert  tauchen  diese 
Armen  auf  den  Bildern  auf,  in  Carona,  auf  San  Lucio  (Decken- 
bild und  Ölgemälde),  in  Medeglia  (1687)  und  in  Mailand 
(um  1840). 

Es  bleibt  noch  der  rote  Teich.  Das  Cavargnatal  stand 
seit  dem  15.  Jahrhundert  wegen  seiner  Eisenindustrie  mit 
Mailand  in  reger  Verbindung.  Sollte  schon  das  eiserne  Messer, 
dieses  stehende  Attribut  des  Heiligen,  ursprünglich  eine  Gabe, 
ein  Specimen  der  Landesproduktion  gewesen  sein?  Sollte  die 
rote  Farbe  des  Teiches  vom  Eisengehalt  der  Erde  herrühren? 
Für  beides  fehlen  alle  Beweise.  Vielmehr  scheint  durch  ein 
naturgeschichtliches  Phänomen  der  Teich  nur  zu  bestimmter 
Zeit  —  im  Hochsommer,  am  12.  Juli  —  die  rote  Farbe  ge- 
zeigt zu  haben.  Jetzt  liegt  er  trocken  und  der  Boden  unterscheidet 
sich  in  nichts  von  dem  der  Umgebung.  Ohne  Zweifel  aber 
handelte  es  sich  bloß  um  rote  Spaltalgen,  wie  sie  in  den  Berg- 
gewässern häufig  vorkommen.  Der  Verfasser  hat  sie  schon 
auf  dem  St.  Gotthard,  aber  auch  in  der  Ebene,  im  Züricher- 
und  im  Murtenersee  wahrgenommen.  Die  oscillcUoria  rubescen^ 
im  letzteren  See,  an  dessen  Ufer  die  Schlacht  gegen  Karl  den 
Kühnen    getobt    hat,    hießen    die    Murtener    „Burgunderbhit". 


*  Als  S.  Carl  Borromaeus  das  Cavargna-  und  Collatal  visitiertr 
brachten  die  Einwohner  ihre  Stöcke  und  Messer  mit  ihm  in  Berühruu;^ 
und  bewahrten  sie  fortan  als  Keliquien.  Guissano  Vita  di  S.  Carlo, 
Brescia  1611  p.  293, 


San  Lucio  343 

Auch  Millionen  winziger  roter  Krebschen  pflegen  die  Alpen- 
seen gelecrentlieh  rot  zu  färben. 

SoUte  die  rote  Farbe  nicht  nur  an  Blut  erinnert  haben, 
sondern  die  Legende  vom  blutigen  Tod  des  Heiligen  erzeugt 
haben?  So  weit  darf  man  nicht  gehen;  man  wird  dabei  stehen- 
bleiben müssen,  daß  zuerst  das  Wasser  da  war,  Quelle  oder 
Teich.  An  dieser  Stelle  mag  man  sich  niedergelassen  haben, 
hier  entstand  vielleicht  eine  Hütte,  in  jedem  Fall  die  Kapelle, 
die  heutige  Wallfahrtskirche.  Die  Phantasie  des  Volks,  immer 
auf  der  Suche  nach  einer  Erklärung,  die  sich  von  den  Tat- 
sachen, von  der  Wahrheit  entfernt,  bracht«  das  Wasser  und 
seinen  Heiligen  in  Verbindung.  An  der  Marterstätte  soll  ein 
QueU  entsprungen  sein,  oder  in  den  Teich  habe  man  den  Mär- 
tyrer geworfen;  deshalb  färbe  sich  das  Wasser.  Die  Tötung 
des  Heiligen  erinnert  an  die  blutigen  Grenzzwistigkeiten,  die 
im  Mittelalter  auf  den  Bergeshöhen  der  Gegend  ausgefochten 
worden  sind;  man  denkt  auch  an  die  Streitigkeiten,  bei  denen 
das  Messer  am  Abend  der  Luciuswallfahrt  selbst,  wenn  der 
starke  rote  Wein  die  Gemüter  erhitzt  hatte,  seine  Rolle  gespielt 
hat.  Und  gerade  um  dieser  Konflikte  willen  haben  geistliche 
Behörden  im  Bistum  Como  die  Wallfahrt  nach  San  Lucio  ein- 
stellen lassen.  Nur  noch  die  nahe  gelegenen  Dörfer,  fast  alle 
zu  den  Bistümern  Maüand  und  Lugano  gehörig,  beteiligen  sich 
heutzutage  an  der  Feier. 

Die  Archäologie  des  Heiligen  aber  dürfte  ein  Schulbeispiel 
für  die  wechselseitige  Beeinflussung  von  Bild  und  Legende 
darstellen  und  um  so  interessanter  sein,  als  keine  kirchliche 
Behörde  korrigierend  in  freies  volkstümliches  Schaffen  ein- 
gegriffen hat.  S.  Uguzo  ist  auch  insofern  eine  merkwürdige 
Erscheinung,  als  die  Legende  eine  ganze  Sammlung  von 
Legendenzügen  auf  sein  Haupt  vereinigt  hat. 


II  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VlI,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  etwa 
vier  Jahi-gängen  schließen.  Mit  Band  XII  (1909)  beginnt  die  neue 
Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen  der  Zeit 
seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß  des  betr. 
neuen  Berichts  referiert. 


2  Ägyptische  Religion  (1906-1909) 

Von  A.  Wiedemann  in  Bonn^) 

Allgemeines.  Beziehungen  zu  anderen  Religionen. 
Die  große  Anzahl  von  Textpublikationen  und  Bearbeitungen, 
welche  über  die  ägyptische  Überlieferung  in  den  letzten  Jahren 
erschienen  ist,  hat  vielfach  die  Kenntnis  der  altägyptischen 
Religion  gefördert.  Da  das  vorliegende  Material  so  gut  wie 
ausschließlich  aus  Tempeln  und  Gräbern  stammt,  so  enthält 
fast  jeder  Text  und  seine  Erörterung  Angaben,  welche  für  die 
Erkenntnis  der  Religion  in  Betracht  kommen.  So  würde  nur 
eine  vollständige  Übersicht  der  ägyptologischen  Literatur,  wie 
sie    die    großen    Jahresberichte^    geben,    auch    die    religions- 

1  y^\.  Archiv  für  Bel.-Wiss.  VII  S.  471—486,  IX  S.  481-499. 
*  Wiedemann  Ägypten  im  Jahresber.  der  Geschichtsicissenscha/t  für 
1905,  1906,  1907.  Berlin  1906—1908;    und  Griföth  Archaeological  lieport 


Ägyptische  Keligion  (1906—1909)  345 

geschichtlichen  Studien  erschöpfen.  An  dieser  Stelle  soll  das 
hervorgehoben  werden,  was  für  den  Religionsforscher,  nicht 
ausschließlich  für  den  ägyptologischen  Spezialisten,  von  be- 
sonderer Bedeutung  sein  kann. 

Zunächst  seien  einige  Gesamtdarstellungen  der  ägyptischen 
Religion  genannt.  Eine  ebenso  anregende  wie  lehrreiche 
Schilderung  derselben  unter  besonderer  Hervorhebung  der  auf 
die  Unsterblichkeitsvorstellungen  bezüglichen  Gedankengänge 
und  der  Kultzeremonien  gab  E.  Naville^  in  einer  Reihe  von 
Vorträgen.  Die  Behandlung  der  ägyptischen  Religion  durch 
Erman  erschien  in  einer  zweiten,  vom  Verfasser  umgearbeiteten 
und  im  Umfange  erweiterten  deutschen  und  in  einer  englischen, 
durch  eine  Reihe  von  Illustrationen  vermehrten  Ausgabe.- 
Amelineau  verfaßte  ein  größeres  Werk  über  ägyptische 
Religion^,  und  Petrie  stellte  in  einer  interessanten  Schrift* 
eine  Reihe  von  Vermutungen  über  ägyptische  religiöse  Vor- 
stellungen zusammen,  für  welche  freilich  vielfach  der  Beweis 
noch  aussteht. 

Von  verschiedenen  Seiten  ist  im  Verlauf  der  letzten  Jahre 
der    Versuch    gemacht    worden,    die   Ergebnisse    der    ägypto- 


1905/06,  1906  07,  1907/08  (Egypt  Exploration  Fund).  London  1906  bis 
1908.  Auf  wichtigere  Erscheinungen  beschränkt  sich  G.  Röder  Ägypto- 
logie in  Zeitschr.  der  Deutsch.  Morgen}.  Ges.  LXU  S.  185 — 202,  LXIII 
S.  239—251.  Insbesondere  über  Religion  handelt  J.  Capart  Bulletin  des 
religions  de  VEgypte  1905,  1906 — 1907  (aus  Rev.  de  THist.  des  Religions). 
Paris  und  Brüssel  1906,  1909. 

*  La  religion  des  anciens  Egyptiens  (Annales  Musee  Guimet.  Bibl. 
de  Tulgarisation  XXIII).     Paris  1906. 

*  A.  Erman,  Die  aegyptische  Beligion.  2.  Auflage.  Berlin,  G.  Reimer. 
—  A  Erman  A  handbook  of  Egyptian  religion,  translated  by  A.  S.  Griffith. 
London,  A.  Constable,  1907. 

*  Prolegomenes  ä  l'etude  de  la  religion  Egyptienne  (Bibl.  Ecole  des 
Hautes  Etudes.  Sciences  religieuses  XXI).  Paris  1908.  Derselbe  Ver- 
fasser polemisierte  gegen  Erman:  La  religion  egyptienne  d'apres 
M.  A.  Erman  in  Bev.  de  l'Hist.  des  religions  LYII  3.  204—221. 

*  The  Beligion  of  Ancicyü  Egypt.    London,  A.  Constable,  1906. 


346  A.  Wiedemann 

logischen  Forschung  für  die  Religionswissenschaft  in  weiterem 
Umfange  nutzbar  zu  machen.  Vor  allem  geschah  dies  durch 
G.  Foucart^,  der  die  ägyptische  Religion  für  eine  Typus- 
religion erklärte,  deren  Entwicklung  und  Einzelerscheinungen 
ein  Schema  ergäben,  in  welches  man  die  sonstigen  religions- 
geschichtlichen Vorgänge  einzuordnen  vermöge.  Aus  Ägypten 
könne  man  die  Grundlagen  für  die  Erkenntnis  befremdender 
Gottheiten  und  Lehren  bei  anderen  Völkern  gewinnen.  Dieser 
Gedanke  wird  in  geistvoller  Weise  durchgeführt  und  wird 
weitere  Kreise  darauf  aufmerksam  machen,  daß  in  dem  schein- 
baren Wust  ägyptischer  Religionslehren  manches  Wertvolle 
enthalten  ist.  Andererseits  setzt  aber  das  Werk  von  Foucart 
eine  größere  Sicherheit  unserer  Kenntnis  der  ägyptischen 
Religion  voraus,  als  sie  tatsächlich  bisher  vorhanden  erscheint. 
Ein  großer  Teil  der  ägyptischen  Texte  enthält  magische 
Formeln,  deren  Verständnis  durch  zahlreiche  Anspielungen  auf 
bisher  unbekannte  mythologische  Vorgänge  sehr  erschwert 
wird.  Hierzu  treten  philologische  Schwierigkeiten.  Wie  über- 
all, so  hat  man  auch  im  Niltale  für  Zaubersprüche  absichtlich 
eine  sprachlich  dunkle  Ausdrucksweise  gewählt,  und  diese  hat 
bereits  im  Altertume  den  Abschreibern  große  Schwierigkeiten 
bereitet,  viele  Schreibfehler  und  Mißverständnisse  in  der  text- 
lichen Überlieferung  veranlaßt.  So  sind  denn  umfang- 
reiche Teile  der  religiösen  Literatur,  von  den  Pyramiden- 
texten an  bis  zu  den  Inschriften  der  Ptolemäerzeit,  nur  mit 
Zuhilfenahme  oft  kühner  Vermutungen  übersetzbar.  Dabei 
handelt  es  sich  häufig  gerade  um  die  Abschnitte,  welche 
besonders  wichtige  Angaben  über  die  Lehre  und  ihren  Sinn 
zu  enthalten  scheinen,  während  die  mehr  tatsächlichen  Be- 
merkungen über  den  Kultus  und  sein  Zeremoniell  leichter  ver- 
ständlich sind. 


'  La    methode    comparative    dans   l'histoire    des    religions.     Paris, 
A.  Picard  et  Fils,  1909. 


Ägyptisclie  Religion  (1906—1909)  347 

Ein  weiterer  Übelstaoid  liegt  in  der  Lückenhaftigkeit  des 
vorliegenden  Materials.  So  groß  auch  die  Zahl  der  ägyptischen 
Texte  sein  mag,  vollständige  Reihen  ergeben  dieselben  nicht. 
Es  fehlen  beispielsweise  Aufschlüsse  über  die  Übergangszeiten 
vom  Alten  zum  Mittleren  und  vom  Mittleren  zum  Neuen  Reiche, 
also  über  die  7.  bis  11.  und  die  13.  bis  17.  Dynastie.  Gerade 
diese  Perioden  sind  für  die  Religionsentwicklung  von  größter 
Bedeutung  gewesen.  In  der  ersten  ist  die  Lehre  von  Osiris 
als  dem  Verbürger  der  Unsterblichkeit  des  Menschen  und  König 
der  Toten,  welche  die  ganze  Folgezeit  beherrscht,  für  das  Nü- 
tal  maßcrebend  geworden.  In  der  zweiten  ist  die  Durch- 
dringuDg  der  ägyptischen  Religion  durch  die  solaren  An- 
schauungen erfolgt.  Damals  wurden  aus  den  wichtigsten 
Gottheiten  Gestalten,  welche  in  erster  Reihe  die  Eigenschaften 
des  Sonnengottes  zeigen,  ein  Zug,  der  in  der  Verbindung  ihrer 
Namen  mit  dem  des  heliopolitanischen  Rä  auch  seinen  äußer- 
lichen Ausdruck  gefunden  hat.  Endlich  ist  die  erhaltene  Über- 
lieferung einseitig.  Sie  beschäftigt  sich  so  gut  wie  ausschließ- 
lich mit  dem  Glauben  der  höheren  Stände,  welche  die  Tempel 
errichteten  und  inschriftoreschmückte  Gräber  anleorten.  Die 
volkstümlichen  Kulte,  welche  gerade  für  religionsgeschichtliche 
Zwecke  vor  allem  in  Betracht  kommen,  treten  dem  gegenüber 
überall  zurück.  Der  Tierkult  wird  kaum  erwähnt.  Den 
Amuletten,  deren  ungemein  große  Zahl  ihre  Bedeutung  für  den 
Volksglauben  erweist,  sind  nur  wenige,  sich  durch  ihre  Un- 
klarheit auszeichnende  Kapitel  des  Totenbuches  gewidmet. 

Erscheinen  derartige  Bedenken  auf  Grund  unserer  einst- 
weilen noch  unzureichenden  Kenntnis  der  ägyptischen  Religion 
und  ihrer  Geschichte  einem  Fachmanne  gegenüber  berechtigt,  so 
müssen  sie  auch  bei  einem  umfangreichen,  von  einem  Philosophen 
herrührenden  Werke  geltend   gemacht  werden.     H.  Schneider^ 

'  Kultur  und  Denken  der  alten  Ägypter.  Enticicklungsgeschichte 
der  Menschheit  (Phylogenetische  Psychologie).  Erster  Band.  Zweite 
Ausgabe.     Leipzig,  J.  C.  Hinrichs,  1909. 


348  A.  Wiedemann 

unternimmt  den  Versuch,  von  einem  geschichtsphilosophi- 
schen  Standpunkte  aus  eine  Entwicklungsgeschichte  der 
Menschheit  zu  schreiben.  Er  setzt  dabei  mit  Herder  und 
Hegel  voraus,  daß  sich  die  Menschheit  als  Ganzes  entwickelt. 
Diese  Entwicklung  der  Menschheit  solle  herausgearbeitet 
werden  in  Gestalt  einer  Entwicklung  des  Menschengeistes. 
Zu  diesem  Zwecke  will  er  die  einzelnen  Völker  untersuchen, 
dabei  voraussetzend,  daß  in  all  ihren  Einzelentwicklungen  der 
gemeinsame  Kern  der  Menschheitsentwicklung  verborgen  liege. 
Er  beginnt  mit  Ägypten  und  betont  dabei,  für  seine  Zwecke 
sei  es  nicht  nötig,  sich  auf  das  Studium  der  ägyptischen 
Sprache  einzulassen.  Dies  hätte  geradezu  ein  Hindernis,  Zeit- 
verlust und  die  Gefahr  der  Verwirrung  durch  unzählige  Einzel- 
fragen  bedeutet.  Der  frische  Mut  wäre  ihm  vergangen,  der 
unentbehrliche  Weitblick  durch  die  Übung  philologischen 
Nahesehns  getrübt  worden.  So  habe  er  es  sich  denn  an  der 
Garantie  der  Fachleute  für  ihre  Übersetzungen  genügen  lassen. 
Auf  dieser  Grundlage  wird  eine  Übersicht  gegeben  über  die 
Geographie  und  Geschichte  des  Landes,  die  Verfassung  und  die 
Gliederung  der  Stände,  die  Kunst  und  die  Schrift,  die  Dichtung 
und  die  Geschichtschreibung,  die  Wissenschaft,  die  Religion. 
Vor  allem  sucht  der  Verfasser  zum  Schlüsse  eine  große  un- 
mittelbare Bedeutung  der  ägyptischen  Glaubenssätze  für  den 
Ausbau  der  christlichen  Lehre  nachzuweisen.  Das  Buch  ist 
anregend  geschrieben  und  enthält  brauchbare  Kombinationen, 
andererseits  geben  aber  manche  Ausführungen,  vor  allem  die 
Aufstellungen  über  die  Beziehungen  zum  Christentume,  Anlaß 
zu  erheblichen  Bedenken.  Im  ganzen  faßt  es  die  Entwicklung 
der  ägyptischen  Religion  weit  einheitlicher,  als  es  das  vor- 
liegende Material  verlangt.  Zahlreiche  Lücken  werden,  um 
eine  logische  Folge  zu  gewinnen,  durch  Vermutungen  aus- 
gefüllt, deren  Beweis  noch  erbracht  werden  muß. 

Während  Schneider    im    allgemeinen   versucht,   Züge    der 
Lebensgeschichte  Christi   mit   ägyptischen  mythologischen  Be. 


Ägyptische  Religion  ^1906  — 1909)  349 

richten  in  Verbindung  zu  bringen,  hat  dies  Ißleib^  bei  einem 
Einzelpunkte  getan.  Er  meint,  die  Geburtsgeschichte  Christi 
gehe  auf  die  Auffassung  und  Darstellung  der  Erzeugung  und 
Geburt  des  ägyptischen  Königs  zurück,  wie  sie  in  dem  Tempel 
von  Luxor  für  Amenophis  III.  auftrete.  Dabei  gelangt  er  aber 
über  rein  äußerliche  Punkte  nicht  hinaus  und  gibt  vor  aUem 
keinerlei  Erklärung  für  den  fundamentalen  Unterschied,  daß 
in  Ägypten  der  Gott,  um  Vater  des  Königs  zu  werden,  die 
Gestalt  des  irdischen  Vaters  anzunehmen  hat,  während  die 
absolute  Ausscheidung  Josephs  der  biblischen  Erzählung  einen 
ganz  andersartigen  Charakter  aufdrückt.  —  Ein  eigenartiges, 
umfangreiches  Werk  verfaßte  Massey.*  Er  wollte  zeigen,  daß 
alle  mythologischen  Vorstellungen,  alle  arischen  und  semi- 
tischen Märchen  und  Volkserzählungen,  die  israelitische  und 
christliche  Religion  auf  die  aus  dem  Innern  Afrikas  stammende 
kamitische  Religion  zurückgingen,  welche  verhältnismäßig  am 
reinsten  in  den  ägyptischen  Glaubenslehren  erhalten  geblieben 
sei.  Brauchbar  in  dem  Buche  sind  die  Parallelen  zur  ägyp- 
tischen Religion  aus  andereji  Mythologien  und  volkskundlichen 
Erzählungen,  die  hieraus  gezogenen  Schlüsse  dagegen  sind  in 
zahlreichen  Fällen  rein  hypothetischer  und  phantastischer 
Natur,  der  Grundgedanke  der  Darlegungen  ein  verfehlter. 

Eine  sehr  große  Bedeutung  wurde  von  verschiedenen 
Seiten  einer  vorläufigen  Mitteilung  von  H.  0.  Lange  ^  beigelegt 
Dieser    hatte    vorgeschlagen,    in    einem    aus    der    19.  Dynastie 


*  .Sjnd  die  Geburtsgeschichte  Christi  und  die  christliche  Dreieinig- 
keitslehre von  Ägypten  beeinflußt?  in  Klio  IX,  S.  383  f.  —  D.  Voelter 
Ägypten  und  die  Bibel  4  Aufl.,  Leiden,  E.  J.  Brill  1909,  sucht  nach- 
zuweisen, daß  ein  großer  Teil  der  israelitischen  Urgeschichten  von 
Abraham,  Jaköb,  Moses,  Simson  auf  ägyptische,  mythologische  Vor- 
stellungen und  Erzählungen  zui-ückgehe. 

*  Ancient  Egypt,  the  light  of  the  tcorld.  A  werk  of  reclamation 
and  restitution  in  twelve  books.    2  Bde.    London,  T.  Fisher  ünwin,  1907. 

'  Prophezeiungen  eines  ägyptischen  Weisen  aus  dem  Papyrus 
•T   344  in  Leiden  in  Sitzungsber.  der  Bert  Akad.  1903,  S.  601  ff 


350  A..  Wiedemann 

stammenden,  wenig  gut  erhaltenen  Papyrus  Prophezeiungen 
wieder  zu  erkennen.  Der  Text  sage  kommendes  Unheil,  so- 
ziale Umwälzungen  und  Einfälle  fremder  Völker  voraus  und 
verkünde  dann  einen  Erretter,  der  das  Volk  wieder  sammeln, 
Heil  und  Hilfe  bringen  werde.  Man  glaubte  darin  einen  Be- 
weis für  ein  in  Ägypten  in  früher  Zeit  nachweisbares^  Vor- 
kommen messianischer  Prophezeiungen  vor  sich  zu  haben. 
Hiervon  ausgehend  ließ  man  das  Schema  der  Prophetie  aus 
Ägypten  nach  Palästina  wandern  und  an  dieses  die  großen 
israelitischen  Propheten  anknüpfen.^  Aus  der  seither  er- 
schienenen Publikation  und  Bearbeitung  des  Papyrus  durch 
A.  H.  Gardiner  ^  geht  hervor,  daß  derselbe  tatsächlich  in  sehr 
phrasenhafter  Weise  einen  unglücklichen  Zustand  Ägyptens 
schildert,  in  den  innere  Zwietracht  und,  wie  es  scheint,  ein 
Einfall  äußerer  Feinde  das  Land  gebracht  hatten.  Im  An- 
schlüsse daran  fordert  der  Verfasser  König  und  Volk  auf, 
diesen  Verhältnissen  ein  Ende  zu  machen,  vor  allem  den 
Göttern  Opfer  und  Gaben  darzubringen.  Dann  scheint  die 
Rede    davon    zu    sein,    daß    der    Sonnengott    Rä    keine    Hilfe 


*  Bei  den  daneben  angeführten  Prophezeiungen  des  Lammes  unter 
König  Bocchoris  (unter  Augustus  geschrieben),  des  Toepfers  und  des 
weisen  Amenophis  (hellenistisch)  läßt  sich  älterer  Ursprung  zwar  ver- 
muten, aber  bisher  nicht  beweisen,  daß  diese  Texte  auf  ältere  ägyptische 
Originale  zurückgehen.  Für  den  Petersburger  Papyrus  bei  Golenischeff 
Äg.  Zeitschr.  XIV,  S.  109  f,  Bec.  de  trav.  rel.  ä  l'Egypt.  XV,  S.  89,  muß 
eine  Publikation  abgewartet  werden,  ehe  sich  sichere  Schlüsse  ziehen 
lassen.  Das  von  Daressy,  Ostraca.  Cat.  du  Musee  du  Caire  S.  52flF.  pu- 
blizierte, von  Ranke  in  Greßmann  Altorientalische  Texte  zum  Alten  Testa- 
ment S.  204  ff.  übersetzte  Duplikat  enthält  nur  einen  Teil  des  Textes, 
der  zur  Feststellung  seines  Zweckes  nicht  genügend  erscheint.  Ein 
Ostrakon  in  Liverpool  (Spiegelberg  Bec.  de  trav.  rel.  etc.  XVI,  S.  26)  gibt 
nur  wenige  Worte  von  seinem  Anfang. 

*  Eduard  Meyer  Die  Israeliten  und  ihre  Nachbarstämme  S.  451  ff. 
Vgl.  H.  Lietzmann  Der  Weltheiland  Bonn,  A.  Marcus,  1909. 

'  The  Admonitions  of  an  Egyptian  Sage.  From  a  hieratic  papyrus 
in  Leiden  (Pap.  Leiden,  344  recto).     Leipzig,  J.  C.  Hinrichs,  1909. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  351 

bringe,  und  dem  Könige  schuld  an  dem  Unglück  gegeben  zu 
werden,  welches  im  Gegensatze  zu  den  wünschenswerten  fried- 
lichen Zuständen  stehe.  Keiner  der  verschiedenen  Abschnitte 
zeigt,  wie  Gardiner  mit  Recht  ausführt,  einen  prophetischen, 
vor  allem  keinen  messianischen  Charakter,  auch  nicht  das  von 
Lange  seinerzeit  herangezogene  Stück,  dessen  richtiges  Ver- 
ständnis durch  zahlreiche  Lücken  erschwert  wurde.  Damit 
müssen  auch  die  weitreichenden  Schlüsse,  welche  man  auf  die 
erste  Interpretation  des  Textes  aufgebaut  hat,  aufgegeben 
werden. 

Li  den  bisher  aufgeführten  Arbeiten  wurde  Ägypten  zum 
Ausgangspunkte  der  Forschung  genommen.  Li  einem  ge- 
wissen Gegensatze  dazu  sucht  A.  Jeremias  die  ägyptische  Re- 
ligion in  den  Kreis  der  nach  Winckler  von  Babylonien  aus- 
gehenden und  so  gut  wie  alle  Länder  beherrschenden  Astral- 
mythologie einzuordnen.^  Es  muß  diesen  Bestrebungen  gegen- 
über betont  werden,  daß  die  siderischen  Kulte  in  Ägypten  eine 
verhältnismäßig  geringe  Rolle  spielen.  Zwar  wird  der  Kult 
des  Sonnengottes  häufig  erwähnt  und  galt  demnach  im  Niltale 
für  äußerst  wichtig.  Der  Nachdruck  lag  aber  dabei,  mit  Aus- 
nahme der  Zeit  Amenophis'  IV.,  auf  der  anthropomorph  ge- 
dachten in  der  Sonne  verkörperten  Gestalt,  nicht  auf  dem 
Himmelskörper  selbst.  Noch  stärker  als  bei  der  Sonne  ist 
das  Betonen  des  anthropomorphen  Herrn  bei  den  anderen 
Himmelskörpern,  dem  Monde  und  den  Sternen.  Ihre  astrale 
Natur  kommt  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht,  wird  sogar  in 
den  meisten  Fällen  völlig  außer  acht  gelassen. - 


'  A.  Jeremias  Die  Panbabylonisten:  Der  Orient  und  die  ägyptische 
BeJigion.  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs,  1907.  —  Vgl.  A.  Jeremias  Das  Alte 
Testament  im  Lichte  des  alten  Orients.  2.  Aufl.  Leipzig,  J.  C.  Hin- 
riclis,  1906. 

*  "Weit  wichtiger  als  für  den  Kultus  und  den  Glauben  des  täglichen 
Lebens  waren  die  Gestirne  bei  der  Orientierung  der  Tempel.  Vgl.  die 
grundlegenden  Untersuchungen  von  H.  Nissen  Orientation  Heft  1.  Berlin, 
Weidmann,  1906. 


352  ^-  Wiedemann 

Auf  die  zahlreichen  Untersuchungen  und  Darstellungen 
einzugehen,  welche  dem  Fortleben  der  ägyptischen  Kulte  im 
Kreise  des  griechisch-römischen  Isis-  und  Serapisdienstes  ^  und 
besonders  im  Bereiche  der  hellenistischen  Magie  ^  gewidmet 
worden  sind,  verbietet  der  zur  Verfügung  stehende  Raum. 
Dieselben  sind  meist  von  philologischer  Seite  verfaßt  und 
kamen  der  hellenistischen  Religionskenntnis  zugute.  Vom 
ägyptologischen  Standpunkte  gingen  nur  wenige,  kurz  zu 
nennende  Schriften  aus.  In  einem  anregend  geschriebenen 
Buche  besprach  Flinders  Petrie^  den  wesentlichen  religiösen 
und  religionsphilosophischen  Inhalt  der  sogenannten  Herme- 
tischen Schriften,  der  Schrift  Piutarchs  über  Isis  und  Osiris 
und  des  Apollonius  von  Tyana  von  Philostrat.  Er  sieht  dabei 
etwaige  Anspielungen  auf  Ereignisse  als  historische  Tatsachen 
an  und  sucht  von  ihnen  ausgehend  die  wichtigeren  Herme- 
tischen Schriften  zu  datieren.  So  findet  er  in  der  Köqtj 
xöö^ov  einen  Vergleich  mit  einem  guten  Satrapen,  der  die 
Frucht  seiner  Erfolge  den  Besiegten  zukommen  lasse.  Der 
Ausdruck  Satrap  zeige,  daß  die  Schrift  in  die  Perserzeit  ge- 
höre, und,  da  um  518  der  Satrap  Aryandes  seine  Beute  von 
Kyrene  nach  Ägypten  brachte,  so  werde  die  Schrift  in  dieser 
Zeit,  um  510  entstanden  sein  In  ähnlicher  Weise  wird  die 
Entstehungszeit  für  andere  Schriften  gegeben  und  dann  eine 
Entwicklung   in   den  in  ihnen  enthaltenen  Lehren  aufzuzeigen 


*  F.  Cumont  Les  religions  Orientales  dans  le  Pagänisme  Homaiti 
{Ann.  Musee  Guimet.  Bihl.  de  Vidgarißation  XXIV),  Paris,  Leroux,  1907; 
A.  Rusch  De  Serapide  et  Iside  in  Graecia  cultis.     Berlin  1906. 

*  R.  Wünsch  Antikes  Zaubergerät  von  Fergamon  in  Jahrb.  des 
Deutsch.  Archäol.  Inst.  Ergänzungsheft  6.  Berlin,  1905;  R.  Wünsch 
Antike  Fluchtafeln  (Kl.  Texte  für  theol.  Vorlesungen,  herausg.  von 
H.  Lietzmann,  Heft  20).  Bonn,  1907;  R.  Wünsch  Deisidaimoniaka  im 
Arch.  f.  Ecligionswiss.  XII,  S.  1  ff. ;  A.  Abt  Die  Apologie  des  Apuleius  von 
Madaura.     Gießen,  Toepelmanu,  1908. 

*  Personal  Ecligion  in  Egypt  before  Cliristianity.  London,  Harper 
and  Brothers,  1909. 


I 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  353 

gesucht.  Wie  hypothetisch  solche  Datierungen  sind,  und  wie 
bedenklich  es  ist,  eine  so  frühe  Entstehung  für  die  genannte 
Schrift  anzunehmen,  braucht  nicht  weiter  betont  zu  werden. 
Auch  in  den  übrigen  Ausführungen  finden  sich  stark  sub- 
jektive Vermutungen,  die  der  Kritik  um  so  mehr  Angriffs- 
punkt« darbieten,  als  dem  verdienten  Agvptologen  die  aus- 
gedehnte Literatur  über  die  philosophischen  Gedankengänge 
und  Religionsentwicklungen  der  hellenistischen  Zeit  nur  in 
sehr  beschränktem  Maße  zugänglich  gewesen  zu  sein  scheint. 
Eine  der  spätesten  Nachrichten  über  das  Vorkommen  der 
ägyptischen  Kulte  in  den  westlichen  Provinzen  findet  sich  bei 
Ammian.  Marcellin.  XVI,  12,  25,  demzufolge  der  Alemannen- 
könig Chnodomar  als  Eingeweihter  in  griechische  Mysterien 
seinen  Sohn  Serapio  nannte.  Auf  diese  öfters  angeführte 
Stelle^  hatErman-  neuerdings  wieder  hingewiesen.  Gnostische 
Gemmen  mit  griechischen  Inschriften  veröfientlichten  Barry' 
und  Smolenski.*  Einzelne  Motive  aus  der  ägyptischen  Götter - 
lehre  haben  in  koptische  Legenden  Eingang  gefunden,  wenn 
deren  Hauptbestandteile  auch  auf  griechische  Quellen  zurück- 
gehn.  Unter  den  Publikationen  dieser  Legendentexte  ist  eine 
Schrift  von  Xoel  Giron^  zu  nennen,  welche  Bruchstücke  vom 
Gespräche  Evas  mit  der  Schlange,  vom  Opfer  Abrahams,  von 
der  Geschichte  der  Marina,  der  der  Tochter  des  Königs  Zenon  und 
der  der  Tochter  des  Kaisers  Basiliskos  enthält,  dieselben  über- 
setzt und  bespricht. 

^  Z.  B.  Schaaff  hausen  über  den  römischen  Isis -Dienst  am  Bhein 
in  Bonner  Jahrbücher  LXXVI,  S  53. 

*  Ein  Deutscher  als  Verehrer  ägyptischer  Götter  in  Äg.  Zeitschr.  XLIJ, 
S.  110. 

'  Notice  sur  quelques  pierres  gnostiques  in  Ann  Serv.  des  Antiquites 
VII,  S.  241  ff. 

*  Une  intaille  gnostique  provenant  du  Fayoum  in  Ann.  Serv.  Ant.  IX, 
S.  92  f. 

*  Legendes  Coptes.  Paris,  P.  Genthner,  1907.  Scharf  ablehnende 
Kritik,  besonders  der  Übersetzung,  von  Andersson  in  Sphinx  XI,  S.  236 
bis  246. 

Archiv  f.  Beligionswissenschaft  XIII  23 


354  ■^-  Wiedemann 

Einzelne  Gottheiten.  Für  die  statuarisclie  Darstellung 
der  Götter  wird  ein  sehr  reiches  Material  durch  den  von  zahl- 
reichen Tafeln  begleiteten  Katalog  der  betreffenden  Stücke  im 
Museum  zu  Kairo  ^  zugänglich  gemacht.  Die  ältesten  Ab- 
bildungen und  Auffassungen  lehren  die  Denkmäler  der  vor  den 
Pyramidenerbauern  liegenden  Nagadazeit  Die  Angaben,  die 
sich  aus  ihnen  erschließen  lassen,  hat  in  eingehender  Weise 
A.  J.  Reinach  ^  zusammengestellt.  Das  Hauptgewicht  legt  er  auf 
eine  Schilderung  der  kulturhistorischen  Verhältnisse,  der 
damals  üblichen  Bestattungsarten  und  der  zahlreichen  Grab- 
beigaben. 

Weit  umfangreicher  als  diese  Schrift  ist  ein  Buch  von 
Weill',  welches  berufen  ist,  für  weitere  Studien  über  das 
vorpyramidale  Ägypten  die  Grundlage  zu  bilden.  Dasselbe 
stellt  unter  Beigabe  von  Abbildungen  das  Material  für  die  Zeit 
von  Snefru  an  aufwärts  für  die  zehn  Könige  zusammen,  welche 
der  zweiten  und  dritten  manethonischen  Dynastie  anzugehören 
scheinen.  Die  Königslisten  werden  besprochen,  dann  die  er- 
haltenen Inschriften  auf  Cylindern,  Statuen  und  sonstigen  Gegen- 
ständen, die  Stelen  und  vor  allem  die  verschiedenartigen  Gräber. 
Chronologische  Übersichten  und  eine  ausgedehnte  Bibliographie 
bilden  den  Schluß  des  Werkes.  Wenn  dasselbe  auch  nicht 
der  Religion  der  Periode  insbesondere  gewidmet  ist,  so  er- 
geben sich  doch  aas  ihm  die  Urkunden,  welche  für  deren 
Wiederherstellung,  in  erster  Reihe  für  ihren  Unsterblichkeits- 
glauben in  Betracht  kommen.  In  ihrer  vollständigen,  zuver- 
lässigen und  übersichtlichen  Fassung  geben  sie  dem  Buche 
auch  für  religionsgeschichtliche  Zwecke  weittragende  Bedeutung. 


'  Dareasy  Statues  de  Divinites.     2  Bde.     Kairo  1905 — 1906. 

*  L'Egypte  prehistorique.     Paris,  P.  Geuthner.     1908. 

'  R.  Weill  Les  Origines  de  l'Egypte  Pharaonique.  I.  La  II« 
la  III«  Dynasties  (Annales  du  Mu8(5e  Guimet.  Bibl.  d'Etudes  XX^ 
Paris,  E.  Leroux.  1908. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  355 

Die  Ergebnisse  der  Ausgrabung  des  Sonnenobelisken- 
heiligtums  zu  Abusir  *  waren  für  den  heliopolitanischen  Kult  des 
Gottes,  dessen  Materia  sacra  hier  nachgeahmt  worden  war,  von 
hervorragender  Bedeutung.  Es  veraulaßte  dies  Foucart*  zu 
eingehenden  Studien  über  die  Sonnenkulte  und  die  bei  ihnen 
in  Betracht  kommenden  Barken.  Die  interessanteste  Episode 
in  der  Entwicklung  der  Sonnenverehrung  ist  der  Versuch 
Amenophis'  IV.,  die  Verehrung  der  Sonnenscheibe  Aten  zur 
Reichsreliffion  zu  machen.  Die  vortreffliche  Publikation  der 
Gräber  von  Teil  el  Amama  durch  Davies^  bringt  für  diese  Zeit 
kulturgeschichtliche  und  archäologische  Aufschlüsse  in  weitem 
Umfange.  In  religiöser  Beziehung  ergibt  sie  weniger  Neues. 
Die  poetisch  schönen  Hymnen  an  den  Gott  in  diesen  Gräbern 
lassen  sich,  da  sie  in  üblicher  Weise  diese  Gottheit  in  heno- 
theistischem  Sinne  als  einzige  Gottesgestalt  preisen,  nur  mit 
großer  Vorsicht  benutzen  und  jedenfalls,  trotz  aller  dahin 
zielender  Versuche'*,  nicht  als  Beweis  für  das  Vorkommen 
monotheistischer  Tendenzen  im  Niltale  verwerten.  Wichtig 
war  die  Bearbeitung  einer  Stele  des  Königs  Tut -änch- Amen, 
in  welcher  dieser  seine  Tätigkeit  bei  der  Wiederherstellung 
des  Amondienstes  nach  dem  Tode  Amenophis'  IV.  berichtet,  durch 
Legrain.     Dieser^  wies  dabei  auf  die  auffallende  Tatsache  hin, 

*  Fr.  W.  von  Bissirig  Das  Fe- Heiligtum  des  Königs  Xe-Woser-Re 
(Rathuresj.  I.     L.  Borchardt  Der  Bau.     Berlin  1905. 

*  Recherches  sur  les  cultes  d'HeliopoUs  in  Sphituc  X,  S.  160  —  225; 
Un  tempJe  solaire  de  l'empire  Memphite  in  Journ.  des  Savants  IV,  S.  360 
bis  370  (besonders  über  die  Kapitel  der  Pyramidentexte  über  die  Mädet- 
barke). 

*  El  Amama  I — VI  (Archaeological  Survey  of  Egypt).  London 
1903—1908.  —  Ausgrabungen  in  den  Stadtruinen  von  Teil  el  Amarna 
beabsichtigt  die  Deutsche  Orientgesellschaft.  Eine  Versuchsgrabung  von 
Borchardt  (Mittig.  Deutsch.  Orientges.  Xr  34,  S.  14  ff.)  ergab  kulturhistorisch 
interessante  Funde. 

*  B.  Baentsch  Altorientalischer  und  israelitischer  Monotheismus. 
Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1906. 

'"  La  grande  Stele  de  Toutankhamanou  ä  Karnak  in  Rec.  de  trav. 
\rel.  etc.  XXIX,   S.  162—173,    besonders   S.  172;    vgl.  Legrain    Quelques 

23* 


356  ^'  Wiedemann 

daß  die  Denkmäler  des  häretischen  Königs  in  Theben  nicht  syste- 
matisch zerstört  wurden  und  teilweise  ruhig  in  dem  Amontempel 
verblieben.  Die  Reaktion  gegen  seine  Reformversuche  kann  dem- 
nach nicht  so  einschneidend  gewesen  sein,  wie  man  es  an- 
zunehmen gewohnt  ist. 

Naville^  handelte  über  die  in  der  großen  Oase  verehrte 
nabel gestaltige  Form  des  Gottes  Amon  und  vermutete,  die  Ver- 
tiefungen in  den  Schieferplatten  der  Nagadazeit  ^  hätten  ent- 
sprechend gestaltete  Götterbilder  enthalten.  Er  stellte^  die 
Erscheinungsform  mit  dem  Gotte  Bat  zusammen,  der  auch  als 
Löwe  mit  zwei  Köpfen  auftrete.  Wenig  glücklich  war  an- 
gesichts der  antiken  Schilderungen  der  Gedanke  Lefebures*,  es 
sei  in  dem  Gebilde  eine  Sonnenscheibe  zu  erkennen,  bei  welcher 
der  in  dem  ägyptischen  Hieroglyphenzeichen  häufig  in  der 
Mitte  angebrachte  Punkt  durch  ein  Kleinod  gebildet  worden 
sei.  Daressy^  dachte  an  eine  Darstellung,  welche  der  von  ihm 
nachgewiesenen  Inkorporationsform  des  thebanischen  Amon  in 
einer  Art  Sack,  aus  dem  oben  ein  Kopf  hervorragt,  entsprochen 
hätte.  Von  größter  Bedeutung  für  die  Geschichte  und  den 
Ursprung  des  Kultus  des  Amon  in  Widdergestalt  würde  eine 
von  Schweinfurth"  veröffentlichte  Darstellung  sein,  Avenn  sich 
die  Ansicht  des  Geologen  Flamand  bestätigte,  daß  ihr  ein 
Alter  von  10  000  bis  1 2  000  Jahren  zukomme.    Das  Bild  stellt 

Monuments  d'Atnenothes  IV.  provenant  de  la  cachette  de  Kamak  in  Ann. 
Serv.  Änt.  VII,  S.  228  —  231. 

^  Le  dieu  de  l'Oasis  de  Jupiter  Amon  in  Comptes  Bendus  Acad.des 
Inscriptions  1906,  S.  25ff. 

*  Die  religionsgeschichtliche  Bedeutung  dieser  Platten,  die  er  mit 
den  Churinga  der  Australier  in  Parallele  bringt,  erörtert  Capart  I.es 
Palettes  en  Schiste  de  l'Egypte  primitive  in  Bev.  des  Questions  historiques. 
April  1908. 

'  Le  dieu  Bat  in  Äg.  Zeitschr.XLlll,  S.  77  fr. 

*  E.  Ander.sson  Ä  propos  du  dieu  de  l'oasis  de  Jupiter  Amman  iu; 
Sphinx  XII,  S.48f. 

^  Une  nouvelle  forme  d' Amman  in  Ann.  Serv.  Ant.IX,  S.  64fiF. 
»  Brief  aus  Biskra  in  Zeitschrift  für  Ethnol.  XL,  S.  88  tt".,  abgedruckt| 
in  Ann.  Serv.  Ant.  IX,  S.  162flf. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  357 

einen  stehenden  Widder  dar,  auf  dem  Kopfe  trägt  er  die 
Sonnenscheibe,  an  deren  Seiten  mißverstandene  UraeusscKlangen 
angebracht  sind.  Seine  Ausführung  zeigt  keinerlei  archaischen 
Charakter,  er  erscheint  vielmehr  in  seiner  ganzen  Auffassung 
als  'eine  in  hellenistischer  Zeit  entstandene  barbarische  Nach- 
ahmung eines  ägyptischen  Vorbildes.^ 

Den  Gott  Tanen,  der  im  Verlaufe  der  ägyptischen  Ge- 
schichte mit  dem  memphitischen  Ptah  verschmolz,  hat  man 
häufig  für  einen  aus  dem  Auslande  eingeführten  Gott  erklärt, 
Jequier^  spricht  sich  demgegenüber  für  seinen  einheimischen 
Ursprung  aus.  Wiedemann'  hielt  die  von  Herodot  als  Grund- 
lage für  seine  Erzählung  von  dem  Priester  Sethon  verwertete 
Statue  in  Memphis  für  das  Bildnis  eines  der  Chnumu,  welche 
bei  der  Weltschöpfung  als  Genossen  des  Ptah  tätig  waren  und 
apotropäische  Bedeutung  besaßen.  Die  Tonstatuette  einer  dieser 
Gottheiten,  bei  welcher  der  Phallus  wohl  auch  zu  einem  der- 
artigen Zwecke  durch  einen  Menschenkopf  ersetzt  worden  ist, 
veröffentlichte  Brugsch.*  Von  Einzelbeiträgen  über  ägyptische 
Gottheiten  sind  hervorzuheben  solche  über  Hathor^;  Safech, 
in  der  Schäfer^  Horapollos  Muse  wiedererkannte;  Buto';  die 
Göttin  der  Ernte  Rennut  ^;  die  Göttinnen  Sothis  und  Satis  und 

'  Die  von  dem  Gotte  Amon  selbst  gewünschte  Einsetzung  des 
Xeb-unen-f  znm  Oberpriester  in  Theben  durch  Ramses  II.  schildert  eine 
von  Sethe  Die  Berufung  eines  Hohenpriesters  des  Amon  unter  Bamses  II. 
in  Äg.  Zei7.«cÄr.  XLIV,  S.  30£f.  behandelte  Inschrift. 

-  Origine  du  dieu  Tanen  in  Bec.de  trav.rel.  etc.  5XX,  S.  42f. 

'  Die  Statue  des  Priesters  Seihon  zu  Memphis  in  Orient.  Lit. 
Zeit.  XI,  Sp.  179  fiF. 

*  Sur  wve  Statuette  de  Ptah  pateque  in  Ann.  Sero.  Ant,  VIII,  S.  160. 

*  Hymnen  an  sie  bei  H.  Junker  Poesie  aus  der  Spätzeit  in  Äg. 
Zeitschr.  XLIII,  S.  101  ff.;  Beispiel  einer  Textentlehnung  in  Dendera, 
I.e.,  S.  127f. 

«  Moveu  bei  Horapollo  11,  29  in  jL5r.ZettecAr.XLlI,  S.  72ff. 
■  V.  Schmidt  Two  statuettes  of  ihe  goddess  Buto  in  Proc.  Soc.  Bibl. 
Arch.  XXVni,  S.  201  f. 

*  Spiegelberg  Thermuthis  als  Göttin  des  Schreckens  in  Bec.  de  trav. 
rel.  etc.  XXYIIF,  S.  179. 


358  -^-  Wiedemann 

ihr  wechselseitiges  Verhältnis.^  Zur  Lesung  einiger  Götter- 
namen äußerte  sich  Sethe.^ 

Unter  den  aus  dem  Auslande  in  Ägypten  eindringenden 
fremden  Gottheiten  sind  die  semitischen  die  wichtigsten.  Hier 
stellte  Spiegelberg  ^  die  Darstellungen  des  Resef  zusammen, 
Erman*  besprach  Nennungen  der  Göttin  von  Byblos  in 
Phönizien  und  suchte  deren  Erwähnung  in  einem  Eigennamen 
des  Mittleren  Reiches  nachzuweisen.  In  einer  magischen  Formel 
der  20.  Dynastie^  werden  Schädlichkeiten  erwähnt,  welche  von 
dem  Gotte  Resef,  dessen  Gattin  Atumä  (vielleicht  das  personi- 
fizierte Edom)  und  der  Göttin  Nukar  (nach  Gardiner  die 
babylonische  Göttin  Ningal)  ausgehen.  —  Eine  Fülle  von 
Dämonen  des  allerverschiedensten  Ursprunges  tritt  auf  den 
bisher  wenig  bearbeiteten  Särgen  des  zweiten  Teiles  des  Neuen 
Reiches  und  der  Spätzeit  auf,  von  denen  der  Katalog  des 
Kairener  Museums  ^  eine  längere  Reihe  in  eingehenden  Be- 
schreibungen  und  Tafelbildern   zugänglich  zu  machen  beginnt. 

Für  die  Behandlung  des  ägyptischen  Tierkultes'  bringen 
die  Untersuchungen,  welche  Lortet  und  Gaillard^  den  ägyp- 
tischen   Tiermumien    und    Tierdarstellungen    zu    widmen    fort- 


'  Röder  Sothis  und  Satis  in  Äg.  Zeüschr.XLY,  S.  22  ff. 

*  Der  Name  der  Göttin  Neith  in  Äg.  Zeitschr.XlAU,  S.  144  ff. ;  Der 
Name  des  Gottes  Kijß  I.e.,  S.  147 ff.;  Der  Name  des  Phönix  1.  c.  S.  84f. 

^  Neue  Reschephdarstellungen  in  Orient.  Lit  Zeit.  XI,  Sp.  529ff. 

*  Die  „Herrin  von  Byblos"  in  Äg.  Zeitschr.  XLII,  S.  109 f. 

^  A.  H.  Gardiner  The  goddess  Ningal  in  an  Egyptian  text  in  Äg. 
Zeitschr.  XLIII,  S.  97. 

^  G.  Maspero  Sarcophages  des  epoques  Persane  et  Ptolemaique 
I.  fasc.  1.  Kairo  1908;  E.  Chassinat  La  seconde  trouvaille  de  Deir  el- 
Bahari.     I.  fasc.  1.     Kairo  1909.  _ 

'  Die  Versuche,   den   ägyptischen  Tierkult  für  Totemismus   zu  ei- M 
klären   (V.  Loret    L'Egypte   au   temps   du    Totcmisme,    Ann.    du    Musdc 
Guimet,    Bibl.  de  Vulgarisation  XIX,  Paria  1909),    scheitern  u.  a.  daran, 
daß    im    Niltale    ein    Teil    der    wesentlichen  Charakteristika   des    Tote- 
mismus fehlt,  wie  z.  B.  das  sexuelle  Tabu. 

*  La  Faune  momifiee  de  l'ancienne  Egypte.    3.  Serie.    Lyon,  Georj 
1907;  4.  Serie,  1908. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  359 

fahren,  ein  äußerst  reichhaltiges  und  wichtiges  Material  bei. 
Letzterer  Verfasser  gab  auch  in  Gemeinschaft  mit  Daressy  den 
reich  mit  Tafeln  ausgestatteten,  ausgezeichneten  Katalog  der 
Tiermumien  im  Kairener  Museum  heraus.^  Von  sonstigen 
hierher  gehörigen  Denkmälern  sind  ein  Hundesarg  in  Brüssel^ 
und  mehrere  Skarabäensärge'  zu  erwähnen.  Kleine  Bronze- 
standarten mit  den  Bildern  heiliger  Tiere,  eines  Schakal,  einer 
Kuh,  eines  Skorpion  mit  Menschenkopf  wurden  veröffentlicht.* 
Wichtig  für  die  Bestattungsfeier  und  den  Eingang  der  Gott- 
Tiere  in  die  himmlischen  Bezirke  sind  die  Grab-  und  Denk- 
steine, welche  ihnen  gewidmet  wurden.  Abgesehen  von  solchen 
für  den  Apis  von  Memphis^  liegen  von  diesen  bedauerlicher- 
weise verhältnismäßig  wenige  vor.  Ein  neues  hierher  gehöriges, 
einem  unter  Augustus  lebenden  Stiere  von  Hermonthis  gelten- 
des Denkmal  machte  Daressy  bekannt^,  ein  anderes  für  eine 
Kuh  wohl  aus  dem  22.  oberägyptischen  Nomos  Aphroditopolis 
aus  dem  13.  Jahre  des  Ptolemäus  I.  Soter  Spiegelberg."  Einen 
weiteren  derartigen  Denkstein  bildet  die  in  ihrem  historischen 


'  La  Faune  motnifiee  de  Vantiqiie  Egypte.  Kairo  1905.  Einen 
Nachtrag  dazu  gab  L.  Borchardt  Ein  Katzensarg  axis  dem  Neuen  Seich 
in  Äg.  Zeitschr.  XLIV,  S.  97. 

*  J.  Capart  Un  cercueil  de  chien  du  Moyen  Empire  in  Äg.  Zeitschr. 
XLIY,  S.  131. 

'  W.  L.  Nash  Notes  on  some  Egyptian  Antiguities  in  Proc.  Soc.  Bibl. 
Arch.  XXX,  S.  293. 

*  W.  L.  Nash  Notes  on  some  Egyptian  Antiquities  in  Froc.  Soc.  Bibl. 
Arch.  XXX,  S.  175. 

'"  Ein  von  Wilcken  Zu  den  Genfer  Papyri  im  Archiv  für  Papyrus- 
forschung  III,  S.  392  fF.  behandelter  Papyrus  spricht  von  der  Lieferung 
von  Leinewand  durch  einen  Tempel  im  Fayüm  für  das  Begräbnis  eines 
solchen  Apis.  Daressy  Construction  d'un  temple  d'Apis  par  Nectanebo  I. 
in  Ann.  Serv.  Ant.  IX,  S.  154  ff.  veröffentlichte  eine  Stele  über  Bauten 
des  Nectanebus  I.  für  den  lebenden  Apis. 

^  Stele  funeraire  d'un  taureau  d'Hermonthis  in  Rec.  de  trav.  rel. 
etc.  XXX,  S.  10 ff. 

'  Ein  Denkstein  auf  den  Tod  einer  heiligen  Isislcuh  in  Äg.  Zeitschr. 
XLIII,  S.  129  ff. 


360  A.  Wiedemann 

Teile  mehrfach  behandelte,  in  ihrem  sonstigen  Inhalte  weniger 
berücksichtigte  Stele  von  Neapel,  welche  einem  Widder  von 
Heracleopolis  magna  gilt.  Zu  dem  Fortleben  des  alten  Tier- 
kultes im  Glauben  der  heutigen  Araber  in  Ägypten  an  heilige 
und  zu  verehrende  Katzen  und  Eidechsen  brachte  Legrain^ 
interessante  Beiträge.  Larken^  veröffentlichte  modern-ägyptische 
Erzählungen,  denen  zufolge  sich  Geister  mit  Vorliebe  in  Tieren 
verkörpern. 

Kultus.  Verhältnismäßig  dürftig  sind  die  Quellen,  welche 
bisher  für  die  Durchführung  des  Kultus  in  den  Tempeln  und 
bei  den  sonstigen  religiösen  Zeremonien  vorliegen.  Die  wich- 
tigste Urkunde  ist  hier  das  große,  von  Moret  bearbeitete,  in 
Inschriften  und  Papyris  erhaltene  Tempelritual  geblieben,  zu 
dessen  Verständnis  einige  kleinere  Beiträge  erschienen.^  Über 
das  ägyptische  Menschenopfer  stellte  Mader*  eine  Reihe  von 
Stellen  zusammen  und  suchte  die  israelitischen  Menschenopfer 
durch  ägyptische  Beeinflussung  zu  erklären.  Zur  Sitte  der 
Priester,  bei  feierlicher  Gelegenheit  das  Bild  jugendlicher  Gott- 
heiten im  Arme  zu  tragen,  äußerte  sich  Spiegelberg.^ 

Zu  kultischen  Zwecken  entstanden  bereits  im  alten  Ägypten 
Vereine.  Das  Vorhandensein  eines  solchen,  welcher  während 
der  21.  bis  22.  Dynastie  in  Theben  tätig  war  und,  wie  es 
scheint,  bei  Begräbnissen  oder  Mumienübertragungen  zu  tun 
hatte,  wies  Legrain®  nach.  Von  einem  zweiten,  der  an  be- 
stimmten Tagen  Feste    feierte    und    für    die  Bestattung    seiner 


^  Sur  un  cas  de  ToUmisme  moderne  in  Ann.  Serv.  Ant.  VII,  S.  35flF. 

^  Egyptian  Beliefs  in  FolJc-Lore  XIX,  S.  471f 

'  Moret  Sur  le  rite  de  l'embrassement  in  Sphinx  XI,  S.  26  ff., 
Andersaon  Fetites  Etudes  sur  Le  Papyrus  no.  3055  du  Mtisee  de  Berlin 
in  Sphinx  XII,  S   14ff. 

*  Das  Menschenopfer  der  alten  Hebräer  und  der  benachbarten 
Völker  {Biblische  Studien  XIV,  Heft  5 — 6).  Freiburg  i.  B.,  Herder, 
1909. 

*  Eine  Illustration  zu  Kanopus  30  in  Äg.  Zeitschr.  XLV,  S.  91. 
«  Sur  la  asit  Miri  Thoti  in  Ann  Serv.  Ant.  VIII,  S.  254  ff. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  361 

Mitglieder  sorgte,  veröffentlichte  und  übersetzte  Spiegelberg 
die  aus  der  Ptolemäerzeit  stammenden  Statuten  in  seinem  auch 
sonst  reiches  Material  zur  Religion  der  Spätzeit  enthaltenden 
Kataloge  der  Kairener  demotischen  Papvri.*  Das  große  Werk 
von  W.  Otto-  ist  der  Spätzeit  Ägyptens  gewidmet,  doch  bringt, 
wie  der  früher  erschienene  erste  Band,  so  auch  der  zweite, 
der  die  Ausgaben  der  Tempel,  die  Kultverwaltung,  die  soziale 
Stellung  der  Priester,  das  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche 
bespricht,  zahlreiche  Angaben,  welche  für  das  alte  Ägypten 
von  großer  Wichtigkeit  sind.^ 

Osirislehre.  Dreimal  ist  im  Verlaufe  der  ägyptischen 
Geschichte  der  Versuch  gemacht  worden,  die  für  den  Ver- 
storbenen notwendigen  oder  nutzbringenden  Zauberformeln  zu 
sammeln.  Am  Anfange  des  Alten  Reiches  bildete  sich  die 
Kompilation  der  nach  ihrem  Fundorte  genannten  Pyramiden- 
texte, etwa  mit  dem  Beginne  des  Mittleren  Reiches  die  Zu- 
sammenstellung, welche  in  wenig  glücklicherweise  als  die  Ältesten 
Texte  des  Totenbuches  bezeichnet  wird,  endlich  ungefähr  mit 
dem  Eintreten  des  Neuen  Reiches  das  Totenbuch  selbst.  Da- 
bei handelte  es  sich  nicht  um  systematische  Arbeiten.  Be- 
liebig wurden  die  aus  den  verschiedensten  Quellen  stammenden 
Stücke  aneinander  gereiht.  Doppeltexte  blieben  stehen,  Wider- 
sprüche wurden  nicht  ausgeglichen,  Lücken  nicht  ausgefüllt. 
Infolgedessen  gewann  keine  der  Sammlungen  kanonische  Be- 
deutung.    Willkürlich  wählte  man  sich  aus  ihnen  das  für  das 


^  Die  demotischen  Denkmäler  11.  Die  demotischen  Papyri.  2  Bde. 
Straßburg,  Dumont  Schauberg,  1906—1908. 

*  Priester  und  Tempel  im  hellenistischen  Ägypten  II,  Leipzig, 
B.  G.  Teubner,  1908. 

'  Von  großer  Bedeutung  für  die  Art  und  Weise,  in  der  man  in 
pharaonischer  Zeit  die  Kulteinnahmen  eines  Gottes  sicherte,  ist  eine 
Inschrift  der  21.  Dynastie  für  den  Gott  Arsaphes  von  Heracleopolis 
magna  (Ahmed -Bey  Kamal  Un  monument  nouvean  de  Sheshonq  pr  in 
Reo.  de  trav.  rel.  etc.  XXXI,  S.  33  ff.,  G.  Maspero  iVo<e  additionelle,  1.  c. 
S.  38  ff.). 


362  A.  Wiedemann 

eigene  Grab  Zusagende  aus,  fügte  neue  Kapitel  hinzu,  ver- 
änderte gelegentlich  die  älteren.  Nicht  nur  nach  den  Zeit- 
perioden ist  die  Zusammensetzung  und  der  Inhalt  der  einzelnen 
Bestandteile  verschieden,  auch  in  der  gleichen  Zeit  stimmen 
kaum  je  zwei  Handschriften  in  Anordnung  und  Text  genau 
miteinander  überein.  Die  drei  Kompilationen  sind  nicht  un- 
abhängig voneinander,  die  Altesten  Texte  haben  vieles  aus 
den  Pyramidentexten,  das  Totenbuch  hat  manches  aus  seinen 
Vorgängern  unmittelbar  oder  in  umgearbeiteter  Fassung  ent- 
lehnt. Die  Entstehung  der  einzelnen  Formeln  ist  vielfach 
weit  älter  als  ihre  jeweilige  Sammlung.  In  den  Pyramiden- 
texten stehen  Stücke,  welche  noch  auf  die  Zweiteilung  Ägyptens 
Bezug  nehmen,  und  im  Totenbuche  spielt  das  Köpfen  der 
Toten  eine  Rolle,  welches  in  der  Nagadazeit  häufig  war,  zur 
Zeit  der  Sammlung  des  Totenbuches  aber  nur  ganz  vereinzelt 
vorkam.^ 

Von  den  Pyramidentexten  der  5.  bis  6.  Dynastie,  welche 
zuerst  von  Maspero^  im  Urtexte  und  in  Übersetzung  zu- 
gänglich gemacht  worden  waren,  begann  Sethe  eine  Neu- 
publikation, welche  die  Texte  in  Sprüche  ordnet  und  die 
verschiedenen  Abschriften  der  einzelnen  Sprüche  aus  den 
Königspyramiden  untereinander  setzt,  um  das  Material  zu  ihrer 
Bearbeitung   übersichtlicher   zugänfflich    zu  machen.^     Für  die 


*  Wiedemann  Die  Leichenköpfung  im  alten  Ägypten  in  Orient.  Lit. 
Zeit.  XI,  Sp.  112  ff. 

'  Les  inscriptions  des  Pyramides  de  Saqqarah  (Separatabdruck  aus 
liec.  de  trav.  rel.  etc.  III— XV).     Paris,  K.  Bouillon,  1894. 

'  Die  altägyptischen  Pyramidentexte.  Nach  den  Papierabdrücken 
und  Photographien  des  Berliner  Museums  neu  herausgegeben  und  er- 
läutert. I  und  II  Lief.  3-4.  Leipzig,  Hinrichs,  1908—1909.  Zahlreiche 
Kapitel  der  Texte  finden  sich  in  einem  Grabe  des  Mittleren  Reiches  bei 
Chassinat,  Gauthier  und  Pieron  Fouilles  de  Qattah.  Kairo,  1906.  — 
Einige  Stellen  behandelte  A.  Jahn  Ägyptologische  Miscellen  §  6  {TJnas 
Z  214,  284)  in  Wiener  Zeitschr.  für  Kunde  des  Morgenlands  XX,  S.  380. 
—  Die  auf  das  Totenopfer  bezüglichen  Teile  der  Pyramideniuschriften 
und   verwandter  Texte   stellte  Ihulge   unter  Beigabe   einer  Besprechung 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  363 

Altesten  Texte,  welche  sich  vor  allem  auf  Särgen  verzeichnet 
finden,  veröffentlichte  Lacau^  in  vortrefflicher  Weise  eine 
längere  Reihe  von  Abschriften  unter  Hinweis  auf  die  Stellen, 
an  denen  sich  die  betreffenden  Kapitel  und  Sätze  sonst  noch 
finden.  Von  dem  Totenbuche  der  Thebanischen  Zeit  wurde 
eine  gute  Abschrift  mit  kunstvollen  Vignetten  bei  der  Mumie 
des  luaa,  des  Schwiegervaters  Amenophis'  III.  von  Davis  ge- 
funden und  in  einer  schön  ausgestatteten  Publikation  mit 
einer  Einleitung  von  Naville,  welche  die  in  dem  Papyrus  vor- 
findlichen  Kapitel  verzeichnet  und  bespricht,  zugänglich  ge- 
macht.* Die  für  ihre  erste  Erscheinungszeit  interessante,  auf 
Grund  unserer  jetzigen  Kenntnis  der  ägyptischen  Sprache  und 
Religion  in  Einzelheiten  wie  in  der  Gesamtauffassung  häufig 
stark  anfechtbare  Übersetzung  der  späteren  Fassung  des  Toten- 
buches durch  P.  Pierret  erschien  in  neuer  Ausgabe.^  Seine 
Ansicht,  daß  in  der  ägyptischen  Religion  eine  den  christlichen 


und  Übersetzung  in  einer  bequem  benutzbaren  Form  zusammen :  E.  A.Wallis 
Budge,  Th"  Liturgy  of  Funeral  0/ferings.  London,  Kegan  Paul.  1909 
(Books  on  Egypt  and  Chaldaea  XXV).  Demselben  Verfasser  verdanken 
wir  eine  praktisch  angelegte  und  als  Einführung  empfehlenswerte 
Publikation,  Übersetzung  und  Bearbeitung  des  wichtigsten  Textes  über 
die  Zeremonien  an  der  Statue  des  Toten  bei  der  Beisetzung:  Budge, 
The  Book  of  Openhig  the  Mouth.  London,  Kegan  Paul.  1909  (Books 
on  Egypt  and  Chaldaea,  XXVI,  XX VII) 

*  Textes  religieux  in  Rec.  de  trav.  rel.  etc.  XXIX,  S.  143  flF.;  XXX, 
S.  65 ff.,  185ff ;  XXXI,  S.  lOff  und  in  J.  E  Quibell  Excavations  at 
Saqqara  1906,  S.  21  ff.  Vgl.  Lacau  Sarcophages  anterieurs  au  Xoutel 
Empire  {Kat.  des  Musetims  zu  Kairo),  2  Bde.     1904—1906. 

*  Theodore  M  Davis'  Excavations  Bibän  el  Molük  The  Funeral 
Papyrus  of  Jouiya  with  an  Introduction  by  E.  NaviUe.  London,  Archi- 
bald  Constable,  1908.  —  Die  handliche  und  übersichtliche  Übersetzung 
des  Totenbuches  der  Thebanischen  Zeit  von  Budge  erschien  in  zweiter 
durchgesehener  und  erweiterter  Auflage:  E.  A.  Wallis  Budge,  The  Book 
of  the  Dead,  3  Bde.  London,  Kegan  Paul.  1909  (Books  on  Egypt 
and  Chaldaea  VI— VIII). 

'  Le  Livre  des  Mo)'ts  des  anciens  Egyptietis  Traduction  complete 
d'apres  le  papyrus  de  Turin  et  les  Manuscrits  du  Louvre.  2e  edition. 
Paris,  1907. 


364  -^-  Wiedemann 

Anschauungen  nahestehende  erhabene  Auffassung  der  Gottheit 
und  ein  Monotheismus  nachweisbar  sei,  suchte  der  gleiche 
Verfasser^  zu  begründen.  Er  ging  dabei,  wie  die  älteren 
Agyptologen,  welche  seine  Auffassung  teilten,  von  einzelnen, 
aus  dem  Zusammenhange  gerissenen  Sätzen  der  Texte  aus. 
Sobald  man  die  betreffenden  Urkunden  in  ihrer  Gesamtheit 
zu  Rate  zieht,  erkennt  man,  daß  deren  Grundgedanken  einer 
solchen  Auffassung,  welche  infolgedessen  auch  von  den  neueren 
Forschern  fast  allgemein  aufgegeben  worden  ist,  fernstehen.  — 
Eine  neue,  von  dem  bisher  bekannten  Texte  in  manchen 
Punkten  abweichende  Passung  des  Buches  von  dem  Durch- 
wandern der  Ewigkeit,  welches  auf  den  Sätzen  des  Toten- 
buches und  verwandter  Kompositionen  aufgebaut  ist,  ver- 
öffentlichte und  besprach  Wreszinski.^ 

Der  Gott,  dem  das  Totenbuch  vor  allem  geweiht  war,  ist 
„Osiris,  der  sich  befindet  in  dem  Westlande  (chenti  Amenti), 
der  Herr  von  Abydos".  Dabei  war  der  hier  auftretende  Titel 
Chenti -Amenti  ursprünglich  der  Name  eines  selbständigen 
Gottes,  der  einst  als  Herr  von  Abydos  galt,  und  dessen  noch 
einige  Texte  gedenken.^  Allmählich  verschmolz  er  mit  Osiris 
und  ging  in  diesem  auf.  Osiris  war  wohl  von  Anfang  an  eine 
anthropomorphe  Gestalt.  Man  dachte  ihn  sich  als  einen  König 
des  Niltales,  dem  es  nach  seinem  Ableben  gelungen  war, 
vermittelst  seiner  eigenen  Zauberkraft  und  der  magischen 
Handlungen  und  Pormeln  seiner  Hinterbliebenen  die  Auf- 
erstehung, Unsterblichkeit  und  Herrschaft  im  Jenseits  zu  ge- 
winnen. Er  wurde  darin  das  Prototyp  des  Menschen,  der  ein 
gleiches  Los  nach  dem  Tode  erhoffte.  Bei  dem  Mangel  an 
systematischem  Sinn    und   der  Freude    an    synkretistischer  Be- 


'  Les    Interpretations    de   la   Religion   Egyptienne   in   Ann.  Mus. 
Guimet.    Bibl.  de  Vulgarisation  XX,  Paris,  1906. 

*  Das  Buch  vom  Durchwandeln  der  Ewigkeit  nach  einer  Stele  im 
Vatikan  in  Äg.  Zeitschr.  XLV,  S.  111  ff. 

•  Vgt  J^quier  Khontamenti  in  Rec.  de  trav.  rel.  etc.  XXX,  S.  43  ff. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  365 

handlung  der  Qötter,  welche  im  alten  Ägypten  herrschte,  hat 
man  im  Verlaufe  der  Zeit  zahlreiche  andersartige  Vorstellungen 
über  die  Unsterblichkeit  und  andere  mit  dieser  im  Zusammen- 
hange stehende  Gottheiten  und  Mythen  mit  Osiris  und  seiner 
Lehre  verschmolzen,  ohne  seine  ursprüngliche  Auffassung  auf- 
zugeben. In  den  Kreis  der  hierbei  herangezogenen  Gestalten 
gehören  vor  allem  die  Vegetationsgötter  ^,  und  so  kommt  es, 
daß  Osiris  häuficr  die  die  Unsterblichkeit  charakterisierenden 
und  verbürgenden  Eiorenschaften  eines  Vegetationsdämons  an- 
nimmt,  und  auch  die  Gottheiten  seines  Kreises,  wie  Isis,  Horus, 
Set,  in  diesen  Zusammenhang  hineingezogen  werden.  Die  auf 
eine  derartige  Form  der  Gotteserscheinung  bezüglichen  Texte 
hat  in  weitem  Umfange  Frazer-  behandelt,  und  Moret^  ist  im 
Zusammenhange  mit  einer  Erörterung  der  Bedeutung  und  Ent- 
wicklung des  Opfers  in  Ägypten  auf  anschließende  Fragen 
eincregangen. 

Zahlreiche  Notizen,  vor  allem  für  die  Götter  des  Osiris- 
kreises  in  ihrer  Bedeutung  für  das  Leben  des  Verstorbenen  im 
Jenseits,  werden  durch  die  Totenstelen  gegeben,  welche  in  den 
den  historischen  und  funerären  Stelen  gewidmeten  Katalog- 
bänden des  Kairener  Museums^  verzeichnet  und  veröffentlicht 
worden  sind.  Für  den  Kampf,  der  nach  der  Ermordung  des 
Osiris    zwischen    Horus    und  Set^    entbrannte,    ist    die   Schrift 

1  Wiedemann  im  Archiv  für  Bel.-Wiss.  YII,  S.  473 ff. 

*  Adonis,  Attis  and  Osiris.     London,  Macmillan  and  Co.,  1906. 

'  Du  sacrifice  en  Egypte  in  Bev.  de  VHist.  des  Beligions  L\TI, 
S.  81  ff.  —  Die  übliche  Form  des  Opfers  in  Ägypten  war  zwar  nicht  das 
Brandopfer  (vgl.  G. Kyle  Some  f'urther  observatiotis  concerning  the  Holocaust 
among  Die  ancient  Egyptians  in  Bec.  de  trat.  rel.  etc.  XXXJ,  S.  49  ff.),  doch 
kam  dieses  nicht  selten  neben  der  Darbringung  der  vollständigen  bez.  zer- 
brochenen Opfergegenstiinde  vor. 

*  H.  0.  Lange  und  H.  Schäfer  Grab-  und  Denksteine  des  Mittleren 
Beiches  I,  II,  IV.  Berlin  1902  - 1908;  P.  Lacau  Steles  du  Xouvel  Empire  I 
fasc.  1.  Kairo  1909;  Ahmed  Bey  Kamal  Steles  Ptolemaiques  et  Bomaines. 
2  Bde.     Kairo  1904— 1905. 

^  Loret  Le  dieti  Seth  et  le  roi  Seihösis  in  Proc.Soc.Bibl.Arch.XKYLU, 
S.  123  ff.  besprach  die  Gottesnamen  Set,  Suti,  Sutech,  Setesch.    Er  wollte 


366  ^-  Wiedemann 

Plutarchs  über  Isis  und  Osiris  die  Hauptquelle  geblieben.  Die- 
selbe gebt,  wie  besonders  das  Verzeichnis  der  günstigen  und 
ungünstigen  Tage  in  dem  Papyrus  Sallier  IV.  lehrt,  auf  alt- 
ägyptisches  Material  zurück.  Zwei  Stellen  dieses  Papyrus,  die 
sich  mit  Ereignissen  aus  dem  Streit,  die  auf  den  26.  und 
27.  Thoth  verlegt  werden,  beschäftigen,  erörterte  Reich  ^  und 
stellte  dabei  ihren  Sinn  richtiger  fest,  als  dies  bisher  geschehen 
war.  Spiegelberg  ^  besprach  eine  Sonderform  des  Gottes  Thoth 
in  Theben,  welche  als  „Teos  der  Ibis"  auftritt.  Er  führte 
dabei  aus,  daß  eine  zweite  Sonderform,  „Thoth,  der  Hohe- 
priester von  Memphis",  welche  Sethe  daneben  hatte  annehmen 
wollen,  auf  einer  irrtümlichen  Lesung  beruht,  es  stehe  an  der 
fraglichen  Stelle  „Thoth  erhört". 

Zu  der  wenig  bekannten,  neben  dem  Ka^  auftretenden 
Seelenform  Sechem  („Gestalt")  und  der  Vergötterung  von 
Götterzeptern  (sechem)  und  heiligen  Stäben  brachte  Spiegel- 
berg'' eine  Reihe  von  Angaben  der  Texte  bei.  Eine  Darstellung 
auf  einem  Sarge  der  Spätzeit ^  zeigte  über  der  auf  dem  Leichen- 
bette liegenden  Mumie  einen  Fisch  an  der  Stelle,  an  welcher 
sonst  häufig  die  als  Vogel  mit  Menschenkopf  aufgefaßte  Seelen- 
form Ba  erscheint.  Es  handelt  sich  aber  bei  diesem  Fische 
kaum  um  eine   sonst  bisher  nirgends  erwähnte,  an  die  Stelle 


für  Set  in  alter  Zeit  Setesch  lesen  und  benutzte  dann  diese  Lesung  als 
Grundlage  für  sehr  weitgehende  Schlüsse  über  einen  wenig  wahrschein- 
lichen Ursprung  des  Gottes  aus  Asien. 

1  Der  Mythus  vom  Kampfe  des  Horus  mit  Set  im  Papyrus  Sallier  IV. 
in  Bec  de  trav.  rel.  etc.  XXX,  S.  210  £F ;  Ber  27.  Thot  des  Papyrus  Sallier  1 V. 
1.  c.  S.  213. 

^  'Egiifig  6  Grißcüog  in  Äg.  Zeitschr.  XLV,  S.  89  f 

'  Auf  eine  Formel,  derzufolge  der  Tote  seinem  Ka  folgt,  machte 
Capart  Sur  une  formule  d'un  sarcophage  de  la  XlJe  dynastie  au  Musee 
Guimet  in  Äg.  Zeitschr.  XLII,  S.  144 f.  aufmerksam. 

*  Zum  ägyptischen  Stahkultus  in  Rec.  de  trav.  rel.  etc.XXVIII,  S.  lü3flF. 

"  Ahmed  Bey  Kamal  Fouilles  n  Gamhoud  in  Ann.  Serv.  Ant.  IX, 
S.  23 f;  Spiegelberg  Der  Fisch  als  Symbol  der  Seele  im  Arch.  f.  Rel.- 
Wissenschaft  XII,  S.574f. 


Ägyptische  Keligion  (1906—1909)  367 

des  Ba  getretene  Seelenform.  Der  Fisch  wird  rielmehr  den 
Fisch  Ant  darstellen,  auf  dessen  Anblick  der  Verstorbene  im 
Totenbuche  (cap.  15,  Z.  24)  besonderes  Gewicht  legt. 

Gräber  und  Totenbeigaben.  Die  Ausgrabungen  der 
Deutschen  Orientgesellschaft  in  den  Grabanlagen  der  Könige 
Rä-en-user,  Nefer-ar-ka-rä  und  Sahu-rä  zu  Abusir  haben  für 
die  Pyramidentempel  der  fünften  Dynastie  reiches  Material  er- 
geben, von  dem  aber  bisher  nur  ein  Teil  publiziert  worden 
ist.'  Über  die  wichtigsten  dabei  erzielten  Ergebnisse  orientiert 
ein  Vortrag  von  Eduard  Meyer*,  der,  von  zahlreichen  gut 
ausgeführten  Illustrationen  und  Tafeln  begleitet,  eine  Übersicht 
über  das  Ägypten  des  Alten  Reiches  gibt.  Wichtig  ist,  daß 
in  den  Reliefs  dieser  Tempel  die  Gestalten  der  Götter  bereits 
nach  dem  späteren  Schema  gebildet  erscheinen,  und  daß  der 
König  ebenso  wie  später  als  Sphinx'  dargestellt  werden  kann. 
Auf  die  Art  und  Weise,  wie  sich  diese  Pyramidenanlagen 
aus  den  Königsgräbern  der  Thinitischen  Zeit  entwickelten,  ging 
im  Zusammenhange  mit  dem  ünsterblichkeitsglauben  des  Alten 
Reiches  Moret*  ein.  HalP  stellte  die  gerade  in  alter  Zeit 
häufigeren  Fälle  zusammen,  in  denen  sich  ein  König  zwei  ge- 
sonderte Grabanlagen  herstellen  ließ.  Eine  Publikation  von 
H.  Schäfer^  bringt  reichhaltige  und  bis  in  das  einzelne   hinein 

■  L.  Borchardt  Das  Grabdenkmal  des  Kihiigs  Ne-User-Be.  Leipzig. 
Hinrichs.  1907.  —  L.  Borchardt  Das  Grabdenkmal  des  Königs  Nefer- 
'ir-ke'-re'.  Leipzig.  Hinrichs.  1909.  —  Einzelberichte  in  den  3/j(<e»7u«^en 
der  Deutschen  Orientgesellschaft  nr.  24,  30,  34,  37. 

*  Ägypten  zur  Zeit  der  Pyramidenerbauer.   Leipzig.   Hinrichs.    1908. 
'  Über  die  Sphinx  als  Bildnis  von  Schu  und  Tefnut  und  als  solches 

des  Königs  äußerte  sich  Xaville  Encore  le  Sphinx  in  Sphinx  X,  S   138 ff. 

*  Äutour  des  Pyramides  in  Revue  de  Paris.     1907.     S.  225 ff. 

^  The  pyramid  of  Moeris  in  Journ.  of  Hell.  Studies  XXYI,  S.  176  f. 
Vgl.  ein  Dekret  des  Königs  Pepi  1.  zugunsten  der  beiden  Pyramiden  des 
Königs  Snefru  bei  L.  Borchardt  Ein  Königserlaß  aus  Dahschur  in  ^^r. 
Zeitschr.  XLII,  S.  1  ff. 

®  Priestergräber  und  andere  Grabfunde  vom  Totentempel  des  Ke- 
user-JRe  (Wissenschaftliche  Veröffentlichungen  der  Deutschen  Orient- 
gesellschaft. 8).     Leipzig.     Hinrichs.     1908. 


368  A.  Wiedemann 

genaue  Aufschlüsse  über  die  Privatgräber  des  Mittleren  und 
Alten  Reiches,  ihre  Anlage,  die  Lage  der  Leichen,  die  Bei- 
gaben usf.  Die  Grabstätten  der  niederen  Privatbeamten  in  der 
Necropole  von  Beni  Hasan  aus  dem  Mittleren  Reiche  schilderte 
Garstang  ^  eingehend.  Für  einen  Teil  der  Begräbnisfeier  im 
Neuen  Reiche  ist  Madsen^  zu  nennen,  doch  fehlt  der  Beweis 
dafür,  daß  sich  die  von  ihm  besprochene  Szene  tatsächlich  in 
dem  Privatgarten  des  Verstorbenen  abspielte. 

In  alter  Zeit  war  es  in  Ägypten  üblich,  dem  Toten  sein 
eigenes  Bildnis,  gelegentlich  in  zahlreichen  Wiederholungen, 
und  ein  reichhaltiges  Gefolge  in  Stein  oder  Holz  plastisch 
dargestellter  Dienerschaft,  Gabenträger,  Brauer,  Köche,  Auf- 
seher, Schreiber  usf.,  mitzugeben.  Diese  Begleiter,  von  denen 
besonders  aus  dem  Mittleren  Reiche  eine  große  Zahl  erhalten 
geblieben  ist^,  wurden  in  Ausübung  ihrer  jeweiligen  Tätigkeit 
dargestellt.  Später  kommen  derartige  Bildnisse  der  Arbeiter 
oder  des  Toten  mit  der  Andeutung  einer  bestimmten  zu  ver- 
richtenden Arbeit  nur  selten  vor.*  Beide  werden  gewöhnlich 
ersetzt  durch  die  schematischen  Gestalten  der  „Antworter" 
(uschebti),  welche  gelegentlich  im  Gewände  der  Lebenden, 
meist  aber  in  Osirisgestalt,  mit  Ackerbaugeräten  versehen,  auf- 
treten. Dieser  doppelte  Ursprung  macht  es  erklärlich,  daß 
man  häufig  in  Zweifel  sein  kann  und  es  bereits  auch  die  alten 
Ägypter  waren,  ob  der  jeweilige  Uschebti  nur  als  Diener  auf- 


^  The  Burial  Customs  of  ancient  Egypt.  London.  Archibald  Con- 
stable.     1907. 

*  Die  Totenfeier  im  Garten  in  Äg.  Zeitschr.'^hlll^  S.ölflF. 

'  G.  Maspero  Sur  les  figurines  et  sur  les  scenes  en  ronde  bosse, 
qu'on  trouve  dans  Jes  tombeaux  Egyptiens  in  Bull.  Institut  Egypt.  IV, 
S.  367  ff. 

*  Über  einige  Exemplare  des  Neuen  Reiches,  welche  den  Ver- 
storbenen als  Kornquetscher  vorführen,  handelten  A.  H.  Gardiner  Ä  Statuette 
of  the  High  Priest  of  Memphis  Ftahmose  in  Äg.  Zeitschr.  XLIII,  S.  56  f., 
und  J.  Capart  Broyeurs  en  pieire,  1  c,  S.  163;  A  propos  des  statuettes 
de  meuniers  in  Transact.  Third  Intern.  Congpess  of  Hist.  of  Bell,  S.  201  ff. 


Ägyptische  ßeUgion  (1906—1909)  369 

zufassen  ist^  oder  ob  er  auch  als  ein  Bild  des  Toten  angesehen 
werden  wiU.  Meist  ist  das  erstere  der  Fall  Diese  Tatsache 
geht  auch  daraus  hervor,  daß  die  Zahl  der  Uschebti  in  einem 
Grabe  öfters  eine  bestimmte  zu  sein  scheint,  und  zwar,  wie 
Bissing ^  bemerkte,  vermutlich  401,  d.  h.  365  Arbeiter,  einer 
für  jeden  Tag  des  Jahres,  und  36  Vorarbeiter,  einer  für  jede 
Dekade  des  Jahres.  Bisweilen  ist  auf  dem  Uschebti  sogar  der 
Tag  vermerkt,  an  dem  er  zu  arbeiten  hatte.'  Dabei  suchte 
man  durch  Aufschrift  des  Namens  des  Verstorbenen  diesem 
die  Arbeitskraft  des  betreffenden  Uschebti  zu  sichern.  Um 
eine  Veränderung  des  Namens  und  damit  des  Eigentümers  des 
Dieners  durch  spätere  Grabräuber  möglichst  zu  erschweren, 
brachte  man  gelegentlich  den  Namen  unter  der  Glasur  der 
Statuette  verborgen  an.^ 

In  die  Reihe  der  Beigaben  mit  religiöser  Bedeutung  gehört 
nach  Pieper*  auch  das  Brettspiel,  welches  mit  den  zugehörigen 
Figuren  nicht  selten  dem  Toten  in  das  Grab  gelegt  wurde. 
Die  meisten  Felder  des  Spiels  sind  nach  Gottheiten  genannt, 
in  den  Begleittexten  werden  Götter  angerufen  und  erscheint 
die  Opferformel,  die  Steine  stellen  gelegentlich  gebundene  Aus- 
länder dar.  Pieper  schließt  daraus,  die  Feinde,  welche  dem 
Verewigten  den  Weg  in  das  Land  der  Seligen  verlegten,  hätten 
im  Brettspiel  überwunden  werden  müssen,  und  knüpft  daran 
einige  Bemerkungen  über  ägyptische,  zur  Ausübung  der  Magie 
bestimmte    Gegenstände.      In    zahlreichen    Fällen    haben    die 


'  P.  A.  A.  Boeser  Eine  Uschebtiinschriß  des  Leidener  Museums  in 
Äg.  Zettschr.  XLII,  S.  81. 

*  Zur  Geschichte  der  Uschebtius  in  Eec.  de  trat.  rel.  etc.  XXX,  S.  183  f. 
'  A.  Erman  Uschebtis  mit  Daten  in  Äg.  Zettschr.  XLIV,  S.  131. 

*  G.  Maspero  Sur  une  variete  de  figurines  funeraires  inconnue  jusqu'ä 
present  in  Aym.  Serv.  Änt.  IX,  S.  285  f. 

'  Das  Brettspiel  der  alten  Ägypter  und  seine  Bedeutung  für  den 
ägyptischen  Totenkult.  Berlin.  "Weidmann.  1909.  Der  Hauptteil  der 
Arbeit  ist  einem  interessanten  Versuche  gewidmet,  den  Gang  des  Spielen 
2U  rekonstruieren. 

Arohiy  f.  Beligionawissenflchaft  Xm  24 


370  -^^  Wiedemann 

Spielbretter  aber  doch  wobl,  unter  Hintansetzung  des  Ge- 
dankens  an  eine  religiöse  Betätigung,  nur  zum  Zeitvertreib  in 
der  Langeweile  des  Alltagslebens  oder  des  Grabes  gedient. 
Darauf  weist  die  Aufnahme  des  Spieles  in  die  Reihe  der  Be- 
schäftigungen aus  dem  täglichen  Leben  in  den  Gräberreliefs 
hin  und  die  Angabe^,  daß  der  Tote  das  Spiel  mit  seiner  Seele, 
die  bei  ihm  in  seinem  Grabe  sei,  spiele,  wobei  also  nicht  ein 
böser  Dämon  als  Spielgegner  vorausgesetzt  wird.  Von  sonstigen 
Beigaben  wurden  die  Barken,  ihre  Gestalt  und  ihr  Zweck,  er- 
örtert.^ 

Sehr  wertvolle  Angaben  über  die  Formen  der  ägyptischen 
Amulette  und  die  auf  ihnen  befindlichen  Inschriften,  welche 
sich  freilich  meist  auf  den  Namen  des  jeweiligen  Eigentümers 
beschränken,  über  den  Zweck  der  einzelnen  Stücke  aber  nur 
selten  etwas  aussagen,  geben  die  betrefi^enden  Bände  des 
Kairener  Katalogs.^  Im  Mittleren  Reiche  kam  es  öfters  vor, 
daß  man,  anstatt  die  wichtigeren  Amulette  und  Gebrauchs- 
gegenstände dem  Toten  tatsächlich  mitzugeben,  sie  in  Wort 
und  Bild  an  den  Wandungen  seines  Sarges  verzeichnete.  Sie 
sollten  dann,  in  gleicher  Weise  wie  die  daneben  auftretenden 
kleinen  plastischen  Modelle  von  Gebrauchsgegenständen  und 
Amuletten^,  als  Grundlage  für  eine  Herstellung  der  wirklichen 
Gegenstände  mit  Hilfe  von  Zauberformeln  dienen.  Eine  von 
Bildern  begleitete  erweiterte  Liste  dieser  Stücke  in  Verbindung 
mit  einem  Totenbuchtexte  der  Ptolemäerzeit  fand  und  veröffent- 
lichte Capart.^    Zu  den  Knotenamuletten  äußerten  sich  Valdemar 


'  Eec.  de  trav.  rel.  etc.  XI,  S.  44. 

*  A.  Wiedemann  TotenbarJcen  im  alten  Ägypten  im  Globus  XCIV, 
S.  119  ff. 

'  P.  E.  Newberry  Scardb-shaped  seals.  London  1907;  G.  A.  Reisner 
Amulets.     Kairo  1907. 

*  Vgl.  hierfür  u.  a.  Wiedemann  Religion  der  alten  Ägypter,  S.  161f. ; 
H.  Schäfer  Die  Entstehung  einiger  Mumienamulette  in  Äg.  Zeitschr.  XLIII, 
S.  66  ff. 

'  Une  liste  d'amulettes  in  Äg.Zeitschr.  XLV,  S.  14  ff. 


Ägyptische  Religion  (1906—1909)  371 

Schmidt^  und  v.  Bissing*;  eine  lange  Reihe  von  Skarabäen- 
insckriften  mit  guten  Wünschen  für  den  Toten  sammelte  Alice 
Grenfell^  und  suchte  dieselben  unter  gemeinsame  Gesichtspunkte 
zu  ordnen. 

Eine  ansprechende  Übersicht  über  die  ägyptische  Magie 
gab  in  einer  für  ein  größeres  Publikum  bestimmten  Schrift 
Moret/  Die  Publikation  eines  großen,  der  Spätzeit  angehörenden 
Papyrus  wurde  zum  Abschlüsse  gebracht.*  Unter  den  wesent- 
lich apotropäi sehen  Zwecken  dienenden  Stücken  spielen  die 
Tierköpfe  und  Tierschädel  eine  große  Rolle.  Für  diese,  ins- 
besondere für  die  Bukranien,  dann  die  Hathorköpfe  und  das 
Sistrum,  stellte  Lefebure®  ausgedehnte  Materialsammlungen  zu- 
Bammen.  Bei  den  sog.  Wurfhölzem,  welche  in  Ägypten  freilich 
meist  aus  Knochen  bestehen^,  stellte  Jequier^  fest,  daß  diese 
mit  den  Bildern  heiliger  Tiere  bedeckten  Stücke  aus  Xilpferd- 
knochen  gefertigt  zu  sein  pflegen.  Er  vermutet,  daß  sie  vor 
allem  dazu  dienten,  um  die  Kinder  während  des  Schlafes  gegen 
Dämonen  zu  schützen.  Auch  das  Salben,  welches  mit  Vorliebe 
beim  Antritte  eines  Amtes  vorgenommen  wurde,  scheint  böse 
Geister  vertrieben   zu  haben.^     Unter   den  Zauberformeln  war 


^  Note  on  a  peculiar  pendant  shotcn  on  three  statues  of  Usertesen  III 
in  Proe.  Soe.  Bibl  Arch.  XXYIII,  S.  268  f. 

*  Lesefrüchte  §  12  in  Bec.  de  trav.  rel.  etc.  XXX,  S.  180  ff. 
'  Amuhtic  Scarabs  etc.  for  the  deceased  in  Rec.  de  trav.  rel.  etc.  XXX, 

8. 105  ff. 

*  La   magie   dans  VEgypte   ancienne    (Ann.  Mus.  Guimet.  Bibl.  de 
Vulgarisation  XX).     Paris  1907. 

*  F.  LI.  Griffith  und  H.  Thompson   The  Demotic  Magical  Papyrus 
of  London  and  Leiden.  III.  Indices.    London.    Grevel.    1909.    Vgl.  Arch. 

[f.  Rel-  Wiss.  IX,  S.  491. 

^  Le  Bucräne  in  Sphinx  X,  S.  67—129. 
^  Vgl.  Arch.  f  Rel.-Wtss.  IX,  S.  495. 

*  Röle  protecteur   de  Vhippopotame  in  Rec.  de  trav.  rel.  etc.  XXX, 
40  ff. 

®  Spiegelberg  Zur  Symbolik  des  Salbens  im  Ägyptischen  in  Rec.  de 
w.  rel.  etc.  XXVIII,  S.  184  f.,  und  im  Arch.  f  Rel- Wiss.  IX,  S.  143  f. 

24* 


372  ^-  Wiedemann     Ägyptische  Religion  (1906—1909) 

die  wichtigste  die  mit  „Königliclie  Opfergabe"  beginnende.^ 
Durch  sie  wurden  Speise  und  Trank  für  die  Götter  erschaffen, 
welche  diese  Lebensmittel  dann  dem  Verstorbenen  übermittelten. 
Es  erschien  wünschenswert,  daß  diese  Schaffung  möglichst  oft 
erfolgte;  daher  wurden  die  Hinterbliebenen  nicht  selten 
zur  Aussprache  der  Worte  aufgefordert,  was  dem  Beter  wenig 
Mühe  und  keine  Kosten  verursachen  werde.^ 


*  Über  den  Beginn  der  Formel,  besonders  die  Auffassung  des  ersten 
Wortes  als  „Königlich"  handelte  Moret  Sur  la  formule  souten  di  hotp 
in  Sphinx  XI,  S.  31  ff.  Vgl.  ferner  H.  R.  Hall  The  Di-hetep-suten  For- 
mula  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Arch.  XXX,  S.  5 ff.;  Jahn  Über  die  Gruppe  swtn 
(du)  htp  in  Wiener  Zeit  sehr.  f.  Kunde  des  Morgenl.  XX,  S.  374  ff. 

*  Spiegelberg  Eine  Formel  der  Grabsteine  in  Äg.  Zeitschr.  XLV, 
S.  67  ff. 


3  Religion  der  Japaner  1905—1908 

Von  Hans  Haas  in  Heidelberg 

Japan  wird  im  'Archiv'  zum  erstenmal  in  die  Bericht- 
erstattung einbezogen.  Dem  Referenten,  der  es  auf  sich  genommen, 
die  bisherige  Lücke  auszufüllen,  könnte  es  deshalb  naheliegen, 
die  wichtigsten  für  eine  Bearbeitung  der  japanischen  Religions- 
geschichte in  Betracht  kommenden  Veröffentlichungen  auch 
älteren  Datums  wenigstens  mit  aufzuführen,  dies  um  so  mehr, 
als  ihre  Zahl  nicht  sehr  groß  ist.  Wenn  er  sich  gleichwohl 
darauf  beschränkt,  nur  die  Erscheinungen  der  letzten  Jahre  zu 
berücksichtigen,  so  tut  er  das,  weil  er  für  die  vorangegangene 
Literatur  auf  einen  eigenen  bibliographischen  Beitrag,  den  er 
an  anderer  Stelle  veröffentlicht  hat,  verweisen  kann.^ 

Wem  es  darum  zu  tun  wäre,  in  Vollständigkeit  kennen 
zu  lernen,  was  Einschlägiges  seitdem  in  Büchern,  Broschüren 
und  Zeitschriften  ans  Licht  gekommen  ist,  der  brauchte  nur 
zu  dem  zweiten  Bande  von  v.  Wencksterns  Bibliographie-  zu 
greifen,  wo  sich  auf  S.  41 — 74  diese  gesamte  Literatur  ver- 
zeichnet findet,  während  im  ersten  Bande  dieses  Werkes  alles 


*  H.  Haas,  Die  japanischen  Religionen  in  der  neuesten  Allgemeinen 
Religionsgeschichte.  Mitteilungen  der  Deutschen  Gesellsch.  f.  Xatur-  u. 
Völkerk.  Ostasiens  Bd  IX,  Teil  3,  S.  367  —  389. 

*  Bibliography  of  the  Japanese  Empire,  being  a  classified  list  of 
tbe  literatnre  in  European  languages  relating  to  Dai  XLhon  published 
in  Europe,  America  and  in  the  East.  Vol.  II  comprising  the  Uteratnre 
from  1894  to  the  middle  of  1906  with  additions  and  corrections  of  the 
first  volume  and  a  Supplement  to  Leon  Pages'  Bibliographie  Japonaise, 
compiled  bj  Fr.  von  Wenckstern.  Added  is  a  List  of  the  Swedish 
Literatnre  on  Japan  by  Miß  Valfrid  Palmgren,  Ph.  D.  (1907,  Tokyo, 
Osaka  and  Kyoto:  The  Maruzen  Kabushiki  Kaisha). 


374  Hans  Haas 

gebucht  ist,  was  von  1496 — 1893  über  Japan  veröfifentlicht 
worden.^ 

Als  Fortsetzung  Wencksterns  können  die  japanischen 
Bibliographien  von  Dr.  0.  Nach  od  gelten,  die  den  dankens- 
wertesten Inhalt  der  seit  1908  erscheinenden  periodischen 
Publikation  der  Deutsch  -  Japanischen  Gesellschaft  in  Berlin 
ausmachen.^ 

In  gründlichster  Weise  berücksichtigt  derselbe  verdiente 
Japanologe  die  auf  Religion  bezügliche  Literatur  auch  in  den 
Jahresberichten  der  Geschichtswissenschaft',  für  die 
er  das  Referat  behalten,  seitdem  er  zum  ersten  Male  im 
XXIV.  Jahrgang  (1901)  den  Abschnitt  Japan  ausgefüllt. 

Je  mehr  es  die  genannten  Bibliographen,  denen  noch  der  von 
Krüger  herausgebene  Theologische  Jahresbericht  mit  den 
bis  vor  kurzem  von  Edv.  Lehmann  erstatteten  Referaten  über 
die  orientalischen  Religionen  anzureihen  wäre,  darauf  absehen, 
in  möglichster  Lückenlosigkeit  zu  verzeichnen,  was  an  ein- 
schlägigen Arbeiten  gedruckt  wird,  desto  eher  kann  der  gegen- 
wärtige Bericht  sich  daran  genügen  lassen,  nur  in  eine 
Besprechung  der  wichtigeren  Veröffentlichungen  einzutreten. 
Unberücksichtigt  können  hier  so  ziemlich  alle  in  Zeitungen  und 
Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze  bleiben,  deren  Zahl  ins 
Massenhafte  gestiegen,  seit  Japan  durch  die  politischen  Ereig- 
nisse im  fernen  Osten  wiederholt  in  den  Vordergrund  allgemeinen 
Interesses  getreten  ist.  Es  sind  viele  Federn,  die  sich  im  letzten 
Jahrzehnt  berufen  fühlten,  weiteren  Kreisen  einen  Einblick  in 
die  religiösen  Verhältnisse  des  fernen  Inselreiches  zu  ver- 
mitteln. Schade  nur,  daß  den  Skribenten  meist  schon  bei  der 
Auswahl  der  Autoritäten,  auf  die  sie  sich  stützen,  jedes  Judi- 
cium abgeht.     An  wirklich  verläßlichen  Werken,  die  populari- 


'  Der  erste  Band  erschien  1895  bei  E.  J.  Brill  in  Leiden. 
*  Deutsch -Japanische    Gesellschaft    (Wa-Doku-Kai)    1908,    Nr.   1, 
J,  4,  6,  6/7,  8/12;   1909,  Nr.  1/2,  3,  4/5. 

'  Weidmannsche  Buchhandlung,  Berlin  S.W.  12. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  375 

gierende  Schriftsteller  um  Auskunft  angehen  könnten,  wäre 
zurzeit  durchaus  kein  Mangel  mehr.  Und  gerade  die  letzten 
Jahre  haben  an  solchen  Ausbeute  gebracht,  so  reich  wie  vor- 
her nicht  Jahrzehnte,  und  zwar  bezüglich  aller  Religionen, 
die  in  Betracht  kommen;  Shinto,  Buddhismus  und  Kon- 
fuzianismus  (um  Tom  Christentum,  das  neben  diesen  Reli- 
gionen im  heutigen  Japan  auch  bereits  eine  Macht  ist,  ab- 
zusehen). 

A  priori  möchte  man  erwarten,  die  Berufensten,  sich  über 
japanisches  Religionswesen  zu  äußern,  müßten  gebildete  Japaner 
selbst  sein.  Aber  abgesehen  davon,  daß  diese  zumeist  religiös 
indifferent  und  daher  wenig  geneigt  sind,  diese  Materie  an- 
zurühren, geht  ihnen,  wenn  sie  es  doch  einmal  tun,  gewöhn- 
lich die  Unbefangenheit  ab,  die  für  eine  objektive  Darstellung 
die  unerläßliche  Voraussetzung  ist.  So  bleiben  wir  nach  wie 
vor  in  der  Hauptsache  auf  die  Forschungen  westländischer  Ge- 
lehrter angewiesen,  die  hier  das  Dunkel  aufzuhellen  bemüht  sind. 
An  solchen  Arbeiten  aber  ist,  wie  schon  gesagt,  neuerdings 
durchaus  kein  Mangel  mehr. 

Shinto 

Welchen  Fortschritt  die  Erforschung  der  Religion  der 
Japaner  neuerdings  gemacht,  bringt  man  sich  vielleicht  am 
besten  zum  Bewußtsein,  wenn  man  sich  der  paar  Sätze  er- 
innert, die  das  einzige  sind,  was  Tiele  noch  in  der  2.  Auflage 
seines  vielbenützten  Kompendiums  der  Religions- 
geschichte (deutsch  1887)  auf  S.  7  über  Japan  zu  sagen 
wußte:  „Die  Japanesen  werden  absichtlich  nicht  erwähnt,  weil 
die  Geschichte  ihrer  gegenwärtigen  Religion  zu  der  des 
Buddhismus  gehört,  und  die  Untersuchung  ihrer  alten  natio- 
nalen Religion  (mit  einem  aus  dem  Chinesischen  entlehnten 
Namen  „Shinto",  die  Weise  oder  Lehre  der  Geister,  genannt 
und  vielleicht  auch  aus  China  stammend)  noch  zu  keinem  ge- 
nügend sicheren  Resultate  geführt  hat." 


376  Hans  Haas 

Heute  sind  uns  längst  alle  Haupturkunden  des  Shinto 
durch  kritische  Übersetzungen  erschlossen,  und  woran  es  allein 
bis  vor  kurzem  noch  fehlte,  das  waren  Bearbeitungen,  die 
dem  Stande  unseres  gegenwärtigen  aus  diesen  Quellen  zu  er- 
hebenden Wissens  entsprechen.  Florenz  hat,  als  er  1901 
seine  Übersetzung  der  ersten  beiden  Bücher  des  Nihongi^ 
herausgab,  noch  gemeint,  von  einer  Zusammenfassung  der 
Resultate,  welche  sich  aus  der  Lektüre  ergeben,  absehen  zu 
müssen,  und  es  als  eine  Aufgabe  der  Zukunft,  die  jetzt  schon 
zu  unternehmen  noch  verfrüht  wäre,  bezeichnet,  aus  den  vor- 
liegenden Rohstoffen  etwas  Geordnetes  zu  gestalten.  Dem 
gegenüber  habe  ich  schon  damals  geltend  gemacht^,  daß  wir 
nachgerade  über  alle  Phasen  der  Entwicklung  des  Shinto 
unterrichtet  seien  und  daß  nur  das  noch  zu  erwünschen  bleibe, 
daß  ein  Berufener  es  unternehmen  möchte,  das  reiche  vor- 
handene Material  zu  einer  systematischen  Darstellung  der  Re- 
ligion und  Mythologie  zu  verarbeiten.  Die  Aufgabe  war  ge- 
radezu eine  lockende,  so  daß  es  nicht  zu  verwundern  ist,  daß 
sie  ungefähr  gleichzeitig  von  vier  .Seiten  in  Angriff  genommen 
wurde:  von  dem  Engländer  Aston,  von  zwei  Deutschen, 
Lange  und  Floren:?,  und  von  einem  Franzosen,  Revon, 
alle  vier  Gelehrte,  die  tiefgründige  Studien  in  Japan  selbst 
gemacht  hatten.  Aston  und  Florenz  waren  überdies  insofern 
die  berufensten,  als  sie  schon  an  der  Erschließung  der  Quellen 
hervorragend  beteiligt  gewesen  waren. 

Wem  es  darum  zu  tun  ist,  sich  in  Kürze  zu  orientieren, 
dem  werden  sich  eben  wegen  ihrer  Knappheit  die  Arbeiten 
der  beiden  deutschen  Japanologen  empfehlen,  die  sich  übrigens 


*  Japanische  Mythologie.  Nihongi  „Zeitalter  der  Götter".  Nebst 
Ergänzungen  aus  anderen  alten  Quellenwerken.  Von  Dr.  Karl  Florenz 
(Supplement  der  Mitteilungen  der  Deutschen  Gesellsch.  f.  Natur-  u. 
Völkerk.  Ostasiens.     Tokyo,  1901). 

*  Mitteilungen  der  D,  G.  f.  N.  u.  Vk.  0.,  Bd  IX,  S.  .379. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  377 

gegenseitig  ergänzen,  insofern  es  bei  Lange ^  mehr  darauf 
abgesehen  ist,  die  Religion  zu  beschreiben,  wie  sie  sich  heute 
dem  Beobachter  präsentiert,  während  Florenz*  mehr  ihre  ge- 
schichtliche Entwicklung  verfolgt.  Für  erstere  Darstellung 
yerweise  ich  auf  meine  Besprechung  in  der  Zeitschrift  für 
Missionskunde  und  Religionswissenschaft.'  Nichts  Wesentliches 
läßt  auch  die  von  Florenz  gelieferte  Skizze  außer  acht 
Während  um  die  Erforschung  des  Shinto  so  hervorragend 
verdiente  Gelehrte  wie  Satow  und  Chamberlain,  denen 
Griff is  und  die  ganze  Heerschar  popularisierender  Autoren, 
zuletzt  noch  Lafcadio  Hearn*,  folgen,  durch  die  Spencersche 
Theorie  befangen  und  durch  das  tatsächliche  Vorwiegen  des 
Ahnenkults  im  heutigen  Shinto  irregeführt,  der  Anschauung 
huldigen,  die  alte  japanische  Religion  sei  von  allem  Anfang 
an  ein  Ahnendienst  gewesen,  zu  dem  dann  später  als  ein 
zweites  Element  Naturverehrung  hinzugetreten  sei,  sieht 
Florenz  (wie  auch  Aston)  richtig,  daß  gerade  umgekehrt 
polytheistischer  Naturdienst  auch  bei  den  Japanern  als  das 
Ursprünglichere  anzusehen  ist.  (Lange  hatte  diese  Prioritäts- 
frage noch  offen  gelassen.)  Die  Frage,  ob  die  Ahnen  Verehrung 
aus  China  stammt,  die  Lange  vorsichtig  als  eine  schwer  zu 
entscheidende  bezeichnet,  hinsichtlich  deren  man  sich  am 
besten  einer  Behauptung  enthalte,  ist  Florenz  jetzt  mehr  als 
in  früheren  Auslassungen  in  affirmativem  Sinne  zu  beantworten 


'  Prof.  Dr.  R.  Lange,  Berlin.  Die  Japaner.  JI.  Der  Shintoismus. 
In  Lehrbuch  der  Beligionsgeschichte  von  P.  D.  Chantepie  de  la  Saussaye. 
3.  Aufl.     (Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1905.)     S.  141—171. 

*  Die  Orientalischen  Beligiotien  (.Teil  I,  Abteil.  III,  1  von  Hinne- 
bergs Kultur  der  Gegenwart).  Die  Religionen  der  Japaner.  I.  Der 
Shintoismus.     S.  194 — 220. 

»  Jahrgang  XX,  S.  369—367. 

*  In  seinem  posthumen  Buche  Japan.  An  attempt  at  Interpretation 
(London,  Macmillan  &  Co.,  Ltd.  1905.)  Hearns  Auffassung  ist  hier 
außer  durch  Herbert  Spencer  besonders  durch  Fustel  de  Coulanges' 
La  Cite  antique  bestimmt. 


378  Hans  Haas 

geneigt.  Das  Götterpaar  Izanagi  und  Izanami,  die  Erzeuger 
der  im  Zentrum  der  Kami-(=  Götter)  Myriaden  und  ihrer  Ver- 
ehrung stehenden  Sonnengöttin  Amaterasu,  nach  Aston  ein 
bloßes  Echo  des  Yin  und  Yang  der  chinesischen  Philosophie, 
läßt  Florenz  als  echte  Gestalten  der  ältesten  Mythe  stehen, 
während  auch  ihm  wie  Satow  und  den  anderen  Autoritäten 
die  im  Kojiki  und  Nihongi  ihnen  voraufgehenden  Gottheiten 
spätere  Erfindungen  chinesich  beeinflußter  Kosmogonien  sind. 
Wie  Lange  unterscheidet  auch  er  in  der  alten  Göttergeschichte 
drei  Mythenkreise.  Ein  näheres  Eingehen  auch  nur  auf  die 
hauptsächlichsten  der  unzählbaren  Naturgottheiten  und  ver- 
göttlichten  Menschen  wird  man  in  einer  Skizze  des  Shinto 
nicht  erwarten.  Aus  der  Besprechung  der  Kultstätten  sei 
hervorgehoben,  daß  Florenz  dem  meist  als  spezifisch  japanisch 
angesehenen  torii,  dem  auf  dem  Zuweg  zu  jedem  Tempel 
stehenden  galgenförmigen  Portal,  den  japanischen  Ursprung 
aberkennt  und  die  übliche  Erklärung  von  tori-i  als  'Vogelsitz' 
als  volkstümliche  Verlegenheitsetymologie  bezeichnet.  Diese 
Tore,  ursprünglich,  wie  GrünwedeP  wohl  mit  Recht  an- 
nimmt, nichts  anderes  als  etwa  unsere  Ehrenpforten,  erinnern 
zu  sehr  an  die  chinesischen  Pai-lu's,  als  daß  man  sie  als  etwas 
ursprünglich  Japanisches  gelten  lassen  könnte.  Wie  ihr 
chinesisches  Gegenstück  sind  sie  jedenfalls  mit  den  alten 
indischen  Steintoren,  den  sogenannten  toräna's,  in  Zusammen- 
hang zu  bringen.*  Im  weiteren  werden  von  Florenz  noch 
erörtert  die  Embleme  der  Gottheit,  Priesterschaft,  Gottesdienst, 
Feste,  Haus-  und  Familienkult  und  Begräbnisgebräuche. 

*  Buddhistische  Kunst  in  Indien,  S.  20  f. 

*  Vgl.  Satow  The  Shintau  Temples  of  Ise.  Transact.  of  the  Asiat. 
Soc.  of  Japan.  Vol.  II,  p.  104.  Chamberlain  Ä  preliminary  account 
of  the  Luchuan  languages.  In  Journ.  of  the  Anthropol.  Institute  of 
Great  Britain,  1895,  p.  XXXVIII.  Tuke  Notes  an  the  Japanese  Torii. 
Transact.  and  Proceed.  of  the  Jap.  Soc,  London.  Vol.  IV,  part  2. 
Aston  Tori-wi,  its  derivation.  Transact.  of  the  As.  Soc.  of  Japan. 
Vol.  XXVII,  part  4,  p.  152—155. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  379 

Nachdem  so  der  Shinto  der  primitiven  Periode  beschrieben 
ist,  wobei  freilich  vieles  schon  mit  eingeflochten  ist,  was, 
streng  genommen,  erst  in  den  folgenden  Abschnitten  unter- 
zubringen gewesen  wäre,  wird  gezeigt,  wie  die  japanische 
Religion  seit  Einführung  des  Buddhismus  um  die  Mitte  des 
6.  Jahrhunderts  von  der  höher  entwickelten  ausländischen 
Religion  verdrängt  bzw.  praktisch  wie  theoretisch  mit  dieser 
verschmolzen  wurde.  Auch  ihre  Restauration,  wie  sie  zuerst 
seit  etwa  1700  von  einer  nationalen  Philosophenschule  an- 
gestrebt und  1868  dann  offiziell  von  der  neu  installierten 
kaiserKchen  Regierung  versucht  wurde,  vermochte  daran  nichts 
zu  ändern.  Florenz  nennt  diese  dritte,  jüngste  Periode  der 
geschichtlichen  Entwicklung  der  Religion  „die  Zeit  der  Wieder- 
belebung des  reinen  Shintoismus".  Das  ist  eine  stehende  Be- 
zeichnung geworden,  seit  Satow  seiner  grundlegenden  dies- 
bezüglichen Studie  den  Titel  "The  Revival  of  Pure  Shinto" 
gegeben  hat.  Ob  man  nicht  gut  daran  täte,  mit  dieser  Ge- 
pflogenheit zu  brechen?  Mir  will  scheinen,  der  Ausdruck  ist 
geeignet,  immer  wieder  die  falsche  Vorstellung  zu  erwecken 
oder  zu  bestärken,  als  ob  in  unserer  Zeit  der  alte,  echte 
Shinto  eine  wirkliche  Auferstehung  von  den  Toten  erlebt 
habe.  Jedenfalls  muß  man  sich  gegenwärtig  halten,  daß  das 
Kunstprodukt  dieser  dritten  Periode  in  vieler  Hinsicht  etwas 
sehr  viel  anderes  ist  als  es  selbst  die  alte  japanische  Staats- 
religion gewesen,  in  der  man  wohl  auch  bereits  eine  Ver- 
ehrung des  lebenden  Kaisers  als  einer  inkarnierten  Gottheit, 
aber  noch  kein  an  seine  Ahnen  gerichtetes  Gebet  kannte. 
Durch  Motoori,  Hirata  und  andere  Gelehrte  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  und  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  wird  Shinto 
zum  richtigen  chinesischen  Ahnen-  und  ausgesprochenen 
Mikadokult  und  zu  der  politischen  Maschine,  die  ihn  der 
neuen  Regierung,  der  er  den  Weg  hat  bahnen  helfen,  als 
Staatsreligion  empfehlen  mußte.  Dieser  bevorzugten  Stellung 
ist    er    freilich    durch    die    in    der    Verfassung  von    1889    ge- 


380  Hans  Haas 

währten  Religionsfreiheit  wieder  verlustig  gegangen,  wenn  er 
auch  noch  immer  ausschließlich  am  kaiserlichen  Hofe  und  bei 
allen  von  diesem  ausgehenden  öffentlichen  Kulthandlungen  in 
Betracht  kommt. 

Das  Werk  Astons^,  um  zu  der  viel  eingehenderen  Dar- 
stellung des  englischen  Shintoforschers  überzugehen,  ist  kurz 
betitelt  „Shinto".  In  Klammer  ist  die  Übersetzung  beigefügt: 
"The  Way  of  the  Gods",  der  Weg,  d.  i.  die  Lehre,  der  Götter. 
In  einem  anderwärts^  erschienenen  Vortrage  desselben  Autors 
findet  sich  die  Erinnerung:  „Shintoism  is  a  tautology,  as  to 
and  ism  mean  the  same  thing.  We  do  not  say  Islamism  or 
Bushidoism."  Auf  diesen  a.  a.  0.  nur  im  Vorübergehen  und 
bloß  anmerkungsweise  erhobenen  Einwand  gegen  einen  Sprach- 
gebrauch, der  sich  wie  in  England  so  auch  in  Deutschland 
und  Frankreich  bereits  festgesetzt  hat,  sei  hier  beiläufig  nur 
darum  hingewiesen,  weil  selbst  Lange  und  Florenz,  wie 
auch  Revon  (Shiuntoisme),  in  der  Terminologie  hier  weniger 
korrekt  als  der  englische  Fachgenosse,  sich  dem  eingerissenen 
Sprachbrauche  bequemten. 

Astpns  Werk  ist  so  angelegt,  daß  es  S.  1 — 358  den 
alten  Shinto  beschreibt  und  nur  in  einem  Schlußkapitel,  über- 
schrieben "Decay  of  Shinto.  Its  modern  sects",  die  weitere 
Geschichte  der  alten  Religion  kurz  zusammenfaßt.  Die  letztere 
wird  hier  als  Spielball  in  den  Händen  des  von  China  her 
übernommenen  Buddhismus  und  Konfuzianismus  gezeigt.  Ganz 
neu  und  dabei  ziemlich  zweifelhaft  ist  mir  die  S.  361  jeden- 
falls von  einer  japanischen  Autorität  übernommene  Erklärung 
des  Namens  Ryöbu  [=  beide  Teile]  Shinto,  womit  eine  der 
buddhistisch-shintoistischen  Mischformen  bezeichnet  wird:  „Its 
Buddhistic    character    is  indicated    by   its    name   which   means 

'  Shinto  (The  Way  of  the  Qods).  By  W.  G.  Aston,  C.  M.  G.,  D. 
Lit.  (Longmans,  Green,  and  Co.,  London  1905). 

*  Transact.  and  Proceed.  of  the  Japan  Soc.  London  Vol.  VII,  part  3, 
p.  840  flf. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  381 

^'two  parts",  the  two  parts  bemg  the  two  mj-stic  worlds  of 
Buddhism,  namely  the  Kongökai  and  the  Taizökai/*'  Man 
wird  gut  tun,  diese  Erklärung  vorläufig  vor  genauerer  Unter- 
suchung nicht  weiter  zu  verbreiten.  Nicht  zu  übersehen  sind 
in  diesem  Schlußkapitel  die  S.  367 — 372  mitgeteilten  Auszüge 
aus  einem  in  der  Zeit  von  c.  1200 — 1628  entstandenen,  1669 
zuerst  veröffentlichten  Buche,  die  erkennen  lassen,  wie  Shinto 
sich  von  Buddhismus  und  Konfuzianismus  doch  auch  mit 
reineren  und  tieferen  Gedanken  und  Aspirationen  befruchten 
ließ.  Die  modernen  Sekten,  die  Aston  nur  nennt,  ohne  näher 
auf  sie  einzugehen,  sind  Remmonkyö*  und  Tenrikyö^,  beide 
von  ungebildeten  Frauen  gestiftet.  Mitteilenswert  ist  Astons 
Schlußurteil  (p.  376 f.):  „The  official  cult  of  the  present  day 
is  substantially  the  "Pure  Shinto"  of  Motoori  and  Hirata. 
But  it  has  little  vitality.  A  rudimentary  religion  of  this  kind 
is  quite  inadequate  for  the  spiritual  sustenance  of  a  nation 
which  in  these  latter  davs  has  raised  itself  to  so  high  a  pitch 
of  enlightenment  and  civilization.  No  doubt  some  religious 
enthusiasm  is  excited  by  the  great  festivals  of  Ise,  Idzumo, 
and  a  few  other  shrines,  and  by  the  annual  pilgrimages  — 
which,  however,  have  other  raisons  d'etre.  The  reverence 
paid  to  the  Mikado  is  not  devoid  of  a  religious  quality  which 
has  its  source  in  Shinto.  But  the  main  stream  of  Japanese 
piety  has  cut  out  for  itself  new  Channels.  It  has  tumed  to 
Buddhism,  which,  at  the  time  of  the  Restoration  in  a 
languishing  state,  is  now  showing  signs  of  renewed  life  and 
activity.  Another  and  still  more  formidable  rival  has  appeared, 
to  whose  progress,  daily  increasing  in  momentum,  what  limit 
shall  be  prescribed?  As  a  national  religion,  Shinto  is  Eilmost 
extinct,     But   it   will   long   continue    to    survive   in  folk-lore 


*  Eine   Beschreibung   des    Remmonkyo  habe  ich  in  der  Zeitschrift 
für  Missionsk.  u.  BeUgtonsw.  Jahrg.  XVni,  S.  73 — 81  mitgeteilt. 

*  Siehe  ebenda,  Jahrg.  XXTT,  S.  196—210. 


382  Hans  Haas 

and  custom,  aad  in  that  lively  sensibility  to  the  divine  in  its 
simpler  and  more  material  aspects  which  characterizes  the 
people  of  Japan." 

Lebhaft  bringt  einem  das  Studium  der  ersten  13  Kapitel 
des  Astonschen  Werkes  zum  Bewußtsein,  als  ein  wie  großer 
Verlust  es  zu  beklagen  wäre,  wäre  Aston  nicht  mehr  dazu 
gekommen,  uns  die  Resultate  seiner  jahrzehntelangen  Quellen- 
studien zu  weiterer  Verwertung  im  Dienste  der  vergleichenden 
Religionswissenschaft  zu  unterbreiten,  wie  er  es  in  diesem  ge- 
diegenen Buche  getan  hat.  Die  Aufgabe,  die  er  sich  selbst 
gesetzt,  umschreibt  er  selbst  (p.  I):  "It  is  intended,  primarily 
and  chiefly,  as  a  repertory  of  the  more  significant  facts  of 
Shinto  for  the  use  of  scientific  students  of  religion.  It  also 
comprises  an  outline  theory  of  the  origin  and  earlier  stages 
of  the  development  of  religion,  prepared  with  special  reference 
to  the  Shinto  evidence."  Kritischer  Einwendungen  wird  sich 
der  Autor  nur  zu  versehen  haben,  insoweit  er  in  seinem 
Werke  sich  die  Ausführung  der  zweiten  dieser  Aufgaben  an- 
gelegen sein  läßt.  Vor  den  bedenklichsten  Irrwegen  war  er 
von  vornherein  dadurch  geschützt,  daß  ihm  die  Religion  als  eine 
normale  Funktion,  nicht  als  ein  Krankheitsphänomen  der  mensch- 
lichen Natur  gilt  Dazu  kam  ihm  der  aus  manchem  ein- 
fließenden Urteil  allgemeiner  Art  sprechende  common  sense 
des  Engländers  zu  statten,  der,  oft  in  erfreulicher  Frische, 
mit  erkünstelten  Tüfteleien  auch  anerkannter  Religionsforscher 
aufräumt.  Vielfach  ist  das  Buch  durchzogen  von  Polemik 
gegen  Herbert  Spencer.  Als  religions  wissenschaftliche 
Autoritäten,  auf  die  er  sich  gestützt,  nennt  er  selbst  Reville, 
Gebiet  d'Alviella  und  Pfleiderer,  während  er  sich  in 
anthropologischen  Dingen  besonders  Tylors  Primitive  Culture 
und  Frazers  Golden  Bough  als  Wegweiser  dienen  läßt. 

Von  den  zwei  Wegen,  auf  denen  die  Menschen  je  und  je 
zur  Gottesvorstellung  gelangt  sind,  dem  der  Personifikation 
von    elementaren   Mächten   und   Naturobjekten    und    dem    der 


Religion  der  Japaner  1905—1908  383 

Deifikation  von  Menschen  und  anderen  Wesen,  war  es  in 
Japan  nach  Aston  ganz  überwiegend  der  erste,  der  begangen 
wurde,  ohne  daß  es  freilich  mit  der  Personifikation  zu  plasti- 
schen Gestalten  gekommen  wäre.  „None  of  the  Dii  majores 
of  the  more  ancient  Shinto  are  deified  individual  men,  and 
although  it  is  highlj  probable  that  some  of  the  inferior  mythical 
personages  were  originally  human  beings,  I  am  unable  to 
point  to  a  case  of  this  kind  which  rests  on  anvthing  more 
than  conjecture"  (p.  177).  Nachdem  Aston  die  alten  religiösen 
Mythen  verfolgt  hat,  bis  diese  mit  der  Geschichte  Jimmus,  des 
ersten  Kaisers,  in  die  Sagen  mit  historischem  Kern  übergehen, 
bespricht  er  das  Pantheon  (S.  186 — 199  auch  den  Phallizismus, 
der  im  Shinto  eine  große  Rolle  spielt),  dann  Priesterschaft  und 
kultische  Praxis.  Anfechtbar  erscheint  mir,  was  in  dem  'Morals, 
Law  and  Purity'  überschriebenen  Kapitel  über  das  Fehlen 
jeder  direkten  Morallehre  in  den  heiligen  Shintoschriften  gesagt 
ist.  In  dem  der  Besprechung  des  Zeremoniells  gewidmeten 
Abschnitt  werden  außer  den  im  Engishiki  gesammelten  Norito 
(liturg.  Präfationen)  nach  einer  neueren  Sammlung,  dem  Norito 
Bunrei,  auch  solche  späteren  Datums  mitgeteilt.  Unter  ihnen 
zuerst  finden  sich  solche,  die  an  verstorbene  Mikados  gerichtet 
sind,  eine  Praxis,  die  ohne  Zweifel  auf  chinesisches  Vorbild 
zurückgeht.  Das  pathologische  Element  der  Religion  endlich 
wird  in  dem  Kapitel  'Magic,  Divination,  Inspiration'  behandelt. 
Nicht  zu  verwechseln  ist  mit  dem  besprochenen  wissenschaft- 
lichen Werke  ein  populäres  Büchlein  As  ton  s  gleichen  Titels, 
das  eine  Nummer  der  Serie  'Religions  Ancient  and  Modem' 
bildet.^  Und  erwähnt  wurde  bereits  (s.  o.  S.  380,  Anm.  2)  der  in 
den  Transactions  and  Proceedings  der  Asiatischen  Gesellschaft 
London  im  gleichen  Jahre  (1907)  veröfi'entlichte  Vortrag,  in 
dem  er  seine  Forschungsergebnisse  noch  knapper  zusammen- 
gefaßt hat.     Eine  Fußnote  in  letzterem  (a.  a.  0.  S.  341)   sagt: 

^  W.  Gr.  Aston  Shinto,   the   ancient   religion   of  Japan.     London, 
Axcliibald  Constable  &  Co.,  1907. 


384  Hans  Haas 

„Since  this  paper  was  read,  M.  Michel  Revon's  important 
^Shinntoisme'  has  appeared".  Hiermit  ist  auf  das  umfang- 
reichste  und  eingehendste  Werk  über  Shinto  verwiesen,  das 
wir  bis  jetzt  besitzen^,  und  zugleich  auch  schon  ein  günstiges 
Vorurteil  für  dasselbe  erweckt.  Revon  (Ancien  professeur  ä 
la  Faculte  de  droit  de  Tokio,  ancien  Conseiller-legiste  du 
Gouvernement  japonais,  charge  du  cours  d'Histoire  des  civili- 
sations  d'Extreme- Orient  ä  l'Universite  de  Paris)  schöpft  nicht 
wie  Aston  direkt  aus  den  japanischen  Texten.  Er  ist  darauf 
angewiesen,  sich  auf  dessen,  wie  auf  Satows,  Chamberlains 
und  Florenz'  Übersetzungen  und  Quellenstudien  zu  stützen. 
Aber  eben  das,  daß  er  sich  mit  den  Arbeiten  dieser  Forscher 
aufs  gründlichste  vertraut  gemacht  hat,  hat  ihn  befähigt,  selbst 
eine  Darstellung  zu  liefern,  die  die  Anerkennung  Astons  ge- 
funden. Was  dem  scharfsinnigen  Autor  ein  prae  vor  seinen 
Autoritäten  und  den  Mut,  sich  oft,  und  nicht  selten  mit  guten 
Einwendungen,  gegen  sie  zu  kehren,  gibt,  ist  eine  diesen  abgehende 
Belesenheit  in  der  sonstigen  religionsgeschichtlichen  Literatur, 
besonders  eine  große  Vertrautheit  mit  anderen  primitiven 
Kulten.  Eine  leichte  Lektüre  ist  sein  Buch  nicht.  Die  viel- 
fach unnötig  ins  Detail  gehenden  Fußnoten  nehmen  mehr  Raum 
ein  als  der  Text.  Man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  er- 
wehren, der  Autor  setzte  seinen  Stolz  darein,  ein  möglichst 
dickleibiges  Werk  zustande  zu  bringen,  ein  Bemühen,  das  ihm 
gelingt.  Die  ganze  Arbeit,  soweit  sie  von  ihm  gefördert  ist, 
war  zuerst  in  der  Revue  de  l'Histoire  des  Religions  erschienen.^ 
Zu  der  Buchausgabe  wurde  der  alte  Typensatz  verwendet. 
Benutzer  derselben  werden  gut  tun,  von  Anfang  an  das  S.  429 
vom  Autor  vermerkte  bedauerliche  Versehen,   das   dem  Setzer 


*  Michel  Revon  Le  Shinntoisme.  Tome  premier:  Les  Bieux  du 
Shinntö.    Paris,  Ernest  Leroux.    1907. 

*  Tome  49,  S.  1— 33,  127—163,  306  —  326;  T.  60,  S.  149— 199,  319 
bis  859;  T.  61,  S.  876  — 392;  T.  62,  S.  33—77;  T.  64,  S.  163  — 217,  327 
bis  878;  T.  66,  S.  61—110. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  38Ö 

und  Korrektor  dabei  unterlaufen  ist,  zu  beachten.  Was  der 
Buchausgabe  ihren  besonderen  Wert  gibt,  ist  der  ihr  bei- 
gegebene sorgfältig  bearbeitete  Index.  Ganz  überflüssig  da- 
gegen war  die  Beigabe  des  Appendice  S.  393  —  428,  die  wohl 
hauptsächlich  den  teueren  Preis  des  Bandes  bedingt.  Es  ist 
nicht  einzusehen,  wem  mit  dem  Abdruck  der  drei  alten  Texte 
in  der  ursprünglichen  chinesischen  Schrift,  in  Motooris  Kata- 
kana- Lesung  und  in  Revons  französischer  Transskription,  ge- 
dient sein  soll.  Zu  bedauern  ist,  daß  Revon  in  der  Schreibung 
japanischer  Namen  seine  eigenen  Wege  ging,  anstatt  sich  der 
endlich  bei  den  Japanologen  allgemein  üblich  gewordenen 
Romaji- Transskription  zu  bedienen.  Nichtfranzösischen  Be- 
nutzern des  Werks  wird  mit  der  Erinnerung  gedient  sein,  daß 
die  Namen  darin  durchweg  in  französischer  Transliteration 
stehen.  Eine  Inkonsequenz  ist  es  wieder,  wenn  die  Sonnen- 
göttin, die  in  dieser  Schreibung  Amaterasou  (statt  Amaterasu) 
heißt,  gewöhnlich  Amateras  geschrieben  wird. 

Was  sich  der  Verfasser  als  Aufgabe  gesetzt,  sagt  er  selbst 
deutlich  S.  12 — 17:  „Le  shinntoisme  est  donc  une  religion 
reguliere,  d'un  type  conna  et  general,  malgre  les  traits  origi- 
naux  qu'y  imprima  le  genie  particulier  de  la  race;  et  c'est  une 
religion  d'autant  plus  interessante  ä  approfondir  que,  si  son 
cöte  national  nous  laisse  penetrer  l'esprit  de  la  civilisation 
japonaise,  son  cöte  universel,  une  fois  eclaire  a  l'aide  de  com- 
paraisons  scientifiques,  peut  ä  son  tour  jeter  quelque  lumiere 
sur  l'histoire  generale  des  religions.  C'est  ce  que  nous  allons 
eprouver  en  etudiant,  d'une  maniere  systematique,  d'abord  le 
cöte  theorique,  puis  le  cöte  pratique  de  cette  religion  primitive, 
c'est -ä-dire,  d'une  part,  les  dieux  du  Shinntö,  et  d'autre  part, 
le  culte  shinntoiste."  Der  vorliegende  476  Seiten  starke,  als 
Tome  premier  bezeichnete  Band  erledigt  einstweilen  nur  den 
ersten  Teil  dieser  Aufgabe:  „Les  Dieux  du  Shinnto".  Er  be- 
ginnt mit  einer  Betrachtung  des  Ursprungs  der  Gottheiten, 
d.  h.  er  untersucht,   in  welcher  Weise   bei  den  alten  Japanern 

AtcUt  f.  Beligionswissenschaft  XIII  25 


386  Hans  Haas 

psychologisch  der  Glaube  an  höhere  Wesen  entstand  (S.  17 
bis  59).  Die  Ergebnisse,  zu  denen  er  dabei  kommt,  decken 
sich  mit  denen  Aston s.  Der  ganze  Inhalt  des  umfangreichen 
2.  Kapitels  (Le  Monde  des  Dieux,  S.  59—284)  mit  den  Unter- 
abschnitten 1.  Dieux  de  la  nature,  2.  Dieux -esprits,  3.  Synthese 
mythique  stellt  sich  gewissermaßen  dar  als  eine  nähere  Aus- 
führung der  kurzen  Sätze,  mit  denen  Florenz  (a.  a.  0.  S.  194) 
den  Tatbestand  skizziert:  „Zu  den  ursprünglicheren  Natur- 
gottheiten, als  da  sind:  eine  Sonnengöttin,  ein  Mondgott, 
Sterngott,  Windgötter,  Gott  des  Sturmes  und  der  Unterwelt, 
Regengötter,  Donnergötter,  Wassergottheiten,  Flußgötter,  Meer- 
götter, Berggötter,  Baumgötter,  Erdgottheiten,  ein  Feuergott, 
eine  Nahrungsgöttin  usw.,  treten  vergöttlich te  Heroen,  Häupt- 
linge und  vornehmere  oder  geringere  Vorfahren  überhaupt. 
Die  mythologische  Spekulation  geht  dann  noch  einen  Schritt 
weiter  und  schafft  eine  innige  Verbindung  zwischen  beiden 
Göttergruppen,  indem  sie  die  Hauptfiguren  der  letzteren 
genealogisch  mit  den  Haupt  Vertretern  der  ersteren  in  Zusammen- 
hang bringt."  Nimmt  man  sodann  die  Worte,  mit  denen 
Revon  das  3.  Kapitel  beginnt  (S.  285),  so  ist  auch  der  übrige 
Gehalt  des  Bandes  angedeutet:  „Nous  venons  d'etudier  toute 
la  mythologie  japonaise,  avec  ses  personnages  divins;  nous 
avons  analyse  le  monde  des  dieux,  puis  reconstitue  sa  synthese; 
et  par  suite,  ayant  vu  sans  cesse  les  divers  acteurs  du  drame 
en  mouvement,  dans  le  decor  meme  oü  ils  s'agitent,  nous 
connaissons  dejä,  par  mille  details  du  recit,  leur  nature  intime 
et  leur  sejour,  leur  histoire  et  leur  genre  de  vie.  II  ne  nous 
raste  plus  qu'ä  preciser  ces  points  essentiels  d'une  maniere 
plus  systematique."  Diese  Abschnitte  sind  besonders  reich  an 
treffenden  Beobachtungen  und  anregenden  Gedanken.  Eben 
diese  Fülle  ist  es,  die  es  unmöglich  macht,  in  einem  gedrängten 
Referate  näher  auf  sie  einzugehen.  Das  kurze  La  Fin  des 
Dieux  überschriebene  Schlußkapitel  zeigt,  wie  die  primitive 
Herrlichkeit    der    alten   japanischen   Religion   durch    das    Ein- 


Religion  der  Japaner  1905—1908  387 

drino-en  des  ikr  xmendlich  überlegenen  buddhistischen  Religions- 
systems  nicht  zwar  vernichtet,  wohl  aber  verschüchtert  und 
in  den  Hintergrund  gedrängt  wurde,  aus  dem  man  sie  dann 
erst  im  18.  und  neuerdings  im  19.  Jahrhundert  wieder  hervor- 
zuholen versuchte.  Daß  trotz  des  unleugbaren  Fiaskos  dieser 
politisch  oder  dynastisch  interessierten  Bemühungen  Shinto 
auch  heute  keineswegs  tot  ist,  wird  von  Revon  nicht  verkannt. 

Läßt  er  in  seinem  Werke  keine  Gelegenheit  vorübergehen, 
im  Gegensatz  besonders  gegen  Chamberlain,  Aston  und 
Florenz  die  Entlehnung  shintoistischer  Mythen  usw.  von  China 
in  Abrede  zu  stellen,  so  unternahm  es,  was  doch  noch  an- 
gemerkt sei,  E.  K.  Parker  in  seinem  letzten  Buche,  einem 
Bande  von  Murrays  Imperial  Library  of  Standard  Works*,  den 
Nachweis  zu  führen,  daß  die  ganze  sogenannte  japanische 
Religion  auf  dem  Yih-king  und  dem  Li-ki,  d.  i.  dem  kanonischen 
Buch  der  Wandlungen  und  den  Aufzeichnungen  über  die  Riten, 
sowie  auf  Laotszes  Lehre  vom  Tao  aufgebaut  sei.  Was  der 
mit  chinesischen  Verhältnissen  vertraute  Autor  in  einem  Buche, 
in  dem  ein  Kapitel  über  Japans  Shinto  überhaupt  nichts  zu 
suchen  hat  und  von  niemandem  gesucht  werden  wird,  über 
diesen  an  Gedanken  zum  besten  zu  geben  bedauerlicherweise 
sich  hat  verleiten  lassen,  wäre  etwa  vor  35  Jahren  entschuld- 
bar gewesen.  Auch  andere  Partien  des  Buches  legen  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  sein  Verfasser  Jahrzehnte  alte  Manuskripte 
mit  hat  in  sein  Standand  work  drucken  lassen,  ohne  sie  'up 
to  date'  zu  bringen,  die  früheste  Erwähnung  des  Shinto  in 
der  europäischen  Literatur  findet  er  in  einem  Weihnacht  1868 
datierten  Briefe  eines  Rev.  J.  Goble  an  den   Chinese  Recorder! 

Nichts  zu  lernen  ist  für  Shinto  auch  aus  Mazelieres 
Geschichte  Japans^,  einem    sonst  verdienstlichen  Werke,    von 

^  China  and  Eeligion.  Bj  Edward  Harper  Parker,  M.  A.,  Pro- 
fessor of  Chinese  at  the  Victoria  Unirersity,  Manchester.     London  1906. 

*  Mi»  de  la  Mazeliere  Le  Japon,  Histoire  et  dvilisation.  3  Bde. 
I.  Le  Japon  Ancien;  IL  Le  Japon  Feodal;  in.  Le  Japon  des  Tokugawa. 
Paris,  Plon-Nourrit  &  Co. 

26* 


388  Hans  Haas 

welchem  1907  gleich  die  drei  ersten  starken  Bände  erschienen 
sind.  Er  meint  (Tome  I,  p.  128):  „II  serait  impossible  de 
distinguer  dans  le  shinto  ce  qui  est  vraiment  ancien  des 
emprunts  faits  au  bouddhisme  ou  au  confucianisme  et  des 
reformes  accomplies  par  les  archeologues  romantiques."  Ich 
meine,  gerade  das  wäre  heute  ziemlich  säuberlich  klar  gelegt. 
Treffend  und  gefällig  finde  ich  aber  Worte,  die  auf  der  gleichen 
Seite  wie  dieser  anfechtbare  Passus  stehen:  „Le  culte  des  kami 
rappelle  l'ancienne  religion  des  Grecs  et  des  Romains.  Si  le 
Japonais  lettre  n'a  plus  pour  les  kami  que  le  mepris  athee  de 
Lucrece,  le  respect  officiel  d'Horace  ou  l'attachement  poetique 
de  Virgile,  le  peuple  croit  en  eux  comme  le  paysan  du  Latium 
croyait  en  ses  dieux  au  temps  d' Auguste." 

Buddhismus 

Sind  wir  über  Shinto  nachgerade  so  genau  unterrichtet  wie 
über  wenige  andere  primitive  Religionen,  so  wird  uns  auch  neuer- 
dings mehr  und  mehr  Aufklärung  zu  teil  über  die  besondere 
Ausgestaltung  des  Buddhismus  in  Japan,  der  hier  seit  dem 
6.  Jahrhundert  langsam,  aber  unaufhaltsam  an  die  Siielle  des 
altnationalen  Kults  getreten  ist.  Wie  diesen,  so  hat  auch  den 
japanischen  Buddhismus  Lange  in  der  dritten  Auflage  von 
Chantepie  de  la  Saussaye's  Religionsgeschichte  behandelt.*  Be- 
züglich seiner  Darstellung  darf  ich  mich  wieder  auf  meine  Be- 
sprechung in  der  Zeitschrift  für  Missionskunde  und  Religions- 
wissenschaft beziehen.^  Knapper  noch  gehalten,  aber  zuver- 
lässig in  dem,  was  sie  bietet  (Historischer  Überblick,  die 
äußeren  Einrichtungen,  die  göttlichen  Wesen,  hervorragende 
Heiligtümer,  die  Mönche,  die  japanischen  Sekten,  Buddhismus 
und  Volksleben)  ist  die  Skizze,  die  sich  in  Hackmanns  auch 
sonst   sehr   solidem   Werkchen   über   den    Buddhismus'  findet, 

1  S.  118  —  141.     S.  0.  S.  877  Anm.  1.  *  Jahrg.  XX,  S.'  359  —  367. 

•  Lizentiat  H.  Hackmann-London  Der  Buddhismus.  Iteligions- 
geschichtliche  Völksbücher.    Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1906. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  389 

das  unter  dem  Titel  „Buddhism  as  Religion:  Its  liistorical 
development  and  present-day  condition  in  all  its  countrres'^  nun 
soeben  auch  erweitert  in  Englisch  erschienen  ist.  Ausführlicher 
habe  ich  selbst  in  dem  Hinnebergschen  Sammelwerke^  den 
Buddhismus  in  Japan  nach  selten  seiner  Geschichte,  seiner 
Dogmatik  und  seiner  heutigen  empirischen  Wirklichkeit  zu 
skizzieren  versucht.  Eine  Ergänzung  dieser  Darstellung  bildet 
mein  Schriftchen  über  die  Sekten.'  Unter  dem  Titel  „Anna- 
len  des  japanischen  Buddhismus''  hat  Referent  femer 
nach  japanischen  Vorlagen,  besonders  nach  dem  Sangoku 
Bukkyö-ryakushi  der  beiden  Priester  Shimaji  Mokurai  und 
Ikoma  Tokunö  eine  Aufreihung  der  wichtigsten  Geschichtsdaten 
veröffentlicht.'  Müßten  nicht  aus  Raumgründen  Aufsätze 
unbesprochen  bleiben,  so  wäre  in  diesem  Bericht  einer  ganzen 
Reihe  neuerer  monographischer  Abhandlungen  zu  gedenken, 
die  Anspruch  auf  Beachtung  haben,  weil  sie  uns  manche  neue 
Wissensstoffe  vermitteln.  Es  sind  vor  allem  die  „Mitteilungen" 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Natur-  und  Völkerkunde  Ost- 
asiens, die  Transactions  of  the  Asiatic  Society  of  Japan  und 
die  Quartalschrift  Melanges  Japonais,  alle  drei  in  Tokyo  er- 
scheinend, und  die  Transactions  and  Proceedings  of  the  Japan 
Society  in  London,  in  denen  solche  Arbeiten  von  Wert  zu 
finden  sind.  Ein  größeres  Werk  über  den  japanischen  Buddhis- 
mus, die  Frucht  langjähriger  Studien,  hatte  A.  Lloyd  ge- 
schrieben, „My  bumt  book",  wie  er  es  jetzt  nennt.  Es  ist 
als  Manuskript  mit  der  Druckerei  in  Yokohama,  der  er  es  zum 
Drucken  gegeben,  ein  Raub  der  Flammen  geworden.  Nicht 
entschädigen   kann   uns    für   den  Verlust    ein    kleineres   Buch, 


*  Kultur  der  Gegenwart  (TeU  I,  Abteil.  III,  1),  Die  orientalischen 
Beligionen  S.  221  —  254. 

*  H.  Haas  Die  Sekten  des  japanischen  Buddhismus.   Evang.  Verlag, 
Heidelberg  1905. 

'  „Mitteilungen"  der  deutschen  Gesellschaft  für  Natur-  und  Völker- 
kunde Ostasiens.     Bd  IX,  Teil  3.     Tokyo  1908. 


390  Hans  Haas 

das  er,  wie  er  selber  gesteht,  in  Hast  zusammengestellt^,  be- 
stehend aus  einer  Reihe  von  Aufsätzen,  die  meist  schon  vorher 
da  und  dort  in  Zeitschriften  erschienen  waren.  Durchaus  an- 
regend ist  das  Büchlein,  das  in  seiner  ganzen  Tendenz  ein 
Gegenstück  zu  den  Publikationen  von  A.  Lillie  bildet, 
reich  nicht  nur  an  Aufstellungen,  zu  denen  jeder  kritische 
Leser  seine  Fragezeichen  setzen  wird,  sondern  auch  an 
geradezu  verwegenen  Mutmaßungen  und  kühnen  Phanta- 
sien. Nicht  unterlassen  aber  darf  ich,  auf  Kap.  XI  auf- 
merksam zu  machen  „How  much  did  the  Church  Fathers 
know  about  the  Mahäyäna?"  Hier  trägt  Lloyd  eine  „Ent- 
deckung" vor,  die  es  wert  sein  dürfte,  auf  ihre  Stichhaltigkeit 
geprüft  zu  werden.  Nach  seiner  Hypothese,  die  er  hernach 
auch  auf  dem  Orientalistenkongreß  in  Kopenhagen  und  auf  dem 
letzten  Religionskongreß  in  Oxford  mitgeteilt  hat,  wäre  das 
sog.  Elxai-Buch,  welches  um  220  n.  Chr.  der  Syrer  Alcibiades 
nach  Rom  brachte,  unverkennbar  eine  Schrift  des  Mahäyäna- 
Buddhismus  gewesen.  Die  gnostische  Irrlehre  der  Elkesaiten, 
wie  sie  Hippolyt  in  seinen  Philosophumena  darstellt,  decke 
sich  aufs  genaueste  mit  dessen  Doktrin.  Auch  zwischen  den 
Naassenern  und  der  Amitabhalehre  bestehe  der  engste  Zu- 
sammenhang. 

Dankbar  muß  man  Lloyd  für  eine  andere  Publikation 
sein:  The  Praises  of  Amida^,  die  noch  im  Jahre  ihres 
ersten  Erscheinens  neu  aufgelegt  werden  mußte.  Es  sind 
sieben  neuerdings  gehaltene  Predigten  eines  japanischen  Priesters, 
die  uns  in  englischer  Übersetzung  dargeboten  werden.     In  der 

*  The  wheat  among  the  tares,  Studies  of  Bttddhistn  in  Japan.  A 
collection  of  essays  and  lectures,  giving  an  unsystetnatic  exposition  of 
certain  missionary  proilems  of  the  Far  East,  with  a  plea  for  more 
systematic  research.  By  the  Rev.  A.  Lloyd.  Macmillan  &  Co.,  Ltd., 
London  1908. 

*  The  Praises  of  Amida.  Seven  Buddhist  Sermons  translated  from 
the  Japanese  ofTada  Kanal  (soll  heißen  Eana-e)  by  Rev.  Arthur  Lloyd. 
Tokyo,  Kyöbunkwan.     1907. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  391 

Einleitung  sagt  Lloyd:  „Wie  ich  meine  Übersetzungen  Ton 
Rev.  K.  Tadas  Predigten  lese,  wollen  sie  mir  selber  dermaßen 
christlich  klingen,  daß  ichs  yerstünde,  wenn  andere  Leser  ver- 
sucht wären  zu  argwöhnen,  ich  hätte  sie  für  eigene  Zwecke 
selbst  zurecht  gemacht  und  es  seien  gar  keine  wirklichen 
Übersetzungen.  Die  Ausgabe  Ton  ein  paar  Sen  für  das  Original 
(es  betitelt  sich  Shudö  Köwa  und  ist  verlegt  von  Bummeido 
in  Tokyo)  wird  jedermann,  der  Japanisch  versteht,  zeigen,  daß 
meine  Übersetzung  bei  allen  Mängeln,  die  ihr  anhaften  mögen, 
doch  in  der  Hauptsache  jedenfalls  die  Gedanken  des  Originals 
getreulich  wiedergibt."  Der  jedem  Leser  auffallende  christliche 
Klang  dieser  buddhistischen  Predigten  erklärt  sich  daraus,  daß 
der  Priester  Tada  der  Jödo-shü  oder  Sukhävati- Sekte  (in 
Japan  begründet  1174)  angehört,  nach  deren  ganz  und  gar 
unbuddhistischer  Lehre  der  sündige  Mensch  sola  fide,  nur 
durch  den  Glauben  an  die  Heilandsmacht  eines  gnädigen 
Vatergottes,  nicht  durch  eigene  Vernunft  oder  Kraft  selig  zu 
werden  hoffen  kann. 

Ganz  anders  gestimmt  sind  die  ebenfalls  ins  Englische 
übersetzten  Predigten  einer  anderen  1906  erschienenen  Samm- 
lung von  Soyen  Shaku.^  Ihr  Autor  ist  ein  höherer  Priester 
der  Zen-shü,  derjenigen  Schule  des  Buddhismus  des  Nordens, 
die  der  Lehre  des  Stifters  verhältnismäßig  noch  am  treuesten 
geblieben  ist.  Was  diese  mit  wenigen  Ausnahmen  in  Amerika 
gehaltenen  Ansprachen  bieten,  ist  sublime,  von  allem  buddhi- 
stischen Aberglauben  geläuterte  Religionsphilosophie  und 
ethische  Kultur,  die  auch  dem  gebildeten  Christen  Achtung 
abzwingt.  Unverfälschten  Buddhismus  freilich,  einen  Buddhis- 
mus heißt  das,  der  die  Approbation  Gotamas  finden  würde, 
predigt   auch  Shaku   mit   nichten.     Über   den  Meister   geht  er 

'■  Sermons  of  o  Buddhist  Ahbot,  addresses  on  religious  subjects  hy 
The  Et.  Bev.  Soyen  Shaku,  Lord  Abbat  of  Engdkuji  and  Kenchoji, 
Kamakura,  Japan.  Translated  from  the  Japanese  Ms.  by  Daisetz 
Teitaro  Suzuki.     Chicago,  Open  Court  Publ.  Co.  1906. 


392  Hans  Haas 

zurück  auf  die  tiefsinnige  Philosophie  von  dem  All -Einen,  das 
sich  ihm  als  die  absolute  Weisheit  und  als  unendliche  Liebe 
.offenbart,  wie  ja  der  Mahayanismus  überhaupt  wieder  in  die 
Welt  des  Unerkennbaren,  Metaphysischen  eindringt,  an  deren 
Grenzen  Buddha  selbst  Halt  gemacht  und  den  Seinen  Halt  zu 
machen  geheißen.  Dazu  ist  das  geflissentliche  Streben  bei 
Shaku  unverkennbar,  seine  Gedanken,  die  eben  damit  schon 
christlicher  Religionsphilosophie  zuneigen,  auch  in  eine  Ter- 
minologie zu  fassen,  die  seinen  amerikanischen  christlichen 
Hörern  vertraut  und  verständlich  ist.  Sein  gelehrter  Lands- 
mann, der  ihm  bei  der  Erfüllung  seiner  buddhistischen  Mission 
in  Amerika  als  Dolmetsch  diente,  der  Assistent  von  Paul 
Gar  US,  hat  dem  Predigtbande,  der  ihm  auch  sonst  nicht  wenig 
verdanken  wird,  aus  seinem  eigenen  eine  englische  Übersetzung 
des  Sutra  der  42  Teile  beigegeben,  dem  der  Prediger  vielfach 
seine  Texte  entnommen.  Eine  Vergleichung  derselben  mit  der 
älteren  englischen  von  Beal  in  A  Catena  dargebotenen  (die 
französische  von  Fe  er  ist  mir  hier  nicht  zugänglich  gewesen) 
zeigt  mir  starke  Abweichungen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  auf 
Suzuki,  von  dem  wir  schon  eine  Übersetzung  von  A9vaghosha's 
K^i-sin-lun  (von  Weckung  des  Glaubens),  einem  der  wichtig- 
sten Texte  des  chinesischen  und  japanischen  Buddhismus  haben, 
mehr  Verlaß  ist  als  auf  Beal.  Immerhin  wäre  zu  wünschen, 
daß  sich  noch  einmal  ein  Sinologe,  der  auch  mit  dem  Buddhis- 
mus vertraut  ist,  an  die  gleiche  Arbeit  machte. 

Eine  Fülle  neuen  Materials  bietet  in  übersichtlicher 
Gliederung  und  in  gefälliger  Darstellung  Suzuki  in  einem 
eigenen  Werke  über  Mahäyäna^,  das  ich  nicht  anstehe,  als  die 
wertvollste  Bereicherung  zu  rühmen,  die  unserer  noch  sehr 
spärlichen  Literatur  über  den  japanischen  Buddhismus  in  den 
letzten  Jahren  geworden  ist.     Nach  dem  Vorwort  war  es  dem 


^    Outlines    of   Mdhdyuna    Buddhism.      By    Daisetz    Teitaro 
Suzuki.     London,  Luzae  &  Co.,  1907. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  393 

Verfasser  in  erster  Linie  darum  zu  tun,  „to  refute  the  many 
wrong  opinions  which  are  entertained  by  Western  critics  con- 
cerning  the  fundamental  teachings  of  Mahäyäna  Buddhism". 
In  solcher  Polemik  geht  sein  Werk  jedoch  keineswegs  auf. 
Es  bietet  auf  seinen  420  Seiten  vielmehr  einen  hochachtbaren, 
hier  zum  erstenmal  unternommenen  Versuch,  den  tieferen 
Ideengehalt  des  Mahäyäna  —  unter  stillschweigender  Aus- 
scheidung aller  gröberen,  massiveren  Glaubens  Vorstellungen  — 
systematisch  darzulegen.  Geist  und  Sinn,  in  dem  der  Verfasser 
an  diese  Aufgabe  herangetreten,  deutet  dem  Leser  der  Satz  an: 
„Those  who  are  free  from  sectarian  biases  will  admit  without 
hesitation  that  there  is  but  one  true  religion  which  may 
assume  various  forms  according  to  circumstances."  Als  eine 
Religion  im  Vollsinn  des  Wortes,  die  er  ja  tatsächlich  ist, 
wird  der  Mahayanismus  von  ihm  zur  Geltung  gebracht.  Es 
ist  auffällig,  daß  ihm  dabei  selbst  gar  nicht  zum  Bewußtsein 
kommt,  wie  schon  damit  kritischem  Urteil  der  weite  Abstand 
dieses  Buddhismus  von  Gotama  Buddhas  Lehre  evident  wird. 
Ihm  geht  er  so  gut  wie  der  Palibuddhismus  auf  die  Ver- 
kündigung des  Meisters  zurück.  Seine  ersten  Anfänge  findet 
er  (s.  S.  251)  schon  in  der  Mahäsangikaschule.  „Let  us  remark 
that  as  Buddha  did  not  leave  any  document  himself  embodying 
his  whole  system,  there  sprung  up  soon  after  bis  departure 
several  schools  explaining  the  Master's  view  in  divers  ways, 
each  claiming  the  legitimate  interpretation;  that  in  view  of 
this  fact  it  is  illogical  to  conclude  that  Southern  Buddhism  is 
the  authoritative  representation  par  excellence  of  original 
Buddhism,  while  the  Eastem  or  the  Northern  is  a  mere  de- 
generation"  (S.348f.).  Die  Paliliteratur,  aus  der  die  europäischen 
Buddhologen  hauptsächlich  die  genuine  Lehre  Buddhas  erheben, 
repräsentiert  ihm  nichts  weiter  als  die  Ansichten  einer  einzigen 
der  vielen  Sekten,  die  sich  bald  nach  Buddhas  Nirwana  er- 
hoben (S.  49).  Nun,  man  mag  Suzuki  allenfalls  einräumen: 
„Hinayanism   and    Mahäyanism   are   no   more   than   two   main 


394  Hans  Haas 

issues  of  one  oiiginal  source"  (S.  4);  hinter  den  Satz:  „The 
difference  between  them  is  not  radical  or  qualitative"  (ibid.) 
wird  man  erst  recht  geneigt  sein,  ein  Fragezeichen  zu  setzen, 
nachdem  man  sich  vom  Verfasser  das  Mahäyänasystem  hat 
vorführen  lassen.  Damit  ist  noch  kein  Werturteil  zuungunsten 
des  Mahayanismus  gefällt.  Im  Gegenteil,  eben  daß  er  in 
vieler  Hinsicht  so  ganz  andere  Wege  als  die  vom  Stifter  ge- 
wiesenen eingeschlagen  und  durch  (^akjamuni  dem  Drange  des 
menschlichen  Geistes,  dem  einen  Weltgrund  nachzudenken  und 
in  der  Vereinigung  mit  ihm  höchste  Befriedigung  zu  suchen, 
nicht  hat  wehren  lassen,  eben  das  erhebt  ihn  über  Buddhas 
Agnostizismus.  Seine  Spekulationen  fallen  mit  dem  Tiefsten, 
was  auch  andere  orientalische  (cf  Laotsze),  und  was  abend- 
ländische Denker  und  Mystiker  ergrübelt  und  innerlich  erschaut 
haben,  in  eins  zusammen.  Nur  daß  nun  nicht  etwa  jemand 
auf  den  Glauben  komme,  der  Mahayanismus,  den  ihn  Suzuki 
kennen  lehrt,  lasse  sich  nun  auch  wirklich  in  Japan  wie  in 
China  finden  außer  bei  wenigen  auserlesenen  Geistern,  wie 
z.  B.  dem  Abt  von  Kamakura,  der  in  Amerika  als  Prediger 
Aufsehen  erregen  konnte,  und  da  und  dort  —  zusammen  mit 
viel  anders  geartetem  Beiwerk  —  im  chinesischen  Tripitaka- 
kanon,  aus  dem  er  herausdestilliert  ist.  Und  davon  gar  nicht 
zu  reden,  daß  der  Buddhismus,  wie  er  im  Volke  lebt,  kaum 
in  etwas  an  diesen  Mahayanismus  erinnert,  schweigt  Suzuki 
fast  ganz  davon,  daß  der  Buddhismus  der  Sukhävatisekten  — 
und  diesem  zählen  die  meisten  Millionen  der  japanischen 
Buddhisten  als  Bekenner  zu  —  selbst  in  seiner  besten  Literatur 
etwas  sehr  viel  anderes  ist. 

Koufuziaiiisiiius 

Mehr  oder  weniger  religiöse  Färbung  trug  in  Japan,  seit 
es  hier  von  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  an  und  noch  mehr  in 
der  Tokugawazeit  (1603  —  1862)  wirklich  wirksam  war,  auch  das 
zweite    ausländische    Gedankensystem,    der    von    China    über- 


Religion  der  Japaner  1905—1908  395 

nommene  Konfuzianismus.  Dies  und  der  Umstand,  daß  er  sich 
vielfach  mit  dem  Buddhismus  und  Shintoismus  wie  vorher 
schon  in  China  mit  dem  Taoismus  verschmolz,  und  daß  der 
Buddhismus  hinwiederum  seine  Moral  in  Japan  teilweise  auf 
konfuzianische  Grundsätze  basierte,  mag  es  rechtfertigen,  wenn 
zum  Schlüsse  hier  wenigstens  auch  noch  auf  die  paar  neueren 
Arbeiten  hingewiesen  wird,  die  sich  auf  den  Konfuzianismus 
in  Japan  beziehen.  In  knapper  Darstellung  orientiert  über  diesen 
der  Philosophieprofessor  der  Kaiserlichen  Universität  Tokyo.* 
Da  seine  Skizze  ungefähr  nur  wiedergibt,  was  von  ihm  schon 
dem  Internationalen  Orientalistenkongreß  in  Paris  1897  Sur  le 
developpement  des  idees  philosophiques  au  Japon  avant  l'intro- 
duction  de  la  civilisation  europeenne  dargeboten  wurde  ^,  er- 
übrigt sich  dem  Referenten  ein  näheres  Eingehen  auf  dieselbe. 
Angemerkt  sei  nur,  um  etwaigen  Interessenten  langes  vergebKches 
Suchen  zu  ersparen,  daß  der  in  Berlin  studierende  Landsmann 
Inouyes,  von  dem  sich  Hinneberg  die  vom  Verfasser  vergessenen 
bibliographischen  Angaben  über  den  Konfuzianismus  betreffende 
Literatur  zusammenstellen  ließ,  die  „Mitteilungen"  der  deutschen 
Gesellschaft  für  Natur-  und  Völkerkunde  Ostasiens  mit  den 
Transactions  der  ebenfalls  in  Tokyo  bestehenden  Asiatic  Society 
of  Japan  verwechselt  hat.  In  diesen,  nicht  in  jenen  sind  „die 
wertvollen  Einzeluntersuchungen  zur  Geschichte  der  japanischen 
Philosophie"  erschienen,  die  er  im  Auge  gehabt  haben  wird. 
Diese  Literaturzusammenstellung  gibt  außer  der  eben  korri- 
gierten irrigen  Angabe  nur  die  Titel  zweier  Monographien  von 
Inouye  über  den  Urkonfuzianismus  und  über  die  Philosophie 
der  Wang-Yang-Mingschule  in  Japan.    Vor  diesen  beiden,  die, 

'  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  (Teil  I,  Abteil.  5  von  Hinne- 
bergs 'Kultur  der  Gegentcarf)  S.  100—112:  Die  japanische  Philosophie. 
Ton  Tetsujiro  Inouye. 

*  Deutsche  Übersetzung  von  A.  Gramatzky  Kxirze  Übersicht  über 
die  Enticickhing  der  philosophischen  Ideen  in  Japan.  Berlin  1897;  eng- 
Usch  erschienen  in  Hansei  Zasshi  vol.  XTTT  und  auszugsweise  in  Monist 
vol.  IX,  S.  273  —  281. 


396  Hans  Haas 

weil  in  keine  europäisclie  Sprache  übersetzt,  dem  westlichen 
Leser  doch  nicht  zugänglich  sind,  wäre  das  1905  erschienene 
Werk  Inouyes  über  die  Philosophie  der  Tschu  Hi- Schule  zu 
nennen  gewesen,  dies  darum,  weil  uns  seinen  Inhalt  A.  Lloyd 
ausführlichst  in  Englisch  wiedergegeben  hat.^  Tschu  Hi,  in 
japanischer  Aussprache  Shushi,  ist  der  Hauptvertreter  der 
Philosophie  der  chinesischen  Sungdynastie,  die  schon  am  Anfang 
des  14.  Jahrhunderts  in  Japan  eingeführt,  in  den  ersten  zwei- 
einhalb Jahrhunderten,  in  denen  die  Samiirai  ganz  durch  die 
unaufhörlichen  Bürgerkriege  in  Anspruch  genommen  waren, 
nur  in  den  buddhistischen  Klöstern  von  den  Priestern  studiert 
wurde,  dann  aber  in  der  Tokugawazeit  einen  wirklich  be- 
deutenden Einfluß  ausübte.  Die  echte  Lehre  des  Konfuzius 
stellt  diese  Philosophie  entfernt  nicht  dar.  Des  Meisters  ein- 
fache Sittenlehre  ist  hier  zu  Metaphysik  geworden.  Ihr  traten 
vom  15.  Jahrhundert  an  zwei  andere  Schulen  entgegen,  die  von 
Yamaga  Sokö  geführte,  die  den  Ruf  erhob  „Zurück  zu  Koshi 
(=  Konfuzius) !",  und  die  in  Japan  zuerst  von  Nakae  Töju,  dem 
„Weisen  aus  Omi",  vertretene  Wang  Yang -Ming- Philosophie. 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  aber  wurden  diese  von  der  Regierung 
als  Ketzerei  unterdrückt,  so  daß  fortab  ausschließlich  die  Shushi- 
philosophie  Geltung  hatte.  In  dieser  Schule  sind  die  Japaner 
der  gebildeten  Klasse  vor  allem  erzogen  worden.  „It  is  per- 
haps  not  too  much  to  say  —  bemerkt  Lloyd  (S.  2)  —  that 
the  wonderful  qualities  exhibited  by  the  whole  of  Japan  during 
the  testing  experiences  of  the  Russo- Japanese  war  were  in  a 
large  measure  owing  to  the  System  of  education  under  the 
Tokugawas,  which  was  almost  entirety  in  the  hands  of  Shushi 
thinkers.  The  study  of  the  Shushi  philosophy  is  therefore  a 
valuable  guide  to  the  study  of  the  Japanese  people." 

Es  ist  bezeichnend,  daß  Hinneberg  um  Abfassung  der  Ab- 
handlung über  den  japanischen  Konfuzianismus  für  sein  Sammel- 

*  Historical   Development   of  the  Shushi- Philosophy  in  Japan,  by 
ArthurLloyd.  Transact.oftheÄs.Soc.ofJap.YolXX.Xiy,-p&rtiy,Si-80. 


Religion  der  Japaner  1905—1908  397 

werk  einen  Japaner  anzugehen  hatte.  Ich  wüßte  in  der  Tat 
nicht,  an  welchen  deutschen  Gelehrten  er  die  Aufgabe  hätte 
vergeben  sollen,  wenn  es  ihm  darum  zu  tun  war,  sich  eine 
wirkliche  Autorität  als  Verfasser  auch  dieses  Abschnitts  zu 
sichern.  Eingehender  hat  sich  nur  G.  W.  Knox,  jetzt  Professor 
am  Union  Theological  Seminary  New  York,  mit  dem  Gegen- 
stand beschäftigt,  wie  dies  verschiedene  ältere  Beiträge  von 
ihm  zu  den  Transactions  der  Asiatic  Society  of  Japan  be- 
kunden. Einziff  auf  diese  wußte  auch  er  selbst  sich  fiir  den 
Konfuzianismus  zu  stützen,  als  er  1905/06  den  Vortragszyklus 
über  die  Religion  in  Japan  hielt,  der  nun  auch  seit  1907 
gedruckt  vorliegt.^  In  diesem  Buche,  das  dem  verwandten 
älteren  von  Griffis  an  die  Seite  getreten  ist',  wird  mit  der- 
selben Ausführlichkeit  wie  Shinto  und  Buddhismus  auch  der 
Konfuzianismus  in  Japan  behandelt.  Wie  jeder  der  ersten 
beiden  Religionen  sind  auch  ihm  zwei  Vorlesungen  gewidmet, 
die  fünfte:  Confucianism  as  Polity  and  Ethics,  S.  138 — 169, 
und  die  letzte:  Confucianism  as  a  World- System,  S.  170 — 196. 
Während  Knox  Shinto  als  „Natural  Religion"  und  den 
Buddhismus  als  „Supernatural  Religion"  charakterisiert,  nennt 
er  den  Konfuzianismus  Japans  „Ethical  Religion",  Richtig  ist 
jedenfalls,  daß  dieses  Moralsystem  der  Samuraiklasse  in  Japan, 
nachdem  diese  sich  dem  Buddhismus  entfremdet,  die  Stelle  der 
Religion  vertreten  hat.  Als  Übertreibung  wird  es  dagegen  zu 
beurteilen  sein,  wenn  der  Verfasser  sich  zu  der  These  versteigt, 
im  Konfuzianismus  habe  die  Religion  des  fernen  Ostens  ihren 
Höhepunkt  erreicht. 

*  The  development  of  religion  in  Japan  (American  Lectures  on  the 
history  of  religions,  sixth  series  1905 — 1906)  by  George  William 
Knox,  ü.  D.,  LLD.  (G.  P.  Putnams  Sons,  Xew  York  and  London  1907). 

*  In  Ansehung  des  Umfangs  hinter  Griffis  TTie  Religions  of 
Japan  from  the  daum  of  history  to  the  era  of  Meiji  zurückstehend  und 
manche  Perioden,  die  in  diesem  Buche  ausführlich  behandelt  sind,  ganz 
übergehend,  sind  die  sechs  Vorlesungen  von  Knox  doch  andererseits  ge- 
dankenreicher.    Auch  ist  der  Stoff  straffer  zusammengehalten. 


4  Keligionen  der  Naturvölker  1906—1909 
Allgemeines 

Von  K.  Th.  Preuß  in  Berlin 

Der  vierjährige  Zeitraum,  über  den  hier  zu  berichten  ist, 
läßt  erkennen,  daß  die  abweichenden  Grundanschauungen  auf 
dem  schwierigen  Gebiet  der  primitiven  Religionen,  wenn  sie 
vertieft  und  klarer  herausgearbeitet  werden,  durchaus  nicht 
hindernd,  sondern  befruchtend  auf  den  Gang  der  Einzel- 
untersuchungen einwirken.  Mag  man  über  das  Verhältnis  von 
Zauberei  und  Religion,  über  Animismus  und  Präanimismus, 
über  die  Beziehungen  des  Mythus  zu  den  Himmelserscheinungen, 
über  lokale  Entstehung  bzw.  Wanderung  religiöser  Erschei- 
nungen, ja  sogar  über  das  zeitliche  Auftreten  der  Idee  einer 
obersten  Gottheit  ganz  verschieden  denken:  überall  hat  sich 
die  Achtung  vor  dem  Material  und  der  Eifer,  möglichst  viel 
in  die  Betrachtung  hineinzuziehen,  gesteigert.  Auch  ganz 
neue  Betrachtungsweisen,  die  uns  zeigen,  daß  wir  noch  sehr 
an  Ideenmangel  leiden,  sind  aufgetaucht  und  haben  auf  bisher 
unbeachtete  Tatsachen  aufmerksam  gemacht. 

I  Methode 

Wie  die  Forschung  am  Studiertisch  vor  sich  gehen 
soll,  darüber  wird  vorläufig  noch  selten  diskutiert,  da  sich 
nur  allmählich  Methoden  ausbilden  können.  Die  Dis- 
kussion darüber  pflegt  jetzt  nur  einzusetzen,  wenn  nega- 
tive Arbeit  geleistet  wird,  d.  h.  die  Beschäftigung  mit 
den  Religionen  der  Naturvölker  als  minderwertig  bzw. 
unnütz  oder  sogar  als  schädlich  hingestellt  werden  soll. 
Wiederum  hat  das  noch  niemand  getan,  der  sich  mit  den 
Primitiven    abgegeben    hat,    sondern  nur  solche,    die   das  von 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  399 

vornherein  vermeiden  wollen.  Die  Einwendungen  nun,  die 
wohl  mancher  Femstehende  stillschweigend  gegen  die  Völker- 
kunde erhebt,  hat  George  Foucart  in  seinem  Büchlein:  La 
methode  comparative  dans  l'histoire  des  religions^ 
festgelegt.  Weniger  fällt  darin  der  Vorwurf  der  Unzuverlässig- 
keit  in  den  Nachrichten  der  Völkerkunde  auf  —  der  Ver- 
fasser kennt  eben  die  genauen  und  umfangreichen  Material- 
sammlungen  z.  B.  Nordamerikas  nicht  —  als  zwei  andere 
Punkte,  nämlich  seine  Theorie  von  der  Degeneration  der 
Primitiven  und  die  angebliche  Herkunft  ihrer  Gebräuche  und 
Anschauungen  von  höher  kultivierten  Völkern.  Deshalb  müsse 
man  —  so  meint  er  —  vergleichende  Religionswissenschaft 
nur  an  den  Schriften  und  Monumenten  der  Kulturvölker 
treiben,  und  zwar  sei  Ägypten  als  Ausgang  zu  nehmen,  da  es 
von  jeher  ungemischt  und  reich  an  Nachrichten  sei  und  auf 
eine  jahrtausendlange  Entwicklung  zurückblicke.  Was  diese 
Vergleichung  der  Kulturvölker  an  Ideen  ergibt,  das  sei  als 
das  älteste  anzusehen  und  als  Richtschnur  dafür,  was  von  den 
Nachrichten  der  Primitiven  normal  sei.  Was  aus  diesen 
Ideen  herausfällt,  wie  z.  B.  Totemismus  und  Tabuismus,  sei 
Produkt  der  Degeneration  und  Geistesverwirrung.  Ein  solches 
—  übrigens  den  Untersuchungen  der  Völkerkunde  durchaus 
nicht  entsprechendes  —  Ergebnis  sei  z.  B.:  „In  der  ältesten 
erreichbaren  Periode  der  Geschichte  der  menschlichen  Kultur 
haben  die  verschiedenen  Religionen  mit  dem  Kult  einzelner 
Tiere  begonnen,  in  denen  die  Götter  lebten." 

Gegen  die  angeführten  Vorzüge  der  ägyptischen  Religions- 
überlieferung hat  A.  Wiedemann  in  seiner  Besprechung  des 
Foucartschen  Buches*  starke  Bedenken  erhoben.  Sowohl  die 
TJnbertihrtheit  der  Religion  wie  die  Klarheit  der  fixierten 
Überlieferung,  der  zudem  das  Volkstümliche  fehle,  ließen  viel 
zu  wünschen  übrig.  Was  aber  Foucarts  Theorie  von  der  De- 
generation   der    primitiven    Religionen    betrifft,    so    wäre    es 

»  Paris  1909.  236  S.  »  Orient.  Lit.  Ztg.  1909.  S.  251  f. ;  s.  o.  S.  346. 


400  K.  Th.  Preuß 

meines  Erachtens  doch  konsequenter,  wenn  der  Verfasser  über- 
haupt auf  ältere  Züge  auch  in  den  Religionen  der  Kultur- 
völker von  vornherein  verzichtete,  da  die  Hunderttausende 
von  Jahren,  die  vor  den  Ägyptern  liegen,  vollauf  genügt 
haben  müßten,  alles  unrettbar  in  Verwirrung  zu  bringen. 
Denn  die  vorangehenden  ungeheuren  Zeiträume  vergißt  er, 
wenn  er  sagt:  „Während  die  kräftigeren  Völker  sich  von  den 
Anfängen  der  Zauberei  und  des  Kultus  freimachten,  indem 
diese  immer  besser  definiert  und  klassifiziert  und  —  wenigstens 
von  ihrem  Standpunkt  aus  —  immer  logischer  werden,  ver- 
sinken die  andern,  allzu  schwachen  in  Verwirrung."^  Endlich 
ist  zu  seiner  Entlehnungstheorie  zu  bemerken,  daß  diese 
eigentlich  mit  seiner  Degenerationstheorie  zusammenfällt,  in- 
sofern, als  Foucart  eben  Ahnliches  ohne  weiteres  als  von  Kultur- 
völkern entlehnt  betrachtet,  während  Abweichungen  für  ihn 
Degenerierungen  sind. 

Im  übrigen,  glaube  ich,  ist  es  in  der  Tat  zu  empfehlen, 
daß  jeder,  der  vergleichende  Religionswissenschaft  treibt,  voll- 
kommen in  der  Kenntnis  irgendeines  Volkes,  sei  es  eines 
Kulturvolkes  oder  einer  Gruppe  kulturloser  Stämme,  zu  Hause 
ist.  Daraus  wird  er  immer  wieder  Kraft  schöpfen,  abschüssige 
Pfade  zu  vermeiden.  Er  wird  dann  zugleich  die  räumliche 
Verbindung  nie  aus  den  Augen  verlieren  und  gerade  vorzugs- 
weise nach  Maßgabe  des  Raumes  in  der  Vergleichung  fort- 
schreiten, was  allein  dauernde  wissenschaftliche  Ergebnisse 
zeitigen  kann.  Der  sich  daraus  ergebende  Nachteil,  daß  man 
stets  geneigt  sein  wird,  das  eine  bekannte  Volk  als  Maßstab 
an  alle  anderen  anzulegen,  kann  gegenüber  den  Vorzügen 
nicht  sehr  ins  Gewicht  fallen. 

Gegenüber  dem  in  Foucarts  Buche  hervortretenden 
Mangel  an  Achtung  vor  dem  Material,  das  der  Fels  in  der 
Flut  der  Eintagsmeinungen  sein  sollte,  ist  in  den  13  Vorträgen 
des   III.  Internationalen    Religionskongresses   zu    Oxford  1908, 

'  S.  auch  meine  Besprechung  des  Buches  im  Olobus  96,  S.  240. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  401 

die  in  der  Sektion  IX  zu  Methode  und  Ziel  der  Geschichte 
der  Religionen  gehalten  vrurden,  von  den  verschiedensten, 
den  Religionen  der  Primitiven  nicht  gerade  nahe  stehenden 
Forschern,  diesen  ausdrücklich  der  Platz  eingeräumt  worden, 
der  den  im  Archiv  für  Religionswissenschaft  vertretenen  An- 
schauungen entspricht.  So  äußerte  sich  der  Vorsitzende  der 
Sektion  Goblet  d'Alviella  in  seinem  Eröffnungsvortrage 
Les  sciences  auxiliaires  de  l'histoire  comparee  des 
religions^:  „Au  XVIII®  siecle,  on  ne  s'occupait  des  sauvages 
que  pour  les  idealiser;  ensuit«,  par  reaction,  on  en  vint  a  les 
abaisser  outre  mesure,  comme  indignes  d'occuper  l'attention 
du  savant.  En  realite,  ils  sont  dans  l'ethnographie  ce  que 
sont  en  geologie,  pour  rhistoire  de  la  terre,  les  temoins  des 
couches  erosees,  qui  se  maintiennent  au  milieu  de  depöts  plus 
recents."  Sehr  richtig  sagt  er  auch  von  dem  lebhaften  Streit 
der  Meinungen  über  die  im  Eingang  dieses  Berichts  skizzierten 
Grundfragen  der  primitiven  Religionen,  daß  dadurch  weder  die 
Anwendung  der  ethnographischen  Methode  noch  der  Wert  der 
aus  ihr  stammenden  Belehrung,  noch  die  daraus  zu  ziehenden 
Schlüsse  für  solche  Probleme,  die  der  Beobachtung  zugänglich 
sind,  irgendwie  berührt  werden. 

II  Gesamtdarstellungen 

In  den  Gesamtdarstellungen,  von  denen  die  meisten 
freilich  nur  Skizzen  sind,  treten  die  Meinungsverschiedenheiten 
über  die  Grundprobleme,  namentlich  über  Animismus  und 
Präanimismus,  naturgemäß  am  entschiedensten  hervor.  Trotz- 
dem finden  sich  aber  die  merkwürdigsten  Übereinstimmungen 
in  den  Einzelfragen,  was  der  bündigste  Beweis  für  das  Fort- 
schreiten der  Forschung  ist. 

Weitaus  die  bedeutendste  Erscheinung  ist  hier  Wilhelm 
Wundts  großes  Werk  Völkerpsychologie  Bd  II:   Mythus 

*  Transactions  of  the  Third  Int.  Congr.  for  ihe  Hist.  of  Bei,  Ox- 
ford  1908  II,  S.  365—379. 

Archiv  f.  Beligions-wiuengchaft  XIU  9g 


402  K.  Th.  Preuß 

und  Religion,  von  dessen  3  Teilen  wir  uns  vor  allem  mit 
Teil  2,  die  Seelenvorstellungen,  und  dann  mit  Teil  1,  die 
Phantasie,  beschäftigen  müssen^  während  Teil  3  besonders 
den  Naturmythus  behandelt  und  nur  kurz  auf  Ursprung  und 
Wesen  der  Religion  eingeht. 

Angesichts  der  wiederholten  Versuche,  den  Animismus  in 
seinem  Geltungsbereiche  zu  beschränken  und  in  den  Er- 
scheinungen der  in  den  Wesen  und  Dingen  steckenden  Zauber- 
kraft einen  teilweisen  Ersatz  im  Aufbau  der  Religion  zu 
gewinnen,  war  es  dringend  notwendig  zu  zeigen,  wie  der  Ani- 
mismus solche  disparaten  Tatsachen  wie  den  Zauber  sich  ein- 
verleiben und  dadurch  seine  Herrschaft  nicht  nur  wahren, 
sondern  ins  üngemessene  ausdehnen  könne.  Die  präanimistische 
Religion,  wie  man  die  Tatsachen  einer  Zauberkraft  lebender 
Wesen  und  unbelebter  Naturobjekte  auch  genannt  hat,  hat 
den  Pananimismus  aus  der  Taufe  gehoben.^  Das  ist  der  In- 
halt des  Buches  über  die  Seelenvorstellungen,  das  nach  des 
Verfassers  Ausspruch  allen,  welcher  Ansicht  sie  auch  seien, 
Klärung  über  die  Entwicklung  bringen  soll  durch  die  Macht 
psychologischer  Fragestellung,  die  in  dem  historischen  Neben- 
einander der  Seelen-,  Zauber-  und  Dämonenvorstellungen  allein 
entscheidend  sei. 

Zugleich  ist  das  Werk  deshalb  so  anziehend,  weil  Wundt 
keinem  Problem  aus  dem  Wege  geht,  sondern  die  Religion 
als  etwas   Ganzes    in    ihrer  Entwicklung  verfolgen    und    mög- 

»  Völkerpsychologie  Bd  II,  Teil  2,  1906,  481  S.  Bd  U,  Teil  1, 
1905,  617  S.     Leipzig. 

*  Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  betone  ich  schon  hier,  ob- 
wohl das  aus  der  Besprechung  der  folgenden  Arbeiten  noch  klar  lier- 
vorgehen  wird,  daß  der  Gegensatz  zwischen  Präanimisten  und  Animisten 
nicht  in  dem  Ausdruck  Beseelung,  Lebenskraft,  Zauberkraft  usw.  liegt, 
■was  in  gewissem  Sinne  dasselbe  ist,  sondern  in  der  Betonung  des 
Tylorschen  Animismus  als  Anfang.  Dieser  Animismus  schreibt  nämlicli 
lebenden  Wesen,  Pflanzen  und  auch  vielen  Objekten  eine  vom  Körper 
trennbare  Seele  zu  in  derselben  Weise,  wie  sie  den  Menschen  aus  den 
Erscheinungen  des  Todes,  Traumes  usw.  zugeschrieben  wird. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  403 

liehst  alle  Keime  und  Wandlungen  bloßlegen  will.  Es  ist  also 
nictt  der  Animismus  der  Zweck  des  Buches,  sondern  die  Religion, 
und  nur  weil  die  Religion  auf  dem  Animismus  ruhe,  ist  der 
ganze  Band  (U,  2)  betitelt:  „die  Seelenyorstellungen".  Somit 
ist  es  freilich  nicht  zu  leugnen,  daß  der  Verfasser  aus  einer 
Idee  alle  Phasen  der  Religion  ableitet. 

Zunächst  hat  es  bei  Wundts  Ausführungen  den  Anschein, 
als  ob  es  ganz  gleichgültig  ist,  wie  man  die  zauberische 
Wirkungsfähigkeit  des  menschlichen  Körpers  oder  seiner  Teile 
nenne,  ob  Zauberkraft  oder,  wie  der  Verfasser  will,  Seele.  Er 
unterscheidet  nämlich  —  und  darin  liegt  der  Fortschritt  gegen- 
über seinen  Vorgängern  —  die  Seele,  die  sich  beim  Tode,  im 
Traum  oder  sonstwie  vom  Körper  löst,  als  Psyche  von  der 
Körperseele,  die  im  lebenden  Körper,  z.  B.  im  Blut  und  in 
den  Nieren  ist,  und  sogar  auf  alle  Ausscheidungen  sowie  auf 
die  Dinge  übergeht,  die  mit  dem  Betreffenden  in  Berührung 
kommen:  Kleider,  Geräte  usw.  Wenn  nun  irgendwelcher 
Femzauber  von  solchen  Objekten.  Körperteilen  u.  dergl.  m.  aus- 
geht, so  ist  das  an  sich  ebensowenig  durch  Wundts  Wort 
Körperseele  psychologisch  erklärt  wie  durch  das  bloße  Wort 
Zauberkraft.  Beides  wäre  nur  die  Bezeichnung  der  Anschauung 
von  einer  Art  Lebenskraft  in  den  Menschen.  Bei  näherem 
Zusehen  muß  man  aber  doch  annehmen,  daß  Wundts  „Körper- 
seele" eben  eine  Folge  der  Anschauungen  über  die  „Psyche" 
ist  und  daher  dieser  begrifflich  sehr  nahe  steht.  Dann  würde 
allerdings  in  der  „Körperseele"  eine  psychologische  Erklärung 
ihrer  zauberischen  Wirkung  liegen,  nämlich  insofern  sie  der 
„Psyche"  in  ihrer  Bewegungsfähigkeit,  Unsichtbarkeit  usw. 
verwandt  ist. 

Die  Psyche  unterscheidet  er  ihrem  Ursprung  nach  als 
Schattenseele  (vgl.  Traumbild)  und  als  Hauchseele.  Wundt  nimmt 
hier  z.  B.  die  von  mir  betonten  Zauberwirkungen  des  Hauches 
während  des  Lebens  an:  die  tötende  und  heilende  ^Virkung 
sowohl    wie    die   Übertragung   von    Mund    zu    Mund    bei    der 


404  K.  Th.  Preuß 

Zeugung,  ebenso  ihre  Vermiscliung  im  Nasengruß  und  im  Mund- 
kuß und  als  Folge  die  sich  daraus  ergebenden  Zahnverstümme- 
lungen, sagt  aber,  es  sei  die  Hauch seele,  die  das  bewirke. 
Auch  hier  ist  der  psychologische  Unterschied  zwischen  Wundts 
Seele  und  meiner  Zauberkraft  lediglich  in  der  seit  Tylor  fest- 
stehenden animistischen  Theorie  zu  suchen. 

Was  nun  das  Tatsachenmaterial  angeht,  so  sind  zwar  einzelne 
Zeugnisse  für  die  Auffassung  des  Hauches  als  Seele,  der  Seele 
im  Blute,  in  den  Nieren  usw.  vorhanden,  nicht  aber  für  die  Körper- 
seele in  Abfällen,  Geräten  u.  dergl.,  während  anderseits  z.  B. 
die  Irokesen  bekanntlich  den  Menschen,  Tieren  und  Objekten 
eine  Zauberkraft  in  ihrem  Begriffe  orenda  zuschreiben.^  So  verlangt 
die  Theorie  Wundts  teils  große  Verallgemeinerung  einzelner  Tat- 
sachen, teils  setzt  sie  eine  bloße  Idee  an  Stelle  von  Tatsachen. 

Die  Zauberei  geht  nach  Wundt  aus  von  der  Auffassung 
aller  tiefgreifenden  Ereignisse  (cf.  Krankheit,  Tod)  als  mensch- 
liche Willensakte,  Ihre  Wirkung  ist  unsichtbar,  aus  der  Ferne 
kommend:  es  ist  eine  Seele  die  Ursache,  und  man  schützt  sich 
durch  einen  gleichen  Seelenzauber,  z.  B.  einen  Phallus,  ein 
Stückchen  Niere  des  erschlagenen  Feindes  usw.  Seele  wirkt 
gegen  Seele.  Wundt  hat  wohl  darin  recht,  daß  nicht  regel- 
mäßiger Naturverlauf  den  Kausalitätsbegriff  zu  erzeugen  an- 
fing, sondern  menschliche  Willenshandlungen,  denen  sich  die 
beschriebenen  Zauberakte  zu  weiterer  Entwicklung  des  Kau- 
salitätsprincips  hinzugesellten.  Er  betont  aber  zu  einseitig 
den  Einfluß  von  Krankheit  und  Tod  auf  die  Entwicklung  der 
Kausalität  und  des  Zaubers.  Ein  jeder  weiß,  daß  Mangel  an 
Nahrung  mehr  aufrüttelt  als  Krankheit  und  Tod,  daß  der 
Nahrungserwerb  alle  Gedanken  und  Kräfte  gefangen  nimmt 
und  das  Gegenteil  regelmäßigen  Verlaufs  darbietet.  Und  wenn 
der  Urmensch  keine  Früchte,  keine  Jagdbeute  findet,  wenn  er 
in  dem  aufregenden,  häufigen  Kampfe  mit  wilden  Tieren  deren 


>  8.  Archiv  Vn  S.  232. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  405 

„Willenshandlungen"  keimen  lernt,  wenn  er  stärkenden  „Seelen- 
zauber" dagegen  zu  Hilfe  nimmt:  tritt  ihm  nicht  überall  von 
Tomherein  ein  anderer  Zauber  entgegen,  der  nicht  Menschen- 
seelenzauber ist,  der  von  den  Tieren  und  andern  Naturobjekten 
seines  engen  Gesichtskreises  ausgehen  muß? 

Tiere  an  sich  haben  jedoch  nach  Wundt  keine  Zauber- 
eigenschaft^n  d.  h.  keine  „Körperseele"  oder  „Psyche"  wie  der 
Mensch.  Alle  Bedeutung  der  Tiere  im  Kult,  also  auch  sämt- 
liche Zaubereigenschaften  derselben  werden  von  Wundt  von 
vornherein  unter'  den  Gesichtspunkt  des  Animismus  gestellt. 
Eine  Menschenseele  sei  in  ihnen.  Dadurch  geht  er  also  viel 
weiter  als  Tylor,  der  den  Tieren  doch  außerdem  eigene  Seelen 
analog  denen  der  Menschen  zuschreibt.  Berechtigt  dazu  meint 
Wundt  dadurch  zu  sein,  daß  vereinzelte  Tiere  z.  B.  Vögel, 
Schlangen,  Eidechsen,  Krokodile  bei  einigen  Stämmen  als 
Seelentiere,  als  Träger  der  Seelen  von  Verstorbenen,  gelten. 
Ferner  will  Wundt  festgestellt  haben,  daß  die  Totemtiere,  so 
variabel  sie  sind,  ebenfalls  am  konstantesten  diese  Seelentiere 
in  sich  begreifen.  Deshalb  soll  der  Totemismus  aus  dieser 
Idee,  daß  die  Tiere  Träger  der  Ahnenseelen  sind,  seinen  Ursprung 
genommen  haben.  Man  könnte  das  eine  geniale  Beantwortung 
der  dunklen  Frage  des  Totemismus  nennen,  wäre  man  nicht  im- 
stande, die  Zaubertätigkeit  der  Tiere  und  ihre  Stellung  im 
Kult  so  sehr  häufig  aus  der  Natur  des  Tieres  selbst  ohne  jede 
Bezugnahme  auf  den  Seelenglauben  einwandfrei  zu  begreifen. 
Wenn  man  nach  dem  deutschen  Volksglauben  den  Körper  durch 
Bestreichen  mit  Schlangenfett  beliebig  zusammenrollen  kann 
(Wuttke),  wenn  der  Loangoneger  durch  Tragen  von  Teilen  des 
Elefanten  etwas  von  dessen  Stärke  zu  besitzen  glaubt^,  wenn 
der  Giljake  den  Schwertwal,  der  ihm  die  vor  ihm  fliehenden 
Tiere    des    Meeres   zujagt,    als   Wohltäter    verehrt',    so    ist    da 

'  Pechuel-Loesche  Volkskunde  von  Loango  S   351.     Dort  viele  Bei- 
spiele der  Art.  • 
*  Leo  Stemberg  Archiv  f.  Bei.  VIII  S.  251. 


406  K.  Th.  Preuß 

wahrlich  keine  menschliche  Seele  im  Spiel  und  nichts  hindert 
uns,  derartigen  Zauberglauben  in  die  ältesten  Zeiten  der  Mensch- 
heit hinaufzuversetzen.  Gegenüber  der  unendlichen  Mannigfaltig- 
keit des  Tierzaubers  ist  meines  Erachtens  das  Verlangen  des 
Menschen,  in  freundliche  Beziehungen  zu  ihnen  zu  treten,  zur  Er- 
klärung des  Totemismus  im  groben  völlig  ausreichend.  Sind  doch 
auch  die  Totemtiere  der  Nordwestamerikaner  nicht  Ahnen,  son- 
dern lediglich  Wesen,  mit  denen  ein  Vorfahr  in  besonderer 
Verbindung  gestanden  hat.  Und  bei  den  Hopi  sind  die  Clan- 
Namen  zum  großen  Teil  unbelebten  Objekten  entnommen  Kehren 
aber  wirklich  Vögel,  Schlangen  und  Eidechsen  vorzugsweise 
als  Totemtiere  wieder,  so  wäre  das  nur  natürlich,  da  diese 
Gattungen  überall  besonders  zahlreich  vertreten  sind.  Und 
für  die  Speisever-  und  geböte  gegenüber  den  Tieren  ist 
der  Animismus,  durch  den  allein  sie  Wundt  erklären  zu 
können  glaubt,  doch  nicht  nötig,  da  eben  die  wirkenden 
Eigenschaften  der  Tiere  an  sich  genügend  Erklärung  bieten 
könnten. 

Kommen  wir  jetzt  zu  den  leblosen  Objekten,  so  hat  Wundt 
richtig  erkannt,  daß  Amulette,  Talismane  und  Fetische  ver- 
wandte Erscheinungen  sind.  Die  lediglich  ordnende  Teilung 
in  Amulette  als  passiven  Zauberschutz  und  Talismane  als 
aktive  Zaubermittel  wird  sich  in  der  Völkerkunde  kaum  durch- 
führen lassen,  da  viele  Mittel  den  Körper  stärken  oder  sonst- 
wie die  beiden  Seiten  vereinigen.  Von  diesen  beiden  Gattungen 
sind  die  Fetische  angeblich  dadurch  geschieden,  daß  letztere 
Kultobjekte,  die  Amulette  aber  bloße  magische  Wertobjekte 
sind,  die  sowohl  aus  den  einer  früheren  Entwicklung  an- 
gehörigen  Fetischen  entstehen  wie  auch  von  jedem  andern  Kult 
ihre  Zauberkraft  empfangen  können.  (Vgl.  heilige  Geräte  usw.) 
Wenn  nun  auch  die  Amulette  und  Talismane  keine  selb- 
ständige Bedeutung  haben  sollen,  so  gehen  sie  (nach  Wundt) 
doch  im  »»wesentlichen  direkt  auf  den  Animismus,  nämlich  auf 
Elemente    des   menschlichen  Körpers   oder  solche    der  Seelen- 


Religionen  der  Natnrrölker  1906—1909  407 

tiere  zurück  und  dann  auf  Assoziationen,  wozu  auch  die  ge- 
waltige Masse  der  Zaubermedizinen,  der  Steine  und  Pflanzen 
gehört.  Der  Verfasser  erklärt  nun  einfach  alle  assoziativen 
Zauberobjekte  wie  z.  B.  das  rorhin  angeführte  geschmeidig 
machende  Schlancrenfett  oder  das  kraftgebende  Elefantenstück  oder 
glänzende  und  seltsame  Steine  als  späte  Bildungen,  die  erst 
auftreten,  nachdem  der  Animismus  zurückgetreten  ist.  Während 
also  (nach  Wundt)  der  Urmensch  äußerst  rationell  handelte, 
indem  er  sich  von  allen  magischen  Objekten  Rechenschaft 
gab,  daß  in  ihnen  eine  menschliche  Seele  wohne,  ergriff 
nach  Tausenden  von  Jahren  der  Entwicklung  die  Mensch- 
heit ein  krasser  unkontrollierbarer  Aberglaube,  der  heute  noch 
in  voller  Blüte  steht. 

Die  Unterscheidung  zwischen  Amulett  und  Fetisch  durch 
das  Fehlen  bzw.  Bestehen  eines  zauberischen  Kultes  (nach 
Wundt)  erscheint  mir  mehr  begrifflich  als  wirklich,  da  die 
Völkerkunde  kaum  etwas  Näheres  über  Amulette,  geschweige 
denn  über  irgendwelche  unscheinbaren,  ihnen  gewidmeten 
Zauberakte  oder  das  Fehlen  derselben  zu  sagen  weiß.  Wundt 
meint  nämlich,  daß  das  Amulett  seine  Kraft  Ton  einer  dämo- 
nischen oder  göttlichen  Kraft  erhalte,  also  rmselbständig  sei 
und  deshalb  keinen  Kult  haben  könne.  Ein  Fetisch  dagegen 
sei  ein  von  dämonischer  Kraft  beseeltes  Objekt.  Sie  gleiche  der 
menschlichen  Seele,  insofern  sie  an  ein  Objekt  gebunden  sei,  sei 
aber  schon  Geist,  da  sie  auf  keine  bestimmte  Persönlichkeit  zu- 
rückweise. Sie  sei  endlich  ein  Dämon,  da  sie  eine  glück-  oder 
unheilbringende  Macht  sei.  Demgegenüber  mache  ich  darauf 
aufmerksam,  daß  es  sichere  Zeugnisse  über  den  Aufenthalt  von 
Geistern  nach  Art  des  Animismus  in  den  Fetischobjekten  nicht 
gibt  ( —  Zauberkraft,  Lebenskraft,  Beseelung  ohne  animistischen 
Beigeschmack  betrachte  ich  nur  als  Wortdifferenzen  — ),  daß 
aber  wohl  etwas  derartiges  in  einzelnen  Fällen  anzunehmen 
ist,  wo  es  dann  als  Entwicklungserscheinung  aufzufassen  wäre. 
Ich  begnüge  mich  hier,  zur  Erhärtung  dieser  schon  früher  ge- 


408  K.  Th.  Preuß 

äußerten  Ansicht^  ein  paar  Stellen  aus  dem  gründlichen,  auf 
langer  eigener  Beobachtung  beruhenden  Werk  von  Pechuel- 
Loesche,  Volkskunde  von  Loango^  wörtlich  einzuschieben, 
einem  Werk,  das  sowieso  in  diesem  Bericht  angeführt  werden 
muß,  da  es  für  die  wichtige  Frage  des  Fetischismus  von  aus- 
schlaggebender Bedeutung  ist.^ 

Pechuel-Loesche  S.  852 f.:  „Mir  wurde  ein  hübscher  Hals- 
schmuck verehrt:  das  außerordentlich  lange  Schwanzhaar  eines 
Elefanten,  woran  durch  feine  Flechtarbeit  die  Kralle  eines 
Leoparden  und  eines  Adlers,  der  Zahn  eines  Seefisches  und 
eines  Krokodiles  befestigt  waren.  Haar  und  Krallen  sollten 
mich  auf  der  Jagd  schützen,  in  Wald  und  Gras  scharfsichtig, 
stark,  behende  machen,  die  Zähne  sollten  mich  vor  allen  Ge- 
fahren des  Wassers  behüten  .  .  .  Soviel  hier  über  die  untere 
naive  Stufe  des  Fetischismus  (die  Amulette).  Sie  ist  im  ent- 
wicklungsmäßigen Sinne  beachtenswert  als  Vorläufer  und 
Grundlage  der  höheren  Stufe,  hat  aber  neben  dieser  nicht  mehr 
viel  zu  bedeuten.     Denn  man  ist  fortgeschritten  in  Loango  .  .  ." 

„In  der  Natur  sind  viele  Kräfte  aufgespeichert.  Sie  werden 
insgemein  bufüngu  genannt.  Der  Geschulte  versteht  es,  vielerlei 
kräftereiche  Dinge  zu  wählen  und  kunstgerecht  zu  behandeln, 
die  Stoffe  zu  einer  besonderen  Masse  zu  vereinigen  und  ihre 
Kräfte  zu  einer  besonderen  Kraft  zu  verdichten.  Der  gewonnene 
Stoff  heißt  ngilingili,  die  darin  sitzende  Kraft  tschinda  oder 
tschiinda,  ihre  Stärke  oder  Energie  bunene.  Ngilingili  wird 
betrachtet  als  feinster  Auszug  .  .  .  aller  möglichen  Kraftträger, 
vornehmlich  aber  als  eine  Giftmischung  mannigfaltigster  Art, 
die  je  kunstvoller  desto  wirksamer  ist." 

„.  .  .  Das  fertige  ngilingili,  mag  es  in  ein  Gebilde  getan 
worden    sein    oder    nicht,    das    bestimmungsgemäß    verwendet 


^  K.  Th.  Preuss  Ursprung  der  Religion  und  Kunst,  Globus  Bd  87 
S.  881  f.  *  Stuttgart  1907. 

■  Vgl.  meine  Besprechung  in  der  Geographischen  Zeitschrift  1908 
S.  289. 


I 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  409 

wird,  ist  mkissi  oder  nkissi  .  .  .,  ist  das,  was  wir  Fetisch  nennen. 
Mkissi  läßt  sich  nicht  anders  übersetzen  als  durch  Zauber, 
Zaubermedizin  und  Zauberding  schlechthin." 

„Die  Bafiöti  haben  keine  Götzen,  sondern  lediglich  Fetische. 
Demgemäß  kennen  sie  weder  Anbetung  noch  irgendwelche  Ver- 
ehrung, sondern  bloß  fachmännische  Herstellung  und  Benutzung. 
Ich  wiederhole:  Niemand  an  der  Loangokuste  verehrt  Fetische 
oder  betet  sie  an  .  .  ." 

„.  .  .  Wie  wir  mit  dem  Löffel  nicht  schießen,  mit  der 
Säge  nicht  hacken,  mit  dem  Hammer  nicht  schreiben,  so 
nimmt  man  einen  Kriegsfetisch  nicht  zum  Heilen,  einen  Handels- 
fetisch nicht  zum  Gebären,  einen  Diebfinder  nicht  zum  Heiraten. 
Ebenso  wirkt  die  Kraft  eines  Fetisches  vollwichtig  oftmals 
erst  auf  Veranlassung  des  Besitzers,  der  sie  nach  allen  Regeln 
der  Kunst  anreizt  oder  bändigt,  so  wie  es  bei  ihm  steht,  ob  er 
einen  Schlag  tun  will  oder  nicht.  Kutäka,  kuwända  und 
kuwänga  mkissi:  anordnen  oder  betreiben,  flechten  und  machen 
Zauber  .  .  ." 

„Wie  die  Menschen,  so  stehen  auch  ihre  Zauberkräfte 
gegeneinander,  man  weiß  nur  nicht,  wo  und  wie  .  .  .  Wer  noch 
unbekannte  und  ganz  besonders  starke  Kräfte  ausfindet  und 
glücklich  vereinigt,  der  erlangt  die  Übermacht  .  .  .  Jene 
mischen,  diese  mischen.  Die  Kräfte  werden  gegeneinander 
mobil  gemacht  Weißkunst  —  bungängu,  tschingänga  —  steht 
gegen  Schwarzkunst  —  bundöku.  Freilich  scheint  niemand 
stets  vorher  zu  wissen,  ob  er  ein  neues  unübertreffliches 
ngilingili  gemischt  hat.  Das  muß  ausgeprobt  werden.  Der 
Erfolg  entscheidet.  Wenn  sich  mit  dem  neuen  Kraftstoff  ver- 
sehene Fetische  recht  bewähren,  dann  ist  man  klug  und 
glücklich  gewesen.  Kussüta,  erfinden,  entdecken,  austüfteln, 
mussüti  plur.  bassüti,  der  Erfinder;  lussütu,  die  Erfindung  und 
die  Einbildungskraft." 

„Nicht  das  geringste  im  ganzen  Tun  und  Treiben  der 
Leute  deutet   auf  Geister,   die   sich   etwa   ein  Zauberding  zum 


410  K.  Th.  Preuß 

Wolinsitz  erwählten  oder  hineinbefohlen  wären  und  nun  dem 
Mensclien  gehorchten.  Es  gibt  kein  geistiges  Wesen,  mit  dem 
ein  Pakt  eingegangen  werden  könnte,  infolgedessen  es,  verlockt 
oder  gezwungen  durch  Spruch  oder  Gabe  des  Zauberkundigen, 
gänzlich  oder  geteilt  in  ein  Gebilde  einträte  und  es  zum  Kraft- 
stück erhöbe  ..." 

„Uns  liegt  es  nahe  anzunehmen  und  dann  bei  flüchtiger 
Beobachtung  auch  bestätigt  zu  finden,  daß  die  Zaubermeister 
sich  einbildeten  oder  es  anderen  weismachten,  mit  Hilfe  von 
dienstbaren  Geistern  zu  arbeiten.  Unsere  alten  Berichterstatter 
und  ihre  Nachgänger  witterten  überall  ihren  eigenen  Teufels- 
spuk und  Geisterbeschwörungen,  und  solche  Ansichten  werden 
immer  wieder  in  die  Beobachtungen  hineingetragen  .  .  .  Als 
selbstverständlich  wird  angenommen,  was  erst  recht  zu  prüfen 
ist.  Wie  schon  gesagt:  Seelen-  und  Geistersitze  sind  etwas 
ganz  anderes  als  Fetische.'' 

„Die  Fetischmeister  stehen  dem,  was  wir  die  Geisterwelt 
nennen,  nicht  minder  furchtsam  gegenüber  als  die  Laien.  Man 
frage  nur  einen  berühmten  Ngänga,  mit  Hilfe  welcher  Seele, 
welchen  Geistes  er  seine  Taten  verrichte  und  wie  er  es  an- 
stelle. Verblüfft,  tief  erschrocken  schaut  er  einen  an.  Daran 
hat  er  nicht  gedacht.  Das  wäre  zu  gefährlich  der  Lebenden 
und  der  Toten  wegen.  Lusäbu,  Wissen;  lungängu,  Meisterschaft; 
ngilingili  und  bufüngu  oder  tschinda  ngölo  bene,  Gift,  Medizin 
und  Kraft  stark  sehr  ist  es,  beteuert  er  .  .  .  Für  Geister  ist 
in  dem  System  kein  Platz,  ja  ein  Hauptteil  ist  ihretwegen  aus- 
gedacht worden,  um  sie  sich  vom  Leibe  zu  halten.  Und  wenn 
ein  Ngänga  allzu  verwegen  gegen  eine  Seele  losgegangen  ist 
und  er  sich  einbildet,  daß  sie  ihm  etwas  angetan  habe,  daß  er 
besessen  sei,  dann  hat  er  nichts  Dringenderes  zu  tun,  als  sich 
von  Zunftgenossen  erlösen  zu  lassen." 

„Zahlreich  wie  Wünsche  und  Gefahren  sind  auch  Fetische 
und  ebenso  mannigfaltig  in  der  Form.  Da  gibt  es  Muscheln, 
Krallen,    Zähne,    Hörner,   Federn,  Haarbüschel,   Lederstreifen, 


Religionen  der  Natorvölker  1906—1909  411 

Bänder,  Schnuren,  Zeugfetzen  . . .  Affen,  Leoparden,  Schlangen . . . 
am  seltensten  Menschen." 

„Solange  nun  alle  diese  Gegenstände  durch  die  Bangänga 
nicht  einer  kunstgerechten  Behandlung  unterworfen  und  mit 
ngiiingüi  geladen  worden  sind,  haben  sie  höchstens  einen  Wert 
als  Zieraten,  als  Schmuck  und  Schaustücke  . .  .  Auszunehmen 
wären  teilweise  die  einfachen,  der  unteren  Stufe  zuzuweisenden 
Dinge,  obschon  auch  diese  jetzt  meistenteils  erst  durch  die 
Hände  der  Zaubermeister  gehen." 

Kehren  wir  nun  wieder  zu  Wundt  zurück,  so  wird  man 
am  besten  eine  Vorstellung  seines  Werkes  gewinnen,  wenn 
man  nicht  nur  überall  da  geistige  Wesen  als  direkte  Ab- 
kömmlinge der  Menschenseelen  oder  ihnen  analoge  Bildungen 
einsetzt,  wo  es  ohnehin  meist  geschieht,  sondern  auch  da  die 
menschliche  Seele  als  erstes  agens  voraussetzt,  wo  nach  Wundts 
Ausspruch  ein  bloßer  symbolischer  Zauber  übriggeblieben  ist. 
Ursprünglich  fühlt  sich  der  Tierdarsteller  als  Dämon,  ursprüng- 
lich enthält  das  Bild,  das  man  durchsticht,  um  dem  Gegner 
zu  schaden,  die  Seele.  Ursprünglich  umschnürt  man  in  dem 
Pfahl  oder  Stein  als  Vertreter  des  Gegners  dessen  Seele.  Am 
Anfang,  wie  gesagt,  der  vollendete  Rationalismus,  später  der 
verständnislose  Ausbau.  Solche  Anschauungen  ermöglichen  es 
auch,  eine  konstante  Entwicklungsfolge  aller  Erscheinungen 
bis  ins  einzelne  aufzustellen.  Ganz  spät  sind  z.  B.  die 
Vegetations-  und  Himmelsdämonen  und  der  Xaturmythus,  was 
dem  Referenten  keineswegs  sicher  erscheint.  Denn  je  mehr 
wir  Kulte  der  anscheinend  tiefer  stehenden  Menschheit  kennen 
lernen,  desto  mehr  sehen  wir  auch,  wie  sehr  sie  mit  der 
Vegetation  und  dem  Himmel  direkt  oder  indirekt  verknüpft 
sind.  Öfters  werden  daher  derartige  Erscheinungen  bei  an- 
geblich primitiven  Stämmen  von  Wundt  als  Übertragung  be- 
zeichnet. 

In  dem  Uberzeugtsein  vom  Animismus  liegt  Wundts  Stärke 
und   Schwäche.     Manche  Partien  des  hervorragenden  Werkes, 


412  K.  Th.  Preuß 

z.  B.  gewisse  Klassen  von  Dämonen  und  die  Entstehung  gewisser 
„Fratzentiere",  die  in  der  Tat  auf  den  Animismus  zurückgehen, 
bedeuten  unleugbar  einen  Gewinn,  und  die  Erkenntnis  der  Aus- 
dehnung des  Zaubers  in  der  Religion  zeitigt  manche  neue  Ein- 
sicht. Gerade  dadurch  tritt  Wundt  vielfach  den  mit  dem  Zauber 
arbeitenden  Präanimisten  sehr  nahe,  namentlich  mit  seinem  Be- 
griff der  Körperseele,  und  hat  sich  an  ihre  Spitze  gestellt. 

Im  ersten  Teil  seines  Werkes  behandelt  Wundt  Zauber 
und  Religion  in  ihrer  Beziehung  zur  Kunst  und  zum  Mythus. 
Dieses  Thema  nimmt  aber  nur  etwa  die  Hälfte/  des  Buches 
ein,  da  er  für  seine  psychologische  Betrachtung  den  über- 
geordneten Begriff  der  Phantasie  in  ihrer  Form  und  ihrem  den 
Lebensanschauungen  entsprechenden  Inhalt  im  ganzen  be- 
handelt, so  daß  also  auch  die  profane  Ergänzung  des 
Themas  zu  ihrem  Rechte  kommt.  Wundt  legt  sich  hier  nicht 
wie  bei  den  Seelenvorstellungen  auf  eine  alle  Betätigungen 
der  Phantasie  durchdringende  Idee  fest,  noch  stellt  er  einen 
durchgehenden  Entwicklungsbau  auf,  sondern  richtet  sich  in 
seiner  Deutung  nach  den  jedesmaligen  Merkmalen  der  Er- 
scheinungen. Mit  Recht  legt  er  dem  Einfluß  von  Zauberei 
und  Mythologie  besonders  für  den  Anfang  große  Bedeutung 
bei.  In  der  bildenden  Kunst  haben  nach  ihm  besonders  Dar- 
stellungen von  Mensch  und  Tier,  die  sich  von  der  Wirklich- 
keit entfernen  und  durch  ihre  starre  Form  auffallen,  ferner 
Mischformen  von  Tier  und  Mensch  und  Masken  ursprünglich 
religiöse  Bedeutung.  Die  Zierkunst  strebe,  soweit  der  eigene 
Körper  in  Betracht  kommt,  nach  Geltendmachung  der  Persön- 
lichkeit und  vor  allem  sei  daher  Bemalung  und  Tättowierung 
zunächst  ein  zauberischer  Schutz  gegen  dämonische  Mächte. 
Die  Keramik  bevorzuge  in  den  Tierornamenten  die  Dar- 
stellung von  Seelentieren,  nämlich  Vogel,  Schlange,  Eidechse 
u.  dergl.  m.  Der  Scbmuck  auf  dem  Gewände  erscheine  als  Pro- 
jektion des  direkten  Körperschmucks  auf  das  Kleid  und  ent- 
halte demgemäß  vielfach  zauberische  Motive.     Das  rein  Asthe- 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  413 

tische  sei  hier  überall  das  letzt«  Ergebnis.  Ausgesprochener 
und  dauernder  als  die  Ornamente  der  Gefäße,  Kleider  und 
Werkzeuge  sei  die  Verzierung  der  WaflFen  Träger  zauberischer 
Vorstellungen  gewesen.  Aus  den  ursprünglichen  Formen  der 
Wohnung  für  die  Lebenden  und  der  Grabstätte  für  die  Toten 
gingen  ästhetisch  bedeutsame  Formen  der  Architektur  hervor. 
Von  den  musischen  Künsten  gehörten  ursprünglich  Lied,  Tanz 
und  Musik  zum  großen  Teü,  Mimus,  Epos  und  Drama  aber 
ganz  dem  mythologischen  und  religiösen  Gebiet  an.  Aus  dem 
Zauber-  und  Kultgesang  entstünden  profane  Lieder.  Von  An- 
fang an  profan  seien  die  Arbeitsgesänge,  die  angeblich  bei 
den  meisten  primitiven  Völkern  existierten  (was  jedoch 
nicht  erwiesen  ist).  Die  primitive  Märchendichtung  trage 
einen  naturmythologischen  Charakter,  ohne  in  allen  Einzel- 
heiten dadurch  erklärt  zu  werden,  und  enthalte  die  Schicksale 
anderer  zauberkräftiger  belebter  Wesen  oder  als  belebt  er- 
scheinender Naturobjekte.  Die  ursprüngliche  Mythenerzählung 
überhaupt  habe  die  allgemeiuen  Züge  der  Märchendichtung, 
Die  Tierfabel  unterscheide  sich  davon  zunächst  nicht  — 
Seelentiere  spielten  darin  eine  besondere  RoUe  — ,  erhalte  aber 
später  durch  Nachdenken  über  Lebensart  und  Charakter  der 
Tiere  nüchterne  und  anderseits  scherzhafte  Züge.  Das  Epos 
bilde  sich  aus  den  Formen  des  Kultliedes  und  des  Märchens 
imter  Hinzutritt  geschichtlicher  Erinnerungen  aus.  Für  den 
disziplinierten,  länger  andauernden  Tanz  setzt  Wundt  den 
Zauberkultus  als  Ausgangspunkt  an.  Wenn  er  als  eine  mög- 
liche Vorstufe  den  ekstatischen  Tanz,  d.  h.  eine  Art  Afifekt- 
hüpfen  ansetzt,  wie  es  schon  bei  Tieren  beobachtet  wird,  so 
wird  ihm  niemand  widersprechen.  Aus  den  Zauberkulttänzen 
würden  allmählich  profane.  Wundt  geht  dann  auf  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Zaubertänze  und  die  mimischen  Tänze 
ein,  behandelt  Musik,  Mimus  und  Drama,  indem  er  be- 
sonders die  griechischen  Formen  verfolgt,  und  endet  mit 
der  Psychologie  der  Mythenbüdung,    alles  Dinge,   auf  die  ich 


414  K.  Th.  Preuß 

hier  nicht  näher  eingehen  kann,  wie  ich  auch  vorher  nur  hier 
und  da  einzelnes  herausgegriffen  habe. 

Das  kleine  Buch  von  Frank  Byron  Jevons,  *An  Intro- 
duction  to  the  Study  of  Comparative  Religion'^  ist  aus  Vor- 
lesungen für  Missionare  am  theologischen  Seminar  zu  Hartford 
hervorgegangen.  Es  ist  keine  Anleitung  für  sie,  Material  zu 
sammeln,  sondern  vermittelt  in  pointierter,  teilweise  etwas 
weitschweifiger  Polemik  einzelne  Kapitel  aas  dem  Gebiet  der 
primitiven  Religion,  z.  B.  über  Zauberei,  Fetischismus,  Gebet, 
Opfer  usw.,  ohne  die  Themata  irgendwie  allseitig  zu  behandeln. 
Was  den  größten  Raum  in  den  tiefer  stehenden  Religionen 
einnimmt,  die  Zauberzeremonien,  werden  nicht  als  Teil  der 
Religion,  sondern  als  heterogen  behandelt,  in  einer  Weise,  als 
ob  sie  überhaupt  in  der  Religion  nur  eine  ganz  geringe  Rolle 
spielten.  Sobald  es  eine  Gesellschaft  gab,  d.  h.  von  den  Ur- 
zeiten an,  habe  es  auch  animistische  Wesen  gegeben,  deren 
Charakteristikum  in  ihrer  Verteidigung  der  sozialen  Gemein- 
schaft liege,  während  die  Zauberei  meist  antisozial  sei.  Wenn 
aber  ein  Zauberer  wirklich  für  das  allgemeine  Wohl  zaubert 
wie  beim  Regenmachen  und  daijn  später  erkennt,  daß  man 
dazu  die  Geister  anrufen  müsse,  „so  wird  er  sich  natürlich  an 
den  Geist  oder  Gott  wenden,  der  von  der  Gemeinschaft  an- 
gebetet wird,  weil  ihm  die  allgemeinen  Interessen  der  Gemein- 
schaft am  Herzen  liegen"  Dabei  könnten  wohl  auch  eine 
Zeitlang  magische  Praktiken  mit  herübergenommen  werden, 
und  diese  Überlebsel  seien  dann  von  den  Forschern  ganz  falsch 
aufgefaßt  worden.  Eine  Methode  von  Jevons,  Zauberzeremonien 
in  der  Religion  zu  beseitigen,  liegt  darin,  sie  als  explana- 
torische  Begleiterscheinung  der  gesprochenen  Worte  zu  er- 
klären, wodurch  zugleich  die  Zauberworte  als  Gebete  legitimiert 
werden  sollen.  Würde  er  folgerichtig  dabei  weiter  gehen,  so 
könnte   er   allen   Analogiezauber   in    der  Religion,    kurz   alles, 


New  York,  1908,  283  S. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  415 

was  irgendwie  figürlich  zum  Ausdruck  bringt,  weswegen  die 
Zeremonie  vorgenommen  wird,  auch  Maskentänze  und  Götter- 
darstellungen,  als  symbolische  Gebete  fassen.  Doch  ist  er  den 
Zaubertatsachen  in  der  Religion  sorgsam  aus  dem  Wege  ge- 
gangen und  ist  nicht  in  die  Verlegenheit  gekommen,  zu  er- 
klären, weshalb  man  z.  B.  Stammesgötter,  wie  die  Maisgöttin, 
im  Herbst  tötet.  Fetische,  obwohl  sie  von  Dämonen  bewohnt 
sind,  erscheinen  ihm  nicht  geeignet,  Götter  der  Gemeinschaft 
zu  werden,  da  sie  nur  für  den  Augenblick  und  für  den  Privat- 
gebrauch gemacht  seien. 

Nachdem  Jevons  den  Missionaren  gute  Ratschläge  erteilt  hat, 
wie  sie  an  ihrem  Teile  die  Zauberei  beseitigen  können,  meint 
er:  „Die  Idee,  daß  die  Religion  der  Magie  folgte  und  sich 
aus  ihr  entwickelte,  mag  früher  von  einigen  Forschem  der 
Religionswissenschaft  gehegt  worden  sein  und  mag  auch  jetzt 
noch  nicht  von  allen  verworfen  sein,  aber  sie  hat  keinen  Platz 
in  der  Religionswissenschaft."  Das  ist  ein  wunderbarer  Opti- 
mismus des  Verfassers,  nachdem  er  eben  dauernd  gegen 
Frazer  polemisiert  hat,  der  zwar  Religion  und  Zauberei  für 
heterogene  Dinge  erklärt,  aber  doch  die  Zauberei  vorangehen 
läßt  und  beider  innigen  Zusammenhang  dartut. 

Auf  dieses  Buch  bin  ich  deshalb  näher  eingegangen,  weil 
der  Verfasser  etwas  später  auf  dem  Religionskongreß  in  Oxford 
inmitten  eines  großen  Zuhörer kreises  über  „Magic" ^  ge- 
sprochen hat,  und  weil  diesem  Vortrage  eine  ausgedehnte 
Diskussion  folgte.  Durch  das  Buch  kann  man  nämlich  viel 
mehr  in  die  Meinung  des  Verfassers  eindringen,  als  es  an  der 
Hand  des  Auszuges  in  den  Transactions  möglich  ist.  Ich 
fuge  deshalb  einige  Worte  über  die  Abhandlung  hier  gleich 
an.  Er  behandelt  in  dem  Aufsatz,  der  zum  Unterschiede  zu 
seinem  Buch  durch  Wundts  oben  besprochenes  Werk  sehr  be- 
einflußt  ist^,   die  Entstehung  der  Zauberei  aus  der  Forschung 

*  Jevons  in  Transactions  usw.  I,  S.  71 — 78. 

*  Vgl.  den  Appendix  in  Jevons  Introduciion  S.  267. 


416  K.  Th.  Preuß 

nach  der  Ursache  von  Krankheit  und  Tod,  und  betont  dann 
besonders,  daß  der  Zauberer  in  der  sogenannten  Analogie- 
handlung nicht  den  Unterschied  zwischen  einer  Nachahmung 
und  dem  wirklichen  Vorgang  macht  wie  wir,  daß  vielmehr 
Beine  Nachahmung  z.  B.  der  Tötung  eines  Feindes  sich  ihm 
als  die  Wirklichkeit  selbst  darstellt.  Das  Leitmotiv  des 
Ganzen  ist  dem  Verfasser  aber  die  Behauptung,  daß  die  von 
Menschen,  wie  von  Tieren  und  Dingen  ausgehende  Zauber- 
wirkung stets  das  Werk  eines  persönlichen  Geistes  animistischer 
Natur  ist.  Kurz,  ihm  ist  der  Animismus  die  feste,  undiskutier- 
bare  Grundlage,  in  seinem  Buche  (S.  89 f.)  aber  sagt  er,  alle 
die  magischen  Kräfte  der  Wesen  und  Dinge  seien  zunächst 
ohne  jede  Beziehung  zu  Geistern  ausgeübt,  bezugweise  be- 
nutzt worden,  als  etwas  Alltägliches,  was  jedem  oflfen  steht. 
Der  Animismus  habe  zwar  zugleich  bestanden,  aber  nur  als 
eine  Philosophie,  auf  die  man  gelegentlich  zurückgriff.  Das 
alles  ist  etwas  unklar,  ja,  es  stellt  den  Verfasser  als  Vertreter 
einer  außeranimistischen  Magie  dicht  neben  die  Präanimisten, 
wovor  Jevons  sich  wahrscheinlich  entsetzen  würde.  Diese  wollen 
ja  auch  nichts  weiter  beweisen,  als  daß  die  Zauberei  zunächst 
mit  den  Totenseelen  und  analogen  Bildungen  nichts  zu  tun 
habe,  sondern  auf  einer  Zauberfähigkeit  bzw.  vagen  Beseeltheit 
aller  Dinge  beruhe.  Der  Verfasser  geht  auch  über  solche 
Punkte,  die  für  andere  gerade  den  Kernpunkt  bilden,  schnell 
hinweg,  und  in  seinem  Vortrag  findet  man  nur  ganz  flüchtig 
(S.  72)  die  unbelebten  Dinge  als  gleichwertige  Zauberobjekte 
neben  die  Personen  und  Tiere  gestellt.  Was  er  endlich  unter 
Animismus  versteht,  den  er  überall  im  Munde  führt,  verrät 
er  uns  auch  nicht. 

Während  sich  Jevons  in  der  eben  erwähnten  vergleichen- 
den Religionswissenschaft  fast  ganz  an  die  primitiven  Völker 
hält  und  das  Material  nur  insoweit  heranzieht,  als  es  zum 
Verständnis  seiner  Ideen  notwendig  ist,  bemüht  sich  Th.  Achelis 
in   seinem   Abriß   der  vergleichenden   Religionswissen- 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  417 

Schaft^  auch  etwas  von  den  fortgeschritteneren  Religionen  zu 
bringen  und  liefert  ein  buntes  Bild  der  Tatsachen  ohne  Quellen- 
angabe. Die  Gegensätze  der  Auffassungen  bleiben  verborgen,  der 
Animismus  herrscht  vollkommen,  das  Primitive  wird  vom  Stand- 
punkt der  Religion  als  einer  feststehenden  Einheit  aufgefaßt. 
Es  ist  ein  Büchlein,  das  nicht  Neues  geben  will,  sondern  wie 
die  zahlreichen  früheren  Werke  des  Verfassers  sekundär  an- 
einanderreiht. Durch  diese  vermittelnde  Tätigkeit  während  langer 
Jahre,  wo  —  namentlich  in  Deutschland  —  die  Beschäftigung 
mit  den  primitiven  Religionen  nur  gelegentlich  vorkam,  hat 
Achelis  das  Interesse  dafür  wacherhalten  und  sich  namentlich 
auch  durch  die  Gründung  unseres  Archivs  für  Religions- 
wissenschaft große  Verdienste  erworben.  Das  sei  bei  der  Ge- 
legenheit seines  vor  kurzem  erfolgten  Todes  gebührend  ins 
Gedächtnis  zurückgerufen. 

Die  Religionen  der  Naturvölker  zieht  auch  Eduard 
Meyer  in  dem  einleitenden  Bande  seiner  Geschichte  des 
Altertums-  etwa  S.  85 — 131  gelegentlich  in  den  Kreis  seiner 
Betrachtung.  Das  Weitere  hat  mit  der  „Völkerkunde"  kaum 
noch  etwas  zu  tun.  Doch  geht  er  als  Nichtfachmann  nicht 
von  den  Tatsachen  aus,  sondern  deduziert  teüs  aus  dem  ihm 
in  der  Geschichte  des  Altertums  bekannten  Material,  teils  aas 
philosophischen  Erwägungen.  Trotzdem  ist  es  notwendig,  auf 
seine  Ausführungen  genauer  einzugehen,  eben  weil  er  sie 
unrichtig  als  Völkerkunde  bezeichnet.^  Dieser  steht  er  nicht 
nur  fremd  gegenüber,   sondern  hält  ihre  Untersuchungen  ähn- 

*  164  S.  Sammlung  Göschen,  Leipzig,  1908.  2.  umgearbeitete 
Auflage. 

*  2.  Aufl.  Bd  I,  erste  Hälfte,  Einleitung:  Elemente  der  Anthro- 
pologie. Stuttgart  und  Berlin,  190". 

'  Die  Bezeichnung  Elemente  der  Anthropologie  ist  für  diesen 
ganzen  Band  unzutreffend.  Anthropologie  ist  nach  dem  herrschenden 
Sprachgebrauch  die  Lehre  von  dem  menschlichen  Körper  und  seiner 
Entwicklung.  Das  englische  anthropology  umfaßt  sowohl  das  deutsche 
Authropologie  wie  Ethnologie  oder  Völkerkunde. 

Archiv  1  Beligionswiasenschaft    YTTT  27 


418  K.Th.  Preuß 

lieh  wie  Foucart  sogar  für  wenig  verwendbar  für  den  Ver- 
gleich mit  Kulturvölkern,  weshalb  er  es  offenbar  auch  nicht 
für  nötig  befunden  hat,  sich  mit  ihnen  zu  befassen. 

Richtig  ist  es  vom  Standpunkt  der  Völkerkunde,  wenn 
Meyer  die  Zauberei  als  organischen  Bestandteil  der  Religion 
ansieht.  Den  Ausdruck  Religion  möchte  er  erst  auf  dauernde 
geregelte  Beziehungen  zwischen  den  aus  Geistern  in  Götter 
umgewandelten  Potenzen  und  den  Menschengruppen  anwenden. 
Nur  wird  in  der  Praxis  sowohl  die  Unterscheidung  zwischen 
Gott  und  Geist,  wie  die  Auffassung,  was  ein  geregelter  Kult 
ist,  wie  auch  die  Größe  der  Menschengruppe  erst  zu  fixieren 
sein.  Ist  z,  B.  bei  den  Cora-Indianern  das  ganze  ungeheure 
Heer  der  Verstorbenen,  die  zu  Regengöttern  werden,  die  man 
bei  allen  Festen  des  Dorfes  insgesamt  anruft,  und  die  ihre 
Gaben  eben  so  regelmäßig  erhalten  wie  etwa  der  Sonnengott 
—  ein  Heer  von  Geistern  oder  von  Göttern?  Meyer  unter- 
scheidet nachher  selbst  zwei  Klassen  von  Göttern,  von  denei 
die  eine  sich  interessanterweise  ungefähr  mit  den  kultlosei 
oder  kultarmen  „obersten  Gottheiten"  vieler  Naturvölker  decki 
Diese  nennt  Meyer  natürlich  auch  Götter,  ist  aber  schon  ge 
nötigt,  ein  persönliches  Gefühl  der  Abhängigkeit  als  Kriteriui 
der  „geregelten  Beziehungen"  zwischen  ihnen  und  den  Menschei 
anzunehmen.  Das  ist  also  ein  weiteres  schwankendes  Merkri 
mal  seiner  Religion. 

Bekanntlich  hat  Andrew  Lang  diese  kultarmen  Gottheitei 
als  Urgrund  der  Religion  angenommen,  was  eine  umfangreichij 
Diskussion  hervorgerufen  hat.  Davon  weiß  Meyer  jedocl 
nichts,  sondern  betrachtet  es  in  seiner  Götterlehre  als  eine! 
grundlegenden  Gedanken,  die  Götter  in  kultarme,  dafür  ab« 
weltumspannende  und  in  kultisch  wohl  versehene,  jedoch  mit 
beschränktem  Wirkungskreis  (Stammesgötter),  einzuteilen.  In 
der  Tat  sind  selbst  die  Himmelsgötter  oft  Stammesgötter  mit 
dem  angegebenen  Charakteristikum  des  beschränkten  Wirkungs- 
kreises, denn  sie  sorgen  auch  am  Himmel  nur  für  ihre  Stämme. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  419 

Nur  nützt  diese  Einteilung  nictt  viel,  da  die  Hauptmasse  der 
Götter  die  der  Klasse  II  ist  und  so  nicht  weiter  gegliedert 
oder  verstanden  wird. 

Im  Gegenteil  sagt  Meyer  nicht  nur  nicht,  wie  solche 
Götter  entstehen  oder  sich  aus  Geistern  umbilden,  sondern  be- 
kämpft auch  kategorisch,  was  andere  vorgeschlagen  haben. 
Die  Götter  wirken  nach  ihm  ans  einem  Xaturobjekt,  einem 
Berg,  Quell,  Baum,  Stein,  Tier  oder  einem  von  Menschenhand 
geschaffenen  Gegenstand.  Das  seien  aber  alles  nur  Ver- 
körperungen lebendiger  seelischer  Mächte.  Götter  seien  nie 
aus  dem  Tierkult  hervorgegangen  oder  Ahnengeister,  ja,  es 
scheint,  daß  sogar  Lichtkörper  oder  Naturobjekte  nach  Meyer 
nie  der  letzte  Ursprung  eines  Gottes  gewesen  sind.  Sie  sind 
eben  da  wie  die  Sondergötter  Useners,  die  bestimmten  mensch- 
lichen Tätigkeiten  vorstehen.  Solche  Spezialgottheiten  gibt 
es  freilich  auch  bei  den  Naturvölkern,  aber  ich  muß  be- 
tonen, daß  unter  den  Ethnologen  auch  nicht  einer  ist,  der 
es  nicht  als  eine  Hauptaufgabe  der  religiösen  Forschung  ansieht, 
die  Entstehung  der  Götter  aus  materiellen  Körpern  (Menschen, 
Tieren,  Naturobjekten)  bzw.  ihrem  ,.geistigen"  Teil,  aus  Natur- 
phänomenen (Licht,  Nacht,  Wind,  Geräusch  usw.),  sowie  endlich 
aus  Ahnenseelen  herzuleiten,  mag  auch  dieser  oder  jener 
spezielle  Themata  etwa  wie  Andrew  Lang  verfolgen.  Die 
Götter  verstehen  wollen  und  diesen  ersten  Gmnd  aufsuchen, 
ist  für  die  Völkerkunde  eins.  Das  kommt  Meyer  in  seiner 
spätere  Verhältnisse  behandelnden  Arbeit  nicht  zum  Bewußt- 
sein. Es  ist  auch  bereits  ein  ungeheures  Material  zu- 
sammen, das  unzweifelhaft  die  Entstehung  von  Göttern  aus 
Ahnenseelen  (z.  B.  bei  Wadschagga*  und  Cora*),  aus  Tieren 
(z.  B.  Giljaken^,  Haida^)  und  Naturobjekten  beweist. 

*  Siehe  Archiv  XII  Die  Opferstätten  der  Wadschagga,  besonders 
S.  87.  Die  Wadschagga  haben  außer  diesen  nur  noch  einen  Gott  nach 
Meyers  Klasse  I.  »  Siehe  vorher. 

'  Siehe  Archiv  YIII  z.  B.  S.  251  (Stemberg). 

*  Siehe  The  Jesup  North  Pacific  Expedition  Y  z.  B.  S.  17  (Swanton). 

27* 


420  K.  Th.  Preuß 

Überhaupt  besteht  ein  Abgrund  zwischen  der  Auffassung 
Meyers  und  der  Ethnologen.  Er  sagt  z.  B.:  „Die  Heiligkeit, 
der  göttliche  Charakter  (ist)  der  ganzen  Tiergattung  gemeinsam, 
in  deren  Gestalt  ein  Gott  erscheint;  als  sein  Sitz  .  .  .  gilt  aber 
ein  einzelnes  Tier  dieser  Gattung  .  .  ."  Das  kann  keines- 
wegs als  etwas  Ursprüngliches  gelten.  Der  Ethnologe  weiß 
in  erster  Linie  nur  von  ganzen  Geistervölkern,  von  Tieren, 
von  Heringen,  Walfischen,  Bären,  Berglöwen  usw.,  ebenso  wie 
von  zahllosen  Regengöttern,  Berggöttern  usw.,  zu  deren  über- 
natürlichen Kräften  ganz  geregelte  Kultbeziehungen  bestehen. 
Das  ist  der  Anfang,  das  der  Ausgang,  auf  den  sich  die 
Ethnologie  endlich  besonnen  hat.  Oder  sprechen  wir  von  den 
Ahnenseelen.  Nicht  mehr  will  die  Ethnologie  Jahve  oder 
Zeus  oder  sonst  einen  alten  Kulturgott,  weil  er  der  Vater  des 
Stammes  ist,  aus  der  Seele  des  Urahnen  herleiten  (wieviel 
Jahrzehnte  liegen  diese  Versuche  zurück!),  sondern  baut  von 
unten  auf  mit  der  unendlichen  Fülle  unscheinbarer  Tatsachen, 
die  die  Völkerkunde  geliefert  hat,  und  da  kann  man  noch 
nicht  wissen,  inwieweit  in  dem  vollendeten  Bau  später  Ahnen- 
götter wohnen  werden.  Daß  es  aber  überhaupt  welche  gibt, 
ist  zweifellos.  Da  ist  für  Meyersche  Deduktionen  wie  etwa 
die  folgende  über  die  Ahnenseelen  kein  Platz  mehr.  Sie  seien 
so  hilflos  und  schwach  und  von  den  Gaben  der  Angehörigen 
ganz  abhängig,  daß  es  undenkbar  sei,  aus  ihnen  könnten 
Götter  werden.  Oder  man  höre  seine  philosophische  Seelen- 1 
theorie:  „Die  Unterscheidung  einer  äußeren  körperlichen  Er- 
scheinungsform und  eines  inneren  immateriellen  Agens  in  allen 
Objekten  der  Erscheinungswelt  können  wir  niemals  aufheben,, 
mögen  wir  sie  mit  dem  primitiven  Menschen  als  Körper  und] 
Seele  oder  mit  der  Naturwissenschaft  als  Stoff  (Materie)  und] 
Kraft  (Energie)  auffassen  .  .  ."  (88).  „Der  Dualismus  von 
Körper  und  Seele  ist  .  .  .  eine  ursprüngliche  Erfahrung"  (85).l 
Nun  ist  aber  die  angebliche  Unterscheidung  der  Primitiven] 
von  Körper  und  Seele  nicht  durch  Tatsachen  zu  erweisen.    Siel 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  421 

nennen  vielmehr  die  Wirkungskraft  der  Objekte  und  Wesen 
orenda,  mana  usw.,  was  mit  Seele  nicht  das  geringste  zu  tun 
hat.  Man  kann  ja  übereinkommen,  diese  Zauberkraft  Seele  zu 
nennen,  aber  man  muß  sich  hüten,  sie  mit  den  Totenseelen 
zusammenzuwerfen,  die  ihrerseits  bestimmte  Eigenschaften  haben. 
Meyer  aber  setzt  beides  gleich,  da  ihm  die  Tatsachen  wohl 
unbekannt  und  auch  gleichgültig  sind  (vgl.  vorher  das  zu 
Wundts  Werk  Gesagte). 

Doch  ich  muß  mich  hier  begnügen,  einige  der  stärkeren 
Versehen  ohne  viel  Kommentar  ihrer  Reihenfolge  nach  kurz 
anzuführen: 

S,  94  (gegen  Bethe):  Die  Homosexualität  ist  bei  Menschen 
und  Tieren  überall  verbreitet;  die  magischen  Vorstellungen, 
die  etwa  damit  verbunden  sein  mögen,  sind  durchaus  sekundär. 
—  Hier  kämpft  Meyer  gegen  Windmühlen,  denn  selbstverständ- 
lich hat  das  Gegenteil  niemand  behauptet.  —  S.  95,  96.  „Die  in 
neuester  Zeit  aufgekommene  Richtung,  welche  in  der  Religion 
der  Mexikaner  und  ähnlicher  Völker  einen  Schlüssel  für  das 
Verständnis  primitiver  Religion  und  der  Religionsentwicklung 
der  Völker  des  Altertums  sucht,  kann  ich  nur  als  einen  unheil- 
vollen Mißgriff  betrachten . . .,  solche  Anschauungen  sind  extreme 
Verirrungen  des  mythischen  Denkens,  die  in  die  wildeste 
Barbarei  hineingeführt  haben,  nicht  natumotwendige  und  ur- 
sprüngliche Vorstellungen  .  .  .  Sind  vollends  die  für  die  mexi- 
kanischen Anschauungen  und  Riten  gegebenen  solaren  und 
astralen  Deutungen  richtig  .  .  .,  so  beweist  das  erst  recht,  daß 
wir  es  hier  mit  ganz  jungen  Gebilden  zu  tun  haben."  —  Da 
Meyer  statt  eines  Versuchs  einer  Widerlegung  sich  genötigt 
sieht,  eine  Verirrung  des  Denkens  von  Völkern  zu  postulieren, 
so  kann  man  daraus  ermessen,  wie  wenig  er  sich  zu  helfen 
wußte.  Das  betreffende  Material  selbst  irgendwie  verantwort- 
lich zu  machen  als  Verirrungen  des  mythischen  Denkens  fallt 
in  die  oben  skizzierten  Anschauungen  Foucarts,  zu  denen  ich 
mich    schon   geäußert  habe.      Verirrungen   des  Denkens    eines 


422  K.  Th,  Preuß 

Volkes  kann  es  in  der  Wissenschaft  nie  geben,  sondern  nur 
Material  für  die  historische  Erkenntnis,  da  der  Forscher  kein 
Gott  ist;  denn  eine  Norm  ist  uns  nicht  gegeben,  sondern  un- 
erreichbares Ziel  der  Erkenntnis.  „Junge  Gebilde"  können  ferner 
nur  durch  geschichtliche  Hilfsmittel  festgestellt  werden. 
Ahnungen,  wie  sie  Meyer  darüber  hat,  stehen  auf  einer  Stufe 
mit  den  einen  Sinn  entbehrenden  „Verirrungen  des  mythischen 
Denkens".  —  S.  95  spricht  sich  Meyer  über  die  Unter- 
schiede zwischen  Kulturvölkern  und  Naturvölkern  dahin  aus, 
daß  bei  ersteren  Momente  vorhanden  waren,  die  ihr  Vorwärts- 
schreiten ermöglichten.  Diese  fehlten  den  Naturvölkern,  und 
deshalb  seien  die  Kulturvölker  nie  auf  der  Kulturstufe  der 
Nordamerikaner  oder  der  Neger  oder  gar  der  Mexikaner  ge- 
wesen. —  Die  Naturvölker  sind  nach  Meyer  also  Menschen 
zweiten  Grades,  so  daß  ihre  Kultur  zur  Erklärung  der  kulturellen 
Güter  nicht  in  Betracht  kommt.  Waren  nun  aber  nicht  z.  B. 
die  Germanen  vor  der  Befruchtung  ihrer  Kultur  durch  die 
Römer  auch  Naturvölker?  Meyer  vergißt  die  Jahrhundert- 
tausende langsamer  Kulturentwicklung  vor  der  kurzen  Periode 
der  geschichtlichen  Kultur  in  seine  Rechnung  aufzunehmen. 
Er  vergißt,  daß  die  Kultur  der  Naturvölker  gegenüber  dem 
theoretischen  Nullpunkt  eine  ungeheuere  zu  nennen  ist,  un- 
endlich viel  größer  als  die  folgende  Kulturentwicklung  in  den 
paar  Jahrtausenden  der  „Kulturvölker".  Das  ist  der  erste 
Eindruck,  den  der  denkende  Reisende  im  Verkehr  mit  den 
Naturvölkern  erhalten  muß.  Übrigens  sind  gerade  die  hoch- 
entwickelten Mexikaner  ein  sehr  wenig  zutreffendes  Beispiel.  — 
S.  108  wird  der  Totemismus  aus  Tiernamen  hergeleitet,  die  als 
Spott-  oder  Ehrennamen  den  Stämmen  beigelegt  wurden.  — 
Dafür  gibt  es  auch  nicht  einen  Beleg.  —  S.  110  Götterbilder, 
in  denen  man  die  Götter  nachzuahmen  sucht,  „werden  unter  dem 
Namen  der  Fetische  zusammengefaßt".  —  Daß  Fetische  etwas 
absolut  anderes  sind,  brauche  ich  nicht  auseinanderzusetzen.  — 
S.  111.    „Die  Mächte,  die  Tod  und  Krankheit,  Unfruchtbarkeit 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  423 

nnd  Dürre  senden  und  die  in  wilden  Tieren  hausen,  (sindj  stets 
bösartige  Wesen."  Für  die  Naturvölker  ist  diese  Schilderung 
unzutreffend.  Die  Krankheit  und  Dürre  sendenden  Götter 
spenden  meist  auch  allen  Segen,  selbst  wenn  sie  „wilde  Tiere" 
sind.  —  S.  123  f.  wird  hervorgehoben,  daß  die  Steigerung 
der  Kultur  regelmäßig  zugleich  eine  gewaltige  Steigerung  der 
Keligiosität  bewirke.  In  primitiven  Verhältnissen  vertraue  der 
einzelne  viel  mehr  auf  seine  eigene  Kraft  als  auf  die  Hilfe  der 
Götter  und  auf  Zauberriten.  „Die  Bedeutung  der  Religion  für 
primitive  Volksstämme  wird  von  der  modernen  Forschung  oft 
stark  überschätzt;  sie  steht  einseitig  unter  dem  Eindruck 
extremer  Bildungen   des    folgenden   Entwicklungsstadiums  .  .  ." 

—  Die  Meinung  der  Ethnologen  gründet  sich  darauf,  daß  bei 
den  Primitiven  der  Erwerb  von  Xahruncr,  der  täglich  Schwierig- 
keiten  zu  überwinden  hat,  ferner  jedes  kleine  tägliche  Ereignis 
des  Lebens,  Reisen.  Krankheit,  Krieg  usw.  stets  die  Anwendung 
von  Zauberkraft  (orenda  usw.)  verlangt.  Mit  fortschreitender 
Kultur  verringern  sich  die  Zauberobjekte,  einen  großen  Teil 
davon  absorbieren  die  Götter,  die  Religionsangelegenheiten 
werden  zusammengefaßt  und  so  die  tägliche  und  stündliche 
Inanspruchnahme  durch  die  Religion  vermindert.  Das  erhellt 
heute  aus  allen  Reiseberichten  geschulter  Ethnologen.  Meyer 
vertritt  hier  die  frühere  überwundene  Auffassung  der  Ethno- 
logen, die  für  diese  unscheinbaren  Dinge  noch  keinen  Blick 
hatten.  —  S.  112.  „Die  Vorgänge  des  irdischen  Naturlebens 
stehen  dem  primitiven  Menschen  viel  näher  und  spielen  daher 
eine  viel  größere  Rolle  als  die  Vorgänge  am  Himmel.  Erst 
in  vorgeschrittenen  Religionen  treten  diese  in  den  Vordergrund." 

—  Das  ist  nur  als  Postulat  der  Forschung  richtig.  Die  Tat- 
sachen beweisen,  daß  heute  auch  die  primitivsten  Naturvölker 
bei  näherer  Untersuchung  Himmelserscheinungen  und  Licht- 
körper in  ihre  Auffassungen  und  in  ihren  Kult  einbezogen 
haben.  —  S.  169  wird  gesagt,  daß  seit  den  ältesten  Zeiten  be- 
sonders die  Frauen  äußeren  Schmuck  tragen.  —  Für  die  Völker- 


424  K.  Th.  Preuß 

künde  ist  das  Gegenteil  eine  seit  langem  festgestellte  Tat- 
sache.^ 

Man  fragt  sich  in  der  Tat  vergebens,  weshalb  der  be- 
rühmte Historiker  dieses  ihm  unsympathische  und  fremde  Gebiet 
betreten  hat,  namentlich  da  heute  doch  der  Grundsatz  einer 
strengen  Teilung  der  Wissenschaften  als  erste  Bedingung  ihres 
Fortschreitens  mit  Recht  feststeht. 

Die  kurze  Darstellung  Edvard  Lehmanns,  Die  An- 
fänge der  Religion  und  die  Religion  der  primitiven 
Völker^,  gibt  einen  guten  Überblick  unter  Berücksichtigung 
des  Präanimismus  und  der  Magie  als  Vorstufe  der  Religion. 
Nach  ihm  besteht  der  Glaube  an  eine  allgemeine  Natur- 
beseelung oder  einen  Panvitalismus,  zu  dem  die  Ideen  von  den 
Seelen  der  Verstorbenen  hinzugekommen  sind.  Fetische  sind 
also  von  diesen  präanimistischen  Geistern  bewohnt.  Einen  zu 
großen  Umfang  gibt  er  dem  Begriff  tabu,  denn  tabu  sei  jede 
Person  oder  Sache,  die  mit  Geisterkraft  erfüllt  oder  der  Wirkung 
dieser  Kräfte  besonders  ausgesetzt  ist,  die  also  heilig  bezw. 
unrein  ist.  —  Das  Komplement  zu  tabu  ist  nämlich  die  Zauber- 
kraft schlechthin  (orenda,  mana  usw.),  die  der  Verfasser  nach 
seiner  Nomenklatur  wohl  Geisterkraft  nennen  würde.  Alle,  die 
solche  Zauberkraft  besitzen  oder  ihr  ausgesetzt  sind,  sind  nicht 
zugleich  tabu,  d.  h.  heilig  oder  unrein.  Vielmehr  sucht  ein 
Orenda  das  andere  zu  überwinden  bezw.  zu  benutzen.  Zu 
wenig  Gewicht  hat  Lehmann  den  Zauberkräften  der  Tiere  und 
ihren  Ursachen  beigelegt,  worauf  auch  die  Speiseverbote  z.  T. 
zurückzuführen  wären,  die  der  Verfasser  allein  den  totemistischen 
Ideen   zuschreibt.     Die  Unsicherheit    über    die  Auffassung   des 


*  Ähnlich  starke  Bedenken  bringe-  ich  dem  ersten  Teile  desselben 
Buches  entgegen,  das  die  staatliche  und  soziale  Entwicklung  behandelt. 
Doch  muß  ich  mich  hier  begnügen,  auf  einige  treflFende  kritische  Be- 
merkungen dazu  von  C.  F.  Lehmann -Haupt  in  der  Klio  VII,  S.  458  f.,  zu 
verweisen. 

*  In  Paul  Hinneberg  Die  Kultur  der  Gegenwart  Teil  I,  Abteil.  HI,  1 
Die  orientalische  Beligion.    Berlin  1906.     29  S. 


Religionen  der  Naturvölker  1906  —  1909  425 

Totemismus  tritt  mit  R^cht  hervor;  daß  Totems  neuerdings 
als  Spitznamen  erklärt  werden,  hätte  er  jedoch  nicht  ernsthaft 
in  Rechnung  ziehen  sollen,  zumal  die  Grundauffassung  des 
Verfassers  erfreulicherweise  der  „R€ligion"  einen  gewaltigen 
Einfluß  auf  das  soziale  Leben  zuweist.  Voraus  geht  eine  lehr- 
reiche Übersicht  über  die  historische  Entwicklang  der  An- 
schauungen von  den  Anfängen  der  Religion. 

in  Grundlegende  Probleme 

Auf  dem  religionsgeschichtlichen  Kongreß  zu  Oxford  hat 
die  Wage  der  Meinungen  den  Ausschlag  nach  der  Seite  des 
Präanimismus  gegeben  und  der  Zauberei  als  einem  integrierenden 
Bestandteil  der  Religion  ihren  Platz  zugewiesen.  Und  zwar 
sind  das  Hauptargument  die  Begriffe  des  orenda,  mana  und 
ähnlicher  Bezeichnungen  der  Zauberkraft  gewesen,  die  in  der 
Tat  ausschlaggebend  sind,  und  deren  Erörterung  die  Anders- 
denkenden aus  dem  Wege  zu  gehen  pflegen.  Vor  allem  hat 
die  Ansprache^  des  Vorsitzenden  der  Sektion  für  die 
Religionen  der  Naturvölker,  E.  S.  Hartland,  mit  Ent- 
schiedenheit diese  Richtung  vertreten,  ebenso  plastisch  ein- 
drucksvoll wie  versöhnend  gegenüber  den  anderen  Meinungen, 
deren  Auseinandergehen  er  mit  Recht  zum  Teil  den  unaus- 
geglichenen Definitionen  der  Termini  und  einer  Verschiebung 
der  Betrachtungsweisen  zuschreibt,  die  mehr  auf  das  Trennende 
als  auf  das  Einigende  ausgeht.  Das  verständnisvolle,  ich 
möchte  sagen  liebevolle  Eingehen  auf  die  unbestimmten 
gleitenden  Vorstellungen  der  Primitiven  und  die  verschiedenen 
Seiten  seiner  Auffassung  treten  noch  mehr  in  seiner  An- 
sprache als  Vorsitzender  der  „anthropologischen" 
Sektion  der  British  Association  for  the  Advancement 
of  Science'  hervor.     Er   sagt  etwa  —  seine  Zurückweisung 

*  Transactions  I,  S.  21— 32. 

*  Tramactions  of  Section  H  in  Eeport  of  the  British  Association. 
York  1906. 


.426  K-  Th.  Preuß 

der  obersten  Gottheiten  Andrew  Längs  und  manches  andere 
lasse  ich  aus  — :  Persönlichkeit  und  Mysterium  oder  —  anders 
ausgedrückt  —  Bedürfnisse  und  Empfindungen  einerseits  und 
Fähigkeiten  über  die  äußeren  Erscheinungen  hinaus  ander- 
seits werden  der  ganzen  Umgebung  nach  Maßgabe  des  mensch- 
lichen Bewußtseins  zugeschrieben.  Dieses  den  Objekten  zu- 
geschriebene persönliche  Leben,  ein  Abbild  des  eigenen  mensch- 
lichen Lebens,  geht  dem  Animismus,  der  Unterscheidung  von 
Seele  und  Körper  und  den  animistischen  Geistern  und  Dämonen 
voraus.  Die  geheimnisvolle  Potentialität  (orenda  usw.)  anderer 
„Persönlichkeiten"  zu  überwinden  oder  zu  gewinnen  sind 
Zauberei  und  Religion  entstanden,  die  also  beide  aus  der- 
selben Wurzel  entspringen.  Doch  spricht  die  Uberwucherung 
der  Riten  über  die  Spekulation,  der  Handlung  über  das  Nach- 
denken für  eine  frühere  Entwicklung  der  Magie.  Dieses 
orenda  usw.  nun  ist  auch  der  Zauberstoff,  womit  Objekte 
eventuell  vom  Zauberer  gefüllt  werden  müssen,  um  magische 
Wirkung  auszuüben.  Die  Analogieformen  des  Zaubers  treten 
zum  orenda  usw.^  hinzu.  Zauberwort  geht  in  allen  möglichen 
Nuancen  in  Gebet  über.  Durch  Gabe,  Erniedrigung,  Kacteiung, 
Fasten,  Enthaltsamkeit  wird  ein  mächtiges  Orenda  gewonnen, 
das  nicht  gezwungen  werden  kann,  ähnlich  wie  man  im  ge- 
wöhnlichen Leben  die  Hilfe  eines  Häuptlings,  Feindes  usw. 
gewinnt.  -  -  Hier  glaube  ich  allerdings,  daß  z.  B.  Fasten,  ge- 
schlechtliche Enthaltsamkeit  usw.  ursprünglich  direkte  Mittel 
sind,  die  eigene  Zauberkraft  zu  erhöhen,  und  nicht  eine  Art 
Demütigung  vor  einem  Mächtigeren.^ 

^  Sehr  gut  illustriert  eine  von  mir  aufgenommene  Erzählung  der 
Coraindianer,  wie  auch  die  einfachsten  Zeremonien,  die  äußerlich  gar 
keine  Schwierigkeiten  bieten,  selbst  in  dieser  äußerlichen  Form  nur  von 
einer  „Potenz"  ausgeführt  werden  können.  Die  Cora  wollen  einen  Altar 
errichten,  um  ihr  Fest  beginnen  zu  können.  Sie  fällen  Bäume,  es  ist 
aber  unmöglich,  die  vier  Pfähle  dazu  in  die  Erde  zu  stecken,  bis 
der  Morgenstern  herzukommt  und  die  richtigen  zeremoniellen  Vor- 
bereitungen trifft. 

*  S.  Ursprung  der  Religion  u.  K.,  Olobus  Bd  87,  S.  398  f. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  427 

Während  wir  über  das  Orenda  der  Irokesen  die  klassische 
Darstellung  von  Hewitt^  haben,  der  selbst  irokesischer  Ab- 
stammung ist,  ist  die  eigentliche  Kenntnis  des  melanesischen 
Mana  uns  erst  jetzt  durch  die  genaue,  auch  auf  philologischer 
Grundlage  ruhende  Interpretation  von  R.  R.  Marett,  The 
Conception  of  Mana^  auf  dem  Oxforder  Kongreß  zuteil  ge- 
worden. Zugrunde  liegt  ihm  dafür  das  hervorragende  Werk  von 
Codrington,  The  Melanesians  (1891).  Mit  anderen  wichtigen  Auf- 
sätzen des  Verfassers  über  grundlegende  Probleme  der  primitiven 
Religionen  zusammen  ist  es  jetzt  auch  in  R.  R.  Marett,  The 
Threshold  of  Religion^  abgedruckt  worden.  Schon  auf  dem 
Kongreß  wurde  mir  die  Bedeutung  seiner  Darlegungen  als 
sicheres  Fundament  inmitten  der  wogenden  Auffassungen  der 
Forscher  klar,  und  ich  war  froh,  daß  er  selbst  in  aller  Kürze 
das  Wort  über  mana  im  Archiv  ergreifen  wollte.  Vgl.  Bd  XII, 
S.  186  — 194.  Ich  könnte  mich  deshalb  hier  mit  diesem  Hin- 
weise begnügen.  Es  würde  aber  eine  empfindliche  Lücke  in 
diesem  die  Hauptsachen  widerspiegelnden  Berichte  entstehen, 
wollte  ich  nicht  auf  die  recht  erheblichen  Abweichungen  des 
mana  von  orenda  und  auf  seine  Stellung  innerhalb  der  hier 
recristrierten  Meinungen,  insbesondere  auf  seine  Beziehungen  zum 
Animismus  ganz  kurz  eingehen.  Denn  orenda  ist  nur  über- 
natürliche oder  Zauberkraft  schlechthin  als  Bezeichnung  der  in 
den  Wesen  und  Objekten  wirkenden  Potenzen,  ganz  gleich- 
gültig, ob  diese  Träger  des  Orenda  Geister  im  Sinne  des 
Tylorschen  Animismus  sind  oder  nicht.  Das  Orenda  selbst  ist 
demnach  etwas  Unpersönliches,  ja  die  Träger  selbst  sind  öfters 
nicht  recht  faßbar.  Xeben  Menschen,  Tieren,  greifbaren  Natur- 
objekten besitzen  der  Himmel,  die  Dunkelheit,  die  Sturm- 
wolken usw.  orenda,  kurz  alles,  mit  dessen  Wirkungen  man 
rechnen   zu   müssen   glaubt.     Es   liegt   in   den  Tönen,    in   der 

^  Amer.  Anthropologist,  1902,  N.  S.  IV,  33  f.     Vgl.  Archiv Yll,  S.  232. 

*  Transactions  I,  S.  46  —  57. 

*  London  1909,  S.  115— 142. 


428  K.  Th.  Preuß 

Stimme,  im  Gesänge,  es  ist,  wie  mir  noch  neulicli  wieder  der 
Mohawkindianer  Brant  Sero  mitteilte  —  melody. 

Hier  haben  wir  für  das  Mana  viel  genauere  Anschauungen 
bei  den  Melanesiern.  Ich  folge  nun  Marett.  Mana  und  über- 
natürliche Macht  (Zauberkraft)  ist  identisch,  und  zwar  in  dem 
strengen  Sinne,  daß  die  Seelen  der  Verstorbenen  (tindalo, 
ghost,  Geist)  meist  kein  mana  besitzen.  Nur  diejenigen  Seelen 
Verstorbener  haben  mana,  in  die  schon  bei  Lebzeiten  ein  Geist 
mit  mana  oder  ein  Dämon  (spirit)  —  dieser  hat  stets  mana  — 
eingedrungen  ist.  Im  lebenden  Menschen  heißt  die  Seele 
tarunga  wie  bei  den  Tieren,  während  Objekte  gar  keine  Seele 
haben,  aber  nur  bei  den  Menschen  wird  diese  Seele  nach  dem 
Tode  zum  Geist  (tindalo).  In  alle  Tiere  und  Objekte  kann 
jedoch  ein  Geist  mit  mana  oder  ein  Dämon  einfahren  wie  in 
den  Menschen,  oder  das  mana  wird  einfach  übertragen,  die 
Dinge  mit  mana  gehören  dann  zu  einem  Geist  mit  mana  oder 
zu  einem  Dämon.  Auf  diese  Weise  ist  das  rein  immaterielle 
Mana  überall  verbreitet,  gewissermaßen  losgelöst  vom  dämoni- 
schen Ursprung,  wird  von  Menschen  in  Gestalt  von  Amuletten 
und  Zauberobjekten  allenthalben  benutzt,  und  jeder  nur  »rgend- 
wie  das  Gewöhnliche  übersteigende  Erfolg  oder  eine  persön- 
liche Geschicklichkeit  usw.  wird  dem  Mana  zugeschrieben.  Da 
die  Geister  mit  mana  und  die  Dämonen  stets  mana  haben,  so 
sagt  man  von  ihnen,  sie  sind  mana,  während  man  das  von 
den  Wesen  und  Objekten  mit  mana  nicht  sagen  kann.  So 
steht  mana  in  der  Mitte  zwischen  Persönlichem  und  Unpersön- 
lichem. Vom  Animismus  hängt  also  das  Mana  ab,  und  Marett 
hat  recht,  daß  aus  der  Auffassung  des  Mana  schließlich  diese 
oder  jene  Form  animistischer  Konzeption  werden  muß. 

Das  alles  ist  sehr  lehrreich,  denn  die  Geister  und  Dämonen 
haben  nur  deshalb  übernatürliche  Kraft,  weil  sie  mana  be- 
sitzen, während  die  Animisten  gerade  übernatürliche  Wirkungen 
ohne  weiteres  durch  das  Einsetzen  von  Seele,  Geist  als  letzten 
Grund    erklären    wollen.      Auch    die    Dämonen    (spirits)    der 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  429 

Melanesier  sind  interessant.  Sie  sind  nämlich  teils  geistähnlich 
Ton  unbestimmten  Umrissen  „grau  wie  Staub",  also  offen- 
sichtlich animistischer  Nachbildung,  teils  haben  sie  den  ge- 
wöhnlichen Körper  eines  Menschen.  Marett  schließt  nun 
richtig,  daß  diese  zweite  Art  der  mythischen  Einbildung  dem 
anthropomorphen  Theismus  ihren  Ursprung  verdankt  und  auf 
die  Belebung  oder  Beseelung  von  Naturobjekten  zurückgeht, 
die  er  früher  in  seiner  Arbeit  Preanimistic  Religion  (1900)^ 
besprochen,  und  wofür  er  den  Ausdruck  animatism  vorgeschlagen 
hat.  Marett  ist  somit  schon  frühzeitig  dem  Präanimismus  nach- 
gegangen, und  es  ist  deshalb  mit  Freuden  zu  begrüßen,  daß  er 
die  Arbeit  in  die  Aufsatzserie  seines  Buches  The  Threshold  of 
Religion  aufgenommen  hat. 

Die  unpersönliche  Form  des  Mana  scheint  nun  noch  eine 
besondere  Tragweite  zu  haben.  Schon  Marett  weist  darauf 
hin,  daß  manchen  Begriffen  von  Göttern  etwas  Unpersönliches 
anhaftet  imd  macht  dafür  eine  Auffassung  wie  die  des  Mana 
verantwortlich.  Auch  manche  namenlosen  Dämonen  animisti- 
scher Natur  seien  merkwürdig  unbestimmt.  Wenn  wir  uns  das 
gegenwärtig  halten,  erlangen  wir  die  richtige  Perspektive  für 
den  Vortrag  von  Edward  Clodd,  Preanimistic  Stages  in  Religion^, 
der  auf  dem  Oxforder  Kongreß  gehalten,  aber  leider  sehr  ver- 
kürzt veröffentlicht  worden  ist.  Er  geht  von  der  Darwinistischen 
Entwicklungslehre  aus  und  will  die  Religion  bis  zur  Psyche  des 
Tieres  zurückverfolgen.  „Das  Tier,  das  Kind  und  der  un- 
wissende Erwachsene  zittern  gleichmäßig  vor  dem  Unbekannten 
und  Ungewöhnlichen  .  .  .  Auf  der  angenommenen  Stufe  hat  der 
Mensch  die  Teilung  der  Erscheinungen  in  natürliche  und  über- 
natürliche oder  seine  eigene  Zusammensetzung  aus  Materie  und 
Geist  noch  nicht  erfaßt  .  .  .  Wir  kommen  so  zu  einer  Stufe 
der  Entwicklung,  die  früher  ist  als  der  Animismus,  der  Glauben 

^  Folklore  XI,  1900,  S.  162  ff.  Vgl.  meine  kurze  Anzeige  im 
Archiv  YII,  S.  232. 

'  Transactions  I,  S.  33  —  35. 


430  K.  Th.  Preuß 

an  überall  verkörperte  Geister.  Die  Grundidee  in  diesem 
Präanimismus  ist  die  einer  allenthalben  vorhandenen  Macht 
(of  power  everywhere),  einer  unbestimmt  aufgefaßten  aber 
immanenten  Macht,  die  noch  persönlicher  oder  übernatürlicher 
Attribute  entkleidet  ist."  Er  führt  nun  ein  Beispiel  für  einen 
rudimentären  Kult  solcher  unbestimmt  als  „Mächte"  aufgefaßter 
Wesen  ohne  persönliche  Qualitäten  in  heiligen  Hainen  in  Indien 
an  und  zählt  als  weitere  Belege  kurz  die  Auffassung  von 
orenda,  mana,  manitu  und  anderer  „Mächte"  auf.  —  In  der 
Tat  wird  man  in  den  Anfang  das  unbestimmt  Persönliche 
setzen,  kaum  aber  das  Unpersönliche.  Auch  das  Unpersönliche 
in  dem  Orenda,  Mana  usw.  ist  doch  nur  eine  späte  Abstraktion 
von  den  Objekten,  in  denen  es  wirkt.  Es  ist,  wie  Swanton  bei 
den  Tlingit  feststellt^,  eine  kollektive  Zusammenfassung  aller 
in  den  lebenden  Wesen,  Objekten  und  Dämonen  wirkenden 
übernatürlichen  Kräfte,  aus  denen  dann  „der  große  Geist"  der 
Indianer  und  ähnliches,  also  schließlich  doch  wieder  eine  Per- 
sönlichkeit wird.  Tiere  wie  Menschen  fürchten  sich  infolge 
bestimmter  Sinneseindrücke.  Was  gehört,  was  gefühlt  wird, 
z.  B.  Donner,  Blitz,  Wind,  kann  selbst  als  unbestimmtes  Wesen 
erscheinen,  aber  immer  als  ein  Wesen,  das  in  gewisser  Weise 
dem  Menschen  adäquat  ist,  das  vor  allem  etwas  kann  und  will 
(orenda  usw.).  So  können  Dämonen  aus  bloßen  Eindrücken 
entstehen,  aus  Machtäußerungen,  ohne  daß  ein  bestimmtes 
Naturobjekt  zugrunde  liegt  (vgl.  Useners  Sondergötter).  Zu 
solchen  Projizierungen  des  eigenen  Wesens  ist  aber  nur  der 
Mensch,  nicht  das  Tier  fähig.  Clodd  unterscheidet  also  nicht 
mit  den  Präanimisten  Belebtheit  der  Natur  und  Tylorschen 
Animismus,  sondern  läßt  dem  Animismus  die  unpersönliche 
„Macht"  vorangehen,  was,  wie  gesagt,  nicht  gut  möglich  ist. 
Es  ist  für  die  Überzeugungskraft  des  in  den  letzten  Jahren 
beigebrachten   Materials   bezeichnend,   daß   die   amerikanischen 

*  S.  die  Besprechung  des  betreifenden  Werkes  im  amerikanischpn 
Bericht  (Archiv  XIV)  unter  Indianer  der  Nordwestküste. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  431 

Forscher  jetzt  eine  sehr  eiuheitliche  Meinung  über  diese  das 
All  durchdringende  Macht  haben,  die  sich  in  den  Einzelwesen 
manifestiert  und  an  Stelle  natürlicher  Tätigkeiten  zauberische 
Qualitäten  setzt,  wie  es  in  meiner  Arbeit  „Ursprung  der  Religion 
und  Kunst"  als  Grundlage  aller  Untersuchungen  über  mensch- 
liches Tun  in  primitiven  Gemeinschaften  angenommen  ist  Ich 
kann  es  mir  nicht  versagen,  ein  solches  amerikanisches  Urteil, 
das  des  Direktors  der  ethnologischen  Abteilung  des  Museum 
of  Natural  History  in  New  York  Clark  Wissler  in  seiner 
Arbeit  The  Black foot  Indians^  wörtlich  anzuführen:  „Gegen- 
wärtig wird  allgemein  zugegeben,  daß  die  amerikanischen 
Indianer  nicht  die  Auffassung  von  einem  einzigen  persönlichen 
Gott  hatten,  sondern  die  Erscheinung  der  Natur  abstrahierten 
und  sie  durch  Bezeichnungen  entsprechend  unserem  Wort« 
Macht  (analogous  to  our  word  power)  ausdrückten.  Der  Black- 
foot  scheint  diese  Macht  als  die  ganze  Welt  menschlicher 
Erfahrung  durchdringend  anzusehen  und  als  die  Ursache  von 
allem,  was  es  gibt.  Jeder  Gegenstand  in  der  Welt,  besonders 
jedes  lebende  Objekt,  wird  im  Besitze  der  Mittel  angesehen, 
diese  Macht  in  irgendeiner  Weise  zu  offenbaren.  Wenn  er 
um  sich  schaut,  so  sieht  er  Tiere  und  Menschen  im  Besitze 
von  Arten  von  Macht,  die  sehr  nützlich  für  ihn  sein  würde, 
und  beginnt  deshalb  Opfer  darzubringen  und  zu  beten,  um 
etwas  von  dieser  Macht  zu  erhalten.  Zum  Beispiel  hat  er 
beobachtet,  daß  die  Eule  große  Macht  über  die  Dunkelheit 
hat,  und  er  opfert  und  betet  nun  direkt  zu  dem  Gott  der 
Eule,  daß  etwas  von  dieser  Macht  auf  ihn  übertragen  werden 
möchte.  Wenn  eine  Eule  ihm  im  Traume  erscheinen  und  ihn 
einige  Gesänge  und  Riten  lehren  würde,  so  würde  er  das  als 
eine  wirkliche  Offenbarung  von  Macht  gelten  lassen.  Es  wird 
manchmal  gesagt,  daß  die  Indianer  der  Prärien  die  Sonne  an- 
beten,   aber    das    ist,    genau    genommen,    nicht   richtig,    denn 

*  In  Ethnology  of  Canada  and  Nac  Fvundland.     Ännual  archaeo- 
logical  Report  1905  Toronto  19ü6  (bei  L.  K.  Cameron). 


432  K.  Th.  Preuß 

wenigstens  der  Blackfoot  sieht  die  Sonne  einfach  als  eine 
Offenbarung  der  Macht  des  Universums  an.  Eine  andere 
Eigentümlichkeit  dieses  Glaubens  ist,  daß  dem  Individuum 
nichts  für  seine  Intelligenz  und  Geschicklichkeit  gegeben  wird, 
weil  alles,  was  er  tun  kann,  das  Ergebnis  direkter  Übertragung 
von  Macht  auf  seine  Person  ist.  Zum  Beispiel  erzählte  man 
mir,  daß  der  weiße  Mann,  der  den  Phonographen  erfand,  nichts 
mehr  sei,  als  ein  glückliches  Individuum,  das  die  Macht  des 
Universums  um  die  Geschicklichkeit  bat,  und  daß  diese  Macht 
Mitleid  mit  ihm  hatte  und  ihn  im  Traume  anwies,  er  möge 
gewisse  Stücke  von  Holz  und  Metall  nehmen  und  sie  in  ge- 
wisser Weise  zusammenlegen  .  .  .  ." 

Eine  geistvolle  Darstellung  der  Begriffe  mana  usw.  — 
Animismus  gibt  Jane  Ellen  Harrison  in  ihrer  Arbeit  The 
Influence  of  Darvinism  on  the  Study  of  Religions.^ 
Mana  usw.  ist  ihr  die  Welt  des  WoUens  und  Tuns,  des 
Rituals;  die  Geister  sind  die  Welt  der  Sinnestäuschungen 
und  des  Denkens;  was  sich  von  beiden  „Welten"  zuerst  ent- 
wickelt habe,  sei  müßig  zu  fragen.  Wichtiger  sei,  warum 
sich  diese  beiden  „Welten"  vereinigen.  Es  geschehe,  weil 
mana,  das  Element  des  riesenhaften  menschlichen  Willens, 
nicht  mit  realen  Dingen  befriedigt  werden  konnte  und  nach 
der  falschen  übersinnlichen  Welt  verlangte.  Zauberei  und 
Ritual  wurde  so  das  aktive  Element  der  übersinnlichen  Welt 
Es  füllte  sie  aus  wie  eine  leere  Schale  und  machte  sie  dadurch 
zur  Religion.  Sehr  hübsch  wird  namentlich  der  unbegrenzt« 
Wille  und  das  damit  eng  verbundene  Gefühl  der  Macht  beir 
primitiven  Menschen  geschildert,  der  wie  das  Kind  überhaupt 
keine  Schranken  kenne,  wenn  er  ein  Tier  darstelle,  es  aucl 
wirklich  sei,  wenn  er  etwas  nachahme,  vielmehr  die  Wirklich-j 
keit  identifiziere  usw.  —  Allein  die  Verfasserin  berücksichtig 
einen  wesentlichen  Punkt  nicht.     Wenn  nämlich  der  Mensel 


*  Beprinted    from   Darvin   Memorial   Volume.     Darvin   Centenar 
1909.     18  S. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  433 

sein  Machtgefühl  in  die  Welt  projiziert,  so  tut  er  es  doch  auch 
mit  seiner  Persönlichkeit,  und  wenn  er  orenda  (Macht)  besitzt, 
80  besitzen  es  doch  auch  diese  projizierten  Persönlichkeiten. 
Kann  man  nun  nicht  mehr  sagen,  animistische  Geister  haben 
Macht  (orenda),  weil  sie  Geister  sind,  sind  also  orenda  und 
Animismus  zwei  verschiedene  Welten,  so  versteht  man  um  so 
weniger,  weshalb  die  sogenannte  übersinnliche  gedankliche 
Welt  nur  Raum  haben  soll  für  Konstruktionen  der  mensch- 
lichen Seele,  die  nach  dem  Tode  eine  selbständige  Existenz 
führen,  bzw.  für  analoge  Bildungen.  Durch  die  scheinbar 
säuberliche  Scheidung  von  orenda  und  Geisterwelt  wird  also 
die  Frage  des  Präanimismus  nicht  aus  der  Welt  geschafft,  sondern 
gefördert. 

In  allen  diesen  Abhandlungen  hat  man  sich  begnügt,  die 
Existenz  der  Zauberkraft,  das  Orenda  usw.,  einfach  festzustellen, 
höchstens,  wie  in  der  eben  erwähnten  Abhandlung,  unter 
summarischem  Hinweis  auf  die  psychische  Anlage  des  unbe- 
grenzten Wollens  und  Könnens  im  primitiven  Menschen.  Diese 
psychische  Seite  will  A.  Vierkandt  in  seiner  Arbeit  Die  An- 
fänge der  Zauberei  und  Religion^  verständlicher  machen, 
indem  er  eine  allmähliche  Entstehung  und  Kontinuität  der 
Erscheinungen  verfolgen  zu  können  glaubt.  Was  er  will,  ist 
klar  an  der  Hand  von  Beispielen  dargestellt.  Als  die  Grund- 
bedingung für  das  Bestehen  der  Zauberei  führt  er  den  Mangel  an 
klaren  Kausalvorstellungen  beim  primitiven  Menschen  an  und 
sucht  einen  solchen  Zustand  aus  Erscheinungen  des  täglichen 
Lebens,  besonders  aus  der  Erscheinung  des  Windes,  anschaulich 
zu  machen.  „Den  Wind  erklärte  sich  ein  Kind  durch  das  Hin- 
«nd  Herschwanken  zweier  großer  Ulmen  vor  seiner  Wohnung. 
Ein  Mädchen  glaubte,  den  Wind  zum  Stillstand  zu  bringen, 
indem  es  seine  Mutter,  deren  Haare  von  ihm  zerzaust  waren, 
aufforderte,  sie  wieder  in  Ordnung  zu  bringen,  und  vermeinte, 
ebenso  den  Regen  aufhören  zu  machen,  indem  es  seine  von 
1  Glohits  ßd  92  S.  21  —  25.  40  —  45.  61  —  65. 
Archiv  f.  BeligionswiBsenacIi&ft  XIH  28 


434  K.  Th.  Preuß 

ihm  benetzten  Hände  von  der  Mutter  sich,  abtrocknen  ließ. 
Zu  dem  Glauben,  den  Mut  eines  Menschen  essen  zu  können, 
erscheint  es  als  eine  Art  sprachlichen  Seitenstückes,  wenn  ein 
italienisches  Mädchen,  welches  bittere  Arznei  genommen  hatte, 
sich  als  bimba  cattiva  bezeichnete." 

Der  Verfasser  weist  überhaupt  auf  die  maßlose  Über- 
schätzung der  Wirkungen  bei  der  Ungenauigkeit  von  Kausal- 
vorstellungen hin.  Die  Vorstellung  eines  unversöhnlichen 
Gegensatzes  zwischen  natürlicher  und  magischer  Wirkungsweise 
sei  überhaupt  ein  sehr  junges  geschichtliches  Gebilde.  Noch 
für  Keppler  und  Baco  sei  sie  nicht  vorhanden  gewesen.  Affekt- 
handlungen führten  zum  Analogiezauber.  Sehr  eingehend  wird 
die  Entwicklung  vom  Nahzauber  zum  Fernzauber  und  die 
Anschaulichkeit  in  allen  Zaubervorstellungen  der  Primitiven 
verfolgt,  die  auf  der  Basis  des  praktischen  Lebens  beruht. 
Magische  Krankenheilungen  erfolgen  z.  B.  zum  großen  Teil  auf 
dem  Wege  sinnfälliger  Eingriffe,  Extrahierungen  usw.  „Alle 
geistigen  Vorgänge  werden  auf  dieser  Stufe  als  körperliche, 
alle  Eigenschaften  als  Stoffe,  die  sich  wie  eine  Art  Fluidum 
von  ihrem  Träger  loslösen  können,  und  alle  Wirkungen  als 
mechanisch  vermittelt  dargestellt."  Reichhaltig  sind  die  Bei- 
spiele für  assoziative  Zauberideen,  die  sich  an  Teile  des  Körpers 
und  andere  „zauberische  Substanzen"  knüpfen.  Besonders 
interessieren  dürfte  die  spätere  Einordnung  des  Seelenglaubens 
in  die  magischen  Vorstellungen.  Auch  Vierkandt  betont  nach- 
drücklich, in  welchem  Mißverhältnis  die  rationalistischen  Er- 
klärungen der  Seele  aus  den  Erscheinungen  des  Schlafes,] 
Traumes  und  Todes  zur  primitivsten  Stufe  der  Menschheit 
stehen.  Die  betreffenden  Ethnologen  „verwechseln  den  Philo-J 
logen  oder  Gelehrten,  der  sich  diese  Erscheinungen  beim  Mangel! 
besserer  Kenntnisse  wohl  so  erklären  würde,  mit  dem  primitiven] 
Menschen."  Die  Vorstellung  der  Raumüberwindung  durch  diej 
Seele  konnte  nicht  aus  dem  Nichts  entstehen,  das  wäre  eine] 
unmögliche  Leistung  der  Phantasie. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  435 

Doch   ich   muß  auf  die  Arbeit  selbst  verweisen,   von  der 
man  vielleicht  durch  diese  gedrängten  Angaben  ohne  Beispiele 
nicht  eine  richtige  Vorstellung  gewinnen  wird,  da  es  sich  um 
subtile  Unterscheidungen  handelt.     Falsche  Kausalverknüpfung 
festzustellen  ist  jedenfalls  ein  fruchtbarer  Weg  zum  Verständnis 
der  Zauberei,   obwohl  sich  Urzeit  und   Gegenwart  sehr  schwer 
vergleichen  lassen.     Wir  kommen  dabei   bald  wieder  auf  den 
allmächtigen  Willen   als   letzte   Ursache   hinaus,    wo    ein  Ver- 
ständnis im  einzelnen,  fürchte  ich,  kaum  noch  zu  erzielen  isi 
So  steht  der  Übergang  von  Affekthandlung  (Zücken  des  Speeres 
gegen  einen  entfernten  Feind)  zu  Analogiezauber  wiederum  nur 
im    Zeichen    dieses  Willens.      Auch    der    Gedanke    einer    Ent- 
wicklung vom  Xahzauber  zum  Femzauber  ist  insofern  frucht- 
bar,  als   sich   die    falsche   Kausalverknüpfung    an    tatsächliche 
Vorgänge   anzuknüpfen    pflegt   und    die   Beachtung  des   Nahe- 
liegenden  Postulat    des    Denkens    ist.      Ein   Beispiel   wird    die 
Arbeit  von  Hofschläger  (s.  unter  Sitten  und  Zeremonien)  liefern. 
Im  letzten  Augenblick  kommt  das  Buch  von  A. E.  Crawley, 
The  Idea  of  the  SouP  in  meine  Hände,  das  wie  die  Arbeit 
von  Vierkandt  eine  psychologische  Erklärung,   aber  nicht  der 
Zauberei,  sondern  des  Seelenbegriffs  versucht.   Hier  ist  der  Ur- 
sprung der  „Seele",   ohne  den  nach  dem  Verfasser  nichts   in 
der  Religionswissenschaft  anzufangen  ist,  das  bloße  Erinnerungs- 
bild.    Tylors  Ableitung  der  Seele  von  Traum  und  Tod  ist  ihm 
für  den  Urmenschen  zu  schwierig.    Ebenso  sei  die  Zauberkraft 
(orenda,  mana  usw.)   abnorm   und   spät.      „Power"    sei    etwas 
Abstraktes,  und   deshalb  könne   man  nicht   dadurch   zu   etwas 
Konkretem,   der  Seele,   gelangen.     Erregungen   ohne   sinnliche 
I  Wahrnehmungen    gebe   es   nicht,    und    erstere    könnten    nicht 
I  letztere   erzeugen.    —    Nun  gibt  es   aber   ohne  Erregung,   die 
freilich    durch     die    Sinne    vermittelt    wird,    gar    keine    sinn- 
liche Wahrnehmung.     Die   Außenwelt   klopft   dann    an,    ohne 
Einlaß    zu   finden!      Deshalb    ist    die    W^ahrnehmung    mit   der 
>  London  1909.     YIII  und  307  S.  8». 

28* 


436  K.  Th.  Preuß 

interessierenden  Lebensäußerung,  der  „Macht"  verknüpft,  und 
davon  muß  die  Religion  ihren  Anfang  nehmen  auf  der  mensch- 
lichen Stufe.  Wenn  bei  den  Cora  sowohl  die  Wolken  in  jeder 
Form  wie  auch  die  herabfallenden  Tropfen  Regengötter  sind, 
so  sieht  man  nicht  recht,  wozu  man  das  Erinnerungsbild  eines 
Regentropfens  für  die  Gestalt  der  Gottheit  braucht.  Oder 
wenn  man  den  Wind  fühlt  und  hört,  so  muß  ein  Wesen 
ähnlich  wie  das  Ich  oder  sonstwie  Bekanntes  die  Ursache  sein, 
die  man  sich  so  seelenhaft  vorstellen  möge  wie  man  will,  aber 
man  braucht  dazu  kein  Erinnerungsbild  einer  Sache,  die  man 
nicht  gesehen  hat.  Von  einem  abstrakten  Begriffe  von  „Macht" 
kann  bei  alledem  keine  Rede  sein.  Ich  glaube,  daß  der  Verfasser 
sich  durch  allzu  große  Finessen  hat  irre  führen  lassen. 
Indessen  bleibt  sein  Buch  durch  die  Darstellungen  der  Seelen- 
theorien der  verschiedenen  Völker  nützlich. 

Über  Jevons  Vortrag  „Magic"  auf  dem  Oxforder  Kongreß 
ist  schon  oben  berichtet  worden  (s.  unter  Gesamtdarstellungen). 
Auch  das  umfangreiche,  gegenüber  der  ersten  Auflage 
beträchtlich  erweiterte  Werk  von  Alfred  Lehmann,  Aber- 
glaube und  Zauberei  von  den  ältesten  Zeiten  an  bis 
in  die  Gegenwart^  erwähne  ich  hier  kurz,  obwohl  mehr 
als  zwei  Drittel  des  Buches  sich  mit  dem  modernen  Spiritismus 
und  Okkultismus  beschäftigen  (S.  247  —  379),  und  gewisser- 
maßen das  Endziel  ist,  die  „magischen  Geisteszustände"  zu^ 
untersuchen  (S.  380  —  641),  die  die  abergläubischen  Vor- 
stellungen veranlaßt  haben  und  aufrecht  erhalten.  Auch  dieser 
Abschnitt  ist  fast  ausschließlich  auf  moderne  Verhältnisse  be- 
zogen. Doch  ist  der  vorausgehende  geschichtliche  Überblick 
für  eine  erste  Orientierung  über  die  Magie  der  alten  Kultur- 
völker und  die  Geheimwissenschaften  nützlich.  Auch  über  die 
Naturvölker  wird  in  der  Einleitung  auf  17  Seiten  einiges  zu- 


*  Deutsche    Übersetzung    (aus    dem    Dänischen)    von    Petersen    I, 
Stuttgart  1908  XII  und  666  S. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  437 

sammengestellt.    Quellenangaben  fehlen,  doch  sind  die  gebrauch- 
ten Werke  hinten  aufgezählt. 

Besonderes  Interesse  dürfte  das  Werk  Ton  Jules  Com- 
barieu,  La  musique  et  la  magie^),  als  Gegenstück  zu  Büchers 
wohlbekanntem  ., Arbeit  und  Rhythmus"  erwecken;  denn  der 
Yerf.  will  nichts  Geringeres  beweisen  als  den  zauberhaften 
Ursprung  der  Musik  und  damit  der  Poesie,  die  sich  aus  ihr 
entwickelt  habe.  Nun  ist  ein  solcher  Ursprung  aus  dem 
Zauber  keine  neue  Idee,  wie  er  glaubt*),  und  der  Gedanke  an 
Zauberakte  in  der  ersten  Entwicklung  der  Kunst  hat  in  den 
letzten  Jahren  überhaupt  erstaunlich  zugenommen.  Trotzdem 
kann  es  sich  nur  darum  handeln,  diese  Überzeugung  zu  ver- 
stärken, nicht  einen  strikten  Beweis  zu  führen,  und  das  wird 
das  Buch  zweifellos  erreichen.  Die  Grundlage  des  Werkes  ist 
die  Annahme  eines  „tiefen  dunkeln  musikalischen  Sinnes" 
und  des  höheren  Alters  der  mit  der  Stimme  ausgeführten  als 
der  manuellen  Riten.  Letzteres  ist  einigermaßen  paradox 
und  entspricht  auch  nicht  den  Tatsachen,  da  die  Stimme  bei 
sehr  vielen  Zeremonien,  falls  nicht  die  Berichte  mangel- 
haft sind,  nur  nebenbei  oder  gar  nicht  benutzt  wird. 
Die  Methode  des  Verf.  geht  im  wesentlichen  dahin,  aus 
religiösen  Zaubergesängen  und  aus  bloßen  Berichten  darüber 
allgemeine  Schlüsse  auf  die  profanen  Gesänge  zu  ziehen,  ohne 
diese  selbst  auf  ihren  Zauberinhalt  zu  untersuchen.  Das 
Grenzgebiet  zwischen  beiden  wird  nur  selten  berührt.  Daher 
überwiegt  die  theoretische  Erörterung  an  der  Hand  einzelner 
Beispiele,  die  freilich  zusammen  ein  ganz  annehmbares  Material 
abgeben.  Ein  greifbares  Bild  der  Entwicklung  wird  aber 
nicht  geboten.  Er  berücksichtigt  femer  sehr  eingehend  die 
rein  musikalische  Seite,  die,  soweit  ich  es  beurteilen  kann,  in 

^  Etüde  sur  les  origines  populaires  de  Vart  tntisical,  son  influence 
et  sa  fonction  dans  les  socie'tes  Paris  1909.     VIII  und  375  S.  8". 

*  Siehe  meine  Arbeit  Ursprung  der  Beligion  und  Kunst,  Glohiis 
87  (1905)  S.  396  f. 


438  K.  Th.  Preuß 

der  Tat  sehr  wichtige  Fingerzeige  gibt.  Sein  Material  besteht 
besoflders  aus  den  Zeugnissen  des  klassischen  Altertums  und  der 
Kulturvölker  überhaupt  sowie  aus  sehr  wenigen  amerikanischen 
und  sonstigen  ethnologischen  Beispielen.  So  gehen  ihm  eine 
Reihe  Beweismittel  ab,  z.  B.  die  Tatsache,  daß  manche  Stämme, 
wie  die  von  mir  besuchten  Cora-Indianer,  Unmengen  religiöser 
Zaubergesänge  haben,  aber  keinen  einzigen  profanen  —  oder 
die  kümmerliche  Entwicklung  der  verschiedenen  Klassen  der 
jetzt  profanen  Gesänge,  z.  B.  auch  der  Arbeitsgesänge  gegenüber 
dem  Überwuchern  der  religiösen.  Das  Verfolgen  der  musi- 
kalischen Motive  und  des  Aufbaues  bis  in  die  Werke  der 
großen  modernen  Meister  und  überhaupt  die  Beziehung  auf 
unsere  Zeit  dürfte  besonderes  Interesse  erregen,  ist  allerdings 
für  den  Ursprung  nicht  beweisend. 

Ich    gehe    nur    auf    ein    paar    für    Ethnologen    wichtige 
Punkte    ein.      Gesänge    zum    Erzielen    von    Regen    und    guter 
Witterung    und    zur   Heilung    von    Krankheiten,    wie    sie    der 
Verf.  anführt,   gibt  es  in  der  Völkerkunde   eine  Menge.     Hier 
wäre    nötig    gewesen    zu   zeigen,  ob  und  welche  profanen  Ge- 
sänge  daraus  entstehen,  z.  B.  die  die  Natur  zum  Gegenstande 
haben.    Seltener  sind  die  angeführten  Traditionen  über  Zauber- 
gesänge   bei    der    Liebe    und    als    Mittel,  anderen  zu  schaden. 
Immerhin  sieht  man  auch  hier  nicht  recht,  wie  z.  B.  harmlose 
Liebeslieder  daraus  entstehen  sollen.     Für  die  Entstehung  von 
Trauergesängen  geht  der  Verf.  von  den  Klageliedern  über  den 
Tod    der    Frühlingsgottheit   aus   und   meint,   daß  ebenso  beim 
menschlichen    Tode    das    Aufwachen    zu    diesem    Leben    oder 
(später)   anderswo   bzw.  das  Vertreiben  der   bösen  Krankheitst 
geister  der  ursprüngliche  Zweck  gewesen  sei.    Dann  seien  solche] 
Gesänge  auf  alle  möglichen  Unglücksfälle  übertragen  worden.] 
Es  folgt  der  Päan,  bei  dem  Götter  für  die  Heilung  von  Krank- 1 
heiten  gepriesen  werden,  der  im  Kriege  gesungen  wird,  usw.  undj 
der  Gesang  beim  religiösen  Mahle.     Wiegenlieder  sollten  eine 
zauberische  Wirkung  auf  den  Schlaf  ausüben,   wie   man   auch] 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  439 

die  Feinde  durch  Gesang  einschläferte.  Arbeitsgesänge  (Bei- 
spiele fehlen)  waren  dazu  da,  den  Geist  der  betreffenden 
Arbeit  zu  gewinnen  oder  auf  Werkzeuge  und  Material  direkte 
Zauberwirkung  auszuüben.  Das  Tempo  der  Arbeit  ergebe  nur 
Takt  und  Versmaß,  nicht  Vers  und  Strophe,  d.  h  den  Rhythmus. 
Überhaupt  legt  Combarieu  großes  Gewicht  auf  die  ganze  Art 
der  musikalischen  Behandlung,  z.  B.  Wiederholungen  und 
Refrain,  was  sich  nur  aus  dem  Zauber  erklären  lasse.  Auf 
die  musikalische  Seite,  z.  B.  die  heiligen  Zahlen  der  Ton- 
leitern, kann  ich  mich  nicht  einlassen.  Die  deutschen  Arbeiten 
von  Stumpf  und  v.  Hornbostel  sind  nicht  berücksichtigt. 

IV  Sitten,  Anschauun^eu  und  Zeremonien 

Zwei  Arbeiten  von  R.  Hofschlaeger,  Über  den 
Ursprung  der  Heilmethoden*  und  Die  Entstehung  der 
primitiven  Heilmethoden  und  ihre  organische  Weiter- 
entwicklung* sind  Musterbeispiele  dafür,  in  welcher  Weise 
sich  an  praktische,  zweckmäßige  Tätigkeiten  der  sogenannte 
Zauberglauben  anschließt.  Auch  der  Verfasser,  ein  Arzt,  kommt 
zu  dem  Schluß,  daß  der  Präanimismus  zur  Erklärung  des 
von  ihm  Gefundenen  notwendig  sei.  H.  findet  in  der 
Krankenheilung  der  Primitiven  im  wesentlichen  nur  das  als 
willkürliche  und  ausgebildete  Handlung  wieder,  was  schon  bei 
der  tierischen  Vorstufe  des  Menschen  allenthalben  triebartisr 
geschieht:  Kratzen,  Reiben,  Lecken,  Entfernen  und  Aufessen 
von  Parasiten,  Wälzen  des  ganzen  Körpers  an  der  Erde,  Liegen 
im  Wasser  oder  Schlamm,  gegenseitiges  Ausziehen  von  Dornen 
und  anderen  Fremdkörpern  (bei  Affen).  Es  ist  erstaunlich, 
wie  sich  diese  Handlungen  in  der  Tat  auch  in  der  menschlichen 
Therapie  in  den  verschiedensten  Formen  nachweisen  lassen. 
Das    ist    nun   insofern   für    uns    wichtig,    als    die    abergläubi- 

*  Festschrift  zum  50jährigen  Bestehen  des  Naturwissenschaftlichen 
Vereins  zu  Krefeld  1908  S.  135 — 218. 

*  Archiv  für  Geschichte  der  Medizin  III.  S.  81  —  103. 


440  K.  Th.  Preuß 

sehen  Ideen,  die  der  Mensch  an  solche  Handlungen  knüpft, 
nicht  hineingetüftelt,  sondern  unmittelbar  von  der  Praxis  ent- 
lehnt erscheinen.  Alle  die  erwähnten  Methoden  des  Tieres 
richten  sich  im  wesentlichen  auf  die  Entfernung  von  Fremd- 
körpern im  weitesten  Sinne,  nämlich  einerseits  von  Dornen  usw., 
anderseits  von  Schmarotzern,  die  in  der  Tat,  auch  abgesehen 
von  Bakterien,  einen  viel  größeren  Umfang  bei  den  un- 
geschützten Naturvölkern  einnehmen,  als  man  sich  vor- 
zustellen pflegt.  Der  Mensch  braucht  nun  nur  annehmen, 
daß  derartige  Handlungen  auch  innere  Schmerzen  heilen 
und  daß  auch  diese  durch  Fremdkörper  hervorgerufen  sind, 
so  befinden  wir  uns  mitten  in  den  Tatsachen  des  Zauber- 
glaubens. „Leute,  die  sonderbar  oder  geistig  verwirrt  sind, 
haben  nach  einer  Bezeichnung  des  deutschen  Volksmundes 
Raupen,  Motten,  Grillen,  Würmer  im  Kopf."  Verfasser  verweist 
dabei  auch  auf  die  Anschauungen  bei  der  Anwendung  der 
Trepanation.  Er  bezeichnet  wohl  mit  Recht  auch  die  folgende 
erweiterte  Reihe  der  Heilhandlungen:  Belecken  und  Saugen, 
Pusten  und  Fächeln,  Baden  im  Wasser,  Sand  und  Schlamm, 
Abwaschen,  Abreiben  und  Einreiben,  die  sich  zu  höheren  Formen 
bewußter  medizinischer  Kunstübung  entwickelt  haben,  als 
ursprünglich  reflektorisch.  Selbstverständlich  hat  er  für  alle 
diese  Arten  eine  Anzahl  Beispiele  rein  praktischer  (nicht  über- 
natürlicher Anwendung)  erbracht,  z.  B.  auch  für  Pusten,  das 
als  magische  Handlung  so  bekannt  ist,  und  weist  dann  ebenso 
die  zauberische  Verwendung  in  einzelnen  Fällen  nach.  Er 
sagt  z.  B.  sehr  bezeichnend:  „Die  mystische  Heilhandlung  des 
Abwischens  und  Abwaschens  der  Krankheit,  die  auf  vorgerück- 
terer Kulturstufe  den  Charakter  einer  Sühnezeremonie  oder 
einer  schützenden  Weihehandlung  annimmt,  wäre  völlig  unver- 
ständlich in  ihrem  Ursprünge  ohne  die  Annahme,  daß  auch  sie 
gegen  bestimmte  Erscheinungen  am  Körper  (Parasiten,  Schweiß) 
gerichtet  war."  Der  Verfasser  geht  in  der  zweiten  Abhandlung 
u.  a.  auch  auf  die  Heilgesänge  der  Schamauen  ein,  deren  pro- 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  441 

fane  Entstehung  aus  dem  Arbeitsrhythmus  bei  der  physisch 
angreifenden  Heilung  er  befürwortet.  Beispiele  hat  er  dafür 
freilich  nicht  erbringen  können.  Dem  Referenten  erscheint 
eine  solche  Entstehung  der  Heilgesänge  jedenfalls  sehr  un- 
wahrscheinlich. 

Diese  Methode  ist  als  eines  der  Mittel  zur  Erlangung 
positiver  Ergebnisse  in  der  schwierigen  Frage  der  Entstehung 
von  Zauberhandlungen  sehr  zu  empfehlen,  wenn  man  auch 
nicht  in  jedem  einzelnen  Falle  mit  den  Schlüssen  des  Verfassers 
einverstanden  zu  sein  braucht.  So  führt  er  das  magische  Hin- 
durchkriechen durch  enge  Offnungen  ausschließlich  auf  ursprüng- 
lich tierische  R^ibungsbewegungen  zur  Abstellung  von  Juck- 
reizen zurück.  Die  Methode  befindet  sich  in  tlbereinstimmuns: 
mit  dem  von  mir  aufgestellten  Satze,  daß  alle  menschlichen 
Tätigkeiten,  sowohl  bloße  körperliche  Funktionen  wie  Instinkt- 
handlungen mit  dem  Beginn  der  Reflexion,  also  von  der 
Schwelle  der  Menschwerdung  an,  leicht  in  die  Lage  kommen, 
durch  unrichtige  Kausalverknüpfung  mit  sogenannten  Zauber- 
ideen erfüllt  zu  werden. 

Wie  die  vorstehende  Arbeit  die  Erklärung  der  Zauber- 
vorstellungen entsprechend  ihrem  Titel  nur  als  Nebenprodukt 
aufweist,  so  beschäftigt  sich  auch  Richard  Laschs  Buch  Der 
Eid,  seine  Entstehung  und  Beziehung  zu  Glaube  und 
Brauch  der  Naturvölker^,  in  erster  Linie  mit  der  syste- 
matischen Darstellung  der  Tatsachen,  nimmt  aber  dabei,  durch- 
drungen von  der  Richtigkeit  der  Idee  des  Präanimismus  und 
der  Bedeutung  des  Zaubers,  mit  Recht  jede  Gelegenheit  wahr, 
zur  Erklärung  darauf  hinzuweisen.  Freilich  ist  bei  der  Dürftig- 
keit der  Nachrichten  eine  klare  Einsicht  in  die  Entstehung 
meist  nicht  möglich,  wie  auch  der  Verfasser  sein  Buch  als 
bloße  Materialsammlung  angesehen  wissen  will. 


•  Studien  uyid  Forschungen  zur  Menschen-  und  Völkerkunde  unter 
Leitung  von  Georg  Buschan  V.     Stuttgart  1908.     147  S. 


442  K.  Th.  Preuß 

Im  allgemeinen  ist  dem  Verfasser  nur  der  gerichtliche 
Eid  aus  dem  Gottesurteil  hervorgegangen,  aus  einem  einfachen 
Grrunde,  nämlich  weil  das  Strafrecht  erst  in  der  Zeit  des  Götter- 
und  Dämonenglaubens  entstanden  sei.  Im  promissorischen  Eid 
dagegen  müsse  man  selbst  bei  anscheinend  typischem  Ordal  der 
Herkunft  aus  dem  Zauberglauben  wenigstens  teilweise  Raum 
geben.  In  erster  Linie  kämen  hier  die  Symbolhandlungen  bei 
Eiden  als  ursprünglich  zauberisch  in  Betracht,  ferner  der 
Sprachzauber,  die  Anwendung  bestimmter  Substanzen  wie  Blut 
und  Erde,  das  sogenannte  Essen  und  Trinken  des  Eides,  wo 
bei  Nichteinhaltung  böse  Folgen  zu  erwarten  sind.  Die  Dar- 
stellung beschreibt  die  Eide  nach  den  hervortretenden  Momenten 
der  gesprochenen  Form  und  der  Handlung,  nachdem  9  all- 
gemeine Kapitel  über  die  Arten  des  Eidesgelöbnisses  oder 
promissorischen  Eides,  z.  B.  Friedensgelöbnis,  Bundes-  und 
Freundschaftseide,  Gehorsams-  und  Verfassungseide,  und  über 
die  Hauptformen  des  assertorischen  Eides,  über  den  Zauber 
des  Eides,  über  Ordaleide,  wo  die  Folgen  des  Eides  von 
selbst  zutage  treten,  und  symbolische  Eide  u.  dergl.  mehr 
orientiert  haben.  Die  Kapitelüberschriften  nebst  denen  der 
Unterabteilungen  können  sehr  wohl  statt  eines  Index  dienen. 
Erwünscht  wäre  jedoch  ein  Index  nach  Völkern  und  Stämmen 
gewesen.  Ich  füge  einzelne  Überschriften  bei:  10.  Himmel  und. 
Erde  im  Eide.  11.  Feuer,  Wasser,  Steine,  Salz  im  Eide.] 
12.  Das  Pflanzen-  und  Tierreich  und  der  Eid.  13.  Ahnenkult] 
und  Götterverehrung  in  ihren  Beziehungen  zum  Eide.  15.  Imi- 
tatorische Eideshandlungen.  16.  Verschwinden  der  ordalen. 
Bedeutung  des  Eides.  Abstrakte  Eide.  22.  Hand  und  Eid.i 
23.  Zahlen  und  Eid.  Nicht  einverstanden  bin  ich  besonders] 
mit  dem  Satze,  daß  „wirklich  große  charakteristische  Götter- 
typen wenigstens  bei  den  Naturvölkern  sich  fast  ohne  Aus- 
nahme mit  dem  Ahnen-  und  Heroenkult  in  Zusammenhang] 
bringen  lassen."  Ahnenkult  darf  man  weder  ausschließen,  noch: 
anders  als  von  Fall  zu  Fall  annehmen,  wie  das  auch  Wundt  tut  1 


Religionen  der  Xaturvölker  1906 — 1909  443 

Auch  L  G.Frazers  Lectures  on  the  Early  History  of 
the  Kingship^  lassen  uns  aknen,  wie  gewaltig  die  Wirkung 
zauberischer  und  religiöser  Ideen  auf  die  Gestaltung  früherer 
sozialer  Gebilde  ist.  Frazer  sagt  darüber  sehr  richtig:  „Alle 
rein  rationalistischen  Spekulationen  .  .  über  den  Ursprung  der 
Gesellschaft  sind  durch  einen  fundamentalen  Mangel  verderbt: 
sie  rechnen  nicht  mit  dem  Einfluß  des  Aberglaubens,  der  das 
Leben  des  Wilden  durchdringt  und  in  unberechenbarer  Weise 
dazu  beigetragen  hat,  den  sozialen  Organismus  aufzubauen.  .  . 
Wir  fangen  erst  an  dieses  zu  begreifen,  denn  wir  beginnen 
erst,  den  Geist  des  Wilden  zu  verstehen.  .  .  .  Wenn  die  Zeit 
jemals  kommen  sollte,  wo  sich  das  als  wahr  erweisen  sollte, 
was  wir  nur  ahnen  und  die  Wahrheit  von  allen  anerkannt 
werden  sollte,  so  mag  das  eine  Rekonstruktion  der  Gesellschaft 
hervorrufen,  von  der  wir  uns  kaum  etwas  träumen  lassen.*' 

Besser  als  der  Titel  des  Buches  gibt  seinen  Inhalt  die  Be- 
zeichnung wieder,  die  die  Vorlesungen  erhielten,  aus  denen  es 
erwachsen  ist:  The  Sacred  Character  and  Magical  Functions 
of  Kings  in  Early  Society,  denn  der  Verfasser  hält  sich  von 
den  profanen  Obliegenheiten  der  Häuptlinge  und  Könige  voll- 
ständig fern,  wenn  er  sich  auch  mit  Fragen  der  Nachfolge 
und  ähnlichen  noch  nicht  als  religiös  aufgedeckten  Dingen  be- 
sonders im  Hinblick  auf  das  Latinische  Königtum  beschäftisrt. 
Und  auch  mit  dem  engeren  Thema  stehen  das  erste  Drittel  des 
Buches  und  andere  Teile  nur  lose  in  Zusammenhang,  da  es 
gilt,  erst  die  Grundlage  für  die  Behandlung  eines  solchen 
Themas  zu  schaffen.  So  erhalten  wir  zunächst  die  Unter- 
scheidungen der  Arten  der  Zauberei,  wovon  ich  als  neu  die 
Einteilung  in  positive  oder  eigentliche  Zauberei  und  negative 
oder  Tabu  anführe.  Das  Tabu  gründe  sich  nämlich  auf  die- 
selben Prinzipien  der  Ähnlichkeit  wie  die  Zauberei.  Um  ein 
Beispiel  anzuführen:   Wenn  einige  der  Zentral- Eskimo  auf  dem 


'  London  1905.     309  S.  80. 


444  K.  Th.  Preuß 

Eise  jagen,  so  ist  es  verboten,  zu  Hause  das  Bettzeug  aufzu- 
heben, weil  man  meint,  das  würde  Brechen  und  Wegtreiben 
des  Eises  verursachen,  so  daß  die  Männer  umkommen  würden. 
Daß  diese  Art  des  Tabu  aber  nur  einen  Teil  der  ganzen  Tabu- 
einrichtungen  umfaßt,  ist  jetzt  von  R.  R.  Marett  in  dem  Auf- 
satze Is  Taboo  a  Negative  Magic?^  dargelegt  worden,  in 
dem  dieser  besonders  auf  das  Tabu  der  Frau,  des  Fremden  und 
des  göttlichen  Königs  Bezug  nimmt.  Nach  dieser  allgemeinen 
Betrachtung  der  Magie  geht  Frazer  —  immer  an  der  Hand 
eines  bewundernswerten  Materials  —  auf  die  magischen  Hand- 
lungen zum  Besten  der  Gemeinschaft  (Regenmachen  u.  dergl. 
mehr),  auf  die  Umwandlung  von  Zauberern  in  „Könige"  und 
Götter  ein.  Es  folgt  die  Heirat  von  menschlichen  Vertretern 
der  Vegetationsgottheiten  untereinander  und  von  Mädchen  mit 
Flußgöttern  —  wo  sich  interessante  Perspektiven  aus  dem 
Inhalt  von  Erzählungen  (Perseus  und  Andromeda)  auf  wirk- 
liche Begebenheiten  eröffnen  —  und  die  Heirat  von  Königen 
mit  Gottheiten.  Dem  Inhalt  dieses  Buches  werden  wir  in  der 
dritten  Auflage  des  Golden  Bough  wieder  begegnen,  wie  auch 
manches  davon  schon  in  der  zweiten  Auflage  vorliegt. 

Ein  wahres  Schmerzenskind  der  Ethnologie  ist  der 
Totemismus,  weil  man  überall,  wo  Stämme  Tiernamen  tragen 
oder  entsprechende  Tabus  vorliegen,  auf  ursprünglichen  Tote- 
mismus (Abstammung  vom  Totem)  zu  schließen  geneigt  ist 
und  anderseits  sich  gar  keine  Mühe  gibt,  die  Zauberbedeutung 
der  Tiere  und  der  anderen  Totemobjekte  im  Haushalt  der 
Natur  und  so  für  den  Menschen  festzustellen.  Deshalb  ist  es 
von  Interesse,  eine  Darstellung  und  Kritik  der  verschiedenen 
Theorien  in  einem  Buche  zu  finden,  das  sich  seinerseits  mit 
einem  allgemeinen  Hinweis  auf  die  mögliche  Erklärung  be- 
gnügt:   Edgar    Reuterskiöld,    Till    frägan    om    uppkomsten    af 


^  Anthrop.  Essays  Presented  to  J^.  B.  Tylox,  Oxford  1907  S.  219—234. 
Auch  aufgenommen  in  sein  Buch  The  Threshold  of  lieligion  S.  85—114. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  445 

sakramentala  mältider  med  särskild  hänsyn  tili  totemismen.^ 
Mit  Recht  schließt  der  Verf.  vor  allem  die  Spottnamentheorie 
aus,  da  eine  vollständige  Identität  zwischen  Träger  und  Namen 
die  Grundlage  im  Totemismus  ist,  ebenso  die  Idee,  daß  die  Namen 
vom  Hauptnahrungstier  genommen  sind,  was  den  Tabuvorschriften 
vollkommen  widersprechen  würde,  und  ebenso  die  Exogamie  als 
notwendiger  Bestandteil  des  Totemismus.  Menschengruppe  und 
Tiergruppe,  zwischen  denen  keine  Scheidegrenze  existiert,  werden 
nach  dem  Verf.  assoziiert,  weil  das  Tier  als  Herr  dessen  erscheint, 
was  die  Menschengruppe  braucht.  Es  ist  die  Macht,  die  das  Tier  als 
Gruppe  ausübt,  seine  Lebenskraft  (wie  der  Verf.  im  Gegensatz 
zum  Animismus  betont),  die  den  Menschen  in  ihm  aufgehen 
macht.  Allerdings  denkt  der  Verf.  nicht  an  Zaubereigenschaften 
der  Tiere,  wie  ich  sie  als  Grundlage  des  Totemismus  ansehe, 
sondern,  wie  es  scheint,  zunächst  an  das  Reelle,  das  das  Tier 
dem  von  der  Natur  sich  abhängig  fühlenden  Menschen  liefert, 
und  also  auch  an  die  Speise.  In  weiterem  Sinne  sei  das  Tier 
dann  eine  Art  Kulturträger.  Die  rationalistische  Erklärungs- 
weise wiegt  also  hier  noch  zu  sehr  vor,  obwohl  der  Verf.  das 
religiöse  Moment  dann  frühzeitig  in  seine  Rechte  treten  läßt. 
Eingebettet  ist  die  ganze  Untersuchung,  die  natürlich  auch 
die  Tatsachen  des  Totemismus  in  den  einzelnen  Erdteilen 
darstellt,  in  die  Frage  nach  dem  Essen  des  Gottes.  Deshalb 
bildet  den  Ausgangspunkt  Robertson  Smiths  unglückliche  Be- 
hauptung, daß  manche  semitischen  Stämme  in  den  Vereinigungs- 
mahlen mit  der  Gottheit  ihr  Totem  wie  einen  Gott  aßen.  Das 
wird  nun  vom  Verf.  durch  die  Untersuchung  des  Totemismus 
widerlegt,  in  dem  es  sich  —  abgesehen  von  dem  Smith's 
Behauptung    widersprechenden    Eßtabu    —    auch    um    keinen 

^  (Zur  Frage  über  die  Entstehung  der  Sakramentalmahl Zeiten  mit 
besonderer  Berücksichtigung  des  Totemismus.)  Upsala  1908.  lY  und 
168  S.  8".  Das  obige  Referat  beruht  auf  einem  mir  vom  Yerf.  freund- 
lichst zur  Verfügung  gestellten  Autorreferat  und  auf  Auszügen  in 
deutscher  Sprache,  die  mir  mein  Kollege  Dr.  Ebert  gütigst  anfertigte, 
da  ich  der  schwedischen  Sprache  nicht  mächtig  bin. 


446  K.  Th.  Preuß 

individuellen  Gott,  sondern  um  eine  Tiergruppe  und,  wie 
erörtert,  um  eine  „Macht"  handele.  Das  Essen  des  Gottes 
findet  er  dann  aber  in  Verbindung  mit  vielen  Säe-  und  Ernte- 
gebräuchen, die  eingehend  untersucht  werden,  und  zwar  in 
dem  Essen  von  Götterbildern  aus  Teig  und  von  bloßen  Gebild- 
broten, die  er  als  eine  konzentrierte  „Macht"  (oder  Lebens- 
kraft) und  somit  als  Individualität  auffaßt.  Hier  sei  in  der 
Tat  das  Opfer  an  den  Gott  und  das  gemeinsame  Mahl  von 
derselben  Natur  wie  der  Gott  und  der  Verehrer.  Damit  hat 
der  Verf.  zweifellos  recht,  nur  kann  der  gegessene  Gott  auch 
durch  einen  Menschen  oder  ein  Tier  statt  des  Teiges  repräsentiert 
sein,  wie  es  in  Mexiko  und  sonst  der  Fall  ist. 

Das  Problem,  das  E.  Bethe  in  seiner  Arbeit  Die  dorische 
Knabenliebe,  ihre  Ethik  und  ihre  Idee^  behandelt,  geht 
ebenfalls  in  die  Tiefen  des  Zauberglaubens  zurück  und  muß 
hier  erwähnt  werden,  weil  parallele  Erscheinungen  aus  dem 
Gebiet  der  Völkerkunde  für  die  Entscheidung  von  Wert  sind. 
Von  den  allgemein  verbreiteten  homosexuellen  Trieben  bei  Men- 
schen und  Tieren  hebt  sich  die  dorische  Päderastie,  wie  Bethe  im  Zu- 
sammenhang beweist,  dadurch  ab,  daß  sie  ganz  allgemein  eine  edle 
innige  Waffenbrüderschaft  hervorrief,  daß  es  Ehrensache  war, 
einen  durch  Tapferkeit  und  Ehrbarkeit  (nicht  durch  Schönheit) 
ausgezeichneten  geliebten  Knaben  zu  haben  und  daß  die  fleisch- 
liche Vereinigung  sogar  am  heiligen  Orte  unter  dem  Schutze 
eines  Gottes  oder  Heros  vor  sich  ging,  wie  auch  der  Knabe 
nach  Art  des  Brautraubes  vom  Liebhaber  geraubt  wurde.  Die 
dorische  Knabenliebe  war  kein  vom  Staat  anerkanntes  Laster,; 
wie  etwa  in  den  übrigen  griechischen  Staaten,  wo  die  Päderastie 
nebenbei  auch  edle  Blüten  getrieben  hat  —  sondern  sie  war 
eine  staatliche  Institution.  So  absonderlich  alles  dieses  klingt, 
so  könnte  man  sich  doch  mit  der  Annahme  einer  natürlichen 
Entwicklung  zufrieden  geben,  vorausgesetzt,  daß  der  zugrunde- 
liegende Trieb  nicht  nur  überall  sporadisch,  sondern  bei  der 

»  Bheinisches  Museum.    N.  F.  Bd.  62  S.  438  —  476. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  447 

Mehrzahl  oder  wenigstens  etwa  einem  Viertel  der  Indiriduen 
verbreitet  ist.  Da  hiervon  auch  nicht  annähernd  die  Rede 
sein  kann,  so  müssen  wir  Bethe  recht  geben,  wenn  er  nach 
einer  zwingenden  Idee  sucht,  die  Leute  ohne  solche  Triebe 
dahin  bringen  kann,  trotzdem  Päderastie  zu  treiben.  Da  bieten 
ihm  die  beiden  Tatsachen  eine  Handhabe,  nämlich  daß  der 
Knabe  mit  dem  Liebesakt  in  die  Gemeinschaft  der  Männer 
eintrat  oder  —  um  mit  der  zauberischen  Auffassung  der  Völker- 
kunde zu  reden  —  „zum  Mann  wurde",  und  daß  der  Päderast 
b16:ivi]Xus,  der  Einhauchende,  hieß,  den  der  Knabe  bittet,  ihm 
einzuhauchen,  nämlich  die  agsriq.  Nun  gibt  es  augenblicklich 
zwar  keine  genauen  Parallelen  für  die  Verknüpfung  einer 
solchen  Idee  der  Übertragung  mit  dem  päderastischen  Akt^,  es 
sei  denn  eine  Stelle  über  die  Barbelognostiker,  die  die  Seele 
im  öTtBQ^a  sahen.  Auch  die  fleißige  Arbeit  von  Karsch"  lehrt 
nur,  daß  abergläubische  Ideen  vielfach  mit  der  Päderastie  ver- 
knüpft sind,  ohne  daß  Klarheit  im  einzelnen  geschaffen  ist. 
Dafür  aber  weist  Bethe  auf  die  sonstige  mechanische  Übertragung 
von  geistigen  Eigenschaften  vom  Penis  aus  in  Körperöffnungen 
(Mund,  Vagina),  auf  den  Penis  als  Seele  und  Quelle  des  Mutes 
hin,  und  ich  glaube,  daß  es  nur  genauerer  Nachforschungen 
am  lebenden  Material  bedarf,  um  weitere  Belege  zu  finden  und 
die  aufgestellte  These  von  der  Wahrscheinlichkeit  zur  Gewiß- 
heit zu  erheben.  Wie  eine  Frau  vielfach  einen  zauberisch 
schwächenden  Einfluß  auf  den  Mann  ausübt  und  deshalb  tabu 
wird,  so  muß  der  Mann  eine  stärkende  Wirkung  hervorbringen. 
Dafür  gilt  es,  dem  speziellen  Fall  entsprechende  Tatsachen 
herbeizuschaffen. 

Mittlerweile  ist  die  zauberisch-religiöse  Seite  päderastischer 
Übungen  in  ganz  anderer  Weise  ausgelegt  worden,  wie  über- 
haupt die  Betrachtung  einer  Unzahl  von  Riten  in  dem  Buch  von 

^  Vgl.  jedoch  die  folgende  Besprechung  des  Werkes  von  van  Gennep. 
*  Uranismus  bei  den  Naturvölkern,  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwtschen- 
stufen  III  1901  S.  72  —  201. 


448  K.  Th.  Preuß 

Arnold  van  Gennep,  Les  rites  de  passage,  etude  systema- 
tique  des  rites ^  von  dem  bisher  Üblichen  abweicht.  Während 
sonst  ähnliche  Zeremonien  zur  Beurteilung  ihres  Sinnes  neben- 
einander gestellt  werden,  betrachtet  Gennep  Ritengruppen,  das 
Aufeinanderfolgen  der  Riten  bei  den  verschiedensten  Anlässen. 
Der  Verfasser  geht  von  den  Riten  aus,  die  bei  der  Über- 
schreitung der  Wohnstätten  und  Wohngebiete  namentlich  von 
Seiten  der  Fremden,  aber  auch  von  Seiten  der  Einheimischen 
Platz  greifen.  Er  beobachtet  stets  die  Dreiteilung  der  Zere- 
monien, nämlich  die  Absonderung  von  dem  früheren  Zustand 
bzw.  der  früheren  Ortlichkeit  (z.  B.  durch  Waschung),  die 
Zeit  zwischen  dem  früheren  und  künftigen  Zustand  (rites  de 
marge)  und  die  Aufnahme  und  Angliederung  selbst  durch 
Festmahl,  Geschenke  usw.  Die  Heiligkeit  des  Türeingangs 
(Fortschaffen  der  Toten  z.  B.  aus  dem  Fenster),  die  Riten 
beim  Beziehen  neuer  Wohnplätze  und  beim  Betreten  von 
Tempeln,  beim  Wechseln  des  Stammes  oder  (bei  Sklaven)  des 
Herrn,  bei  der  Adoption  usw.  stehen  damit  im  engsten  Zu- 
sammenhang. Diese  Übergangszeremonien,  wie  wir  rites  de 
passage  wohl  übersetzen  können,  hat  nun  van  Gennep  in  ihrer 
Dreiteilung  in  ähnlicher  Weise  in  den  verschiedenen  Lebens- 
abschnitten festzustellen  gesucht,  zunächst  bei  der  Aufnahme 
der  Kinder  in  die  Gemeinschaft,  was  sich  unmittelbar  an  die 
Niederkunft  anschließt,  während  die  Zeit  der  Schwangerschaft 
das  Zwischenstadium  ausmacht  (rites  de  marge).  Es  folgen 
in  demselben  Sinn  die  Riten  für  die  in  verschiedenem  Alter 
erfolgende  Aufnahme  des  Kindes  unter  die  Erwachsenen  bzw. 
in  die  Kultgenossenschaften  und  Geheimbünde,  die  Einführung 
als  Priester,  ferner  die  Verlobung  und  Heirat,  wodurch  nicht 
nur  zwei  verschiedene  Menschen,  sondern  zwei  verschiedene 
Gesellschaften    miteinander    verbunden    werden,    und    die    Ehe- 


*  Paris  1909,  288  S.    Vgl.  meine  Besprechung  in  den  Hessischen 
Blättern  für  Volkskunde  VIII,  S.  195  f. 


Religionen  der  Xatorvölker  1906—1909  449 

Scheidung,  endlich  der  Tod,  die  Scheidung  des  Toten  von  den 
Lebenden  und  umgekehrt. 

Der  Verfasser  hat  durch  die  Auffassung  der  Zeremonien 
als  rites  de  passage  und  die  Dreiteilung  nicht  etwa  eine 
mechanische  Gliederung  geben  wollen,  die  ja  der  leichteren 
Übersicht  wegen  ganz  nützlich  wäre,  sondern  zugleich  eine 
Erklärung  ihrer  Entstehung.  Bei  der  sonst  erfreulichen  Ge- 
drängtheit  der  Darstellung  kommt  nun  freilich  die  psycho- 
logische Untersuchung  —  denn  um  eine  solche  handelt  es  sich 
—  etwas  zu  kurz.  Van  Gennep  hat  offenbar  die  Meinung,  daß  in 
allen  den  genannten  Fällen  die  Trennungs-  bzw.  Angliederungs- 
zeremonien  entstanden  sind,  weil  die  Teile  als  so  eng  zusammen- 
gehörig bzw.  80  heterogen  empfunden  wurden,  daß  ein  magisches 
Mittel  eingreifen  mußte,  sollte  der  praktische  Zweck  der 
Trennung  und  Anpassung  ohne  Unheil  erreicht  werden. 
Wenigstens  betrachtet  er  alle  diese  Akte  als  „magico-religieux", 
so  daß  man  annehmen  muß,  er  hält  soziale  Argumente,  die 
zuweilen,  z.  B.  für  Heiratszeremonien  (S.  177)  geltend  gemacht 
werden,  für  sekundär.  Die  notwendige  Folge  dieser  Theorie 
einer  magischen  Ausgleichung  ist  aber,  daß  der  Inhalt  der 
Zeremonien  nicht  mehr  an  sich  gedeutet  wird,  sondern  daß  es 
genügt,  die  Zeremonie  als  eine  Art  Symbol  (in  Ermangelung 
eines  treffenderen  Wortes)  für  eine  der  drei  Ausgleichungs- 
teile: Trennung,  Ubergangsstadium  und  Angliederung  fest- 
zustellen. 

Für  viele  Fälle  ist  das  allerdings  als  letzter  Grund  der 
Entstehung  ohne  weiteres  anzunehmen,  nämlich  wenn  der 
Ritus  ohne  viel  Schwierigkeit,  gewissermaßen  automatisch  oder 
vergleichbar  einer  Reflexbewegung  vor  sich  geht.  Wer  sich 
z.  B.  beim  Beten  das  Haupt  verhüllt,  sondert  sich  von  der 
profanen  Welt  ab  und  gliedert  sich  zugleich  dem  Heiligen 
an.  Durch  einen  Schleier  sondert  sich  die  Witwe  vom  toten 
Gatten  ab.  Zerbrochene  Gefäße  bedeuten  Trennung  vom 
vorigen  Zustand  bei  der  Verlobung.     Abschneiden   des  Haares 

Archiv  f.  Beligionswiggenschaft  XI  FI  29 


46Ö  K.  Th.  Preuß 

ist  gleichfalls  Trennung,  z.  B.  vom  Toten  bei  der  Leichenfeier 
oder  vom  früheren  Zustand  bei  Initiationsriten.  Zuweit  geht 
es  aber  meines  Erachtens,  wenn  nun  sämtliche  am  Körper 
vorgenommenen  Verstümmelungen,  z.  B.  Zahnausschlagen,  Blut- 
entziehen, Beschneidung,  Anlegen  von  Nasenschmuck  und  Ohr- 
schmuck u.  dergl.  m.,  lediglich  als  gleichartige  Betätigungen  der 
Trennungs-  und  Angliederungsmagie  aufgefaßt  werden,  wobei 
nicht  der  Penis,  der  Zahn  usw.  als  die  Hauptsache  gelten, 
sondern  die  symbolische  Trennung  irgendeiner  Sache  und  das 
Anlegen  von  irgend  etwas  als  Angliederung. 

Der  Verfasser  meint  nämlich,  daß  selbst  die  Verstümme- 
lung der  Sexualorgane  nichts  mit  der  uns  geläufigen  Be- 
stimmung des  Gliedes  zu  tun  haben,  weil  neuerdings  von 
Spencer  und  Gillen  und  von  Strehlow  die  Unkenntnis  einiger 
australischer  Stämme  über  den  Zusammenhang  zwischen 
Zeugung  und  Geburt  berichtet  worden  ist,  weil  femer  die  be- 
treffenden Verstümmelungen  den  Reiz  beim  Coitus  eher  ver- 
ringerten und  weil  drittens  die  Eingriffe  im  verschiedensten 
Alter  vor  sich  gingen,  wo  von  dem  Gedanken  an  Mannbarkeit 
noch  keine  Rede  sein  könne.  Die  Wahrscheinlichkeit,  daß 
der  Zweck  der  Sexualorgane  zu  irgendeiner  Zeit  nicht  ge- 
ahnt worden  ist,  wird  hier  als  gegeben  und  grundlegend  für 
die  Erklärung  angenommen  trotz  der  Widersprüche  dei 
australischen  Berichterstatter^,  trotz  des  altertümlichen  Männei 

»  Vgl.  Preuß  D.  L.  Z.  1909,  Sp.  1396.  Es  heißt  z.  B.,'  daß  dei 
Stämmen  die  natürliche  Zeugung  bei  Tieren  bekannt  sei,  und  daß  aucj 
die  Alten  den  wahren  Zusammenhang  bei  der  menschlichen  Gebui 
kennen.  —  Meinerseits  halte  ich  es  von  vornherein  für  ganz  unwahi 
Bcheinlich,  daß  bei  dem  ausgedehnten  Zauberglauben  der  Primitive^ 
nicht  frühzeitig  über  den  geschlechtlichen  Akt  und  die  Geburt,  die 
ein-  und  derselben  Leibesöffnung  stattfinden,  in  ihrer  VVechselbeziehuöi 
nachgedacht  sei,  zumal  beide  Akte  für  die  Beteiligten  so  ungemei 
interessant  sind.  Dazu  kommt  die  Ähnlichkeit  der  Kinder  mit  dei 
Eltern.  Selbstverständlich  ist  aber  anzunehmen  —  und  das  ist  an 
vielen  Orten  leicht  zu  belegen  — ,  daß  das  Kind  von  außen  herein- 
komme,  und   der  Coitus    nur   eine    Hilfsfunktion    darstellt,  die  in  Aus- 


Keligionen  der  Naturvölker  1906—1909  451 

kindbettes  (Couvade),  z.  B.  in  Amerika,  das  gerade  auf  der 
übertriebenen  Anerkennung  der  Zeugung  durch  den  Vater  be- 
ruht, und  trotzdem  die  mythische  Herkunft  des  Kindes  etwas 
ganz  Gewöhnliches  ist  und  bequem  neben  der  Wirkung  der 
Zeugung  einhergeht.  Daß  ferner  magische  Handlungen  häufig 
nicht  den  geringsten  wirklichen  Zweck  haben,  dieser  vielmehr 
nur  in  der  Einbildung  besteht  und  also  die  Frage,  ob  durch 
Beschneidung  höherer  oder  geringerer  Reiz  beim  Coitus  aus- 
gelöst werde,  für  den  Zweck  der  Beschneidung  ganz  gleich- 
gültig ist,  —  das  müßte  doch  einem  Gelehrten  wie  van  Gennep 
ganz  geläufig  sein!  Endlich  können  die  Vorbereitungs- 
zeremonien auf  die  Pubertät  doch  in  jeder  Zeit  von  Kindheit 
an  sogar  bis  in  die  Zeit  nach  der  Pubertät  erfolgen,  ohne 
daß  damit  der  Beweis  erbracht  ist,  daß  sie  nicht  mit  ihr  zu- 
sammenhängen. 

In  diesem  einen  Falle  habe  ich  im  einzelnen  kurz  auf 
die  Bedenken  gegen  die  Theorie  des  Verfassers  hingewiesen, 
daß  den  Riten,  abgesehen  von  dem  Zweck  der  Trennung  bzw. 
Angliederung,  kein  spezifischer  Inhalt  zugewiesen  wird.  Van 
Gennep  betont  selbst,  daß  einige  Riten  der  in  dem  Buche  be- 
sprochenen Arten  auch  eine  selbständige  Bedeutung  haben,  z.  B. 
glückbringend  seien,  doch  sei  das  im  großen  Ganzen  nicht  der  Fall. 
Nun  kann  es  aber  meines  Erachtens  gar  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, daß  nicht  die  Ubergangsriten  als  solche,  d.  h.  ohne 
Rücksicht  auf  die  Sache,  in  die  man  dadurch  eintritt  —  do- 
minieren können,  sondern  daß  besonders  z.  B.  Riten  der 
Altersklassen,  Männerbünde  usw.  die  Fähigkeiten  der  Klasse  oder 
Genossenschaft  mitteilen  sollen.^  Schaltet  man  hier  die  Be- 
nahmefällen auch  ganz  fehlen  kann.  So  sagen  die  Eskimo  vom 
Cumberlandsund  (Baffinland)  in  einem  Mythus,  die  Kinder  seien 
früher  auf  dem  Schnee  gefunden  worden,  dann  aber  sei  eins  an  einer 
Frau  in  die  Höhe  und  so  in  ihren  Leib  geklettert  und  sei  dort  bei 
jeder  Cohabitation  genährt  worden.  (Boas  The  Eskimo  of  Baffin  Land, 
Bull  of  the  Mus.  Xetc  York  XV,  S.  483.) 

*  Vgl.  Preuß   Ursprung  d.  Bei  und  Kunst,  Globus  87,  S.  398. 

29* 


452  K.  Th.  Preuß 

deutung  der  Sexualorgane  als  Quelle  besonderer  Fälligkeiten 
für  die  Erwachsenen  aus,  so  wäre  allerdings  der  Boden  für 
die  Theorie  des  Verfassers  geebnet.  Da  er  es  tut,  versteht 
man,  wie  er  über  alle  sonstigen  Bedenken  kühn  hinweg- 
schreitet, ohne  noch  das  Für  und  Wider  zu  erörtern.  Daß 
innerhalb  solcher  Initiationszeremonien  manche  wirklich  nur 
dem  Übergänge  dienen,  wie  z.  B.  der  scheinbare  Tod  und  die 
Wiedergeburt  der  Novizen,  ist  auch  von  mir  schon  in  der  er- 
wähnten Stelle  betont  worden.  Aber  auch  in  diesem  Falle 
bleibt  die  scharfe  Trennung  der  Altersklassen,  die  in  der 
Zeremonie  zum  Ausdruck  gebracht  ist,  ein  Beweis  für  die  anders 
gearteten  Fähigkeiten,  die  dem  Betreffenden  mitgeteilt  werden. 

Es  ist  unmöglich,  dem  reichhaltigen  Werke  hier  gerecht 
zu  werden.  Van  Gennep  hat  eine  glückliche  und  frucht- 
bare Idee  durchgeführt  und  dadurch  —  obwohl  er  natürlich 
selbst  einseitig  vorgegangen  ist  —  der  Einseitigkeit  der  herr- 
schenden Ideen  in  der  Deutung  der  Riten  abgeholfen.  Meine 
Bedenken  betreffen  keineswegs  das  Ganze,  sondern  nur  Einzel- 
heiten. In  vielem  fühle  ich  mich  auch  außerstande,  sofort  zu 
urteilen,  da  das  Material  zu  gering  ist.  Ja,  sogar  in  bezug 
auf  die  Erklärung  sexueller  Riten  ist  manches  der  Er- 
wägung wert.  So  wäre  es  möglich,  die  Tempelprostitution 
und  entsprechende  Päderastie  als  Angliederung  an  die  Gottheit 
oder  allgemeine  Prostitution  bei  Einführungsriten  als  Ver- 
brüderung zu  betrachten  in  demselben  Sinne  wie  ein  gemein- 
sames Mahl.  Dagegen  erscheint  mir  die  dorische  Knabenliebe 
oder  die  entsprechende  Einführung  in  die  Ingietgesellschaft  auf 
der  Gazellehalbinsel  (224)  ^  eher  im  Betheschen  Sinne  zu  deuten 
zu  sein. 

Einen  kurzen  Aufsatz  über  die  Grundlagen  des  Fastens 
bringt  Edward  Westermarck,  the  Principles  of  Fasting^ 

*  Die  Originalstelle  ist:  Parkinson  Dreißig  Jahre  in  der  Südsee, 
Stuttgart  1907,  S   611. 

*  Folklore  XVIII  1907,  S.  391.  422. 


Religionen  der  Xatorvölker  1906—1909  453 

worin  das  Fasten  zur  Erlangung  übernatürlicher  Kräfte,  bei 
Ausübung  von  Zeremonien,  nach  einem  Todesfall  (besonders 
ausführlich),  bei  Naturereignissen,  wie  Sonnenfinsternis,  Neu- 
mond usw.  und  als  Buße  behandelt  wird. 

ZuGeoRunze, Ursprung  undEntwicklung  derOpfer- 
gebräuche  I.  Der  Ursprung  des  Opfers  mit  besonderer 
Beziehung  auf  K.  Th.  Preuß'  Forschungen  über  das 
Menschenopfer  im  alten  Mexiko*  möchte  ich  bemerken,  daß 
Kunze  wie  auch  Wundt  in  seiner  Völkerpsychologie  II,  1  diese  Opfer 
ganz  richtig  als  Zauber  zur  Beeinflussung  des  Ganges  der  Natur 
auffassen.  Besonders  behandelt  sind  die  Opfer  zur  Erneuung 
der  Natur,  bzw.  der  Naturgottheiten  durch  Tötung,  während 
die  Menschenopfer  als  Abbilder  der  von  der  Sonne  getöteten 
Sterne,  deren  Herzen  die  Sonne  zu  ihrem  Fortbestehen  genießt, 
hinzugefügt  werden  könnten.  Für  das  spätere  Sühnopfer  führt 
übrigens  Wundt  den  mit  dieser  Tatsache  sich  berührenden 
Gedanken  ein,  daß  der  Gott  ebenso  wie  der  Mensch  beim 
Essen  des  Opfers  der  in  diesem  steckenden  Eigenschaften  teil- 
haftig werde. 

Will  man  systematisch  bei  der  Erforschung  der  Religion 
der  Primitiven  zu  Werke  gehen,  so  müßte  man  von  den  Zauber- 
wirkungen ausgehen,  die  den  einzelnen  Teilen  des  mensch- 
lichen Körpers  zugßschrieben  werden;  denn  die  mehr  oder 
weniger  bestimmten  Persönlichkeiten,  deren  Macht  als  die 
Ursache  eindrucksvoller  Vorgänge  gilt  —  d.  h.  die  späteren 
Götter  —  sind  nach  dem  Bilde  des  Menschen  geformt.    Deshalb 

I  können  wir  mit  besonderer  Freude  das  Werk  von  S.  Selig- 
mann begrüßen;  Der  böse  Blick  und  Verwandtes,  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Aberglaubens  aller  Zeiten 

j  und    Völker.^      Freilich    wäre    im    obigen    Sinne    das    Thema 


^Neue  WeltanscJiauung  1908  S.  401—411.  Vgl.  auch  Geo  Kunze  Die 
psychischen  Motive  der  Opfergehräuche  in  der  Stufenfolge  ihrer  Entwick- 
lung, Ztschr.  f.  Religionspsych.  11  S.  Iff. 

»  I:  LXXXVIU  und  406  S.     U:  XH  und  526  S.     BerUn  1910.     8». 


454  K.  Th.  Preuß 

„Die  Zaub erwirkungen  des  Blicks"  richtiger  gewesen.  Aber  der 
Verf.  hat  tatsächlich  neben  dem  bösen  auch  den  guten  Blick 
kurz  behandelt,  und  es  ist  wohl  sicher,  daß  der  guten  Wirkungen 
nicht  sehr  viele  sein  werden.  Der  Verf.  hat  als  Augenarzt 
einfach  den  ungeheuren  Einfluß  darstellen  wollen,  den  der 
Glaube  an  den  bösen  Blick  für  die  Menschheit  gehabt  hat,  und 
das  ist  ihm  gelungen.  Durch  die  bloße  übersichtliche  Gliederung 
des  Materials  aber  ergeben  sich  zugleich  viele  fruchtbare  Er- 
klärungen für  Gebräuche,  bei  denen  man  nicht  an  den  bösen 
Blick  gedacht  hat,  da  der  Verf.  erfreulicherweise  auch  das 
heranzieht,  was  nicht  direkt  als  böser  Blick  belegt  ist,  aber 
stets,  ohne  mehr  behaupten  zu  wollen  als  das  Material  wirklich 
aussagt.  Dahin  gehören  z.  B.  im  Zusammenhange  mit  dem 
bösen  Blick  bei  Schwangeren  und  Menstruierenden  die  Pubertäts- 
riten für  junge  Mädchen  bei  den  kalifornischen  Indianern, 
wobei  besonders  die  Augen  behütet  werden,  femer  der  böse 
Blick  bei  bestimmten  Kategorien  von  Verwandten,  wobei  man 
auch  mit  einem  Fragezeichen  an  die  sonderbare  Vermeidung 
von  Schwiegermutter  und  Schwiegersohn  denken  muß.  Es  ist 
ein  riesiges  Material,  tatsächlich  eine  ganze  Bibliothek,  deren 
Verwertung  durch  die  beigegebenen  Belege  der  Wissenschaft 
offen  steht,  und  es  ist  deshalb  schwer,  dem  Inhalt  irgendwie 
gerecht  zu  werden.  Man  findet  z.  B.  außer  der  Verbreitung 
und  den  Kennzeichen  des  bösen  Blicks  die  einzelnen  Kategorien 
von  Menschen  (Völker,  Religionsgenossenschaften,  Berufsklassen, 
Geschlechter,  Verwandte,  Einzelwesen  usw.),  die  Tiere,  über- 
natürlichen Wesen  und  leblosen  Dinge,  die  damit  behaftet 
sind,  die  Ursachen  und  Wirkungen  des  bösen  Blicks  und  was 
alles  (Menschen,  Tiere,  Pflanzen,  leblose  Dinge)  ihm  ausgesetzt 
ist,  femer  die  Diagnostik  und  die  Heilmittel,  die  allein 
125  Seiten  —  stets  in  prägnantem  klaren  Stil  —  einnehmen. 
Dann  kommt  im  zweiten  Bande  die  Masse  der  Schutzmittel 
dagegen  (416  Seiten),  wobei  zur  besseren  Erzielung  des  Ver- 
ständnisses   auch   nah   verwandte  Wirkungen   der   betreflPenden 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  455 

Amulette  u.  dgl.  aufgezeichnet  sind.  Ich  erwähne  hier  nur 
unter  den  menschlichen  und  tierischen  Körperteilen  das  Auge 
—  man  denke  auch  an  das  verbreitete  Augenornament  — ,  die 
Hand,  die  Genitalorgane  und  Sekrete,  ferner  die  Zahlen,  be- 
stimmte Bewegungen,  Formeln,  Bilder  und  göttlichen  Schutz- 
mittel. Den  Schluß  bilden  die  verschiedenen  Hypothesen  über 
die  Wirkung  des  bösen  Blickes  und  die  naturwissenschaftlichen 
Beobachtungen  des  Verf.  selbst,  dessen  Beruf  als  Augenarzt 
hier  besonders  von  Vorteil  war.  Auffallend  ist  bei  alledem, 
daß  der  böse  Blick  unter  den  Naturvölkern  verhältnismäßig 
wenig  nachgewiesen  ist,  offenbar,  weil  bloße  Beobachtungen 
ohne  direkte  Fragen  hier  nicht  ausreichend  sind. 

Wie  Seligmann  legt  auch  R.  Hertz  ein  Glied  des  mensch- 
lichen Körpers  einer  religiösen  Betrachtung  zugrunde  und  erfüllt 
dadurch  im  angegebenen  Sinne  eine  Forderung  der  systematischen 
religiösen  Forschung:  La  preeminence  de  la  main  droite, 
etude  sur  la  polarite  religieuse.^  Auch  in  dieser  ausgezeich- 
neten kleinen  Abhandlung,  die  die  vorhandene  Literatur  über  den 
Gegenstand  vollzählig  berücksichtigt,  sieht  man  wieder,  wie 
bedeutungsvoll  und  ausgedehnt  solche  scheinbar  abgelegenen 
Themata  für  die  Religionswissenschaft  sind.  Der  Vorzug, 
den  die  rechte  Hand  vor  der  linken  in  den  religiösen  Ver- 
richtungen und  Vorbedeutungen  und  in  den  rituellen  Hand- 
lungen des  täglichen  Lebens  genießt,  die  Verbindung  der 
Linken  mit  den  finsteren  Mächten,  was  sogar  bis  zum  Ge- 
danken einer  Erfüllung  mit  Gift  geht,  die  Bedeutung  der 
Rechten  als  aktiv  und  begabt  mit  Zauberkraft  (mana),  der 
linken  als  verteidigend,  die  Beziehung  beider  zu  den  Welt- 
richtungen —  auch  bei  den  von  mir  besuchten  Huichol  ist 
rechts  und  links  durch  Norden  und  Süden  bezeichnet,  was 
aber  bei  anderen  Völkern  umgekehrt  ist  —  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Zeichensprache  (oben  =  rechts;  unten  =  links)  werden 
nachdrücklich  hervorgehoben.  Daß  eine  Hand  den  Vorrang 
*  Sevue  fhüosophique  Paris  1909.     S.  553—580.    8". 


456  K.  Th.  Preuß 

habe,  sei  nacli  den  parallelen  Erscheinungen  des  sozialen 
Lebens  selbstverständlich;  daß  die  Rechte  bevorzugt  ist,  sei 
nicht  ohne  weiteres  verständlich.  Die  Einwirkung  der  äußeren 
Welt,  z.  B.  der  Gestirne,  sei  nicht  beweisend.  Man  müsse  an 
eine  anatomische  Erklärung  denken.  Das  ist  auch  des  Refe- 
renten Meinung. 

Wie  ergiebig  überhaupt  die  Untersuchungen  von  Er- 
scheinungen am  menschlichen  Körper  sind,  tritt  besonders 
durch  das  umfangreiche  Werk  von  Hermann  Diels, 
Beiträge  zur  Zuckungsliteratur  des  Okzidents  und 
Orients^  zutage,  in  der  die  griechische,  slawische,  rumänische, 
arabische,  hebräische  und  türkische  Zuckungsliteratur  heraus- 
gegeben sowie  der  europäische  Volksglaube  über  die  Vor- 
bedeutung des  harmlosen  Zuckens  der  Gliedmaßen  (Jucken  der 
Nase,  Klingen  im  Ohr  usw.)  gesammelt  wird.  Ehe  man 
schwierige  religiöse  Probleme  lösen  kann,  muß  man  die  Rich- 
tung des  ursprünglichen  Denkens  und  die  unscheinbaren  Dinge 
kennen,  denen  der  Mensch  seine  Aufmerksamkeit  schenkt, 
weil  er  eine  Beziehung  zu  seinem  Wohlbefinden  darin 
erblickt.  Dann  wird  man  auch  nicht  die  Religion  mit 
dem  Animusmus  anzufangen  brauchen,  den  man  sonst  überall 
hineinquälen  will.  Für  den  Ethnologen  ist  der  Hinweis 
auf  dieses  Buch  auch  besonders  deshalb  notwendig,  weil  in 
der  völkerkundlichen  Literatur  solcher  Zuckungen  fast  gar 
nicht  Erwähnung  getan  wird,  da  die  Reisenden  nicht  daran 
gedacht  haben,  die  Eingeborenen  danach  zu  fragen.  Deshalb 
konnte  meine  an  sich  natürlich  nicht  umfassende  Skizze,  Die 
Vorbedeutung  des  Zuckens  der  Gliedmaßen  in  der 
Völkerkunde^,  die  ich  auf  Veranlassung  von  Hermann  Diels 
schrieb,  nur  geringe  Ausbeute  bringen. 


*  I  die  griechischen  Zuckungsbücher  (Melampus  nsgl  itaX(icöv\ 
II  weitere  griechische  und  außergriechische  Literatur  und  Volksüber- 
lieferung.    Abh.  d.  K.  Fr.  Ak.  d.  W.  1907.  1908.     42  und  130  S.  4". 

»  Globus  Bd  96  (1909)  S.  246—247. 


Religionen  der  Xaturvölker  1906—1909  457 

V  Güter  der  materiellen  Kultur  auf  religiöser  Grundlage 

Die  Ethnologie  ist  besonders  in  dem  Verständnis,  wie 
Erfindungen  von  Geräten  des  praktischen  Lebens  vor  sich 
gehen,  noch  sehr  wenig  weit  gekommen.  Entweder  erscheint 
der  Prozeß  ganz  einfach  (Bastian:  der  Speer  ist  ein  verlängerter 
Arm)  oder  ganz  schwierig,  so  daß  in  beiden  Fällen  nichts 
Greifbares  geleistet  ist.  Auch  in  diesem  Punkte  bietet  nun 
die  in  dem  letzten  Jahrzehnt  vertiefte  Religionswissenschaft 
eine  Handhabe,  um  in  einzelnen  Fällen  die  Gedankengänge 
verfolgen  zu  können.  Es  sind  Untersuchungen  darüber  im 
Gange,  über  die  ich  hoffentlich  das  nächste  Mal  werde  berichten 
können.  Aber  auch  gegenwärtig  haben  wir  schon  seit  mehr 
als  einem  Jahrzehnt  eine  Theorie  über  die  Zähmung  des  Rindes, 
die  Erfindung  des  Wagens  und  die  Entstehung  der  Pflugkultur 
auf  religiöser  Grundlage,  die  soeben  in  vertiefter  Ausgestaltung 
nochmals  vorgetragen  wird:  Ed.  Hahn,  die  Entstehung 
der  Pflugkultur.^  Offen  gesagt,  die  Theorie  ist  früher  miß- 
achtet worden,  weil  die  Ethnologie  aus  ihrer  falschen  Bewertung 
des  früheren  Menschen  als  rationellen  Praktikers  noch  nicht 
herausgetreten  war.  Heute  muß  man,  im  ganzen  genommen, 
die  beschriebene  Entwicklung  für  wahrscheinlich  ansehen, 
obwohl  Bedenken  im  einzelnen  ähnlich  bestehen  wie  früher. 
Denn  alle  die  zahlreichen  Beweise,  die  Hahn  vorbrinsrt, 
beziehen  sich  auf  die  religiöse  Bedeutung  der  schon  vorhandenen 
Kulturgüter,  während  der  Prozeß  des  Werdens  der  Spekulation 
—  aber  nur  der  Spekulation  auf  religiösem  Grunde  —  offen 
bleibt. 

Es  ist  zunächst  als  gesichertes  Ergebnis  anzusprechen, 
daß  Hackbau  (wie  Hahn  den  primitiven  Ackerbau  nennt)  und 
Pflugkultur  grundverschieden  sind,  daß  die  Rinderzucht  mit  der 
letzteren  in  unmittelbarer  Verbindung  steht,  und  daß  sie  nicht 
einer  vorhergehenden  Stufe  der  Hirtennomaden  angehört.    Das 

*  Heidelberg  1909  VIII  und  192  S. 


458  K.  Th.  Preuß 

ergeben  schon  die  Tatsachen,  die  sich  für  das  Verhältnis 
von  Jägern  zur  Zähmung  von  Tieren  beibringen  lassen.  Rinder 
sind  nun  nach  Hahn  zunächst  als  Opfertiere  für  die  Mond- 
und  Erdgöttin  gehegt  worden.  Das  Bindeglied  seien  die  Hörner 
der  Rinder  und  die  Mondsichel.  Um  den  Pflug  zu  ziehen,  der 
als  Phallus  den  Schoß  der  Mutter  Erde  befruchtet,  mußte  der 
Stier  kastriert  werden,  was  als  Fruchtbarkeitszauber  aufzufassen 
sei.  Statt  des  Coitusaktes  werde  gleich  die  Quelle  des  Samens 
dargebracht,  woraus  überhaupt  die  Entmannungsgebräuche  im 
Agrarkuit  (vgl.  den  Atysmythos)  hervorgingen.  Die  Pflugkultur 
wird  dem  babylonischen  Kulturkreis  zugerechnet,  was  übrigens 
mit  der  „babylonischen  Weltanschauung"  nichts  zu  tun  hat. 
Und  diesem  Kreis  und  derselben  Zeit  gehöre  auch  die  Entstehung 
des  Wagens  an.  Dieser  sei  in  der  Astralreligion  etwa  aus 
Zauberideen,  um  „die  Wanderungen  der  Lenker  des  Schicksals 
am  Himmel  auf  Erden  zu  wiederholen",  im  Modell  entstanden, 
wobei  das  Rad  in  einer  astralen  Idee  in  der  Gestalt  des  Spinn- 
wirtels  gegeben  gewesen  sei.  Dann  komme  noch  das  Problem 
des  Ziehens  hinzu.  Hier  füge  sich  das  heilige  Rind  zum  heiligen 
Wagen.  Die  Verwendung  von  Hunden  bei  den  Indianern 
zum  Ziehen  von  Schleifen  und  an  den  Eskimoschlitten,  und 
von  Renntieren  bei  den  nördlichen  Völkern  wird  demgemäß 
als  Entlehnung  betrachtet.  Die  Beweisführung  setzt  hier  erst 
mit  der  Auffindung  kleiner  Wagen  als  Kultobjekte,  mit  der 
Heiligkeit  der  Wagen,  des  Schiffs wagens,  des  Wagens  als 
Königssitzes  u.  dergl.  m.  ein.  m 

Hahn  hat  hier  auf  kleinem  Räume  ein  umfassendes  Kultur- 
bild entworfen,  das  anregend  wirken  wird.  Aber  es  wäre  nötig, 
um  zu  einigermaßen  sicheren  Ergebnissen  zu  gelangen,  jedes 
einzelne  Glied  monographisch  und  zwar  besonders  philologisch 
zu  behandeln,  was  ganz  fehlt.  Man  fragt  auch  z.  B.  vergebens, 
welche  Tatsache  gibt  es  für  die  Beziehung  der  Rinderhörner 
zum  Monde,  wo  werden  heilige  Rinder  lediglich  als  Opfertiere 
gehalten,  wo  ist  der  Pflug  ein  Phallus,  wo  haben  Spinnwirtel 


Religionen  der  Naturvölker  1906  —  1909  459 

unzweifelhaft  astrale  Bedeutung?  usw.  Auch  ist  damit,  daß 
der  Wagen  oder  ein  Tier  am  Himmel  erscheint,  noch  nicht 
seine  religiöse  Bedeutung  erwiesen.  Möchten  sich  auch  andere 
Forscher  dieser  überaus  wichtigen  Probleme  annehmen  und 
den  Pfad,  den  Hahn  in  echt  ethnologischem  Geiste  gewiesen 
hat,  mit  den  besseren  Hilfsmitteln  ihrer  philologischen  Spezial- 
wissenschaft  weiter  verfolgen. 

VI  Mythologie 

Ein  Buch,  das  wegen  seines  handgreiflichen  Nutzens  bei 
Arbeiten  über  Märchen  und  Mythen  auf  allgemeinen  Beifall 
zu  rechnen  hat,  ist  das  Werk  von  I.  A.  Macculloch,  The 
Childhood  of  Fiction:  a  Study  of  Folk  Tales  and 
Primitive  Thought.^  In  nicht  mehr  als  fünfzehn  Gruppen 
behandelt  er  die  Märchenzüge  der  ganzen  Welt  in  einer  erstaun- 
lichen Fülle  von  Beispielen  mit  genauer  Quellenangabe,  so  daß 
jeder  —  zumal  mit  Hilfe  des  ausführlichen  Index  —  die  ge- 
wünschten Parallelen  finden  kann.  Ich  führe  ein  paar  solcher 
Gruppen  an:  2.  Das  Wasser  des  Lebens.  3.  Die  Emeuung  des 
Lebens  in  Toten  und  Zerstückelten.  4.  Die  trennbare  Seele. 
5.  Verwandlung.  6.  Unbeseelte  Gegenstände  mit  menschlichen  und 
zauberischen  Eigenschaften.  Sonne,  Mond  und  Sterne  z.  B. 
sind  dagegen  ausgelassen,  um  den  Umfang  des  Werkes  nicht 
zu  sehr  anschwellen  zu  lassen.  Was  aber  das  Buch  besonders 
interessant  macht,  ist  die  Grundidee,  die  Märchenzüge  in 
Beziehung  zu  den  frühesten  Sitten  und  Glaubensanschauungen 
der  Menschheit  zu  bringen,  denen  er  die  Entstehung  der  Märchen 
—  den  Ausdruck  immer  im  weitesten  Sinne  genommen  — 
zuschreibt.  Die  gefällige  und  dabei  knappe  Darstellung  und 
die  ruhige,  sich  nirgends  aufdrängende  Meinung  des  Verfassers 
macht,  daß  man  sich  nur  schwer  von  dem  Buche  trennt.  In 
der  Wanderungsfrage   steht  er  auf  dem   Standpunkte,   daß   es 

*  London  1905.  509  S. 


460  K.  Th.  Preuß 

viele  Entstehungszentren  giebt,  er  geht  aber  auch  Übertragungen 
und  dadurcb  entstandenen  Veränderungen  im  einzelnen  nach. 
Ein  wenig  müssen  wir  uns  auch  hier  mit  Mythen- 
deutungen beschäftigen.  Astrale  Deutungen  —  so  sicher  Ge- 
stirnschicksale in  vielen  Mythen  vorhanden  sind  und  auch 
z.  T.  von  den  Eingeborenen  selbst  durch  die  Angabe  von 
Gestirnnamen  bestätigt  werden  —  lassen  sowohl  an  sich  wie 
in  dem  Auseinandergehen  der  Meinungen,  welche  Gestirne 
zugrunde  liegen,  oft  sehr  viel  Zweifel  zurück.  Deshalb  ist  es 
unsere  Pflicht,  andere  Versuche  psychologischer  Erklärung 
wenigstens  zu  prüfen,  so  bedenklich  sie  auch  erscheinen  mögen. 
Es  handelt  sich  um  eine  Deutung  durch  Träume  und  Kindheits- 
phantasien, wie  sie  in  den  Abhandlungen  von  Karl  Abraham, 
Traum  und  Mythus  und  von  Otto  Rank,  Der  Mythus 
von  der  Geburt  des  Helden^  erörtert  werden.  Beide  gehen 
auf  die  Ideen  von  Siegm.  Freud  zurück,  die  sich  besonders 
mit  unbewußten  sexuellen  Wünschen  beschäftigen.  Diese 
Wünsche,  die  schon  im  Leben  des  Kindes  eine  große  Rolle 
gegenüber  den  Schwestern  und  der  Mutter  spielen,  werden 
dann  in  den  Traum  zurückgedrängt,  offenbaren  sich  aber  auch 
hier  nicht  offen,  sondern  müssen  infolge  der  Zensur  des  Bewußt- 
seinsinhaltes ein  fremdes,  symbolisches  Gewand  annehmen.  Eben- 
so enthalte  der  Mythus  die  Kindheitswünsche  des  Volkes  in 
symbolischem  Gewände.  Die  Parallelisierung  zwischen  Traum- 
symbolik und  Mythensymbolik  in  mehr  theoretischen  Er- 
örterungen ist  nun  der  Inhalt  der  Schrift  von  Abraham.  Der 
Leser  wird  billig  über  das  überall  vorhandene  sexuelle  Unter- 
bewußtsein staunen.  Es  ist  ebenso  pikant  wie  unkontrollierbar 
und  deshalb  wenigstens  in  dieser  Allgemeinheit  für  die  Wissen- 
scl^aft  nicht  verwendbar.  Daß  z.  B.  die  Geschlechtsunterschiede 
auch  den  Objekten  zugeschrieben  werden  (vgl.  Artikel  der,  die, 


*  Leipzig  und  Wien  1908  8".  Schriften  zur  angewandten  Seelenkunde. 
Heft  4.  6. 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  461 

das)  bestätigt  doch  nur  die  der  Völkerkunde  bekannte  An- 
schauung der  Objekte  als  lebendiger  Persönlichkeiten,  die  des- 
halb auch  ein  Geschlecht  haben  müssen  als  Projektionen  der 
menschlichen  Persönlichkeit.  ^  Das  ist  also  kein  sexuelles  Unter- 
bewußtsein. 

Positiver  ist  die  Arbeit  von  Rank.  Er  führt  eine  große 
Anzahl  der  bekannten  Heldensagen  an,  die  darauf  zurückgehen 
sollen,  daß  ein  Kind,  wie  es  auch  bei  erwachenen  Neurotikern 
vorkomme,  Phantasien  über  eine  Abkunft  von  hohen  Eltern 
hat.  Die  natürliche  Konkurrenz  zwischen  Vater  und  Sohn, 
wie  sie  dem  kindlichen  Bewußtsein  in  den  beiderseitigen  Be- 
ziehungen zur  Mutter  und  in  dem  vom  Vater  behinderten  Aus- 
leben vorschwebe,  führe  dazu,  die  Ursache  des  gegenwärtigen 
gewöhnlichen  Daseins  in  einer  Beseitigung  des  phantasierenden 
Kindes  durch  den  Vater  zu  suchen.  Später  entthrone  dann 
das  Kind  im  Verfolg  der  Phantasie  naturgemäß  den  Vater. 
Entsprechend  den  Träumen  erwachsener  und  neurotischer  Per- 
sonen sei  die  Aussetzung  des  Kindes  im  Wasser  der  svmbo- 
liche  Ausdruck  der  Geburt.  (Fruchtwasser.)  Im  Mythus  iden- 
tifiziere sich  das  Volk  mit  dem  Kinde.  —  Bedenken  erregt 
hier  besonders,  daß  einem  Kind  Phantasien  oder  auch  einem 
Neurotiker  Träume  untergeschoben  werden,  ohne  zu  berück- 
sichtigen, daß  der  Stoff  von  außen  her  durch  Erzählungen 
u.  dergl.  m.  irgendwie  in  ihn  hineingetragen  ist.  Es  ist  heute 
absolut  unkontrollierbar,  inwieweit  der  Bewußtseinsinhalt,  der 
flieh  in  Phantasien  und  Träumen  entladet,  hineingetragen  ist  oder 
auf  innern  Zuständen  beruht.  Es  ist  bekannt,  daß  z.  B.  die 
Indianer  unendlich  viel  Mythen  auf  Träume  zurückführen,  ja 
die  Mohave  haben  ihre  Gesänge,  Reden  und  übernatürlichen 
Fähigkeiten  durch  Träume  erhalten.-    Überall  ist  hier  am  graten 


^  Tgl.  z.  B. :    „Die  Züni  legen  allen  Xaturobjekten  ein  Geschlecht 
bei."    (Stevenson  23 d,  Ann.  Rep.  Bureau  of  Ethnology,  S.  35  Anm.) 
»  Vgl.  Archiv  VII  S.  252. 


462  K.  Th.  Preuß 

Glauben  im  allgemeinen  nicht  zu  zweifeln.  Sie  träumen  eben 
und  bilden  es  sich  ein  geträumt  zu  haben,  was  sie  schon  in  ihrem 
Bewußtsein  haben.  Wenn  wir  daher  Näheres  über  Traumvorgänge 
erfahren  könnten,  so  wäre  das  auch  für  die  Mythologie  ein 
Gewinn.  Ferner  ist  mir  unverständlich,  wie  das  Yolk,  das 
die  Taten  eines  Helden  erzählt,  irgendeinen  Anlaß  haben 
sollte,  ihm  einen  solchen  gewöhnlichen  „Kindheitsroman" 
anzudichten,  wenn  dieser  nicht  zugleich  göttliche  (astrale) 
Erhöhung  enthielte,  d.  h.  durch  Gestirnbeobachtung  suggeriert  ist. 
Auch  für  die  Völkerkunde  sind  zwei  Bücher  über  Mythen- 
deutung von  großem  Interesse,  die  zwar  im  wesentlichen  auf 
dem  bei  Kulturvölkern  gesammelten  Material  beruhen,  aber 
in  ihren  allgemeinen  Ergebnissen  direkt  die  Naturvölker  und 
die  Vergleichung  über  die  gesamte  Erde  zur  Voraussetzung 
haben:  Ernst  Siecke,  Götterattribute  und  sogenannte 
Symbole^  und  Heinrich  Lessmann,  Aufgaben  und  Ziele 
der  vergleichenden  Mythenforschung.^  Dem  Sieckeschen 
Buche  geht  unter  anderem  eine  Abhandlung  über  die  mytho- 
logischen Anschauungen  der  Litauer  voraus,  die  das  von 
Mannhardt  in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie  VH  veröffentlichte 
schöne  Material  an  Liedern,  Erzählungen  und  Sprüchen  nament- 
lich nach  der  Seite  des  Mondes  neu  deutet.  Siecke  hofft  durch 
die  darin  gebotene  geschlossene  Reihe  an  Mond-  und  Sonnen- 
motiven den  Beweis  zu  erbringen,  daß  er  auch  sonst  nicht  von 
einer  „mondsüchtigen  Deutungsmanie"  befallen  sei,  da  die 
Lieder  ihren  Gegenstand  offen  mit  Namen  nennen.  In  der 
Tat  wird  hier  im  großen  und  ganzen  nicht  viel  gegen  Sieckes 
Erklärungen  zu  entgegnen  sein.  In  der  Behandlung  des  eigent- 
lichen Themas  werden  dann  die  Gegenstände  aufgereiht,  untor 
denen  der  Mond  in  den  Mythen  angeschaut  ist.  Siecke  vertrit 
dabei   die   vielfach   richtige  Anschauung,   daß   die  Geräte   und 


*  Jena  1909.     313  S. 

*  Leipzig  1908.    62  S,    {^Mythologische  Bibliothek  I,  4.) 


Religionen  der  Naturvölker  1906—1909  463 

Abzeichen  der  betreffenden  Mondwesen  (z.  B.  Doppelgesicht, 
Schädel,  Auge,  abgetrenntes  Glied,  Axt,  Ball,  Becher,  Bogen, 
Boot,  Fackel,  Feder,  Helm,  Lanze,  Schmuck,  Zahn)  zunächst 
keine  Symbole,  sondern  die  Gestalt  des  Mondes  selbst  seien, 
und  beruft  sich  dafür  auf  seine  Beobachtung  des  tatsächlichen 
Aussehens  des  Mondes.  Da  nun  hier  Anschauung  und  Beweis 
zusammenfallen,  so  sind  dem  Buche  ästhetisch  wirkungsvolle 
Zeichnungen  der  in  den  betreffenden  Handlungen  begriffenen 
Mondgestalten  von  Franz  Stassen  beigegeben.  Ich  glaube  aber 
doch,  daß  der  Leser  nur  geringe  Phantasie  nötig  hat,  um  dem 
Verfasser  zu  folgen,  und  daß  die  Zeichnungen  nichts  helfen, 
wo  man  sich  vorstellt,  daß  die  Sachbilder  anderen  Ursprung 
haben  können.  Sehr  schade  ist  die  geübte  Entsagung  gegen- 
über sonstigen  widersprechenden  Überlieferungen  und  sprach- 
lichen Erwägungen:  das  Motiv  allein  herrscht  und  ist  in  jedem 
Fall  ausschlaggebend.    Wenn  einer  zerstückelt  und  dann  wieder 

DO 

zusammengesetzt  wird,  wenn  ihm  ein  Glied  fehlt,  wenn  jemand 
sich  durch  Anlegen  eines  Tierfelles  in  das  Tier  verwandelt, 
wenn  eine  Gottheit  die  Vegetation  hervorbringt,  wenn  nun 
gar  eine  Sichel,  ein  Hom,  ein  Bogen  vorkommt,  so  wird  das 
nicht  als  ein  heuristisches  Moment  angesehen,  sondern  als 
letzte  Instanz  Von  den  vorkommenden  Zahlen  weisen  3  und 
9  nach  Siecke  unfehlbar  auf  den  Mond,  während  nur  in  manchen 
Fällen  ihr  Ursprung  von  den  drei  Nächten  des  Neumondes 
bzw.  dem  dritten  Teile  der  Zeit  des  sichtbaren  Mondes  erwiesen 
ist,  usw. 

So  sehr  wir  der  Vergleichung  zur  Schärfang  unseres  Urteils 
und  zur  Erklärung  von  Tatsachen  bedürfen,  so  hat  in  jedem 
einzelnen  Fall  die  Spezialwissenschaft  allein  die  Möglichkeit 
eines  Entscheides.  Es  scheint  mir  freilich  völlig  unangebracht,  die 
von  Siecke  dargebotenen  Deutungen  nicht  emsig  zu  studieren, 
denn  wirkliche  Mondmythen  gibt  es  tatsächlich  im  Überfluß,  und 
es  gibt  meines  Erachtens  kein  Sachbild,  für  das  Siecke  nicht 
wenigstens   ein  paar  recht  wahrscheinliche  Belege  beigebracht 


464  K.  Th.  Preuß 

hat.  Ich  selbst  jedoch  könnte  hier  nur  auf  die  speziellen  Verhält- 
nisse in  Mexiko  und  in  Amerika  überhaupt  eingehen,  wo  sich 
Ehrenreich  und  Seier  der  Mondmythologie  angenommen  haben, 
die  Siecke  beide  öfters  zitiert.  Dort  kommen  in  der  Tat  eine 
Menge  ähnlicher  Mondmotive  vor,  z.  B,  auch  die  3  und  die  9,  die 
demnach  nicht,  wie  Lessmann  behauptet,  besonders  arisches 
Gut  sind.  Aber  ich  muß  mich  begnügen,  im  amerikanischen 
Bericht  an  einigen  typischen  Beispielen  an  der  Hand  von 
Seiers  mexikanischen  Schriften  zu  zeigen,  wie  sich  die  be- 
treffenden Mondhypothesen  innerhalb  der  gesamten  Über- 
lieferung und  innerhalb  des  von  mir  in  Mexiko  gesammelten 
umfangreichen  Materials  an  Mythen,  Liedern  und  Zeremonien 
der  heutigen  Indianer  ausnehmen.  Danach  kann  ich  freilich 
auch  in  Mexiko  keine  andere  Mondgottheit  als  die  auch  bei  den 
heutigen  Indianern  so  aufgefaßte  mächtige  Mond-  und  Frucht- 
barkeitsgöttin und  ihre  weiblichen  Verwandten  anerkennen. 
Siecke  erklärt  „von  den  vielen  Millionen  Mythen,  die  es 
geben  mag,  kaum  einige  Tausende  für  Sonnen-  und  Mondsagen". 
Wenn  er  das  meint  und  trotzdem  nur  Mondmythen  behandelt, 
so  wird  er  zugeben  müssen,  daß  die  Mondmythen  erst  nach 
der  psychischen  Analyse  der  übrigen  ihren  Geltungsbezirk  er- 
halten können.  Indessen  sagt  Lessmann:  „Die  Gesellschaft  für 
vergleichende  Mythenforschung  (zu  der  Siecke  gehört)  vertritt 
den  Standpunkt,  daß  die  Mythen  vermutlich  durchweg,  zum 
mindesten  ganz  überwiegend,  die  Schicksale  der  Himmelskörper 
behandeln,  und  wir  verstehen  unter  einem  Mythos  zunächst 
und  im  engeren  Sinne  eben  nur  Erzählungen  dieser  Art.  Der 
Mythos  hat  also  an  sich  nichts  zu  tun  mit  Blitz  und  Donner, 
Regen  und  Regenbogen,  Wolken  und  Wind  und  ebensowenig 
mit  Verkörperungen  von  Wasser,  Feuer,  Licht  und  Finsternis ' 
Es  ist  für  eine  im  Beginn  ihrer  Tätigkeit  stehende  Gesellschaft 
für  Mythenforschung  nicht  gut,  daß  sie  von  vornherein  auf 
einen  Unterbau  verzichtet.  Dieser  muß  im  engsten  AnschluP^ 
an  die  Religionsforschung  angelegt  werden,  denn  Religion  und 


Religionen  der  Xaturvölker  1906—1909  465 

Mythologie  sind  gleichmäßig  durch  die  Auffassung  von  Natur- 
objekten als  menschenähnlicher  wirkungs-  oder  zauberkräftiger 
Persönlichkeiten  entstanden,  nur  daß  das  Handeln,  die  Religions- 
übung  früher  ist  als  das  Phantasieren,  die  Ausgestaltung  der 
Persönlichkeiten.  Lessmann  hält  zwar  auch  die  Religion 
für  ein  beachtenswertes  „mythenführendes  Erz"  offenbar  in 
dem  Sinne,  daß  er  zugreift,  wenn  die  einmal  festgelegten 
Mondmotive  irgendwo  aufleuchten.  Das  ist  aber  nur  eine 
äußerliche  Verbindung  und  kann  kein  natürliches  Wachstum 
abgeben. 


Archiv  f.  ReligionswüMnschaft  XIII  oq 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 

Diese  verschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesei'n  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  be- 
sonders neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke 
und  Nachweise  oder  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den 
verschiedenen  religionsgeschichtlichen  Forschern  hier  u.  E.  entwickeln 
können,  wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung 
widmen  würden.  Sog.  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig  ent- 
halten als  sie  „Berichte"  enthalten  soll. 


Zu  Archiv  XI 158:  Zu  dem  von  Becker  beigebrachten  arabischen 
Schiffszauber  sei  auf  eine  besonders  interessante  bei  Pseudo- 
kallisthenes  I,  1  sich  findende  Parallele  hingewiesen.  Es  heißt 
dort  (vgl.  C.  Müllers  Ausgabe  im  Anhang  zu  Dübners  Arrian -Aus- 
gabe, Paris,  Didot  1846,  vgl.  auch  A.  Ausfeld,  Der  griech.  Alexander- 
roman S.  30  f.),  Nectanebus,  nach  dem  genannten  Roman  der 
Vater  Alexanders,  habe,  wenn  die  Feinde  gegen  ihn  heranzogen, 
kein  Heer  ausgerüstet,  sondern  die  sogenannte  Schüsselzauberei 
begonnen.  Er  habe  Quellwasser  in  die  Schüssel  getan  und  mit 
den  Händen  kleine  Schiffe  und  Menschen  aus  Wachs  gebildet,  diese 
in  die  Schüssel  gesetzt,  das  Kleid  eines  Propheten  angelegt,  dann 
einen  Stab  von  Ebenholz  in  der  Hand  die  Götter  der  Zauberei, 
die  Winde  und  die  unterirdischen  Mächte  angerufen  und  die  mit 
ihrer  Hilfe  belebten  Wachsfiguren  samt  den  Wachsschiffen  versenkt, 
während  gleichzeitig  auch  die  wirklichen  Schifie  zugrunde  gingen. 
Erst  als  er  einst  die  Götter  der  Ägypter  selbst  die  Schifie  der 
Barbaren  steuern  sah,  habe  er  erkannt,  daß  der  Untergang  Ägyptens 
herbeigekommen  sei  und  sei  aus  dem  Lande  geflohen.  Hier  haben 
wir  zugleich  den  Archiv  a.  a.  0.  145  ft'.  erwähnten  bei  der  Geißelung 
des  Hellesponts  benutzten  Zauberstab.  So  die  Rezensionen  ABCL. 
Von  den  mir  zugänglichen  Versionen  bieten  ihn  Jul.  V^al.  1  1 
(Kuebler),  Epitome  I  1  (Zacher;  Cittie);  Arm.  I  1  (Raabs);  Aeth. 
(transl.  by  Budge)  p.  4  sq.;  Russ.  ed.  Istrin  p.  5  sq.  (Moskau 
1893);  Kyng  Alisaunder  (bei  Weismann  Lamprecht  II  407  f.).  Ab- 
weichend sind:  Syr.  I  1  (Budge;  Ryssel);  Leo  Archipresbyter  I  1 
(Landgraf);  Meister  Kabiloth  (Herzog).  Der  Zug  fehlt  im  Itiner., 
Firdusi,  Nizami,  Araber  u.  a.  In  der  arabischen  Literatur  würde 
vielleicht  noch  manches  Verwandte  zu  finden  sein. 

Krepp  (Schleswig)  H.  Stocks 


Mitteilungen  und  Hinweise  467 

Zum  Tod  des  großen  Pan 

Eb.  Nestle  hat  in  diesem  Archiv  Band  XII  S.  158  die  Frage 
nach  der  apologetischen  Verwertung  der  antiken  Legende  vom  Tod 
des  großen  Pan  gestellt;  im  folgenden  seien  die  Beispiele  angeführt, 
die  mir  bekannt  wurden. 

1.  Eine  ausdrückliehe  Beziehung  der  antiken  Legende  auf  den 
Tod  Christi  findet  sich  im  16.  Jahrhundert  bei  Guillaume  Bigot; 
sein  Werk:  Chrisüanae  Fhilosophiae  Praehtdium,  GitUelmo  Bigotio 
Lavalensi  autore,  Tolosae  1549  ist  mir  zurzeit  nicht  zugänglich,  doch 
findet  sich  dort  S.  440  —  442  die  antike  Erzählung  „avec  l'appli- 
cation  de  ce  recit  a  la  mort  du  Christ",  wie  A(bel)  L(efranc)  in 
der   Bevue  des   etudes  Bahelaisiennes  IV  (1906)  S.  lOOf  bemerkt. 

2.  Drei  Jahre  später  wird  sie  im  gleichen  Sinne  bei  Rabelais 
verwertet,  der  mit  Bigot  bekannt  war  (vgl.  A.  L.  a.  a.  0  );  auf  dessen 
Pantagruel  (IV  28)  hat  S.  Reinach  aufmerksam  gemacht  in  dem  von 
Sevmour  de  Ricci  (Arch  XI  f,  579)  angezeigten  Aufsatze.  Wir  lesen  bei 
Rabelais  (ed.  Burgaud  des  Marets  et  Rathery  II  S.  163,  Paris  1873): 

„Toutesfois  je  le  interpreterois  de  celuy  grand  Servateur  des 
fideles,  qui  fut  en  Judee  ignominieusement  occis  par  l'envie 
et  iniquite  des  Pontifes.  docteurs,  prebstres  et  moines  de  la 
loy  Mosaicque.  Et  ne  me  semble  Tinte rpretation  abhorrente. 
Car  a  bon  droit  peut  il  estre  en  langage  gregois  dit  Pan. 
Veu  qu'il  est  le  nostre  Tout,  tout  ce  que  sommes,  tout  ce 
que  vivons,  tout  ce  que  avons,  tout  ce  que  esperons  est  luy, 
en  luy,  de  luy,  par  luy.  C'est  le  bon  Pan  le  grand  pasteur 
qui,  comme  atteste  le  bergier  passione  Corydon,  non  seulement 
a  en  amour  et  affection  ses  brebis,  mais  aussi  ses  bergiers. 
A  la  mort  duquel  fures  plaincts,  souspirs,  eöroiz,  et  lamen- 
tations  en  toute  la  machine  de  1' Univers,  eieulx,  terre,  mer, 
enfers.  A  ceste  mienne  Interpretation  compete  le  temps. 
Car  cestuy  tres  bon,  tres  grand  Pan,  nostre  unique  Servateur, 
mourut    lez   Hierusalem,    regnant    en   Rome    Tibere    Caesar." 

3.  Die  nächste  Erwähnung  steht  bei  Xoel  du  Fail  in  den 
1585  erschienenen  „Contes  et  discours  d'Eutrapel".  Diese  Stelle, 
von  G.  Regis  in  seinem  Rabelaiskommentar  II  S.  653  (Leipzig  1839) 
angeführt,  lautet  {Oeuvres  facetieuses  de  Noel  du  Fail  i  ar  S.  Assezat 
I[  S.  339  f.  Paris  1874): 

„Thamons  cria  .  .  .  que  le  grand  Pan  estoit  mort.  Apres 
quoy  furent  ouis  une  infinite  de  voix  et  pleurs  lamentables, 
et  n'eust  Thamons  si  tost  prins  terra,  que  l'Empereur  Tybere, 
sous  le  regne  duquel  fut  crucifie  Jesus  Christ,  ja  prevenu 
de  ladite  nouvelle,  ne  l'envoiast  querir,  pour  luy  en  dire 
plus  amplement.  Par  ce  mot  Pan,  les  anciens  entendirent 
non   seulement    le   Dieu    des   pasteurs,   mais   aussi    celuy   de 

30* 


468  Mitteilungen  und  Hinweise 

toutes  choses:  düquel  titre  de  Pasteur  nostre  Seigneur  a  use 
en  plusieurs  endroits,  nommement  en  Sainct  Jean,  chapitre 
dixiesme,  oü  il  se  dit  vray  pasteur,  qu'il  cognoist  ses  brebis, 
et  qu'enfin  n'y  aura  qu'une  bergerie,  et  un  seul  pasteur 
Sainct  Paul  aussi  souhaite  que  le  Dieu  de  paix,  qui  a  ramene 
des  morts  le  grand  pasteur  des  brebis,  qui  est  Jesus 
Christ:  par  le  sang  du  testament  eternel,  conferme  en  toute 
bonne  oeuvre,  les  Hebrieux,  ausquels  il  escrit  et  entant  que 
touche  le  tremblement  de  terra  lors  de  sa  mort,  semblablement 
de  l'Eclipse  du  Soleil,  et  le  jour  converti  en  la  nuict,  tous 
les  Astrologues,  mesmes  les  Ethniques  et  Paiens,  ont  declare 
tels  accidens  avoir  este  irreguliers,  et  hors  le  cours  et  mou- 
vement  de  la  commune  natura.  Phlegon,  comme  disent  Eusebe 
et  Origene,  a  escrit  que  la  plus  grande  et  terrible  Eclipse 
de  Soleil  qui  ait  jamais  este,  ni  qui  pourroit  estre  veue  au 
monde,  survint  l'an  quatriesme  de  la  deux  cens  deuxiesme 
Olympiade.  A  laquelle  supputation  et  calcul  d'annees  revient 
droitement  le  temps  de  la  mort  du  Redampteur  du  monde"  etc. 

4.  Als  weiteres  Zeugnis  bringt  Regis  a.a.O.  eine  alte  Glosse 
zu  Spenser,  Shepheards  Calender  bei;  in  der  Ausgabe  von  1611 
wird  zu  aeglogue  V  (Maye)  Vers  54  (when  great  Fan  account  of 
shepeherdes  shall  aske)  folgendes  bemerkt: 

„Great  Pan,    is    Christ,    the    very    God    of   all    shepheards, 
which  calleth  himselfe   the  great  and  good  shepheard.     The 
name  ist  most  rightly  (me  thinks)  applyed  to  him;  for  Pan 
signifieth  all,  er  omnipotent,  which  is  onely  the  Lord  Jesus. 
And  by  that  name  (as  I  remember)  he  is  called  of  Eusebius, 
in  his  fift  booke  De  praeparat.  Evangel.  who  thereof  tetteth  , 
a  proper  story  to  that  purpose.   Which  storie  is  first  recorded  ; 
of  Plutarch,   in   his  booke   of  the   ceasing   of  miracles:    and  j 
of  Lavatere   translated  in  his  booke  of  Walking  spirits,  who  | 
sayth,  that  about  the  same  time  that  our  Lord  sufFered  his  most  j, 
bitter  passion,  for  the  redemption  of  man  .  .  .  (jetzt  folgt  die  l 
Wiedergabe  der  plutarchischen  Erzählung;  dann  heißt  es  weitoi 
By  which  Pan,  though  of  some  bee  understood  the  great  B;i 
hanas  .  .  .  yet  I  thinke  it  more  properly  meant  of  the  death 
Christ,  the  onely  and  very  Pan,  then  suffering  for  his  flockt 

5.  In    dem   genannten  Aufsatz   verweist  Reinach   auf  die  V< 
merkungen  des  Abbe  Anselme  (3Iemoircs  de  Uüerahirc  tires  ih- 
registres    de    VAcademie    royalc    des    inscripfions    et    helles    lc(ir>-^ 
IV  1723  S.  564f.),   der  jene   Gleichsetzung  berührt  und   ziemli 
deutlich  abweist  (S.  565): 

„Ca  n'est   pas  icy  le  lieu  d'examiner,   si  ce  dieu  Pan  estoii 
comme  on  l'a  cru,  Jesus-Christ  mesme;  comme   si   ce  divi 


Mitteilungen  und  Hinweise  469 

Sauveur  eut  eu  besoin  d'emprunter  le  nom  d'un  de  ses  ennemis. 
Ou  si  le  demon  fut  contraint  de  confesser  luy-mesme  sa 
defaite  entiere  par  la  croix." 

6.  Zum  Schluß  noch  eine  Berichtigung.  Jene  Bemerkung,  die 
Archiv  XII,  158  als  Beispiel  für  den  apologetischen  Gebrauch  der 
antiken  Legende  im  Anschluß  an  Scherasmins  Anspielung  im  Oberon 
zitiert  ist,  rührt  nicht  von  W.  Bölsche  her,  sondern  von  Wieland 
selbst.  Sie  steht  in  dem  ,, Glossarium  über  die  im  Oberon  vor- 
kommenden veralteten  oder  fremden,  auch  neu  gewagten  Wörter, 
Wort -Formen  und  Redens -Arten"  (vgl.  C.  M.  Wielands  sämtliche 
Werke,  drey  und  zwanzigster  Band,  Carlsruhe,  im  Bureau  der  deutschen 
Classiker,  1815,  S.  202).  Vennutlich  ist  Wielauden  „der  bekannte 
Gebrauch,  welcher  von  dieser  Erzählung  gemacht  wurde",  aus  einer  der 
oben  angeführten  französischen  Stellen  vertraut,  wohl  aus  Rabelais. 
Nachträge.  7.  Älter  als  die  oben  angeführten  Beispiele  ist 
ein  Zeugnis  bei  Pedro  Mexia  Silva  di  varia  leccion.  Dieses  Sammel- 
werk in  der  Art  der  Noctes  Atticae  des  Gellius  war  eines  der  be- 
liebtesten und  auch  außerhalb  Spaniens  gelesensten  Bücher  (vgl.  Ph. 
A.  Becker  Gesch.  d.  span.  Literatur  1904  S,  44).  Die  erste  spanische 
Ausgabe  erschien  1542,  ich  benutzte  die  vierte  von  1564;  an 
Übersetzungen  kenne  ich  eine  italienische,  Venedig  1550;  die  erste 
französische  vom  Jahre  1572  war  mir  nicht  zugänglich,  nur  die 
in  Tournon  1609  und  1616  ausgegebenen.  Noel  du  Fail  (oben 
unter  3)  nennt  Pierre  Messie  Esi>agnole  neben  Eusebe  als  Gewährs- 
mann, er  kannte  also  vermutlich  die  französische  Übersetzung  von 
1572.  Ich  gebe  die  uns  hier  wichtige  Stelle  (span.  Ausg.  v.  1564 
libro  II  cap.  XXXIII  S.  175)  in  der  deutschen  Übersetzung,  welche 
in  Nürnberg  1668  unter  folgendem  Titel  erschien:  SyJva  variarum 
Ledionum.  Das  ist:  Historischer  Geschieht-  Natur-  und  Wunder- 
tcalt etc.  ins  Teutsche  übersetzet  durch  J(ohann)  A(ndreas)  M(atthen). 
Da  wird  Buch  II  Kap.  31  nach  Plutarch  und  Euseb  der  Tod  des 
großen  Pan  erzählt  und  folgendes  bemerkt: 

„Woraus  dann  erscheinet,  daß  die  bösen  Geister  aller  Orten 
sich  beklaget,  daß  die  Geburt  Christi,  unsers  Erlösers,  ihre 
Zerstörung  und  Untergang  gewesen  sei,  und  so  man  die 
Zeiten  gegeneinander  hält,  siebet  man,  daß  diese  Dinge  sich 
zugetragen  haben,  zu  der  Zeit  da  Christus  für  uns  gelitten, 
oder  kurtz  zuvor,  da  er  an  vielen  Orten,  und  aus  vielen 
Besessenen  die  bösen  Geister  ausgetrieben,  und  aus  der  Welt 
verjaget  hat.  Muß  also  dieser  Pan  (welchen  die  Hejden, 
theils  für  ein  GOtt  der  Natur,  theils  für  einen  GOtt  des  Feldbaus 
und  der  Hirten  geehret)  davon  sie  sagten,  daß  er  gestorben  sey, 
einer  der  vornehmsten  Teufel  gewesen  seyn,  der  dann  auch 
damals  sein  Reich  und  Gewalt,  gleich  andern  verloren  hatte." 


470  Mitteilungen  und  Hinweise 

Da  die  Bemerkung  des  Abbe  Anselme  (oben  unter  5)  in  einem 
Aufsatz  Sur  le  Dieu  inconnu  des  Atlieniens  steht  und  da  Pedro 
Mexia  im  gleichen  Kapitel  wie  über  Pan  auch  ausführlich  vom 
unbekannten  Gott  in  Athen  redet,  glaube  ich,  daß  Abbe  Anselme 
ebenfalls  diese  vielgelesene  Silva  kannte. 

8.  1586  unterzeichnete  Fischart  das  Vorwort  zu  seiner  Über- 
setzung von  Bodins  Daemonomania,  die  in  Straßburg  1591  unter 
dem  Titel  erschien:  De  Magorum  Daemonomania,  Vom  Aussgelasnen 
ivütigen  Teuffelsheer  .  .  .  durch  .  .  .  H.  Johann  Fischart,  der  Rechten 
Dr.  auss  Frantzösischer  sprach  treidich  in  Teufsche  gebracht  und 
nun  zum  andernmahl  an  vilen  enden  vermehrt  und  ericlärt.  Bodin 
erzählt  da  S.  4  den  Tod  des  großen  Pan  nach  Plutarch  (S.  47 
nennt  er  noch  den  Euseb  dazu)  ohne  die  Beziehung  auf  Christus. 
Die  fügt  Fischart  in  einer  erläuternden  Randbemerkung  hinzu: 

„Die  Geschichte  begab  sich  zur  zeit  des  Sterbens  Christi, 
darumb  deuten  den  Pan  viel  auff  Christum  welcher  der  ander 
Adam  genant  wird." 

9.  In  dem  Sammelwerk:  Magica,  dasz  ist:  Wunderbarliche 
Historien  von  Gespenstern  und  mancherley  Erscheinungen  der  Geister 
.  .  .  aus  bewerten  und  glaubwürdigen  Historicis  und  andern  Scribenten 
mit  besonderem  vleisz  in  lateinischer  Sprache  zusammengetragen,  itzo 
aber  .  .  .  in  die  teutsche  Sprache  treiolich  gebracht  (Eissleben  ohne 
Jahr,  die  Vorrede  ist  gezeichnet  von  Henning  Gross  und  datiert 
vom  1.  Oktober  1600)  wird  S.  63  die  Plutarcherzählung  wieder- 
gegeben und  hinzugefügt: 

„Daraus  denn  des  Satans  list  und  betrug  zu  erkennen  vnnd 
abzunemen,  welcher  des  HErrn  Christi  Leiden  vnd  Todt  durch 
eine   solche  Lügen   vnnd   gedieht  hat  gedacht  verächtlich  zu 
machen,  vn  in  zweiffei  zu  ziehen.     Oder  durch  solch  Lügen- 
gedicht vom  Tode  des  Paus  die  Leute  zu  bereden  die  Seelen 
der  Menschen  stürben  zugleich  mit  dem  Leibe." 
9  a.  Diese  Sätze  kehren  wieder  in  des  Remigii  Daemonolatria  I  2: 
Wunder -seltzame  Historien,   Hamburg   1693,  S.  107 f.      Der  ganze 
Teil  ist  eine  Kompilation   aus  Büchern   über  Hexenwahn,    so  wird 
also    diese    Erwähnung    der    antiken    Legende    auf   den    Großschea 
Magica  beruhen. 

10.  Aus  dem  Nachlaß  des  1602  verstorbenen  gelehrten  Antiquars 
Jean  Jacques  Boissard  wurde  1615  in  Oppenheim  gedruckt  sein 
Buch  De  Divinatione  et  magicis  pracstigiis.  S.  36,  nach  der  Wieder- 
gabe der  Piutarchstelle,  wird  die  Beziehung  auf  Christus  al? 
Meinung  'einiger'  angeführt '»Quidam  existimant  vocem  illam  locutam 
fuisse  de  Christi  Servatoris  morte:  cum  audita  sit  anno  decimo 
nono  Imperii  Caosaris,  quo  Christus  crucifixus  est.  Wie  Christus 
Herr  der  ganzen  Natur  ist,  galt  auch  Pan  als  Deus  universi.     So 


Mitteilungen  und  Hinweise  471 

billigt  denn  auch  Boissard  jene  Meinung:  Xeque  male  suspicantur 
multi  vocem  illam  (sive  fuerit  Angeli  boni,  sive  Demonis  alicuius), 
per  Pana  magnum  intellexisse  lesum  Christum,  qui  sub  Tiberio 
passus  est.  Xam  et  Daemones  saepius  vera  solent  proloqui,  verbis 
tarnen  ambiguis,   ut  homines    magis  ac  magis  in  errores   inducant 

11.  Auf  Grund  der  Zeitumstände  schenkt  femer  Pierre  du 
Moulin,  Petrus  Molinaeus  (1568 — 1658),  der  Erzählung  Glauben. 
Estque  veri  simile  eiulationes  Daemonum  inde  ortas,  qiiod  scirent 
morte  Christi  Satanae  regnum  concidisse.  Est  enim  Pan  vox 
aptissima  ad  significandum  Dominum  universi  qui  est  Omnia  in 
Omnibus,  ut  ait  Paulus  I  Cor.  15,  28.^ 

12.  Die  gleichen  Argumente  führt  Joachim  Oudaans  in 
seinem  Buch  Boomsche  Mogentheid,  Amsterdam  1664,  S.  176 f.,  an: 
de  Heere  Christus,  op  de  zelve  tij^rastorven ,  en  niet  oneygentlijk 
onder  't  woord  Pan,  dat  is,  Al^Äteedrukt  etc.  Volkaart,  der 
diese  Meinung  ausspricht  (das  Buch  ist  in  Dialogform  geschrieben), 
glaubt,  „de  Duyvel"  habe  jene  Verkundig^g  gegeben;  sein  Partner 
Redegund  stimmt  ihm  bei:  't  is  ook  ten  hoogste  waarschijnlijk. 

13.  Als  vielbehandelt  und  vielgekannt  setzt  einer  der  be- 
rühmtesten Gelehrten  seiner  Zeit,  der  französische  Bischof  Huet 
(Petrus  Daniel  Huetius),  die  Legende  voraus.  In  der  DemonstraUo 
evangeUca  prop.  IX  (Amsterdam  1680,  tom.  II,  S.  931;  schon  1679 
war  eine  mir  unzugängliche  Folioausgabe  erschienen)  spricht  er 
darüber:  Ethnicis  vero  stupendo  miraculo  Christi  lesu  significata 
mors  est,  quod  in  libello  De  desitis  oraculis  Plutarchus  refert. 
Id  quamquam  a  vulgo  scriptonim  tritum  est,  minime  tamen  ob 
admirabilitatem  rei  pigebit  hie  adscribere.  (Folgt  die  Erzählung.) 
Atque  id  convenit  in  tempus  mortis  Christi  lesu,  qui  verus  Pan 
est,  rerum  omnium  parens,  ac  naturae  totius  auctor,  quam  Panos 
symbolo  Mythologi  signatam  voluerunt, 

14.  Auf  Grund  umfassender  Belesenheit  in  antiker  und  zeit- 
genössischer gelehrter  Literatur  unternahm  es  ein  holländischer 
Arzt  und  Mennonitenprediger,  Antonius  van  Dale,  nachzuweisen, 
daß  die  Orakel  der  Alten  weniger  auf  Teufelslist  denn  auf  Priester- 
trug beruhten.  Die  Dissetiationes  duae  de  Oraculis  Veterum  Ethni- 
conim  (zuerst  1683;  dann  1700  in  Amsterdam  erschienen,  holländisch 
1687)  können,  wie  auch  van  Dales  "Werk  De  origine  ac  pro- 
gressti  idolatriae  et  supersfitionum  1696,  auch  heute  noch  als 
fleißige  Materialsammlungen  Dienste  leisten.  Und  mehr  noch:  van 
Dale  gibt  nicht  nur  Material,  sondern  auch  gesunde  Kritik.  In 
der  Dissertatio  secunda  (de  oraculorum  ethnicorum  duratione  atque 

'  Die  Stelle  zitiert  der  gleich  zu  nennende  van  Dale  aus  des 
Molinaeus  „Vates  üb.  3  cap.  11"  (mir  unzugänglich). 


472  Mitteilungen  tind  Hinweise 

interitu,  S.  432 ff.  der  Ausgabe  von  1700)  prüft  er  unsere  Legende: 
argumenta  ab  Eusebio  ex  Plutarcho  allata  de  magno  Pane  mortuo 
examinantur.  Er  kennt  die  Ansiebten  von  Boissard,  Molinaeus, 
Oudaans  u.  a ,  und  versucht  sie  zu  widerlegen.  Was  für  einen  Sinn 
hatte  es,  fragt  er,  Heiden,  die  nicht  die  geringste  Kenntnis  von 
Jesus  hatten,  seinen  Tod  auf  solch  geheimnisvolle  Weise  zu  ver- 
künden? Diese  Anspielung  konnte  ja  weder  Thämmuz  noch  Epi- 
therses  und  die  Schiffsleute,  weder  Tiberius  noch  seine  Weisen, 
weder  Amilian  noch  Plutarch  verstehen.  Ferner  bemerkt  er 
(S.  437 f.),  es  sei  doch  gänzlich  tinbewiesen,  daß  jenes  Ereignis  sich 
zur  Zeit  der  Passion,  im  19.  Jahre  des  Tiberius,  zugetragen  habe. 
Er  ist  skeptisch  und  führt  mit  Genugtuung  skeptische  Äußerungen 
anderer  Autoren  an,  wie  die  des  Baronius:  Qualiacunque  sint, 
fides  esto  penes  auctorem  etc.;  besonders  gefällt  ihm  eine  Äußerung 
in  den  Centuriatores  Magdeburgenses  I  lib.  2.  cap.  15:  Ubi  (bei 
Eusebius)  et  de  Pane  sub  Tiberio  mortuo  ridicula  narrat. 

15.  Bekannt  wurde  van  Dales  Werk  ganz  besonders  durch 
eine  freie  französische  Bearbeitung,  die  zuerst  anonym  1686  er- 
schien: Histoire  des  Oracles.  1687,  1698,  1701  wurde  sie  neu- 
gedruckt, von  1707  ab  noch  oft  unter  dem  Namen  ihres  Verfassers: 
Eiontenelle.  Inhaltlich  bringt  Fontenelle  wenig  Neues,  aber  was 
er  bietet,  ist  formell  glänzend:  Le  diamant  brut  de  van-Dale  brilla 
beaucoup ,  quand  il  fut  taille  par  Fontenelle.  So  urteilte  Voltaire 
(Dictionnaire  philos.  art.  Oracle,  vgl.  Oeuvres  45,  1779,  S.  349), 
ähnlich  auch  Bayle.  Fontenelles  Buch,  von  dem  Louis  Maigron 
eine  kritische  Ausgabe  veranstaltete,  Paris  1908,  rief  eine  anonyme 
Gegenschrift  hervor,  die  Straßburg  1707  erschien:  Refonse  ä 
Vhisioire  des  Oracles  de  Mr.  de  Fontenelle.  Ihr  Verfasser  war  ein 
Jesuit  namens  Baltus,  dem  ebenfalls  Voltaire  das  Urteil  sprach: 
il  prit  le  parti  du  diable  contre  van-Dale  et  Fontenelle.  Le  diable 
ne  pouvait  choisir  un  avocat  plus  ennuyeux:  son  nom  n'est 
aujourd'hui  connu  que  par  l'honneur  qu'il  eut  d'ecrire  contre  deux 
hommes  celebres  qui  avaient  raison.  Fontenelle  faßt  van  Dales 
Einwände  geschickt  zusammen  (S.  39  ff.  der  Ausgabe  von  Maigron, 
wo  Parallelen  aus  van  Dale  und  Baltus  angeführt  sind),  erkläi't 
die  Geschichte  für  durchaus  unglaubwürdig  (S.  38  f.)  und  spöttelt 
etwas  über  die  verschiedenen  Deutungen  (S.  16):  Ce  grand  Pan 
qui  meurt  sous  Tibere,  aussi  bien  que  Jesus -Christ,  est  le  Maistre 
des  Demons,  dont  l'Empire  est  ruine  par  cette  mort  d'un  Dieu  si 
salutaire  a  TUnivers;  ou  si  cette  explication  ne  vous  piaist  pas, 
car  enfm  on  peut  sans  impiete  donner  des  sens  contraires  a  une 
mesme  chose,  quoy  qu'elle  regarde  la  Religion;  ce  grand  Pan  est 
Jesus -Christ  luy- mesme,  dont  la  mort  cause  une  douleur  et  une 
consternation    generale   parmy   les   Demons,    qui   ne   peuvent  plus 


Mitteilungen  und  Hinweise  473 

exercer  leur  tirannie  sur  les  hommes.  C'est  ainsi  qu'on  a  trouve 
moyen  de  donner  a  ce  grand  Pan  deux  faces  bien  differentes. 

16.  Wenn  ich  hinzufüge,  daß  Gottsched  eine  vielgelesene 
Übersetzung  von  Fontenelles  „heidnischen  Orakeln"  veranstaltete*, 
dann  kommen  wir  wieder  in  die  Nähe  der  schon  früher  angeführten  Bei- 
spiele, besonders  der  Wielandschen  Bemerkung.  Ob  nicht  Welcker 
manche  von  diesen  Äußerungen  kannte,  als  er  über  die  Bedeutung 
des  „sinnschweren  Wortes"  nachdachte?^  Auch  er  vergleicht  den 
Pantheismus  der  Gebildeten  tiberianischer  Zeit  mit  der  „begeisterten 
Vorstellung  des  Apostels,  wenn  er  Gott  den  Allgegenwärtigen 
nennt,  aus  und  in  welchem  die  Welt  ist"  —  allerdings  mehr, 
um  zu  betonen,  welcher  Abstand  die  beiden  Glaubensrichtungen 
trennte  — ,  aber  er  meint  doch,  daß  um  diese  Zeit  ebensogut  ein 
Christ  wie  ein  tief  erblicken  der  Heide  das  Wort  sprechen  konnte: 
Der  große  Pan  ist  tot. 

Heidelberg.  Otto  Weinreich 

Panl  de  Lagarde  und  die  Abfassnngszeit  des  Daniel 

In  seinem  Bericht  über  die  neueren  Erscheinungen  auf  dem 
Gebiet  der  „  alten  semitischen  Religion  im  allgemeinen ,  israelitischen 
und  jüdischen  Religion"  (Archiv  XII  S.  555  ff.)  hat  Schwally 
bei  Erwähnung  meiner  Schrift:  „Der  Daniel  der  Romerzeit"  (S. 
567)  geschrieben:  „(Hertlein)  verficht  in  Anlehnung  an  eine  hin- 
geworfene Bemerkung  l'aul  de  Lagard  es  die  These,  daß  Daniel 
I — Yll  in  die  römische  Zeit  gehört**  usf.  Diese  Behauptung  be- 
darf der  Richtigstellung.  De  Lagarde  hat  im  Jahr  1891  in  den 
„Göttinger  Gelehrten  Anzeigen"  die  Ansicht  ausgeführt,  daß  das 
siebente  Kapitel  des  Daniel  der  römischen  Kaiserzeit  angehören 
und  seine  Abfassungszeit  des  näheren  das  Jahr  69  n.  Chr.  sein 
müsse.  Wenn  er  dies  auch  nur  gelegentlich,  nämlich  in  einer 
Rezension  über  E.  Havet,  Etudes  d'histoire  religieuse  usf.  getan 
hat,  so  hat  er  doch  dem  fraglichen  Gegenstand  die  Seiten  508  bis 
520   a.  a.  0    vollständig   gewidmet      Eine  Abhandlung   von   12 

'  Zuerst  Leipzig  1730,  5.  Aufl.  1759;  mir  liegt  ein  Neudruck  von 
1771  vor;  ich  verweise  auf  diese  Übersetzung,  weil  sie  in  den  An- 
merkungen wertvolle  Parallelen  aus  christlichem  Wunderglauben  dar- 
bietet. 

*  Götterlehre  II  670;  die  bei  ihm  angeführte  Schrift  von  Wagner 
Historia  de  morte  inagni  Panis  suh  examen  revocata  in  den  Miscellanea 
Lipsiensia  IV  143 — 163  ist  mir  unzugänglich,  ebenso  J.  Nymann  De 
magno  Pane  Plutarchi,  Upsala  1734.  Beide  Schriften  konnte  auch 
Roseher  {Jahrb.  f.  Phüol.  1892,  S.  466)  nicht  benutzen.  —  Die  nicht  ganz 
strenge  Ordnung  meiner  Belege  erklärt  sich  daraus,  daß  ich  Stellen,  die 
ich  während  des  Druckes  fand,  am  Schluß  nachgetragen  habe,  zuerst 
7—9,  dann  10—16. 


474  Mitteilungen  und  Hinweise 

inhaltschweren  Seiten,  dazu  in  der  von  de  Lagarde  benutzten 
Zeitschrift,  kann  man  nicht,  wie  Schwally  tut,  eine  „hin- 
geworfene Bemerkung"  nennen.  Über  Umfang  und  Bedeutung 
des  Nachweises,  den  de  Lagarde  für  seine  und  meine  These  ge- 
bracht hat,  habe  ich  übrigens  auf  S.  6  —  8  meiner  Schrift  genügend, 
wenn  auch  kurz  berichtet,  so  daß  für  den  Leser  meines  Buches, 
über  das  Schwally  Mitteilungen  macht,  kein  Zweifel  über  den 
Anteil  de  Lagardes  an  der  Begründung  sein  kann,  vollends  nicht 
für  einen  solchen,  der  sich  durch  meine  Hinweise  dazu  bewegen 
läßt,  de  Lagardes  Abhandlung  endlich  selber  in  die  Hand  zu  neh- 
men und  sie  einer  genaueren  Beachtung  zu  würdigen,  als  der 
Meister  der  „Zunft"  (a.  a.  0.  S.  501)  zutraute. 

Jena E.  Hertlein 

Zu  Archiv  XII  234flf.:  Die  Abhandlung  des  allzufrüh  ab- 
berufenen Völlers  über  Chidher  legt  uns  ein  reiches  Material  vor 
und  beurteilt  es  sehr  verständig.  Namentlich  weist  sie  nach,  daß 
Chidher,  wie  wir  ihn  kennen,  ein  erst  in  islamischer  Zeit  aus 
ganz  verschiedenen  Ursprüngen  zustande  gekommenes  und  dabei 
schwankendes  Gebilde  ist  Unsicher  bleibt  besonders,  ob  der  un- 
genannte Diener  Gottes,  der  Moses  zur  Erkenntnis  bringt,  wie 
unzulänglich  die  menschliche  Beurteilung:  göttlicher  Anordnungen 
ist,  Sura  18,  64  —  81,  von  Haus  aus  und  in  Muharameds  Sinn 
irgend  etwas  mit  Chidher  zu  tun  habe.  Mir  ist  das  sogar  recht 
unwahrscheinlich.^  Diese  Identifizierung  ist  allerdings,  wie  eben 
Völlers  zeigt,  schon  früh  bei  den  Muslimen  aufgekommen,  als  man 
sich  überhaupt  eifrig  bemühte,  koranische  und  andere  mit  der 
Religion  zusammenhängende  Berichte  durch  jüdische,  christliche 
und  sonstige  Überlieferung,  durch  kühne  Vermutungen  und  dreiste 
Erfindungen  zu  ergänzen.  Bei  dem  mythischen  Chidher  ist  die  Un- 
sterblichkeit oder  doch  das  stete  Wiederaufleben  wesentlich,  und 
er  steht  —  ursprünglich  oder  nicht  —  zu  dem  Lebenswasser  in 
Beziehung.  Auf  dies  Lebenswasser  wird  aber  in  der  Geschichte 
deutlich  hingewiesen,  die  im  Koran  unserer  Erzählung  unmittelbar 
vorhergeht,  wenn  sie  auch  nur  dadurch  mit  ihr  zusammenhängt, 
daß  beide  Moses  betreffen.  Für  die  alten  Erklärer  konnte  das 
aber  genügen,  Chidher  direkt  mit  Moses  in  Verbindung  zu  bringen. 

Nicht  zu  bezweifeln  ist  m.  E.,  daß  Chadir  (die  wahre  arabische 
Form  des  Namens)  das  frische  „Grün"  der  Vegetation  darstellt. 
Das  Adjektiv  chadir,  womit   die   rätselhafte    Person   benannt   ist, 

'  Schon  Abr.  Geiger  sagt  in  seiner  Erstlingsschrift:  „Was  hat  Ma- 
bomet  usw."  S.  70,  daß  die  Geschichte  den  Eindruck  mache,  jüdischen 
Ursprungs  zu  sein.  Aber  ein  jüdisches  Vorbild  für  sie  scheint  man  noch 
nicht  aufgefunden  zu  haben.  [Red.  Note:  Dieser  Hinweis  und  Friedländera 
Ausführungen  oben  S,  221  flF.  sind  von  einander  unabhängig] 


Mitteilungen  und  Hinweise  475 

bezeichnet,  soweit  ich  sehe,  ausschließlich  das  Grün  der  Kräuter 
oder  auch  größerer  Pflanzen,  dazu,  wie  es  scheint,  ein  besonderes 
kleines  Gewächs  und  wird  übertragen  auch  wohl  in  der  Bedeutung: 
„frisch,  lebenskräftig"  gebraucht.^  Ob  nun  die  Figur  des  Chadir 
in  ihrer  ürsprünglichkeit  nicht  doch  eine  echt  arabische  Personi- 
fikation des  nach  dem  Regen  auf  dem  dürren  Lande  sofort  hervor- 
schießenden Grüns  ist,  das  dem  Nutztiere  reiche  Nahrung  leiht, 
oder  ob  sie  notwendig  die  Nachbildung  eines  babylonischen 
mythischen  Wesens  ist,  das  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 

S.  261  führte  Völlers  (aus  Ihn  Hagar  1,  894f.)  die  Geschichte 
vor,  wie  sich  Chidher  aus  Mildtätigkeit  selbst  verkauft  und  seinem 
Käufer  dann  mit  Wunderkraft  ein  Gebäude  errichtet.  Das  leite 
ich  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  aus  den,  ihren  gnostischen  Ur- 
sprung noch  deutlich  aufweisenden,  Thomasakten  ab.  Da  heißt  es 
im  syrischen  Urtext^  wie  in  der  griechischen  Übertragung^,  daß 
sich  Thomas  von  Christus  völlig  als  Sklaven  verkaufen  läßt  und 
seinem  Herrn,  dem  er  als  Bau  verständiger  vorgestellt  wird,  ein 
prächtiges  Schloß  errichten  soll,  in  Wirklichkeit  ihm  aber  durch 
Werke  der  Barmherzigkeit  einen  Palast  im  Himmel  errichtet.  Dieser 
letzte  Zug,  auf  den  es  freilich  dem  Erzähler  allein  ankommt,  ist 
bei  der  jedenfalls  durch  mündliche  Überlieferung  geschehenen  Über- 
tragung auf  Chidher  übersehen  oder  mißverstanden  worden.  Eine 
liehe  Vergröberung  kann  nicht  wundernehmen.  Man  sehe  nur, 
was  im  Koran  aus  der  Einsetzung  des  Abendmahls  geworden  ist, 
Süra  5,  112  —  115! 

Straßburg  i.  E. Th.  Nöldeke 

Akrostichische  Inschrift  aus  Sinope.  Im  American  Jour- 
nal of  Archaeology  IX  (l905)  323  publiziert  David  M.  Robinson  die 
folgende  wohl  der  Kaiserzeit  angehörige  Inschrift,  die  in  den  Nord- 
wall der  Burg  von   Sinope  verbaut  war: 

oeMic 

HAIOC 
CeAHNH 
ePMHC 
YAPHXOOC 

ceipioc 

*  Arabisten  verweise  ich  auf  Süra  6,  99;  Tarafa  5,  25  (Seligsohn 
•2,  2.5,  S..Ö3):  Lisän  5,  326  ff,  speziell  da  326  ult.  329  paen.  330,  3.  331 
unten.     Über  unsern  Chadir  allerlei  332. 

*  Wright's  Apocryphal  Acts  of  the  Apostels  S.  173  (vgl.  Übersetzung 

'  Bonnets  Ausg.  Kap.  2.  Daß  die  Thomasakten  ursprünglich  syrisch 
geschrieben  sind,  der  griecbische  Text  eine  Übersetzung  ist,  steht  fest. 
Vgl  Burkitt  in  Journ.  of  the  Theolog.  Stiidies  1,  280  ff. 


476  Mitteilungen  und  Hinweise 

Der  Herausgeber,  dessen  mir  nicht  zugängliches  Buch  Ancient  Sinope, 
Baltimore  1906,  nach  einer  freundlichen  Mitteilung  Cumonts  nur  eine 
äußerliche  Zusammenfügung  seiner  älteren  Studien  über  den  Gegen- 
stand ist,  also  auch  diesen  Aufsatz  nur  wiederholt,  macht  dazu  An- 
merkungen über  den  Dienst  des  Helios -Sarapis,  der  Selene  und  des 
Hermes  in  Sinope  und  erschließt  aus  der  Inschrift  weiterhin  einen 
Kult  der  Themis,  des  Hydrachoos  (so!)  und  des  Sirius  ebendort. 
Eine  Widerlegung  bedarf  diese  Art  von  Erklärung  nicht.  Die 
Hauptsache  hat  Eobinson,  so  nahe  sie  liegt,  offenbar  übersehen: 
das  Akrostichon  0HCGYC,  das  den  Namen  dessen  geben  will, 
der  die  Inschrift  machte  oder  (was  von  vornherein  wahrscheinlicher 
ist)  dem  sie  gilt.  Man  wird  zu  allernächst  an  den  Namen  eines 
Verstorbenen  denken,  der  also  auf  die  gleiche  Art  versteckt  wäre  wie 
der  Name  der  Flavia  in  Kaibels  epigr.  726  oder  der  des  Alexandros 
ebd.  226  (in  der  letzteren  Inschrift,  gefunden  bei  Teos  =  CIGII3123 
wird  der  Wanderer  geradezu  aufgefordert,  den  im  Akrostichon  ver- 
borgenen Namen  des  Toten  zu  suchen).  Das  Akrostichon  Theseus 
wird  gebildet  durch  das  Wort  0ifiig  und  durch  die  Namen  von 
Sonne  und  Mond  und  den  des  Planeten  Merkur,  durch  den  Namen 
eines  Tierkreisbildes,  des  Wassermannes,  und  eines  hellen,  viel- 
mehr des  hellsten  Fixsternes  außerhalb  des  Tierkreises  (also  eines 
itaQuvarslkcov  aörrjo),  nämlich  des  Sirius  oder  Hundssternes.  Das 
sagt  ohne  weiteres,  in  welche  geistige  Region  die  Inschrift  führt: 
so  gut  sich  viele  ihr  Horoskop  ins  Grab  legen  ließen  (s.  das 
Verzeichnis  der  bisher  bekannten  im  Arch.  f.  Papyrusforsch.  I  2.S), 
so  gut  ist  es  denkbar,  daß  einer  sich  etwas  Ähnliches  auch 
auf  den  Grabstein  meißeln  ließ.  Allein  es  ist  zu  beachten,  daß 
Reihenfolge  und  Auswahl  der  Gestirne  hier  durch  den  Namen 
Theseus  von  vornherein  bestimmt  waren;  und  zu  einem  Akrostichon 
mit  diesem  Namen  waren  von  sämtlichen  Planeten  und  Tierkreis- 
bildernamen nur  die  hier  vorkommenden  brauchbar,  da  alle  andern 
mit  nicht  verwendbaren  Anfangsbuchstaben  beginnen.  Nur  J^KOQTriog 
hätte  statt  Sstgtog  eintreten  können;  wenn  also  doch  der  letztere 
gewählt  ist,  so  mußte  er  sicherlich  im  Horoskop  des  Theseus  etwas 
Besonderes  bedeutet  haben,  z.  B.  als  der  Stern,  der  gerade  bei  seiner 
Geburt  aufging  oder  auch  kulminierte. 

Ist  nun  die  ganze  Reihe  dieser  Götter  von  Helios  bis  Seirios 
herunter  am  Himmel  zu  suchen,  so  wii-d  auch  &i^ig  dahin  gehören. 
Entweder  ist  das  Wort  &i^ig  gesetzt  statt  JUt]  ==  naQ&ivog 
(beides  paßte  ja  durch  den  Anfangsbuchstaben  nicht  ins  Akro- 
stichon): die  Gleichsctzung  von  Mutter  und  Tochter  wird  niemand 
befremden,  der  sich  an  den  soviel  weitergehenden  astrologischen 
Synkretismus  etwa  im  Gedicht  des  Donatianus  auf  die  Caelestis 
Virgo,   saec.  III  p.  Chr.   (CIL  VII  759  ==  Bücheier  Anthol.  lat.  JI 


Mitteilungen  und  Hinweise  477 

n.  24),  erinnert  (vgl  auch  E.Maaß,  Jahrb.  Archäol  Inst.  XXI  1906, 
S.  104).  Oder  Sifiig  ist  für  ihre  andere  Tochter  oder  die  Tocht«r 
der  Dike,  für  Nitieöig  gesetzt,  die  übrigens  in  späterer  Zeit  auch 
die  Wage  trägt;  NiuaGig  aber  kommt  bei  den  Astrologen  nicht 
selten  als  ein  anderer  Name  des  Planeten  Saturn  vor  (Achilleus 
Isag  c.  17  p  43  Maass:  tov  Kqovov  6  äörriQ  kiyexat  Oaivoav  n^c^' 
"ElXrjöi,  -xaqa  6t.  Aiyviixioig  Nsfiiaetog  a6ri]Q;  ebenso  Yettius  Valens 
2,  22  Kroll;  Rhetorius  Aegyptius  im  Catal.  codd.  astrol.  VII  214,  17; 
Anonymus  ebd.  I  168,  25;  vgl.  auch  Bouche-Leclercq,  L'astrologie 
gr.  94,  2).  Was  vorzuziehen  ist,  ließe  sich  bei  einem  Horoskop 
nicht  entscheiden ;  die  Reihenfolge  der  Gestirne  ist  durch  den  Namen 
Theseus  bestimmt,  ergibt  also  nichts.  Aus  dem  gleichen  Grunde 
aber  würde  folgen,  daß  die  Bedeutung  der  einzelnen  Gestirne  für 
das  Horoskop  des  Theseus  sich  nicht  ermitteln  ließe:  es  war  ihnen 
ja  ihre  Reihenfolge  durch  den  Namen  Theseus  vorgezeichnet,  so  daß 
die  Stellung  der  einzelnen  Planeten  am  Himmel  bei  der  Geburt, 
also  das  Horoskop,  daraus  nicht  zu  ersehen  wäre. 

Aber  ist  es  überhaupt  ein  Horoskop?  Es  wäre  mindestens 
ein  merkwürdiger  Zufall,  wenn  gerade  die  Planeten  und  Stern- 
bilder, deren  Anfangsbuchstaben  0  H  C  6  Y  C  ergeben,  bei  der  Geburt 
dieses  Theseus  die  entscheidende  Rolle  gespielt  hätten;  geradezu 
danach  benannt  hat  man  den  Neugeborenen  wohl  auch  schwerlich. 
So  liegt  eher  eine  etwas  andere  Spekulation  zugrunde:  der  asta-o- 
logische  Aberglaube  läßt  den  Mann  in  seinem  Namen  die  Anfangs- 
buchstaben von  sechs  Gestirnen  finden,  und  daß  er  sich  eben  des- 
wegen in  ihrem  Schutz  fühlt,  das  wird  die  vorliegende  Inschrift 
sagen  wollen;  etwa  wie  die  Milesier  in  der  bekannten  Inschrift  am 
Theater  die  sieben  Erzengel,  die  zwar  keine  Planeten  sind,  aber 
doch  noch  nach  dem  Planetenglauben  vokalisiert  werden,  durch 
Zeichen  darstellen  und  dann  anrufen  (Deißmann,  Licht  aus  dem 
Osten  328 ff.).  Nun  läßt  sich  wohl  auch  entscheiden,  wer  Siuig 
ist:  gewiß  eher  die  Ilao^ivog  als  der  böse  Stern  des  Saturn.  Die 
drei  Planeten  Helios,  Selene,  Hermes,  auf  die  das  HC6  des 
Namens  weiterhin  fährte,  sind  jedenfalls  nicht  unfreundlich;  Hydro- 
choos,  den  das  Y  ergab,  ließ  sich  als  Ganymedes  denken  (s.  den 
Index  meiner  Sphaera  unter  Ganymedes;  besonders  bemerkenswert 
ist  das  direkte  Vorkommen  des  Namens  Ganymedes  in  einem  Horo- 
skop, dem  des  Titos  Pitenios,  Greek  Pap.  Brit.  Mus.  I  136,  coL  6) 
und  verhieß  also  Liebeserfolge  (dadurch  wii-d  nebenbei  wohl  auch 
Pap.  Lond  I  121,  v.  293  zu  erklären  sein:  inr/Mkug  tbv  ^C^Hliovy 
vdQrixöa:  sig  g)t).rQOv).  Und  endlich  für  das  1  tzte  C  in  0HC6YC 
empfahl  sich  natürlich  Zetgiog,  der  stolzeste  Fixstern  des  Himmels, 
viel  mehr  als  der  böse  Skorpion;  auch  ist  för  den  'AazQoxvav 
(=  ZeLQiog)   zumeist   gute  Deutung   bei   den  Astrologen  überliefert 


478  Mitteilungen  und  Hinweise 

(Teukros  in  meiner  Sphaera  p.  45:  6  'Aötqokvcov  q>oßeQOvg  ev  TioXifioig 
7}  ßaödstg  rj  Kai  aQQcaöriag  örjlot).  Ein  Mann,  dem  sein  Name  so 
schöne  Hoffnungen  gab,  konnte  sich  schon  eine  solche  Inschrift 
gönnen.  Man  sieht,  sie  ist  ein  recht  merkwürdiges  Denkmal  nicht 
nur  für  den  astrologischen,  sondern  ebenso  auch  für  den  akro- 
stichischen (Dieterich,  Abraxas  165;  Rh.  Mus.  56,  94f.)  und  für 
den  Namensaberglauben,  der  sich  sonst  in  Spielen  wie  der  W7](pog 
TIv&ayoQOv  und  ähnlichem  gefiel. 

Heidelberg  F.  Boll 

ApoUon  Didymaios  in  Attaleia  in  Pamphylien 

Adolph  Wilhelm  hat  in  seinen  Beiträgen  zur  griechischen 
Inschriftkunde  1909,  196  nr.  169  eine  von  W.  Ramsay  in  Attaleia 
in  Pamphylien  aufgefundene  Inschrift  neu  behandelt  und  in  diesem 
Programm  für  ein  vom  14.  bis  23.  Mai  zu  feierndes  Fest  eine 
TtavTqyvQig  rov  Zt^vcpov  erkennen  wollen,  die  sieh  an  die  Blüte 
des  heilkräftigen  Baumes  Zizyphus  vulgaris  (heute  r^Lx^vq)La) 
peknüpft  habe.  So  scharfsinnig  auch  diese  Vermutung  des  aus- 
gezeichneten Epigraphikers  ist,  trotzdem  scheint  mir  in  der  Tat  seine 
Aufforderung  zur  Aufstellung  einer  besseren  zu  berücksichtigen  zu 
sein,  da  sich  vielleicht  eine  einfachere  Lösung  finden  läßt. 

Die  Inschrift  beginnt  mit  den  Worten: 

"^pj^£[Tat]   1^  navTjyvQtg 
rov  ZIZYOOY  %axa 
xo  Q'HOv  tl^rjipißfia  ano  xrjg 
TtQO  cc'  e16&v  M[a]l(ov  £cog 
5     xrjg  7t^6   i'  Kak.    'lovvicov  %x\. 

Zu  dieser  Lesung  bemerkt  Ramsay:  'This  inscription  was 
exceedingly  hard  to  read,  as  the  letters  are  very  feint  and  badly 
formed.  The  name  of  the  feast  is  therefore  very  doutful,  espe- 
cially  the  0.'  Danach  sind  wir  berechtigt  in  dem  Wort 
ZIZYOOY  den  drittletzten  Buchstaben  zu  ändern:  ich  schlage  vor 
ZIZYMEOY  =  Jidvfiiov  zu  lesen,  indem  ich  noch  ein  E  ein- 
schiebe, sei  es  daß  es  der  Steinmetz  vergessen  hat,  sei  es  daß  es 
heute  verschwunden  ist.  In  diesem  Namen  verbirgt  sich  dann 
natürlich  der  Name  des  Apollon  von  Didyma,  wobei  auf  die  durch 
Cyriakus  überlieferte  Inschrift  aus  Milet  (Bulletin  de  corresp. 
hellen.  I  1877,  288,  65  =  Dittenberger  Sylloge^  424;  dazu 
0.  Jessen  bei  Pauly-Wissowa  V  443)  verwiesen  sei,  die  die  Form 
xov  Jiövfiiov  'Anokkcovog  =  Aiövfiaiov  bezeugt.  Die  Form  Zi^vf-ioi 
statt  Jlövfioi  entspricht  ganz  der  Zt^ifirjvt}  für  ^i(y)Sv^i']vi],  wofür 
Kretschmers  Sammlung  in  seiner  Einleitung  in  die  Geschichte  der 
griechischen    Sprache    196    zu    vergleichen    ist.      Wir    hätten    also 


Mitteilungen  und  Hinweise  479 

diese  Inschrift  zu  den  wenigen  Zeugnissen  zu  stellen,  die  die 
Verehrung  des  Apollon  von  Didyma  auch  außerhalb  Milets  be- 
weisen. Mir  scheint  das  ^eiov  ^ißTiiöfia  Z.  3  auch  gerade  für  ein 
Apollonfest  vortrefflich  zu  stimmen. 

Halle  a.  S.  O.  Kern 

Inschrift  von  Magnesia  am  Maiandros.  Auf  einem  Pfeiler 
im  Süden  der  Agora  ist,  wahrscheinlich  zur  Zeit  Hadrians,  mit  sauberen 
Zügen  die  Inschrift  eingemeißelt:  Tonog  {'■:it}q£t&v  oiy.oö6tia>v  im. 
IlaXXicovog  xov  uQyitQEog  stat  yQUfi^ateog  (Nr.  239).  Auf  der  Rück- 
seite desselben  Pfeilers  stehen  von  der  Hand  eines  Christen  ge- 
schrieben die  "Worte  xasca  tu  exi  xov,  denen  ein  Kreuz  vorangestellt 
ist.  Erst  kürzlich  hat  mir  mein  Freund  Vas.  Leonardos  in  Athen 
den  Sinn  dieses  Zusatzes  erschlossen,  der  uns  in  die  Kämpfe 
zwischen  griechischer  Religion  und  Christentum  führt,  etwa  in  jene 
Zeit,  als  in  unmittelbarer  Nähe  des  Tempels  der  Artemis  Leuko- 
phryene  die  erste  christliche  Kirche  Magnesias  eben  errichtet  war. 
Denn  offenbar  werden  die  Jahre  des  agiUQEvg  y.al  y^ßutxcrrfvg  von 
einem  Christen  verflucht,  wobei  man  sowohl  an  das  antike  nokXa 
tu  i'xi]  (Dittenberger  Orientis  graeci  inscript.  sei.  n.  653;  cf.  p.  /iöS) 
als  auch  an  den  neugriechischen  Gruß  zum  Geburtstage  TtoXXa  xa  hrj 
oder  l'xr,  TtoXXd  (E.  Curtius  Sitzber.  Berl.  Akad.  1887  S.  156) 
erinnert  wird 

Halle  a.  S.  O.  Kern 

Ein  irokesisclies  Märchen 

Mohawk-Erzählung  von  John  Ojijatekha  Brant-Sero 
Die  Irokesen  merken  wohl  auf  die  Tierrufe,  da  in  diesen  das 
orenda  (die  Zauberkraft)  des  Tieres  stecke.  In  dieser  Meinung 
legen  sie  dem  Tierruf  einen  Menschensinn  bei  und  halten  mit 
dem  Tiere  Zwiesprache:  und  das  ist  der  Anlaß  zu  vielerlei  Mär- 
chen gewesen,  bei  denen  es  allemal  um  genaue  Nachahmung  und 
Deutung  eines  Tierrufes  geht.^  Wer  also  den  Tierruf  recht  nach- 
ahmt —  so  darf  man  folgern  —  kann  das  orenda  gewinnen  und 
den  Zauber  üben  Brant-Sero  war  so  freundlich,  uns  während 
seines  Besuchs  im  Berliner  Museum  für  Völkerkunde  ein  solches 
Märlein  in  der  Ursprache  und  in  der  englischen  Übersetzung  auf- 
zuschreiben. Die  Worte,  auf  die  es  ankommt,  sind  in  der  Über- 
setzung  deutlich   gemacht.      Freilich   kann   das   geschriebene   Wort 

*  Mündliche  Mitteilung  von  Brant-Sero  (eines  Vollblut-Mohawk- 
Indianers,  der  schon  manche  Beiträge  zur  Kunde  seines  Stammes  geliefert 
hat),  vergleiche  Hewitt  Orenda  and  a  definition  ofreligion,  Americ.  Anthrop. 
1902  p.  40.     Auch  Hewitt  ist  Indianer,  Irokese  (Tuskarora). 


480  Mitteilungen  und  Hinweise 

die  getreue  Naturnachahmung  nur  unvollkommen  wiedergeben.  Ich 
bemerke,  daß  auch  das  Wort  oh-gwarha  {wararon-ouaraon-shwara 
in  den  anderen  irokesischen  Mundarten)  d.  i.  Ochsenfrosch,  Laut- 
nachahmung ist. 

Kaniengahaka^  akarah 
Akarah  kigaken?  —  hih-heh!^  —  yagongwe  yaken  enska  yo-de 
rah-don  deyago  da-wea-ri  hat-tye-a-tya-dak  ya-ago  kedoth  oh- 
gwarha  tha-ha-da-di.  Oksa  ok  ne  yagongwe  wa-i-ron:  „sa  wi 
rayen  ken?"  „Klu'k!"  oh-gwarha  wa-honron.  „Do  ni  sa  wi  rayen?" 
yagongwe  wa-e-rih  wanondon.  „Dyoh  douh!"  oh-gwarha  tha- 
ha-ri  wahseragoh. 

People-of-the-hunt^  story 
„Shall  it  be  a  story  from  me?"  —  „Hih-heh^  (hear,  hear)!"  — 
Once  upon  a  time  a  woman  was  on  a  journey  She  came  to  a 
river.  A  Great  Frog  spoke  up.  Immediately  the  woman  inquired: 
„Have  you  any  children?"  „Kluk  (yes)!"  replied  the  frog.  „How 
many  children  have  you?"  the  woman  further  inquired.  „Dyoh 
douh  (nine),"  the  Great  Frog  made  reply. 

Berlin  John  Loewenthal 


^  =Mohawk,  vergl.  J.  0.  Brant-Sero  Dekanawideh  in  Man,  London 
1901  no  134  p.  166,  außerdem  Webb-Hodge  Handbook  of  Americ.  Ind. 
p.  921  8.  V.  Mohuwk. 

Kaniengehaga  ist  wörtlich  ,,die  am  Orte  des  Feuersteins"  d.  h.  „die 
im  Osten";  im  Gegensatz  dazu  die  Erie  d.  i.  eri'e  [yenresh  (im  Huro- 
nischen)  =  ken'räks  (im  Tuskarora)  =  der  Puma]  d.  i  „die  am  Orte  des 
Puma"  (Hewitt  in  HandhooTc  s.  v.  3Iohawk,  s.  v  JSrie)  d.  h.  „die  im  Westen". 

Der  Osten  ist  nämlich  der  Ort  des  Gottes  tawiskaraa,  tawiskaräno 
d.  i.  „der  Feuerstein",  „kalter  Feuerstein",  „er,  der  aus  Hagel  und  Eis 
gemacht  ist",  „der  Scljloßen-  und  Hagelbringer  '  (Hewitt  in  Proc.  of 
the  Avier.  Ass.  f.  the  Adv  of  Science  1896  p.  349).  Da  er  das  Morgen- 
grauen ist,  ist  er  der  eine  Herr  des  Ostens. 

Der  Herr  des  Westens  ist  der  Puma,  der  als  Westwind  am  West- 
himmel zu  verweilen  hat,  den  Herbst  bewirkt  und  die  Sonne  durch  sein 
Brüllen  vor  der  eintretenden  Nacht  warnt  (Converse  New  York  State 
Mus.  hui.  125  p.  38). 

Mohawk  =  mohauiik  (im  Narragansetischen)  „sie  essen  sie  (sc.  die 
Menschen)"  d.  i.  „die  Menschenfresser". 

*  ein  zischender  Ruf,  durch  den  der  Erzähler  Schweigen  und  Auf- 
merksamkeit verlangt,  ohne  besonderen  Wortsinn. 


[AbgetohloBsen  am  IS.  Juni  1910] 


I  Abhandlungen 


.<' 


Lupercalia 

Von  Ludwig  Deubner  in  Königsberg 

Tliere  is  hardly  another  festival  in  ihe  cdendar  so  int^- 
esting  and  so  iceU  knoten  as  this,  bemerkt  mit  Recht  Warde 
Fowler  in  seinen  Roman  Festivals,  p.  310.  Und  doch:  trotz 
alles  aufgewendeten  Scharfsinnes  ist  die  wissenschaftliche 
Forschung  der  Unklarheiten  und  Widersprüche,  die  sich  bei 
der  Untersuchung  der  in  Betracht  kommenden  Zeugnisse  des 
Altertums  herausstellten,  nicht  völlig  Herr  geworden.  Der 
Grund  hierfür  scheint  mir  darin  zu  liegen,  daß  man  sich  nicht 
genügend  auf  den  geschichtlichen  und  entwicklungsgeschicht- 
Hchen  Standpunkt  stellte.  Wer  diesen  einnimmt,  dem  wird 
aus  dem  Nebeneinander  ein  Nacheinander;  ihm  löst  sich  leicht 
manche  Schwierigkeit.  So  wollen  die  folgenden  Zeilen  ihr 
bescheidenes  Teil  beitragen,  anzuregen  zu  einer  entwicklungs- 
geschichtlichen  Betrachtungsweise  des  Ritus. 

1 

Unter  den  Problemen,  die  das  Fest  der  Lupercalia  auf- 
gibt, hat  immer  in  erster  Reihe  gestanden  die  Etymologie  des 
Namens  luperci;  denn  daß  hiervon  lupercal  und  lupercalia  ab- 
geleitet sind,  ist  ausgemacht.^  Völlig  überwunden  ist  jene 
Deutung  Schweglers  (Rom.  Gesch.  I  361),  die  Mannhardt, 
Mytholog.   Forschungen    S.  90    übernahm,    luperd   sei    gleich 

*  Die  Ansicht  Ottos  (Pauly-TVissowa  u.  Faunua  Sp.  2056),  daß 
alle  drei  Wörter  auf  den  Namen  des  Gottes  Lupercus  zurückgingen, 
den  man  doch  nach  Wissowa  (vgl.  n.  S.  489)  nicht  mehr  bemühen 
sollt«,  beruht  auf  der  irrigen  Toraussetzung,  daß  ein  Fest  ohne  Gott 
undenkbar  sei. 

Archiv  f.  neligionswisBenschaft  XIH  31 


482  Ludwig  Deubner 

lupihirci,  Wolfsböcke.  Sie  ist  spraclilicli  schon  darum  un- 
möglich, weil  das  Latein  auf  nominalem  Gebiete  kein  Dvan- 
dva- Kompositum  kennt  (Jordan,  Krit.  Beitr.  S.  164),  und 
nicht  minder  sachlich,  da,  wie  Wissowa  höchst  wahrscheinlich 
gemacht  hat  (Religion  und  Kultus  d.  Rom.  S,  484,  vgl. 
Mommsen,  Rom.  Gesch.  I^  166);  das  eine  der  den  Kult  aus- 
übenden Geschlechter,  die  quirinalischen  Fabier,  nur  äußerlich 
einem  einheitlichen  alten  palatinischen  Kulte  der  Quinctier^ 
beigesellt  wurde,  so  daß  die  Zweiteiligkeit  der  Sodalität  keine 
Stütze  mehr  für  eine  Zerlegung  der  luperci  in  Wölfe  und 
Böcke  darbietet.  Nur  der  von  Mannhardt  stark  beeinflußte 
Verfasser  des  Artikels  Lupercalia  bei  Daremberg-Saglio, 
J.  A.  Hild,  bezeichnet  noch  die  Schweglersche  Etymologie  als 
die  wahrscheinlichste.^ 

Es   gilt   heute   bei   den  meisten  nahezu  als  unzweifelhaft, 
daß  luperci  nichts  anderes  heiße  als  'Wölfe',  oder,  um  die  Ab- 
leitungssilbe auszudrücken,  'Wölflinge'.    Vgl.  Mommsen  a.  a.  0.; 
Jordan  a.  a.  0.  164f.,  wo  die  Bildung  noverca  verglichen  wird; 
Gilbert,  Gesch.  u. Topogr.  d.  St.  Rom  1 145, 2;  Otto  a.  a  0.  Sp.2064. 
Von    dem    Wolf  -  fesüval   spricht    Fowler  a.  a.  0.  p.  311    (vgl.  ; 
ebd.  p.  318).     Wissowa  a.  a.  0.    S.  172    schreibt:    'Der   Name  i 
lupercus,   der   sicher   nichts    weiter    bedeutet  als  'Wolf,   weiin  t 
auch    der  Sinn   dieser  Benennung   nicht  völlig   klar  ist    usw.* 
Und    neuerdings    lesen    wir    bei    Domaszewski,    Arch.   f.  Reli- 
gionsw.  X   1907,  338    (=  Abh.  zur   röm.   Rel.  S.  176):    'Der 
wunderbare  Wettlauf   der  Wölflinge    ist    auch    der    Tag    der 
Zeugung  des  Sommerlebens  der  Natur'.'   Für  diese  Auffassung 
von   luperci   gleich   lupi   haben   Jordan  (Preller-Jordan,   Röm. 
Myth.  I    126,  1)   und  Wissowa   (a.  a.  0.  S.  483,  6)   auch   eine 


*  Zum  Namen  vgl.  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2063. 

'  Sal.  Reinach  Orpheus  p.  147   übersetzt  loups-cerviers,  d.  i.  Hirsch- 
lucbfle.    Vgl.  denselben  Oultes,  mythes  et  rel.  I  180. 

•  Auch  Birt,   Zar  Kulturgesch.  Roms  (Leipzig  1909)  S.  13,  spricht 
von  'Wolfsmännern.' 


Lnpercalia  483 

Stelle  des  Cicero  angeführt,  pro  Caelio  26,  zu  Unrecht,  wie 
mir  scheint,  abgesehen  davon,  daß  die  Auffassung  des  Cicero 
nicht  beweisend  sein  konnte.  Cicero  spricht  von  dem  An- 
klager des  Caelius:  neqiie  vero  ülud  me  commovd,  quod  sibi 
in  lupercis  sodalem  esse  Caelium  dixit.  fera  quaedam  sodaliias 
et  plane  pastoricia  atqtie  agrestis  germanorum  lupercorum, 
quorum  coitio  iUa  silvestris  ante  est  instiäUa  quam  humaniias 
atque  leges,  si  quidem  non  modo  nomina  defenint  inter  se  so- 
dales,  sed  etiam  commemorant  sodaJitatem  in  accusando.  Hätte 
Cicero  wirklich  leibhaftige  Wölfe'  gemeint,  so  wäre  er  m.  E. 
nach  lupercorum  mit  si  quidem  fortgefahren.  Der  zwischen- 
geschobene Relativsatz,  der  wie  coitio  und  institiäa  zeigen,  (a^ 
nur  von  der  Sodalität  verstanden  werden  kann,  zwingt  uns  | 
auch  lupercorum  in  diesem  Sinne  aufzufassen.  Er  ist  als 
Epexegese  zu  germanorum  aufzufassen,  und  das  Ganze  besagt: 
'das  sind  allerdings  echte  Luperci,  wie  sie  in  der  Urzeit  zu- 
sammenkamen, vor  aller  Gesittung.' 

Ich  muß  die  Ansicht,  die  in  den  Luperci  Wölfe  sieht, 
als  unhaltbar  bezeichnen,  denn  Allzuvieles  spricht  dagegen. 
Die  Menschen,  die  den  Umlauf  vollzogen,  sahen  bekannt- 
lich wie  Böcke  aus,  weil  sie  sich  mit  dem  Fell  eines  ge- 
schlachteten Bockes  gürteten,  das  Fest  ist  ein  Hirtenfest, 
der  Gott  dieses  Festes  ist  der  Hirtengott  Faunus^:  Was  soll  , 
bei  einer  solchen  Begehung  die  Teilnahme  von  Wölfen! 
Jordan  a.  a.  0.  165 f.  hat  die  großen  Schwierigkeiten,  die 
sich  seiner  Deutung  entgegenstellten,  wohl  empfunden,  und 
ich    kann    mir    nicht    versagen,    seine     Worte    hier    wieder- 


^  Wissowa  a.a.O.  S  172.  Die  Ausführungen  Ottos  a.a.O.  Sp.2068f. 
halte  ich  für  einen  Rückschritt  und  für  eine  Verwirrung  der  durch 
Wissowa  gewonnenen  Erkenntnis.  Nach  Otto  ist  der  Faunus  der 
Lupercalia  'der  "Wolfsgott,  der  zur  Zeit  der  Totenfeiern  das  Volk  vom 
Bösen  reinigt  und  dadurch  auch  Fruchtbarkeit  verleiht.*  Ebenso  be- 
denklich ist  seine  Erklärung  des  Faunus-Favonius  als  Seelengott  und 
die  Ansicht,  Faunus  sei  eine  Anrufungsform  des  Lupercus  (a.  a.  0. 
8p.  2057  f.). 

81* 


484 


Ludwig  Deubner 


0* 


Vji 


zugeben,  weil  sie,  wie  mich  dünkt,  die  beste  Widerlegung 
seiner  Ansicht  enthalten:  'Was  bedeutet  der  Name  dieser  zu 
den  uritalischen  Institutionen  gehörigen  Genossenschaft?  Wir 
J<A/^  stehen  hier  vor  einer  religionsgeschichtlichen  Frage  der  ver- 
wickeltsten  Art.  Aber  was  die  Sprache  lehrt,  wird  keine 
»  mythologische  Theorie  zerstören  dürfen.  Wir  müssen  uns 
hier  begnügen,  darauf  hinzudeuten,  daß  der  Italische  Mars 
nicht  minder  im  Luperealienfest  wie  im  Maifest  der  dm  dia 
eine  Hauptrolle  gespielt  haben  wird,  daß  daher  für  eine 
Priestergilde  die  Benennung  nach  einem  heiligen  Tiere  des 
Mars  durchaus  motiviert  erscheint,  und  daß,  wenn  die  Mars- 
priester vom  Sorakte  in  Wolfsfelle,  die  vom  Palatium  in 
Bocksfelle  gekleidet  waren  —  doch  wer  sagt  ob  dies  in  Rom 
die  ursprüngliche  Sitte  war?  —  dies  letzte  so  wenig  auf- 
fallend ist  als  die  Anrufung  des  Mars  an  dem  Fest  der 
ährenbekränzten  Göttin  des  Maifestes.'  Hierauf  ist  kurz  zu 
erwidern,  daß  die  Sprache  auch  anderes  lehren  kann,  daß  für 
die  Hauptrolle  des  Mars  im  Luperealienfeste  nicht  das  ge- 
ringste Zeugnis  vorhanden  ist,  daß  diese  Rolle  nach  dem 
Hirtencharakter  des  Festes  ganz  unwahrscheinlich  ist,  während 
sie  bei  dem  Vegetationsfeste  der  Arvalen  keineswegs  auffällt, 
daß  ein  Wechsel  der  kultlichen  Tracht  nach  allem,  was  wir 
über  diese  Dinge  wissen,  ungeheuerlich  wäre,  und  daß  der 
^^  Gegensatz  von  Wolfsgilde  und  Bockskostüm  in  keiner  Weise 
mit  der  Anrufung  eines  die  Vegetation  schützenden  oder  ver- 
nichtenden Gottes  in  einem  Vegetationsfeste  verglichen  werden 
kann.  Die  Analogie  der  hirpi  Sorani  (vgl.  Wissowa  in 
Roschers  Lexikon  u.  d.  W.)  hilft  auch  nicht  weiter,  denn 
diese  wahrscheinlich  in  Wolfsfellen  einhergehenden  Priester 
standen  im  Dienste  eines  dem  Apollo  gleichgesetzten  (Wissowa, 
Rel.  S.  191)  Unterweltsgottes,  und  es  bedarf  kaum  der  Be- 
merkung, daß  hier  die  Wölfe  so  gut  passen,  wie  sie  beim 
Hirtenfeste  der  Lupercalia  unverständlich  sind,^ 
*  Vgl.  auch  Wisaowa  a.  a.  0.  S.  483,  6. 


Lnpercalia  485 

So  unverständlicli  es  ist,  daß  sich  bei  einem  Hirtenfeste 
'Wölfe'  beteiligen,  so  verständlich  ist  das  Auftreten  von 
Wolfsabwehrem.  Ich  mochte  nicht  Eulen  nach  Athen  tragen, 
aber  vielleicht  ist  es  nicht  unnütz  an  einige  Dichterstellen  zu 
erinnern:  Tibull  I  1,  33  at  vos  exiguo  pecori  furesque  lupique 
parcite]  II  5,  88  (mit  Bezug  auf  die  Parilia)  a  siahulis  tum 
procnl  este  lupi]  Horaz  carm.  III  18,  13  inier  audacis  lupus 
errat  agnos]  epod.  II  60  vd  haedus  ereptus  lupo]  Ov.  fast.  IV 
766  (im  Gebet  an  Pales)  neve  gemam  referens  veUera  rapta 
lupo.  Luperci  kommt  von  lupus  und  arceo.  Die  Deutung  ist 
nicht  neu:  schon  Serv.  Aen.  VIII  343  hat  sie  überliefert 
(Liipercal,  quod  praesidio  ipsius  numinis  lupi  a  pecudibus  arce- 
rentur).  Von  modernen  ßeligionsforschern  übernahmen  sie 
Schwenck  (Mythol.  der  Römer  S.  140),  Gerhard  (Marquardt, 
Rom.  Staatsverw.  III*  439,  5),  PreUer^,  Preuner  (Hestia-Vesta 
S.  389,  3)  und  in  abenteuerlichem  Sinne  Lippert.'  Der  beste . 
Kenner  der  römischen  Religion  (Wissowa  a.  a.  0.  S,  483,  6) 
hat  sie  mit  Entschiedenheit  verworfen;  er  sagt:  'das  Wort 
(luperciis)  kann  auch  etymologisch  nichts  anderes  (als  lupus) 
bedeuten,  wie  Jordan,  Krit  Beitr.  S.  164 f.,  gegenüber  den  / 
bei  Marquardt  zusammengestellten  anderweitigen  Deutungs- 
versuchen richtig  ausführt'.  Jedoch  Jordan  bemerkt  a.  a.  0. 
dieses:  'Ebenso  richtig  verwirft  Marquardt  die  Annahme  eines 
übrigens  sprachlich  zulässigen  Kompositum  von  lupus 
und  arcere:  nicht  Wolfswehrer  heißen  die  Priester,  sondern 
Wölfe,  mag  der  Grund  sein,  welcher  er  wolle.'  In  dieser  Be- 
hauptung   vermag    ich    keinen    Beweis   zu  erblicken;    aber  das 

^  Preller- Jordan  a.  a.  0.  I  380  'Lupercus  der  Wolfsabwehrer,  in 
der  nächsten  Bedeutung  als  Beschützer  der  Herde,  in  der  entfernteren 
als  Austreiber  des  Winters  durch  die  Erneuerung  des  Jahres  im  Frühlinge'. 

*  ÄUg.  Gesch.  d.  Priestert.  II  563  'Der  Fetischbezeichnung  nach 
heißt  jener  Gott  Lupercus,  der  Wolfsabwehrer;  auch  wo  der  Haifisch 
als  Fetisch  behandelt  wird,  empfängt  er  den  Kult  in  der  Meinung,  daß 
er  dadurch  die  Haifische  überhaupt  von  Schädigung  der  Menschen  ab- 
halte.'   Vgl.  auch  Schwegler  a.  a.  0.  S.  360,  3. 


1"^' 


\ 


Jj 


''! 


486  Ludwig  Deubner 

Zugeständnis  der  sprachlichen  Möglichkeit,  luperci  als  Wolfs- 
abwehrer  zu  erklären,  ist  willkommen,  und  diese  Erklärung 
wird  denn  auch,  wie  ein  Blick  in  das  Lateinische  etymologische 
Wörterbuch  von  Walde  (S.  354)  lehrt,  von  der  heutigen 
Sprachwissenschaft  durchaus  bevorzugt,  vgl.  auch  Stolz,  Hist, 
Gramm,  d.  lat.  Spr.  I  419.  Dazu  stimmt  das  Urteil  der 
meisten  übrigen  Forscher,  die  trotzdem  diese  Etymologie  ver- 
werfen: Marquardt  nennt  sie  a.  a.  0.  S.  439,  4  die  beste  unter 
den  Etymologien  der  Alten;  Unger,  Rh.  Mus.  36,  1881,  6o 
erklärt,  daß  wenn  das  Wort  lupus  zugrunde  läge,  zweifellos 
arceo  als  zweiter  Bestandteil  anzusehen  wäre;  Mannhardt 
a.  a.  0.  87  f.  betont,  daß  sich  diese  Ableitung  aus  lautlichen 
Gründen  in  hohem  Grade  empfiehlt.  Vgl.  auch  Schwegler 
a.  a.  0.  S.  360.  Mannhardt  hat  ein  stattliches  sprachliches 
Beweismaterial  für  die  Möglichkeit  der  Etymologie  beigebracht; 
ich  hebe  nur  eine  schlagende  Parallele  heraus,  das  Wort 
aedituus.  Für  die  Schwächung  von  a  zu  e  vgl.  arma  neben  inermis. 
Danach  scheinen  also  schwerwiegende  sachliche  Bedenken  der 
Deutung  ^Wolfsabwehrer'  im  Wege  zu  stehen.     Prüfen  wir! 

Die  Einwände,  die  gemacht  worden  sind,  bewegen  sich 
in  zweierlei  Richtung.  Die  einen  berufen  sich  auf  die  Le- 
gende, die  anderen  auf  den  Kult.  Schwegler  (a.  a.  0.  S.  361) 
und  die  ihm  folgen,  erklären,  daß  von  Wolfsabwehr  keine 
Rede  sein  könne,  weil  das  Lupercal  die  Stätte  der  säugenden 
Wölfin  sei,  ja  nach  Varro  bei  Arnob.  IV  3  die  Wölfin  selbst 
als  Luperca  verehrt  wurde;  Mars,  der  Vater  der  mit  dem 
Lupercal  verknüpften  Brüder  Romulus  und  Remus,  habe  den 
Wolf  zum  Symbol,  nicht  minder  Faunus  selbst,  der  Sohn  des 
Mars.  Diese  Bedenken  sind  völlig  gegenstandslos,  seit  wir 
von  Wissowa  gelernt  haben,  wie  römische  Legende  ein- 
zuschätzen ist.  Wann  immer  die  Romuluslegende  an  das 
Lupercal  angeknüpft  worden  sein  mag,  darüber  kann  doch 
kein  Zweifel  sein,  daß  die  Wölfin  der  Sage,  wenn  sie  nicht 
aus    dem  Namen  Lupercal    überhaupt    erst  entstand,   aus    rein 


Lupercalia  437 

äußerlichen  Gründen  zu  der  alten  Grotte  in  Beziehung  ge- 
setzt wurde.  Von  hier  aus  kann  auch  nicht  ein  Schatten  des 
Verdachtes  fallen  auf  das,  was  unvoreingenommene  Prüfung 
der  Tatsachen  uralten  Kultes  ergibt. 

Aber  gerade  diese  Tatsachen  schienen  weitere  Gegengründe 
darzubieten.  Mannhardt  a.  a.  0.  S.  88  betonte,  daß  bei  dem  an 
den  Luperealien  sich  vollziehenden  Umlauf  der  Luperci  Menschen, 
nicht  Tiere  geschlagen  werden;  nicht  um  die  Grenzen  der 
Viehweide  sei  der  segenheischende  Umgang  geschehen,  sondern 
um  die  Mauern  der  ältesten  palatinischen  Stadt,  um  den  Wohn- 
sitz der  Menschen.  Und  ebenso  erklärte  Unger  a.  a.  0.  62  f, 
die  Luperealien  seien  gar  kein  Hirtenfest,  sondern  die  Sühn- 
feier einer  Stadtgemeinde.  Beide  schlössen  daraus,  daß  luperci 
nicht  von  arcere  hergeleitet  werden  dürfe. 

AVirklich  nicht?  Wirklich  die  Lupercalia  kein  Hirten- 
fest? Und  wo  bleiben  die  Zeugen  des  Altertums,  die  den 
Hirtencharakter  des  Festes  auf  das  deutlichste  zum  Ausdruck 
bringen?  Cic.  a.  a.  0.  spricht  doch  von  der  sodalitas  pastoricia 
und  Plut.  Caes.  61  sagt:  noXXol  yQatpovöiv^  og  noiyiiveyv  xb 
xaXaiov  sir}  (Ji  ioQtrf)}  Und  Faunus,  der  deus  pastoralis 
(Serv.  a.  a.  0.)?  Paßt  er  etwa  besser  in  die  Sühnfeier  der 
Stadtgemeinde,  er,  der  Gott  der  animalischen  Fruchtbarkeit? 
Es  ist  nur  konsequent,  wenn  Unger  a.  a.  0.  S.  68  behauptet, 
Faunus  könne  der  Luperealiengott  nicht  gewesen  sein,  weil 
er  kein  städtischer  Gott  sei,  eine  Behauptung,  der  Fowler 
merkwürdigerweise  folgt,  a.  a.  0.  p.  313.  Es  gibt  gegenüber 
diesen  andrängenden  Schwierigkeiten  nur  einen  Ausweg:  der 
Charakter  des  Ritus  —  wohlgemerkt:  nicht  der  Ritus  selbst 
—  hat  sich  im  Laufe  der  Entwicklung  des  kommunalen 
Lebens  verschoben,  hat  sich  verschieben  müssen.  Ähnliches 
hat  Härtung  vermutet,  den  Mannhardt  a.  a.  0.  zu  Unrecht 
bekämpft.   Von  Adaption  einer  alten  Hirtenbegehung  an  andere 

^  Ich  halte  es  nicht  für  richtig,  in  diesen  Äußerungen  nur  Rück- 
schlüsse aus  dem  Kostüm  der  Luperci  zu  erblicken  (Otto  a.  a.  0.  Sp.  2069). 


488  Ludwig  Deubner 

Verhältnisse  spricht  auch  Powler  a.  a.  0.  p.  312,  und  Gilbert 
a.  a.  0.  I  83  schreibt:  'In  der  Tat  weisen  alle  Anzeichen  darauf 
hin,  daß  seine  (des  Luperealienfestes)  Stiftung  in  die  ältesten 
Zeiten  gehört,  daß  es  später  nach  Erbauung  des  oppidum 
Palatinum  erweitert  und  auf  dieses  letztere  übertragen  ist'; 
S.  87,  2  erwähnt  er  den  'Hirtencharakter  der  Lupercalia  .  ., 
welche  jene  älteste  Zeit  gleichsam  dokumentarisch  fixiert  haben' 
(vgl.  ebd.  S.  145). 

In  altersgrauer  Vorzeit  liefen  an  jener  Stätte,  wo  später 
Rom  sich  erhob,  latinische  Hirten  in  feierlichem  Laufe  um 
ihre  Hürden.  Es  war  ihnen  bitter  Ernst,  denn  es  galt  das, 
was  ihren  Besitz  ausmachte,  gegen  den  Räuber,  der  in  der 
Campagna  heulte,  durch  uralt  heiligen  Ritus  zu  schützen.  Um 
die  Hürde  ging  der  Lauf:  die  Vorstellung  des  magischen 
Kreises,  die  einer  Unzahl  von  'Umgängen'  bei  allen  Völkern 
der  Erde  zugrunde  liegt,  zeigt  sich  auch  hier  wirksam.  Ist 
dieser  Kreis  durch  den  feierlichen  Umlauf  geschlossen,  so 
kann  kein  Unheil  —  auch  der  Wolf  nicht  —  ihn  überschreiten. 
Nicht  der  Gesundheit  des  Viehs  gilt  dieser  Lauf,  dafür  wurde 
das  Fest  der  Parilia  eingerichtet,  sein  ganz  spezieller  Zweck 
ist  die  Sicherung  des  Besitzstandes.  Vielleicht  hatte  einst,  in 
noch  viel  älterer  Zeit,  der  ganze  Clan  diesen  Umlauf  voll- 
zogen, und  öfter  als  einmal  im  Jahre.  Fest  und  Priester  sind 
ein  Produkt  der  ökonomischen  Evolution.  Ein  einzelnes  Ge- 
schlecht wurde  im  Laufe  der  Zeit  mit  der  Ausübung  des  Ritus 
betraut.  Seine  Mitglieder  nannte  man,  um  ihre  Aufgabe  zu 
kennzeichnen,  luperci,  Wolfsab wehrer. 

Die  Lupercalia  waren  in  historischer  Zeit  ein  Fest  des  Faunus 
(Wissowa  a.  a.  0.  S.  172,  3,  vgl.  Mannhardt  a.  a.  0.  S.  94),  dies  ist 
über  jeden  Zweifel  erhaben.  Ovid  fast.  II  268  nennt  die  Feier 
Fauni  Sacra  (vgl.  ebd.  V  101),  und  wenn  am  13.  Februar  das 
Stiftungsfest  des  Faunustempels  auf  der  Tiberinsel  begangen 
wurde,  so  hat  dieses  Datum  das  Faunusfest  des  15.  Februar 
zur  Voraussetzung    (Wissowa  a.  a.  0.  S.  174,  9).     Von    einem 


Lapercalia  489 

Gebet  an  Faunns  Tor  dem  Lanf  spricht  das  Aition  der  Feier, 
das  PlutarcnKom.  21  nach  C.  Acilius  berichtet,  also  wird 
man  auch  für  das  Fest  selbst  ein  solches  Gebet  annehmen 
dürfen.^  Die  konkurrierenden  Göttemamen,  die  neben  Faunus 
erwähnt  werden,  Februarius,  Februus  (s.  unten  S.  498),  Inuus 
(Wissowa  a.  a.  0.  S.  173,  10),  Liber  (Serv.  Aen.  VIII  343), 
Pan  (Wissowa  a.  a.  0.  S.  174)  sind  durchsichtige  Epitheta 
oder  Gleichungen,  und  der  Gott  Lupercus  vollends,  der  von 
vielen  als  das  Prototyp  der  luperci  betrachtet  wird^,  ist,  wie 
Wissowa  in  Roschers  Lexikon  u.  d.  W.  einleuchtend  bemerkt 
hat,  erst  aus  dem  Feste  abgeleitet  (vgl.  auch  Mannhardt  a.  a. 
0.  S.  96).  Das  Bild  des  Lupercus  also,  das  Justin  43,  1,  7 
erwähnt,  und  dessen  Aussehen  dem  Kostüm  der  luperci  ent- 
sprach, ist  eine  Statue  des  Faunus  gewesen  (vgl.  Wissowa 
a.  a.  0.  S.  172,  12),  die  wie  alle  Götterbilder  in  Rom  einer 
verhältnismäßig  späten  Zeit  wird  zugeschrieben  werden  müssen. 
Und  wenn  von  dem  Altar  des  Pan  bei  Dionys  v.  HaL  I  32, 
79  die  Rede  ist,  so  dürfen  wir  darunter  den  verstehen,  auf 
dem  für  Faunus  an  den  Luperealien  das  Bocksopfer  vollzogen 
wurde.  Denn  obwohl  dieses  Opfer  nur  bei  Ovid  fast.  II  361 
in  einem  Aition  mit  Faunus  in  Verbindung  gebracht  wird 
(und  hier  ist  es  sogar  eine  Ziege),  so  darf  doch  als  sicher 
betrachtet  werden,  daß  am  Tage  des  Festes  der  Bock  für  den- 
selben Gott  geschlachtet  wurde  (vgl.  Val.  Max.  II  2,  9;  Ovid 
fast.  II  445;  Quintil.  inst.  I  ö,  66;  Plut.  Rom.  21;  Serv.  Aen. 
Vin  343,  s.  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2065),  den  man  auch  sonst  durch  die 
Darbringung  dieses  im  römischen  Kulte  nicht  gerade  häufigen 
Opfertieres  verehrte  (vgl.  Horaz  carm.  I  4, 12;  III  18,  5;  C.  Krause 
De    Romanoriün    hostiis,    Marburger    Diss.    1894    p.   13.  32).* 

>  Vgl.  Unger  a.  a.  0.  S.  57,  2. 

*  Schwenck  a.  a.  0.  S.  140;  Lippert  a.  a.  0.  II  564;  Gilbert  a.  a.  0. 
I  145    2;  Kroll  Ant.  Äbergl.  S.  9;  Hild  bei  Bar.-Sagl.  a.  a.  0.  p.  1398. 

'  Es  geht  nicht  an,  mit  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2065  das  Bocks-  oder 
Ziegenopfer  der  Lupercalia  als  chthonische  Sühnopfer  zu  betrachten,  wo 
doch  die  Darbringnng  an   den  Gott   der  Herde  so  selbstverständlich  ist. 


> 


490 


Ludwig  Deubner 


u^ 


Also  die  Luperci  betrachten  den  Faunus  als  den  Herrn 
ihres  Festes;  ja  es  hat  den  Anschein,  als  stünden  sie  zu  ihm 
in  einem  besonders  nahen  Verhältnis:  der  Schurz,  den  sie 
trugen,  war  aus  dem  Fell  der  geopferten  Böcke  geschnitten. 
Dieser  auffallende  Umstand  brachte  Fowler  auf  den  an  sich 
sehr  beachtenswerten  Gedanken,  wir  hätten  es  mit  einer  tote- 
mistischen  Begehung  zu  tun  (vgl.  a.  a.  0.  p.  318).  Dann  wäre 
der  Bock  ursprünglich  der  Gott,  und  seine  Diener  hätten  sich 
in  das  Fell  des  Gottes  gekleidet,  um  dem  Gotte  gleich  zu 
werden  und  in  der  Maske  von  Dämonen  den  schützenden 
Umlauf  zu  vollziehen;  die  Einnahme  eines  Opfermahles 
(Marquardt  a.  a.  0.  S.  444,  1)  stünde  damit  in  guter  Über 
einstimmung.  Doch  dagegen  spricht  vor  allen  Dingen,  daß 
im  römischen  Kulte  anderweitig  von  totemistischen  Kult- 
handlungen keine  Spur  zu  finden  ist;  die  Analogie  der  in 
etruskischer  Einflußsphäre  amtierenden  hirpi  vom  Soracte, 
bei  denen  an  sich  totemistische  Vorstellungen  zugrunde  liegen 
könnten,  kommt  für  die  Luperci  nicht  in  Betracht,  weil  diese 
eben  keinen  tierischen  Namen  führen.  Ich  glaube  sogar,  daß 
wir  noch  weiter  gehen  dürfen  und  behaupten:  der  Faunuskult 
ist  nicht  von  Anfang  an  mit  dem  Umlauf  der  Xuperci  ver- 
bunden gewesen.  Es  ist  durch  die  Arbeiten  von  Preuß 
(Globus  86.  87),  Anitschkoff  (Das  rituelle  Frühlingslied, 
vgl.  Archiv  f.  Religionsw.  IX  1906,  277ff.  445ff.)  und  Vier- 
kandt  (Die  Anfänge  der  Religion  und  Zauberei,  Globus  92) 
deutlich  geworden,  daß  am  Anfang  der  religiösen  Ent- 
wickelung  rituelle  Begehungen  stehen,  die  keineswegs  au 
/  die  Adresse  irgendwelcher  Götter  gerichtet  sind,  noch  unter 
der  Maske  irgendwelcher  Dämonen  ausgeführt  werden,  sondern 
der  Vorstellung  entstammen,  der  Mensch  vermöge  an  und  für 
sich  durch  besondere  —  überall  wiederkehrende  —  Akte  Un- 
segen  abwehrend  und  Segen  herbeiziehend  in  den  Lauf  der 
Natur  einzugreifen.  Ich  möchte  die  These  aufstellen,  daß  alle 
diejenigen  Feste  des  'numanischen'   Kalenders,    die    sich  nicht 


Lnpercalia  491 

Ton  dem  Namen  eines  Gottes  herleiten  (mit  Ausnahme  des 
eine  besondere  Stellung  einnehmenden  Agonium),  ursprünglich 
eben  solche  rituelle  Begehungen  gewesen  und  erst  im  Laufe 
der  Entwickelung  des  religiösen  Denkens  unter  die  Protektion 
einer  dem  jeweiligen  Gedankenkreise  nahestehenden  Gottheit 
geraten  sind.  Den  Beweis  dafür  an  dieser  Stelle  anzutreten, 
liegt  außer  meiner  Absicht,  aber  ich  möchte  doch  betonen, 
daß  es  weiter  reichende  Beobachtungen  sind,  die  mich  bestimmen, 
die  altertümlich  schlichte  und  klar  verständliche  Zeremonie 
der  Wolfsabwehrer  in  ihrer  ältesten  Gestalt  von  dem  Dienste 
des  Faunus  zu  lösen.  Ist  dies  aber  richtig,  so  sind  die  Luperci 
ursprünglich  auch  ohne  den  Schurz  gelaufen,  der  von  dem 
Opfertier  des  Faunus  nicht  getrennt  werden  kann:  denn  aus 
dem  Fell  dieses  Tieres  war  er  geschnitten  (s.  o.  S.  490).  D.  h. 
die  luperci  waren  ursprünglich  vollständig  nackt.^  Gerade/ 
diese  Nacktheit  nun  ist  ein  häufig  auftretender  Begleitumstand 
zauberischer  Riten,  vgl.  Deubner  De  incubatione  p.  2-4;  Abt, 
D.  Apologie  d.  Apoleius,  RGW  lY  246,  1.  Hier  seien  nur 
ein  paar  analoge  Fälle  kurz  erwähnt.  Bei  den  Amphidromien 
wurde  das  Kind  von  dem  nackten  Vater  um  das  Feuer  des 
Herdes  getragen  (Hesych  s.  v.  ögoyLidiicpiov  ^(laQ).  Um  den 
'Kuhtod'  aus  dem  Dorfe  zu  treiben,  gehen  in  Rußland  die 
Frauen  in  Prozession  um  die  Siedelung,  wobei  eine  nackte 
Person  einen  Pflug  zieht  (der  den  magischen  Kreis  einritzt); 
die  serbischen  Frauen  laufen  am  Georgstage  nackt  um  ihren 
Viehhof,  damit  ihnen  niemand  die  Milch  stehle  (Archiv 
f.  Religionsw.  IX  1906,  452).  Als  Faunus  der  Herr  des  Festes 
wurde  und  ein  Bocksopfer  erhielt,  mögen  die^uperci  sich  mit 
Stücken  des  frisch  abgezogenen  FeUes  gegürtet  haben,  um 
durch   die    Kräfte,    die    alles   zum   Opfertier    Gehörige    besitzt 

^  Vgl.  auch  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2069.  —  Die  Bekränzang  und  Maskie- 
rung, die  erst  Lactanz  erwähnt  (inst.  I  21,  45),  wird  späte  Zutat  sein. 
Auf  die  Tatsache,  daß  auch  Faunusstatuen  bekränzt  erscheinen  (vgl. 
Roschers  Lexikon  u.  Faunus  1459  f.),  ist  wohl  ebensowenig  Wert  zu  legen, 
wie  auf  die  gelegentlich  erwähnte  Salbung  des  Körpers. 


^ 


492  Ludwig  Deubner 

(Rob.  Smith,  Rel.  d.  Sem.  S.  294;  Fowler  a.  a.  0.  p.  321,  vgl. 
RGW  II  142,  9),  die  Wirkung  des  Umlaufs  zu  erhöhen. 

Um  die  Hürde  ging  in  alter  Zeit  der  Lauf  der  Luperci. 
Aber  die  Zeiten  änderten  sich,  und  mit  ihnen  die  Formen  des 
Lebens.  Wo  einstmals  dürftige  Siedlungen  bestanden  hatten, 
erwuchs  im  Laufe  der  Zeiten  die  palatinische  Stadt.  Und 
immer  noch  liefen  die  Wolfsab wehrer  um  das  Gemeinwesen. 
Kaum  wußte  man  mehr,  was  denn  dieser  Umlauf  eigentlich 
solle,  aber  der  alte  heilige  Brauch  war  einmal  von  den  Vätern 
überliefert,  und  so  hielt  man  an  ihm  fest:  er  erstarrte.  Und 
als  dann  endlich  das  Leben  Roms  rings  um  den  palatinischen 
Hügel  brandete,  da  waren  die  Wölfe  längst  vergessen;  um  so  mehr 
als  inzwischen  neue  Gedanken  und  Vorstellungen  mit  dem  alten 
Ritus  in  unlösliche  Verbindung  getreten  waren. 

2 

Es  ist  eine  bekannte  Erscheinung,  daß,  wo  eine  heilige 
Handlung  vollzogen  wird,  das  Bestreben  zutage  tritt,  die  frei 
werdenden  zauberischen  Kräfte  persönlichen  Zwecken  dienstbar 
zu  machen.  Wer  die  ekstatischen  Prozeduren  der  Derwische  in 
Skutari  gesehen  hat,  erinnert  sich,  daß  am  Schlüsse  der  Zere- 
monie Kranke  herbeigebracht  und  durch  Aufsetzen  der  Füße 
geheilt  werden  (vgl.  auch  Weinreich,  Antike  Heilungs wunder, 
RGW  VIII  68).  Und  gewiß  besinnt  sich  ein  jeder,  davon 
gelesen  zu  haben,  daß  beim  Nahen  einer  Prozession  Leute  mit 
Gebresten  mannigfacher  Art  behaftet  sich  in  den  Weg  werfen, 
um  der  Gesundheit  spendenden  übernatürlichen  Kraft  teilhaftig 
zu  werden.  Ich  setze  zwei  Beispiele  her,  die  mir  aus  dem 
Buche  von  Otto  Stoll,  Das  Geschlechtsleben  in  der  Völker- 
psychologie (S.  178.  510)  zur  Hand  sind:  sie  lassen  sich  ohne 
Zweifel  leicht  vermehren.  In  Mexiko  gab  es  ein  Fest,  bei  dem 
die  Häute  der  geopferten  Kriegsgefangenen  in  feierlicher  Pro- 
zession in  einer  Höhle  beigesetzt  wurden.  *An  dieser  Prozession 
beteiligten  sich  auch  Kranke,  und  zwar  vornehmlich  Haut-  oder 


Lnpercalia  493 

Augenleidende,  in  der  Hoffnung,  durch  die  Teilnahme  an  diesem 
heiligen  Akt  von  ihrem  Leiden  befreit  zu  werden.'  Zn  dem 
Beschneidungsfest  der  Masai  finden  sich  auch  sehr  viele 
Frauen  ein,  'und  zwar  vor  allem  die  bisher  unfruchtbar  ge- 
bKebenen.  Diese  lassen  sich  alsdann  von  den  Knaben  mit 
frischem  Rindermist  bewerfen,  da  sie  dadurch  .  .  .  fruchtbar 
werden.' 

Bei  ihrem  Umlauf  um  die  palatinische  Stadt  hielten  die 
Luperci  Riemen  in  den  Händen,  die  wie  ihr  Schurz  aus  dem 
Fell  der  geopferten  Böcke  geschnitten  waren.  Mit  diesen 
Riemen  schlugen  sie  die  sich  ihnen  in  den  Weg  stellenden  un- 
fruchtbaren Frauen,  und  diese  wurden  dadurch  fruchtbar 
(^Marquardt  a.  a.  0.  S.  444,  10).  Ich  hoffe,  man  wird  es  nach 
dem  oben  vorgetragenen  einleuchtend  finden,  wenn  ich  diesen 
Ritus  des  Schiagens  als  einen  sekundären,  einen  akzessorischen 
bezeichne.  Wäre  er  die  Hauptsache  gewesen,  so  wäre  man 
nicht  unten  um  den  Palati n  gelaufen,  sondern  hätte  die  Frauen 
oben  auf  dem  Plateau  gegeißelt.  Der  Umlauf  ist  die  Haupt- 
sache, und  er  gilt  dem  Umlaufen en,  also  nicht  den  Frauen. 
Aber  das  ist  verständlich:  je  städtischer  das  Leben  des  Palatins 
wurde,  je  schlechter  der  alte  Hirtenritus  in  die  neuen  Lebens- 
bedingungen hineinpaßte,  je  mehr  die  primäre  Bedeutung  der 
Begehung  in  den  Hintergrund  trat,  desto  stärker  mußte  das 
sekundäre  Moment  sich  bemerkbar  machen,  und  es  mußte  ein- 
mal die  Zeit  kommen,  wo  man  das  Schlagen  der  Frauen  neben 
dem  Opfer  als  den  wesentlichen  Zweck  des  Festes  empfand. 

Es  ist  vielleicht  bemerkenswert,  daß  Unger  a.  a.  0.  58 ff, 
von  ganz  anderen  Beobachtungen  aus  zu  einem  ähnlichen 
Resultat  gelangte.^  Er  beruft  sich  darauf,  daß  die  Geißelung 
in    einer    Reihe    von    Quellen    nicht    erwähnt    wird,    und    daß 

*  Vgl.  auch  C.  Pascal  Bendiconti  d.  R.  Acc.  d.  ijMC.V4,  1895.  152, 
wo  in  den  Vorstellungen  von  der  Befruchtung  der  Frauen  uyi'  impor- 
tazione  posteriore  erblickt  wird.  Die  Kenntnis  des  phantastischen,  von 
Unger  beeinflußten  Aufsatzes  verdanke  ich  Herrn  stud.  Latte. 


494  Ludwig  Deubner 

Livius  (nach  Gelasius,  Epist.  Rom.  pontif.  ed.  Thiel  I  p.  601) 
in  der  zweiten  Dekade  erzählte,  das  Schlagen  der  Frauen  sei 
bei  Gelegenheit  einer  allgemeinen  Unfruchtbarkeit  eingeführt 
worden.  Die  zweite  Dekade  führe  auf  die  Zeit  von  292—218 
V.  Chr.  Damals  seien  die  Luperealien  durch  Aufnahme  der 
Geißelung  erweitert  und  gleichzeitig  wegen  der  dadurch  be- 
dingten allgemeinen  Anteilnahme  in  den  Staatskult  aufgenommen 
worden,  während  sie  bis  dahin  nur  ein  Bezirksfest  gewesen 
seien.  Der  Ungerschen  Annahme  ist  von  Wissowa  a.  a.  0. 
S.  173,  4  eine  leise  Möglichkeit  eingeräumt  worden.  Ob  die 
Erweiterung  des  Festes  wirklich  in  so  verhältnismäßig  später 
Zeit  erfolgte,  ist  mir  sehr  zweifelhaft.-^  Auch  scheint  mir  das 
Liviuszitat  bei  Gelasius  a.  a.  0.  keine  Unterlage  dafür  zu  bieten. 
Die  Worte  lauten:  nee  propter  tnorhos  inhibendos  instituta  com- 
memorat  (sc.  Livius),  sed  propter  sterüitatem,  ut  ei  videtur, 
muUerum,  quae  tunc  acciderat,  exhihenda.  Da  Gelasius  vorher 
ausdrücklich  daran  erinnert,  daß  die  Feier  vor  Romulus  von 
Evander  importiert  sei,  so  kann  er  nur  dieses  haben  sagen 
wollen:  "^Livius  erwähnt  nicht,  daß  das  Fest  eingesetzt  sei,  um 
Krankheiten  fernzuhalten,  sondern  vielmehr  um  wegen  Un- 
fruchtbarkeit der  Frauen  ausgeübt  zu  werden,  wie  sie  damals 
eingetreten  war.'  Der  Sinn  des  Textes  wird  deutlicher,  wenn 
man  die  Worte  quae  tunc  acciderat  in  Klammern  schließt. 
Jedenfalls  handelte  es  sich,  wenn  jemals  eine  offizielle  Er- 
weiterung des  Festes  in  der  bezeichneten  Richtung  stattfand, 
nur  um  die  Förderung  eines  sporadisch  längst  vorhandenen 
Brauchs.  Daß  damit  —  in  historischer  Zeit  —  die  Aufnahme 
des  Festes  in  den  Staatskult  verbunden  gewesen  sei,  wird,  wie 
ich  glaube,  dadurch  widerlegt,  daß  nach  dem  Zeugnis  der 
Kalender  das  staatliche  Fest  der  Lupercalia  in  die  Religions- 
ordnung des  *Numa'  hinaufreicht.  Es  mag  sein,  daß  die 
Schläge  der  Luperci  ursprünglich  nicht  auf  die  Frauen  be- 
schränkt waren.  Wenigstens  sagt  Nikolaos  v.  Damaskos  in  den 
*  Vgl.  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2067. 


Lnpercalia  495 

Excerpta  hist.  Const.  Porph.  edd.  Boissevain  etc.  III  p.  41,  29, 
daß  jene  :io^:i£vov(}i  .  .  .  tovg  xs  v:cavrävTug  xaraxBQXO- 
^uovvxsg  xai  xvTtxovxsg,  und  bei  Plut.  Rom.  21  lesen  wir: 
dia&BovöLv  .  .  .  xoig  öxvxsöl  xbv  k^:to8(ov  naCovxtg  (vgl.  ebd. 
aus  Butas  iuTCodCovg  xvxxovxag).^  Aber  es  ist  in  der  Tat  sehr 
fraglich,  ob  diese  Zeugnisse  für  die  ältere  Zeit  in  Anspruch 
genommen  werden  können. 

Daß  man  die  Riemen  aus  dem  Fell  der  Opfertiere'  erst  ^ 
dann  schnitt,  als  man  die  Frauen  schlagen  wollte,  ist  unwahr- 
scheinlich. Vermutlich  wurden  sie  schon  vorher  in  der  Hand 
geschwungen,  um  symbolisch  die  Wölfe  zu  scheuchen.  Man 
vergleiche  einen  weißrussischen  Brauch  (Archiv  f.  Religionsw. 
IX  1906,  457):  nachdem  das  Vieh  vor  dem  Austreiben  dreimal 
feierlich  umgangen  ist,  betet  der  Oberhirte,  indem  er  auf  die 
Herde  blickt:  'Errette,  Herr,  unsere  Herden  und  jedes  Stück 
Vieh  von  jeglichem  gleitenden  Reptil  und  bösem  Raubtier'; 
darauf  wird  unter  anderen  Abwehrmitteln  mit  der  Peitsche 
in  die  Luft  geknallt.  Auch  in  dem  frischgeschnittenen  Riemen 
mögen  die  Luperci  die  magische  Kraft  des  Geopferten  wirksam 
gedacht  haben  ^,  eine  weitere  Garantie  für  das  Femhalten  der 
Wölfe.  War  aber  einmal  zu  solchen  Zwecken  der  Riemen 
verwendet  worden,  so  ist  es  vollauf  begreiflich,  daß  er  bald 
Gelegenheit  zu  neuer  Betätigung  fand.* 

Über  den  Schlag  mit  dem  Riemen,  von  dem  Lobeck 
(Aglaoph.  681)  meinte  totuni  rem  a  lusn  et  lascivia  profeäam 
esse,  hat   Mannhardt   a.  a.  0.   llSfT.   eine   erschöpfende   tJnt€r- 

*  Andere  Stellen  bei  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2067. 

*  Peut-etre  en  peau  ds  Joup  bemerkt  Sal.  Reinach  Orpheus  p.  147 
in  offenbarem  Zusammenhang  mit  oben  verworfenenen  Vorstellungen 
über  das  Wesen  der  Luperci. 

'  Auch  T.  Domaszewski  Archiv  f.  Religionsw.  X  1907,  338  spricht  von 
'Zauberriemen*.    Vgl.  Ovid.  fast.  II  441  sacer  hircus  inito. 

*  Ägyptische  Parallelen  verführten  Lefebure  Bev.  de  Vhist.  des  rel. 
59,  1909,  73  SS.  zu  der  unhaltbaren  Annahme,  die  zu  befruchtenden 
Frauen  wären  von  den  Luperci  mit  BocksfeUstreifen  geschlagen  worden, 
weil  der  Bock  ein  laszives  Tier  sei. 


496  Ludwig  Deubner 

sucliung  angestellt  (vgl.  dens.,  Wald-  und  Feldkulte  I  251  ff.: 
'Der  Schlag  mit  der  Lebensrute').  Hier  möchte  ich  nur  kurz 
feststellen,  ob  der  Sinn  der  ist,  durch  den  Schlag  Segenskräfte 
miitzuteilen  ^,  oder  ob  vielmehr  eine  Hinauspeitschung  des  Un- 
segens  beabsichtigt  wurde.  Mir  scheint  die  zweite  Auffassung, 
zu  der  auch  Fowler  neigt,  ohne  sich  bestimmt  zu  entscheiden 
(a.a.O.  p.  321,  vgl.  auch  Mannhardt  a.a.O.  S.  84),  die  richtige 
zu  sein.  Daß  es  sich  um  das  Fortschaffen  von  Hinderungen 
handelt,  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  nach  primitivem  Glauben 
die  Unfruchtbarkeit  auf  die  Besitznahme  des  Körpers  durch 
feindliche  Stoffe  gedeutet  werden  mußte.  Zudem  gesellten  sich 
nach  Plut.  Caes.  61  zu  den  Unfruchtbaren  die  Schwangeren, 
^Qos  evToxCav:  die  Schwangeren  aber  brauchten  nicht  mehr 
fruchtbar  zu  werden,  sondern  bedurften  der  Befreiung  von 
jeglicher  Bindung.  Auch  das  Peitschen  selbst  weist  auf  ein 
Hinaustreiben.  Bestimmteren  Anhalt  gewährt,  wie  mich  dünkt, 
der  Scholiast  zu  luvenal  II  142  in  solio  si  qua  posi  ipsum 
(sc.  omen,  das  in  dem  Schlage  bestand)  descenderit,  statim 
concipit.  Das  reinigende  Bad  in  der  Wanne  (solium),  das 
privater  Aberglaube  zufügte,  hat  wohl  einen  Zweck  npch  dem 
Austreiben  des  Unsegens,  nicht  aber  nach  dem  Einziehen  des 
Segens.  Die  beste  Parallele  bietet  der  bereits  von  Mannhardt 
(a.  a.  0.  S.  141)  herangezogene  peruanische  Brauch:  am  Pitua- 
Feste  geißelte  sich  das  "Volk  "^mit  dem  Rufe,  daß  alles  Böse 
fortgehen  solle;  zugleich  wusch  man  sich  in  einem  Flusse,  um 
jegliches  Übel  zu  entfernen'.  Auch  sei  darauf  verwiesen,  daß  die 
alten  Perser  eine  übermäßig  menstruierende  Frau  zur  Entsühnung 
ihres  'sündigen  Körpers'  verprügelten  (StoU  a.  a.  0.  S.  842). 

Die  Beziehung  der  Luperealien  auf  das  Frauenleben  hatte 
zur  Folge,  daß  die  Frauengottheit  Juno,  in  deren  Kult  die 
Ziege  eine  Rolle  spielte,  in  nähere  Verbindung  mit  jenem 
Feste    trat.»      Nach    der    bei    Ovid    (fast.  II  429  ff)    erzählten 

^  So  z.  B.  Sal.  Reinach  CuUes,  mythes  et  rel.    I  180.  468. 

*  Wissowa  118  f.  Umgekehrt  fälschlich  C.  Pascal  a.  a.  0.  162  s. 


Lupercalia  497 

Legende  veranlaßte  Juno  Lucina  die  Geißelung  der  Frauen, 
das  dabei  verwendete  Bocksfell  hieß  amicidtim  lunonis,  Juno 
erhielt  dieselben  Beinamen  wie  Faunus  (s.  u.  S.  498),  die  Stiftungs- 
tage  der  Tempel  der  in  ein  Ziegenfell  gekleideten  Juno  Lanuvina 
und  der  Juno  Lucina  fallen  auf  die  den  Lupercalia  benach- 
barten Kaienden;  aber  in  dem  Feste  selbst  hat  Juno  keine 
Stelle  gefunden,  eine  für  die  Zähigkeit  des  Kultes  charakte- 
ristische Tatsache.* 

Die  Wirkung  der  Lupercalia  wurde  vorzüglich  in  der  Frucht- 
barkeit der  Frauen  erblickt.  Aber  man  blieb  dabei  nicht  stehen. 
Fruchtbarkeit  des  Menschen  und  der  Erde  ist  seit  Urzeiten  in 
Parallele  zueinander  gesetzt  worden,  und  so  kann  es  nicht 
wundernehmen,  daß  bei  Lydus  de  mens.  p.  83,  7  Wuensch 
von  Fruchtbarkeit  des  Bodens  als  Zweck  des  Festes  die  Rede 
ist.  Vgl.  Ovid  fast.  II  32  omne  solum  lustrant  idque  piamen 
hahent,  und  die  unwillige  Äußerung  des  Gelasius  (a.  a.  0.  p.  602), 
daß  die  Lupercalia  ja  gar  nicht  gegen  sterilitas  terrarum  ein- 
gesetzt wären.^  Und  derselbe  Gelasius  (a.  a.  0.  p.  599.  601) 
kämpft  gegen  den  Glauben,  daß  die  Vernachlässigung  des  deus 
Februarius  Krankheiten  hervorrufe,  einen  Glauben,  der  uns 
deutlich  zeigt,  wie  sehr  die  Feier  den  Charakter  einer  reini- 
genden Begehung  schlechthin  angenommen  hat,  den  Cha- 
rakter einer  lustratio.  Diese  Entwicklung  wird  nicht  nur  durch 
die  Austreibung  der  Unfruchtbarkeit  bedingt  sein,  sondern  auch 
durch  den  Umlauf  um  den  Palatin,  der  nach  dem  Verblassen  des 
alten  Sinnes  als  Analogon  der  mannigfachen  lustrationes  aufgefaßt 
werden  mußte,  wie  es  denn  auch  bereits  Varro  klar  ausspricht 
(1. 1.  VI  34) :  Itcpercis  midis  liistratur  antiquum  oppidum  Palati- 
niim  gregibus  humanis  cinctum.  Jetzt  nennt  man  von  den  zur 
Verwendung  kommenden  Sühnmitteln,  den  februa,  das  Fest 
fehruatio  und  den  Tag    dies   febrnatiis  (Varro  1.  1.  VI  13),  und 

*  Vgl.  auch  die  gute  Bemerkimg  Mannhardts  a.  a.  0.  S.  86. 

*  Vgl.  die  parallele  Entwicklung  des  Faunus  bei  Serv.  Georg.  I  10 
Faunus  quod  frugibus  faveat. 

Archiv  f.  BeUgiosswigsenschaft  Xm  32 


498  Ludwig  Deubner 

Faunus  und  Juno  erhielten  die  entsprechenden  Beinamen  Fehruus, 
Februa,  Februarius,  FehruUs  u.a.  (vgl.  Wissowa  a.a.O.  S.  119). 
Und  dieser  Moment,  da  der  Sühnegedanken  im  Bunde  mit  dem 
seltsamen  Aufzug  der  Luperci  das  Fest  zur  populärsten 
ßeinigungsfeier  des  Jahres  machte,  ist  wohl  derjenige,  in  dem 
das  Pontifikalkollegium  entscheidendes  Interesse  an  der  Sache 
nahm  (Wissowa  a.  a.  0.  S.  445,  5)  und  der  Flamen  Dialis  als  sein 
Vertreter  zur  Beteiligung  an  der  Feier  der  Lupercalia  ab- 
geordnet wurde.  Bei  aller  Analogie  aber  bleibt  die  Urbedeutung 
der  Lupercalia  von  der  einer  lustratio  verschieden,  und  darum 
kann  man  die  Luperci  weder  mit  den  griechischen  qjUQ^axoC 
vergleichen  (Crusius,  Rh.  M.  39,  1884,  164  ff.),  noch  mit  den 
Opfertieren  der  Suovetaurilia  (Unger  a.  a.  0.  S.  56.  60). 

Wir  haben  die  Wandlung  des  alten  Hirtenfestes,  das  die 
Herde  vor  dem  Wolf  zu  schützen  bezweckte,  in  eine  Sühnfeier 
sich  vollziehen  sehen.  Es  scheint,  wir  können  noch  einen  letzten 
Markstein  auf  der  Bahn  seiner  Entwickelung  bezeichnen. 

3 

Plutarch  im  Leben  des  Romulus  21  schildert  die  Vor- 
gänge beim  Feste  der  Lupercalia  wie  folgt:  öcpartovöi  (die 
Luperci)  yaQ  cclyccsy  slra  ^SiQaxCav  övolv  ocjth  ysvovg  ttqoö- 
ccx^svtav  avtotg,  6t  iihv  rjfiayiisvri  iitt%aiQa  xov  ^Btayxov  &Lyyd- 

VOVÖiV,  StSQOL  d'  CCJtO^ttTtOVÖiV  SV&Vg,  6Q10V  ßeßQsyfisvov 
ydXaxrv  utgoö^BQOvtsg.  ysXav  dh  Sei  tä  ^SLQccxia  }isrä  X'^v 
dnö^a^iv.  Darauf  schneiden  sie  sich  Riemen  aus  den  Bocks- 
fellen und  vollziehen  den  Umlauf. 

Es  ist  vorab  auf  das  entschiedenste  zu  betonen,  daß  die 
beiden  erwähnten  Jünglinge  vornehmen  Geschlechts  (affö  yivovg^), 
deren  Stirn  mit  einem  blutigen  Messer  berührt  und  mit  milch- 
getränkter Watte    abgewischt    wird,   und    die    dann    auflachen 

'  Diese  prägnante  Bedeutung  von  yivog  findet  sich  nicht  nur  sonst 
bei  Plutarch  (Synkr.  Lysanders  u.  Sullas  2;  coniug.  praec.  p.  141»-  «)» 
sondern  auch  bei  anderen  Schriftstellern,  vgl.  die  Lexika. 


Lupercalia  499 

müssen,  mit  den  Luperci  keineswegs  identisch  sind:  der  Wort- 
laut des  Plutarch  zeigt  das  dentlicL  Es  geEt  also  nicht  an, 
jene  Jünglinge  gar  als  die  magisiri  der  beiden  alten  Sektionen 
der  Sodalität  zu  bezeichnen,  wie  das  Hild  tut  (bei  Dar.-Sagl. 
a.  a.  0.  p.  1401),  und  die  phantastischen  Schlüsse,  zu  denen 
Mannhardt  über  das  Wesen  der  iisigaxia  gelangt,  sind  schon 
darum  hinfällig,  weil  auch  er  sie  als  die  eigentlichen  Anführer 
der  umlaufenden  Schar  betrachtet  (a.  a.  0.  S.  77).  Mannhardt 
erklärt  die  Jünglinge  wie  die  Luperci  für  Vegetationsdämonen,] 
eine  Deutung,  die  gar  nicht  diskutiert  werden  kann,  weil  die 
Luperci  zu  dem  Gedeihen  des  Getreides  höchstens  eine  sekundäre 
imd  späte  Beziehung  haben  (vgl.  oben  S.  497  und  Fowler  a.  a.  0. 
p.  316).  Nicht  besser  ist  der  Vorschlag  von  Marquardt,  der 
im  Anschluß  an  Schwegler  (a.  a.  0.  363  f.)  in  dem  Jünglingsritus 
den  Gott  selbst  als  einen  verschlingenden  Wolf  symbolisiert 
und  durch  ein  stellvertretendes  Opfer  gesühnt  werden  läßt 
(a.a.O.  S.  443 f.). 

Was  bedeutet  denn  nun  aber  jener  merkwürdige  Ritus? 
Fernzuhalten  sind  zunächst  alle  die  Bräuche,  in  denen  Blut  als 
ein  irgendwie  förderndes  Zaubermittel  verwendet  wird.'  Denn  in 
allen  solchen  Fällen  hat  das  sofortige  Wiederabwischen  des 
Blutes  keinen  Sinn.  Eher  könnte  man  an  einen  Sühnritus 
denken,  wie  ihn  bei  Apollon.  Rhod.  IV  704  ff.  Kirke  nach  dem 
Morde  des  Absyrtos  an  lason  und  Medea  vollzieht  (vgl.  Fowler 
a.  a.  0.  p.  315):  die  Hände  der  Mörder  werden  mit  dem  Blute 
eines  Ferkels  begossen  und  darauf  mit  Wasser  wieder  rein  ge- 
waschen. Wir  hätten  es  dann  mit  einem  jener  Riten  zu  tun, 
in  denen  man  ein  Abstraktum  dadurch  fortschafft,  daß  man 
es  zuerst  in  concreto  darstellt  und  hinterher  dieses  dem  Ab- 
stractum   gleichgesetzte  Concretum   aufhebt  oder  tilgte.     Aber 

1  Vgl.  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2065. 

*  Eine  gute  Parallele  liefert  Plin.  n.  h.  28,  42 :  man  beschleunigte 
eine  Geburt,  indem  man  die  Gebärende  umgürtete  und  hinterher  die 
Gürtung  unter  Hersagung  einer  entsprechenden  Formel  wieder  löste. 

32* 


y 


500  Ludwig  Deubner 

auch  diese  Auffassung  macht,  wie  schon  Fowler  hervorgehoben 
hat,  Schwierigkeiten.  Weniger  unpassend  wäre  in  diesem  Falle 
das  Lachen  (zu  schroff  Schwenck  a.  a.  0.  S.  140),  jedoch  ganz 
unverständlich  bliebe  das  Messer,  das  man  doch  nicht  gut  als 
ein  bequemes  Vehikel  für  das  Auftragen  des  Blutes  in  Anspruch 
nehmen  kann.  Eben  dieses  Messer  weist  auf  symbolische  Tötung: 
man  hätte  die  Stirn  der  Jünglinge  damit  ritzen  können,  wie 
man  alljährlich  im  Heiligtum  der  Artemis  Tauropolos  zu  Halai 
einen  Mann  als  Schlachtopfer  zum  Altar  führte  und  ihm  mit 
einem  Schwert  die  Haut  des  Halses  ritzte,  damit  etwas  Blut 
floß  (Eur.  Iph.  Taur.  1458  ff.);  aber  man  war  noch  milder,  das 
aufgeschmierte  Blut  machte  auch  die  Ritzung  überflüssig.  Aus 
römischem  Kultgebrauch  kann  als  Parallele  für  solche  symbolische 
Tötung  das  Bestreichen  des  Opfertieres  mit  dem  Messer  an- 
geführt werden,  das  ich  in  diesem  Sinne  und  nicht  als  Bann- 
zauber (Blecher  De  exUspicio,  RGrW  II 236 ;  Wissowa,  Deutsche 
Literaturzeitung  1907,  16)  auffasse;  denn  da  der  opfernde  Priester 
oder  Magistrat  die  eigentliche  Schlachtung  dem  vicümarins  über- 
lassen muß,  so  ist  zu  erwarten,  daß  er  sich  zwischen  dem  Vor- 
opfer und  der  Darbringung  der  exta  an  der  Tötung  des  Tieres 
wenigstens  symbolisch  beteilige,  vgl.  auch  Wissowa  llel.  d.  I\. 
S.  352.  Jene  symbolische  Tötung  der  Jünglinge  nun  ist  meist 
als  die  Ablösung  eines  Menschenopfers  aufgefaßt  worden,  vgl. 
die  Literatur  bei  Schwegler  a.  a.  0.  S.  363,  20;  Marquardt  a.  a.  0. 
S.  443,  11 ;  Unger  a.  a.  0.  S.  70,  s.  auch  Lefebure  a.  a.  O.p.  74.  Aber 
hierbei  ist  wiederum  das  Abwischen  des  Blutes  völlig  unverständ- 
lich und  nicht  minder  das  Lachen,  das  freilich  nach  Lippert  (a.  a.  0. 
II  564)  die  'willige  Hingabe'  der  Opfer  bezeugen  soll !  Der  Luper- 
calienritu"s"hät  also  schon  diesetwegen  aus  den  Belegen  aus- 
zuscheiden, die  Samter  gegen  Wissowa  für  die  Existenz  römischer 
Menschenopfer  zusammenstellt  (Archiv  f.  Religionsw. X  1907,375). 
Samter  beruft  sich  auf  Diels,  der  den  Ritus  Sibyll.  Bl.  S.  69,  2  be- 
handelt, aber  ich  bin  nicht  einmal  sicher,  ob  Diels,  wenn  er  bei 
diesei;  Gelegenheit  von  den  Symbolen  der  Substitution  spricht,  den 


Lupercalia  501 

Ersatz  für  ein  dereinst  tatsächlich  Torhandenes  Menschenopfer 
meint  K  Es  bleibt  nur  eine,  bereits  von  Mannhardt  (a  a.  0.  S.  99  f.) 
erkannte  Möglichkeit,  die  symbolische  Tötung  mit  dem  folgen- 
den Abwischen  und  Lachen  sinngemäß  zu  verbinden:  die  Deutung 
auf  eine  symbolische  Tötung  und  Wiedererweckung,  auf  eine 
Wiedergeburt.  Eine  genaue  Parallele  ist  nicht  zur  Stelle,  aber 
die  von  Mannhardt  aus  deutschem  Glauben  belegte  Vorstellung, 
daß  die  Toten  und  was  mit  ihnen  in  Berührung  kommt  nicht 
lachen,  reicht  hin  um  seine  These  zu  empfehlen :  Xachen  ist 
also  ein  symbolischer  Zug  für  das  Eingehen  der  Seele  in 
menschliches  Wesen,  menschliche  Gestalt  und  Empfindung'. 
Vielleicht  darf,  wie  schon  Mannhardt  vermutete,  auch  die  Milch 
in  dem  Sinne  verstanden  werden,  daß  sie  als  Xahrung  der  Neu- 
geborenen zur  Verwendung  kommt,  wenn  auch  in  starker 
symbolischer  Abschwächung.  In  den  Wiedergeburtszeremonien 
der  Attismysterien  wurde  den  zu  neuem  Leben  Erstandenen 
Milch  dargereicht:  ig;'  olg  llagslai  xai  örecfavoL  xal  xgbg  Toug 
d^eovg  olov  indvodog  (Sali,  philos.  4;  Hepding,  Attis  S.  197), 
der  Jubel  der  Wiedergeborenen  bietet  zu  dem  Lachen  der  Jüng- 
linge eine  gewisse  Analogie.  Milch  und  Honig  erhielten  die  in 
ein  neues  Leben  eintretenden  Täuflinge  der  altchristlichen  Kirche, 
vgl  Usener,  Rh.  Mus.  57,  1902,  183  ff.^  Dieterich,  Mithrasliturgie 
S.  171,  hat  auch  den  alten  dionysischen  Spruch  sgicpog  kg  yäXa 
BTtstov  auf  ein  Milchbad  zur  Wiedergeburt  gedeutet,  und  diese 
Deutung  wäre,  falls  sie  zutrifft,  für  uns  besonders  wichtig,  weil 
wir  auch  hier  eine  stärkere  Abblassung  der  Symbolik  vor  uns 
hätten.  Daß  Wolle  verwendet  wurde,  um  das  Blut  von  der 
Stirn  der  Jünglinge  abzuwischen,  erklärt  sich  vor  allem  aus 
der  Tatsache,  daß  sie  zu  den  vor  dem  Feste   verteilten  februa 

'  "Wenn  Diels  a.  a.  0.  "Wolle  und  Blut  zu  der  kultischen  Verwendung 
von  Fellen  und  "Wollbinden,  sowie  roter  Farbe  in  Beziehung  setzt,  so  ist 
zu  bemerken,  daß  hier  sehr  verschiedene  Anschauungen  wirksam  sein 
köimen,  die  eingehendste  Analyse  erheischen.  Für  die  rote  Farbe  vgl.  z.  B. 
die  Äußerung  von  Gruppe,  Griech.  Myth.  S.  892  •*. 

*  Nur  ist  dies  nicht  Götterspeise,  sondern  die  Nahrung  des  Kindes. 


^ 


502  Ludwig  Deubner 

gehörte  (Ovid  fast.  II  21  f.,  vgl.  auch  Unger  a.a.O.  S.  57).  Sie 
saugt  das  Blut,  das  Symbol  der  Tötung,  auf,  wie  sie  alle  Un- 
reinigkeit  in  sich  aufzunehmen  und  zu  entfernen  vermag. 

Die  beiden  Jünglinge,  an  denen  der  Wiedergeburtsritus 
vollzogen  wird,  sind  Vertreter  der  Gemeinde,  das  hat  bereits 
Unger  (a.  a.  0.  S.  61)  ganz  richtig  bemerkt.  Die  Zweizahl  er- 
klärt sich  wohl  am  ehesten  aus  der  Zweiteiligkeit  der  Soda- 
lität.  Durch  den  Ritus  wird  die  ganze  Gemeinde  wiedergeboren 
zu  neuem  Leben,  also  eine  kathartische  Begehung  in  der 
Form  der  Wiedergeburt.  Wie  kommen  die  alten  Wolfs- 
abwehrer  zu  so  seltsamer  Hantierung?  Und  ist  denn  solche 
Begehung  überhaupt  römisch? 

Ich  glaube  nicht:  denn  ich  kenne  nicht  die  geringste 
Analogie.  Dem  Gedanken  v.  Domaszewskis  (Archiv  f.  Religionsw. 
XII  1909,72  =  Abh.  zur  röm.  Rel.  S.  222),  der  den  Durchzug 
des  Heeres  durch  die  Porta  Carmentalis  als  ein  Geboren- 
werden zu  einem  neuen  Zustand  faßt  und  daraus  den  Namen 
des  Tores  erklärt,  vermag  ich  nicht  zu  folgen  (vgl.  auch 
Wissowa,  Deutsche  Literaturzeitung  1909,  2633f.).  Überhaupt 
halte  ich  es  nach  allem,  was  wir  von  Wissowa  über  den 
Charakter  der  römischen  Religion  gelernt  haben,  für  aus- 
geschlossen, daß  derartige  Vorstellungen  römischem  Denken 
entkeimen  könnten.  Eine  normale  lustratio,  die  den  Unheils- 
stoff aufsaugt  oder  fernhält,  ist  eine  schlichte  Prozedur,  eine 
so  tiefsinnige  Symbolik,  wie  die  oben  betrachtete,  setzt  eine 
Disposition  des  religiösen  Denkens  voraus,  die  wir  am  Römer 
nicht  kennen. 

Der  Ritus  würde  uns  verständlich,  wenn  er  hellenistischer 
Kathartik  entstammte  und  erst  in  verhältnismäßig  später  Zeit 
dem  altrömischen  Feste  zugefügt  wäre.  In  der  religiös  erregten 
Welt  des  Hellenismus  mit  ihrer  'Unzahl  von  Sühnungsakten 
und  Weiheriten'  (Kaerst,  Gesch.  des  hellenist.  Zeitalters  111,245) 
ist  für  solche  Ideen,  wie  sie  dem  Wiedergeburtsritus  zugrunde 
liegen,  der  richtige  Platz.     Eine  schlagende  Analogie  vermag 


Luper  calia  503 

ich  nicht  beizubrinoren.  Hinweisen  will  ich  nur  auf  die  von 
Dieterich  (Mithrasl.  S.  160)  besprochene  Stelle  des  Plutarch 
(qu.  R.  5),  nach  der  ein  Totgeglaubter  wie  ein  Neugeborener 
Ton  Frauen  gebadet  und  gewickelt  wird  und  die  Brust  nimmt, 
um  rituell  wiedergeboren  zu  werden,  sowie  überhaupt  auf 
Dieterichs  Ausführungen  über  mystische  Wiedergeburt  (a.  a.  0. 
134  ff.).  Manche  von  diesen  Gedanken  und  Vorstellungen 
werden  schon  früherer  Zeit  zugeschrieben  werden  dürfen,  wenn 
sie  auch  erst  für  die  Kaiserzeit  überliefert  sind  (vgl.  auch 
Hepding,  Attis  RGW  I  200).  unsere  Kenntnis  dieser  Dinge 
ist  lückenhaft  genug. 

Und  nun  überlege  man,  daß  Plutarch  allein  a.  a.  0.  den 
Wiedergeburtsritus  erwähnt.  Er  steht  weder  bei  Dionys  noch 
bei  Servius,  um  von  den  Stellen  zu  schweigen,  die  nur  Einzel- 
heiten bringen,  und  was  besonders  schwer  wiegt:  er  steht  nicht 
bei  Ovid,  der  im  übrigen  als  das  vollständigste  Repertorium 
für  die  Riten  des  Festes  betrachtet  werden  kann.  Es  wäre 
unbegreiflich,  wenn  er  den  Ritus  in  seinen  Quellen  vorgefunden, 
oder   gar  mit  eigenen  Augen  gesehen,   und   übergangen  hätte. 

Hierzu  kommt  ein  Weiteres.  Plutarch  allein  bezeugt  an 
drei  Stellen  (Rom.  21;  qu  R.  68.111),  daß  die  Luperci  an  den 
Lupercalia  einen  Hund  opferten.  Was  soll  diese  Dublette 
neben  dem  oben  besprochenen  Bocksopfer?  Hild  (bei  Dar. 
Sagl.  a.  a.  0.  p.  1401)  erschien  diese  Tatsache  so  auffallend, 
daß  er  die  Möglichkeit  einer  Konfusion  erwog.  Und  was  soll 
der  Hund  am  Faunusfeste?  Preuners  Gleichsetzung  von 
Hund  und  Wolf  (Hestia-Yesta  S.  389,3)  und  seine  Theorie 
des  Zusammenfließens  verschiedenartiger  Elemente  imd  Sym- 
bole speziell  in  italischer  Mythologie  dürfte  heute  kaum  An- 
hänger finden,  und  mit  Mannhardts  Roggenhund  (a.a-0. 102ff.) 
können  wir  ebensowenig  rechnen,  wie  mit  der  Erklärung 
Prellers,  daß  der  Hund  wegen  seiner  feinen  Witterung  dem 
dämonischen  Wesen  des  Faunus  zu  entsprechen  schien  (Preller- 
Jordan  1 390).    Sieht  man  sich  nach  Hundeopfem  im  römischen 


504  Ludwig  Deubner 

Kulte  um,  so  finden  wir  ein  solches  zunächst  im  privaten  Kulte 
der  chthonischen  Genita  Mana  (Wissowa,  Rel.  S.  196;  Otto  a.a.O. 
Sp.  2065)  und  als  Beschwichtigungsopfer  vor  der  Ausführung  not- 
wendiger ländlicher  Arbeiten  an  Feiertagen  (ebd.  S.  1 63).  Von  hier 
führt,  wie  es  scheint,  kein  Weg  zu  der  Erklärung  des  Hunde- 
opfers der  Lupercalia.  Denn  wenn  man  auch  bei  dem  zweiten 
Falle  auf  den  Sühnegedanken  hinweisen  wollte,  so  fehlt  es 
doch  bei  den  Lupercalia  an  der  entsprechenden  Voraussetzung 
einer  Handlung,  die  man  hinterher  ungestraft  unternehmen 
will.^  Und  überhaupt  scheinen  in  diesen  privaten  Opfern 
die  Hunde  oder  Hündlein  keine  von  anderen  Opfertieren 
spezifisch  unterschiedene  Rolle  gespielt  zu  haben.  Etwas  Der- 
artiges erwarten  wir  aber  bei  dem  Hundeopfer  der  Lupercalia, 
weil  es  neben  dem  Bocksopfer  einen  Pleonasmus  darstellt. 
Ebensowenig  helfen  uns  die  staatlichen  Hundeopfer  an 
den  Robigalia  und  an  dem  Augurium  canarium  (ebd.  162  f.). 
Mit  vollem  Recht,  glaube  ich,  sieht  Wissowa  in  den  rötlichen 
Hunden,  die  bei  Gelegenheit  des  Augurium  geopfert  werden, 
*ein  Symbol  des  die  Saaten  verheerenden  Sonnenbrandes'  (vgl. 
auch  Otfr.  Mueller,  Prolegomena  S.  195f.;  Gundel  De  steUarum 
appellatione,  RGW  HI  134  s.);  das  heißt  dann  aber  nichts 
anderes,  als  daß  man  in  Gestalt  der  Hunde  die  ihnen  gleich- 
gesetzte Sonnenglut  vernichten,  unschädlich  machen  will.  Und 
da  nun  weiter,  wie  Wissowa  betont,  zwischen  dem  Augurium 
canarium  und  den  Robigalia  ein  enger  Zusammenhang  besteht, 
so  wird  man  auch  das  Hundeopfer  der  Robigalia  analog  auf- 
fassen müssen:  der  Hund  war  hier  die  konkrete  Erscheinungs- 
form des  zu  vernichtenden  Getreiderostes.  Das  findet  seine 
Bestätigung  durch  die  Angabe  des  Ovid  (fast.  IV  908),  daß  an 
den  Robigalia  nicht  nur  ein  Hund,  sondern  auch  ein  Schaf 
dargebracht  wurde.     In  ältester  Zeit  vernichtete  man  mit  dem 

*  Otto  a.  a.  0.  Sp.  2066  bringt  das  Hundeopfer  mit  dem  von  ihm 
unrichtig  angenommenen  chthonischen  Charakter  der  Lupercalia  in  Zu- 
sammenhang. 


Lupercalia  505 

Hunde  den  Rost  —  man  sieht,  daß  es  rituelle  Tötung  ohne 
Adressaten  geben  kann  — ,  später  als  sich  die  Vorstellung 
eines  Gottes  Robigus  ausgebildet  hatte,  erhielt  dieser  als 
Geschenkopfer  ein  Schaf.  Das  alte,  ganz  anders  geartete 
Hundeopfer  blieb  daneben  bestehen;  auch  hier  vermögen  wir 
die  verschiedenen  Schichten  des  religiösen  Denkens  mühelos 
von  einander  abzuheben.  Die  staatlichen  Hundeopfer  also,  dies 
leuchtet  ein,  machen  das  Hundeopfer  der  Lupercalia  auch  nicht 
verständlicher. 

Xun  berichtet  Plutarch  an  derselben  Stelle,  wo  er  das 
Hundeopfer  erwähnt  (qu.  R.  68.  111),  daß  solche  Opfer  typisch 
griechische  Reinigungsopfer  wären:  (68)  rqt  dh  xvvi  advxeg 
as  exog  eliislv  "EXXrjvsg  ixQävro  xal  xQävxai  ys  pi'ixQi  vvv 
evioi  6(fuylG)  TCQog  rovg  xa&uQ^ovg.  Beispiele  für  diesen 
Gebrauch  liefert  Schoemann-Lipsius,  Griech.  Altert.  II  374,  vgl. 
Rohde,  Psyche  'II  407;  Nilsson,  Gr.  Feste  S.  405,  3.  Wir  haben 
also  auch  hier  wieder  einen  Ritus,  der  sich  aus  griechischer  Vor- 
stellung ungezwungen  erklärt,  während  seiner  Herleitung  aus  römi- 
schem Glauben  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen,  auch  dieser 
Ritus  ist,  wenn  griechisch,  ein  kathartischer,  auch  er  ist  nur 
bei  Plutarch  überliefert.  Der  Schluß  scheint  mir  bündig:  beide 
Riten  sind  gleichzeitig  aus  griechischem  Brauche  übernommen 
worden.  Es  hat  einmal  eine  Erweiterung  der  Lupercalia  in  dem 
Sinne  stattgefunden,  daß  man  den  im  Laufe  der  Entwickelung 
allmählich  ausgeprägten  Charakter  des  Sühnfestes  durch  Ein- 
führung kathartischer  Begehungen   dokumentarisch   bestätigte. 

Um  dieses  zur  vollen  Wahrscheinlichkeit  zu  erheben, 
bedürfen  wir  des  Nachweises  eines  parallelen  Vorganges.  Ein 
solcher  ist  von  H.  Schenkl  aufgezeigt  worden,  in  den  Rom. 
Mitt.  XXI  1906,  213flP.  Er  geht  aus  von  Martial  IV  64,  16f. 
d  qiiod  virgimo  cruore  gaudet  Annae  pomiferum  nemus  Peren- 
nae,  in  welchen  Worten  auf  eine  Lustration  durch  Umführung  • 
einer  menstruierenden  Jungfrau  hingedeutet  wird.  Die  Sitte  M 
ist   Ovid    unbekannt,    und    Columella,    der    sie    erwähnt,    be- 


y 

506  Liidmg  Deubner        C    » 

zeichnet  sie  als  Dardaniae  artes  (X  SfSS).  Also  auch  hier  ein 
ausdrücklich  als  griechisch  bezeichneter  späterer  Zusatz  zu  alt- 
römischem Kult,  und  wieder  schweigt  Orid. 

Eine  Einzelheit  findet  vielleicht  jetzt  ihre  Erklärung.  Nach 
dem  bei  Plut.  Rom.  21  aus  Butas  geschöpften  Bericht  liefen 
die  Jünglinge,  an  denen  die  Wiedergeburtszeremonie  vollzogen 
wurde,  mit  den  Luperci  um  den  Palatin:  xal  tqsxslv  rovg 
«jro  ysvovg  toitg  ifiJtodCovg  rvjttovtag.  Möglich  ist,  daß  eine 
Konfusion  vorliegt,  die  bei  der  mehrfachen  Filiation  der  Über- 
lieferung nicht  Wunder  nehmen  würde.  Liefen  sie  aber  wirklich 
mit,  so  ist  ein  derartig  unorganischer  Anschluß  an  die  alte 
Sodalität  der  Luperci  eben  nur  dann  erklärlich,  wenn  der 
Ritus  mit  den  Jünglingen  dazu  trat,  als  der  Umlauf  längst 
petrifiziert  war.  Da  mochten  sie  dann  mitlaufen  und  mit- 
schlagen. 

Haben  wir  ein  Mittel,  den  Zeitpunkt  näher  zu  bestimmen, 
an  dem  die  Erweiterung  durch  die  griechischen  Riten  erfolgte? 

Der  Bericht  des  Plutarch  (Rom.  21),  der  den  Jünglings- 
ritus und  das  Hundeopfer  erwähnt,  geht  zurück  auf  den  mehr- 
fach erwähnten,  obskuren  Butas.  Dieser  hatte  eine  ätiologische 
Darstellung  der  römischen  Vorzeit  in  elegischem  Versmaß 
und  griechischer  Sprache  gegeben  und  darin  auch  die  Luper- 
calia  behandelt.  Plutarch  zitiert  dieses  Werk  erst  nach  der 
Schilderung  des  Ritus  für  einige  Details  der  ätiologischen 
Legende.  Daß  es  jedoch  auch  jener  vorausgehenden  Schilderung 
zur  Grundlage  gedient  hat,  ist  äußerst  wahrscheinlich.  Viel- 
leicht verrät  dies  auch  der  Ausdruck  dnb  ysvovg,  der  sowohl 
in  der  Schilderung  des  Ritus  wie  in  dem  Zitat  aus  Butas  be- 
gegnet (vgl.  auch  Mannhardt  a.  a.  0.  S.  78).  Jedoch  wird 
dieses  Kriterium  hinfällig,  wenn  man  eine  lateinische  Mittel- 
quelle annimmt  (s.  u.  S.  508).  Von  dem  Werk  des  Butas  ist 
nur  noch  einmal  in  der  antiken  Literatur  die  Rede:  Arnobius  V  18 
zitiert  Butas  in  causalihus.  Ein  derartiges  ätiologisches  Ge- 
dicht führt  in  die  Zeit  des  Properz,  der  'in  Übereinstimmung 


Lnpercalia  507 

mit  den  Neigungen  des  Kaisers'  (Rothstein,  Properz  II  165) 
dieselben  Stoffe  behandelte.  Dann  ist  es  in  der  Tat  möglich, 
daß  unser  Butas  mit  dem  Freigelassenen  des  jüngeren  Cato 
identisch  ist  (vgl.  Knaack  PW  u.  Butas  Nr.  2),  der  in  Plntarchs 
Cato  (70)  bei  der  Schilderung  der  letzten  Stunden  des  Freiheits- 
helden erwähnt  wird.  Aus  der  Art,  wie  dieser  Butas  von  Cato 
als  Bote  benutzt  wird,  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  er 
damals,  im  Jahre  46,  noch  ein  junger  Mann  gewesen  sein 
müsse;  er  kann  also  sehr  wohl  unter  Augustus  gedichtet  haben. 

Nun  wissen  wir,  daß  Augustus  die  Lnpercalia  erneuert 
hat:  Sueton  erzählt  es  (Aug.  31).  Es  ist  einleuchtend,  daß 
die  Restitution  des  Festes  gleichzeitig  mit  der  Wiederherstellung 
des  Lupercal  erfolgt  ist,  Ton  der  das  Monumentum  Ancyranum 
berichtet  (IV  2  p.  20  Diehl).  Diese  Wiederherstellung  fällt 
in  den  Anfang  der  kaiserlichen  Regierung  (Wissowa  a.  a.  0. 
S.  67).  Augustus'  reformatorische  Tätigkeit  in  Kultangelegen- 
heiten knüpfte  zunächst  an  den  graecus  ritus  an,  er  saß  im 
Vorstand  der  XFrin,  ehe  er,  ziemlich  spät,  Pontifex  maximus 
wurde  (Wissowa  ebd.).  Alles  schließt  sich  zusammen:  die 
kathartischen  Riten  sind  wahrscheinlich  von  Augustus  bei  der 
Restauration  des  Festes  zugefügt  worden.  Und  wie  einstmals 
Tubero  (bei  Dion.  I  80)  es  vermutlich  unternahm,  die  Dreizahl 
der  durch  die  Luperci  lulii  vermehrten  Sektionen  der  Sodalität 
ätiologisch  zu  begründen^,  so  war  wohl  unter  Augustus  dem 
Dichter  Butas  der  Auftrag  geworden,  den  neuen  Sühnritus  in 
die  Vorzeit  Roms  zurückzuspiegeln,  was  er  denn  auch  — 
ungeschickt  genug  —  ausführte.  Wie  gut  es  Augustus  ver- 
stand, seine  kultlichen  Arrangements  gelehrt  begründen  zu 
lassen,  das  lehren  am  unzweideutigsten  die  Säkularspiele 
(Wissowa  a.  a.  0.  364  f),  und  auch  bei  diesen  handelt  sich's 
ja  um  griechischen  Import. 

Plutarch  hat  die  Darstellung  der  neuen  Riten  nicht  direkt 
dem  Butas    entnommen.     Sein    Gewährsmann    war    der    König 

'  Vgl.  Unger  a.  a.  0.  S.  51,  1. 


508  Ludwig  Deubner    Lupercalia 

Juba  von  Numidien.  Ob  wirklich,  wie  Litt  (Rb.  Mus.  59, 
1904,  611f.  614)  meint,  das  Material  des  Butas  dem  Juba 
durch  Verrius  vermittelt  wurde,  wird  sich  schwerlich  mit 
Sicherheit  entscheiden  lassen.  Gerade  eine  griechische  Quelle 
mußte  dem  griechisch  schreibenden  Juba  bequem  sein.  Jeden- 
falls hat  der  den  Butas  benutzende  Autor  das  Zitat  aus 
C.  Acilius  beigefügt  und  seine  eigenen  Betrachtungen  über  die 
Bedeutung  des  Hundeopfers  daran  geschlossen,  wenn  nicht 
diese  letzten  Worte  von  Plutarch  selbst  herrühren.  Für  Ovid 
ergibt  sich,  da  er  von  dem  Wiedergeburtsritus  schweigt,  daß 
er  höchstwahrscheinlich  dem  Yarro  folgt  (vgl.  Willemsen  De 
Varronianae  doctrinae  apud  fastorum  scriptores  vestigiis,  Bonner 
Diss.  1906,  32  ss.),  nicht  dem  Verrius,  der  den  Brauch  wohl 
sicher  gekannt  hat.  Für  seine  Arbeitsweise  ist  es  nicht  un- 
wichtig festzustellen,  daß  er  wenigstens  in  diesem  Falle  sich 
nicht  bemüht  hat,  das  von  ihm  beschriebene  Fest  selbst  kennen 
zu  lernen  (vgl.  auch  Teuffei -Schwabe,  Gesch.  d.  röm.  Lit. 
P  570,  6;  Schanz,  Gesch.  d.  röm.  Lit.  II  1  ^  S.  215). 

Ich  hoffe,  in  der  Hauptsache  die  Linien  richtig  gezogen  zu 
haben.  Auch  die  Feste  haben  ihre  Fata.  Dieses  hat  seine  Zähigkeit 
bewiesen  bis  in  die  spätesten  Zeiten  des  sinkenden  Altertums 
(Wissowa  a.  a.  0.  S.  175).  Am  Anfang  aber  steht  ein  schlichter 
Brauch  einfältiger,  um  das  Dasein  kämpfender  Urmenschen. 
Ihres  angstvollen  Gemütes  dumpfe  Erschütterung  hat  Kreise 
gezogen  durch  die  Jahrhunderte. 


Nordkaukasische  Steingeburtsagen 

Von  A.  von  Lö'vris  of  Menar  in  Berlin 

Ein  kurzer  Aufsatz  in  der  russischen  Zeitschrift  „Etnogra- 
ficeskoje  Obozrenije"  20,  1908  Nr.  3,  88  —  92  über  kaukasische 
Parallelen  zum  phrygischen  Mythus  von  der  Geburt  aus  Stein 
oder  Erde  veranlaßt  mich  die  folgende,  schon  vor  längerer  Zeit 
beendete  kleine  Untersuchung  in  etwas  veränderter  Gestalt  zu 
veröfifentUchen. 

In  der  genannten  Zeitschrift  teilt  N.  S.  T.  (die  Initialen 
scheinen  einen  bekannten  russischen  Forschemamen  zu  decken) 
zwei  Sagen  der  Cecenzen  und  eine  der  Osseten  mit,  die  von  der 
Geburt  des  Helden  aus  einem  Stein,  den  menschlicher  Same 
befruchtete,  berichten.  N.  S.  T.  erinnert  an  den  phrygischen 
Mythus  vom  hermaphroditischen  Wesen  Agdistis^  aus  dem 
Kreise  der  Kybelemythen  und  Vsevolod  Miller  wiederholt  hierzu 
in  einer  Anmerkung*  seinen  bereits  in  den  achtziger  Jahren 
aufgestellten  Vergleich  mit  Diorphos  und  dessen  Vater  Mithras, 
die  beide  gleichfalls  von  Felsen  geboren  worden  sind.  Diese 
und  andere^  hierhergehörende  Mythen  zeigen  in  dem  Haupt- 
punkte eine  Übereinstimmung  mit  den  erwähnten  nordkau- 
kasischen Sagen,  und  N.  S.  T.  vermutet  daher,  daß  ursprünglich 
auch  in  den  kaukasischen  Überlieferungen  der  Befruchter  ein 
Gott  und  das  Produkt  des  geschwängerten  Steines  ein  Zwitter- 
geschöpf gewesen  seien.  Gestützt  wird  diese  Annahme  durch 
einige  Funde  von  bronzenen  menschlichen  Figuren  in  Ossetien, 
die  es  wahrscheinlich  machen,  daß  die  Vorstellung  von  herma- 
phroditischen Göttern  einst  auch  dort  nicht  unbekannt  gewesen 

*  Vgl.   Roschers     Äusführl.  Lexikon  I,    100;     Gruppe    Griechische 
Mythologie  II,  1528. 

*  Etnograf.  Obozrenije  20,  3,  90  Anm.  1. 

'  Vgl.  Röscher  I,  1303  u.  III,  1,  1030  über  Erichthonios  und  Orion. 


510  -^-  ■^on  Löwis  of  Menar 

ist.  Die  interessanten  Folgerungen  sclieinen  sehr  beachtenswert, 
und  es  ist  zu  hoffen,  daß  N.  S.  T.  sein  Versprechen,  auf  die 
von  ihm  angeregten  Fragen  noch  einmal  zurückkommen  zu 
wollen,  bald  einlösen  wird. 

Meinerseits  möchte  ich  im  Folgenden  auf  eine  andere 
Quelle  hinweisen,  aus  der  die  nordkaukasischen  Sagen  geflossen 
sein  könnten,  und  die,  wie  mir  scheint,  noch  weit  detailliertere 
und  wesentlichere  Übereinstimmungen  mit  den  Sagen  aufzu- 
weisen hat  als  die  erwähnten  kleinasiatischen  Mythen. 

Von  den  nordkaukasischen  Varianten  sind  mir  noch  weitere 
vier  bekannt.  Ich  teile  im  Folgenden  alle  Fassungen  teils  gekürzt, 
teils    in    vollständiger   Übertragung    mit,    weil    die    russischen 
Sammelwerke     und    Zeitschriften,    in    denen    die    Varianten 
veröffentlicht   sind,    dem    deutschen   Leser    schwer   zugänglich 
sein    dürften,    und    beginne    mit    zwei    kabardinischen    Über- 
lieferungen, von   denen  Kabard.  I^   einige  Zusätze  enthält  unc 
in  Einzelheiten  verderbt  ist.    In  Kabai'd.  IP  heißt  es :    „Sosrukoa 
Mutter  Setanej  ging  eines  Tages  an  den  Fluß  um  Wäsche  zi 
reinigen.     Am    andern  Ufer  des  Flusses   saß  ein  alter  Hirt« 
der  sein  Vieh  weidete.     Als  er  jenes  Weib  erblickte,  -verliebt 
er  sich  in  ihre  weißen  Brüste  und  sprach:  «Mein  Same  geht 
zu   dir,  Setanej!»  —  Als   er  seinen  Samen  unwillkürlich  siel 
ergießen  ließ,   geriet  dieser  in  einen  Stein;  Setanej   bemerkt« 
es,   trug  den  Stein  in  ihr  Haus  und  verwahrte  ihn  in  einer 
Kasten.      Der    Stein    ward    von  Tag    zu   Tag    größer;   Setanef 
kannte  die  Zeichen  einer  Schwangerschaft,  und  als   der  Stein     | 
groß  geworden  und  neun  Monate  verflössen  waren,  brachte  sie     | 
ihn   in   die  Schmiede,  als  er  aber  zu  bersten  begann,  ließ  sie 
ihn  vom   Schmied  zerschlagen.     Dieser   blickte   in   das  Innere 
hinein:   ein  kleiner  Knabe  lag  darin.     Mit  der  Zange   packte 
ihn  der  Schmied  an  beiden  Hüften  und  zog  ihn  hervor.    Nach- 

*  Sbornik  svedenij  o  KavTcazskich  gorcach  V,  1871,  3,  61. 

*  Sbornik  materialov  dl'a  opisan.  mestn.  i  plem.  Kavkaza  XII,  1891, 
Kabardin.  Texte  [b.  3  ff. 


Nordkaukasische  Steingeburtsagen  511 

dem  man  den  B^naben  herausgenommen  hatte,  erzog  ihn  Setanej 
bis  er  ein  Mann  geworden  war.  Diejenigen  Stellen  der  Hüfte, 
an  denen  die  Zange  ihn  berührt  hatte,  wurden  knöchern.^" 

Die  Sage  berichtet  von  der  übernatürlichen  Entstehung 
eines  Helden,  was  in  dem  Märchen-  und  Sagenschatz  aller 
Völker  bekanntlich  ein  außerordentlich  beliebtes  Motiv  ist,  und 
sie  stellt  die  Geburt  als  die  Folge  eines  Zustandes  geschlechtlicher 
Erregung  dar,  der  zur  Befruchtung  eines  Steines  führt.*  Es 
ist  nachzutragen,  daß  Kabard.  I  das  Bild  weiter  ausschmückt 
und  erzählt:  auch  die  Frau  habe  zu  gleicher  Zeit  am  eigenen 
Leibe  die  Zeichen  der  Schwangerschaft  verspürt,  doch  kommt 
es  zu  keiner  Entbindung,  die  der  Steingeburt  parallel  liefen. 
Dagegen  hat  die  Fassung  eine  Erklärung  für  die  Unverletzlich- 
keit des  Knaben,  von  der  in  den  Sagen  oft  die  Rede  ist,  in- 
dem sie  berichtet,  daß  er  glühend  wie  das  Feuer  aus  dem  Stein 
gekommen  und  in  den  Fluß  getaucht  worden  sei  und  dadurch 
einen  Körper  hart  wie  Stahl  erhalten  habe^,  doch  fehlt  in  der 
Überlieferung  das  Wachsen  des  Steines  und  das  Motiv  der 
einen  verwundbaren  Stelle  an  den  Hüften. 

Eine  dritte  Sage  findet  sich  bei  den  Cecencen.*  Sie 
berichtet  zwar  von  der  Geburt  des  Stammvaters  der  noch  heute 
existierenden  Familie  Gazdijev  oder  Bazorkin,  doch  stimmt 
die  Sage  in  allen  wesentlichen  Punkten  so  genau  mit  den 
Varianten  über  die  Geburt  des  Helden  Sosruko  überein,  daß 
an  einer  späteren  Übertragung,  die  Ahnenstolz  veranlaßt  haben 
mag,,  nicht   gezweifelt  werden  kann,     Cec.  I   lautet  folgender- 

'  D.  h.  verwundbar,  vgl.  Sbornik  mater.  XII,  1,  46. 

*  In  Kabard.  I  läßt  der  Hirte  durch  Selbstbefriedigung  verbunden 
mit  Exhibition  seinen  Samen  in  den  Stein  gelangen. 

'  Ahnlich  heißt  es  von  Aehilleus,  worauf  Professor  F.  v.  der  Leyen 
mich  aufmerksam  machte,  daß  er  von  Thetis  ins  Feuer  gehalten  worden 
sei,  um  sein  vom  Vater  überkommenes  sterbliches  Teil  zu  tügen  (vgl. 
Mannhardt  WFKII,  52). 

'  =  Cec.  I,  Etnograf.  Obozr.  XHI,  1901,  1,  36  f.  (=  N.  S.  T.  in  Etnogr. 
Obozr.  XX,  3,  89.) 


512  ^-  ^on  Löwis  of  Menar 

maßen:  „In  der  Nähe  einer  Ortschaft  befand  sich  ein  gespaltener 
Stein.  Ein  junger  Mann  legte  sich  auf  den  Stein  und  ent- 
schlummerte. Zu  dieser  Zeit  ging  das  von  ihm  geliebte  Mädchen 
an  ihm  vorüber;  er  erblickte  sie  im  Traum  und  wohnte 
ihr  bei:  sein  Same  gelangte  in  den  Spalt  des  Steines.  Als  der 
junge  Mann  aufgestanden  war,  schloß  sich  der  Stein,  und  an 
seiner  Oberfläche  bildete  sich  ein  Knollen.  Der  junge  Mann 
fragte  wissende  Leute:  «Was  bedeutet  das?»  Man  antwortete 
ihm,  er  solle  stets  auf  den  Stein  achtgeben.  Der  Knollen 
wuchs  seitdem  fortwährend,  im  neunten  Monat  barst  er,  und 
ein  Kind  kam  aus  ihm  hervor.  —  Von  diesem  Kinde  stammen 
die  Gazdijev  (oder  Bazorkin)  ab." 

Das  interessante  Traummotiv  in  dieser  Variante  ist  sicherlich 
ein  wirkungsvoller  Zug  und  gibt  eine  nicht  ganz  so  rohe 
Erklärung  der  Steinbefruchtung,  als  sie  die  oben  besprochenen 
Fassungen  bieten,  allein  ist  es  ursprünglich?  Ich  glaube  im 
weiteren  Verlauf  der  Untersuchung^  diese  Frage  bejahen  zu 
dürfen,  weil  die  Analogien  jüdischer  und  persischer  Über- 
lieferungen dafür  zu  sprechen  scheinen.  Hier  möchte  ich  noch 
bemerken,  daß  das  Traummotiv,  wie  ich  von  ärztlicher  Seite 
belehrt  werde,  rein  physiologisch  genommen  die  ursprünglichere 
und  typischere  Erklärung  für  den  Samenerguß  gibt.  Die  Vor- 
gänge in  den  übrigen  Fassungen  schildern  geradezu  gewisse 
Schwäche-  und  Krankheitszustände  und  weisen  mehr  auf  eine 
singulare  Entstehung  der  betreffenden  Züge,  die  vielleicht  da- 
zu bestimmt  waren,  das  vergessene  Traummotiv  zu  ersetzen. 

Bemerkenswert  ist  auch  die  Anschauung  von  dem  Einfluß 
der  nahen  Geliebten  auf  den  Schläfer;  hier  scheint  der  Versuch 
einer  rationalen  Erklärung  für  die  Entstehung  des  Traumes 
gemacht  zu  sein.  Den  Traumgeliebteu  kennen  ja  auch  dii^ 
Märchen;  sie  steigern  jedoch  die  Fern  Wirkung  ihrem  Stile  getreu 
bleibend  bis  ins  Ungemessene  und  erzählen  etwa,  daß  ein 
Jüngling    und    in    fernen    Landen    ein    schönes   junges  Weib 

'  Vgl.  unten  S.  621. 


Nordkaukasische  Steingeburtsagen  513 

einander  gleichzeitig  im  Traume  erblicken  und  in  Liebe  zum 
unbekannten  Bilde  entbrennen.^ 

Cec.  IP  hat  an  Stelle  des  Traummotivs  denselben  Zug 
wie  Kabard.  II.  Die  Fassung  lautet:  „Ein  Mädchen  melkte 
Kühe;  nahe  dem  Orte  wo  dieses  geschah,  befand  sich  ein 
blauer  Stein.  Ein  junger  Mann,  der  jenes  Mädchen  liebte, 
setzte  sich  auf  den  Stein  und  während  er  auf  die  Geliebte 
schaute,  geriet  er  in  Erregung,  wodurch  in  ihm  etwas  geschah, 
und  daraus  entstand  im  Stein  der  Fötus  Soska-Solsas.  Die 
heilige  Frau  Seli-Sata  wußte  davon;  sie  ging  hin,  zerschlug 
den  Stein  und  hob  den  Soska-Solsa  heraus." 

Es  sind  uns  ferner  noch  drei  osetische  Fassungen'  über- 
liefert, die  in  Einzelheiten  von  einander  abweichen.  So  erzählt 
Oset.  I,  daß  eine  Frau  mit  Namen  Satana  ihre  Hosen  auf 
einem  Steine  ausgebreitet  hatte,  auf  die  Vastirdzi  harnte. 
Dadurch,  heißt  es,  gelangte  in  den  Stein  die  Seele  des  nach- 
maligen Helden  Sozriqo.*  —  In  der  lückenhaften  Überlieferung 
Oset.  II  ist  es  die  Frau  des  Helden  Xämits,  die  mit  ihrer 
Wäsche  beschäftigt  ist.  Ein  Hirte  auf  der  anderen  Seite  des 
Flusses  verliebt  sich  in  sie,  lehnt  sich  an  einen  Stein,  —  und 
in  dessen  Innern  entsteht  der  Knabe  Soslan,  der  durch  (Waschen  ? 
mit)  Wolfsmilch  unverwundbar  gemacht  wird. 

Oset.  III  ersetzt  in  echt  märchenhafter  Weise  den  Fluß 
durch  das  Schwarze  Meer  und   erzählt,  daß  der  Hirte  Tel'ves 

1  Vgl.  Rohcle  Griech.  Boman  1876,  l^'fiF.  Gruppe  Griech  Mythol.  II, 
1357  Anm.  2.    Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  15,  325  Anm.  2. 

*  Etnograf  Ohozr.  13,  1,  35  (=N.  S.T.  in  Etnogr.  Obozr.  20,  3,  89). 
»  Oset,  I  =  Miller  Osetinskije  etjudy  I,  1881,  29f.  =  N.  S.  T.  Etnogr. 

Obozr.  20,  3,  90,  übers,  von  Hübschmann  Zeitschrift  d.d.  morgenl.  Ge- 
seUsch.  41,  1887,  547.  Oset  II  =  Miller  a.  a.  0. 147.  Oset.  III  =  Sbornik 
sved.o  Kavkaze  I,  Tiflis  1871,  S.  172,  vgl.  Miller  Etnogr.  Obozr.  20, 
3,  90  Anm.  1. 

*  Über  die  hier  genannten  Personen  aus  den  osetischen  Heldensagen 
findet  man  nähere,  aber  dem  jetzigen  Stande  der  Forschung  nicht  mehr 
genügende  Zusammenstellungen  bei  Hübschmann  Zeitschr.  d.  d.  morgenl. 
Gesellsch.il,  525 flF.  and  534. 

Archiv  f.  BeligionswiBienBchaft  Xm  33 


514  -^^  ■^oJi  Löwis  of  Menar 

vom  jenseitigen  Ufer  aus  die  Satana  erblickte  und  ihr  unziem- 
liche Anträge  machte:  „Satana  war  einverstanden,  doch  infolge 
der  riesigen  Entfernung  fiel  der  Same  auf  einen  Stein,  aus 
dem  Batraz  geboren  wurde."  Eine  recht  ausführliche,  ja  sogar 
mit  Nebensächlichem  etwas  belastete  Fassung,  die  mit  den 
beiden  Kabardinischen  Varianten  viele  Motive  gemeinsam  hat, 
ist  im  Kreise  Pjatigorsk  bei  den  Bergtataren  aufgezeichnet^, 
deren  Sitze  unmittelbar  neben  denen  der  Kabardiner  liegen: 
„Es  lebte  einst  ein  Hirte  mit  Namen  Sodzuk.  Ais  er  einmal 
am  Ufer  des  Flusses  Edil'  Schafe  weidete,  erblickte  er  auf  der 
gegenüberliegenden  Seite  die  schöne  Fürstin,  die  wahrsagende 
Satanoj.  die  (dort)  Wäsche  wusch.  Sodzuk  lehnte  sich  an 
einen  Stein,  betrachtete  mit  Wohlgefallen  die  blendendweißen 
Hände  (der  Fürstin)  und  ließ  sich  von  ihrer  Schönheit  hin-  M 
reißen.  Da  bildete  sich  auf  dem  Stein,  an  den  er  sich  lehnte, 
der  Fötus  eines  Kindes.  Die  wahrsagende  Satanoj  fühlte 
dies  auch  selbst  und  war  sehr  erfreut,  weil  sie  kinderlos  war. 
Mit  größter  Sorgfalt  begann  sie  den  Zeitpunkt  zu  berechnen, 
an  dem  man  das  Kind  aus  dem  Stein  würde  herausnehmen 
können.  Im  Laufe  dieser  Zeit  bestellte  Satanoj  beim  Schmiede 
Deuet  60  Hämmer.  Als  der  letzte  Tag  der  Frist  angebrochen 
war,  bat  sie  60  junge  Leute  sie  zu  begleiten,  nahm  eine 
Menge  Getränke  mit  sich  und  ging  zu  dem  ihr  bekannten 
Stein,  auf  dem  sich  schon  eine  große  Beule  gebildet  hatte. 
Die  jungen  Leute  machten  sich  sofort  ans  Werk:  mit  großer 
Vorsicht  behauten  sie  die  Beule  von  allen  Seiten.  Als  nun 
Satanoj  sah,  daß  nur  noch  eine  ganz  dünne  Schicht  nach- 
geblieben war,  machte  sie  in  der  Zeit  der  Erholung  alle  jungen 
Leute  trunken,  wodurch  sie  rasch  einschliefen;  darauf  behaute 
sie  behutsam  die  nachgebliebene  Schicht  und  nahm  ohne  be- 
sondere   Schwierigkeit    das    Kind    heraus,    das    einen    Schopf 

^  Sbornik  mater.  dl'a  opis.  mestn.  i  plem.  Kavkaza  I,  2,  37  f.  In  den 
Besitz  einer  Abschrift  von  dieser  Variante  bin  ich  durch  die  liebeuswürdiga 
Vermittlung  des  Herrn  Priv.  -  Doz.  Rudnev  in  St.  Petersburg  gelangt. 


Nordkaukasische  Steingeburtsagen  515 

ähnlicli  einem  Kamm  auf  dem  Kopfe  hatte  und  Beine  so  dünn, 
wie  ein  Bratspieß.  Satanoj  übergab  das  Kind  den  Dzinn  zur 
Erziehung,  die  seinen  ganzen  Korper  wie  Stahl  härteten,  aus- 
genommen die  beiden  Kniee.  So  wuchs  das  Kind  mit  Namen 
Sosruko  bei  den  Geistern  heran,  die  es  in  jeder  Nacht  der 
Satanoj  brachten,  damit  sie  es  sehen  konnte.  Das  dauerte  so 
lange,  bis  es  groß  geworden  war." 

Die  vorliegenden  Varianten  der  Steingeburtsage  geben  ein 
in  den  Hauptpunkten  einheitliches  Bild.  Wenn  man  einige 
Abweichungen  übergeht  und  Nebensächliches  abstreift,  bleibt 
als  typisches  Schema  etwa  Folgendes:  die  Schönheit  einer 
Frau  bewirkt  in  ihrem  Bewunderer,  der  auf  einem  Steine  sitzt 
oder  liegt,  eine  geschlechtliche  Erregung.  Des  Mannes  Same 
gelangt  in  den  Stein,  befruchtet  ihn  und  erzeugt  im  Innern 
einen  Knaben,  der  nach  neun  Monaten  durch  Zerschlagen  des 
Steines  zur  Welt  befordert  wird. 

Im  Mittelpunkt  der  Sagen  steht  der  wunderbare  Stein,  dem 
weiblich-anthropomorphe  Eigenschaften  zugesprochen  werden. 
Diese  Vorstellung  ist  eine  weitverbreitete^  und  sicherlich  primitive, 
fiirGebirgsvölker,  wie  alle  an  Steine  anknüpfenden  Sagen,  vielleicht 
besonders  charakteristisch.  Analog  der  Überzeugung  von  einem 
Kommen  des  Menschen  aus  der  Erde  ist  bei  manchen  Völkern 
an  eine  Entstehung  aus  Fels  und  Stein  geglaubt  worden.' 
Das  war  sicherlich  auch  die  Grundlage  für  die  nordkaukasischen 
Sagen,  wenn  sie  auch  deutliche  Spuren  des  Verfalls,  des  all- 
mählichen Verschwindens  dieses  Glaubens  bei  aufsteigender 
kultureller  Entwicklung  seiner  Träger  zeigen.  So  berichten 
die  Überlieferungen  nicht  von  der  Geburt  des  ersten  Menschen 
oder  von  der  Entstehung  eines  Volkes  oder  Stammes',  son- 
dern   von  einem  bestimmten,   besonders    bewunderten  Helden, 


'  Tylor  Anfänge  der  Cultur,  übers,  von  Spengel  und  Poske  II,  163. 
'  A.  Dieterich  Mutter  Erde  64. 

'  Nur   in  Cec.  I  ist  der   Steinentspningene  auch  der  Stammvater 
einer  bestimmten  Familie. 

88* 


516  A.  von  Löwis  of  Menar 

dem  Ahnenstolz  und  Verehrung  wohl  gerne  einen  ähnlich 
übernatürlichen  Ursprung  zuweisen  mochten,  wie  er  einst  vom 
Stammvater  des  ganzen  Volkes  geglaubt  worden  war.  Die 
Sagen  unterstreichen  das  Verschwinden  dieses  Glaubens  in 
naiv -anschaulicher  Weise  noch  dadurch  besonders,  daß  sie  be- 
richten, nur  die  „heilige  Frau  Setanej"  oder  „wissende  Leute" 
kannten  das  Geheimnis  des  gebärenden  Steines,  dem  das 
profanum  vulgus,  die  jüngere  Generation  verständnislos 
gegenüberstand. 

Der  auffallende  Zug  der  Sagen  von  der  Befruchtung  des 
Steines  durch  menschlichen  Samen  findet  sich,  wie  oben 
bereits  erwähnt,  auch  in  kleinasiatischen  Mythen.  Wichtiger 
jedoch  für  die  Genesis  der  kaukasischen  Überlieferungen  scheint 
mir  eine  Sage,  die  Liebrecht  in  seinen  Anmerkungen  zu 
Gervasius  von  Tilbury  nach  d'Herbelot  zitiert^  und  die  folgender- 
maßen lautet^:  Adam  s'etant  endormi,  et  ayant  le  visage  d'Eve 
sa  femme  fortement  imprimee  dam  son  imaginaUon ,  crut 
Verribrasser.  Cette  Image  amoureuse  causa  en  lui  le  meme  effet 
que  la  veritäble  possession  aurait  pu  produire;  de  sorte  que  la 
semence  feconde  de  ce  premier  pere  des  hommes  etant  tomhee  ä 
terre,  ü  s'en  forma  une  plante,  qui  prit  la  figure  humaine  et 
devint  enßn  le  Caiumarath  dont  nous  parlons. 

Hier  findet  sich  das  Traummotiv  wieder,  das  auch  in 
Cec.  I  enthalten  ist^,  doch  ohne  den  Zusatz  vom  Vorbeigehen 
der  Frau.  d'Herbelot  erzählt  die  Sage  nach  einer  alten  Ge- 
schichte oder  einem  Roman  Caiumarath  Natneh  und  meint, 
daß  sie  „mit  den  Träumereien  der  Rabbinen"  viel  Ähnlichkeit 
habe.  Das  ist  in  der  Tat  eine  durchaus  richtige  Beobachtung, 
die  wir  sogleich  bestätigt  finden  werden. 

Die  Befruchtung  des  Steines  wird  in  allen  kaukasischen 
Sagen  auf  die  geschlechtliche  Erregung  eines  Mannes  zurück- 

*  Otia  Imperialia  S.  70. 

*  In  der  deutschen  Ausgabe  von  d'Hei'belota  Orientalischer  Bihliothfk 
(HaUe  1786)  II,  78.  »  Vgl.  oben  S.  612.     . 


Nordkaukasische  Steingeburtsagen  517 

geführt,  die  durch  die  Schönheit  einer  Frau  hervorgerufen 
worden  ist.  Hier  bewirken  also  die  Reize  eines  lebendigen 
weiblichen  Wesens  dasselbe,  wie  die  Schönheit  eines  steinernen 
Frauenbildnisses  in  den  spätjüdischen  Traditionen  vom  Anti- 
christ. Satan  erzeugt  allen  einschlägigen  Überlieferungen  zu- 
folge (mit  Ausnahme  des  Midrasch  vajoscha)  den  Armilus  = 
Antichrist  aus  einem  Stein  ^,  dem  mehrere  Zeugnisse  die  Gestalt 
eines  schönen  Mädchens  zuschreiben.* 

Die  Übereinstimmung  der  beiden  Sagenkreise  geht  in  den 
wichtigsten  Zügen  bis  in  die  kleinsten  Details.  Man  vergleiche 
Eisenmenger  II,  705,  wo  nur  an  Stelle  Satans  die  Gemeinschaft 
der  Gottlosen  tritt:  „Es  wird  gesagt /dass  in  Rom  ein  Marmel- 
stein sey/ welcher  die  Gestalt  einer  schönen  Jungfrauen  habe/ 
und  nicht  durch  Menschenhände  gemacht  /  sondern  von  dem 
heiligen  gebenedeyeten  Gott  durch  seine  Ej-afft  also  erschaffen 
sey:  und  dass  die  gottlosen  Bösewichter  unter  den  Völckern 
der  Welt  solchen  St^in  erhitzen /und  mit  demselben  Unzucht 
treiben  werden /und  Gott  ihren  Saamen  in  demselben  be- 
wahren/und aus  demselben  eine  Creatur  erschaffen  /  und  ein 
Kind  formiren  werde/und  dass  der  Stein  sich  nachgehends 
spalten /und  aus  demselben  die  Gestalt  eines  Menschen 
kommen  werde  /  welcher  Armillus  heisset.  Dieser  wird  der 
Widersacher  seyn  /  welchen  die  Yölcker  den  Antichrist 
nennen."  Auch  eine  Episode  aus  der  Yirgilsage^  gehört  in 
den  gleichen  Anschauungskreis,  sowie  die  Erzählung  vom 
Astrolabius  in  der  Kaiserchronik.* 

'  ßousset  Der  Antichrist.    Gott.  1895,  S.  68. 

*  Sam.  Krauß  Das  Leben  Jesu  nach  jüdischen  Quellen.  Berlin  1902, 
S.  217.  291  Anm.  10.    Eisenmenger  Entdecktes  Judentum  II,  705.  709. 

'  Vgl.  die  Fassung  bei  Praetorius  Anihropodemus  Plutonicus  etc.  I, 
Magdeb.  1666,  S.  250  =  Liebrecht  in  Pfeiffers  Germania  X,  414.  Krauß 
a.  a.  0.  217  u.  291  Anm.  11.  Güdemann  Geschichte  des  ErzieMmgstcesens 
etc.  Wien  1884,  S.  220  u.  332  f.,  dazu  die  Literaturangaben  S.  332  Anm.  15.  — 
Nach  Krauß  dürfte  eine  Beeinflussung  der  Virgilsage  durch  die  Armilus- 
sage  wahrscheinlicher  sein,  als  der  umgekehrte  Fall,  den  Güdemann 
verteidigt.  *  Vers  13  117  ff. 


518  A..  von  Löwis  of  Menar 

Über  d'Herbelots  Quelle  habe  ich  nichts  Näheres  in  Erfahrung 
bringen  können,  doch  enthält  sie  augenscheinlich  Motive  der 
persischen  Eschatologie,  die  sorglos  durcheinander  geworfen 
sind.  Nur  ist  es  hier  nicht  Adam,  dessen  Same  auf  die  Erde 
fällt  und  eine  Pflanze  erzeugt,  sondern  aus  Gayomards,  des 
parsischen  Urmenschen  Samen  entsteht  40  Jahre  nach  seinem 
Tode  das  erste  Menschenpaar,  Mashya  und  Mashyana  in  Ge- 
stalt einer  Reivaspflanze.^ 

Wenn  nun  d'Herbelot  in  seiner  vermutlich  persischen 
Quelle  Anklänge  an  rabbinische  Traditionen  findet,  so  bestätigt 
sich  das  vollkommen,  wenn  man  die  spätjüdischen  Berichte 
vergleicht,  die  über  die  Zeit  der  Trennung  Adams  von  Eva 
handeln.  Da  heißt  es  z.  B.,  daß  Adam  mit  zwei  weiblichen 
Geistern,  die  sich  zu  ihm  gesellten,  Teufel  und  Nachtgespenster 
erzeugte^  und  weiter,  daß  während  dieser  Zeit  die  gottlose 
Lilith  zu  Adam  gekommen  sei  „wider  seinen  Willen  /  und 
wurde  von  ihm  .  .  .  beschlaffen  /  und  gebar  von  ihm  viel 
Teuffei  /  Geister  und  Nachtgespenster".'  Wie  dieses  „wider 
seinen  Willen"  aufzufassen  ist,  dafür  erhalten  wir  sofort  die 
Erklärung,  es  seien  dies  alles  Traumgespenster*,  die  sich  die 
hilflose  Lage  des  Menschen  im  Schlaf  zu  nutze  machten  um 
ihn  zu  schädigen  und  für  sich  selbst  Nachkommenschaft  zu 
erzielen,  indem  sie  ihn  zu  einem  fiktiven  Beischlaf  nötigten 
Es  sind  also  erotische  Traumsagen,  von  denen  die  persische 
und  die  jüdischen  Überlieferungen  berichten,  wie  sie  ja  auch 
anderen  Völkern  nicht  fremd  sind.^ 

^  Bundehesh  cap.  15.  Windischmann  Zoroastr.  Studien  hrsg.  von 
Spiegel,  1863,  S.  213 fF.  Bousset  Hauptprobleme  der  Gnosis  (Gunkel- 
Bousset  Forschungen  etc.  H.  10),  Göttingen  1907,  S.  205.  —  Gayomard 
wird  übrigens  auch  noch  in  einer  anderen  Überlieferung  als  Sohn  Adams 
bezeichnet:  in  Sehir-eddins  Geschichte  von  Tabaristan,  Rujan  u.  Masan- 
deran  (nach  Ferd.  Justi  Iran.  Namenbuch,  Marburg  1895,  S.  109). 

*  Eisenmenger  a.  a.  0.  I  374.  461.  II  412  —  415. 

»  Ebda.  I,  461.  II,  413.  414.         *  Ebda.  II,  409.  422.  423  usw. 

"  Röscher  Ephialtes  9.  17.  30  (in  den  Abhandl.  d.  Sachs.  Ges.  d. 
Wisaensch.  XX,  1900). 


Xordkaukasische  Steingeburtsagen  519 

Während  in  den  iranischen  Quellen  die  Drukhs^  oder 
Drujas^  die  Traumerscheinungen  hervorbringen,  sind  es  der 
jüdischen  Anschauung  nach  Lilith  und  andere  weibliche  Geister. 
Das  sinnliche  Traumbild',  das  ein  jeder  aus  eigener,  sich  öfter 
wiederholender  Anschauung  kannte,  hat  den  Menschen,  auf  je 
tieferer  kultureller  Stufe  er  stand,  desto  stärker  beunruhigt 
und  eine  Erklärung  gefordert;  daß  sie  „übernatürlich"  aus- 
gefallen ist,  stimmt  zu  allem,  was  wir  von  der  mythologischen 
Denkweise  der  Vorzeit  wissen.  Der  zugrundeliegende  Glaube 
dieser  Erklärung  ist  augenscheinlich  folgender:  der  den  Körper 
des  Menschen  im  Schlaf  verlassende  Same  verkommt  nicht 
nutzlos,  sondern  erzeugt  dämonische  Wesen,  wobei  man  sich 
analog  der  wirklichen  Zeugung  einen  weiblichen,  den  Samen 
empfangenden  Teil,  man  mochte  fast  sagen,  zudenken  mußte, 
denn  man  sah  und  fühlte  ihn  ja  mit  lebhafter  Deutlichkeit  im 
Traume.  Die  jüdische  Angelologie  ist  von  der  persischen 
ungemein  stark  beeinflußt,  ja  sogar  zum  größten  Teil  von 
dorther  bezogen,  wie  Kohut  a.  a.  0.  nachgewiesen  hat.  Für 
die  Antichristtradition,  wie  sie  in  den  oben  zitierten  Fassungen 
vorliegt,  läßt  sich  das  wohl  nicht  mit  der  gleichen  Sicherheit 
behaupten,  aber  ist  sie  nicht  auf  demselben  Glauben  begründet 
wie  die  persisch -jüdischen  Anschauungen  über  erotische 
Träume?  Denn  auch  die  Armilussage  berichtet  von  nichts 
anderem  als  Pollutionen  im  Schlaf*,  die  durch  die  Schönheit 
der  Steinfigur  hervorgerufen  werden,  wobei  nur  der  eine  Um- 
stand zunächst  unerklärt  bleiben  muß,  aus  welchem  Grunde 
nämlich  die  Dämonin  durch  das  Marmorbild  einer  Jung- 
frau ersetzt  worden  ist.  Dieser  immerhin  lückenhaft«  Zu- 
sammenhang ist  jedoch  für  die  nordkaukasischen  Überlieferungen 

*  Windischmann  Zoroastr.  Studien  32.  —  Nach  armenischem  Glauben 
sind  es  Teufel,  s.  Haxthausen  Transkaukasia,  Leipzig  1856,  I,  325. 

*  Kohut  Über  die  jüdische  Angelologie  etc.    Leipzig  1866,  S.  60. 
'  Vgl.  Röscher  a.  a.  0.  38  über  ovstgcayfioi,  insomnia  Veneris. 

*  Vgl.  besonders  Jellinek  Bet-ha- Midrasch  II,  60.  Krauß  Lehen 
Jesu  291  Anm.  10. 


520  ■^'  "^^^  Löwis  of  Menar 

von  geringerer  Bedeutung,  da  gerade  sie  der  rabbinischen 
Steintradition  näher  stehen,  als  der  persischen  Sage  vom 
Urmenschen.  Dieses  Zusammentreffen  ist  gewiß  kein  zufälliges, 
denn  die  Geschichte  und  die  Beobachtungen  zahlreicher  Ethno- 
logen bestätigen  es,  daß  jüdischer  Volksglaube  schon  in  sehr 
früher  Zeit  im  Kaukasus  heimisch  und  den  dortigen  Ein- 
geborenen bekannt  werden  konnte.  Bereits  Uslar  und  dann 
Pfaff  und  Seidlitz  hatten  bemerkt,  daß  viele  kaukasische  Völker 
sich  mit  eingewanderten  Juden  stark  vermischt  haben  ^  und  die 
neueren  Forschungen  bestätigen  dieses  nachdrücklich.  Demnach 
sind  die  Juden  spätestens  im  2.,  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  in 
den  Kaukasus  gekommen,  sitzen  um  700  n.  Chr.  in  der  Gegend 
nördlich  von  Derbent  und  haben  sich  einesteils  besonders 
mit  nordkaukasischen  Völkern  (Cecenen,  Lesgiern)  vermischt, 
während  sie  andererseits  bis  auf  die  Neuzeit  gesondert  und  in 
Gruppen  beisammen  wohnen  und  ihrer  Religion  treu  geblieben 
sind.^  Nach  Erckert  ist  die  Provinz  Dagestan  „von  durch- 
weg auffallend  jüdischen  Physiognomien"  eingenommen;  er 
hat  am  Kuban  Juden  angetroffen  und  in  den  Gegenden  nörd- 
lich von  Dagestan  eine  starke  Beimischung  jüdischen  Blutes 
bei  den  Eingeborenen  bemerkt.^  Ferner  berichtet  auch  ein 
Cerkesse,  daß  er  in  der  Lebensweise,  den  Sitten  und  Gebräuchen 
seiner  Landsleute  viel  Ähnlichkeit  mit  den  Juden  gefunden 
habe  ^  Die  Nachweise,  deren  Zahl  sich  noch  leicht  vermehren 
ließe  ^,  bestätigen  somit,  daß  eine,  nur  bisher  leider  noch  nicht 
genauer  untersuchte  Beeinflussung  des  Volksglaubens  nord- 
kaukasischer Stämme  durch  den  der  eingewanderten  Juden 
stattgefunden  hat.  Dafür  scheinen  auch  die  auffallenden  Über- 
einstimmungen der  eschatologischen  Tradition  der  Juden  mit 


^  Ausland  1874  Nr.  45,  S.  897. 

*  Erckert  Der  Kaukasus  und  seine  Völker  1887,  S,  299.  301. 
«Erckert  S.  362. 

*  Vgl.  Seidlitz  im  Ausland  1874  Nr.  46,  S.  897. 

"  Vgl.  noch  Archiv  f.  Anthropol  N,  F.  Bd  VIII,  237  —  246. 


Nordkatikasische  Steingeburtsagen  521 

den  kaukasischen  Steingeburtsagen  zu  sprechen.  Die  Summe 
der  übereinstimmenden  Details  besonders  in  der  Schilderung 
der  Zeugung,  Entwickelung  und  Entbindung  des  Kindes  ist 
so  groß,  daß,  wenn  auch  eine  direkte  Abhängigkeit  nicht  ge- 
sichert erscheint,  die  Möglichkeit  einer  Wanderung  und  Um- 
formung des  Erzählstoffes  nicht  ohne  weiteres  abzuweisen  ist. 
Es  wäre  in  diesem  Falle  der  interessante  Vorgang  zu  be- 
obachten, daß  ein  altes  Motiv  des  Volksglaubens  in  seiner 
inneren  Haltung  auf  fremdem  Boden  der  Sage  angepaßt  und 
zu  einem  schmückenden  Ornament  der  bereits  in  das  Gebiet 
des  Märchens  hinübergleitenden  Geburtsgeschichte  heldischer 
Ahnen  geworden  ist. 

Geht  nun  der  gesamte  Steingeburtsagenkreis  sowohl  auf 
jüdischem  wie  nordkaukasischem  Boden  im  letzten  Grunde  auf 
Traumvorstellungen  und  -Erlebnisse  zurück,  so  erscheint  die 
Vermutung,  daß  unter  allen  kaukasischen  Fassungen  lediglich 
Cec.  I^  in  ihrem  Traummotiv  einen  ältesten  und  für  das  Thema 
wesentlichen  Zug  gewahrt  hat,  nicht  mehr  so  gewagt,  und 
nur  den  Mängeln  der  Überlieferung  wäre  es  dann  zuzu- 
schreiben, daß  die  Feststellung,  wo  und  warum  der  Zug  aus 
dem  Sagenkreise  verschwunden,  nicht  möglich  ist. 

Zum  Schluß  wäre  noch  zum  Vorgang  der  Zeugung  und 
der  Entbindung  aus  dem  Stein  in  den  kaukasischen  Sagen 
einiges  mitzuteilen.  Es  findet  sich  in  fast  allen  Fassungen  die 
Angabe,  daß  der  Stein  mit  Gewalt  geöffnet  werden  muß,  um 
den  im  Innern  entstandenen  Knaben  an  das  Tageslicht  zu 
befördern.  Ahnliches  berichtet  die  Überlieferung  von  der  Ent- 
bindung des  Helden  Batraz,  von  dem  in  Oset.  111  bereits  die 
Rede  war.-  Zahlreiche  Sagen  erzählen  nämlich,  daß  seine 
Mutter    durch    Spucken^,    Anhauchen*    oder    auf  nicht   näher 


*  Vgl  oben  S.  512.  *  Vgl.  oben  S.  514. 

'  Sbomik  sved.o  Kavkaze  I,  Tiüis   1871,   S.  163  f.     Sbomik  sved.o 
KavTiazskich  gorcach  V,  3,  31. 

*  Miller  OsetinsJcije  etjudy  I,  17. 


522  -^-  ^0*1  Löwis  of  Menar 

beschriebene  Weise  ^  am  Rücken  ihres  Gatten  Chamic  ein  Ge- 
schwür hervorbrachte^,  aus  dem  nach  neun  Monaten  Batraz 
herausgeschnitten  werden  mußte.  —  Das  weitverbreitete 
Zaubermittel,  der  Speichel^  des  Menschen  ist  hier  eigenartig 
verwendet.  Zeugende  Ejraft  wird  ihm  in  Sage  und  Märchen 
oft  zugesprochen'^;  in  ihm  oder  lediglich  durch  Anhauchen 
kann  die  Lebenskraft  übertragen  werden.*  Liebrecht  zitiert 
in  seinen  Anmerkungen  zu  Gervasius"  eine  haitische  Parallele, 
die  mit  den  kaukasischen  Sagen  in  dem  hier  in  Frage 
kommenden  Punkt  aufs  Genaueste  übereinstimmt. 


^  Sborn.  sved.  o  KarJc.  gorc.  IX,  2,  8.   Miller  Oset.  et.  I,  148. 

'  Meist  geschieht  es  deswegen,  weil  diese  Frau,  eine  durchaus 
märchenhafte  Gestalt  (Tochter  des  Meerkönigs,  vgl.  Sborn.  sved.  o  KarJc. 
gorc.  IX,  2,  8),  vom  Unfriede  stiftenden  Sirdon  erblickt  worden  ist  oder 
weil  ihr  dieser  das  Schildkrötenhemd  geraubt  hat.  Sie  muß  nun  ihren 
Gatten  verlassen  und  dahin  zurückkehren,  von  wannen  sie  gekommen  ist, 
doch  „übergibt"  sie  vorher  auf  die  angegebene  Weise  ihrem  Manne  das 
von  ihr  bereits  empfangene  Kind. 

'  Wuttke  Der  deutsche  Volksaherglaube'  s.  v.  „Speichel"  und 
„Spucken".  Wundt  Völkerpsychologie  2,  2,  19.  Rohde  Der  griech.  Roman 
1876,  S.  266.  Gruppe  Griech.  Myth.  II,  890  Anm.  4.  Potanin  Vostocnyje 
motivy  164  Anm.  2.  Sborn.  sved.  o  Kavk.  gorc.  Yll,  Anhang  S.  IG.  Etn. 
Obozr.  XIII,  1901, 1,  62  f.  —  Vgl.  auch  oben  S.613,  wo  dem  Harne  Zeugungs- 
kraft zugeschrieben  wird. 

*  F.  V.  d.  Leyen  in  Herrigs  Archiv  114,  5.  Ijiebrecht  Zur  Volkskunde 
79,  304  Anm.  3.  Dähnhardt  Natursagen  I  und  II,  s.  v.  „Speichel". 
Pütanin  a.  a.  0.  264;  derselbe  Ocerki  severo-zapadnoj  MongoUi  IV, 
St.  Petersburg  1889,  277  und  279.  Etn.  Ob.  XII,  1900,  4,  69f.:  aus 
Gottes  Speichel  und  in  einer  Variante  aus  seinem  Husten  entsteht  die 
Quäkerente  (Satan).  —  Ein  Geisterkuß  verursacht  bei  Firdusi  das 
Herauswachsen  zweier  Schlangen  aus  der  Schulter  des  Königs  Sohak, 
vgl.  Buss.  Bevue  23,  1883,  S.  203.  Görres  Heldenbuch  v.  Iran  Berlin 
1820,  I,  18f.  —  Zu  gebärenden  Körperteilen  vgl.  Grimm  MytJioI.*  I, 
466.  473.  Schirren  Wandersagen  135.  Nahe  stehen  diesen  Mythen  die 
Schöpfungen  aus  Körperteilen.  Zu  Grimm  a.  a.  0.  I,  473  über  Imir  vgl. 
die  indischen  Spekulationen,  über  die  Näheres  bei  Bousset  Hauptprobleme 
der  Gnosis  (Forschungen  H.  10  Göttingen  1907)  S.  209 ff.,  bes.  211  Anm.  1. 

^  Bethe  Bhein.  Museum  N.  F.  Bd  62,  462.  Vgl.  Negelein  Archiv 
f.  Bel.-Wiss.Yl,  326  zum  „Einblasen"  der  Seele. 

«  S.  71  Anm.  2. 


Nordkaukasische  Steingebxirtsagen  523 

Dort  sind  es  vier  Brüder,  Ureinwohner  von  Haiti,  die  ruhe- 
los umherirren,  nachdem  sie  durch  Zerbrechen  eines  Kürbisses 
die  große  Sintflut  verursacht  haben.  Sie  bitten  einen  Bäcker 
um  Brot,  dieser  speit  jedoch  voll  Zorn  den  ersten  der  Brüder 
so  heftig  an,  daß  an  diesem  eine  große  Geschwulst  entsteht, 
die  mit  einem  scharfen  Stein  aufgeschnitten  wird  und  ein  Weib 
hervortreten  läßt.  —  Auch  die  Steingeburt  in  Cec.I  (s.  oben  S.512 
und  514),  wo  von  einem  Knollen,  der  sich  auf  dem  Stein  bildet, 
erzählt  wird,  gehört  hierher.  Diese  Fassung  beweist,  daß  der  Stein- 
geburtsagenkreis und  die  „Spuckgeburt"  nicht  ohne  gegenseitige 
Beeinflussung  geblieben  sind,  daß  die  einzelnen  Motive  vertauscht 
und  bald  diesem,  bald  jenem  Kreis  anhaften  konnten.  Die  Sagen 
beweisen  femer  aufs  Schlagendste,  daß  „Speien"  auch  dem  halb- 
kultivierten Nordkaukasier  gleich  „Zeugen"  galt. 

Der  Zug  von  der  gewaltsamen  Befreiung  des  nachmaligen 
Helden  bei  seiner  Geburt  ist  ein  entschieden  typischer  und 
ursprünglicher,  weil  in  fast  allen  Sagen  zu  finden.  Er  fehlt 
nur  in  Cec.  I,  wo  es  heißt,  daß  der  Knollen  auf  dem  Steine 
barst  und  in  der  auch  sonst  sehr  lückenhaften  Fassung  Oset.  HI. 
Dieses  Herausschneiden  oder  -schlagen  finden  wir  auch  in 
Schöpfungsagen  kaukasischer  und  ural- altaischer  Völker.  So 
erzählt  eine  svanetische  Überlieferung,  daß  Gott  zu  Anfang  in 
einem  Felsen  war,  den  er  zerspaltete,  weil  er  es  müde  war 
allein  zu  sein.*  Besonders  aber  ist  es  der  Teufel,  den  man 
sich  steinentsprungen  dachte  und  dem  Gott  durch  Zertrümmern 
des  Steines,  oft  gegen  den  Rat  der  Engel,  zum  Leben  verhilft  ^ 

•  Dähnhardt  Katursagen  I,  32. 

'  Dähnhardt  I,  33  Anm.  1  u.  33;  ebda.  S.  61  wird  Saitan  der 
mordvinischen  Sage  zufolge  aus  einem  Berge  herausgeschlagen;  vgl. 
auch  a.  a.  0.  S.  31  die  georgische  tJberHeferung ,  wo  Sammael  unter 
einem  Blaustein  hervorgeholt  wird.  —  Femer:  Sbom.  mater.  XVII  2,  144 
Anm.  1  (svanet.) ;  Smimov  VotjaJci  (Kazan  1890)  S.  239,  wo  dem  Schaitan 
aus  den  Splittern  des  Steins  Gefährten  entstehen.  —  Die  Sagen,  in  denen 
Satan  durch  Funkenschlagen  aus  Steinen  andere  Teufel  erschaflft  (vgl. 
Dähnhardt  I,  60.  62.  67),  scheinen  zu  sehr  auf  den  Eigenschaften  des 
Feuersteins  zu  beruhen,  um  hier  herangezogen  werden  zu  können. 


524     -A-.  von  Löwis  of  Menar    Nordkaukasische  Steingeburtsagen 

und  somit  die  Stelle  des  Schmiedes  (in  Kabard.  II)  oder  der 
weisen  Frau  Satana  (in  Kabard.  I,  Oset.  I  und  Öec.  II)  vertritt. 
Ich  wage  keine  Vermutung  über  den  Ort  der  Entstehung 
dieser  Sagen  und  möchte  auch  nicht  behaupten,  daß  sich  in 
den  nordkaukasischen  Sagen  Spuren  von  Beeinflussung  nach- 
weisen ließen,  denn  aus  der  Überlieferung  vom  gebärenden 
Stein  konnte  sich  sehr  wohl  die  Anschauung  selbständig  ent- 
wickeln: das  Kind  müsse  aus  der  es  umgebenden  starren 
Steinmasse  mit  Gewalt  befreit  werden.  Allein  jene  Schöpfungs- 
mythen erweisen  die  Stabilität  des  in  Frage  stehenden  Motives 
und  bestätigen  wiederum  den  primitiven  Volksglauben  an  ein 
Kommen  lebender,  in  diesen  Fällen  dämonischer  Wesen  aus 
Stein  oder  Fels,  der  nach  allem  hier  Mitgeteilten  sehr  ver- 
breitet und  im  Bewußtsein  einer  großen  Anzahl  von  Völkern 
fest  haftend  gewesen  ist.  Die  kaukasischen  Sagen  aber  zeichnen 
sich  noch  ganz  besonders  dadurch  aus,  daß  sie  die  lebhafteste 
und  anschaulichste  Wiedergabe  des  Vorganges  der  Entstehung 
aus  Stein  enthalten,  die  überhaupt  denkbar  ist,  denn  sie  er- 
zählen die  Steingeburt  bis  in  geringste  Details  getreu  den 
wohlbekannten  sich  oftmals  wiederholenden  Erfahrungen,  die 
auch  der  primitive  Mensch  bei  der  Geburt  seiner  eigenen 
Kinder  machte.  Diese  charakteristische  Bewahrung  der  ge- 
gebenen nächstliegenden  Analogie  ist  ein  wertvoller  Zug 
unserer  Sagen,  er  verrät  ihr  hohes  Alter  und  ist  wichtig  für 
das  Verständnis  des  Volksglaubens  der  nordkaukasischen  Halb- 
kulturvölker. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae 

Von  Adolf  Jacoby  in  Weitersweiler 

Das  Hauptwerk  über  die  Gottesurteile,  Federico  Patetta's 
Le  Ordalie,  gibt  über  die  Entstehung  und  den  Ursprung  des 
Judicium  offae  folgende  Erläuterung^:  „Judicium  offae  (panis 
adjurati,  casibrodeum,  corsnaed,  nedbraed  (anglosass.),  corbita 
(fris.),  offa  judicialis,  caseus  execratus).  In  questa  prova,  l'ac- 
eusato  doveva  trangugiare  una  quantitä  determinata  di  pane 
e  di  cacio  e  se  non  lo  poteva,  era  convinto.  Se  non  erro,  solo 
le  leggi  anglo  -  sassoni  prescrivono  questa  forma  d'ordalia, 
ma  essa  e  usata  anche  in  Francia,  nella  Frisia,  e  non  e  sco- 
nosciuta  in  Germania,  come  lo  provano  gli  ordines,  e  la  stessa 
espressione,  che  vi  si  mantiene  tuttora:  daß  mir  das  Brot  im 
Halse  stecken  bleibe. 

Wilda,  per  sostenere  l'origine  cristiana  del  Judicium  offae, 
osserva  che  esso  rassomiglia  assai  alla  prova  delle  acque  amare 
del  vecchio  testamento,  ciö  che  e  assolutamente  falso,  sia  che 
si  guardi  i  casi  in  cui  si  usa,  o  il  modo  in  cui  si  compie,  od 
infine  gli  effetti  che  produce.  Si  puö  invece  giustamente  para- 
gonare  alla  prova  del  riso  usata  nell'  India." 

Daß  diese  Herleitung  falsch  ist  und  Wilda,  wenn  auch 
nicht  mit  seinem  Vergleich  mit  der  Probe  des  „verfluchten, 
bittem  Wassers"  Num.  5,12  fg.,  so  doch  Recht  hatte  mit  der 
Annahme  christlichen  Ursprungs  der  Probe  mit  dem  geweihten 
Bissen,  soll  im  folgenden  erwiesen  werden. 

Ebensowenig  aber,  wie  die  Herleitung  aus  Indien,  läßt 
sich  die  andere  von  Kober*  vertretene  Ansicht  halten,  daß  die 
Probe  aus  England  stamme  und  von  da  erst  nach  Friesland, 
Frankreich   und  in   die  Gegenden  des  Unterrheins  kam.     Eine 

*  a,  a.  0.  202.  *  Wetzer  und  Weite  Kirdienlexikon  T*,  922, 


526  ^dolf  Jacoby 

Ahnung  richtiger  historischer  Verhältnisse  deutet  sich  in  Kobers 
Vermutung  an,  daß  proba  offae  und  Judicium  eucharistiae  nahe 
verwandt  und  eine  vielleicht  aus   der  anderen   entstanden  sei. 

1 

Die  Formulare  sind  bekanntlich  am  besten  zusammen- 
gestellt in  der  Sammlung  von  K.  Zeumer,  die  der  hier  gegebenen 
Untersuchung  zugrunde  gelegt  ist^  und  einen  ausreichenden 
Einblick  in  das  ganze  Verfahren  gewährt.  Unter  dem  reichen 
Material  für  die  Gottesurteile  überhaupt  nimmt  die  Probe  mit 
dem  geweihten  Bissen  einen  breiten  Raum  ein. 

Dem  Verdächtigen  oder  Angeklagten  (oder  der  Mehrzahl 
derselben)  wurde  unter  bestimmten  Gebeten  und  Beschwörungen 
Brot  und  Käse  zum  Genüsse  dargereicht.  Konnte  er  die  Elemente 
verschlingen,  so  war  er  unschuldig,  blieben  sie  ihm  in  der 
Kehle  stecken,  so  war  er  damit  erwiesen  und  überführt. 

Es  ist  zunächst  der  Beachtung  wert,  daß  uns  die  Probe 
mit  Käse  und  Brot  so  gut  wie  ausschließlich  bei  dem  Verdachte 
des  Diebstahls  als  Beweisverfahren  entgegentritt,  z.  B.  in  Christi 
nomine  incipiunt  collectas  ad  malis  furtis  reprimendis^  oder 
incipit  probatio  a  cunctis  furtis  probandis^ 

Das  Brot,  das  zur  Probe  verwendet  wird,  soll  Gerstenbrot 
(panis  ordeaceus)  sein;  so  an  vielen  Stellen.  Es  wird  wohl 
auch  bestimmt,  daß  es  trocken  (siccus)  sei^,  oder  bisus^,  auch 
absque  fermento.^ 

So  sind  weiter  auch  für  den  Käse  genaue  Angaben  ge- 
macht. Schafs-  oder  Ziegenkäse  soll  zur  Anwendung  kommen: 
caseus  birbicinus  factus  in  Madio,  formaticus  Maiensis  de  ovibus, 
caseus  caprinus  aridus.'  Gewöhnlich  beträgt  die  Menge  und 
das  Gewicht  der  Elemente  9  Denare.^ 

'  Monumenta  Germaniae  historica  legum  Sectio  V:  Formulae  Mero- 
vingici  et  Karolini  Aevi  599  fg.,  im  folgenden  abgekürzt  MGHP. 
«  MGHF  632.  »  MGHF  638. 

*  a.  a.  0.  635,  5.  »  a.  a.  0.  629, 19.  «  a  a.  0.  681,  40. 

'  a.  a.  0.  629, 19.  631,  40.  686,  6.         »  a.  a.  0.  661. 


Der  Ursprung  des  Judicium  o£Fae  527 

Auf  die  Elemente,  die  zur  Probe  dienen  sollen,  wird  eine 
Inschrift  gesetzt.  Einmal  heißt  es:  hoc  debet  scribi  in  cir- 
cuitu  formatici,  anteqnam  incipiatur  missa  et  antequam 
cultro  incidatiir  et  debet  integer  esse:  „convertetur  dolor  eins 
in  Caput  eins  et  in  verticem  eins  iniquitas  eins  descendet^';  das 
ist  Psalm  7,16.^  Häufiger  ist,  daß  auf  Brot  und  Käse  das 
Vaterunser  geschrieben  wird:  et  antequam  dividantur,  scribe 
„Pater  noster*'  in  utroque  et  postea  sie  debes  benedicere;  oder: 
finita  missarum  sollempnitate,  adportetur  caseus  et  panis  orda- 
ceus  et  inscribatur  in  eo  oratio  dominica  et  presentetur  ante 
altare  in  patena  argentea.*  Im  zweiten  Beispiel  wird  wohl  nur 
auf  das  Brot  das  Gebet  geschrieben,  wie  denn  auch  ausdrücklich 
gelegentlich  nur  für  das  Brot  die  Aufschrift  des  Vaterunsers 
bestimmt  wird.' 

Von  Interesse  sind  die  Gebete  und  Exorcismen  in  den 
Formularen,  besonders  eine  Gruppe,  die  ich  Paradigmengebete 
nenne.  Meine  Beobachtungen  gehen  dahin,  daß  sie  sich  Tor- 
nehmlich  in  den  formulae  judiciorum  ofiae  finden.  Ihre  Eigen- 
tümlichkeit besteht  darin,  daß  sie  eine  Reihe  biblischer,  vor 
allem  apokrypher  Paradigmata  aufzeigen,  wie  Unschuldige  von 
Gott  auf  wunderbare  Weise  gerettet  worden  sind,  Jonas,  Daniel 
in  der  Löwengrube,  Susanna,  und  andere  Wunder,  zumal  auch 
neutestamentliche.    Diese  Gebete  gilt  es  im  Auge  zu  behalten. 

Nach  allen  Anrufungen  und  Beschwörungen  folgt  nun  die 
Probe.  Den  Erfolg  derselben  schildern  die  Formeln  also  nach 
den  Gebeten:  gula  et  lingua  faucis  suae  sint  constrictae  et 
ligatae  .  .  .  inflatas  bucas  cum  spuma  et  gemitu  et  lacrimis  et 
doloribus  faucis  tuae  sint  constrictae  et  obligate,  oder:  nee 
panem  nee  caseum  istum  possit  manducare,  nisi  inflato  ore 
cum  spuma  et  lacrimis  fiat  constrictus.  Ahnlich  sind  die 
Sätze:  panis  vel  caseus  iste  nee  fauces  eins  nee  guttur  transire 
possit,  oder:  tremens  manducans  et  tremebundus  evomat  quod 
accepit ,    te    jubente.      Auch    folgendes    findet    sich:    tremescat 

>a.a.  0,631.         *  a.  a.  0.  635,  6.  668.         ^  a.  a.  0.  671,  22.  681,  27. 


528  Adolf  Jacoby 

tanquam  arbor  tremulus  et  requiem  non  habeat  usque 
dum  confiteatur;  ferner:  palleat,  tremiscat  et  coangustetur 
Spiritus  etc.'  u.a.m. 

Anderes,  was  zur  Vermehrung  der  Feierlichkeit  und  zur 
Verstärkung  ihres  Einflusses  auf  den  Angeschuldigten  diente, 
wie  die  Verwendung  von  Kreuzen  aus  Espenholz,  die  natürlich 
symbolisch -sympathetische  Bedeutung  hatten  (vgl.  oben  arbor 
tremulus)^,  übergehe  ich  als  weniger  bedeutsam  in  diesem 
Zusammenhang. 

Die  ältesten  angelsächsischen  Bestimmungen^  über  den  Probe- 
bissen finden  sich  in  Aethelraeds  Gesetzen,  VI  vom  Kirchenfrieden 
§  18  (bei  Schmid,  Gesetze  der  Angelsachsen  133):  „Und  wenn  man 
einen  Geweihten  mit  Fehde  belegt  und  sagt,  er  sei  Täter  oder 
Ratgeber,  so  reinige  er  sich  mit  seinen  Magen,  welche  die 
Fehde  mit  ihm  tragen  mögen  oder  für  ihn  büßen.  Oder  wenn 
er  keinen  Magen  hat,  so  reinige  er  sich  mit  seinen  Genossen 
oder  faste  zum  Probebissen  und  da  geschehe,  wie  Gott 
beschließt." 

Bei  Cnut,  Geistl.  Gesetze  c.  5  §  3:  „und  wenn  man  einen 
freundlosen  Altardiener,  der  keine  Eideshülfe  hat,  bezichtigt, 
so  schreite  er  zum  Probebissen  und  da  geschehe,  was  Gott 
will,  außer  wenn  er  sich  auf  die  Hostie  reinigen  kann." 

Hier  stehen  also  Probebissen  und  Abendmahlsprobe  neben* 
einander.  Es  wird  auch,  wie  zum  Abendmahlsgenuß,  zum 
Probebissen  gefastet  (s.u.Abschn.4).  Beide  Proben  beziehen  sich 
zunächst  auf  Altardiener,  Geweihte,  wie  das  Judicium  eucharistiae 
nach  dem  Wormser  Konzil  von  868  bei  Diebstählen  in  den 
Klöstern  angewandt  wurde,  wo  die  Mönche  bei  der  Messe  das 
Abendmahl  nehmen  und  sagen  mußten:  corpus  domini  sit  mihi 
ad  probationem,  eine  Art  purgatio  canonica.* 

*  ä.  a.  0.  629,  24.  631,  8.  632,  80.  636,  21  fg.  etc. 

*  Vgl.  dazu  bereits  Fr.  Jureti  obs.  ad  Ivonis  epist.,  MSL  162,  2,  346. 
'  Wilda  in  Ersch  und  Grubers  Encyclopildie,  0;-da?ien  III,  4,.469.:1 

*  Concilia  Gennaniac  von  Hartzheim  II,  fol.  312. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  529 

Ein  bekannter  Fall  mit  tragischem  Ausgang  war  der  des 
Grafen  Godwin,  der  des  Brudermordes  beschuldigt,  an  der  könig- 
lichen Tafel  äußerte,  wenn  er  schuldig  sei,  möge  ihm  der  Bissen 
im  Halse  stecken  bleiben,  was  geschah.^ 

2 

Einiges  Erläuternde  sei  gesagt  über  den  Brauch,  auf  die 
Elemente,  Brot  und  Käse,  Aufschriften  zu  setzen.  Der  Gedanke 
ist,  daß  der  Genießende  gleichsam  die  Formel  und  ihre  Wirkung 
in  sich  aufnimmt.     Wir  stehen  damit  in  der  Magie  drinnen. 

Ist  es  nötig,  im  Rahmen  einer  Untersuchung  über  Gottes- 
urteile auf  das  alttestamentliche  Vorbild  Num.  5  hinzuweisen,  wo 
der  Priester  das  der  Unkeuschheit  verdächtige  Weib  die  in 
Wasser  abgewischten,  zunächst  aufgezeichneten  Fluchformeln 
trinken  läßt?  In  der  Volksmedizin  hat  sich  dieser  Brauch  von 
langer  Zeit  her  erhalten.  Beispiele  finden  sich  bei  Pradel '  oder 
Dieterich  ^  u.  a.  m.  Noch  heute  schreibt  der  Ägypter  die  Zauber- 
formel mit  Tinte  nieder  und  gibt  dann  die  in  Wasser  aufgelöste 
Schrift  dem  Erkrankten  zu  trinken.*  Es  ist  nichts  anderes, 
wenn  zum  Austreiben  der  bösen  Geister  die  päpstlichen  Kon- 
zeptionszettel verzehrt  werden.^ 

Castalli  erwähnt  die  Sitte  der  Jacobiten,  den  Kindern  zur 
Stärkung  der  Seele  Kuchen  mit  aufgeschriebenem  Gebet  zu 
geben:  coUyris  super  quod  oratiunculam  quandam  scribunt 
Jacobitae,  quae  in  psalterio  eorum  extat;  tum  pueris  tradunt 
comedendum.®  Das  erinnert  an  das  andere  Mittel,  ein  Kind 
lernbegierig  zu  machen,  indem  man  das  ARG  auf  eine  Schüssel 
schreibt,  die  für  die  heiligen  Brote  gebraucht  wird,  und  die 
Schrift    in    Wein    aufgelöst    das    Kind    trinken    zu    lassen.'' 

'  Lappenberg  Geschichte  von  England  I,  516.  Du  Gange,  Grlossarium 
V.  Corsned.  *  Eeligionsgesch.  Versuche  und  Vorarbeiten  III,  381. 

^  Dietrich  Ahraxas  159.  *  Der  alte  Orient  VI,  4,  26. 

*  Äbhandl.  d.  Götting.  Akad.  d.  Wiss.  VIII,  1868—69,  161. 
®  Lexicön  syriacum  803.  ''  Pradel  a.  a.  0.  381. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XIII  34 


530  Adolf  Jacoby 

Auch  die  Juden  kennen  jene  Kuchen,  die  man  den  Kindern 
gibt.i 

Wenn  nun  auch  auf  einen  Bissen  slg  jtQÖßanov  ^c3[iCov 
solche  Inschriften  gesetzt  werden  und  dann  dem  Kranken  dieser 
Bissen  eingegeben  wird,^  so  ist  davon  m.  E.  nicht  zu  trennen 
der  Brauch,  auf  die  Hostien  das  Pentagramma  oder  Hexagramm  a, 
die  bekannten  magischen  Zeichen,  oder  auch  ganze  Sprüche 
aufzuprägen.  So  steht  auf  den  Hostien  das  Trishagios  der 
griechischen  Kirche  uyiog  6  O^fdg,  aytog  Iöivqös^  ayiog  äd-dvaros^ 
das  überhaupt  in  der  Magie  eine  bedeutsame  Rolle  spielte.^  In 
Syriea  weihte  man  mit  diesen  Worten  das  Brot.* 

Im  deutschen  Aberglauben  hat  das  Brot,  das  mit  gewissen 
hebräischen  Worten  beschrieben  ist,  Kraft  gegen  Feuer;  besonders 
wirksam  ist  dreimal  geweihtes,  vom  Priester  gemachtes  Brot.^ 

Aber  Wuttke  teilt  auch  noch  folgendes  Überbleibsel  mit: 
„Die  im  Mittelalter  selbst  in  das  Rechtsverfahren  aufgenommenen 
Gottesurteile  kommen  in  der  Anwendung  nur  noch  wenig  vor; 
man  ließ  z.  B.  einen  des  Diebstahls  Verdächtigen  ein  Stück 
geweihten  Käse  essen;  dem  Dieb  blieb  dann  der  Bissen  im 
Halse  stecken;  im  Sprüchwort  hat  sich  dies  noch  erhalten,  aber 
teilweise  auch  noch  in  der  Anwendung:  man  schreibt  auf  ein 
Stück  holländischen  Käse  bestimmte  Buchstaben  und  Zeichen 
und  gibt  es  dem  Verdächtigen;  ist  er  der  Dieb,  so  wird  er  sich 
hüten,  es  zu  essen."" 

Daß  im  fünfzehnten  Jahrhundert  der  Brauch  noch  ver- 
breitet war,  dafür  dient  als  Zeugnis  c.  51  des  1455  geschriebeneu 
Buch's    aller    verboten    Kunst,    Unglaubens    und   der    Zauberei 


*  Zunz  Zur  Geschichte  und  Literatur  168.  Vgl.  auch  Gaidoz,  les 
gateaux  alphabdtiques,  in  Melanges  Renier  1886.  Zeitschrift  des  Vereins 
für  Volkskunde  XV,  94flf.  181  f. 

*  Vassiliev,  Anecdota  graeco-bym.  I,  889. 

'  Strzygowskis  Katalog  der  kopt.  Denkmäler  in  Kairo  189  fg. 

*  Äbhandl.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes  VII  8,  110. 
'  Wuttke  Beutscher  Volksaberglaube  *  377. 

8  Wuttke  a  a.  0.  227. 


Der  Ursprung  des  Judicium  ofFae  531 

von  Hartlieb  ^ :  „mer  vind  man  lewt  die  ainen  Käs  segnent  und 
maiaent,  wer  schuldig  sei  an  dem  Diebstahl  der  müg  der  Käs 
nit  essen,  wiewohl  darein  etlich  saiffen  für  Käs  geben  wird 
noch  ist  es  sünd."  Die  von  Grimm  hierher  gezogenen  bekreuzten 
Käse^,  die  nach  einer  Anzahl  Privilegien  von  1430  an  nur  die 
Abtei  des  Klosters  zum  hl.  Kreuz  im  Augsburger  Bistum  auf 
ihren  Swayhöffen  (=  Viehhof,  Schmeller,  bayr.  Wörterb.)  her- 
stellen durfte  (Monumenta  boica  XVI,  50.  53.  55.  58.  61),  ge- 
hören wohl  nicht  hierher,  da  das  Kreuz  eine  Art  Fabrikmarke  war. 

Dagegen  haben  wir  ein  Zeugnis  aus  dem  17.  Jahrhundert 
in  England.  1618  soll  eine  Hexe  zu  Lincoln  auf  eigenes  Ver- 
langen einer  Art  offa  judicialis  mit  Butterbrot  sich  imterworfen 
haben;  sie  sei  an  dem  Bissen  erstickt.'  Hier  ist  in  leicht  ver- 
ständlicher Vertauschung  die  Butter  an  die  Stelle  des  Käse 
getreten.  Ich  mache  auf  einen  ähnlichen  Brauch  mit  Butter- 
brot aus  der  Neumark,  Osthavelland  und  der  Gegend  von  Kyritz 
aufmerksam,  wo  ein  kundiger  Schäfer  auf  ein  Butterbrot  nebst 
einigen  mystischen  Zeichen  die  bekannte  Formel  sator  arepo 
opera  rotas  schreibt,  dann  das  Brot  in  zehn  gleiche  Teüe 
zerschneidet  und  die  einzelnen  Stücke  für  je  1  Mark  gegen 
Tollwut  bei  Hunden  und  Menschen  verkauft.* 

Brot  und  Käse  als  Mittel  gegen  den  Biß  toller  Hunde 
nennt  auch  Qazwini^:  „Der  Berg  von  Ulustän  im  Lande 
Rüm.  Inmitten  dieses  Berges  befindet  sich  etwas  wie  ein 
kreisförmiger  Engpaß.  Wer  diesen  passiert  und,  während  er 
durchgeht,  Brot  und  Käse  ißt,  und  zwar  am  Anfang  des- 
selben hinein-  und  an  seinem  Ende  wieder  herauskommt,  dem 
schadet  der  Biß  des  tollen  Hundes  nicht.  Und  beißt  dieser 
irgendeinen  anderen  Menschen,  so  braucht  er  nur  zwischen  den 
beiden    Füßen    dessen,    der    diesen    Engpaß    passiert,    durch- 

'  Grimm  D.  Myth.  III  *,  428.  »  Grimm  a  a.  0.  II  *,  929  A.  1. 

'  The  vronderfull  discovery  of  the  witchcrafts  etc.  p  11.  Soldan- 
Heppe  Gesch.  d.  Hexenprozesse  I,  399  fg. 

*  Verhandlungen  der  Berl.  Gesellsch.  für  Anthropol.  1883,  248. 

*  Kosmographie ,  übers,  von  Ethe  I,  310. 

34* 


532  -Adolf  Jacoby 

zugehen  und  sein  Unfall  liat  ebenfalls  keine  Gefahr.  Das  ist  eine 
bei  den  Leuten  dieser  Landstriebe  weitverbreitete  Geschichte." 

Hängt  vielleicht  mit  diesen  merkwürdigen  Resten  mittel- 
alterlicher Rechtspraxis  und  Magie  auch  der  Glaube  zusammen, 
der  im  Lüneburgischen  sich  findet,  daß  todeswürdige  Verbrechen 
mitunter  dadurch  bestraft  werden,  daß  der  Richter  den  Ver- 
brecher zur  Einzelhaft  verurteilt  und  ihm  nur  ohne  Salz  ge- 
kochte Milch  mit  hineingeschnittenen  Rundstücken  zu  essen 
geben  läßt,  und  der  dann  bei  lebendigem  Leibe  von  Würmern 
gefressen  wird,  das  letztere  eine  alte  Gottesstrafe? 

Die  Elemente  werden  durch  die  Aufschrift  intensiv  ge- 
heiligt und  exorzisiert  und  damit  jeder  schädlichen  Wirkung 
des  Teufels  entzogen.  Auch  der  Diebstahl  ist  ja  Wirkung  des 
bösen  Geistes,  der  mit  seinen  Kunstgriffen  seinen  Anhängern 
beisteht  und  darum  durch  die  heiligen  Worte  und  Formeln 
unschädlich  gemacht  werden  muß.  Der  Exorzismus  fehlt  da- 
her nicht,  der,  wie  hier  auf  die  Elemente  gleichsam  auf- 
geschrieben und  auch  über  sie  gesprochen,  so  auch  über  dem 
Wasser  der  proba  aquae  oder  über  den  Eisen,  die  bei  der 
Feuerprobe  glühend  gemacht  werden,  gesprochen  wird. 

Die  Gebete  der  formulae  zeigen  ebenfalls  noch  ihren  Zu- 
sammenhang mit  den  magischen  Bräuchen  und  Gedanken. 
Das  hat  Michel  im  einzelnen  erwiesen^,  und  ich  kann  mich 
im  wesentlichen  auf  seine  Untersuchungen  und  meine  eigenen 
Ergänzungen^  berufen,  in  denen  ich  gerade  die  Gebete  der 
Formulare  für  die  Gottesurteile  herangezogen  habe.  Das  hohe 
Alter  dieser  Gebete  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  in  ihnen 
als  ein  häufig  wiederkehrendes  Paradigma  Theklas  Rettung, 
wie  in  den  pseudo-cyprianischen  Orationen,  auftritt.  Und  zwar 
ist  dies  Paradigma  unter  ausschließlich  kanonischen  Schriften 
entnommenen   ein    Zeugnis    dafür,    daß    die   Gebete   jener  Zeit 

'  Gebet  und  Bild  in  Studien  über  christl.  Denkmäler,  herausgegeben 
von  J.  Ficker  I,  1—84. 

'  Monatsschrift  für  Gottesdienst  und  hirchl.  Kunst  VIII  (1903),  266. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  533 

ursprünglicli  entstammen,   in   der  die  Paulusakten  noch  kano- 
nisch waren.     Die  Gebete  selbst  weisen  nach  dem  Orient. 

Eine  der  lateinischen  Formeln,  die  mit  den  üblichen 
Worten  beginnt:  Deus  Abraham,  Dens  Isaac,  Dens  Jacob, 
Dens  dominus  fortis,  Deus  angelorum  etc.,  hat  den  kenn- 
zeichnenden Schluß:  Sabahot.  Sabahot.  Abrahaam.  Osiam. 
Osia.  Ogla.  vigila  hanc  peccaba.  capadum.  amarthabarbam.^ 
Das  ist  nicht  nur  eine  zufällige  Entstellung,  sondern  eine  der 
mystischen,  aus  hebräischen  Floskeln  zusammengesetzten 
Zauberformeln,  wie  sie  uns  häufig  entgegentreten  und  eine 
antike  Parallele  an  den  sogenannten  Ephesia  grammata  haben. 

3 

F.  Dahn  hat  für  das  Ordal  mit  Käse  und  Brot  auf  die 
Reisprobe  der  Inder  hingewiesen  und  ihm  folgten  andere  nach. 
Dieser  Probe  sei  dann  von  der  Kirche  auch  die  Abendmahls- 
probe nachgebildet  worden.- 

In  der  Tat  findet  sich  die  Abendmahlsprobe  öfters  ganz 
gleichartig  gestaltet  der  Probe  mit  Käse  und  Brot.  So  führt 
Dahn  mit  Recht  das  Beispiel  aus  Trithemius  an,  wo  es  heißt: 
et  si  aliter  est  quam  dixi  et  iuravi,  tunc  hoc  Domini  nostri 
Jesu  Christi  corpus  non  pertranseat  gutur  meum,  sed  haereat 
in  faucibus  meis,  strangulet  me,  sufifocet  me  ac  interficiat  me 
statim  in  momento.^  Dahn  weist  auch  auf  den  gemeinsamen 
Gebrauch  des  Wortes  communicare  für  die  Abendmahlsprobe 
und  die  proba  offae  hin,  um  seine  Anschauung  zu  stützen. 
Wir  werden  weiterhin  sehen,  daß  in  einem  ganz  anderen  Ge- 
biete der  Kirche  sich  die  gleiche  Tatsache  aufzeigen  läßt. 

Über  den  Hergang  der  indischen  Reisprobe  haben  wir 
eingehende  Mitteilungen  von  Kaegi.^     Das  indische  Rechtsbuch 

>  MGHF  643,  11—12.  *  Bausteine  II,  47. 

'  Trithemius  Chronicon  Hirsaugiense  od  annum  1224.  Patetta 
a.  a.  0.  210  lehnt  Dahns  Annahme  ab. 

*  Festschrift  zur  XXXIX.  Versammlung  deutscher  Philologen  und 
Schulmänner,  Zürich  1887,  55. 


534  Adolf  Jacoby 

des  Harada  I,  337 — 342  bestimmt  darüber  das  Folgende:  „Ich 
werde  nun  die  Zeremonie  angeben,  wie  sie  für  das  Genießen 
von  Reiskörnern  bestimmt  ist:  beim  Diebstahl  sind  Reis- 
körner zu  verabreichen,  sonst  nicht,  das  ist  feste  Bestimmung. 
Man  bringe  Körner  von  Reis,  nicht  von  irgend  etwas  anderem, 
in  ein  irdenes  Gefäß,  mache  sie  rein,  gieße  Wasser  dazu,  worin 
ein  Götterbild  gebadet  worden,  und  lasse  sie  während  der 
Nacht  stehen.  Bei  angebrochener  Morgendämmerung  soll  ein 
gottesfürchtiger  Mann  in  eigener  Person  dem  Beklagten, 
welcher  vorher  gebadet,  gefastet  und  nun  sein  Antlitz  gegen 
Osten  wendet,  dreimal  Reiskörner  geben.  Nachdem  er  sie  zer- 
kaut, heiße  jener  ihn  auf  ein  Blatt  spucken:  ist  ein  Feigen- 
blatt nicht  zu  haben,  so  ist  ein  Birkenblatt  vorgeschrieben. 
Bei  wem  Blut  zum  Vorschein  kommt,  wessen  Zahn- 
fleisch Schaden  nimmt  oder  wessen  Glieder  zittern, 
den  soll  man  als  schuldig  bezeichnen." 

Es  mag  zugegeben  sein,  daß  man  mit  einem  gewissen  Recht, 
solange  besseres  Material  nicht  vorhanden  war,  an  dieses  Ordal 
Anschluß  suchte  bei  der  Feststellung  des  Ursprungs  der  Probe 
mit  dem  geweihten  Bissen.  Aber  die  parallelen  Züge  liegen 
doch  nur  in  Allgemeinheiten:  daß  die  Proben  beide  ihre  An- 
wendung beim  Diebstahl  finden,  daß  Blut  zum  Vorschein 
kommt,  daß  die  Glieder  des  Schuldigen  zittern;  alle  diese  Züge 
lassen  sich  auch  ohne  jede  Annahme  eines  geschichtlichen 
Zusammenhangs  der  Proben  erklären.  Viel  stärker  sind  die 
Ungleichheiten  zu  betonen;  hier  Brot  und  Käse,  dort  Reis; 
hier  unfreiwilliges  Erbrechen  und  Auswerfen  der  Elemente, 
die  nicht  durch  die  Gurgel  wollen,  und  ErstickungsanfäUe, 
dort  absichtliches  Ausspeien  des  gekauten  Reises,  Der  Ver- 
such, die  Probe  der  oJBFa  auf  das  indische  Reisordal  zurück- 
zuführen, ist  nicht  gelungen. 

Grimm  ^  hat  auf  Herennius  Acro,  der  um  die  Wende  des 
II.  und  III.  Jahrhunderts  n.  Chr.  lebte,  zurüekgegrifi'en.    Dieser 

*  Bechtsaltertümer  931. 


Der  Ursprung  des  Jadicimn  offae  535 

soll  zu  Horaz  epist.  1,  10  mitgeteilt  haben:  cum  in  servis 
Buspicio  furti  habetur,  ducunt  ad  sacerdotem,  qui  crustum 
panis  carmine  infectum  dat  singulis.  quod  cum  ederint  mani- 
festum furti  reum  asserit.  So  Grimm  nach  Gesners  Edition  501, 
die  richtige  Lesung  hat  Hauthal  ^,  der  statt  ederint  liest 
haeserit.  Indessen  sind  die  Horazscholien  unecht  und  aus 
mehreren  späteren  Schichten  zusammengesetzt"-,  daher  die  Be- 
nutzung unserer  Stelle  schwierig;  Patetta  denkt  an  das  ger- 
manische, durch  die  Barbaren  in  Italien  eingeführte  Ordal.' 
Die  Untersuchung  wird  freilich  zeigen,  daß  die  Nachricht 
vielleicht  doch  echt,  d.  h.  den  wirklichen  Verhältnissen  der 
ausgehenden  Antike  entspricht  und  nicht  erst  auf  eine  Einfuhr 
germanischer  Ordale  zurückzuführen  ist. 

Übrigens  scheint  sich  der  Probebissen  tatsächlich  auch  in 
Asien  bei  den  Tartaren  gefunden  zu  haben  Wenigstens  be- 
richtet Johannes  de  Piano  Carpini*,  der  um  die  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  unter  den  Tartaren  missionierte,  in  seiner 
Schilderung  tartarischen  Brauchs  und  Aberglaubens:  wer  mit 
Absicht  im  Lager  Milch  oder  sonst  Trank  oder  Speise  aus- 
gieße oder  dort  sein  Wasser  abschlage,  werde  getötet;  andern- 
falls müsse  er  sich  beim  Zauberer  mit  einer  bedeutenden  Geld- 
summe lösen,  um  gereinigt  zu  werden.  Dazu  läßt  der  Zauberer 
das  ganze  Lager  zwischen  zwei  Feuern  durchgehen;  vorher 
wage  niemand  ins  Lager  zu  gehen  oder  etwas  herauszutragen. 
Dann  fährt  er  fort:  praeterea  si  alicui  morsellus  imponitur 
quem  deglutire  non  possit,  at  illum  de  ore  suo 
dejicit,  foramen  sub  statione  fit,  per  quod  eitrahitur  ac  sine 
ulla  miseratione  occiditur.     Das   sieht  doch  aus  wie  eine  offa 


*  Acronis  et  Porphyrii  commentarii  U,  422. 

*  Schanz  Geschichte  der  römischen  Literatur  III,  175. 
'  a.  a.  0.  140 f. 

*  Den  Bericht  hat  Vincentius  Bellovacensis  im  speculum  historiale 
XXXn,  7  erhalten.  Ich  benutze  den  Wiegendruck  ohne  Ort  und  Jahr, 
der  1474  entweder  bei  Mentelin  in  Straßburg  oder  bei  Faust  in  Mainz 
gedruckt  ist. 


536  Adolf  Jacoby 

iudicialis,  die  freilicli  wohl    auf  Import  bei  den  Tartaren  be- 
ruhen dürfte. 

4 

Wir  besitzen  eine  große  Anzahl  von  Zauberformeln, 
volkstümlichen  Exorzismen  und  Gebeten  in  griechischer 
Sprache  aus  sehr  später  Zeit;  sie  gehen  nachweislich  auf  be- 
deutend älteres  Material  zurück  und  sind  die  Ausläufer  der 
hellenistischen  Magie.  Eine  Anzahl  derselben  hat  A.  Vassiliev 
ediert,  unter  ihnen  solche,  die  der  abendländischen  Probe  mit 
dem  geweihten  Bissen  genau  entsprechen,  nur  ohne  den  um- 
fangreichen kirchlichen  Apparat.^ 

Das  erste  dieser  Rezepte,  um  Diebe  zu  entdecken,  lautet: 
slg  xXeTCtrjv.  Accßcav  ccqtov  iilzqov  xal  tvQÖv,  iv  tq)  ccqxo}  ^sv 
inCyQUijJov  öuQaiova,  hv  dh  t^  tvQq)  öaQcccparjX,  xal  dbg  cpay^lv 
tovg  vjtöjttag  v^örsig.  zal  svd-s(og  6  cutLog  vnoTtviyijäsrai 
xccl  ^1  avtov  yvco6&i]d£taL. 

Ein  anderes:  slg  tb  yvcivai  xbv  aXimi^v.  Fgaipov  üg 
aQtov  2JaQ6cov,  slg  dh  tvQbv  2a^r}jcov,  nal  dbg  olg  vTtoTcrsvsig 
xal  sl  nXetl^ag,  ov  dvvatai  cpayslv. 

Das  dritte:  aXXo.  Fqätpov  slg  aQTov  ovra^  Cagcc  ova, 
slg  $h  rvQÖv  6a(pa  q)atarjX,  xal  dbg  olg  ^(poQäg. 

Der  Zusammenhang  mit  dem  Gottesurteil  der  offa  ist  auf 
den  ersten  Blick  zu  erkennen;  hier  haben  wir  Brot  und 
Käse,  wie  dort;  auch  die  Aufschriften,  und  zwar  auf  beiden 
Elementen,  fehlen  nicht  —  es  sind  Ephesia  grammata,  Zauber- 
worte, und  Engelnamen.  Die  Schuld  wird  erkannt  an  den 
Würge-  und  Erstickungsanfällen.  An  die  kirchlichen  Zere- 
monien erinnert  nur  die  Bestimmung  des  Fastens,  sonst  ist 
alles  deutlich  volkstümliche  Magie.  Auch  das  Abendmahl 
empfing  man  nüchtern. 

Man  könnte  nun  zunächst  auf  den  Gedanken  kommen, 
in  diesen  späten,  byzantinischen  Formeln  und  Rezepten  zur 
Entdeckung   eines    Diebes   die  Reste   der  proba  ofi'ae  vor  sich 

*  Änecdota  Graeco-Byzantina  I,  340. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  537 

zu  haben,  ähnlich  wie  in  dem  von  Wuttke  angeführten  Brauch, 
die  sich  vom  Westen  nach  dem  Osten  ausgebreitet  habe. 

Allein  Vassiliev  hat  selbst  einige  wichtige  Hinweise  in 
den  Einleitungen  gegeben*,  nach  denen  die  Form  des  Ordals 
mit  einem  geweihten  Brot  in  der  Art  der  Abendmahlsprobe 
bereits  längere  Zeit  im  Osten  bekannt  war.  Man  wird  die 
Wiederholung  dieser  Zeugnisse  hier  als  eine  Erleichterung  der 
Untersuchung  empfinden. 

Im  Nomokanon  (XV.  oder  XVI.  Jahrhundert)  findet  sich 
aus  Matthaeus  Blastares,  der  1335  schrieb',  die  Bemerkung 
6  ÖS  Mard-alos  Iv  tq>  ngära  xstpukuCa  toi)  M  öxoii^lov  q^tiöCv 
.  .  .  xa^ijQTjvtav  dh  TtolXdxig  xai  Ugslg  iiti  6vv6dov  uqtov  rf}g 
fisyd^Tjg  7CSfi:ir7]g  Imöcjöavxig  tl6l  (payslv,  icp  cJ  rä  6v).- 
Xi]cp^ivxa  £VQs9flvuL  ix  toi)  ^rj  «vxdAcoff  tovtov  xara:ci6lv. 
Das  geht  zurück  auf  Balsamon,  Kommentar  zum  61.  Gesetz 
des  trullanischen  Konzils,  der  zwischen  1166  und  1177  schrieb.' 
Es  wird  uns  also  gesagt,  es  sei  eine  Übung  gewesen,  daß  sich 
Priester  (s.  o.  Abschn.  1)  durch  den  Genuß  von  Brot  des  Grün- 
donnerstags reinigten,  nämlich  Ton  Verdacht,  wie  ja  auch  die 
Abend mahlsprobe  im  Abendland  vornehmlich  bei  Priestern  an- 
gewendet wurde.  Die  Schlingbeschwerden  verrieten  den  Schul- 
digen. Das  entspricht  ganz  der  Annahme  Dahns,  daß  Abend- 
mahlsprobe und  proba  offae  zusammenhängen. 

Auf  dem  Konzil  zu  Konstantinopel  von  1372  wurde  der 
folgende  Fall  verhandelt*:  ikaXrld'ri  xarä  tov  nQSößvxigov 
Utvhavov  tov  Kksidä^  ori  ixegxvQav  xlv&v  änoXB6&ivxc3v 
iv  xfi  räv  Mayxdvav  ösßaö^Ca  iiovfj  xai  JtoXXäv  vno%xBvo- 
^iBvav  iiovaxog  xig  zjgovyydoiog  Xsyönevog  azsX&äiv  scgog 
avxbv   i^rixr]6E   TCag'  uvxov   7CQ06(fOQdv,    ijv   xai   dXXoxs   avxbv 


>  a.  a.  0.  LXm. 

*  ReaUncyclopädie  für  protest.  Theol.  und  Kirche  HP,  254. 

'  a.  a.  0.  11',  375.    Darauf  verweist  bereits  Juretus  in  seinen  Obser- 
vationes  ad  Ivonis  epistolas,  Migne  S.  Lat.  162,  2,  345 

*  Acta  patriarchatus  Catistantinopol.  I,  no.  331  p.  595. 


538  Adolf  Jacoby 

stÖE  dövta  TCQog  etSQOv  inl  svqsösl  6co[i(g)v,  og  dij  xal  xatä 
tfjv  avtov  ^tjrrjöiv  ^dsdcbxsi  tijv  nQo6(poQäv  yQuipag  hiC 
cüvt'^  nttl  yQciii^atcc  tiva.  naQcav  8s  aal  avtbg  xal  ngbg 
avxä  änoXoyCav  UTCaixoviisvog  jiQ&tov  iisv  rb  n:Qäyiia  rjQVslto^ 
[ajt)6Xsyx^6lg  dh  nagä  rovrov  tov  [lova^ov  acpoQiönbv  dsi,a- 
fisvov  xal  s^JtQoöd'sv  avtov  rovrov  ö^oXoytjöavrog,  d)[ioX6yi^6i 
^ihv  xal  avrög,  ori  ^SsdcbxsL  Ttgbg  avrbv  XQoöcpoQav,  nX'^v  ^i 
ävrCdcjQov  rijg  fisydXrjg  Jisiixrrjg.  Auch  hier  begegnet 
wieder  der  offenbar  bekämpfte  Mißbrauch  des  Brots  der  [isydXi 
ots^TCrrj,  des  Gründonnerstags,  der  großer  Kommunionstag  warJ 
dem  man  besondere  Wirksamkeit  zuschrieb.  Besonders  be 
deutsam  ist  die  Mitteilung,  daß  man  auf  das  Brot  eine  Auf-] 
Schrift  setzte. 

Neuen    Aufschluß    über    die   Zusammenhänge    der   abend'* 
ländischen  iudicia  dei  mit  denen  des  griechisch- byzantinischer 
Gebiets  gewährt  uns  eine  sv^r}  Xsyofisvr]  slg  xXsjtrriv}    /liönott 
K'ÖQis  'Ir]6ov  XQLörSf  6  dsbg  yj^&v,  6  xarans^tpag  rbv  ayi6\ 
6ov  ayysXov  knl  rbv  Xdxxov  rov  ccylov  öov  7tQoq}i]ro\ 
^avL'^X  xa\  (pQK^ag  rä  öröfiara  r&v  Xsövrcov,   aitrög, 
%avaya%'B  xvqle,  xaraTtsii^ov  rovrov  xal  Icp*  ij^äg  aörs  iXd^sh 
xara<pi[i&6at   rb   örö^a   rov   xXsil^avrog   rb  TCQäyfia   rov  dslvo^ 
xal  ysvied'ai  avrbv  aXaXov  xal  xaxpbv  xal  ßcjßbv  eag  av  biio- 
Xoyrlöjj    avrb    slg   dö^av    nar QÖg,    vlov    xal    äyCov    nvEv^arogi 
fSr&yLSv    xaXatg,    örcoyLSv   ^srä    g)6ßov   .' .   ^qo    rfjg    svxiii 
Xa^ßävsL  6  IsQSvg  ovJtSQ  i(pvXai,£v  aqrov  rfig  fisydXrjg  Tisujttrji 
xal  (isrä  rb  sIjcsIv  r'^v  svxilV  SCdotai  räv  vjtöxrcov  ^  dvacpogd^ 
xal    sl    [lev    iöriv    6    dvd^Qconog    xad-aQÖg,    rQ(oysi    rb\ 
aQrov  dvs[i7CodC(fr(og^   sl  d'  ov,   t(5TaTa6  slg  rbv   Xai^bi 
a'drov  nvCycav  a-urdv.     Dieses  Gebet  zeigt  uns  klar,  daß  efl 
in  der  Tat  eine  kirchliche  Einrichtung  des  Ordals  mit  Abend- 
mahlsbrot gab,   das   der  Priester  regelrecht  vollzog.     Es  wird 
also  wohl   auch   hier   so   gewesen  sein,   daß    die  Kirche   einen 
lange  geduldeten  Brauch  langsam  zu  unterdrücken  suchte  wie 

*  Vaseiliev  a.  a.  0.  880. 


Der  Ursprung  des  Judicium  ofFae  539 

im  Abendland.  Das  Gebet  selbst  zeigt  noch  die  Verbindung 
mit  den  Paradigmengebeten  in  der  Erwähnung  des  Daniel  in 
der  Löwengrube.  Wir  finden  das  Paradigma  in  einem  ex- 
orzistischen Phylakterion  ähnlicher  Art  etwa  aus  der  gleichen 
Zeit  in  folgenden  Worten^:  .  .  .  xai  i^cpod^rjts  xui  xaXLVGj6i]XS 
TÖ  öTÖfia  uvrov,  Iva  y,ri  dvvaxai  xar'  kiiov  kaystv  xi.  slg 
ixslvov  xbv  d'ebv  vfiäg  öpxt^o  xä  noviigä  xai  dxäd'UQxa  tcvev- 
fiara  xbv  %akLV(h6avxu  xovs  Xiovxag  iv  tqt  Xdxxa  xov  /dtcviiiX 
xai  (pvXd^avra  xovxov  äXaßrjxov  xxX.  Das  eine  Paradigma 
mag  der  Überrest  größeren  ursprünglichen  Reichtums  sein. 
Der  Schluß  des  Gebets  ist  ein  bekanntes  Stück  der  griechischen 
Liturgie,  während  die  Vorschriften,  die  darauf  folgen,  uns 
wieder  den  Erfolg  des  Verfahrens  in  der  üblichen  Weise  an- 
geben. 

Im  Jahre  1410  bestimmte  der  Erzbischof  Johannes  von 
Novgorod  über  die  Ermittelung  Ton  Schuld  und  Unschuld  vor 
dem  Bilde  der  Heiligen  Gurius,  Samonas  und  Avivas,  daß  der 
Priester  die  heilige  Liturgie  feiere,  dann  das  geweihte  Brot 
mit  dem  Namen  Gottes  beschreibe  und  es  allen  gebe,  die 
kommen;  wer  ißt,  ist  unschuldig;  wer  nicht  ißt,  soll  des  Ge- 
richtes Gottes  schuldig  sein;  wer  aber  dem  Brote  nicht  naht, 
der  soll  ohne  Urteil  Gottes  und  der  Menschen  straffällig  sein. 
Femer  im  Falle  eines  Verdachtes  wegen  Diebstahls  soll  der 
Priester  ein  Brot  in  Kreuzform  backen -und  darauf  vier  Kreuz- 
zeichen machen;  es  ist  noch  heute  in  der  griechischen  Kirche 
Sitte,  das  Brot  in  Kreuzform  zu  legen.  In  dem  Gebet  des 
Priesters  an  die  Heiligen  heißt  es  dann:  eos  qui  perdiderunt, 
adiuvate,  noxios  convincite,  maleficorum  fauces  praecludite; 
Isaac,  vince  eos,  Jacobe,  itinera  eorum  interclude  et  ubique 
obscura  fac,  ut  viae  eorum  sint  asperae  angelusque  Domini 
eos  persequatur  etc.*  Auch  zu  diesem  Gebet  findet  sich  in 
den  griechischen  Gebeten  eine  Parallele^:  slg  y.Xs:ixriV.     rQcctltov 

'  Reitzenstein  Poimandres  295  f. 

*  Vassiliev  a   a.  0.  LXV.  •  Vassiliev  a  a.  0.  340. 


540  Adolf  Jacoby 

eis  %KQtriv  ovtc3  (folgen  dann  eine  Reihe  mystischer  Zeichen): 
'AßQadyb  6s  TtcctccdiGUCSi,  6  ^löadx  0s  xata(pd'civsi,  'laxcbß  6s 
ccvatQSxsL.  ysvs&iJTCi}  tj  ödog  ccvtov  6x6tos  'nal  öXC6d-rj^a.  xal 
ävanodoyQcicps  rovto  zal  ßccXs  '6ni6%^sv  xfis  %^vQas',  vgl.  Grimm 
D,  M.  IIP,  493;  wo  in  einem  exorcismus  ad  pecudes  invenien- 
das  in  angelsächsischer  Sprache  der  Schluß  ähnlich  lautet: 
crux  xpi  reducat.  crux  xpi  per  furtum  periit  inventa  est. 
Abraham  tibi  semitas  vias  montes  concludat  lob  et  flumina 
Isac  tibi  tenebras  inducat.  lacob  te  ad  iudicium  ligatum  per- 
ducat. 

Das  Material,  das  uns  aus  dem  Gebiet  der  morgen- 
ländischen Kirche  vorliegt,  ist  gewiß  aus  den  Handschriften 
noch  reichlich  zu  vermehren,  doch  zeigt  es  auch  so  bereits, 
daß  die  Gottesurteile  mit  dem  Abendmahlsbrot  und  mit  Brot 
und  Käse  dort  nicht  unbekannt  waren,  sondern  offenbar  eine 
weite  Verbreitung  hatten. 

5 

Die  hellenistischen  Zauberpapyri  haben  uns  schon  manche 
überraschende  Erkenntnis  gebracht.  Diese  Mischungen  tief- 
ernster Frömmigkeit  und  buntesten  Aberglaubens,  Zeugnisse 
einer  verworrenen,  aber  an  religiösen  Kräften  reichen  Zeit, 
führen  uns  auch  in  der  uns  hier  beschäftigenden  Frage  weiter. 

Die  Papyrus  magica  Londin.  XL  VI  des  Britischen  Mu- 
seums^, eine  Unzialhandschrift  des  IV.  Jahrhunderts,  inhalt- 
lich aber  zum  großen  Teil  weit  älter,  gibt  in  zwei  An- 
weisungen, Diebe  zu.  entdecken,  uns  über  den  Ursprung  des 
Ordals  mit  Brot  und  Käse  diesen  neuen  Aufschluß. 

In  dem  einen  Formular  lesen  wir^:  xXmrijv  nid6(ii 
'dXX{ps)'  'Egiifiv,  6s  nalSi  d^sbv  cc&dvaxov,  bg  xät'  'öXviiTHh 
tt^Xaxa  tsfivsig  ßägCv  d"*  IsQiiv  (p(o6(p6Q^  'Idca  6  ^syccg  aloavößstog 
q)QLXibg  fihv  Idstv  q)QLXtbs  ^'  dxQ0&6d-ai,  jtaQddog  g^&Q*  bv  ^rjr& 

'  DenJcschriften  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  1888. 
Kenyon  Greek  Papyri  Cat.  I.     Dieterich,  Äbraxas  63. 
«  Denkschriften  131  Zeile  176  flF. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  541 

ttßsQUfisv  &aov  XsQ^t^sva^  öoveXvöa  ^vsfiuQßa.  ovrog  6 
löyog   kni  xov  xad-agiiov  XdysraL  ß:   Xöyog  xov  aQXOxvQov' 

SQXOV      /not      XiÖÖCOV      fiaxegVtt      (IUVSQXTJ      TCQETCXmXlOVVLVXlXlOVS 

oXoxoxovg  %EQCxXv6aL  xb  a:ioX6nEvov  äyäyr/S  /tiot  xal  xov  xXsa:- 
xr^v  ißcpavfi  noii]6aL  iv  xfi  6j]}1£qov  ^liigcc.  k7Ciy.aXovpLUL  dh 
^Egiifiv  xXanxäv  svqsxtjv  xal  "HXiov  xal  'HXCov  xögag  d^e- 
nCöxcsv  XQayfiäxav  dvo    cfaxayayovg   xal    Gifiiv   xal  "Eqslwv 

\  "AiiyiGiva  xal  Uagdu^ava,  i%i/.Qaxf^6uv  xrjv  xov  (pcjQOg 
.  rdnoeiv  xal  i^icpavfi  ^slvai  iv  xfl  öifiieQOv  fj^EQu,  iv  xf} 
(  ort  &Qa.     Tcoiriöig-  6  avxbg  Xoyog  ixl  xov   xa^aQ^ov^   Xußav 

yog  xaXXaCvov  ßdXs  vda>Q  xal  ^iivginpf  xal  xvvoxB(paXixriv 
{j  )xdv)\v  xal  ifißgEx^v  xXdöov  dd(fvr]g  iva  sxaöxov  änoxa&ai- 
Q(ov  .  .  xqCtcoÖu  ixC^Eg  iTil  (Hd.  6:tid'6g)  ßa^bv  yrjivov. 

Das  andere  Formular  lautet^)  .  .  .  vov  ixi^vs  ^yiVQvriv  xal 
XCßavov  xal  yX&xxav  ßaxQd^ov  xal  Xaßcov  öiXCyviov  (=  6i- 
ICyvLov)  ävaXov  xal  xvqov  alyiov  dCdov  ixciöxa  ösXiyvCov 
dQ.r/,xvQOv  dg  rf,i:iiXeycov  xov  «l^g  Xöyov.  irclygatpE  de  xovxo 
xo  ovofia  xal  vtioxoXXiiÖov  xp  xglnodi'  öe6:coxa  ^Ida  (pcsöqiögs 
xagadog  (pagov  ov  %i]xci.  idv  di  rig  avxäv  ft^  xaxaxCji 
xb  do^hv  a'öx&f  avxög  icxiv  6  xXi^ag} 

Wir  haben  damit  den  Nachweis,  daß  die  Probe  mit  Brot 
und  Käse  in  die  ausgehende  Antike  gehört,  und  zwar  zunächst 
nach  Ägypten.  Ägyptisch  sind  einzehie  Götternamen  Ammon 
nnd  Parammon,  auch  das  Epitheton  aiavößiog,  das  dem  'nh  dt  der 
Texte  entspricht.  Hermes,  ehedem  der  Gott  und  Schützer  der 
Diebe,  ist  nun  als  mit  ihrer  Kunst  vertraut,  selber  zum  Diebs- 
fanger geworden,  zugleich  die  Allgottheit,  der  Lichtbringer, 
ier    echt    ägyptisch    auf  dem    Schiff  erscheint.     Wie  in   den 

iicia  Dei  des  Abendlandes    werden  Brot   und  Käse  mit  dem 

ttesnamen    beschrieben.       Selbst    solche    Übereinstimmung 

*  Denl-schnften  134  Zeile  297  £F. 

*  Glotz  Vordalie  dans  Ja  grece  primitive  S.  Ulf.,  worauf  mich 
insch  freundlichst  aufmerksam  machte,  wie  auch  auf  Dieterichs  Be- 
idlung  des  Textes,  spricht  nicht  von  dieser  Formel. 


542  -^dolf  Jacoby 

findet  sicli,  wie  die,  daß  der  Käse  Ziegenkäse  sein  soll.  Das 
Brot  ist  Weizenbrot  (siligo).  Yon  den  mystischen  Bräuchen 
fällt  die  Besprengung  mit  dem  Weihwasser  auf,  das  auch  die 
abendländischen  Formeln  vorschreiben.  Zur  Verwendung  der 
Proschzunge  sei  bemerkt,  daß  Plinius  hist.  nat.  XXXII,  18 
berichtet:  Democritus  quidem  tradit,  si  quis  extrahat  ranae 
viventi  linguam  nuUa  alia  corporis  parte  adhaerente  ipsaque 
dimissa  in  aquam  imponat  supra  cordis  palpitationem  mulieri 
dormienti  quaecumque  interrogaverit  vera  responsuram;  man 
schrieb  also  der  Froschzunge  offenbarende  Wirkung  zu.  Pradel 
hat  wohl  mit  Recht  das  in  Zusammenhang  gebracht  mit  einer 
Keuschheitsprobe,  vgl.  Nicolaus  Myreps.  505  C:  mulier  ut 
confiteatur  a  quot  viris  sit  stuprata.^  Indessen  ist  uns  von 
Qazwini  eine  interessante  Notiz  neben  jener  oben  aus  Plinius 
bereits  erwähnten  berichtet:  „was  nun  die  spezielle  Eigen- 
tümlichkeit der  einzelnen  Teile  des  Frosches  betrifft,  so  sagt 
Belinäs  folgendes:  thut  mau  seine  Zunge  in  das  Brot  und  gibt 
es  nun  dem  zu  essen,  den  man  im  Verdacht  eines  Diebstahls 
hat,  so  gesteht  er  diesen  ein,"  also  eine  regelrechte  Form  der 
offa  iudicialis  mit  der  Froschzunge  statt  des  Käse.^ 

In  den   hellenistischen  Proben,    die    vielleicht   zusammen- 
gehören und  ein  Stück    bilden,    das    im  Papyrus    auseinander- 
gerissen ist,    ist    wie    in    den    mittelalterlichen    Formeln    das  j 
Erkennungszeichen    des    Diebes,    daß    er    die  Elemente    nicht  \ 
verschlucken  kann. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  im  hellenistischen  Ägypten, 
wohin  ja  auch  die  Paradigmengebete  letztlieh  weisen,  die  Probe 
mit  Brot  und  Käse  in  der  bekannten  Weise  in  heidnischen 
Kreisen  gebraucht  wurde  zur  Entdeckung  von  Diebstählen. 
Von  da  verbreitete  sich  die  Übung  nach  dem  griechischen 
und  römischen  Kirchengebiet,  ein  Stück  antiker  Magie  im 
Christentum. 


*  a.  a.  0.  379.     •  Kosmographie  übers,  v.  Ethe  I,  286 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  543 

6 

Der  Gang  der  bisherigen  Untersuchung  hat  erwiesen,  daß 
in  der  Tat  Abendraahlsprobe  und  Probe  mit  dem  geweihten 
Bissen  in  enger  Verwandtschaft  stehen.  Das  bestätigt  sich 
nun  auch  noch  von  einer  andern  Seite  her,  wenn  wir  auf  die 
Verwendung  von  Brot  und  Käse  unsere  Aufmerksamkeit 
richten. 

Man  hat,  wenn  man  nach  der  Herkunft  des  Ordals  der 
proba  offae  fragte,  dem  nicht  Rechnung  getragen,  daß  gewisse 
Kreise  der  alten  christlichen  Kirche  Brot  und  Käse  als  Abend» 
mahlselemente  brauchten.  Nach  diesem  Brauch  wurde  eine 
Abart  der  ekstatischen  Sekte  der  Montanisten  in  Kleinasien 
die  Artotyriten,  Käsebrötler,  genannt. 

Epiphanius  zählt  in  seiner  Ketzerbeschreibung  ^  Quintillianer, 
Pepuzianer,  Artotyriten  und  Priscillianer  aus  Phrygien,  also 
die  Montanisten  auf.  Von  den  Artotyriten  sagt  er  aQrorvQitug 
dh  ttvtovs  xaXovöiv  änb  tov  iv  TOtg  avxäv  iivötr^gCois  ini- 
Ti^svtag  uQXov  xal  tvqov  xal  ovrag  noLslv  xä  avxäv  ^vöxijqlu. 
Sie  feierten  also  das  Abendmahl  mit  Brot  and  Käse. 

Das  gleiche  berichtet,  zugleich  mit  Berufung  auf  Epi- 
phanius, Augustin  de  haeres.  28':  artotyritae  sunt,  quibus 
oblatio  eorum  hoc  nomen  dedit;  offerunt  enim  panem  et 
caseum,  dicentes  a  primis  hominibus  (Gen.  4,  3.  4)  oblationes 
de  fructibus  terrae  et  ovium  fuisse  celebratas.  Hos  Pepuzianis 
jungit  Epiphanius.  Augustin  gibt  über  Epiphanius  hinaus  die 
Schriftbegründung  der  Sitte,  die  natürlich  eine  nachträgliche 
Rechtfertigimg  derselben  ist.  Nach  diesen  Nachrichten 
Augustins  war  der  Käse  offenbar  Schafskäse,  was  unwillkürlich 
an  die  Bestimmungen  der  proba  offae  erinnert. 

Von  Philastrius "^  erfahren  wir  weiter,  daß  diese  Leute  ihr 
Ausbreitungsgebiet  vornehmlich  in  Galatien  gefunden  hatten: 
alii  sunt  artotyritae  nomine  in  Galatia,   qui   panem  et  caseum 

'  Migne  S.  Gr.  XLI,  I,  879.         »  Ausgabe  der  Mauriner  1797,  X,  11. 
'  Corpus  Script,  eccl.  latin.  der  Wiener  Akademie  XXXVIII,  38  n  °  74. 


544  Adolf  Jacoby 

offerunt,  non  illud  quod  ecclesia  catholica  et  apostolica  celebrat 
offerendo.  Und  nach  des  Hieronymus  Vorrede  zum  Kommentar 
des  Galaterbriefs  IP  waren  sie  zu  seiner  Zeit  in  Galatien  noch 
vorhanden  und  lebendig. 

Es  gibt  nun  freilich  noch  eine  spätere  Nachricht  aus  der 
Schrift  des  Presbyters  Timotheos  von  Konstantinopel,  de 
receptione  haereticorum  ^,  nach  der  die  Artotyriten  nicht  Mon- 
tanisten, sondern  Marcioniten  wären.  Zahn  hat  sich  diese  An- 
schauung, die  allerdings  den  vier  anderen  Berichterstattern 
widerspricht,  zu  eigen  gemacht.^  Timotheos  sagt:  MaQxiü3Vi6Tal 
i'jyovv  'AQtoTVQCrai  —  ol  ovv  'AQrotvQCtau  sx  xfig  alQSGEcog 
tovtov  tov  MaQxCcavog  zatccyovtai,  staQa^sCßov6L  de  rijv  xXfiöLV 
%Q06%'ri'Kaig  BTtivoi&v.  ydXaxxi  yäq  (fVQävtsg  ^v^rjv  tolg  oixsCoLg 
fjLvötaig  ÖQEyovdLV.  ovtol  vö^ov  xccl  7tQ0(pritag  xäl  natQidQ%ag 
KTioßccXlovrai,  Sox^öel  {läXXov  tö  xarä  Aovxäv  E'bayyiXiov 
jtQoöLs^svoL.  rijv  ds  ävd6ta6iv  r&v  öcoiidrcav  yaXaöiv  hg 
cLtoTtov.  xai  avtbg  6  MaQxCcav  vdcoQ  iv  tolg  iivöTiqQioig  %qo6- 
(pSQEi,  ^1  avxov  XoiTcbv  TtagsXaßov  xal  ol  iia&iqtal  ccvtov. 
Man  kann  nicht  leugnen,  daß  eine  Reihe  der  Züge  unbedenk- 
lich als  marcionitisch  in  Anspruch  genommen  werden  können. 
Dennoch  halte  ich  Zahns  Annahme  nicht  für  richtig.  Die  Be- 
merkung über  den  mit  Milch  gemischten  Sauerteig  scheint  mir 
nichts  weniger  als  besonders  klar  und  von  guter  Kenntnis 
zeugend.  Auf  TertuUian  c.  Marc.  I,  14  darf  man  sich  nicht 
berufen,  da  dort  von  Wasser,  Ol,  Honig,  Milch  und  Brot  als 
im  marcionitischen  Kultus  verwendet  zwar  die  Rede  ist,  aber 
die  Milch,  wie  es  auch  sonst  bezeugt  wird,  in  der  Mischung 
mit  Honig  auftritt,  nicht  wie  bei  den  Artotyriten  als  Käse. 
Endlich  weist  uns  eine  andere  Stelle  ebenfalls  auf  montanistische 
Spuren.     Denn  trotzdem  dies  gelegentlich  bestritten  worden  ist, 


>  Migne  S.  Lat.  XXVI,  7,  882. 
*  Cotelerius  Eccles.  graec.  monum.  III,  378. 

'Geschichte  des  Neutest.  Kanons  11,436  fg.    Die  gleiche  Meinung 
vertritt  übrigens  auch  Forcellini  Onomasticon  I,  1,  496. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  545 

bezieht  sich  doch  wohl  auf  diese  Sitte  eine  Nachricht  aus 
Xordafrika.  Die  auch  Tertullian  bereits  bekannten  montanisti- 
schen Märtyrerakten  der  Perpetua  und  Felicitas*  erzählen,  daß 
Perpetua  in  einer  Vision  den  himmlischen  Hirten  Christus  sah, 
der  am  Melken  der  Schafe  war  und  ihr  „de  caseo  quod 
mulgebat  dedit  quasi  bucellam",  sie  nimmt  den  Käse  „junctis 
manibus  et  manducavi:  et  universi  circumstantes  dixerunt  Amen, 
•et  ad  sonum  vocis  experrecta  sum,  commanducans  adhuc  dnlcis 
nescio  quid."  Soll  man  daraus  schließen,  daß  Timotheos  oben 
meint,  die  Milch  sei  durch  Sauerteig  zum  Gerinnen  gebracht 
worden  und  daß  es  sich  um  eine  Vermischung  und  Ver- 
wechselung zweier  Sekten,  der  Montanisten  und  der  Marcioniteu, 
bei  dem  Presbyter  handelt? 

Leider  scheint  uns  sonst  über  diese  merkwürdigen  Abend- 
mahlsgebräuche nichts  Näheres  bekannt  zu  sein,  denn  was 
z.  B.  der  sogenannte  Praedestinatus  I,  haer.  28,  bietet,  ist  nur 
eine  Kopie  des  Augustin.*  Aber  das  ist  doch  wohl  außer  allem 
Zweifel,  daß  zwischen  den  Zaubertexten  der  Papyri  und  dem 
Brauche  der  Montanisten  ein  Zusammenhang  anzunehmen  ist. 
Wer  ist  nun  der  Schöpfer,  wer  der  Entlehner  der  Übung? 
Die  zeitlichen  Umstände  sind  so  geartet,  daß  eine  Beeinflussung 
des  Zauberbrauchs  durch  montanistische  Sitten  durchaus  im 
Bereich  der  Möglichkeit  liegt.  Andererseits  zeigen  die  Zauber- 
papyri verhältnismäßig  wenig  sichere  Spuren  christlicher  Ein- 
wirkung und  es  wäre  an  sich  nicht  unmöglich,  daß  ein  mystischer 
Brauch  heidnischer  Kreise  vorliegt,  der  dann  im  Abendmahl 
der  Artotyriten  unter  einer  äußerlichen  Begründung,  wie 
Augustin  sie  bringt,  Eingang  gefunden  hätte.  Eine  Parallele 
wäre  etwa  der  Gebrauch  von  Milch  und  Honior  in  der  Kirche 


*  Knopf  AusgeicäJdte  Märtyrerakten  47. 

*  Ebenso  Isidorus  Etym.  l.  YIU  c.  V.  22:  Migne  S.  L.  82,  300.  Nicetas 
Choniates  Tliesaur.  1.  IV  c.  XXT:  Migne  S.  Gr.  139,  1285.  Papias  Voca- 
bularium,  Venedig  1485  fol.  IT'.  Mansi  XI,  VI.  Synode  (III.  Const., 
actio  XI). 

Archiv  f.  Religionswiesenschaft  XIII  35 


546  Adolf  Jacoby 

und  in  marcionitischen  Kreisen,  der  im  Rückblick  auf  die 
alttestamentliche  Verheißung  vom  Lande,  in  dem  Milch  und 
Honig  fließt,  seinen  Übergang  ins  Christentum  gefunden  hat.^ 

Wenn  Gregor  von  Tours  in  gloria  confess.  2^  von  Opfern 
berichtet,  die  man  zu  heidnischen  Zeiten  an  der  Stätte  des 
Grabes  des  heiligen  Hilarius  darbrachte,  und  dabei  mitteilt, 
sie  hätten  dort  geopfert  formas  casei  ac  cerae  vel  panis  diver- 
sasque  species,  unusquisque  juxta  vires  suas  etc.,  so  können 
uns  solche  Nachrichten  nicht  weiterbringen,  so  wenig  wie  die 
des  Augustinus^  über  die  Verwendung  von  Käse  in  der  Magie, 
wonach  Wirtinnen  in  Italien  ihren  Gästen  Käse  zu  essen 
gaben  und  darnach  sie  in  Zugtiere  und  nach  Bedarf  wieder  in 
Menschen  verwandelten,^  Die  unten  folgenden  Untersuchungen 
werden  m.  E.  die  Wahrscheinlichkeit  bringen,  daß  wir  mit 
einem  christlichen  Ursprung  des  Brauches  rechnen  müssen. 

Nicht  richtig  erscheint  mir  die  Erklärung  von  Drews^, 
der  in  dem  Brauch  der  Artotyriten  den  Rest  einer  ursprünglich 
vollständigen  Mahlzeit  sehen  will,  also  auf  die  urchristliche 
Feier  der  Agape  zurückgreift.  Es  ist  wohl,  wie  Möller  mit 
Recht  aussprach"  und  auch  Zahns''  Meinung  ist,  an  die  asketischen 
Grundsätze  der  Montanisten  (bzw.  Marcioniten)  zu  denken,  die 
keinen  Wein  tranken;  so  läßt  Origenes  den  Montanisten 
sprechen^:  ne  accedas  ad  me  quia  mundus  sum;  non  enim 
accepi  uxorem,  nee  est  sepulcrum  patens  guttur  meum,  sed 
sum  Nazarenus  Dei  (d.  i.  Nasiräer)  non  bibens  vinum  sicut 
illi.  Für  den  Wein  benutzte  man  gelegentlich  beim  Abend- 
mahl Milch  und  an  die  Stelle  der  Milch  trat  der  Käse. 


^  Was  Usener  über  diesen  Brauch  mit  gewohnter  Meisterschaft  im 
Rhein.  Museum  bl,  190 fg.  schrieb,  kann  noch  reichlich,  z.T.  durch  wert- 
volles Material,  ergänzt  werden;  davon  anderwärts. 

*  Monumenta  Germ.  hist.  Script,  rer.  Meroving.  I,  2,  749. 
«  de  civitate  Dei  XVIIT,  17. 

♦  Geht  auf  Odyss.  X,  234  (vgl.  Ovid,  Metam.  XIV,  276)  zurück. 
"^  Mealencycl.  V»,  672.  «  Realencycl.  IX»,  760. 

^  Gesch.  d.  N.-T.  Kanons  a.a.O.        «  in  Titum  IV,  690. 


Der  Ursprung  des  Judicium  ofiFae        *  547 

7 

Bei  der  Feier  der  Eucharistie  finden  wir  Milch  in  der 
Mischung  von  Milch  und  Honig,  die  neben  Wein  und  Brot 
dem  Neophyten  bei  der  Tauf  kommunion  gegeben  wurde.  Aber 
die  Milch  tritt  auch  ganz  an  die  Stelle  des  Weins  im  Abendmahl. 

In  den  Kanones  des  4.  Konzils  zu  Bracara  (a.  Chr.  675) 
can.  2  heißt  es*:  audivimus  enim  quosdam  schismatica  ambitione 
detentos,  contra  divinos  ordines  et  apostolicas  institutiones 
lac  pro  viuo  in  divinis  sacrificiis  dedicare  .  .  .  cessat  ergo 
lac  in  sacrificando  offerri  quia  manifestum  et  evidens  exemplum 
evangelicae  veritatis  illuxit,  quod  praeter  panem  et  vinum 
aliud  offerri  non  sinit  etc.  Drews*  hat,  offenbar  im  Anschluß 
an  Hefele^,  der  bemerkt,  Galläcien  und  Asturien  erzeugten 
keinen  Wein,  die  erwähnte  Sitte  auf  die  Weinarmut  der  Pro- 
vinzen zurückgeführt.  Davon  sagen,  soweit  ich  sehe,  die 
Quellen  nichts.  Es  ist  aber,  da  alle  diese  Gebräuche  eine 
mystische  Grundlage  hatten,  an  etwas  anderes  Anschluß  zu 
suchen. 

Der  Wein,  das  Rebenblut,  vertritt  nach  alter  Symbolik 
schon  im  Neuen  Testament  das  Blut.  Auch  die  Milch,  eine 
andere  Form  des  Blutes,  tritt  an  dessen  Stelle. 

Die  Sage  und  Legende  weiß  das  von  alters  her.  So  er- 
zählt die  Floamannasage,  daß  Thorgil,  dessen  Weib  getötet 
ward,  als  sie  ein  Kindlein  zu  säugen  hatte,  sich  in  die  Brust- 
warzen schneiden  ließ;  darnach  kam  zuerst  Blut,  dann  Molken 
und  endlich  Milch,  so  daß  nun  der  Vater  sein  Kind  säugen 
konntet  Der  Nix,  der  sich  droben  bei  den  Menschen  zu  lang 
verweilt  hat,  weiß  nicht,  ob  er  noch  zur  Zeit  bei  seinem  strengen 
Vater  ankommen  wird;  den  Zurückbleibenden  soll  das  Wasser 
Kunde  bringen:  wird's  nach  seinem  Untertauchen  weiß  von 
Milch,  so  ist  er  rechtzeitig  in  der  Tiefe  angelangt,  wird's  rot 

*  Mansi  Coli.  conc.  XI,  155.  *  Bealencycl.  V»,  578. 
'  Konziliengesch.  III*,  118. 

*  J.  Grimm  Kindermärchen  III,  159.     Germania  VII,  395. 

35* 


548  '  Adolf  Jacoby 

von  Blut,  SO  kam  er  zu  spät.  Als  er  im  See  verschwand, 
wurden  die  Wasser  rot  von  seinem  Blute  ^  In  dem  zweiten  Beispiel 
wechseln  die  Begriffe  Schuld  und  Unschuld  mit  Blut  und  Milch. 

Hierher  gehört  auch  der  oft  berichtete  Glaube,  daß  die 
Hexen  durch  ihre  verderbliche  Kunst  die  Milch  der  Kuh  in 
Blut  wandeln  können,  darum  darf  man  auch  nach  polnischem 
Glauben  Eidechsen  nicht  töten,  weil  sie  gleichsam  Schutzengel 
des  Viehs  seien,  sonst  könnte  das  Vieh  sterben  oder  die  Kühe 
Blut  statt  Milch  melkend 

Die  christliche  Legende  berichtet  vom  Tode  des  Apostels 
in  der  Passio  S.  Pauli  Apostoli  c.  XVP:  spiculator  vero  brac- 
chium  in  altum  elevans  cum  virtute  percussit  et  caput  eius 
abscidit.  quod  postquam  a  corpore  praecisum  fuit,  nomen 
domini  Jesu  Christi  hebraice  clara  voce  personuit;  statimque 
de  corpore  eius  unda  lactis  in  vestimento  militis  exiluit  et 
postea  sanguis  effluxit.  Lichtglanz  und  süsser  unaussprechlicher 
Duft,  „der  Geruch  der  Heiligkeit"  umgaben  die  Stätte.  Ähnlich 
geschah  es  mit  der  heiligen  Katharina  und  dem  heiligen  Pan- 
taleon  u.a.m.;  auch  bei  ihnen  entströmte  nach  der  Enthauptung 
dem  Halse  statt  des  Blutes  Milch, ^  Die  Milch  ist  Zeichen 
der  Unschuld,  das  Blut  der  Heiligen  gleichsam,  und  Zeichen 
der  Unsterblichkeit. 

Es  ist  zwar  nur  eine  bittere  Satire,  die  Lucian  in  seinen 
„wahren  Geschichten"  schrieb,  aber  schließlich  läßt  sie  doch 
den  Volksglauben  seiner  Zeit  deutlich  erkennen.  Wenn  er 
die  Mondbewohner  als  die  Seligen  schildert,  so  muß  ihm  etwas 
Ahnliches  wie  diese  christlichen  Legenden  vorgeschwebt  haben; 
diese  Seligen  ovx  ccjiovqovöl  xal  ä(podsvov6iv,  aber  sie  schnauzen 
Honig  und  schwitzen  Milch.^ 

Als  eines  der  gerechtesten  und  frömmsten  Völker  galt  den 
Alten  das   Thrakische  der    Galaktophagen,  die   bereits  Homer 

'  Germania  VII,  896.  »  Am  Urquell  III,  272. 

'  Acta  apost.  apocr.  ed.  Lipsins-Bonnet  I,  40. 

*  Migne  S.  Gr.  116,  27615.  »  Ver.  hist.  I,  28,  24. 


Der  Ursprung  des  Judicium  ofFae  549 

lliad.  XIII,  6  nennt.  Strabo  erzählt  von  ihnen  nach  Posidonius, 
sie  enthielten  sich  aus  Frömmigkeit  alles  Lebendigen,  nährten 
sich  von  Honig,  Milch  und  Käse  und  führten  ein  ruhiges 
Leben;  einzelne  lebten  auch  ohne  Weiber,  besonders  Heilige.^  Als 
einen  berauschenden  und  stärkenden  Trank  genossen  die  Troglo- 
dyten  Milch  und  Blut,   ebenso  die  Gelonen  und  Samländer.* 

Denn  wie  von  langer  Zeit  her  dem  Blute  besonders  heil- 
kräftige und  leben  verlängernde  Kraft  zugeschrieben  wurde', 
so  auch  der  Milch.  In  China  genießt  man  Milch  junger 
Frauen,  um  das  Leben  zu  verlängern  und  sich  zu  verjüngen*, 
wie  auf  der  anderen  Seite  Blut,  insbesondere  Menschenblut, 
z.  B.  von  Enthaupteten,  wirksam  ist.  Euryphon  von  Knidos 
verordnete  gegen  Schwindsucht  Esels-  und  Frauenmilch^, 
ebenso  Herodotos.''  Die  Kosmetik  kannte  Milchbäder,  wie  sie 
Blutbäder  und  Weinbäder  zur  Verjüngung  kannte. 

Aus  diesen  Anschauungen  heraus  erwuchs  nun  die  mystische 
Bedeutung  der  Milch  in  der  Religion  als  (pcio^axov  xfjs 
a^uvuöCag.''  In  Ägypten  wird  von  Osiris  in  den  Hymnen 
gesagt:  „Du  saugst  das  reinste  Leben  mit  der  Milch  der  Hor- 
secha-Kuh  ein"*^,  oder  die  tentyritische  Hathor  heißt  „Die 
Spenderin  des  Lebens  an  den  Anubis  durch  ihre  Milch "^  Das 
geht  dann  über  auf  die  Grabstelen,  wo  es  vom  Toten  heißt: 
„Dir  gibt  Isis  Milch"  oder  „Die  Kuh  Hesat  gibt  dir  Milch"; 
damit  ist  die  Unsterblichkeit  gemeint.^"  Als  Heracles  an  der 
Hera  gesaugt  hatte,  war  er  unsterblich  geworden.^^  Auch 
nach  eranischer  Anschauung  macht  die  Milch  unsterblich.     Als 

'  Strabos  Geographie  VIJ,  3. 

*  Adam  von  Bremen  IV,  18.    Virgil  Georg.  III,  461  £F.   Strabo  XVI,  17. 

*  Vgl.  die  Literatur  bei  Strack  Das  Blut  im  Glauben  und  Aber- 
glauben der  Menschheit. 

*  Neuburger  u.  Pagel  Gesch.  der  Medizin  I,  29.  Ploß-Bartels  Das 
Weift  n^  408,  409  (Abbildungen). 

"  Neub.  u.  Pag.  a.  a.  0. 195.  *  a.  a  0.  363. 

"  Reitzenstein  Archiv  f.  Belig.-Gesch.  VII,  403. 

*  Brugsch  Bei.  u.  MytJi.  der  alten  Aegypter  629. 

»  a.  a.  0.  314.         "  Am   Urquell  III,  266.         "  a.  a.  0.  259  flf. 


550  Adolf  Jacoby 

Zoroaster  das  Darunopfer  verrichtete  mit  Wein,  Wohlgeruch, 
Milch  und  Granatäpfeln,  trank  Gushtäsp  den  Wein  und  sah  im 
Traum  das  Paradies.  Die  Milch  erhielt  Pashutan,  der  unsterb- 
lich ward.  Jamäsp  erhielt  den  Wohlgeruch  und  empfing  damit 
Weisheit  (hellenistisch  ist  nvEV[ia  gleich  Wohlgeruch).  Isfendiär 
ward  durch  die  Granatapfelkerne  unverwundbar.^ 

Als  himmlischer  Trank  für  die  Märtyrer  erscheint  die 
Milch  z.  B.  in  der  Passio  Montani  et  Lucii,  die  nicht  ohne 
Ähnlichkeit  mit  der  Passio  Perpetuae  et  Felicitatis  ist.  Den 
Durst  der  Märtyrer  stillt  ein  lichtglänzender  Jüngling  aus  zwei 
Krügen  mit  Milch,  die  nicht  leer  werden.^  Das  berührt  sich 
mit  der  Art,  wie  die  Märtyrer  wohl  vor  ihrem  Tode  die 
Eucharistie  genießen. 

Im  Blute  der  Eucharistie  schließen  die  Gläubigen  einen 
Bund  mit  Gott  und  untereinander.  Die  Begrifie  Blut,  Opfer, 
Bund,  die  bei  der  Abendmahlsfeier  ihre  bedeutsame  Rolle 
spielten,  haben  bekanntlich  zu  jenen  grauenvollen  Vorwürfen 
des  Kindesmordes  geführt,  die  der  Heide  im  Octavius  des 
Minucius  Felix  (wohl  auf  Fronto  zurückgehend)  schildert^: 
Die  Christen  lassen  durch  den  Neuling,  der  aufgenommen 
werden  soll  in  ihren  Kreis,  ein  Kind,  ohne  daß  er  es  weiß, 
töten  und  „sitienter  sanguinem  lambunt,  huius  certatim  membra 
dispertiunt,  hac  foederantur  hostia,  hac  conscientia 
sceleris  ad  silentium  mutuum  pignerantur'*.  Die  mißverständ- 
lichen Begriffe  Bund  (foedus)  und  Blut  haben  zu  der  weit- 
verbreiteten Annahme  eines  Blutbundes  geführt. 

Nun  ist  es  nicht  ohne  Interesse,  daß  auch  durch  die 
Milch  wie  durch  das  Blut  ein  solcher  Bund  geschlossen  werden 
kann.  Darüber  hat  wertvolles  Material  Alfred  Wiedemann 
zusammengestellt."*    Philochorus  erläutert  das  Wort  6/ioyaAaxTcg 

'  Spiegel  Eranische  Altertumskunde  I,  701.    II,  162. 
'  Ruinart  Acta  sincem  232.     *  Corpus  Script,  eccl.  latin.  Wien  II,  13. 
*  Am    Urquell   III,    269  tf.     Vgl.   Cosquiu    in    Revue   des   questions 
historiques  83,  400  f.  406  f. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  551 

durch  ysvvfltai  Geschlechtsverwandte  (Fragm.  91).  Muham- 
medaner,  Slaven,  Armenier  u.  a.  haben  ein  weit  ausgebildetes 
System  der  Milchverwandtschaft.  Besonders  auffallend  ist  die 
Erzählung  eines  Afrikareisenden,  der  mit  einem  ostafrikanischen 
Sultan  einen  Bund  schloß,  indem  beide  von  der  gleichen  Milch 
tranken  und  zwar  der  eine  aus  dem  Munde  des  andern.  Da- 
durch wurden  sie  Brüder,  gleich  als  ob  sie  eine  Mutter  gehabt 
und  wie  leibliche  Brüder  eine  Muttermilch  getrunken  hätten. 
So  schließt  auch  in  Ägypten  der  König  mit  der  Göttin  oder 
dem  Menschen  einen  Milchbund.  Wie  beim  Blutbund  ist  die 
volksphysiologische  Grundlage  die  heute  noch  vielfach  ver- 
breitete und  geglaubte  Meinung,  mit  der  Milch  der  Amme 
sauge  der  Säugling  deren  Natur  ein. 

Wer  Gottes  Blut  genießt,  wird  ihm  blutsverwandt,  un- 
sterblich; wer  seine  Milch  in  sich  aufnimmt,  tritt  mit  ihm  in 
Milch  Verwandtschaft,  wird  unsterblich.  Das  ist  der  allgemeine 
Boden  des  Volksglaubens,  auf  dem  nun  die  Verwendung  der 
Milch  im  Sakrament  sich  versteht. 

Den  Übergang  in  das  christliche  Sakrament  macht  uns 
aber  eine  Ausführung  des  Clemens  Alexandrinus  im  Paedagoffus 
vor  allem  deutlich.  In  dem  Abschnitt  nrpös  lovg  vjco/.a^ßävovTC(s 
rriv  räv  TCccidCav  xal  vrjTcCav  TCQOGr^yoQiav  xi]v  xäv  xgcbrav 
Ha&rindtc3v  ccivCtrsö&ai  didaxrjv^  erläutert  der  Alexandriner 
mit  Beziehung  auf  1.  Cor.  3,  2  yciXa  vfiäg  iaöziöa  xrk.  und 
Exod.  3,  8  sladica  v/xäg  slg  ttjv  yfjv  tjjv  äya&riv  xr]v  gsovöav 
yccla  xal  ^sh  die  lebenspendende  Kraft  der  Milch  aßzsg  rp 
ycihixxi  al  Tix&al  xovg  xaldag  xovg  vsoyvovg  sxxgicpovöiv, 
xaya  ds  ovxco  xov  Xgiäxov  xqt  ydXaxxi  Adyct  av£V[iaxixriv 
v^itv  iv6xd^(ov  XQO(pr]v.  ovxca  yovv  xeXeCu  xgorprj  xb  yuXa 
kexl  t6  xeXhov  xal  slg  xsXog  äysL  xb  äxaxdxavöxov.  ^ib 
xdv  xfj  äva%av6£i  xb  avzb  xovzo  exijyyeXxai  ydXa  xai  [isXi. 
Nach  einer  Berufung  auf  Homers  Galaktophagen,  die  gerechte 
Menschen  seien,  folgen  Ausführungen  über  das  Blut,   das   der 

'  Migne  S.  Gr.  Vlir,  1,  291  ff. 


552  Adolf  Jacoby 

Herr  den  Seinen  gibt,  und  über  Milch,  ein  Spiel  mit  den  Be- 
griffen weich  und  fest,  Trank  und  Speise,  den  Logos,  Predigt 
und  Glaube.  Das  Blut  der  Mutter  verwandle  sich  in 
Milch  ^staßciXXsi  t6  al^a  sig  ydXa  und  dient  dann  als  _™ 
Nahrung,  rov  ds  oiyiaTog  voötLficbtSQOv  t6  ydXa  xal  Xs^tto-  ^ 
^EQSötEQov.  Die  Veränderung  ist  nur  eine  Änderung  der 
Qualität  {tcolöttjs),  nicht  der  Substanz  (ovöCa).  dfieXsL  yovv 
oi)  tQocpiiKoxEQOv  uXXo  TL,  ovds  ^Tjv  fXvxvtSQOV,  ccXX'  ovdh 
XevaöraQov  EVQOtg  av  ydXaxtog.  ndvxri  dh  eoixs  tovro  ttJ 
:jtvsv^ccTLJifj  tQoq)fj'  yXvxslcc  fisv  diä  trjv  jja()tv  VTcdg^ovöcCj 
tQÖcpLiiog  8s  Gjg  ^at]'  Xevxij  de  cjg  rjfisQa  Xqlötov'  xal  t6 
aliia  TotJ  jlöyov  Ttecpavigcotai  hg  ydXa.  Interessant  ist 
auch  die  Ausführung  über  das  Manna  mit  der  Bemerkung 
d^sXsi  xai  vvv  al  titd-ccl  t6  7tQ(ot6%vtov  rov  ydXaxtog  ^öpLUi 
oficovv^cog  EXELvrj  rfj  tQoqifj  {idvva  xExX'r]xa6i.  Ich  übergehe 
einiges;  dann  heißt  es  weiter:  sl  toCvvv  rj  ^hv  xatEQyaöCa  tfig'^ 
XQOtpfig  E^ai^atovtai^  rb  ds  cclfia  enyaXaxtovtaiy  TCagaöHSvi]  yocq] 
xo  ai(ia  xov  ydXaxxog,  coötieq  al^a  dvd'Qanov,  xal  yCyaQxov] 
dnJtsXov.  x^  ovv  ydXaxxt,  xfj  xvQiaxfj  XQoq>fj  sv&vg  fisvi 
aTtoxvrjd-svxsg  xid-i^vovfisd-a.  Er  bezieht  sich  wieder  auf  daaj 
himmlische  Jerusalem,  iv  fi  iiiXi  xal  ydla  öiißQslv  dvays- 
yQa%xai.  —  Td  ^sv  yaQ  ßQcb^ata  xaxaQyelxai  fj  q)r]6LV  b\ 
aTtööxoXog  (1.  Cor.  6,  13)  avxög,  i]  8s  8id  ydXaxxog  XQocpi}  slg' 
ovQavovg  xad^rjyslxai  noXlxag  ovgav&v  xal  övyxoQSvxäg  dyysXav 
dvad-QS^l^aiisvr].  Er  sagt  dann  vom  Logos,  er  sei  nrjyr)  ^cofjg 
ßQvovöa  xal  Ttora^bg  siQi^xai  hlaCov^  slxöxvog  dXXrjyoQäv  b 
IlavXog  xal  ydXa  avxbv  övoj^id^cov,  ,,i3t6xi6a^^  STtKpsQSi. 
nlvBxai  ydQ  6  A6yog,  i]  XQOcpij  xrjg  dXrjd'sCag.  dfisXsL  xal  xb 
Ttoxbv  vygä  xaXslxai  XQoq)ij.  zfvvaxbv  8s  xb  avxb  xal  ßQä^a 
slvai  ncag  s%ov,  xal  Ttoxbv  TtQbg  äXXo  xal  'dXXo  voovfisvoV 
xad^djcsQ  xal  6  xvgbg  ydXaxxög  ißxL  jcfj^Lg  r}  ydXa 
nsTtriydg.  Clemens  spielt  dann  wieder  mit  den  Begriffen  Blut, 
Wein,  Brot,  Fleisch,  bis  er  sagt  ovxa  noXXa%cbg  dXX^^yoQsltat 
6  A6yog  xal  ßQ&na  xal  öaQ^  xal  XQOcf^  xal   aQXog   xal 


Der  Ursprung  des  Jadiciam  offae  553 

ui^u  xui  yäXa.  änavxa  6  xvQLog  elg  a7c6Xuv6iv  rifiäv  x&v 
bIs  avxbv  :x£:ti6r£vx6t(ov.  Niemand  wandere  sich  über  den 
allegorisclien  Gebrauch  des  Wortes  Milch  für  das  Blut  des 
Herrn,  der  durch  den  allegorischen  Gebrauch  des  Wortes  Blut 
für  den  Wein  gedeckt  wird,  vgl.  Gen.  49,  11.  Die  folgenden 
Zeilen  enthalten  eine  bedeutsame  medizinisch  -  physiologische 
Auseinandersetzung  über  das  Entstehen  des  Embryo,  die  ich 
ausführlich  wiedergebe,  weil  sie  zu  dem  noch  anzuführenden 
Tertullian  eine  Parallele  bildet.  äXXä  xal  tj  öägi,  uvrij  xai  xb 
iv  avxf}  aifia  xq)  yuXaxxi^  olov  ttvxi:t£XccQyov{isvov ,  agöexuC  xe 
xal  avi,£XUL.  xal  dr^  xal  i]  dia^ögcpaöig  xov  6vXXi](p&svxoSj 
xq)  xfjg  i:tl  ufjva  xa&aQösas  vxoXaXBi^^iavip  xa^agq)  nsQizxci- 
fiaxi  XLQva^ävov  xov  6:teQnaxog'  17  yäg  iv  xovto)  dvva^ig 
d'Qoußovöa  xov  ai^axog  x^v  tpvöiv,  bv  xqoxov  f^  nvxCa  6vvCöxr/6L 
xb  ydXa,  xal  ovöCav  igyä^ixaL  f^iogqiaöscjg'  sv&aXsl  yäg  ^ 
XQä6ig'  öcpaXsQa  öh  fj  äxQÖxr^g  slg  äxsxvCav.  xal  yccQ  avxflg 
i^di]  x^g  yrig  vzb  uhv  iTto^ißgCag  xaxaxXvö^sv  ocTCOGvQBxai  xb 
6niQiia'  diä  de  av^i^bv  voxCdog,  diiohrjQaCvexaL'  xoXXtodrjs  Sh  6 
X'^l^bg  bjv  6vvB%si  xb  öJtsgfia  xal  (pvsi.  Tivhg  öh  xal  xb  öxsgfia 
xov  ^G)0v  dq:gbv  Bivat,  xov  ai^iarog^  xkt'  ovöCav  vnoxCd'EvxaL' 
ö  di]  r^  iiKpvxa  xov  aoösvog  ^agnj]  Tcagd  rag  6v^:cXoxäg  ix- 
xagaxd'hv  6xgi:ii<6n6vov  i^aqigovtai,  xdv  xulg  öTceguaxCöi  TcagaxC- 
^Bxai  (fXexpCv  evxsv^iv  yäg  6  ^AnoXXiovidx'iig  zlioyevr^g  xä 
'A(pgo8i6ia  xExXf^öd^ai  ßovXsxai.  Hvacpavig  xoivvv  ix  xovxav 
axdvxcDv,  ai^a  bIvui  xov  äv^oäTiov  6<huaxog  xijv  ovöCav.  Kai 
d'^  xal  xb  xaxä  yaöxgög,  xb  fihv  :igäxov  vygov  iöxi  Gvöraöig 
yaXaxxosLÖrjg'  STCBixa  i^ai^iaxov^svi^  öagxovxai  ij  övöxaöig  avxrj' 
nriyvviiBvi]  da  iv  xf}  vöxiga  anb  xov  (pvöixov  xal  ^sg^ov 
xvBv^atog,  v(p  o^  8ia%XdxxBxai  xb  Bt.ißgvov,  ^aoyovaixai. 
AXXa  xal  nBxä  xvi]6iv  av^ig  ixxgitfBxai  xb  TtaidCov  al^iaxi  xqt 
avx&'    auiaxog    yäg    (pv6ig    xov    yäXaxxog    ^    gv6ig    xal    nrjyrj 

•  Vgl  Vindicianus  Afer  (364  —  375  Arzt  unter  Valentinian  I)  nach 
Diogenes  spumam  sanguinis  eius  (seminis)  essentiam  dixit.  Neubui^er 
u.  Pagel  Gesch.  d.  Med.  I,  293. 


554  Adolf  Jacoby 

TQOcpfjs  tb  ydla'  o5  öi]  ^at  yvvii  öijXrj  rsnovöa  äX'r]&a}s  icccl 
^itjtrjQ'  di'  ov  xal  (pCXrQov  evvoCas  7tQo6Xa^ßdvEi.  8iä  xovto 
KQU  ^vöTLnäg  rb  ev  t<p  "AtioötoXg)  ayiov  TCvaviia,  rfj  rov 
xvqCov  anoiQG)iisvov  (pav^^  FdXa  v/xäg  snötiöa,  Xsyst.  ei  yaQ 
ccvsysvv^d-rj^sv  slg  XQiötbv  6  dvayEvvijöag  rniäg  sxtQEfpsi  to5 
Iö(g)  ydXaxti,  reo  Xöycj.  näv  yäg  xb  ysvvfiöav  eomsv  Evd^vg 
7CaQS%Siv  r(p  ysvvaiisvG}  XQOcprjV  xxX.  ...  xb  avxb  ccqk  xal  alua 
xal  ydXa  xov  xvqCov  Tcd&ovg  xal  diduöxaXCag  <Sviißo?.ov  .  .  . 
ayg  ds  e|  al^ccxog  ydXa  v.axa  ^sxaßoXijv  yCvsxai,  "^dtj  [xav  öacpsg; 
das  zeige  sicli  auch  an  dem  Vieh,  das  im  Frühjahr  die  saftigen 
Kräuter  genieße  und  daher  mehr  Blut,  darum  auch  mehr  Milch 
habe;  im  heißen  Sommer  trocknet  Blut  und  Milch  aus. 
Clemens  bringt  dann  Milch  und  Taufe  in  Verbindung  und,  da 
es  sich  offenbar  um  jenen  alten  Taufbrauch  handelt,  der  oben 
erwähnt  wurde,  spricht  er  von  der  Mischung  von  Milch  un^ 
Honig  enl  nad-dQösi,  auch  von  Milch  und  Wein  gemengt 
k%03(p8Xrig  de  ij  iiiiig'  xad-dnsQ  dvaxiQva^svov  xov  nd&ovg  alg 
d(p^aQ6lav.  Auch  dies  wird  nun  allegorisiert,  endlich  auch  dif 
Butter,  die  man  in  den  Laternen  brauche,  die  dem  Worte 
gleiche,  das  die  Kinder  erleuchte.  Dabei  bezieht  sich  dei 
Alexandriner  auf  Deut.  32,  13.  14  und  Jes.  7,  15. 

Lesen  wir  diese  gewiß  allegorisierenden  Gedankengängej 
denen  aber  bestimmte  sakramentale  Bräuche  zugrunde  liegeD]| 
so  darf  uns  der  Gebrauch  der  Milch  nicht  verwundern;  si€ 
kann  dem  physiologischen  Glauben  nach  vollständig  an  die 
Stelle  des  Blutes  treten.  Sie  ist  ferner  nichts  anderes  als  das 
Sinnbild  des  Logos  Christi,  lebenzeugend  und  erneuernd.  Aucl 
in  dem  bekannten  Hymnus  am  Ende  des  Paedagogus  heißt  Christut| 
ydXa  ovQdviov  iiaöxüv  yXvxsQ&v  vv/tgr?;?  ^agCxav^  Horpia^ 
xfig  öfjg  iicd-lLßöiievov,  ol  vrjTtCaxoL  cctuXotg  öxöiiaOiv  dtixccX' 
Xo^svoL,  d-fjXfjg  XoyiX'^g  Jtvsvnati  öqoösq^  i^iTCtJtXdfisvot  xxX} 
Auch  sonst  begegnet  uns  die  Milch  als  Bild  christlichen  Werdens.* 

*  Clemens  Alex,  am  Schlüsse  des  Paedagogus  M.  S.  Gr.  VIII,  1,  ö84. 

*  Terfcullian  ad  Scap.  4:  lacte  christiano  educatus. 


Der  Ursprung  des  Jadicinm  ofFae  555 

M  Der  Käse  aber  ist  festgewordene  Milch,  Substanz  dieser.  Das 
Igt  eben  auch  TertuUian^  in  einer  Ausführung  über  Joh.  1,  13, 
wo  auch  der  Vergleich  mit  dem  Blute  nicht  fehlt:  negans 
autem  ex  carnis  quoque  voluntate  natum,  cur  non  negavit  etiam 
ex  substantia  carnis:  neque  enim  quia  ex  sanguine  negavit, 
substantiam  carnis  renuit,  sed  materiam  seminis,  quam  con- 
stat  sanguinis  esse  calorem:  ut  despumatione  mutatum  in 
coagulum  sanguinis  feminae.  Nam  ex  coagulo  in  caseo  vis 
est  substantiae,  quam  medicando  constringit,  id  est,  lactis. 
Damit  läßt  sich  jene  Probe  alter  Physiologie  bei  Hiob  X,  11 
vergleichen,  wo  die  Enstehung  des  Embryo  mit  den  Worten 
geschildert  wird:  „Hast  du  mich  nicht  wie  Milch  hingegossen 
und  wie  Rahm  mich  gerinnen  lassen?"  Und  nicht  mit  Unrecht 
hat  dazu  Rochholtz  Homers  Verse  gestellt,  in  denen  Paieon 
dem  verwundeten  Ares  lindernden  Balsam  auf  die  Wunde 
legt  und  das  Blut  gerinnen  macht :- 

Schnell  wie  die  weiße  Milch  vom  Feigenlabe  gerinnet. 
Flüssig  zuvor,  wann  in  Eil'  umher  sie  dreht  der  Vermischer: 
Also  schloß  sich  die  Wunde  sofort  dem  tobenden  Ares. 

Die  zuletzt  gegebenen  Zeugnisse  sollen  zeigen,  wie  der 
Gedanke,  daß  der  Käse  die  festgewordene  Substanz  der  Milch 
sei,  zu  dem  Vergleich  von  Käse  und  geronnenem  Blute  führte 
auf  dem  Grunde  der  alten  physiologischen  Vorstellung,  daß 
Milch  und  Blut  wesenseins  seien  und  eins  aus  dem  andern 
entstehe.  Ist  Milch  ein  Trank  der  Unsterblichkeit  und  kann 
an  die  Stelle  des  Blutes  treten,  so  ist  auch  Käse  Speise  der  Un- 
sterblichkeit. Es  ist  in  dem  Abendmahlsbrauch  der  Montanisten 
nur  eine  konsequente  Weiterbildung  solcher  Gedanken  zu  sehen. 

Noch  eins  sei  erwähnt  als  Frage.  Von  den  Paulicianern 
wird  erwähnt,  daß  sie  auch  in  der  von  ihnen  anerkannten 
Fastenzeit  Käse  und  Milch  genossen,  y.atä   de  tbv  y.aLQbv  t^j 

*  De  carne  Christi  19  ed.  Semler  III,  386. 

*  Ilias  Y,  902—904.     Germania  VII,  395. 


556  Adolf  Jacoby 

doiiovör]s  ccvtots  rE66aQaxo6xfig  xvqov  xe  xal  yäXazxog  e^(po- 
QoviLBVoig}  Und  das  trullanisclie  Konzil  von  692  verbot  den 
in  Armenien  übliclien  Brauch,  in  der  Quadragesimalzeit  Eier 
und  Käse  zu  essen.^  Hängt  das  noch  weitläufig  mit  den 
oben  untersuchten  mystischen  Ideen  zusammen? 

Eine  Segnung  von  Käse  und  Eiern  enthält  das  Sacra- 
mentarium  Gregorianum^,  eine  solche  für  Käse  der  ordo 
Romanus.^ 

8 

Daß  der  Milch  und  damit  auch  dem  Käse  als  elementaren 
Nahrungsmitteln  im  Sakramentalwesen  eine  bedeutungsvolle 
Stelle  eingeräumt  wurde,  das  lag  nahe.  Eine  Anzahl  weiterer 
Zeugnisse  mögen  das  noch  ausführen. 

Diogenes  Laertius  schildert  die  Lebensart  der  persischen 
Magier  mit  den  Worten^):  s6d-i]g  ^hv  Xsvxi],  öxißäg  dh  svvij. 
xal  Xd%avov  XQOtpri,  xvQÖg  xs  xal  ccQXog  svxsXijg,  xat 
xdXaiiog  i]  ßaxxrjQCa  (p  nsvxovvxsg,  (pccöC^xov  xvqov  äv7]QOvvxo  xal 
ccTiijö&Lov.   Seine  Kenntnis  hat  Diogenes  aus  Clitarchs  XIII.  Buch. 

Daß  in  der  Tat  diese  Speisen  geheiligt  waren,  geht  auch 
daraus  hervor,  daß  sie  den  Parsen  während  der  Fasten  erlaubt 
waren.  Bei  einem  Todesfalle  dürfen  nach  parsischer  Vorschrift 
die  Verwandten  des  Verstorbenen  durch  drei  Tage  und  Nächte 
hindurch  kein  Fleisch  essen  und  nichts  kochen;  nur  Milch, 
Käse,  Früchte  und  Eier  sind  ihnen  gestattet.®  Sollte  damit 
nicht  die  altchristliche,  armenische  Gewohnheit  der  Paulicianer 
und  die  Segnung  von  Käse  und  Eiern  zusammenhängen? 

Zoroaster    selbst    soll    von    Käse    gelebt    haben:    traduri 
Zoroastrem  in  desertis  caseo  vixisse  annis  XX'X  ita  temperatc 

'  Jacobus  Trollius  insignia  itinerarii  Italici  146      Neander  Kirche-» 
geschickte  V,  343.         *  Hefele  Konztliengeschichte  II F,  337. 
'  Opp.  Gngorii,  Venedig  1773,  X,  404. 

*  Hittorpius  de  divin.  eccl.  cathol.  off.  IGIO,  84. 

*  Vitae  philos.  ed   Cobet  2. 

®  Kaegi  Die  Ncunznhl  hei  den  Ostariern,  Philol  Abhh.  H.Schweizer- 
Sidler  dargebracht  1801,  59. 


Der  Ursprung  dea  Judicium  offae  557 

ut  vetustatem  non  sentiret.'  Ahnlich  erzählt  auch  Plutarch^, 
nur  berichtet  er,  leicht  verständlich,  statt  von  Käse  von  Milch. 
Der  Arzt  Philo  bringt  dem  Philinus  und  dessen  Sohne  trockene 
Feigen  und  Käse  mit  der  Begründung  ov  yäg  ifisfivi^^rjv,  oti 
Haöccörgov  rifilv  vnoxQStpti  6  Oilivos-,  ov  tpaöi  nrJTS  noxS 
■/Qrföccfiavov  ükX(p  //jjt'  sdeö^ati  xXi]v  tj  ydXaxros  Siaßicäöai 
xdvxa  xov  ßCov.  Auch  Menipp,  der  von  Mithrobarzanes  zur 
Hadesfahrt  vorbereitet  wird,  darf  während  der  ganzen  Zeit  der 
Initiation  nur  Obst,  Milch,  Honiggemisch  oder  Choaspes- 
wasser  genießen.' 

Am  wichtigsten  aber  ist  die  Mitteilung  Plutarchs^  über 
die  Einweihung  des  Artaxerxes  in  heimische  Mysterien  (die 
ßttöihx'^  xeksx-^):  söxi  dh  &£&s  JtoA^.utxijg  Uqov  ijv  \^&r^vttv  av 
Ttg  eixdöeuv.  eis  xovxo  dsl  xbv  xtXov^evov  jtuQsld^övxu  x^v 
fihv  IdCccv  ocTiod^iö^ccL  öxoXrjv,  dvaXaßstv  ds  TJv  Kvgog  6  JtaXaibg 
itpÖQBt  Ttglv  rj  ßuöLXsvg  yBviö&uL  xal  övxav  naXä^rig 
i^Kpayovxa  rsgf.iCvd'ov  xaxaxgaysiv  xal  tcoxtiqlov  ixxtslv 
d^vydXaxxog.  el  de  Ttgbg  xovxoig  Exsga  axxa  dgaöLV,  adtjXov 
iöTL  xolg  dXXoLg  Xach  diesem  Bericht  gab  es  also  in  Persien 
Mysterien,  bei  denen  eine  Art  Kommunion  unter  doppelter 
Gestalt  vom  König  gefeiert  wurde:  er  mußte  Feigenkuchen 
essen  (vgl.  oben  die  Feigen,  die  der  Arzt  Philo  bringt)  und 
Sauermilch  trinken  (vgl.  oben  den  Käse).  Es  ist  natürlich 
schwer,  aus  dieser  Notiz  Schlüsse  von  weittragender  Bedeutung 
zu  ziehen;  immerhin  kann  man  sich  des  Gedankens  nicht  er- 
wehren, daß  zwischen  dieser  Mysterienfeier  und  den  Abendmahls- 
bräuchen der  Artotyriten  und  der  oflFa  iudicialis  ein  Zusammen- 
hang anzunehmen  ist. 

9 

Kurz  möchte  ich  auch  noch  die  Vorschriften  über  das 
verwendete  Brot  streifen.     Die  judicia  offae  schreiben  vor,  daß 

1  Pliuius  h.  n.  XI,  42,  97.         *  Sympos.  IV,  1,  1. 

"  Necyamant.  3.     A.  Dieterich  Eine  Mithrasliturgie  172. 

*  Vitae  parall.  ed.  Sintenis  V,  106. 


558  Adolf  Jacoby 

panis  ordeaceus  zur  Verwendung  komme.  Nun  wird  beim 
Abendmahl  seit  alters  Weizenbrot  gebraucht,  so  daß  man  hier- 
aus einen  Grund  gegen  unsere  Annahme,  proba  offae  und 
Abendmahl  seien  ursprünglich  eng  verwandt,  konstruieren 
könnte.  Allein  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  alte 
Kirche  auch  gewöhnliches  gesäuertes  Brot  zur  Feier  benutzt 
hat  So  redet  z.  B.  Pseudo-Ambrosius  de  sacram.  IV,  4  von 
mens  panis  usitatus.^  Daß  aber  auch  Gerstenbrot  gebraucht 
wurde,  trotzdem  dies  das  minderwertige  Brot  war  und  von 
Clemens  Alexandrinus^  symbolisch  als  das  Judentum  gegen- 
über dem  göttlichen  Weizen  des  Christentums  gedeutet  wurde, 
dafür  mag  eine  Stelle  der  Acta  Petri  et  Pauli  45  fg.  dienen.^ 
Petrus  verlangt  in  seinem  Streit  mit  Simon  Magus,  um  zu 
beweisen,  daß  er  dessen  Gedanken  lesen  könne,  einen  ÜQtog 
zQid^ivog  (im  lat.  Paralleltext  panis  ordeaceus)  und  segnet  das 
Brot  (svXoysi  avröv),^  dann  zerbricht  er  es  heimlich  und  als 
nun  Simon  durch  seine  Künste  zwei  Hunde,  in  Wahrheit  böse 
Geister,  gegen  Petrus  erregt,  da  hält  der  Apostel  den  Tieren 
die  beiden  Brotstücke  vor,  worauf  die  Hunde  sofort  ver- 
schwinden. Das  ist  ja  klärlich  eins  der  zahlreichen  Wunder, 
wie  man  sie  der  Hostie  und  dem  Abendmahlsbrote  zu- 
schrieb. 

Gerstenbrot  benutzte  auch  nach  Joh.  6,  9.  13  Jesus  bei 
der  Speisung  der  Fünftausend,  worauf  sich  im  Azymitenstreit 

'  Migne  S.  Lat.  XVI,  439.  «  Strom.  VI,  II  M.  S.  G    VIII,  2,  816 

^  Acta  apostolorum  apocr.  ed.  Lipsius- Bonnet  I,  198  fg. 
*  Die  Segnung  svXoysiv  geschieht  beim  Abendmahl,  sodaß  dieses 
svXoyicc  heißt,  evloylcc  ist  ursprünglich  die  konsekrierte  Hostie  (rpoqp/^ 
siXoyrj&stGu  vgl.  Suicerus,  Thes.  8.  v.),  dann  später  Bezeichnung  für  das 
zum  Opfer  gebrachte  Brot,  von  dem  die  Hostie  genommen  wird  und 
das  auch  denen,  die  zum  eigentlichen  Abendmahlsgenuß  nicht  zugelassen 
wurden  und  nicht  zugegen  sein  konnten,  gereicht  wurde.  Das  ist  auch, 
was  oben  in  dem  vor  dem  Konzil  zu  Konstantinopel  1372  verhandelten 
Fall  &vrlS(OQOv  genannt  wird.  So  oder  so  aber  muß  bei  der  Eucharistie 
auch  Gerstenbrot  zur  Verwendung  gekommen  sein.  Das  Übliche  war 
freilich  Weizenbrot.  Vgl.  Irenaeus  adv.  haes.  V,  1.  3  u.a.m. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  559 

Theophylakt  von  Achrida^  bezog,  um  den  Nachweis  zu  liefern, 
daß  man  eine  Einheitlichkeit  und  genaue  Nachahmung  der 
Feier  Christi  nicht  erreichen  könne  und  brauche. 

Eine  Beziehung  zur  Abendmahlsfeier  liegt  vielleicht  auch 
darin,  daß  die  judicia  offae  gelegentlich  bestimmen,  das  Brot 
solle  sein  absque  fermento.*  Vom  9.  Jahrhundert  ab  wurde 
im  Abendland  ungesäuertes  Brot  für  die  Abendmahlsfeier 
durchgängig  üblich,  zum  ersten  Mal  durch  Rhabanus  Maurus 
de  cleric.  instit.  I,  31  bezeugt.' 

Freilich  ist  diese  Übung,  ungesäuertes  Brot  zu  benutzen, 
im  Anschluß  an  die  synoptische  Tradition  von  der  Abend- 
mahlsfeier am  Tag  der  süßen  Brote,  in  gewissen  Kreisen  der 
alten  Christenheit  bereits  bekannt  gewesen.  Nach  Epiphanius 
haben  die  Ebioniten,  also  Juden  christliche  Kreise,  jährlich  bei 
der  Kommunion  ungesäuertes  Brot  und  Wasser  (als  Asketen) 
genossen."*  Natürlich  liegt  da  eben  ein  Anknüpfen  an  das 
jüdische  Passah  vor  mit  seinen  süßen  Broten. 

Die  süßen  Brote  wurden  auf  folgende  Weise  gebacken. 
Am  Abend  vor  dem  14.  Nisan,  ehe  die  Nacht  hereinbrach 
und  die  Sterne  erschienen,  schöpfte  der  Hausvater  in  neue 
Wasserkrüge  das  durchgeseihte  Wasser,  das  am  folgenden 
Tage  gebraucht  werden  sollte.  Der  Rabbiner  weihte  das 
Wasser  unter  feierlichen  Gebeten  zum  Gebrauch.  Auch  der 
Osterweizen  wurde  unter  besonderen  Vorsichtsmaßregeln  ge- 
kauft und  von  der  Erntezeit  ab  aufbewahrt,  zuletzt  vor  dem 
Feste  genau  Korn  für  Korn  ausgelesen,  ebenfalls  unter  Be- 
obachtung von  allerlei  Vorsichtsmaßregeln,  Antun  neuer  Kleider, 
Verschleierung  des  Mundes  u.  a.  m.^ 

Dies  ganze  Verfahren  erinnert  auffallend  an  die  Art,  wie 
Hostien  gemacht  werden.  Auch  da  werden  unter  allerlei 
Gebeten,   in   bestimmten   Gewändern   die    Kömer    einzeln   aus- 

'  Cotelerius  Monumenta  ecclesiae  graec.  II,  273. 

*  MGHF631,  40.  »  Migne  S.  Lat.  CYII,  317. 

*  Haeres.  XXX,  16.         ^  Vgl.  Ersch  u.  Gruber,  Ällg.  Enc.  lU,  13,  97. 


660  Adolf  Jacoby 

gelesen  (granatim  eligantur)  und  gewaschen,  gemahlen,  endlich 
die  Hostien  aus  dem  reinen  Weizenmehl  ohne  Salz  gebacken.^ 
Azymiten  waren  übrigens  bereits  in  der  alten  Kirche  auch 
die  Syrer, 

Es  hängt  wohl  mit  diesen  Bräuchen,  speziell  auch  mit 
der  Wasserweihe  für  die  süßen  Brote  zusammen,  wenn  in 
einem  der  judicia  offae  vorgeschrieben  wird,  das  Brot  zu 
backen  aus  panis  ordeacea  und  aqua  benedicta^,  wo  nur  das 
Gerstenraehl  wieder  einen  wahrscheinlich  künstlichen  Unter- 
schied vom  Abendmahl  selber  konstruieren  soll.  Doch  betone 
ich,  daß  dies  nur  eine  Vermutung  ist,  wie  auch  die  nächste 
Folgerung. 

Denn  nicht  bedeutungslos  erscheint  es  nun  unter  diesen 
Umständen,  daß  die  Formeln  der  Zauberbücher  sich  einerseits 
dem  altkirchlichen  Brauch  anschließen,  anderseits  dem  der 
Ebioniten  und  Azymiten.  Sie  sprechen  von  ösXCyvLov  avalov, 
also  süßen  Broten  aus  Weizenmehl.  Auch  das  dürfte  wohl 
mit  Recht  auf  einen  Zusammenhang  mit  christlichen  Eucharistie- 
bräuchen gedeutet  werden.  Zugleich  ist  es  ein  neuer  Beleg 
für  die  spätere  römische  Praxis,  aus  alter  Zeit,  und  es  wäre 
nicht  ganz  unmöglich,  daß  die  Ausbreitung  der  proba  oflFae 
und  der  Abendmahlsprobe  im  Abendland  bei  der  Übernahme 
dieser  Praxis  eine  gewisse  Rolle  spielte.  Zeitlich  fällt  das 
Auftreten  der  Probe  mit  dem  Aufkommen  des  ungesäuerten 
Brotes  im  VIII.  und  IX.  Jahrhundert  zusammen  Doch  ist  das 
natürlich  unsicher.  Eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  für  den 
Gebrauch  ungesäuerten  Brotes  in  den  montanistischen  Kreisen, 
die  also  demnach  Azymiten  gewesen  wären,  ergibt  sich  aus 
dem  Ganzen. 

10 

Wie  ist  nun  wohl  dieser  ganze  Ritus  entstanden?  Die 
bisherigen  Ausführungen   haben   mit   ziemlicher  Sicherheit  ge- 

*  Constit.  Hirsaug.  II,  32.  Migue  S.  Lat.  CL,  1086,  vgl.  unten 
ßsXlyviov  &vaXov.         *  MGHF  691. 


Der  Ursprung  des  Judicium  offae  561 

zeigt,  daß  es  sich  um  eine  Form  der  Eucharistie  handelt. 
Dann  aber  gehört  dieses  merkwürdige  Mittel,  Diebe  zu  ent- 
decken, in  den  Rahmen  des  Aberglaubens,  der  an  die  Abend- 
mahlselemente und  ihren  Genuß  anknüpfte. 

Die  Entwickelung  beginnt  bekanntlich  bereits  bei  Paulus. 
Wenn  er  1.  Cor.  11,29.  30  äie  Krankheiten  und  Todesfälle  in 
der  Gemeinde  auf  unwürdigen  Abendmahlsgenuß  zurückführt, 
so  ist  das  eine  in  dem  ursprünglichen  Sinne  der  Feier  gewiß 
nicht  mit  eingeschlossene,  unter  den  Einflüssen  jener  mit 
mystischen  Ideen  geschwängerten  Welt  entstandene  magische 
Anschauung. 

Die  Opfergaben  nehmen  an  der  göttlichen  oder  dämonischen 
Natur  teil  und  haben  daher  eigene  Kräfte.  So  kann  Paulus 
1.  Cor.  10,20  von  einer  Gemeinschaft  mit  den  Dämonen  beim 
Genuß  des  Götzenopfers  reden,  eine  Vorstellung,  die  parallel 
geht  der  von  Simplicius^  uns  berichteten,  nach  der  die  Opfer- 
gaben durch  ihre  göttliche  Kraft  z.  B.  Kranke  heilen  können. 
Wenn  daher  Augustin'  einmal  um  seine  Meinung  befragt 
wurde,  ob  es  richtig  sei,  daß  kranke  Kinder,  wenn  sie  vom 
Dämonenopfer  äßen,  genesen  würden,  so  entsprach  diese  Frage 
nur  dem  Volksglauben  heidnischer  und  christlicher  Kreise, 
denn    auch    der  Hostie   schrieb   man  die  nämlichen  Kräfte  zu. 

Es  ist  nicht  nötig,  auf  die  verschiedenartigen  Wunder, 
die  durch  die  Abendmahlselemente  geschahen,  einzugehen.' 
Aber  wichtig  ist,  daß  schon  frühzeitig  der  Glaube  sich  aus- 
bildete, daß  das  Abendmahl  zur  Entdeckung  geheimer  Sünden 
und  Frevel  dienen  könne.  Gleich  der  Beginn  der  Vercellen- 
sischen  Akten  des  Petrus  und  Simon  c.  2*  enthält  eine  Er- 
zählimg,    die    hierhergehört.      Paulus    spricht    über    Brot    und 

*  Komm,  zu  Eplktet  38.     Lobeck,  Aglaophamus  708. 
«  Migne  S.  Lat.  XXXIII,  epist.  98. 

*  Man  könnte  hier  mancherlei  aufführen,  z.  B.  Evagrius  IV,  3. 
Gregor  von  Nazianz  orat.  8,  18  (Migne,  S.  Gr.  XXXV,  809).  Ambrosius 
de  excesm  fratris  sui  Satyri  1,43  (Migne,  S.  Lat.  XVI,  1360 f.). 

*  Lipsius- Bonnet,  Acta  ap.  apocr.  1,46. 

Archiy  f.  ReLigionswissenschaft  Xm  36 


562  Adolf  Jacoby 

Wasser  das  Gebet  und  teilt  die  Elemente  aus.  Als  auch 
Rufina  die  Eucharistie  aus  des  Apostels  Händen  entgegen- 
nehmen wollte,  verkündigte  ihr  Paulus,  daß  sie,  eben  von  der 
Seite  eines  Buhlen  aufgestanden,  nicht  als  Würdige  nahe  und 
auf  seine  Worte  bricht  sie  auf  der  linken  Seite  gelähmt  zu- 
sammen. Klarer  noch  ist  das  andere,  einer  ebenfalls  volks- 
tümlichen, altchristlichen  Schrift,  den  Akten  des  Thomas  sect.  48 
bzw.  5P  entstammende  Beispiel.  Ein  Jüngling,  der  einen 
Frevel  (jjtQäy^a  äd-sfiitov)  begangen  hat,  erlebt,  daß  ihm  im 
Augenblick,  da  er  die  Eucharistie  mit  dem  Munde  empfängt, 
beide  Hände  verdorren,  so  daß  er  sie  nicht  mehr  zum  Mund 
emporführen  kann  Der  Apostel,  herbeigerufen,  fragt  sofort: 
„Sag'  mir,  mein  Sohn,  ohne  Scheu,  was  du  getan  hast, 
bevor  du  hierher  kamst.  Denn  die  Eucharistie  des  Herrn 
hat  dich  überführt.  Diese  Gnadengabe,  die  zu  vielen  ge- 
kommen ist,  heilt  zumeist  die  im  Glauben  und  in  der  Liebe 
Herantretenden,  dich  aber  hat  sie  verdorren  lassen,  und  das 
Geschehene  ist  nicht  ohne  eine  besondere  Kraft  geschehen." 
Der  Jüngling  bekennt  denn  auch  einen  Mord  und  wird 
vom  Apostel  durch  Waschung  mit  geweihtem  Wasser  wieder 
geheilt. 

In  solchen  Erzählungen  haben  wir  die  Grundlage  für  die 
uns  beschäftigenden  Gebräuche  zu  erkennen.  In  mancher  Be- 
ziehung aber  das  wichtigste  Beispiel  hat  uns  Cyprian  de 
lapsis  25  ^  bewahrt,  der  mitteilt,  daß  ein  Kind,  dem  nach  der  da- 
maligen Sitte  der  Kinderkommunion  der  Abendmahlswein  ein- 
geflößt wurde,  diesen  wieder  ausgebrochen  habe.  Der  Grund 
zu  der  Erscheinung  war,  daß  das  Kind  zuvor  vom  Götzenopfer 
genossen  hatte  und  damit  eben  mit  den  Dämonen  in  Verbindung 
getreten  war. 

Nun  war  es  Anschauung  der  alten  Kirche,  daß  der  Sünder 
einen  Dämon  habe,  vom  bösen  Geiste  besessen  sei.     Origenes 

1  a.  a.  0.  2,2,167. 

'  Corpus  scriptorum  eccl.  lat.  der  Wiener  Akademie  III,  256. 


Der  Ursprung  des  Judicium  oflFae  563 

in  Num.  hom.  27  n.  8  erklärt,  wer  einen  Ehebrucli  begeht 
oder  vom  Zorne  sich  hinreißen  läßt  oder  stiehlt,  hat  einen 
Dämon.  Daher  wird  im  Exorzismus  der  judicia  offae  aus- 
drücklich gesagt:  exorcizo  te,  immunde  Spiritus,  qui  hominem 
suadis  et  constrictas,  ut  furtum  faciat  etc.  Mehr  darüber  in 
einer  Geschichte  des  Exorzismus;  die  beiden  charakteristischen 
Stellen  mögen  genügen.  Diebstahl  bedeutet  also  Gemeinschaft 
mit  dem  bösen  Geiste;  die  Wunderkraft  der  Hostie  kann  daher 
in  Wirkung  treten! 

Das  Kind  kann  in  dem  Falle,  dessen  Cyprian  Erwähnung 
tut,  den  Abendmahlswein  nicht  bei  sich  behalten,  weil  es  mit 
den  Dämonen  in  Verbindung  getreten  ist.  Es  beruht  auf  der 
gleichen  Vorstellung,  wenn  der  Dieb,  der  gleichfalls  mit  den 
bösen  Geistern  verbunden  ist,  der  Abendmahlsprobe  oder  der 
Probe  mit  Brot  und  Käse  unterworfen,  die  Elemente  nicht 
hinunterschlucken  kann  oder,  wie  es  öfters  heißt,  wieder  aus- 
brechen muß. 

Ein  Fortschritt  gegenüber  den  vereinzelten  Wunder- 
erzählungen der  alten  Literatur  zeigt  sich  nur  darin,  daß,  was 
dort  Wunder  ist,  nun  zum  systematischen  Beweisverfahren 
erstarrt,  eine  Erscheinung,  die  nicht  auf  die  Probe  mit  Abend- 
mahl und  Käsebrot  sich  beschränkt. 

11 

Noch  eine  Frage  bleibt  nun  übrig:  nach  dem  Erfolg  des 
Brauchs.  Es  kann  doch  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  eine 
Übung,  die  eine  so  zähe  Existenz  und  eine  so  weite  Aus- 
breitung gewonnen  hat,  nicht  erfolglos  angewendet  wurde; 
um  so  mehr,  wenn  unsere  Vermutung  recht  hat  und  heid- 
nische Kreise  den  christlichen  Brauch  übernahmen,  eine  Tat- 
sache, die  sich  um  so  wahrscheinlicher  machen  läßt,  wenn 
der  Brauch  durch  Erfolge  zur  Nachahmung  reizte.  Mit 
dem  Worte  Aberglauben  und  Priestertrug  ist  hier  nichts  zu 
machen. 

86* 


564  Adolf  Jacoby 

Die  Übung  läßt  sich  auf  die  Gesetze  der  menschlichen 
Psyche  zurückführen  und  von  da  aus  zugunsten  der  Wirklich- 
keit des  Erfolgs  beantworten.  Ich  will  dies  an  der  Hand 
einiger  aus  den  verschiedensten  Gebieten  der  Erde  zusammen- 
gestellter Beispiele  erläutern. 

Die  japanischen  Bergmönche  beschrieben  Papiere  mit 
mystischen  Schriftzeichen  und  Vogelbildern  und  ließen  diese 
Zettel  dann  vom  Obereremiten  der  Provinz  Kumanno  unter- 
zeichnen. Holte  man  sich  bei  ihnen  wegen  eines  Diebstahls 
Rat,  so  verfuhren  sie  ähnlich  wie  die  Priester  des  Mittelalters 
und  des  alten  Christentums:  sie  rissen  von  einem  solchen 
Zettel  ein  Stück  ab  und  gaben  es  dem  Verdächtigen,  der  es 
verschlingen  mußte.  Das  Papier  sollte  des  Inkulpaten  Herz 
und  Gemüt  mit  unerträglicher  Angst  erfüllen  und  ihn  zwingen, 
zu  bekennen.  Das  Schuldbewußtsein  und  die  Furcht  vor  der 
geheimnisvollen  Macht  und  Kunst  der  Mönche  rief  gewiß  in 
vielen  Fällen  ein  Geständnis  hervor.^ 

Wenn  in  Mexiko  ein  Diebstahl  vorkam,  so  nahm  man 
seine  Zuflucht  zum  Schlangenzauberer.  Der  Beschädigte  rief 
die  Nachbarn  zusammen,  gegen  die  er  Verdacht  hatte,  und 
der  Zauberer  hielt  folgende  Rede  an  sie:  „Ihr  sitzt  hier,  meine 
Kinder,  weil  einer  eurer  Nächsten,  der  in  Bedrängnis  ist, 
diesem  seine  Habe,  sein  Gut  gestohlen  hat,  weil  er  in  meiner, 
in  deiner  Abwesenheit,  ihm  seine  Habe,  sein  Gut  genommen 
hat.  Er  möge  es  ruhig  hergeben,  der  Unglückliche,  denn  es 
wird  jetzt  kommen  der  Zauberer,  der  wird  dich  entlarven." 
Folgt  auf  diese  eindringliche  Ermahnung  kein  Geständnis,  so 
läßt  er  die  Schlange  aus  ihrer  Schüssel  und  sie  bezeichnet 
den  Schuldigen,  indem  sie  an  ihm  emporkriecht.  Kehrt  sie 
ohne  solches  Tun  in  ihre  Schüssel  zurück,  so  ist  der  Schuldige 
nicht  unter  den  Anwesenden.  Seier  macht  dazu  die  richtige 
Bemerkung:  „Es  ist  klar,  daß  die  Kunst  dieses  Zauberers 
einzig    in    der  Abrichtung    der    Schlangen    bestand,    und    die 

'  Kämpfer  Amoenitates  exoticae  463 — 465. 


Der  Ursprung  des  Judicium  ofFae  565 

Wirksamkeit  seiner  Kunst  in  dem  Glauben  an  sie,  der  den 
Schuldigen  sich  irgendwie  verraten  ließ."* 

Wie  richtig  Seier  gesehen  hat,  das  beweist  die  Praxis, 
die  uns  aus  Masuren  erzählt  wird.  Wenn  ein  Hausgenosse 
sich  des  Diebstahls  verdächtig  gemacht  hat,  läßt  der  Haus- 
vater die  Leute  zusammenkommen  und  verteilt  unter  sie  Stroh- 
halme von  gleicher  Länge;  nach  einer  Viertelstunde  werden 
die  Halme  wieder  untersucht,  wo  dann  der  Halm  des  Diebes 
gewachsen  sein  soll.  In  einem  Falle  sei  auch  der  Dieb  ge- 
funden worden,  weil  er  aus  Furcht  vor  Entdeckung  ein  Stück 
von  dem  Strohhalme  abgebissen  habe.* 

Instruktiv  ist  auch  folgende  Geschichte  aus  ganz  anderer 
Gegend.  1854  war  Ismael  in  Safita  im  Libanon  Gouverneur. 
Von  ihm  erzählte  man:  une  autre  fois,  on  avait  devalise  une 
boutique  en  pratiquant  un  trou  dans  le  mur.  Ismael  reunit 
comme  de  coutume  les  gens  du  village.  „Je  vais  lire,  dit-il, 
une  priere  devant  le  trou  et  celui  qui  a  vole  ne  pourra  pas 
y  passer."  Puis  quand  il  eut  fini  sa  priere:  „Ce  n'est  pas  la 
peine,  dit-il,  le  trou  vient  de  me  parier:  le  coupable  a  de  la 
poussiere  sur  le  tarbouch."  Aussitot  il  aper^ut  dans  un  coin 
le  voleur  qui  epoussetait  son  tarbouch.' 

So  keck  dieses  Verfahren  ist  und  so  sehr  es  einem  Scherze 
gleicht*,  so  viel  spricht  es  für  die  feine  Psychologie  und  Be- 
obachtungsgabe des  Gouverneurs.  Böses  Gewissen  und  Schuld- 
bewußtsein, auf  der  anderen  Seite  Glaube  und  starke,  vom 
Nimbus  der  Heiligkeit  und  übernatürlicher  Kraftbegabung  um- 
gebene Persönlichkeiten  wirken   ungeheuer.     Es   sind   die   Ge- 

*  Veröffentlichungen  ans  den  Königl.  Mus.  f.  Völkerkunde  Bd  VI, 
Seier,  Zauberei  und  Zauberer  im  alten  Mexiko  46. 

»  Wuttke  a.  a.  0.  239. 

'  Dussaud  Histoire  et  religion  des  Nosairis  36. 

*  Ich  sehe  nachträglich,  daß  es  sich  in  dieser  Erzählung  tatsächlich 
um  einen  Schwank  aus  dem  Morgenland  handelt,  der  indessen  für  unsere 
Frage  doch  seinen  Wert  behält;  vgl.  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volks- 
kunde V,  61. 


566  Adolf  Jacoby    Der  Ursprung  des  Judicium  offae 

setze  der  Suggestion  und  Autosuggestion,  die  den  eigentüm- 
lichen  Praktiken  der  Ordale  mit  dem  geweihten  Bissen  und 
der  Abendmahlsprobe  ihren  ernsten  Hintergrund  gegeben  haben. 
So  gut  heute  noch  unter  dem  Einfluß  einer  Verbalsuggestion 
im  wachen  Zustand  Lähmungs-  und  ähnliche  Erscheinungen 
hervorgerufen  werden  können,  so  gut  konnten  die  Priester  der 
Vergangenheit,  auch  ohne  bewußte  Kenntnis  der  zugrunde 
liegenden  Erscheinungen  der  menschlichen  Psyche,  durch  ihre 
Formeln  und  Exorzismen  eine  Art  der  Verbalsuggestion,  Er- 
folge zeitigen.  Lehmann  hat  es  durch  Verbalsuggestioa  fertig- 
gebracht, daß  ein  Student  monatelang  in  seiner  Gegenwart 
kein  Streichholz  entzünden  konnte^,  und  die  verblüffenden 
Versuche  von  Bernheim,  v.  Schrenck-Notzing,  Kraft -Ebing, 
Forel  u.  a.  überheben  mich  weiterer  Nachweise.  Wo  der  im 
Gerüche  geheimnisvoller  Macht  stehende  Priester  —  auch  das 
evangelische  Volk  holt  den  katholischen  Priester  wie  eine  Art 
Hexenmeister,  um  Diebe  zu  entdecken^  —  auf  die  rechte  Dis- 
position der  Psyche  durch  Schuldbewußtsein  und  Glauben  an 
die  Wunderkraft  der  heiligen  Worte  oder  der  geweihten  Ele- 
mente traf,  da  aß  der  Schuldige  überhaupt  den  Bissen 
nicht  (siehe  oben  Abschn.  4)  oder  es  konnten  auch  unter  dem 
psychischen  Eindrucke  richtige  Würge-  und  Erstickungserschei- 
nungen oder  Brechreiz  sich  auslösen.  An  der  Wirklichkeit 
mancher  Erfolge,  die  den  Glauben  neu  stärkten,  wird  man 
nicht  zweifeln  können,  und  das  erklärt  die  Zähigkeit  und  Ver- 
breitung unseres  Ordals. 

*  Lehmann  Zauberei  und  Aberglaube. 

*  Wuttke  a.a.O.  s.  Register  unter  „Geistliche,  katholische". 


I 


Marica 

Von  Franz  BoU  in  Heidelberg 

Vor  mehreren  Jahren  fiel  mir  bei  der  Durchsicht  einer 
Augustinhandschrift  eine  Randnotiz  auf,  die  über  die  durch 
Marius'  Flucht  bekannte  Göttin  von  Mintumae  neue  Nachricht 
bringt.  Meine  —  allerdings  von  vornherein  wenig  zuversicht- 
liche —  Hoffnung,  daß  sich  in  der  weitverzweigten  Über- 
lieferung der  Civitas  Dei  diese  Randnotiz  irgendwo  noch  etwas 
ausführlicher  finden  möge,  hat  sich  bis  jetzt,  nach  Durchsicht 
von  etwa  30  Augustinhandschriften,  nicht  erfüllt;  so  möchte 
ich  nun  nicht  länger  zögern,  von  dem  kleinen  Funde  Mit- 
teilung zu  machen,  wenn  ich  auch  nur  einen  guten  Bruchteil 
der  älteren  Augustinhandschriften  heranziehen  konnte.^ 

Die  Randbemerkung,  von  der  ich  spreche,  ist  mir  zuerst 
in  einer  Freisinger  Handschrift  von  Augustinus  de  civitate  Dei, 
Cod.  lat.  Monac.  5251  saec.  XHI,  aufgefallen.  Der  Kodex  ent- 
hält auch  sonst  eine  ziemliche  Anzahl  von  Randnoten,  alle 
von  erster  Hand,  über  die  ich  einiges  in  Kürze  bemerken  muß, 
da  sie  sonst  noch  nicht  beachtet  zu  sein  scheinen.  Die  Noten 
sind  in  den  ersten  Büchern  nicht  ganz  selten;  von  Buch  IV 
werden  sie  sehr  spärlich,  um  dann  von  Buch  XIII  ab  zeit- 
weise wieder  an  Zahl  zuzunehmen.  Die  meisten  lehren  uns 
nichts,  sondern  geben  lediglich  an,  was  im  Text  steht,  oder 
kennzeichnen  den  Inhalt  nach  seinem  Wert  für  den  Schreiber 
und  Besitzer:  z.  B.  steht  am  Rand:  Consolatio,  oder  locunda 
comparatio  oder  AsseHio  resurredionis  pulclira.  Gelegentlich 
werden  Bibelsprüche  angemerkt,  auch  einmal  zu  den  Virgil- 
versen  in  I  19  die  Fundstelle  angegeben:  Hoc  über  sextus 
Virgilii  narrat.     Auf  Antikes  im  Text  wird   mit  Vorliebe  auf- 

*  Die  Bemerkungen  über  die  Tifatina,  die  ich  früher  mit  dieser 
Abhandlung  unter  gemeinsamem  Titel  zu  vereinigen  beabsichtigte,  ge- 
denke ich  einmal  in  größerem  Zusammenhang  zu  verwerten. 


568  Franz  Boll 

merksam  gemacht,  z.  B.  f.  15^  ünde  Eomani  anserem  colerent, 
und  vieles  andere  der  Art;  f.  112"^  steht  non  est  credendum 
esse  antypodas.  Bemerkenswert  ist  die  f.  6  notierte  Textvariante 
zu  I  18  (p.  30,  10  Domb.3,  zu  quod  eius  rnemhra  sunt  integra): 
aliter  quod  qiiamvis  integra  membra]  sie  findet  sich  weder  bei 
den  Maurinern,  noch  bei  Hoffmann  oder  Dombart,  ist  übrigens 
vielleicht  durch  das  in  Zeile  17  folgende  quamvis  mernbri  illius 
integritate  iam  perdita  beeinflußt.  Zu  dem  Wort  intercapedo 
steht  f.  52  am  Rand:  i.  e.  interspacium  interuallum  uel  interiectio 
temporum,  was  aus  Glossaren  exzerpiert  ist  (vgl.  Götz  Thes. 
gloss.  emend.  s.  v.).^  Erwähnen  möchte  ich  außerdem  noch 
eine  Randnotiz  f.  4:  0  diuites  qui  timidi  estis  de  uestra  opu~ 
lentia,  demonstrantem  uerhis  Äugustinum  esse  gasophüatium  in- 
tendite,  uhi  uestras  recondatis  opes  ubi  für  et  tinea  accessum 
habere  nescit.  Die  gleichen  Worte  sind  auch  im  Cod.  Colon, 
eccl.  75  saec.  IX  von  der  gleichen  Hand  wie  der  Text  an 
den  Rand  geschrieben.^  Das  liefert  den  erwünschten  Beweis, 
daß  auch  die  übrigen  Randnotizen  recht  wohl  älter  sein 
können  als  die  Handschriften,  in  denen  ich  sie  bis  jetzt  be- 
merkte. Außer  der  gleich  folgenden  Nachricht  über  Marica 
habe  ich  übrigens  nichts  von  Belang  finden  können. 

F.  15  steht  in   der  Freisinger  Hs  das  Kapitel  II  23,   wo 
Augustin  des  Marius  und  seines  Verstecks  in  den  Sümpfen  von 


'  Auch  in  der  ältesten  aller  Hss  der  Civitas  Dei,  dem  Kodex  von 
Lyon  no.  607  der  Stadtbibliothek  (früher  523  bis),  einer  Halbunziale  des 
VI.  Jahrhs.,  die  L.  Delisle  (Not.  et  Extr.  XXIX  2,  p.  367)  beschrieben 
hat,  steht  eine  Randnotiz,  die  sich  gleichlautend  in  Glossaren  findet 
(helluones  dicuntur  glutones;  vgl.  die  Glossae  Cod.  Sangall.  912  s.  VIl/VIII 
(CGL  IV  243,  36)  und  Glossae  nominum  ed.  Loewe  p.  154). 

'  Jaffö  und  Wattenbach,  Eccles.  Colon,  codd.  p.  111.  Die  Alters- 
bestiinmung  der  Hs  —  Jaffd  schrieb  sie  dem  VIII.  Jahrhundert  zu  — 
stammt  von  L.  Traube  (vgl.  auch  die  demnächst  erscheinende  2.  Auflag© 
seiner  Textgeschichte  der  Regeln  S.  Benedicts  S,  77,  1);  die  Glossen 
stammen  aber  wie  der  Text  aus  einer  Vorlage  saec.  VIII.  —  Über  der- 
artige Randbemerkungen  in  mittelalterlichen  Hss  vgl.  L.  Traubes  Vor- 
lesungen und  Abhandlungen  II  68  f. 


Marica  569 

Minturnae  und  der  ihm  angeblich  von  der  Göttin  geleisteten 
Hilfe  gedenkt:  nee  Marieae  nescio  mi  tribuo  Marti  sanguineam 
fdicitatem,  sed  oceultae  potius  providentiae  Bei.  Dazu  steht  am 
Rand  von  erster  Hand  eine  Bemerkung,  die  sich  gleichlautend 
nachher  noch  in  einer  ganzen  Anzahl  anderer  z.  T.  älterer  Hss 
finden  ließ.  Es  sind  dies  zunächst  eine  Anzahl  von  Hss  der 
Münchener  Staatsbibliothek:  Cod.  lat.  2532  (Aldersbach)  s.  XI 
ex.,  4514  (ßenediktbeuren)  s.  XII,  13024  (Regensburger  Stadt- 
bibliothek) s.  X,  17051  (Schäftlarn)  s.  XII,  18020  (Tegernsee) 
s.  Xl/Xll,  22218  (Windberg)  s.  XII,  die  wohl  zum  Teil  in 
direktem  Abhängigkeitsverhältnis  voneinander  stehen  mögen. 
In  allen  stehen  auch  sonst  Randnotizen  derselben  meist  wert- 
losen Art  wie  in  5251,  am  wenigsten  in  13024.  Von  den  Hss 
der  Pariser  Nationalbibliothek  hat  lat.  11638  s.  XI  (so  Omont; 
8.  X  gibt  Dombart  an)  f.  19^  die  Randbemerkung,  dune  ecriture 
un  peu  posierieure.  Endlich  hat  sie  auch  Vatican.  lat.  426, 
s.  IX/X   nach  Heegs  Angabe,  f.  35"^.^ 

Ich  gebe  die  Notiz  nun  mit  den  wenigen  Abweichungen, 
die  sich  in  den  mir  bekannten  Hss  finden: 

Maricam  deam  Dianam  dicit.  Mintumenses  enim 
Cumanis  subreptum  sigillum  Dianae  sibiqiie  datiim, 
quoniam  mari  venerat,  Maricam  vocaverunt  Diayiam, 
sicut  etiam  eadem  vocitatur  Fascilina  eo  quod  intra 
ligni  fascem  sit  occultata. 


*  Die  Notiz  fehlt  dagegen  in  den  genannten  sehr  alten  Hss 
von  Lyon  (auch  in  ihrer  Abschrift  Lyon,  StadtbibUothek  n.  608,  früher 
523,  8.  IX)  und  Cöln,  in  dem  Berliner  Cod.  theol.  fol.  337  (s.  Roses  Ver- 
zeichnis II  1  n.  302),  sowie  in  vier  weiteren  Münchener  (Clm.  3831, 
6385,  6267,  26  907)  und  vier  weiteren  Pariser  Hss  (darunter  dem  alten 
Corbeiensis  aus  St.  Germain,  jetzt  lat.  12214  der  Nationalbibliothek  s.  YII 
und  in  den  codd.  lat.  der  gleichen  Bibliothek  2050,  2051,  2053,  alle 
saec.  X;  sodann  in  zahlreichen  Augustinhandschriften  der  Vaticana 
außer  der  obengenannten.  Für  freundliche  Auskunft  über  die  Hss  habe 
ich  den  Herren  L.  Cledat  und  G.  Guigue  in  Lyon,  J.  Hansen  in  Cöln, 
H.  Omont  in  Paris,  J.  Heeg  und  E.  Petzet  in  München  zu  danken. 


570  Franz  Boll 

Statt  deam  Dianam  dicit  steht  in  den  sechs  genannten  Miinchener 
Hss  außer  5251  deam  dicunt  Dianam,  während  die  Lesart  von 
Monac.  5251  mit  der  Pariser  und  der  Vatikanischen  Hs  überein- 
stimmt. Statt  subreptum  geben  alle  Münchener  Hss  (auch  5251) 
surreptum;  statt  qiwniam  haben  alle  außer  5251  quod:,  statt 
sicut  steht  in  5251  sie.  In  der  Pariser  Hs  sowie  durch  Kor- 
rektur in  der  Vatikanischen  steht  fascilina;  alle  übrigen  haben 
fasilina,  was  bei  der  gegebenen  Etymologie  Folge  falscher  Aus- 
sprache sein  muß.  In  der  Überlieferung  der  letzten  Zeile  gehen 
die  Hss  auseinander;  intra  lignum  fasce  haben  die  sämtlichen 
Münchener  Hss,  intra  ligni  fasces  die  Vatikanische  und  die 
Pariser,  wonach  ich  im  Text  intra  ligni  fascem  hergesteUt 
habe;  möglich  wäre  auch  intra  lignormn  fascem  wie  bei  Servius 
Aeu.  II  116.  —  Bemerkt  sei  noch,  daß  in  lat.  Monac.  17  773 
(Stadtamhof)  saec.  XV  über  dem  Marica  des  Textes  in  kleiner 
Schrift  i.  e.  dyane  steht,  in  Übereinstimmung  mit  dem  Scholion. 
Während  der  am  Schluß  gegebene  Hinweis  auf  die  Diana 
Fascilina,  d.  h.  0ttX6XlTig  nebst  der  Etymologie  von  fascis  nur 
Bekanntes  wiederholt  und  daher  keiner  näheren  Besprechung 
bedarf,  ist  die  Kultlegende  und  Identifizierung  der  Marica 
allem  Anschein  nach  neu;  ich  habe  sie  nirgendwo  abgedruckt 
oder  erwähnt  gefunden.^  Marica^  ist  vor  allem  als  Göttin  der 
an  der  kampanischen  Grenze  gelegenen  alten  Aurunkerstadt 
Minturnae  bekannt,  wo  ihr  heiliger  Hain  an  den  Sümpfen  der 
Lirismündung  lag.  Außerdem  wurde  sie  noch  in  Pisaurum  von 
den  Frauen  verehrt  (CIL  I  175)  und  von  Virgil  (Aen.  VU  47) 
auch  nach  Laurentum  versetzt,  was  wenigstens  nicht  notwendig 
mit    Servius    als    poetische    Lizenz    oder  Ersatz    für  latina  zu 

'  Gleich  den  Maurinern  schweigen  auch  die  beiden  neuen  Heraus- 
geber der  Civ.  Dei  völlig  von  ihr. 

*  Die  Nachrichten  über  sie  findet  man  zusammengestellt  bei  Preller- 
Jordan,  Rom.  Myth.  I  386;  412  f.;  R.  Peter  in  Roschers  Myth.  Lex.  II  2878; 
G.  Wissowa,  Relig.  und  Kult,  der  Römer  44,4;  Hild  im  Dict.  des  antiqu.  s.  v. 
Der  Aufsatz  von  M.  Bang,  Marius  in  Minturnae,  Klio  Bd  X  (1910)  178flF. 
berührt  diese  Fragen  nicht. 


Marica  571 

erklären  ist.^  Von  den  Alten  wurde  sie  teils  mit  Yenus  gleich- 
gesetzt, da  eine  Kapelle  der  Yenus  mit  der  Inschrift  IIONTIH 
AOPO^ITH  sich  dicht  neben  dem  Heiligtum  in  Minturnae 
befand/  teils  mit  Circe,  die  nicht  fern  in  Circeji  ihr  altes 
Heiligtum  besaß.  Preller  hat  sie  mit  Fauna  oder  Bona  Dea 
verglichen,  der  auch  die  Circe  in  Circeji  nahe  verwandt  ge- 
wesen sei;  dafür  sprach  ihm,  daß  sie  nach  Yirgil  die  Gattin 
des  Faunus  war. 

Hier  erscheint  nun  eine  neue  Identifikation.  Marica  wird 
zur  Diana,  und  wir  erfahren  zum  ersten  Male  etwas  von  einer 
Kultlegrende.  Der  Kultus  der  Göttin  wird  danach  mit  ihrem 
geraubten  Bilde  von  Kyme  nach  Minturnae  eingeführi  Bei  einer 
„Diana",  die  von  der  griechischen  Kolonie  Kyme  herkommt, 
muß  natürlich  an  die  griechische  Artemis  gedacht  werden. 
Damit  tritt  die  neue  Kultlegende  in  die  nächste  Parallele  zu  der 
Kultsage  von  Aricia,  wonach  das  Bild  der  Diana  Nemorensis 
das  von  Orestes  und  Iphigenia  geraubte  Bild  der  taurischen 
Artemis  ist:  (Orestes)  occisö  Thoante  simulacrum  susitdit  abscon- 


'  So  auch  W.  Otto  im  Artikel  Faunus  in  Pauly-Wissowa  R.  E.  YI 2071. 
Für  das  Vorkommen  der  Namen  Maric(c}us,  Marica,  Marici  (Plin.  N.  H. 
III  124)  auf  keltiscbem  Boden  genügt  der  Hinweis  auf  A.  Holders  Keltischen 
Sprachschatz  U  427.  Woher  Holder  die  Anschauung  hat,  die  Marica 
von  Laurentum  sei  die  Stammesgottheit  jener  ligurischen  Marici  in  Gallia 
Transpadana  gewesen,  ist  mir  nicht  bekannt;  doch  vgl.  die  unten  S.  674,2 
zitierte  Bemerkung  von  W    Schulze. 

*  Die  Hauptstelle  bei  Servius  zur  Äen.  YII  47  [Hunc  (seil.  Latinum) 
Fauno  et  nympha  genitum  Laurente  Marica  acdpimtis]  sei  hier  wiederholt: 
Est  autem  Marica  dea  Utoris  Minturnensium  iujcta  Lirin  fluvium.  Horatius 
'et  innantem  .  .  Lirin',  quod  si  voluerimtis  accipere  uxorem  Fauni  Maricam, 
non  procedit:  dii  enim  topici  i.  e.  locales  ad  alias  regiones  non  transeunt. 
Sed  potest  dictum  esse  per  poeticam  Jicentiam  'Laurente  Marica'  cum  sit 
Minturnensis.  dicunt  alii  per  Maricam  Venerem  intellegi  debere,  cuius 
fuit  sacellum  iuxta  Maricatn,  in  quo  erat  scriptum  Ilovriri  'AcpQodizri. 
Sane  Hesiodus  Latinum  Circes  et  Ulixis  filium  dicit  quod  et  Vergilius 
tangit  dicendo  (XII  164)  'Solis  avi  specimen'.  sed  quia  temporum  ratio 
non  procedit,  illud  accipiendum  est  Hygini,  qui  ait  Latinos  plures  fuisse, 
ut  intellegamus  poetam  abuti  ut  solet  nominum  similitudine. 


572  Franz  Boll 

ditum  fasce  lignorum  unde  et  Facelitis  dicitur  .  .  et  Ariciam 
detulit  (Servius  Aen.  II  116).  Gerade  so  wie  in  dieser  Kultsage 
oder  aucli  in  der  von  Rhegion  oder  Tyndaris^  wird  nach 
unserem  Scholion  ein  Kultbild  der  Artemis  geraubt  und  nach 
Minturnae  gebracht,  wo  es  nun  als  Marica  verehrt  wird. 

Die  Anknüpfung  einer  solchen  griechischen  Kultlegende 
gerade  an  Kyme  hat  gewiß  nichts  Auffallendes.^  Aber  sie 
setzt  allerdings  voraus,  daß  dort  ein  Artemiskult  bestand.  Der 
einzige  Dianentempel,  von  dem  wir  in  Kampanien  wissen,  ist 
freilich  der  der  Tifatina  bei  Capua,  und  mit  einem  angeblichen 
Tempio  di  Diana  in  Baiae,  der  wahrscheinlichen  alten  Hafen- 
stadt von  Kyme,  ist  es  nichts.^  Dennoch  spricht  alles  dafür, 
daß  in  Kyme  einmal  ein  Artemiskult  bestand.  Artemis  ist 
die  Hauptschutzgottheit  von  Euboea,  und  von  Eretriern  und 
Chalkidiern  ist  Kyme  gegründet  (Dionys.  Halic.  YII  3,  1);  auf 
Münzen  von  Eretria  und  wiederum  von  Neapolis,  der  Pflanz- 
stadt von  Kyme,  findet  sich  der  Artemiskopf^  Diese  sicheren 
Tatsachen,  denen  andere  angereiht  werden  könnten,  sind  doch 
wohl  Beweis  genug,  daß  auch  *in  Kyme  Artemiskult  neben 
dem  des  Apollon,  des  Hauptgottes  von  Kyme,  nicht  gefehlt  haben 
kann,  wenn  wir  auch  zufällig  keine  Spur  mehr  davon  besitzen.^ 

^  Vgl.  im  allgemeinen  über  diese  gräzisierenden  Kultlegenden 
italischer  Artemiskulte  Wernicke  bei  Pauly-Wissowa  II  1399 f.;  Höfer  im 
Art.  Orestes  bei  Röscher  III  998 ff.;  F.  Pfister,  Der  Beliquienkult  im 
Altertum  (RGW  Bd  V,  1909)  344  f.  Die  alte  Abhandlung  von  F.  Schneide- 
win,  Diana  Phacelitis  et  Orestes  apud  Rheginos  et  Siculos,  Dies.  Gott. 
1832,  die  ich  mir  nicht  ohne  einige  Mühe  verschaffte,  ist  neben  den 
neueren  Darstellungen  ohne  Schaden  zu  entbehren. 

*  Übertragung  des  Oresteskultus  von  Kyme  nach  Aricia  vermutet 
Reitzenstein,  Ined.  poet.  Graec.  fragm.  II  (Ind.  lect.  Rost.  1891)  p.  10. 

'   Vgl.  Beloch,  Campanien*  187. 

*  Ebenso  auf  Münzen  des  äolischen  Kyme,  das  vielleicht  auch  voi 
Euboea  aus  besiedelt  ist,  s.  Ed.  Meyer,  Gesch  d.  Alt.  II  234.  —  Vgl.  jetz 
auch  F.  V.  Duhn,  Der  Dioskurentempel  in  Neapel  (Sitzgsber.  der  Heidelb." 
Akad.  1910,  Abh.  1)  S.  14. 

*  Der  Gedanke,  die  Sage  von  dem  Raub  des  Artemisbildes  aus 
Kyme  solle  gerade   das  Fehlen  eines  Artemiskultes  in  Kyme  erklären 


Marica  573 

An  Kyme  also,  die  älteste  griechische  Gründung  auf 
italischem  Boden,  knüpft  die  Kultsage  der  Marica  an;  von 
hier  soll  das  Bild  der  Göttin  geraubt  sein:  leider  erfahren  wir 
nicht  durch  wen,  und  können  daher  nur  sagen,  daß  es  die 
Mintomenser  selbst  nach  dem  Wortlaut  unserer  Quelle  (sihique 
datum)  nicht  gewesen  sein  können;  vielleicht  ist  an  einen 
Heros  zu  denken,  ähnlich  wie  in  der  Orestessage.  Sicherlich 
aber  ist  die  Überführung  mit  Willen  der  Göttin  geschehen. 

Was  hat  nun  aber  die  Gleichsetzung  der  Marica  mit 
Diana  oder  zunächst  vielmehr  Artemis  veranlaßt?  Nach  dem 
wenigen,  was  wir  von  Marica  wissen,  konnte  eine  solche 
Identifizierung  nicht  ferner  liegen  als  die  bisher  bekannte  mit 
Venus.  Marica  besaß  einen  heiligen  Hain,  wie  Artemis  in 
Aricia  und  an  vielen  anderen  Orten;  und  die  Xiuvtj,  der  Sumpf 
an  der  Lirismündung,  der  ihr  zu  eigen  war,  konnte  wohl  an 
Artemis  Limnatis  und  viel  Verwandtes^  erinnern:  als  diönoiva 
ICfivqg  verglich  sich  Marica  von  selbst  der  Artemis.  Daß  ein 
Tempelchen  der  Venus  unmittelbar  neben  ihrem  Heiligtume 
lag,  brauchte  die  Deutung  auf  Artemis  durchaus  nicht  zu  be- 
einträchtigen: Aphrodite  'EvotcXios  und  Artemis  'Og&ia  waren 
im  spartanischen  Kult  vereinigt,  und  auch  sonst  stehen  Tempel 
der  beiden  Göttinnen  oft  nebeneinander.  Sodann  ist  Marica 
auch  als  Nymphe  aufgefaßt  und  bezeichnet  worden:  auch  das 
konnte  sie  der  Artemis  nahebringen,  die  „in  ihrem  Wesen  alle 
Nymphen  zusammenfaßt,  die  auf  Fluren  und  Bergen,  in  Wäldern 
und  Quellen  hausen".^  So  war  die  Deutung  auf  Artemis  bei 
Marica  gewiß  nicht  befremdender  als  die  auf  Venus.  Unsere 
neue   Quelle   behauptet   freilich   noch   mehr:   die  Minturnenser 

oder  wenigstens  daran  anknüpfen,  -vrilrde  schon  durch  die  oben  an- 
geführten Tatsachen  widerlegt  und  widerspricht  auch  dem  Typus 
dieser  ganzen  Legendenklasse,  die  sogar  das  gleiche  Bild  an  vielen  Orten 
lokalisiert.         ♦ 

•  Ygl  "Wemicke  bei  Pauly-Wissowa  II  1343;  Gruppe,  Griech.  Myth. 
1280f  ;  Nilason,  Gr.  Feste  210. 

*  Nilsson  a.  a.  0.  181,  nach  Otfiried  Müller. 


574  Franz  BoU 

selbst  sollen  das  Bild  als  Marica  Diana  oder  besser  Diana 
Marica  bezeichnet  haben.  So  häufig  der  Übergang  von  ursprüng- 
lichen Einzelgötternamen  in  Beinamen  größerer  Gottheiten  ist, 
durch  die  sie  aufgesogen  wurden  —  Parallelen  sind  z.  B.  Ar- 
temis Diktynna,  Anaitis,  Angelos,  Iphigeneia,  Britomartis, 
Eileithyia  usw.  — ,  so  müßte  doch,  wenn  wirklich  die  Göttin 
Diana  Marica  genannt  worden  wäre,  ihre  Identifizierung  auch 
mit  Venus  und  Circe  und  das  Schweigen  aller  andern  Quellen 
befremden;  so  wird  es  wohl  besser  sein,  dieser  Angabe  unseres 
allzu  knapp  gefaßten  Scholions  gegenüber  Zurückhaltung  zu 
bewahren,  zumal  die  Auffassung  von  Marica  als  Adjectivum 
offenbar  mit  der  Etymologie  (von  mare)  zusammenhängt. 

Die  Göttin  ist  nach  der  neuen  Kultsage  auf  dem  Seewege 
von  Kyme  nach  Minturnae  gekommen:  mari  venerat,  wie 
Asklepios  und  die  Magna  Mater  nach  Rom  und  zahlreiche 
andere  Kultbilder  in  ähnlichen  Legenden^,  und  von  diesem 
Wege  hat  sie  den  Namen  Marica  erhalten.  Diesen  Namen 
hat  man  neuerdings,  zunächst  auf  die  Etymologie  gestützt^, 
als  Bezeichnung  einer  Meergöttin  gefaßt;  der  Kult  der 
Tlovtla  IdcpQodCrrj  dicht  daneben  ließ  sich  zur  Bestätigung 
anführen  und  auf  die  Verehrung  der  Marica  in  der  Seestadt 
Pisaurum  und,  wenn  man  dem  Virgil  glauben  will,  in  dem 
ebenso  gelegenen  Laurentum  hinweisen.  Diese  bisher  nur 
von  den  Modernen  gegebene  Deutung  erfährt  nun  durch  das 
Augustinscholion  eine  Bestätigung,  die  freilich  nicht  überschätzt 


'  Vgl.  darüber  jetzt  die  Untersuchung  von  Ernst  Schmidt,  Kult- 
übertragungen, Gießen  1910  (RGW  Bd  VIII 2). 

'  Peter  a  a.  0.  II  2375  und  ebenso  Hild  in  dem  genannten  Artikel. 
Corssen  Ausspr.'  I  405  stellt  Marica  zur  Wurzel  mar  =  glänzen,  schim- 
mern ebenso  wie  mare,  während  Vanicek  im  Etym.  Wörterbuch  der 
latein.  Sprache  124  zwar  Marica  zu  dieser  Wurzel  stellt,  aber  mare  da- 
von trennt.  Vgl.  ferner  Norden,  Rh.  Mus.  48,  544.  W.  Schulze,  Zur 
Gesch  latein.  Eigennamen  552,  2  erklärt  alle  mythologischen  Kom- 
binationen, die  sich  an  den  Namen  der  Marica  heften,  für  ganz  unsicher, 
da  ein  Ortsname  ganz  gut  das  Primäre  sein  könne. 


Marica  575 

werden  darf.  Ja,  man  könnte  sogar  vermuten,  daß  gerade  die 
im  Namen  wirklicli  oder  dem  Anschein  nach  gegebene  Be- 
ziehung der  Marica  zum  Meere  ihrer  Gleichsetzung  mit  Artemis, 
die  auch  als  IlaQaXCa,  'ExßarriQia,  EvxogCa,  Evroörog, 
Aiiisvttig^  angerufen  wurde  und  mehrfach  Tempel  am  Meere 
besaß,  forderlich  gewesen  sei.  Indes  auf  die  Art  des  Kultes 
der  Marica,  etwa  durch  Seefahrer  und  Fischer,  daraus  einen 
Schluß  ziehen  zu  wollen,  wäre  bedenklich;  der  Text  selbst  hat 
ja  für  den  Namen  ein  anderes  alxiov.  Unser  Material  reicht 
wohl  überhaupt  nicht  hin,  über  die  Vorstellungen,  die  man 
von  dem  Wesen  der  Göttin  sich  machte,  mehr  als  ziemlich 
vage  Vermutungen  zu  äußern;  und  die  antiken  Identifizierungs- 
versuche mit  verschiedenen  Gottheiten  sprechen  nicht  für  die 
Fortdauer  einer  ausgeprägten  Sonderart  bei  der  alten  Göttin. 
Das  Eigentümlichste,  was  uns  von  dem  heiligen  Hain  berichtet 
wird,  ist  das  Verbot,  irgend  etwas,  was  in  ihn  hineingeschafft 
worden  war,  wieder  herauszubringen  (Plut.  Mar.  c.  39).  Läßt 
sich  das  etwa  vergleichen  mit  der  Funktion  der  ivodCa  duCficov 
(Artemis)  bei  Plato  legg.  XI  914  B,  wonach  das,  was  einer 
freiwillig  oder  unfreiwillig  liegen  läßt,  von  dem,  der  es  findet, 
liegen  gelassen  werden  muß  in  dem  Glauben,  (pvXdtreiv  ivodCav 
dalfiova  rä  xoiuvxa  itxb  xov  vöfiov  xfl  ^eqt  xud^isga^sva?^ 

*  Vgl.  Wernickes  reiche  Zusammenstellungen  bei  P.  W.  II  1393 f.; 
Gruppe  a.  a.  0.  1294;  Farnell,  Cults  of  Greek  States  II  427  f.  Die  Be- 
nennungen der  Aphrodite  als  Göttin  des  Meeres  (Usener,  Legenden  der 
Pelagia,  in  Vortr.  u.  Aufs.  211  ff.)  stehen  wieder  in  genauer  Parallele  dazu. 

*  An  die  Stelle  der  Gesetze  wurde  ich  durch  Gruppe  S.  1295,2  er- 
innert. Für  die  ganze  Anschauungsweise  ließe  sich  an  die  von  Tylor, 
Anfänge  der  Kultur  I  108  f.  besprochene  weitverbreitete  Scheu  erinnern, 
einen  Ertrinkenden  zu  retten,  als  dem  Wassergeist  verfallen.  Verwandt 
ist  auch  die  Sitte  ovx  ^xqcopa,  an  die  mich  Wünsch  erinnert  (vgl.  Ada 
Thomsen  im  Archiv  XII  466 ff.;  bes.  CIL  VI  1,  576  =  Dessau  II  4915: 
Extra  hoc  limen  aliquid  de  sacro  Silvani  efferre  fas  non  est).  —  Ein  Ver- 
bot des  Eintretens  in  den  heiligen  Hain  ist  aus  der  Piutarchstelle  ent- 
gegen dem  ersten  Anschein  nicht  zu  folgern,  also  die  Unzugänglichkeit 
des  Haines  der  Soteira  in  Pellene  (Paus.  VU  27,  3)  als  Parallele  nicht 
zu  gebrauchen. 


576  Franz  Boll 

Die  antike  Herkunft  unseres  Scholions  wird  schwerlicli 
jemand  bezweifeln  wollen;  aber  die  genauere  Bestimmung  der 
Quelle  ist  durch  die  isolierte  Art  der  Überlieferung  sehr  er- 
schwert. Soweit  meine  Kenntnis  der  Hss  der  Civitas  Dei 
reicht,  muß  die  Notiz  spätestens  in  Karolingischer  Zeit  an 
den  Rand  des  Kapitels  gekommen  sein.^  Die  nächste  Quelle 
kann  ein  Glossar  gewesen  sein,  zumal  auch  andere  Rand- 
bemerkungen solchen  Ursprung  haben  (vgl,  o.  S.  568):  in  den 
uns  erhaltenen  und  im  CGL  vereinigten  Glossaren  ist  jedoch 
die  Notiz  nicht  zu  finden.  Als  Quelle  für  die  Maricaglosse, 
die,  wie  wir  gesehen  haben,  singulare-  und  beachtenswerte 
Nachrichten  bringt,  hatte  mein  verstorbener  Freund  L.  Traube 
zuerst  auf  Festus  geraten;  die  Form  mancher  Festusglossen 
paßt  auch  wirklich  nicht  übel  zu  der  unseres  Scholions  (vgl 
die  ähnliche  Verwendung  eines  Satzes  mit  enim  nach  der 
Definition  unter  den  Worten  Mercurius  praeclives  puls  Peligni 
procinda  usw.;  auch  vocitare  wird  bei  ihm  in  solchen  Glossen 
öfter  verwendet,  was  natürlich  nicht  viel  besagt).  Dagegen 
dachte  G.  Wissowa,  dem  ich  die  Notiz  vor  drei  Jahren  mit- 
teilte, lieber  an  ein  Virgilscholion  nach  Art  der  Einleitung 
des  Probuskommentars  zu  den  Bucolica,  Hier  steht  p.  3,  20 
(Orestes)  iuxta  Syracusas  simulacrum  deae  quod  secum  de  Tau- 
rica advexerat,  templo  posiio  consecravit,  quam  appellavii  Face-j 
litim  sive  [FascelinamJ^  quod  fasce  lignorum  tectui 
de   Taurica   simulacrum   eoctulissent.     Das  steht  dem  Schlußsatz 

*  Nach  Dombarts  Versuch  eines  Stemmas  der  ihm  näher  bekannten 
Hss  in  seiner  3.  Ausg.  p.  XXXIII  käme  man  bis  ins  VIII.  Jahrhundert 
zurück;  indes  hat  er  nur  zwei  von  unsern  Hss  (Monac.  13024  und  Paris. 
11  638)  dabei  berücksichtigt,  und  auch  aus  anderen  bekannten  Gründen 
wird  man  sich  vor  Folgerungen  hüten  müssen. 

*  Die  Ergänzung  wird  durch  das  sive  unbedingt  notwendig;  sie 
wird  in  der  obigen  Form  durch  die  Exzerpte  des  Cynthius  (Pietro  Leoni), 
der  den  Bobiensis  benutzt  hat,  empfohlen  (teniplum  Uli  erexit  cum  titulo 
Dianae  Phascelitis  sive  Phascelinae).  Die  Form  Facelina  hat  auch  Siliua 
Italiens  XIV  260  (Thoanteae  sedes  Facelina  Dianae).  'Lucil.  v.  104  M.  schwan- 
ken die  liss  zwischen  Facelina  und  Fascelina,  s.  Serv.IH  p.  326  H.'  (Wünsch). 


Marica  577 

unseres  Scholions  noch  etwas  näher  als  die  oben  S.  572  ange- 
führten Worte  des  Serrius  Aen.  11  116,  weil  bei  diesem  nur 
der  Name  Facelitis  (oder  Fascelitis)  vorkommt,  nicht  die  Form 
Fascelina  oder  FasciUna.  Man  würde  allerdings,  wenn  das 
Scholion  aus  einem  Virgilkommentar  stammte,  irgend  welche 
Anlehnung  an  den  Virgilvers,  in  dem  die  Göttin  genannt  ist 
(Aen.  YII  47),  erwarten  und  darf  zweifeln,  ob  das  über  dem 
Umweg  durch  die  Glosse  ganz  verloren  gehen  konnte.  Servius 
hat  jedenfalls  von  der  Herkunft  der  Marica  vom  Meer  und 
aus  Eyme  nichts  gewußt,  sonst  hätte  er  sie  nicht  so  bestimmt 
als  'topica',  als  lokal  und  un verpflanzbar  bezeichnet.  So  scheint 
mir  doch  etwas  mehr  für  eine  andere  Quelle  als  für  einen 
Virgilkommentar  zu  sprechen.  Wie  dem  auch  sei,  so  kann 
doch  die  Sache  schwerlich  in  später  Zeit  ausgedacht  sein; 
denn  nach  Virgil,  der  die  Marica  zur  Mutter  des  Latinus 
macht,  konnte  die  Gleichung  mit  Diana  nicht  leicht  mehr 
erfunden  werden. 


ArclÜT  f.  BeligionswiBsenschaft    XTTT  37 


n  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtig- 
keit für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4 f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  etwa 
vier  Jahrgängen  schließen.  Mit  Band  XII  (1909)  beginnt  die  neue 
Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen  der  Zeit 
seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß  des  betr. 
neuen  Berichts  referiert. 


5  Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)^ 

Von  H.  Oldenberg  in  Göttingen 

In  der  Erforschung  des  indischen  Buddhismus  in  den 
letzten  Jahren  tritt  energisches  Fortschreiten  gleichermaßen 
im  Sammeln  wie  im  Verarbeiten  der  Materialien  hervor,  dazu 
—  wenigstens  an  vielen  Stellen  —  ein  durch  solche  Arbeit 
naturgemäß  befördertes  Sichabschwächen  alter  Gegensätze  dei 
von  verschiedenen  Ausgangspunkten  ausgehenden  Richtungen^ 
die  zu  unvereinbaren  Resultaten  zu  gelangen  schienen.  Unter 
der  kaum  erschöpfbaren  Fülle  des  Vorliegenden  kann  hier 
natürlich  nur  eine  Auswahl  getroffen  werden. 

Ich  stelle  ein  kleines  Meisterwerk  voran,  das  als  solches 
würdigen  wird  auch  wer  sich  nicht  ohne  Einschränkungen 
überzeugen  läßt:  Senarts  Vortrag  über  den  Ursprung  des 
Buddhismus  ^  S.  ist  ernstlich  bemüht,  in  dem  Dilemma  zwischen 
dem    geschichtlichen   und    dem    einst   von    ihm    so    energisckJ 

'  Abgeschlossen  Januar  1910. 
*  E.  Senart  Origines  bouddhiques  (Bibliothcque  de  vulgarisation  du 
Musie  Guimet,  T.  XXV).    Paris  1907. 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  579 

betonten  mythologischen  Buddha  dem  ersteren  sein  Recht  nicht 
zu  verkürzen.  „On  ne  peut  guere  douter  que  le  Bouddha  n'ait 
enseigne  vers  la  fin  du  VP  siecle  avant  notre  ere;  on  ne  peut 
douter  davantage  que,  dans  toutes  leurs  lignes  maitresses,  sa 
doctrine  et  sa  legende  n'aient  rapidement  acheve  de  se  fixer 
telles  qu'elles  nous  sont  accessibles."  Wenn  er  dann  anderer- 
seits darauf  Gewicht  legt,  daß  der  geschichtliche  Buddha  „est 
cependant  dans  la  tradition  le  heros  de  recits  mythiques 
d'origine  et  de  caractere"  so  werden  dies  auch  „les  esprits 
justement  prevenus  contre  certains  enivrements  de  la  mythologie 
comparative"  nicht  in  Abrede  stellen.  Natürlich  zwar  werden 
Meinungsdifferenzen  über  das  Maß,  in  dem  die  verschiedenen 
Elemente  in  die  Mischung  des  altbuddhistischen  Vorstellungs- 
kreises  eingegangen  sind,  doch  zurückbleiben.  Mit  großem 
Recht  legt  Senart  Gewicht  auf  eins  dieser  Elemente,  das  in 
seiner  vollen  Bedeutung  zu  würdigen  er  selbst  der  erste 
gewesen  ist^,  auf  den  Yoga^  mit  seiner  Theorie  und  Praxis  der 
Konzentrationen  und  Ekstasen.  Kein  Zweifel,  daß  die  Ent- 
wicklung des  werdenden  Buddha  sich  in  einer  mit  Elementen 
des  Yoga  gesättigten  Atmosphäre  vollzogen  hat,  und  daß 
dieselben  Elemente  auch  in  nicht  geringer  Intensität  dem 
Dasein  des  von  ihm  gestifteten  Ordens  innegewohnt  haben. 
Minder  überzeugend  scheinen  mir  Senarts  Ausführungen  über 
ein  zweites  Element,  das  er  im  Werden  des  Buddhismus  zu 
konstatieren  sucht;  er  findet  daß  „un  certain  heritage  vishnouite 
sumage  empörte  dans  les  courants  bouddhiques";  „entre  le 
bouddhisme  et  le  vishnouifsme,  le  Yoga  fait  le  pont".  Diese 
These  von  dem  im  entstehenden  Buddhismus  latenten  oder 
sichtbaren  Vishnutum  scheint  mir  durch  die  Quellen  kaum 
hinreichend    gestützt.      Ist    es   wirklich  —  um    nur    dies    eine 

^  Ich  erinnere  an  seinen  höchst  wichtigen  Aufsatz  Bouddhisme 
et  Yoga,  Eevue  de  Vhistoire  des  religions  42,  345 ff. 

*  Diesen,  nicht  die  Sänkhyalehre,  stellt  Senart  mit  Recht  in  den 
Vordergrund. 

37* 


580  H-  Oldenberg 

hervorzuheben  —  ein  so  bemerkenswertes  Faktum,  daß  Buddha 
und  Visnu-Krsna  beide  mit  der  Benennung  hhagavant  geehrt 
werden?  Daß  diese  Benennung  durch  lange  Jahrhunderte 
eine  allgemein  gangbare  für  höherstehende,  geistlich -religiöse, 
auch  wissenschaftliche  Persönlichkeiten  war,  zeigen  uns  doch 
Zeugnisse  in  hinreichender  Menge,  von  den  hrahmanä  hhagavantah 
des  Satapatha  Brähmana  bis  zum  hhagavän  Päninih  und  hhagavän 
Kätyah  der  Grammatiker.  Auch  wer  über  diese  Dinge  anders 
urteilte,  würde  übrigens,  wie  ich  glaube,  den  Wunsch  übrig 
behalten,  daß  andere  Elemente,  welche  Senart  keineswegs 
vergißt  (siehe  S.  25  f.,  38),  doch  in  seiner  Darstellung  nach- 
drücklicher betont  wären.  Im  Zentrum  des  Gesichtsfeldes 
stehen  für  den  alten  Buddhismus  doch  nicht  jene  legendarischen 
Züge,  in  denen  S.  eine  Annäherung  an  Visnu-Krsna  findet, 
auch  nicht  die  ekstatischen  Kontemplationen,  die  er  vom  Yoga 
übernommen  hat.  Sondern  im  Zentrum  stehen  die  Gedanken- 
kreise, die  in  den  „vier  Wahrheiten"  vom  Leiden  des  Daseins 
und  von  der  Erlösung  niedergelegt  sind,  und  die  Lebens- 
ordnungen der  Gemeinde,  wie  etwa  das  Pätimokkha  sie 
zeichnet.  Kein  Zweifel,  daß  auch  der  Yoga  sich  mit  Daseins- 
leiden und  Erlösung  beschäftigt.  Aber  sind  diese  Gedanken 
und  Ideale  darum  Besitz  des  Yoga  allein?  Haben  wir  Grund 
anzunehmen,  daß  sie  gerade  nur  vom  Yoga  dem  Buddhismus 
übermittelt  seien?  Gibt  der  Buddhismus  ihnen  nicht  in  vieler 
Beziehung  eine  durchaus  andere  Wendung  als  der  Yoga?  Wir 
stoßen  da,  scheint  mir,  auf  sehr  viel  breitere  Strömungen,  die 
von  der  Zeit  der  alten  Upanisaden  an  das  geistige  Dasein 
Indiens  durchfluten.  Die  seelische  Struktur  des  Buddhisten 
ist  nicht  erklärt,  wenn  wir  den  Yogin  in  ihm  und  den 
gläubigen  Erzähler  von  solchen  Mirakeln  wie  den  32  körper- 
lichen Kennzeichen  des  großen  Mannes  (jnahäpurisa)  konstatiert 
und  geschichtlich  abgeleitet  haben.  Ich  wiederhole:  übersehen 
ist,  was  außerhalb  dieser  Grenzen  liegt,  von  Senart  nicht. 
Aber   mir    scheint,    daß    eine   Schilderung    der  Ursprünge  des 


Der  indische  Buddhismns  (1907—1909)  581 

Buddhismus  jenen  Elementen  größere  Aufmerksamkeit  widmen 
sollte,  als  der  hervorragende  Forscher,  von  dem  ich  spreche, 
es  hier  getan  hat. 

Aus  Vorlesungen  —  sie  sind  am  Pariser  InstitiU  Catholique 
gehalten  —  ist  auch  ein  Buch  hervorgegangen,  in  dem  L.  de  la 
Vallee  Poussin  die  buddhistischen  Forschungen  vielseitig 
bereichert  hat.^  Die  energische,  durchaus  auf  eigenen  Wegen 
vorgehende  Behandlung  alter  Probleme  und  das  auf  unermüd- 
lichem Durchforschen  reicher  Materialien  beruhende  Aufwerfen 
neuer  gibt  seiner  Arbeit  hohen  Wert.  Auch  bei  diesem  Forscher 
begegnen  wir  einem  entschiedenen  —  wenn  ich  mich  nicht 
täusche,  im  Laufe  seiner  Entwicklung  sich  steigernden  —  Glauben 
daran,  daß  wir  nichts  Aussichtsloses  betreiben,  wenn  wir  mit 
unseren  Fragestellungen  in  ein  sehr  altes  Stadium  des  Buddhismus 
zurückstreben.  Den  „scepticisme  sterile  de  Minayeff"  —  ein  durch- 
aus zutreffendes  Wort  (S.  45)  —  macht  er  nicht  zu  dem  seinen. 
„Les  decouvertes  positives  de  ces  demieres  annees  donnent  ä 
penser  aux  sages"  (S.  44).  Der  Pälikanon  enthält  „une  forme 
tres  archaique  de  la  doctrine"  (S.  47  A.  2).  So  trägt  der  Verfasser 
denn  auch  kein  Bedenken,  in  Untersuchungen,  in  denen  er  der 
ursprünglichen  Gestalt  wichtigster  Vorstellungsmassen  nach- 
forscht, sich  ganz  überwiegend  auf  die  Pälitexte  zu  stützen. 
Einen  Hauptgegenstand  dieser  Untersuchungen  bildet  die  Frage, 
wie  sich  die  Leugnung  eines  Ich,  die  dem  Buddhismus  zu- 
geschrieben wird,  zu  seinem  Glauben  an  die  Vergeltung  der 
Taten  verhält.  Ein  anderes  Thema  der  Erörterung  ist  das  Ver- 
hältnis zwischen  passiv -gläubigem  Annehmen  der  Lehre  und 
selbsttätigem  Erkennen.  Neben  der  Doktrin  der  ältesten  Texte 
wird  diejenige  der  vom  Verfasser  sorgfältig  durchgearbeiteten 
philosophischen  Systeme  des  Buddhismus  herangezogen;  dem 
Mahäyäna  und  dem  Tantrawesen  werden  Erörterungen  gewidmet, 
die   auf  umfassender   Quellenkunde  beruhen.     Ich  verschweige 

^  L.  de  la  Yallee  Poussin  Bonddhisme.  Opinions  sur  Vhistoire  de  la 
dogmatique.     Paris  1909. 


582  H.  Oldenberg 

den  Eindruck  niclit,  daß  das  Temperament  La  Yallee  Poussins 
ihn  hier  und  da  zu  Mißgriffen  geführt  hat.  Dem  Wunsch,  mit 
dem  einen  oder  anderen  von  ihnen  mich  auseinanderzusetzen, 
muß  ich  wenigstens  für  jetzt  widerstehen;  nur  zu  der  von  ihm 
in  den  Jüngern  des  Buddha  entdeckten  anima  naturaliter 
christiana  (S.  6)  sei  schon  hier  ein  gelindes  Fragezeichen  nicht 
unterdrückt.  Alle  Meinungsverschiedenheiten  aber  können  der 
Schätzung  eines  Forschens  keinen  Eintrag  tun,  dem,  wenn  nicht 
alles  trügt,  noch  mancher  Erfolg  gelingen  wird. 

Edv.  Lehmann,  dessen  Auffassung  des  Buddhismus  im 
ganzen  schon  aus  seiner  Behandlung  Indiens  in  Chantepie  de 
la  Saussaye's  „Lehrbuch  der  Religionsgeschichte"  bekannt  war, 
behandelt  jetzt  den  Buddhismus  in  einem  eigenen  kleinen,  sehr 
dankenswerten  Buch  ^,  unter  Voranstellung  des  ältesten  indischen 
Buddhismus  (besonders  Sutta  Nipäta  und  Dhammapada  werden 
benutzt),  mit  kurzer  Berücksichtigung  der  späteren,  auch  der 
außerindischen  Geschichte.  Lehmanns  Buch  führt  die  Sprache 
nicht  des  philologischen  Detailarbeiters,  sondern  des  mit 
weitem  und  gesundem  Blick  begabten  Religionshistorikers,  der 
auch  in  seinen  Bedenken  gegenüber  mancher  gegenwärtig  eifrig 
verfochtenen  These  (man  lese  die  Ausführungen  über  die  buddhi- 
stisch-christlichen Legendenzusammenhänge  und  über  die  christ- 
liche Liebe  im  Buddhismus)  sein  treffendes  Urteil  bewährt.  Der 
Verfasser  ist  weniger  darauf  gerichtet,  den  leisen,  inkommen- 
surablen Nuancen  buddhistischen  Fühlens  nachzugehen,  als  die 
Gebilde,  die  er  schildert,  mit  dem  Maßstab  frischer  und  freudiger 
nordischer  Energie  in  ihrer  weltgeschichtlichen  Bedeutung  zu 
bewerten,  als  hinwirkend  „bade  til  en  stör  oprejsning  og  til 
en  slem  nedbrjdelse  af  det  menneskelige"  (S.  171).  — 

Kurz  behandelt  den  indischen  Buddhismus  Deussen  in 
seiner  AUg.  Geschichte  der  Philosophie.*  — 

^  Edv.  Lehmann  Buddha,  hans  Jctre  og  dens  gaming.  K0benhavn 
1907.     (Deutsche  Übersetzung  steht  in  Aussicht.) 

*  P.  Deussen  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Religionen.    Bd  I,  Abt.  8,  S.  115 — 189.    Leipz.  1908. 


I 


Der  indisclie  Buddhismus  (1907—1909)  583 

Hackmanns  schönes,  ursprünglich  kleines  Buch  über  den 
Buddhismus  (deutsch  erschienen  1905)  liegt  jetzt  in  einer 
wesentlich  erweiterten  englischen  Ausgabe  vorV  Sein  Ziel  ist, 
den  Buddhismus  in  seiner  Gesamtheit  darzustellen,  wobei,  der 
persönlichen  Situation  des  Verfassers  entsprechend,  das  Haupt- 
gewicht nicht  auf  den  alten  indischen  Buddhismus  (S.  1 — 63) 
föllt,  sondern  auf  den  modernen  Buddhismus,  zu  dessen  Dar- 
stellung langjähriger  Aufenthalt  in  buddhistischen  Ländern  ihn 
hervorragend  befähigt  hat  „Living  in  the  monasteries,  watch- 
ing  the  monks  and  the  lay-devotees,  inquiring  about  rituals 
and  institutions,  he  leamt  thoroughly  what  Buddhism  as  a 
practical  religion  of  the  present  day  really  is"  (S,  VIII).  Doch 
von  diesen  wertvollen  Ermittlungen  eingehender  zu  sprechen, 
liegt  außerhalb  der  Grenzen  des  gegenwärtigen  Berichts. 

Unter  den  Untersuchungen  über  einzelne  Dogmen  und 
anderweitige  einzelne  Elemente  des  buddhistischen  Vorstellungs- 
kreises steht,  neben  einer  wichtigen  Arbeit  von  Windisch,  über 
die  ich  an  anderem  Orte  eingehender  berichtet  habe*,  der  Auf- 
satz Oltramares  über  die  Nidänaformel  vorauf  Dies  ist  be- 
kanntlich  die   aus   zwölf  Gliedern,   welche   durch  Kausalnexus 

*  H.  Hackmann  Buddhism  as  a  religion:  its  historical  development 
and  its  present  conditions.  From  the  German,  revised  and  enlarged  by 
the  author  (Probsthains  Oriental  Series,  vol.  II).     London  1910. 

*  E.  Windisch  Buddhas  Geburt  und  die  Lehre  von  der  Seelet^- 
tcanderung  (Abh.  der  K.  Sachs.  Ges  derWiss.;  Phil.-hist.  Kl.  XXVI,  2). 
Leipzig  1908.     Vgl.  Deutsche  Literaturzeitung  1909,  Sp.  408f. 

'  P.  Oltramare  La  Formule  bouddhique  des  douze  causes.  Son  sens 
originel  et  son  Interpretation  theologique.  (Memoire  public  ä  Voccasion 
du  Jubile  de  V  Universite'  de  Geneve).  Geneve  1909.  —  Ich  möchte  hier, 
obwohl  außerhalb  der  Zeitgrenze  dieses  Berichts  fallend,  nicht  unerwähnt 
lassen  die  denselben  Gegenstand  betreffende  Auseinandersetziing  von  L. 
de  la  Yallee  Poussin  Deux  notes  sur  le  PratUyasamutpdda  (Actes  du 
XIV.  Congr.  intern,  des  Orientalistes  I,  193  ff.)  Paris  1905;  ebenso  des- 
selben Gelehrten  wertvolle  Bemerkungen  zu  der  Schrift  Oltramares, 
Journ.  R.  Asiatic  Soc.  1910,  201  ff.  Leider  nicht  vorgelegen  hat  mir 
C.  Puini  Le  origini  della  vita  (Frat'ityasamutpäda  sutra  —  Sälisambhava 
sütra)  Riv.  degli  Studj  Orientali,  vol.  I,  Fase.  3. 


584  H.  Oldenberg 

miteinander  verbunden  sind,  bestehende  Formel,  die  in  den 
buddhistischen  Texten  zu  unzähligen  Malen  wiederholt  wird, 
um  die  Entstehung  (und  entsprechend,  so  zu  sagen  mit  negativem 
Vorzeichen,  die  Aufhebung)  des  Daseinsleidens  zu  erklären: 
1.  Das  Nichtwissen.  2,  Die  „Gestaltungen"  (samkhärä). 
3.  Das  Erkennen.  4.  Name  und  Körperlichkeit.  5.  Die  sechs 
Gebiete  (der  sechs  Sinne  und  ihrer  Objekte;  zu  den  fünf 
Sinnen  kommt  das  Denken).  6.  Berührung  (zwischen  Sinnen 
und  Objekten).  7.  Empfindung.  8.  Durst.  9.  Ergreifen. 
10.  Werden.  11.  Geburt.  12.  Alter  und  Tod,  Schmerz  und 
Klagen,  Leid,  Kümmernis  und  Verzweiflung.  Es  war  ein  sehr 
dankenswertes  Unternehmen  Oltramares,  diese  schwierige,  dem 
Fundamentalbestand  der  buddhistischen  Dogmatik  zugehörige 
Formel  mit  ihren  Varianten  samt  ihrer  Geltung  in  der  späteren 
buddhistischen  Philosophie,  unter  Prüfung  der  zahlreichen 
Deutungsversuche  modemer  Forscher^  zum  Gegenstand  dieser 
eingehenden  und  feinsinnigen  Untersuchung  zu  machen.  Das 
Hauptinteresse  richtet  sich  natürlich  auf  seinen  eignen  Er- 
klärungsversuch (S.  10  ff.).  Eine  wesentlichste  Schwierigkeit, 
die  es  zu  überwinden  gilt,  liegt  meines  Erachtens  darin,  daß 
um  die  Mitte  der  Reihe  offenbar  das  Wesen,  dessen  Daseins- 
lauf beschrieben  wird,  so  weit  gekommen  ist,  daß  es  in  Be- 
rührung mit  den  Objekten  der  Außenwelt  steht,  Durst  nach 
deren  Genüssen  empfindet,  nach  ihren  Gütern  greift  —  und 
daß  dann  in  Nr.  11  erst  das  Stadium  der  Geburt  erreicht  wird, 
welche  doch  vielmehr  vor  den  in  der  Formel  ihr  vorangehen- 
den Gliedern  liegen  zu  müssen  scheint.     Die  schon  im  Alter- 


*  Ich  vermisse  bei  Oltramare  unter  diesen  Walleser  (Die  philo- 
sophische Grundlage  des  älteren  Buddhismus)  und  verweise  auch  auf 
die  Note  in  der  3.  Auflage  meines  Buddha  (später  nicht  wiederholt) 
S.  447 f.  sowie  auf  meine  Ausführungen  ZDMG.  62,  684 flF.  Bei  dieser 
Gelegenheit  bemerke  ich,  daß  ich  den  Begriff  des  nämarüpa  (Nr.  4)  in 
einer  neuen  Arbeit  (Bgveda-Noten  zu  III,  38,  7;  V,  43,  10)  bis  in 
rgvedisches  Altertum  zurückzuverfolgen  versucht  habe. 


Der  indisclie  Buddhismus  (1907—1909)  585 

tum  gegebene,  auch  von  mir^  angenommene  Lösung  der 
Schwierigkeit  —  daß  nämlich  das  Stadium  der  Geburt  (resp. 
Empfängnis)  hier,  wo  dem  Denken  eine  Folge  vieler  Geburten 
vorschwebt,  zweimal  berührt  wird:  das  eine  Mal  in  einer  auf 
den  ersten  Blick  deutlichen  Ausdrucks  weise  bei  Nr.  11,  das 
andere  Mal,  für  die  Alten  wohl  deutlicher  als  für  uns,  in 
Nr.  3  und  4  —  erscheint  Oltramare  (S.  28)  als  „une  hypothese 
gratuite  et  presque  desesperee".  Ich  kann  mich  hier  nicht 
überzeugt  bekennen.  Zunächst  reichen  die  alten  Materialien, 
auf  denen  jene  Deutung  beruht,  tief  in  die  kanonischen  Texte 
selbst  hinein^,  in  denen  sie  in  ganz  verschiedenen  Formen,  das 
eine  Zeugnis  das  andere  bestätigend,  auftreten.  Weiter  aber 
scheint  mir  Oltamares  eigene  Erklärung  im  Grunde  doch  dem 
von  ihm  verworfenen  Gedanken  selbst  außerordentlich  nahe  zu 
kommen.  Die  Geburt  (Nr.  11  der  Formel)  „ponctue  l'existence 
ou,  pour  mieux  dire,  la  serie  des  existences  d'un  individu" 
(S.  10).  Ihr  voran  liegt  das  Dasein  des  Wesens,  das  in  die 
vergängliche  Welt  verwoben  durch  die  Verkettung  der  Kausa- 
lität jener  neuen  Geburt  entgegengeführt  wird.  So  muß,  meine 
ich,  auch  Oltramare  das  Sterben  jenes  Wesens,  das  dann  wieder- 
geboren werden  soll,  als  vor  Nr.  11  latent  gedacht  annehmen, 
während  doch  der  Tod  —  nämlich  der  die  nächstfolgende 
Existenz  beendende  —  ausgesprochenermaßen  erst  in  Nr.  12 
erscheint.  Also  auch  hier  im  Grunde  zweimaliges  Berühren 
desselben  Stadiums.  Und  wenn  jenes  vor  Nr.  11  der  Wieder- 
geburt entgegengehende  Wesen  sich  in  Nr.  4  mit  „Namen  und 
Körperlichkeit"  bekleidet,  dieser  Vorgang  aber  die  Folge  eines 
„Nichtwissens"  (Nr.  1)  ist  —  auch  nach  Oltramare  (S.  16) 
wie  nach  der  kanonischen  Überlieferung  eines  Nichtwissens 
um  die  vier  heiligen  Wahrheiten  — :  liegt  nicht  wieder  die 
Folgerung  nah,  daß  der  Nichtwissende  und  der  Namen  und 
Körperlichkeit  Annehmende  in  zwei  aufeinander  folgenden 
Wiedergeburtsstufen  vorzustellen  sind  —  genau  wie  es  die 
*  Siehe  meinen  Buddha,  5.  Aufl.,  275  f.  *  Ebendas.  276. 


586  H.  Oldenberg 

sehr  eingehende  und  bestimmte  Auffassung  der  Tradition  über 
den  Sinn  von  3  und  4  (s.  meinen  „Buddha"  5.  Aufl.,  259 f.) 
mit  sich  bringt?  — 

An  Darlegungen  Pischels  in  seinem  Buch  „Leben  und 
Lehre  des  Buddha"  (1906,  vgl.  dies  Archiv  1907,  138)  knüpft 
eine  von  mir  gegebene  Besprechung  des  altbuddhistischen 
Begriffs  der  Maitri  (Mettä)  an.^  Pischel  hatte  in  dieser  die 
christliche  Liebe  wiedergefunden.  Neben  ihr  stehe  und  aus 
ihr  fließe  das  Traurigsein  mit  den  Traurigen,  das  Sichfreuen 
mit  den  Fröhlichen.  Sie  selbst  aber,  die  Liebe,  sei  der  „Grund- 
gedanke des  Buddhismus."  Eine  Prüfung  der  Materialien  über 
die  Mettä  liefert  mir  das  Ergebnis,  daß  diese  weder  ein 
zentrales  Element  des  Buddhismus  bildet  noch  der  christlichen 
Liebe  gleichgesetzt  werden  kann  Sie  ist  eine  Übung  freund- 
lichen Fühlens  gegenüber  allen  Wesen,  die  gleichberechtigt 
mit  einer  andern  Übung,  in  der  man  alle  Wesen  als  nicht 
Freund  nicht  Feind  empfindet,  systematisch  und  pedantisch 
betrieben  wird,  nicht  um  des  Andern  willen,  sondern  um  im 
Geiste  yogahaft- asketischen  Zauberwesens  die  eigene  Vollendung 
zu  fördern. 

Eine  anspruchslose  und  doch  recht  eigentlich  meisterhafte 
kleine  Arbeit,  die  niemand  als  eben  ihr  Verfasser  so,  wie  es 
geschehen,  auszuführen  imstande  war,  ist  Fouchers  Aufsatz 
über  die  Liste  der  Taten  Buddhas.^  Vielmehr  über  zwei  ein- 
ander ergänzende  Listen,  die  eine  dem  nordbuddhistischen  Text 
Divyävadäna  entnommen,  die  andre  der  ceylonesischen  Chronil 
Mahävamsa.  Die  Erlebnisse,  Taten,  Wunder  des  Buddh« 
werden  in  64  Nummern  aneinandergereiht:  „un  cadre  commode,j 
et  l'on  serait   presque   tente   d'y  voir  .  .  .    comme  une  amorcc 

*  H.  Oldenberg  Der  Buddhismvs  und  die  christliche  Liehe.    Deutsche 
Rundschau    (Berlin),    März   1908,   wiederholt   in   H.  0.,    Aus   dem   alte 
Indien,  S.  1—22  (Berlin  1910). 

*  A.  Foucher  Une  liste  indienne  des  actes  du  Bouddha.  Avec  un 
rapport  sommaire  sur  les  Conferences  de  Vexercice  1907—08  (ficole 
pratique  des  hautes  etudes.)     Paris  1908. 


Der  indische  Baddliismus  (1907—1909)  587 

de  futurs  ^svnoptiques'  du  Buddha."  Bei  jeder  Xummer  — 
und  dies  verleiht  der  Arbeit  einen  so  ungewöhnlichen  Wert  — 
ist  zur  Angabe  der  Textzeugnisse  die  der  monumentalen  Dar- 
stellungen gefügt,  deren  Kenntnis  der  Verfasser  in  langjährigen 
Arbeiten  in  Indien  wie  in  Europa  zu  unerreichter  Vollständigkeit 
und  Vertiefung  gebracht  hat  Darf  ich  doch  aussprechen,  daß 
ich  in  den  Bemerkungen,  mit  denen  F.  seine  Liste  begleitet, 
und  in  denen  er  der  monumentalen  Überlieferung  ihre  Stelle 
anzuweisen  sucht,  mich  ihm  nicht  überall  anschließen  kann? 
Die  Denkmäler,  sagt  er  (S.  29),  welche  ein  Wunder  des  Buddha 
darstellen,  lehren  uns  „qu'en  un  temps  donne  une  notable 
portion  de  l'Jnde  croyait  ä  la  verite  de  ce  miracle.  Des  lors 
nous  sommes  pleinement  assures  qua  les  relations  que  nous 
en  possedons  ne  sont  pas  de  purs  exercices  de  litterature,  mais 
l'expression  de  la  conscience  populaire  et  la  manifestation  d'un 
vaste  mouvement  religieux."  Nichts  liegt  mir  ferner,  als  den 
Wert  dessen,  was  wir  an  diesen  Denkmälern  besitzen,  rer- 
kleinern  zu  wollen.  Aber  ich  frage,  ob  wir  all  das,  wovon 
F.  in  jenen  Sätzen  spricht,  wirklich  erst  aus  den  Denkmälern 
lernen.  Trägt  nicht  die  Literatur  in  sich  selbst  die  absolut 
sichere  Gewähr  dafür,  daß  sie  eben  nicht  bloß  Literatur  ist? 
Würde  die  Gewißheit,  mit  der  wir  das  wissen,  geringer  sein, 
hätten  noch  unglücklichere  Zufälle,  als  sie  in  der  Tat  gewaltet 
haben,  uns  auch  die  letzten  Reste  der  Gandhärakunst  samt 
den  Stupas  von  Barhut,  Sanchi  und  allen  übrigen  entrissen? 
Mir  will  scheinen,  daß  der  mit  seiner  ganzen  Arbeit  vorzugs- 
weise in  der  monumentalen  Überlieferung  lebende  Forscher  ein 
wenig  zu  sehr  dem  mißtraut,  was  wir  nicht  „sous  nos  yeux 
et  meme  sous  nos  doigts"  haben.  Über  die  Päliredaktion  des 
Kanons  sagt  er:  „il  ne  fait  pas  de  doute  que  le  redacteur  du 
Mahävamsa  ne  la  possedät  mieux  que  nous."  Ich  finde 
nicht,  worauf  sich  dieser  Zweifel  —  nein,  diese  zweifelfreie 
Behauptung  —  stützt  (ein  Kenner  des  Mahävamsa  wie  Geiger 
autorisiert  mich,  seine  Übereinstimmung  mit  mir  auszusprechen); 


588  H.  Oldenberg 

ich  glaube  vielmelir,  daß  für  das  Gegenteil  stärkste  Wahr- 
scheinliclikeitsgrüiide  vorliegen.  Oline  daß  ich  die  Gradunter- 
schiede der  auf  den  verschiedenen  geschichtlichen  Gebieten 
geltenden  Erreichbarkeiten  verkenne,  frage  ich  schließlich:  ist, 
was  wir  vom  Leben  und  der  Lehre  Jesu  oder  des  Paulus 
wissen,  von  den  Tatsachen  der  altchristlichen  Archäologie  ab- 
hängig?   Gilt,  was  dort  gilt,  mutatis  mutandis  nicht  auch  hier? 

Die  Gestalt  des  Mära  versucht  Charpentier^  —  meines 
Erachtens  mit  nicht  zutreffender  Argumentation  —  als 
buddhistische  Darstellung  des  Rudra-Sarva  zu  erweisen. 

Hier  verzeichne  ich  weiter  Normans  dankenswerte  Zu- 
sammenstellung von  Überlieferungen  über  die  gandhakuti^^ 
das  Wohnzimmer  des  Buddha  im  Jetavana  und  überhaupt  den 
zentralen  Raum  in  Mönchshäusem;  weiter  Hopkins'  Unter- 
suchung über  den  Fleischgenuß  bei  den  Buddhisten.^  Nicht 
unerwähnt  darf  schließlich  Mrs.  Rhys- Davids'  feinsinniger  Auf- 
satz über  die  buddhistischen  Gleichnisse  bleiben'^,  der  sich  auf 
das  von  derselben  Forscherin  entworfene  Register  dieser 
Gleichnisse^  stützt. 

Ich  wende  mich  zu  den  Übersetzungen  und  sonstigen  Be- 
handlungen von  Texten  zunächst  des  südlichen  Kanons.  Hier 
ist  zuvörderst  zu  bemerken,  daß  die  Bearbeitung  buddhistischer 
Texte  in  dem  von  Bertholet  herausgegebenen  religionsgeschicht- 
lichen Lesebuch  in  den  Händen  von  Winternitz  gelegen  hat." 
Dieser    hat    sich    grundsätzlich    auf   die    beiden  älteren  Pitaka 

*  J.  Charpentier  Über  Budra-Siva:  II.  Rudra-Siva  hei  den  Bud- 
dhisten.    Wiener  Zschr.  f.  d,  Kunde  d.  Morgenl.  XXIII  (1909),  166 ff. 

'  H.  C.  Norman  Gandhakutt  the  Buddha' s  Private  Abode.  Journ. 
of  the  As.  Society  of  Bengal,  New  Ser.  IV,  Iff.  (1908). 

'  E.  W.  Hopkins  The  Buddhistic  rule   against  eating  meat.     Jourr 
Amer.  Or.  Soc.  XXVII  (1907),  455  ff. 

*  Mrs.  Rhys -Davids    Buddhist   Parables   and  Similes.     The   Oj 
Court  vol.  XXII,  p.  522  ff.     Chicago  1908. 

»  Dieselbe,  Journ.  of  the  Päli  Text  Society  1907,  52 ff.;  s.  auo| 
1908,  180  ff. 

*  A.  Bertholet  Beligionsgeschichtliches  Lesebuch.  B.:  Buddhismus 
von  M.  Winternitz  (S.  214—322).    Tübingen  1908, 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  589 

des  Päli- Kanons  beschränkt  und  —  mir  scheint  nicht  ganz 
im  Einklang  mit  den  Bedürfaissen  religionsgeschichtlicher 
Studien  —  darauf  verzichtet,  die  späteren  Entwicklungsstadien 
des  Buddhismus  in  seine  Arbeit  einzubeziehen.  Mit  Recht 
aber  hat  er  der  Versuchung  widerstanden,  dem  Leser  eine 
Auswahl  Ton  „Perlen"  aus  der  buddhistischen  Literatur  dar- 
zubieten, vielmehr  das  Charakteristische  geschickt  zusammen- 
gestellt —  das  Leben  des  Buddha  durfte  mit  Rücksicht  auf 
das  Buch  Dutoits  („Leben  des  B."  1906)  in  den  Hintergrund 
geschoben  werden  —  und  in  einer  Weise,  der  sich  meist  bei- 
stimmen läßt,  übersetzt. 

Von  Behandlungen  einzelner  Texte  erwähne  ich  zuvörderst 
den  ersten  Band  von  K.  E.  Neumanns  groß  angelegter,  übrigens 
in  demselben  Stil  wie  die  früheren  derartigen  Arbeiten  Neu- 
manns ausgeführter  Übersetzung  des  Digha  Nikäya:  ich  habe 
darüber  bereits  an  anderem  Orte  berichtet.^  —  Vom  Dhamma- 
pada,  über  dessen  neugefundene  nördliche  Rezensionen  weiter 
unten  (S.  607)  gesprochen  werden  wird,  liegt  eine  mit  feinsinniger 
Sorgfalt  verfaßte  italienische  Übersetzung  von  Pavolini  vor.* 
—  Von  Normans  wichtiger  Ausgabe  des  Kommentars  zu  dieser 
Sentenzensammlung  besitzen  wir  jetzt  den  ersten  Band  (bis 
V.  59  reichend)  vollständig.^  —  Über  den  Sutta  Nipäta  habe 
ich  einen  für  weitere  Leserkreise  bestimmten  Essay  veröffentlicht.* 
Der  genannte  Text  schien  durch  sein  hohes  Alter  wie  seinen 
vielseitig  reichen  Inhalt  sich  dazu  zu  eignen,  daß  eine  Be- 
schreibung  seiner   poetischen   Form  und    seines    Gefühls-    und 

'  Die  Beden  Gotamo  Buddhas  aus  der  längeren  Sammlung  Dighani- 
käyo  des  Fäli-Kanons,  übersetzt  von  K.  E.  Neumann.  Bd  I.  München  1907. 
Vgl.  H.  0.  Theologische  Literatur zeitung  1907,  Sp.  321. 

*  P.  E.  Pavolini  II  Dhammapada,  Antologia  di  morale  huddistica. 
Prima  traduzione  italiana   (Estr.  da  „II  Rinnovamento ").     Milano  1908. 

'  The  Commentary  an  the  Dhammapada,  ed.  by  H.  C.  Norman, 
vol.  I  (Päli  Text  Society).     London  1906—1909. 

*  H.  Oldenberg  Eine  Sammlung  altbuddhistischer  Dichtungen. 
Deutsche  Rundschau  (Berlin)  Jan.  1910,  wiederholt  in  Aus  dem  alten 
Indien  (Berlin  1910),  S.  23—64. 


590  H.  Oldenberg 

Gedankengehalts  erweitert  wurde  zu  einer  Darlegung  der  Rolle, 
welche  überhaupt  der  Poesie  innerhalb  der  altbuddhistischen 
Gemeindetexte  zufällt,  und  zu  dem  Versuch,  auf  engstem  Raum 
von  den  Grundlinien  altbuddhistischer  Weltbetrachtung  und 
von  dem  sie  durchklingenden  Gefühlston  zu  sprechen.  —  In 
einer  Übersetzung  der  Therigäthä^  kehrt  Mrs.  Rhys  Davids  zu 
einem  Text  zurück,  an  den  vor  Jahren  Miß  Foley  geistvolle 
und  eindringende  Erörterungen  geknüpft  hatte  {Women  leaders 
of  the  Buddhist  reformation.  Transact.  of  the  9*^  Congress 
of  Orient.  I,  344).  Ihre  Übertragung  der  Verse  der  Nonnen, 
denen  sie  die  zugehörigen  Kommentarerzählungen  beigefügt 
hat,  stellt  mit  berechtigter  Freiheit  den  Geist  über  den  Buch- 
staben und  wird  hoffentlich  vielen  den  Genuß  dieser  „little 
cameos  of  thought"  vermitteln.  Die  Einleitung,  ohne  die  not- 
wendige Skepsis  gegenüber  der  Authentizität  der  Angaben  über 
die  Verfasserinnen  und  gegenüber  den  „legends  woven  out  of 
legends"  des  Kommentars  außer  acht  zu  lassen,  analysiert  mit 
vieler  Feinheit  „the  historical  fact  that  we  here  have  and 
hold  .  .  .:  the  record,  that  just  the  sentiments  and  the  aspirations, 
which  are  expressed  in  this  work,  have  been  for  so  many 
centuries  .  .  .  attributed  to  saintly  men  and  women  co-operating 
in  the  building  up  of  certain  ideals."  Nicht  ganz  gläubig  bin 
ich  in  bezug  auf  das,  was  S.  VII  (vgl.  XXXVIII  f.)  als  „matri- 
archal  survivals"  benannt,  übrigens  mit  aller  Reserve  von  der 
Verfasserin  behandelt  wird.  Es  ist  sehr  erfreulich,  von  deren 
Hand  eine  ähnliche  Übersetzung  auch  der  Theragäthä  erwarten 
zu  dürfen.  —  Obwohl  der  betreffende  Text  außerhalb  des 
Kanon  steht,  sei  hier  das  von  Rud.  Fuchs  veröffentlichte 
Specimen  des  Petakopadesa  erwähnt^,  der  Vorläufer,  wie  ge- 
hofft werden  darf,  einer  Ausgabe  des  vollständigen  Textes,  der 
sich     in     Abhidhamma- artiger    Ausdrucksweise     bewegt    und 

*  Mrs.  Rhys  Davids    Psalms   of  the  early  Buddhists.   I.   Psalms  of 
the  Sisters  (Päli  Text  Society).     London  1909. 

*  Rud.  Fuchs  Specimen  des  Petakopadesa.    (Berliner  Doktordisser- 
tation).    1908. 


Der  indificlie  Buddhismus  (1907—1909)  591 

von  der  Tradition  —  selbstverständlich  mit  Unrecht  —  dem 
Mahäkaccäyana  zugeschrieben  wird.  Erst  die  Ausgabe  wird  in 
das  „große  Dunkel,  das  über  dem  Werk  schwebt",  Licht  bringen 
können;  für  jetzt  muß  ich  mich  begnügen,  betreffs  desselben 
auf  Hardys  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Nettipakarana 
zu  verweisen.  Das  jetzt  vorliegende  erste  Kapitel  handelt  von 
den  vier  „heiligen  Wahrheiten".  — 

Hier  darf  der  Vollendung  der  großen  englischen  Jätaka- 
Übersetzung  gedacht  werden,  deren  letzter  Band  von  dem  ehr- 
würdigen, über  diesem  Werk  hingegangenen  Leiter  des  ganzen 
Unternehmens  und  demjenigen  seiner  Mitarbeiter,  der  den  Plan 
des  Ganzen  angeregt  hat,  bearbeitet  worden  ist.^  —  Über  die 
Anfänge  einer  deutschen  Jätaka-Cbersetzung  habe  ich  an  anderem 
Orte  berichtet.-  —  Mit  Anklängen  des  Jätaka  (I  p.  134f  ed. 
Fausböll)  an  die  Sakuntaläsage  beschäftigt  sich  ein  Aufsatz 
von  Pavolini.'  —  über  Fouchers  Behandlung  der  plastischen 
Illustrationen  zum  Jätaka  s.  S.  605.  —  Großenteils  auf  dem 
Boden  der  Jätakas  bewegen  sich  auch  die  Studien  eines  Forschers, 
dessen  Eintritt  in  die  Mitarbeit  an  den  unerschöpflichen  Pro- 
blemen der  indischen  Märchenkunde  wir  mit  Wärme  willkommen 
heißen  dürfen,  Jarl  Charpentiers.^  Der  auf  seinem  Titel  figurierende 

*  The  Jätaka  or  stories  of  the  Buddha's  former  births.  Translated 
from  the  Päli  by  various  hands  under  the  editorship  of  Professor 
E.  B.  Cowell.  Vol  VI.  Transl.  by  E.  B.  Cowell  and  W.  H.  D.  Rouse. 
Cambridge  1907.  Der  erste  Band  war  1895  erschienen.  Ich  kann  mir 
nicht  versagen,  auf  die  Würdigung  des  so  wichtigen  Werks  hinzuweisen, 
dieMrs.  Rhys-Darids  im  Joum.  R.  As.  Society  1908,  593  ff.  in  anmutigster 
Weise  gegeben  hat. 

*  Jatakam.  Das  Buch  der  Erzählungen  aus  früheren  Existenzen 
Buddhas.  Aus  d.  Päli  übersetzt  von  Dr.  J.  Dutoit.  Leipzig,  von  1907 
an.     Ygl.  H.  0.,  Deutsche  Literaturzeitung  1907,  Sp.  1379  f. 

'  P.  E.  Pavolini,  Tracce  della  leggenda  dt  ^akuntalä  nel  libro  dei 
Jätaka  (Giom.  Soc.  As.  Ital.  XX,  1907,  297  ff.). 

*  Jarl  Charpentier  Studien  zur  indischen  Erzählungsliteratur.  1. 
Paccekahuddhageschichten  (Uppsala  Universitets  Arsskrift  1908).  Uppsala 
1908.  —  Untersuchungen  verwandter  Art  hat  derselbe  Verfasser  auch 
ZDMG  62,  725ff.,  63, 171  ff.  vorgelegt. 


592  H.  Oldenberg 

theologische  Begriff  des  Paccekabuddha  spielt  im  Buch  selbst 
kaum  eine  Rolle;  es  handelt  sich  vielmehr  um  die  märchen- 
geschichtliche Analyse  einiger  Erzählungen  bez.  Erzählungs- 
gruppen, in  denen  Paccekabuddhas  hervortreten  —  des  Sona- 
kajätaka  (Nr.  529)  und  vor  allem  des  Kumbhakärajätaka 
(Nr.  408),  in  dem  es  sich  um  vier  zu  Paccekabuddhas  werdende 
Könige  handelt.  Die  Päliformen  der  Geschichten  werden  ihren 
Parallelen  gegenübergestellt;  namentlich  der  enge  Zusammen- 
hang buddhistischer  und  jainistischer  Novellistik  tritt  in  der 
reichhaltigen  Darstellung  Charpentiers  sehr  klar  zutage.  Speziell 
sei  auf  die  überzeugenden  Ausführungen  S.  106  ff.  hingewiesen, 
die  sich  in  bezug  auf  das  Verhältnis  zwischen  den  poetischen 
und  prosaischen  Bestandteilen  der  Jätakas  gegen  Frankes  Hyper- 
kritik  richten;  „arglosere  Lektüre"  (S.  110)  dürfte  hier  in  der 
Tat  am  Platz  sein.  Doch  darf  ich  nicht  versuchen,  dem  sehr 
mannigfaltigen  Inhalt  des  Buchs  näher  nachzugehen;  so  wichtig 
dieses  für  die  Geschichte  der  Märchenliteratur  ist,  in  so  losem 
Zusammenhang  steht  es  mit  religionsgeschichtlichen  Fragen. 

Von  der  schon  oben  (S.  589)  erwähnten  Dichtungssammlung 
Sutta  Nipäta  geht  eine  Arbeit  Frankes  ^  aus,  die  der  Erforschung 
des  altbuddhistischen  Kanons   dankenswerteste  Förderung  ver- 
spricht.     Es   handelt   sich   um    ein   Unternehmen,    das,   wenn 
seine  Durchführung,  wie  gehofft  werden  darf,  gelingt,  geradezu 
neben    der   großartigen  Vedakonkordanz  Bloomfields    wird  ge-j 
nannt  werden  dürfen.    Die  Gäthäs  (Strophen)  aller  kanonischer 
Pälitexte  sollen  unter  Beibringung  der  Parallelstellen  verzeichne 
werden,  mit  Heranziehung  auch  nordbuddhistischer  (Mahävastt 
Lalitavistara  usw.)  und  außerkanonischer  (Milindapanha,  Dipa- 
vamsa   usw.)   Texte.      Bei   der   großen   Anzahl  von  Fällen, 
denen  Stichworte,  Klangreminiszenzen,  Assoziationen  verschieden'^ 
ster  Art  die  Dichter  beeinflußt  und  den  Gang,  den  ihr  Ausdruck 
genommen  hat,  aus  der  Bahn  gelenkt  haben,  wird  für  Grammatik 

'  R.  Otto.  Franke    Die    Suttanipäta-Gäthäs   mit  ihren   Parallelen. 
ZDMG  63,  IfiF.,  225 ff.,  öölff. 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  593 

wie  Metrik,  für  Exegese  wie  für  die  Fragen  nach  Geschichte 
und  Aufbau  des  Kanons  eine  solche  Zusammenstellung  Ton 
erheblichster  Wichtigkeit  sein.  Dem  Gelehrten,  der  die  große 
und  entsagungsvolle  Arbeit  zu  unternehmen  kein  Bedenken 
getragen  hat,  seien  die  wärmsten  Wünsche  dafür  ausgesprochen! 

In  sehr  viel  kleineren  Maßstäben  bewegt  sich  eine  Arbeit 
von  mir,  die  ebenfalls  vom  Sutta  Nipäta  ausgehi^  In  ihrem 
Mittelpunkt  stehen  Zählungen  über  die  metrische  Struktur 
der  Slokas  der  beiden  Schlußabschnitte  jenes  Textes  (Atthakäni, 
Päräyanam),  deren  besonders  hohes  Alter  feststeht.  Um  diese 
Zählungen  lagert  sich  der  Versuch,  die  Grundzüge  der,  wie 
ich  meine,  sehr  deutlich  verfolgbaren  schrittweisen  Entwicklung 
des  Sloka-(Anustubh-)  Metrums  von  den  Anfängen  durch  die 
Vedazeit  hindurch  bis  zu  der  altbuddhistischen  und  dann  der 
epischen  Stufe  darzustellen.  Ich  hoffe,  daß  die  gefundenen 
Ergebnisse  für  die  literargeschichtliche  Chronologie  und  damit 
schließlich  auch  für  die  Religionsgeschichte  nicht  wertlos  sein 
werden.  Insonderheit  möchte  ich  Gewicht  darauf  legen,  daß 
—  entgegen  der  Ansicht  von  Simon  (ZDMG  44, 96)  —  der  Sloka 
der  altbuddhistischen  Texte  sich  verglichen  mit  dem  epischen 
in  jeder  Hinsicht  als  altertümlicher  herausgestellt  hat.  —  Mit 
der  Metrik  eines  verwandten  Textes  —  nicht,  wie  ich  es  tat, 
sich  auf  den  Sloka  beschränkend  —  beschäftigt  sich  J.  H.  Moore.* 

Ich  erwähne  weiter  Schraders  Übersetzung  von  Haupt- 
abschnitten jenes  merkwürdigen  Dialogs,  in  dem  ein  griechischer 
König  und  ein  buddhistischer  Heiliger  die  Klingen  ihrer  Dialektik 
kreuzen:  des  Milindapanha ^ 


'  H.  Oldenberg  Zur  Geschichte  des  Sloka.  Xachr.  d.  Gott.  Ges. 
der  WisB.,  phil.  hist.  Kl.,  1909,  219 flF. 

*  J.  H.  Moore  Metrical  Analysis  of  the  Päli  Iti-vuttaka.  Joum. 
American  Oriental  Society  28,317fiF. 

'  Die  Fragen  des  Königs  Menandros.  Aus  dem  Päli  zum  ersten 
Male  ins  Deutsche  übersetzt  von  Dr.  phil.  F.  0.  Schrader.  Berlin  (ohne 
Jahreszahl,  erschienen  1907). 

ArchiT  f.  BeligionB-nissenschaft  Xm  38 


594  H.  Oldenberg 

Unter  den  rüstig  fortschreitenden  Publikationen  der  Päli 
Text  Society,  die  wir  gelegentlich  schon  berührten,  sei  hier 
noch  eine  hervorgehoben,  die  an  Wichtigkeit  unter  allen 
Darbietungen  nichtkanonischer  Werke,  von  denen  ich  zu  be- 
richten habe,  weit  voransteht:  Geigers  Ausgabe  des  Mahävamsa^, 
des,  wenn  auch  nicht  an  Alter,  so  doch  an  Wichtigkeit  weitaus 
ersten  unter  den  buddhistischen  geschichtlichen  Texten  von 
Ceylon.  Dem  geradezu  schreienden,  durch  Turnours  Werk 
(1837!)  erweckten  Bedürfnis  nach  einer  auf  der  Höhe  philo- 
logischer Forschung  stehenden  Ausgabe  dieses  Textes  hatte  auch 
die  Arbeit  von  Sumangala  und  Batuwantudawa  (Colombo  1883) 
nicht  abgeholfen.  E.  Hardy,  der  sich  diese  Aufgabe  gestellt 
hatte,  war  darüber  hingegangen.  Nun  hat  Geiger  auf  Grund 
sehr  reichhaltiger  handschriftlicher  Materialien  und  einer  mit 
minutiösester  Sorgfalt  vorgenommenen  kritischen  Durcharbeitung 
derselben  eine  Ausgabe  geschaffen,  die  einen  so  wesentlichen 
Schritt  vorwärts,  wie  nur  gehofft  werden  konnte,  darstellt  und 
auf  wärmsten  Dank  Anspruch  hat. 

Wenden  wir  uns  vom  Süden  zum  Norden,  so  sind  wir 
seit  dem  Erscheinen  von  Nanjios  Catalogue  of  the  Buddhist 
Tripitaka  gewohnt,  wichtigste  Aufschlüsse  über  den  in  chinesischen 
Übersetzungen  vorliegenden  Bestand  buddhistisch -kanonischer 
Texte  vor  allem  von  unsern  japanischen  Mitarbeitern  zu  erhalten. 
Unter  diesen  ist  —  neben  J.  Takakusu  —  namentlich  M.  Anesaki 
zu  nennen,  der  durch  eine  längere  Reihe  von  Jahren  seine 
Arbeitskraft  der  Vergleichung  der  Sütrasammlungen  des  Kanon 
(der  Nikäya  oder  Agama)  in  ihren  chinesischen  Übersetzungen 
mit  den  Päli -Äquivalenten  gewidmet  hat.  Neben  Beiträgen, 
die  er  auf  Grund  dieser  Untersuchungen  zu  dem  Werk  von 
Edmunds  (s.  u.  S.  614,4)  geliefert  hat,   ist  hier  vor  allem   sein 

*  The  Mahävamsa  edited  by  Willi.  Geiger  (Päli  Text  Society). 
London  1908.  —  Hier  sei  erwähnt,  daß  Geigers  Buch  Dipavainsa  rind 
Mahävamsa  jetzt  auch  in  englischer  Übersetzung  erschienen  ist  {The  Dlp. 
and  Mah.;  translated  by  Etbel  M.  Coomaraswamy.     Colombo  1908). 


Der  indische  Buddhismxis  (1907—1909)  595 

vergleichender  Überblick  über  die  vier  großen  Sütrasammlungen 
(im  Päli  Digha-,  Majjhima-,  Sarnjutta-  und  Anguttara-Xikäya) 
zu  nennen.  *  Die  fünfte  Sammlung  (Kbuddaka-Nikäya)  liegt  in 
China  nicht  als  ein  Ganzes  vor-,  die  Verzeichnung  ihrer  hier 
imd  da  zerstreut  in  den  chinesischen  Texten  begegnenden 
Elemente  (S.  9ff.;  vgl.  auch  Journ.  Päü  Text  Soc.  1907,  50  f.) 
würde  schon  allein  hinreichen,  ein  Bild  von  dem  außerordent- 
lichen Fleiß  zu  geben,  mit  dem  A.  gearbeitet  hat.  Die  detail- 
lierte Vergleich  ung  der  chinesischen  und  der  Päli -Redaktion 
wird  zweifellos  einen  Hauptgegenstand  buddhistischer  Studien 
der  nächsten  Jahrzehnte  ausmachen.  Die  ausführlichen  Indices, 
welche  zu  liefern  Anesaki  vorhat  (S.  14),  werden  dabei  aller 
Voraussicht  nach  wertvolle  Dienste  leisten. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  es,  daß  nach  dem  Buddha- 
carita  und  andern  Texten  von  neuem  ein  bedeutendes  Wort 
des  großen  Asvagho.sa  seine  Auferstehung  erlebt  hat:  der  Süträ- 
lamkära,  in  einer  chinesischen  Übersetzung  aus  dem  Anfang 
des  5.  Jhd.  vorliegend.  E.  Huber  hat  diese  ins  Französische 
übersetzt*,  und  Sylv.  Levi  hat  sie  zum  Gegenstand  einer  ein- 
gehenden, höchst  inhaltreichen  Analyse  gemacht.^  Das  Werk 
des  Patriarchen,  welchen  glaubliche  Überlieferungen  in  Ver- 
bindung mit  König  Kaniska  setzen,  ist,  wie  Levi  mit  der  ihm 
eignen  lebensvollen  Anschaulichkeit  darlegt,  ein  Denkmal 
jener  Wahl,  welche  der  Buddhismus  zwischen  der  alten 
Richtung  und  einer  neuen  zu  treffen  hatte.  Dort  das  alte 
Asketenideal  des  Hinarbeitens  auf  die  eigne  Erlösung.  Hier  die 
Tendenzen    eines    in  Weltweite    hinausstrebenden  Aposteltums, 

^  M.  Anesaki  The  four  Buddhist  Ägamas  in  Chinese.  A  Concor- 
dance  of  their  part^  and  of  the  corresponding  counterparts  in  the  Päli 
Xikäyas  (Transactions  of  the  Asiatic  Society  of  Japan,  vol.  XXXV, 
part  3).    1908. 

*  AQvaghosa  Süträlamkära  traduit  en  frangais  sur  la  version  chinoise 
de  Kumärajiva,  par  Ed.  Huber.     Paris  1908. 

'  Sylvain  Levi  ÄQvaghosa,  le  Süträlamkära  et  ses  sources.  Joum. 
asiatique  1908,  II,  57  ff. 

38* 


596  H.  Oldenberg 

die  Bedürfnisse  einer  „eglise  ouverte,  active,  instruite,  mondaine 
enfin".  Schon  durch  seinen  Titel  drückt  der  Süträlamkära  aus, 
daß  es  diese  Richtung  ist,  zu  der  er  sich  bekennt:  „les  sütras 
mis  en  litterature,  comme  nous  dirions:  La  Bible  pour  les 
gens  du  monde".  Gerade  einen  Dichter  wie  Asvaghosa,  an 
dessen  Stellung  in  der  literargeschichtlichen  Entwicklung  sich 
ein  so  eigenartiges  Interesse  knüpft,  wird  man  besonders  leb- 
haft bedauern,  nur  durch  zwei  Übersetzungen  hindurch  lesen 
zu  können,  selbst  wenn  die  zweite  von  diesen  alle  die  Vorzüge 
besitzt,  die  der  Huber's  allem  Anschein  nach  eigen  sind,  über 
die  indessen  selbstverständlich  nur  ein  Sinolog  zu  urteilen  kom- 
petent ist.  Einen  gewissen  Ersatz  geben  die  nach  einer  Entdeckung 
Huber's  im  Divyävadäna  wiederkehrenden  Stücke  des  Süträlam- 
kära. Und  auch  die  chinesisch-französische  Übersetzung  erlaubt 
zu  erkennen  —  man  kann  das  nicht  anschaulicher,  als  Levi 
tut,  zeigen  —  wie  Asvaghosa  die  trockene  Schwerfälligkeit 
seiner  Vorlagen  (es  handelt  sich  um  den  chinesisch  erhaltenen 
Vinaya  der  Mülasarvästivädins  und  um  nördliche  Agamas) 
künstlerisch  zu  beleben  weiß.  „A9vaghosa  expose  comme  un 
dramaturge  et  peint  comme  un  lyrique."  Freilich  ihn  neben 
TertuUian  und  Bossuet  stellen  —  heißt  das  nicht  einen  Zug 
monumentaler  Größe  in  sein  Bild  hineintragen,  der  über  die 
Dimensionen  des  klugen  und  geschickten,  doch  ständig  mit 
allzu  großem  Behagen  in  den  Gewässern  wortreicher  Rhetorik 
umherplätschernden  Erzählers  weit  hinausgeht?  Levi  (S.  90) 
findet  im  Werk  des  Asvaghosa  auch  „des  pieces  nouvelle»  a  la 
revision  d'un  proces  qu'on  croyait  tranche":  es  handelt  sich 
um  das  Verhältnis  der  ceylonesischen  (Päli-)  Tradition  des 
Buddhismus  und  der  nördlichen  der  sanskritischen,  quasi -sans- 
kritischen, chinesischen,  tibetischen  Texte.  Ich  werde  an  späterer 
Stelle  mit  einigen  Worten  auf  dies  große  Problem  zurück- 
zukommen haben.  Hier  sei  nur  ausgesprochen,  daß  ich  Tat- 
sachen, die  in  dem  Glauben  an  das  hohe  Alter  und  den  sehr 
hohen  Wert  —  ich  sage    nicht^   an   die    Unfehlbarkeit  —  der 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  597 

Pälitradition  irre  machen  könnten,  in  den  hier  rorliegenden 
Ausführungen  Levi's  nicht  zu  finden  weiß.  Daß  beispielsweise 
der  nördliche  Madhyamägama  einige  auf  Vorschriften  über  die 
Ernährung  bezügliche  Abschnitte  zusammenstellt,  welche  im 
Majjhimanikäja  des  Südens  zerstreut  erscheinen  („ordre  dans 
le  Madhyama,  desordre  dans  le  Majjhima,"  S.  137),  scheint  mir 
gegen  den  letzteren  keinerlei  Verdacht  der  minderen  Ursprüng- 
lichkeit zu  begründen;  handelt  es  sich  doch  in  den  Sütrasamm- 
lungen  nicht  wie  im  Vinaya  darum,  eine  derartige  die  Gemeinde- 
ordnungen betreffende  Materie  systematisch  abzuhandeln;  ihre 
Erwähnungen  in  diesen  Texten  tragen  von  Natur  den  Charakter 
des  Zufälligen.  Im  übrigen  würde,  wenn  man  fragt,  wo  Ord- 
nung und  wo  Unordnung  ist,  die  Vergleichung  wohl  kaum  zu- 
ungunsten des  Pälikanon  ausfallen. 

Oder  weiter:  man  halte  die  Päliversion  der  Bekehrung 
des  Upäli  (Cullavagga  VII,  1)  gegen  die  Erzählung  des 
Asvaghosa  und  die  anderen  nördlichen  Überlieferungen 
(S.  125  ff.,  Huber's  Übersetzung  S.  222  ff.).  Mir  scheint,  daß 
Levi  den  schlichten  südlichen  Text  nicht  ohne  eine  gewisse 
Ironie  behandelt:  „ici  tout  se  passe  sagement,  pieusement,  dans 
un  moude  ideal  de  moines  et  de  devots.'"  Werden  wir  von 
der  alten  Literatur  der  weltentsagenden  buddhistischen  Mönche 
nicht  eben  das  erwarten?  Oder  femer:  man  vergleiche  die 
harmlose  Weise,  in  der  das  „Prosit^sagen  beim  Niesen  im 
Päli -Vinaya  (Cullavagga  V,  33,  3)  verboten  wird,  mit  den  Zu- 
taten, welche  der  Vinaya  der  Mülasarvästivädin  zu  dieser  Vor- 
schrift gibt,  und  mit  der  Erzählung,  die  Asvaghosa  auf  dem 
betreffenden  Kapitel  dieses  Vinaya  aufbaut  (S.  160ff.,  Huber's 
Übersetzung  S.  386 ff.)  Man  soll  nicht  dem  niesenden  Buddha 
langes  Leben  wünschen  —  so  erklärt  Buddha  in  dem  nördlichen 
Vinaya,  als  Gautami  ihm  auf  sein  Niesen  das  gewünscht,  und 
500  Nonnen  samt  Geistern  und  Göttern  von  Erde,  Luft,  Himmel 
diesen  Wunsch  wiederholt  hatten  — ;  man  soll  wünschen,  daß 
Eintracht    in    der    Gemeinde    herrscht.       Gautami,    an    welche 


598  H.  Oldenberg 

diese  Belehrung  gerichtet  ist,  beschließt  in  das  Nirväna  ein- 
zugehen; die  500  Nonnen  beschließen  dasselbe.  Sieben  Tage 
predigen  sie  noch  die  Lehre,  dann  tun  sie  die  gewaltigsten 
Wunder,  werden  von  magischem  buntem  Feuerwerk  und  Wasser- 
künsten umspielt,  gehen  durch  alle  Stufen  der  Ekstase  hindurch 
und  erreichen  endlich  unter  Erdbeben  und  himmlischen  Wunder- 
klängen das  Nirväna.  Buddha  selbst  und  König  Pradyota  samt 
einem  ungeheuren  Gefolge  heiliger  und  vornehmer  Persönlich- 
keiten ehren  die  irdischen  Reste  der  Hingegangenen.  Buddha  zeigt 
auf  Gautami's  Leiche:  „Seht,  sie  war  120  Jahre  alt  und  gleicht 
einem  Mädchen  von  16  Jahren"  —  worauf  die  Leichen  auf 
wohlriechenden  Hölzern  verbrannt  werden.  Irre  ich  mich  oder 
zeigt  die  Gegenüberstellung  des  südlichen  und  des  nördlichen 
Textes  eine  geradezu  typische  Figur  —  dieselbe,  die  ich  einmal 
früher  bei  Gelegenheit  des  Vinaya- Verbots,  die  Lehre  nur  auf 
gehörige  Aufforderung  vorzutragen,  beschrieben  habe  (ZDMG 
52,  650  A.  2)?  Was  hat  größere  Chance  ursprünglich  zu  sein, 
jene  einfache  Darstellung,  die  eben  das  sagt,  was  diesen  geist- 
lichen Männern  wesentlich  und  ausreichend  scheinen  mußte, 
oder  das  Mirakelmärchen,  in  dessen  Stil  sich  das  Streben 
späterer  Zeiten  zu  verraten  scheint,  so  viel  Schmuck,  Pomp 
und  Herrlichkeit  wie  nur  möglich  über  die  schlichte  Schöpfung 
des  Altertums  zu  häufen?  Doch  ich  will  die  Betrachtungen 
nicht  wiederholen,  die  ich  früher  (ZDMG  52,  643 ff.)  über 
diesen  Kreis  von  Problemen  vorgelegt  habe  und  die  sich  mir 
auch  jetzt  im  wesentlichen  als  haltbar  zu  bewähren  scheinen. 
Ich  muß  nur  noch  in  bezug  auf  die  eben  in  Rede  stehende 
Erzählung  ein  sehr  bemerkenswertes  Faktum  berühren,  auf  das 
Levi  aufmerksam  macht:  der  Pälitext  Apadäna  enthält  einen 
Bericht  über  das  Ende  der  Gautami,  welcher  die  engsten  Be- 
rührungen mit  der  Fassung  des  Asvagho^a  zeigt.  Man  weiß 
—  und  Lövi  hat  nicht  versäumt,  auch  seinerseits  es  hervor- 
zuheben — ,  daß  das  Apadäna  ein  avtLlsyöfisvov  von  streitiger 
kanonischer  Authentizität,    von    schwerlich    streitiger  jüngerer 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  599 

Herkunft  gegenüber  den  Hauptwerken  des  Kanon  ist.  Sehr 
bezeichnend,  daß  es  gerade  diese  Stelle  der  Päliüb erlief erung 
ist,  wo  sich  dieselbe  der  Art  des  Asvaghosa  vergleicht.  Welcher 
Text  nun  ist  das  Original,  das  Werk  Asvaghosa's  oder  das 
Apadäna  oder  ein  dritter  Text  neben  diesen  beiden?  Levi's 
Argumentation  für  die  Originalität  Asvaghosa's  (S.  174)  über- 
zeugt mich  einstweilen  nicht.  Es  wäre  erwünscht,  wenn  die 
Vergleichung  der  verschiedenen  Exemplare  in  allem  Detail  vor- 
genommen würde,  wozu  hier  nicht  der  Ort  ist.  Bis  jetzt  — 
um  von  der  speziellen  Frage  zu  der  allgemeinen  zurückzukehren 

—  kann  ich  nichts  entdecken,  was  uns  die  klare  und  schlichte 
Einfachheit  des  Päli-Kanons  (ich  meine  den  wirklichen  Kanon;  das 
Apadäna  mag  preiszugeben  sein)  gegenüber  der  ausschweifenden 
Überfülle  solcher  nördlicher  Gegenstücke,  wie  der  hier  berührten, 
verdächtig  machen  könnte;  man  möchte  das  Verhältnis  dem  des 
Stils  der  Barhutreliefs  oder  der  Asoka-Schriftcharaktere  zu  dem 
Stil,  der  in  der  bildenden  Kunst  und  der  Schrift  späterer  Jahr- 
hunderte geherrscht  hat,  vergleichen.  Doch  werde  ich  nicht 
müde,  immer  wieder  zu  betonen,  daß  damit  nur  in  großen  Linien 
das  Verhältnis  der  Texte  im  ganzen  charakterisiert  sein  soll, 
ohne  daß  die  Möglichkeit  —  hier  und  da  wird  man  schon 
jetzt  von  Wahrscheinlichkeit  oder  Gewißheit  sprechen  können 

—  der  Korrekturen  in  Abrede  gestellt  werden  darf,  welche  die  Päli- 
Uberlief erung  an  manchen  Stellen  aus  dem  Norden  zu  empfangen 
hat  (vgl.  meine  schon  vor  mehr  als  zehn  Jahren  veröffentlichte 
Bemerkung,  Zeitschr.  der  D.  Morgenl.  Ges.  52,  664  Anm.). 

Windisch,  der  in  seinen  Arbeiten  über  Mära  und 
über  die  Geburt  des  Buddha  so  wichtige  Beiträge  zur  Ver- 
gleichung der  nördlichen  und  südlichen  Überlieferung  gegeben 
hat,  läßt  ähnliche  Fragestellungen  in  seiner  Arbeit  über  das 
Mahävastu^   hervortreten.     In  Übereinstimmung  mit  einer  von 

'  E.  "Windisch  Die  Komposition  des  Mahävastu.  Ein  Beitrag  zur 
Quellenkunde  des  Buddhismus.  (Abh.  der  phil.-hist.  Klasse  der  K.  Sachs. 
Ges.  d.  Wiss.,  Bd  XXYII,  Nr.  14).     Leipzig  1909. 


600  H.  Oldenberg 

mir  vorgetragenen  Auffassung  (ZDM6  52,  645  A.  1)  erkennt 
er  im  Ma.liävastu  die  erweiterte  Fassung  der  Erzählungen,  mit 
denen  der  Mahävagga  des  Pali-Vinaya  anhebt.  Er  konfrontiert 
in  nützlicher  Gegenüberstellung  die  beiden  Texte.  Die  Weise, 
wie  im  Mahävastu  fortwährend  die  Grunderzählung  durch  ein- 
gelegte Jätakas  unterbrochen  wird,  scheint  ihm  —  ich  meine 
durchaus  zutreffend  —  in  der  Entwicklungsgeschichte  des 
Mahäbharata  eine  Parallele  zu  haben :  auch  dort  ist  die  Grund- 
erzählung durch  episodische  Erzählungen  und  didaktische  Zu- 
taten auf  den  ungeheuren  Umfang  gebracht  und  zu  der  Form- 
losigkeit entstellt  worden,  in  der  sie  uns  vorliegt. 

Eine  Ergänzung  findet  Windisch's  Märabuch  durch  eine 
Untersuchung  von  Charpentier^,  der  den  Pälitext  des  Mära- 
samyutta  den  im  Mahävastu  erscheinenden  Parallelen  gegen- 
überstellt. Wenn  dieser  Forscher  hier  kleine  Dramen  des  Typus 
vermutet,  den  v.  Schroeder  („Mysterium  und  Mimus  im  Rgveda" 
1908)  im  Rgveda  gefunden  zu  haben  glaubt  —  so  Buddhas  Ver- 
suchung durch  Märas  Töchter  — ,  kann  ich  mein  Bedenken  nicht 
unterdrücken;  ich  verweise  auf  meine  an  das  Buch  v.  Schroeders 
anknüpfenden  Erörterungen,  Gott.  Gel.  Anz.  1909,  66ff. 

Zum  Abschluß  seiner  Ausgabe  des  Laiita  Vistara  ^  haben 
wir  die  Freude  Lefmann  zu  beglückwünschen. 

Mit  den  Quellen  des  Divyävadäna  haben  sich  etwa 
gleichzeitig  S.  Levi^  und  —  in  Fortsetzung  früherer  Unter- 
suchungen —  E.  Huber ^  beschäftigt.  Als  Hauptquelle  erweist 
sich  der  Vinaya  der  Mülasarvästiväda- Schule,  der  in  chinesischer 

*  J.  Charpentier  Das  Märasamyutta  im  Mahävastu.    Wiener  Zschi 
f.  d.  Kunde  des  Morg.  XXIII  (1909),  3;-}  flf. 

*  S.  Lefmann  Laiita  Vistara,  Leben  und  Lehre  des  Cdkya- Buddha, 
Textausgahe  mit  Varianten-,  Metren-  und  Wörterverzeichnis.  T.  2,  Var. 
Metr.  u.  Wörterverz.    Halle  1908. 

'  Sylvain  Ldvi  Lcs  elements  de  formation  du  Divyävadäna.     T'oung^ 
Pao,  S(irie  II.  Vol.  VIII  (Leiden  1907),  106  ff.  —  Vgl.  auch  denselben,  Le 
Nepal  vol.  III,  p.  184  (Paris  1908). 

*  fid.  Huber  :^tudes  de  litterature  bouddhique.  V.  Les  sources  du  Divyä- 
vadäna (Suite).  Bulletin  de  l'l^lcole  fran9ai8e  d'Extreme-Orient,  vol.  VI ,  Iff. 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  601 

Übersetzung,  dazu  auch  in  tibetischer  (im  'Dul-va)  vorliegt. 
Huber  gfibt  sehr  instruktive  Zusammenstellungen  einer  Reihe 
von  Abschnitten  dieses  Vinaya,  die  Stücken  des  Päli-Sutta- 
vibhanga  entsprechen,  mit  den  Päli -Parallelen.  Wir  finden  das 
Verhältnis  der  beiden  Exemplare  von  Huber  in  Ausdrücken 
wie  den  folgenden  beschrieben:  (die  im  Päli-Vinaya  vorliegende 
Fassung)  „a  fourni  aux  redacteurs  du  Vinaya  sanskrit  un  canevas 
sur  lequel  ils  ont  brode  un  long  roman"  —  „nous  allons  voir 
comment,  de  ces  donnees  sobres,  le  Vinaya  des  Sarvästivädin 
a  tire  tout  un  roman".  Man  kann  sich,  scheint  mir,  nicht 
zutreffender  ausdrücken.  Dann  aber  sagt,  zum  Schluß  seiner 
Auseinandersetzungen,  Huber:  „En  realite  les  redacteurs  du 
Canon  sanskrit  n'ont  rien  invente,  en  ce  sens  qu'ils  etaient 
aussi  fideles  ä  la  tradition  que  ceux  du  Canon  des  Theravädin. 
Seulement,  tandis  que  ces  derniers  ont  habituellement  laisse 
ou  rejete  dans  les  commentaires  les  contes  pieux  qui  servaient 
couramment  d'illustration  aux  preceptes  de  la  regle,  ces  auadäna 
ont  au  contraire  completement  envahi  le  texte  meme  chez  les 
Sarvästivädin".  Haben  wir  wirklich  Grund  anzunehmen,  daß 
diese  Überfälle  von  Geschichten,  die  dem  Pälikanon  fehlen, 
sich  aber  zum  großen  Teil  in  den  Kommentaren  finden,  den 
Redakteuren  des  Kanon  zur  Verfügung  gestanden  haben,  aber 
von  ihnen  beiseite  gelassen  bzw.  in  den  Kommentar  verwiesen 
sind?  Huber  zitiert  zustimmend  die  Bemerkung  von  Windisch 
(Mära  und  Buddha  300),  daß  Buddhaghosa  mit  der  nördlichen 
Literatur  vertraut  gewesen  sein  müsse.  War  das  der  Fall,  liegt 
es  dann  nicht  nahe,  daß  seine  (oder  seiner  Quellen?)  Kenntnis 
der  betreffenden  Erzählungen  eben  auf  Zusammenhängen  beruht, 
die  sich  nach  dem  Norden  erstrecken?  Ergibt  sich  dann  aber 
irgend  etwas  über  die  Stellung  der  Redaktoren  des  Pälikanon s 
zu  jenen  Geschichten?  So  bleibe  ich  auch  —  wenigstens  was 
die  Päli- Redaktion  anlangt  —  unüberzeugt,  wenn  Levi  (S.  116), 
au  Äußerungen  von  Wassilieff  anknüpfend,  mit  der  Möglichkeit 
rechnet   —    sie    scheint    ihm    eine   Wahrscheinlichkeit   zu    be- 


602  H-  Oldenberg 

deuten  — ,  daß  die  Redaktion  der  uns  vorliegenden  Vinayas  noch 
an  die  Zeit  heranreicht,  in  der  Buddhaghosa  seine  Kommentare 
verfaßt  hat  oder  verfaßt  haben  soll.  Doch  kann  ich  natürlich 
meine  Meinungsverschiedenheit  den  ausgezeichneten  französischen 
Forschern  gegenüber  hier  nur  aussprechen,  nicht  begründen. 
Von  sonstigen  Publikationen  auf  dem  Gebiet  des  nörd- 
lichen Buddhismus  hebe  ich  hervor  S.  Levi's  Ausgabe  von 
Asanga's  (4. — 5.  Jhd.  n.  Chr.?)  Mahäyäna-Süträlamkära',  „un 
expose  scolastique  des  doctrines  mahäyänistes  sur  le  Bodhisattva, 
au  point  de  vue  de  l'ecole  des  Yogäcäras".  Von  einem  anderen 
Werk  desselben  Asanga  handelt  die  Dissertation  von  U.  Wogi- 
hara.^  Mit  einem  in  tibetischer  Übersetzung  erhaltenen  logischen 
Werk  des  Dignäga  beschäftigt  sich  Satis  Chandra  Vidyäbhüsana.' 
La  Vallee  Poussin^  gibt  eine  Übersetzung  —  „tout  au  moins 
partielle"  —  von  Candrakirti's  (etwa  um  600  n.  Chr.)  Einleitung 
in  Nägärjuna's  Madhyamaka  (Madhyamakasästra,  Mülamadhya- 
makakärikä),  das  religiös -philosophische  Grund  werk  der  Mädhya- 
mika- Schule.  Derselbe  Forscher  übersetzt  in  anziehender  Form^ 
Säntideva's  (7.  Jhd.)  Bodhicaryävatära  (Kap.  1 — 9)^:  ein  Werk, 

*  Asanga,  Mahäyäna-  SüträlamJcära,  expose  de  la  doctrine  du  Gram 
Vehieule  sehn  le  Systeme  Yogücära.     Ed.  et  trad.  par  S.  Levi.     Tome  I.J 
Texte.    (Bibl.  de  l'Iilcole  des  Hautes  ifitudes,  159).     Paris  1907. 

*  U.  Wogihara,  Asanga's  Bodhisattvabhümi ,  ein  dogmatischer  Tea 
der  Nordbuddhisten  nach  dem  Unikum  von  Cambridge  im  Allgemeinen  ur 
lexikalisch   untersucht   {Indica   hrsg.   von    Leumann,    Heft  6,    S.  1 — 46). 
Leipz.  1908. 

'  Mahämahopädhyäya  Satis  Chandra  Vidyäbhüsana,  Nyäya  -  pravesaj^ 
or  the  earliest  work  extant  on  Buddhist  Logic  by  Dignäga.  Journ.  anc 
Proceed.  of  the  As.  Soc.  of  Bengal,  New  Ser.  vol.  III,  1907  (Ualc.  1908),  609 if^ 

*  L.  de  la  Vallöe  Poussiu,  Madhyamakävatära,  introduction  au  trait 
du  milieu  de  VAcärya  Candrakirti,  avec  le  commentaire  de  l'auteur  tradui 
d'apres  la  Version  tibetaine.  (JVIus^on,  1907).  —  Eine  Ausgabe  der  Mädhya 
mikasütras  mit  dem  Prasannapadä- Kommentar  des  Candrakirti  gib(j 
derselbe  Gelehrte  in  der  von  der  St.  Petersburger  Akademie  veröfFent 
lichten  Bibliotheca  Buddhica  (von  1903)  an. 

'  Bodhicaryävatära.  Introduction  ä  la  pratique  des  futurs  Bouddhaa 
poeme  de  Qäntideva.  Trad.  du  sansc.  et  annotö  par  L.  de  la  ValltSe  Pousail 
(Extr.  de  la  Revue  d'hist.  et  de  littt^rature  religieuses,  t.  X.  XI.  XII).  Paris  1907.1 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  603 

das  die  Laufbahn  eines  Bodhisattva  (eines  künftigen  Buddha) 
beschreibt  und  ein  Ideal  entwickelt,  welches  das  Element  tat- 
kräftiger Liebe  und  Barmherzigkeit  —  den  Buddhismus  des 
Mahäyäna  vom  ursprünglichen  Buddhismus  tief  unterscheidend  — 
in  sich  schließi  — 

Über  die  archäologischen  Funde  in  Indien  werden  wir  jetzt 
rasch  und  ausgezeichnet,  wenn  auch  unvermeidlicherweise  zu- 
nächst nur  kurz,  durch  die  Berichte  orientiert,  welche  Mr. 
Marshall  selbst,  der  Director-General  of  Archaeology,  alljährlich 
im  Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society  erscheinen  läßt^.  Wie 
in  der  Natur  der  Sache  liegt,  kommen  diese  Funde  zu  einem 
verhältnismäßig  recht  großen  Teil  den  buddhistischen  Forschungen 
zucmte.  Ich  hebe  hervor  die  wichtigen  Ausgrabungen  von  Kasiä 
—  dem  Ort,  dessen  Identifikation  mit  dem  Ort  von  Buddhas  Tode, 
Kusinärä,  zur  Debatte  steht  ^  —  und  von  Sämath  bei  Benares, 
weiter  die  von  Saheth-Maheth,  dessen  längst  von  Cunningham 
aufgestellte  Identifikation  mit  dem  alten,  in  der  Lebensgeschichte 
des  Buddha  so  hervortretenden  Srävästi  jetzt  nicht  mehr  be- 
stritten werden  kann  ^,  und  wo  man  den  zu  so  unzähligen  Malen 
in  den  kanonischen  Texten  erwähnten  Park  Jetavana,  den 
Lieblingsaufenthalt  des  Buddha,  wiedergefunden  hat.  Alles 
andre  aber  wird  an  Interesse  überragt  durch  den  glänzenden 
Fund,  der  im  äußersten  Nordwesten  gelungen  ist.  In  der  Nähe 
von  Peshawar,  an  der  Stelle,  welche  durch  die  Untersuchungen 
Fouchers  angezeigt  war,  hat  Dr.  Spooner  den  großen  Stüpa 
Kaniskas  ausgegraben,  des  gefeierten  königlichen  Beschützers 
des  Buddhismus,  den  wir  wohl  —  der  Streit  hierüber  ist  freilich 

'  J.H.  M.siTshsLll Ärchaeological  Exploration  in  India  1906 — 7, 1907 — 8, 
1908—9.  Journal  of  the  R.  Asiatic  Soc.  1907,  993 ff.;  1908,  1085ff  ; 
1909,  1053  ff.  —  Die  ausführlichen  Veröffentlichungen  im  Annual  Eeport 
des  Archaeological  Survey  of  India  erscheinen  selbstverständlich  lang- 
samer; die  beiden  neuesten  vorliegenden  Bände  (Calcutta  1908 — 09)  be- 
treffen  die  Arbeiten  von  1904—05,  1905—06. 

*  Siehe  dazu  Vogel,  JRAS  1907,  1052. 

'  Siehe  denselben  ebendas.  1908,  971  ff. 


604  H.  Oldenberg 

nocli  nicht  verstummt  —  um  das  Ende  des  ersten  Jahrhunderts 
n.  Chr.  anzusetzen  haben  werden.  Man  versäumte  natürlich 
nicht,  nach  der  Reliquienkammer  selbst  zu  suchen  und  fand 
in  der  Tat  dort,  wo  es  vor  achtzehn  Jahrhunderten  hingestellt 
war,  ein  Metallgefäß:  auf  dem  Deckel  die  Rundfiguren  eines 
sitzenden  Buddha,  zu  beiden  Seiten  stehende  Bodhisattvas  (so 
nach  Marshall;  doch  wird  an  dieser  Deutung  zu  zweifeln  er- 
laubt sein;  vgl.  Foucher  JAs.  1909,  I,  S.  34);  auf  dem  Gefäß 
selbst  in  Hautrelief  zwischen  guirlandentragenden  Eroten  und 
Buddhafiguren  die  Gestalt  Kaniskas,  ganz  wie  wir  ihn  aus 
seinen  Münzen  kennen.  In  dem  Gefäß,  in  einem  Behälter  von 
Bergkrystall,  die  Reliquien:  vier  Knochenfragmente  Inschriften 
nennen  die  wohlbekannte  Sekte  der  Sarvästivädinas ;  auch  der 
Name  des  Kaniska  selbst  erscheint  und  der  eines  seiner  Beamten 
Agisala  (Agesilaos?).  Die  Skulpturen  erweisen  sich  ihrem  Stil 
nach  als  der  auf  die  Blüte  der  Gandhärakunst  folgenden  Deka- 
denz angehörig;  so  trägt  der  Fund  dazu  bei,  die  ohnedies  be- 
denkliche Ansetzung  der  Entwicklung  und  Blüte  dieser  Kunst 
unter  Kaniska  hinfällig  zu  machen. 

Von    den    einzelnen   Untersuchungen,    die    diesem    Gebiet 
archäologischer  Arbeit  angehören,  sei  hervorgehoben  die  Vogels 
über  jene  rätselhafte,  auf  den  Reliefs    der  Gandhärakunst  den 
Buddha     häufig     begleitende     Gestalt     des     Donnerkeilträgers 
(vajrapäni),  in  der  Grünwedel  früher  Mära  den  Bösen  erkennei 
wollte^;  sodann  die  meisterhafte  Arbeit,  in  der  Foucher  Dar-^ 
Stellungen  des  großen  Wunders  von  Örävasti  durch   die   ganzej 
indisch-buddhistische  Kunstgeschichte  hindurch  verfolgt^;  weiter 
der  graziöse  Vortrag  desselben  Forschers  über  die  Darstellungei 
von  Jätakas   in   Barhut  ^   (neben   der  Einleitung   über    Seelen^ 

*  J.  Ph.  Vogel  Etudes  de  sculpture  bouddhiqtie  IV:   Le  Vajrapätfii 
grico-houddhique.     Bull,  de  l'^cole  fr.  d'Extr.-Orient  IX,  Nr.  8  (1909). 

*  A.  Foucher  Le  „grand  miracle"'  du  Buddha  ä  Qrdvasti.     Jour 
Asiatique  1909,  I,  6  S. 

*  A.  Foucher  Les  representations  de  „Jätakas"  sur  les  has-rcliefs 
.Bar/mf  (Bibliothfeque  de  vulgarisation  du  Muede  Guimet,  t.XXX),  Paris  1908J 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  605 

wanderungsglauben  und  Jätakas  fände  man  dort  gern  eine  kurze 
kunstgeschichtliche  Einführung  in  jene  Epoche  der  indischen 
Plastik);  die  mehrfach  auch  buddhistische  Altertümer  berührende 
Erörterung  V.  A.  Smiths  betreffend  Fa-hiens  Angaben  über 
Asoka^;  die  Mitteilungen  Blochs  über  Altertümer  von  Nälandä^; 
endlich  die  kurzen  Bemerkungen  desselben  über  Züge,  die  von 
bildlichen  Darstellungen  von  Buddhalegenden  in  deren  dichte- 
rische Gestaltung  eingedrungen  sind^. 

Neben  den  von  englischer  Seite  geleiteten  Arbeiten  Ln 
Vorderindien  und  Birmah  stehen  die  französischen  in  Hiuter- 
indien.  Können  diese  ihrer  Natur  nach  nicht  in  demselben 
Maße  wie  jene  die  zentralen  Fragen  der  buddhistischen  Archäo- 
logie treffen,  so  verdienen  sie  in  ihrer  musterhaften  Klarheit 
und  Sachlichkeit  —  ich  nenne  den  Namen  Fouchers  —  doch 
nicht  minder  gerühmt  und  mit  Dank  betrachtet  zu  werden. 
Ich  muß  mich  damit  begnügen,  hier  auf  die  Bulletins  der  Ecole 
fran9ai8e  hinzuweisen*,  die  uns  über  diese  Arbeiten  orientieren, 
und  etwa  noch  den  großen  Aufsatz  des  eben  genannten  Gelehrten 
über  den  Stüpa  von  Boro-Budur  (Java)  und  über  dessen  Bas- 
reliefs hervorzuheben  ". 

Ein  Überblick  über  die  Arbeiten  auf  dem  Gebiet  des 
indischen  Buddhismus  darf  die  archäologischen  Expeditionen 
nach  Zentralasien  nicht  unberührt  lassen,  deren  mit  höchster 
Bewunderung  zu  begrüßende  Erfolge  auch  das  indische  Gebiet 
so  vielseitig  und  tief  berüliren. 


*  "Vincent  A.  Smith,  Asoka  notes.  Indian  Antiquary  XXXVIII 
(1909),  151  ff. 

'  T.  Bloch,  Tfie  modern  name  of  Xälandä.  Joum.  R.  Äsiatic  Soc. 
1909,  440  ff. 

'  T.  Bloch  Einfluß  der  altbuddh.  Kunst  auf  die  Buddfialegende. 
ZDMG  62,  370  ff.  (1908). 

*  Bulletin  de  l'ficole  fran9aise  d'Extreme- Orient.  Bd  VE,  YUI,  IX. 
Hanoi  1907,  08,  t9. 

*  A.  Foucher  Notes  d'arche'ologie  bouddhique.  Bulletin  de  r£c.  fr. 
IX,  Iff. 


606  H.  Oldenberg 

Stein  hat  über  seine  Khotan-Expedition  von  1900/01,  von 
der  eine  vorläufige  Beschreibung  schon  vorlagt,  neuerdings 
einen  glänzend  ausgestatteten  ausführlichen  Bericht  erscheinen 
lassend  Und  schon  folgt  ein  kurzer  Bericht  über  eine  zweite 
an  Funden  nicht  weniger  reiche  Expedition  (1906 — 08)  des- 
selben unermüdlichen  Forschers,  die  ihn  wiederum  nach 
Khotan,  diesmal  außerdem  viel  weiter  nach  Osten,  nach  Lop- 
nor  und  zur  chinesischen  Mauer  geführt  hat^  Unterdessen 
hat  nach  der  ersten  deutschen  Expedition  unter  Grünwedel 
nach  Turfan  (Winter  1902/03),  veranlaßt  durch  den  Eindruck, 
den  deren  Erfolge  hervorriefen,  bekanntlich  eine  zweite,  be- 
ginnend 1904,  unter  v.  Le  Coq  stattgefunden,  bei  deren  Vor- 
bereitung Pischel  leitenden  Einfluß  übte  und  die  so  mit  dem 
schmerzlichen  Andenken  an  den  früh  Hingegangenen  unlösbar 
verknüpft  ist^;  sie  verschmolz  dann  mit  einer  dritten  wieder 
von  Grünwedel  geleiteten.  Eine  französische  Expedition  wurde 
von  Pelliot  geleitet;  seit  dieser  Bericht  geschrieben  ist,  ist  der 
glänzende  Erfolg  dieses  Unternehmens  allgemein  bekannt  ge- 
worden.^ Über  die  von  russischer  Seite  getane  Arbeit  bin 
ich  nicht  imstande,  Angaben  zu  machen*"'. 

^  M.  Aurel  Stein  Sand-buried  ruins  of  Khotan.  London  1903.  Vgl. 
mein  Referat:   Deutsche  Rundschau,  Dez.  1903. 

*  M.  Aurel  Stein  Ancient  Khotan.  Detailed  Report  on  archaeological 
explorations  in  Chinese  Turkestan.  2  Bde  (ein  Bd  Text,  ein  Bd  Tafeln). 
Oxford  1907.  Ich  weise  auch  hin  auf  0.  Franke  in  diesem  Archiv  XII 
(1909),  211  ff. 

^  M.  A.  St.  Explorations  in  Central -Asia  1906—08  (Geographica!^ 
Journal,  July  and  Sept.  1909). 

*  A.  V.  Le  Coq  A  short  account  of  the  origin,  journey,  and  results  of 
the  first  Royal  Prussian  (second  Gervian)  expedition  to  Turfan  in  Chinese\ 
Turkestan  (Journal  of  the  R.  Asiatic  Society  1909,  299  ff.). 

^  Eine  Zusammenstellung  der  Mitteilungen  Pelliot's  über  seine 
Expedition  gibt  S.  L«Svi  in  den  Annales  de  Geographie,  15.  Mai  1910. 

®  Das  Comitä  central  de  l'Association  Internat,  pour  Texplorationj 
de  l'Asie  Centrale  et  de  l'Extreme  Orient,  welches  seinen  Sitz  in  St.i 
Petersburg  hat,  veröffentlicht  Bulletins,  die  mir  nicht  vorgelegen! 
haben. 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  607 

Auf  den  geradezu  unabsehbaren  arcbäologiscben  und 
linguistischen^  Ertrag  aller  dieser  Expeditionen  kann  hier  nicht 
eingegangen  werden.  Es  sei  nur  auf  den  Fortschritt  hin- 
gewiesen, den  schon  jetzt  die  Untersuchung  der  von  Grün- 
wedel und  V.  Le  Coq  mitgebrachten  Handschriften  unserer 
Kenntnis  des  Sanskritkanons  des  Buddhismus  bringt.  Pischel, 
dem  wir  bekanntlich  schon  über  die  hier  einschlagenden  Er- 
gebnisse der  ersten  deutschen  Expedition  wichtige  Mitteilungen 
verdanken,  bearbeitete  nunmehr  die  auf  das  Dhammapada  — 
oder,  wie  wir  bei  diesem  nördlichen  Text  sagen  werden, 
Dharmapada  —  bezüglichen  Materialien*.  Im  Innern  einer 
ungeheuren  Buddhastatue,  die  in  einer  Höhle  zu  Sorcuq  stand, 
fanden  sich  35  mehr  oder  weniger  gut  erhaltene  Blätter,  die 
einem  Sanskrit -Dharmapada  —  genauer,  verschiedenen  Rezen- 
sionen dieses  Textes  —  angehören.  Verglichen  mit  der  tibetischen, 
als  Udänavarga  bezeichneten  Übersetzung  der  Dharmapada  ist 
trotz  mancher  Abweichungen,  wie  Pischel  festgestellt  hat,  „die 
Übereinstimmung  doch  so  groß,  daß  kein  Zweifel  daran  mög- 
lich ist,  daß  unsere  Sanskritrezension  die  Quelle  der  tibetischen 
Übersetzung  ist".  Pischel  bezeichnet  die  Rezensionen,  deren 
Zugehörigkeit  zum  Hinayäna  oder  Mahäyäna  nicht  —  oder 
noch  nicht  —  feststellbar  ist,  als  die  Turfan-Rezensionen,  denen 
gegenüber  der  Kharosthi-Text  des  Dharmapada  (Senart,  Le 
Manuscript  Kharosthi  du  Dhammapada,  Paris  1898) 
als  Khotan- Rezension  zu  benennen  wäre.  Wir  verfügen  also, 
wenn  wir  noch  die  Zitate  in  nordbuddhistischen  Texten  dazu- 
nehmen,  für  das  Dharmapada  über  außerordentlich  reichhaltige 
Materialien.  Nach  Pischels  Ermittelungen  hat  die  Päli- 
rezension   eine   andere  Anordnung   der  Kapitel   und   in   diesen 

*  Ich  hebe  hervor:  E.  Sieg  und  W.  Siegling  Tocharisch,  die  Sprache 
der  Indoskythen.  Vorläufige  Bemerkungen  über  eine  bisher  unbekannte 
indogermanische  Literatursprache  (Sitzungsberichte  der  K.  Preuß.  Akad. 
d.Wiss.  1908,  915 ff). 

*  ß.  Pischel  Die  Turfan-Hecensiotien  des  Dhammapada  (Sitzungs- 
berichte d.  K.  Pr.  Ak.  1908,  968  ff.). 


608  H.  Oldenberg 

durchweg  weniger  Verse  als  der  Turfanfund  und  die  tibetische 
Übersetzung,  deren  im  Päli-Dharmapada  nicht  wiederkehrende 
Elemente  übrigens  teilweise  an  anderen  Orten  des  Pälikanons 
sich  finden.  Als  Probe  teilt  Pischel  den  Yugavarga  (Yama- 
kavagga  des  Pälitextes)  mit;  eine  Gesamtausgabe  hatte  er 
vor  als  dritten  Band  der  „Ergebnisse  der  Kgl.  Pr.  Turfan- 
expeditionen"  darzubieten.  Die  Ausführung  des  Planes  ist  ihm 
und  der  Wissenschaft  versagt  worden. 

Auch  hier  werden  wir  zu  einem  schon  oben  berührten 
Problem  zurückgeführt.  Was  ergeben  diese  neuen  Entdeckungen 
über  die  alte  Streitfrage  nach  der  höheren  Authentizität  des 
„südlichen"  und  des  „nördlichen"  Kanon?  Sie  scheinen  mir 
die  Anschauung,  die  ich  vor  mehr  als  einem  Jahrzehnt  dar- 
gelegt habe  („Buddhistische  Studien".  Zeitschr.  der  D.  Morg. 
Gesellsch.  52  [1898],  643  ff.),  als  zutreffend  zu  bewähren.  Der 
Typus  der  Texte,  der  einst  den  Streitenden  der  südliche  hieß, 
kann  jetzt  nur  allenfalls  noch  der  Kürze  wegen  so  genannt 
werden.  Denn  immer  stärker  mehren  sich  die  aus  dem  Norden 
kommenden  Materialien,  welche  zeigen,  daß  Texte  von  wesent- 
lich diesem  Typus  auch  dort  der  Literatur,  mit  der  wir  früher 
als  mit  der  „nördlichen"  operierten  —  Werken  wie  dem  Laiita 
Vistara  u  dgl.  —  zugrunde  liegen.  Es  scheint  mir  bedenklieb, 
die  Einfachheit  jenes  nunmehr  im  Norden  wie  im  Süden  be- 
zeugten Typus  dem  Aussehen  jener  bunteren  literarischen 
Schichten  gegenüber  als  eine  nachträglich  hergestellte  zu  be- 
trachten. Uud  unter  den  Exemplaren  des  bezeichneten  Typus 
bewähren  sich,  so  weit  sich  bis  jetzt  übersehen  läßt,  meiner 
Überzeugung  nach  die  Pälitexte,  wie  sie  vor  allen  anderen  gut 
erhalten  sind,  so  auch  als  der  ursprünglichen  Gestalt  besonders 
nahe  kommend.  Werden  künftige  Entdeckungen  an  dieser 
Schätzung  etwas  ändern^?  — 

*  Wie  diese  Zeilen  niedergeschrieben  sind,  erhalte  ich  Kenntnis 
von  einer  neuen  wertvollen,  leider  sehr  kurzen  Schrift  von  Sylv.  Lt'vi, 
welche  eben  diese  Frage  berührt:  Les  Saintes  Ecriturcs  du  houddhisme. 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  609 

Auch  auf  epigraphischem  Gebiete  haben  die  hier  be- 
sprochenen drei  Jahre  vielerlei  gebracht,  wovon  einiges  Haupt- 
sächliche hier  verzeichnet  werden  soll.  An  die  Spitze  ist  die 
Inschrift  des  Reliquiengefäßes  von  Piprahwa  zu  stellen,  viel- 
leicht die  älteste  aller  bekannten  indischen  Inschriften.  Gegen 
Ende  1906  hatte  Barth  (Joum.  des  Savants,  Oct.  1906,  541  ff.) 
einen  kritischen  Überblick  über  die  versuchten  Deutungen  ge- 
geben und  war  zu  dem  Resultat  gelangt,  daß  zu  übersetzen 
ist:  „Ce  depöt  de  reliques  du  Saint  Buddha  des  (^äkyas  est 
(l'oeuvre  pieuse)  des  freres  de  Sukirti,  conjointement  avec  leurs 
soeurs,  avec  leurs  fils  et  leurs  femmes."  Fleet,  der  schon 
früher  an  der  Diskussion  über  die  Inschrift  hervorragenden 
Anteil  genommen  hatte,  kommt  jetzt  auf  sie  in  eingehender 
Erörterung  zurück.^  Er  übersetzt:  „This  is  a  deposit  of  relics 
of  the  brethren  of  Sukiti,  kinsmen  of  Buddha  the  Blessed 
One,  with  their  sisters,  with  their  children  and  wives."  Von 
der  entscheidenden  These  Fleets,  der  Erklärung  von  sakiyanam 
nicht  als  Name  des  Sakya- Stammes,  sondern  als  Äquivalent 
des  Gen.  pl.  von  skt.  svakiya  „own,  one's  own  man,  a  kins- 
man"  gelingt  es  mir  auch  jetzt  nicht,  mich  zu  überzeugen.  — 
Was    die   den    Buddhismus    spezieller    berührenden    Asoka-In- 

Comment  s'est  constitiie  le  Canon  sacre  (Bibliotheque  de  vulgarisation  du 
Musee  Guimet  t.  XXXI).  Paris  1909.  L.  sieht  in  der  Feststellung  eines 
Kanon  „un  fait  tardif  qui  s'est  yraisemblablement  produit  dans  les 
diverses  ecoles  vers  la  meme  periode,  un  peu  arant  l'ere  chretienne" 
(S.  19).  Im  Lauf  seiner  Darlegungen,  die  sich  in  der  Hauptsache  mehr 
den  nördlichen  als  den  südlichen  Texten  zuneigen,  stellt  er  für  die  Yer- 
gleichung  der  beiderseitigen  Exemplare  die  Regel  auf:  „il  ne  faut  com- 
parer  entre  eux  que  des  ouvrages  qui,  de  leur  propre  aveu,  sont  fonciere- 
ment  analogues".  Gegen  die  Berechtigung  der  letzteren  Forderung  habe 
ich  ebenso  wie  gegen  die  Skepsis,  die  dem  ersterwähnten  Satz  zugrunde 
liegt,  mancherlei  Bedenken.  Doch  muß  ich,  wie  schon  oben  angedeutet, 
meinen  Wunsch,  über  diese  Fragen  eingehender  meine  Überzeugungen  dar- 
zulegen —  ähnlich  wie  ich  es  früher  in  meinen  ,, Buddhistischen  Studien", 
Zschr.  der  D.  Morg.  Ges.  LH,  getan  habe  —  der  Zukunft  vorbehalten. 

^  J.  F.  Fleet  The  inscHption  on  the  Piprahwa  vase.  Journ.  R.  As. 
Soc.  1907,  105  ff. 

Archiv  f.  Beligionswissenscliaft  XIII  39 


Bio  H.  Oldenberg 

Schriften  anlangt,  so  wird  des  in  Sahasräm  und  an  andern 
Orten  gefundenen  Edikts,  bei  dem  eine  Zeitangabe  Buddhas 
Nirväna  betreffend  in  Frage  kommt,  unten  S.  611  gedacht 
werden.  Mit  der  an  die  buddhistische  Gemeinde  gerichteten 
Inschrift  von  Bhabra  (Bairat)  beschäftigen  sich  Hultzsch^  und 
Bloch  ^,  welcher  letztere  —  mir  nicht  überzeugend  —  in  ihr 
die  Verewigung  einer  frommen  Stiftung  des  Königs  zum  Besten 
der  Gemeinde  sieht:  der  Zweck  sei  gewesen,  daß  gewisse 
kanonische  Texte  regelmäßig  Mönchen  und  Laien  vorgelesen 
werden  sollten.  Von  der  Asokainschrift  an  Buddhas  Geburts- 
stätte, speziell  von  dem  Passus  derselben,  welcher  der  Dorf- 
gemeinde des  heiligen  Orts  Steuerfreiheit  verleiht,  handeln 
F.  W.  Thomas  und  Fleet.^  —  Über  die  neugefundene,  wohl 
von  Asoka  herrührende  Inschrift  von  Särnäth,  die  zuerst  Vogel 
veröffentlicht  hat  (Epigr.  Ind.  VIII,  166  ff.),  mit  Vorschriften 
für  die  Mönchs-  und  Nonnengemeinde  und  die  Laiengläubigen, 
handeln  A.  Venis  und  Boyer.^  —  Unter  den  Inschriften  der 
folgenden  Zeiten  gehe  ich  rasch  über  die  des  Löwenkapitells 
von  Mathurä  hinweg,  die  durch  die  Nennung  der  Schulen  der 
Sarvästivädin  und  Mähäsamghika  für  die  Geschichte  des  Buddhis- 
mus von  Interesse  sind;  wir  verdanken  eine  neue  Ausgabe 
dieser  Inschriften  Mr.  Thomas.^  —  Aus  der  Zeit  Kaniskas  ist 
neben  den  neuentdeckten  Inschriften  des  Reliquiengefäßes  im 
Stüpa  jenes  Königs  (s.  oben  S.  603)  die  Inschrift  von  Manikiala 
mit  der  Erwähnung  der  Errichtung  eines  Stüpa  für  mehrere 
Buddhas  (nanabhagavabudhathuvam)  hervorzuheben:  ui 
die  seit  lange  bekannte,  neuerdings  scharfsinnig  von  Senai 
behandelte    Inschrift   hat    sich    Lüders    in    einer    eingehendei 

>  E.  Hultzsch  Ä  note  on  the  Bhabra  Edict.  Journ.  R.  As.  Soc.  1909,  727  f. 

»  T.  Bloch  Zur  Asoka -Inschrift  von  Bairat.     ZDMG  63,  325  tf. 

»  F.  W.  T(hoinas),  Journ.  R.  As.  Soc.  1909,  466 f.;  J.  F.  Fleet 
ebendas.  760  f. 

*  A.  Venis,  Journ.  As.  Soc.  Bengal  1907  (Calc.  1908),  1  ff. ;  A.  M.  Boyer, 
Journ.  asiatique  1907  II,  119  ff. 

'"  F.  W.  Thomas  The  inscriptions  on  the  Mathura  Lion-capital. 
Epigr.  Indica  IX,  185  ff.  (1907). 


Der  indische  Buddhismus  (1907—1909)  611 

Untersuchung^  verdient  gemacht.  —  Wickremasinghes  Epi- 
graphia  Zeylanica^,  von  der  mehrere  neue  Hefte  erschienen 
sind,  hat  mir  nicht  vorgelegen.  — 

Von  chronologischen  Untersuchungen  ist  an  erster  Stelle 
die  Fleets  zu  nennen,  welche  sich  mit  dem  Datum  von 
Buddhas  Tode  beschäftigt.'  Gegenüber  der,  wie  es  scheint, 
künstlichen  Ansetzung  auf  den  Vollmond  des  Vaisäkha 
(März -April)  wird  die  Ansetzung  der  Sekte  der  Sarvästi- 
vädins  auf  den  achten  Tag  des  zunehmenden  Mondes  in 
Kärttika  (September- Oktober)  scharfsinnig  verteidigt.  Doch 
verlangen,  scheint  mir,  die  Daten,  die  in  dem  alten  Bericht 
über  Buddhas  letzte  Zeiten  (Mahäparinibbäna  Sutta)  enthalten 
sind,  eine  nicht  unbedenkliche  Zusammenpressung  der  in  Frage 
kommenden  Zeiträume,  um  jenen  Ansatz  als  eben  —  nur 
gerade  als  eben  —  denkbar  erscheinen  zu  lassen.  Fleet  faßt 
das  Ergebnis  seiner  Untersuchung  in  dem  Ansatz  von  Buddhas 
Tod  auf  den  13.  Oktober  483  vor  Chr.  zusammen.  Es  ist  gut 
dabei  nicht  zu  übersehen,  daß  die  Zahl  483  die  Voraussetzung 
in  sich  schließt,  daß  die  traditionellen  Angaben  über  die  Ent- 
fernung der  Könige  Candragupta  und  Asoka  von  Buddhas 
Tode  richtig  sind:  eine  Voraussetzung,  die  m.  E  selbst  dann 
gewagt  bliebe,  wenn  die  in  einem  inschriftlichen  Edikt 
Asokas  enthaltene  Zahl  256  mit  Recht  auf  die  Zahl  der  seit 
Buddhas  Tode  verflossenen  Jahre  gedeutet  würde.*  Der 
Charakter  der  Angaben  über  die  Königsherrschaften  des  ersten 
Jahrhunderts  nach  Buddhas  Tode  erweckt,  wie  ich  vor  langer 

*  H.  Lüders  The  Manikiala  inscription.  Joum.  R  As  Soc.  1909,  645  ff. 

*  Ärchaeol.  Survey  of  Ceylon.  Epigraphia  Zeylanica.  Ed.  and  transl. 
by  Don  Martino  de  Zilva  "Wickremasinghe.     London,  von  1904  an. 

*  The  day  on  ichich  Buddha  died  (Joum.  of  the  R.  Asiatic  Soc.  1909, 
1  ff.).  —  Nicht  erhebliche  Förderung  scheint  mir  zu  bringen  V.  Gopala. 
Aiyer  Tlie  Bäte  of  Buddha.  Ind.  Antiquary  XXX VII  (1908),  841  ff.  Er 
setzt  das  Nirväna  in  487  vor  Chr. 

*  Yon  neuerer  Literatur  über  diese  vieldiskutierte  Zahl  führe  ich 
an:  A.  Venis,  Joum.  and  Proc.  As.  Soc.  Bengal,  N.  S.  III,  4 f.  (1907; 
Calc.  1908).  Norman,  Joum.  R.  As.  Soc  1908,  13;  Fleet  ebendas.  495, 
811  ff.  und  in  seinem  Aufsatz   The  last  uords  of  Asoka,  ebendas.  1909, 

39* 


612  H.  Oldenberg 

Zeit    ausgeführt    habe^,     kein    selir     starkes     Vertrauen    zur 
Authentizität  der  betreffenden  Chronologie. 

Eine  zweite  sehr  förderliche  Untersuchung  Fleets^  be- 
schäftigt sich  mit  der  Zeitrechnung  der  Ceylonesen  vom  Tode 
Buddhas.  Es  ergibt  sich,  daß  aus  älterer  Zeit  dahin  gehörige 
Datierungen  bis  zur  Zeit  des  Asoka  und  Devänampiya  Tissa 
vorliegen.  Dann  bricht  die  Reihe  ab,  um  im  12.  Jahrhundert 
nach  Chr.  unter  Parakkamabähu  I  von  Ceylon  wieder  anzu- 
heben: wie  Fleet  wohl  mit  Wahrscheinlichkeit  vermutet,  im  Zu- 
sammenhang mit  der  unter  diesem  Herrscher  eingetretenen  Neu- 
belebung des  Buddhismus.  Der  nachweisbare  Fehler  von  un- 
gefähr 60  Jahren,  der  nach  Ausweis  der  griechischen  Nach- 
richten über  Candragupta,  den  Zeitgenossen  Alexanders  d.  Gr., 
in  dem  Anfangsdatum  der  Aera  (544  vor  Chr.  =  Buddhas  Tod, 
statt  etwa  480,  nach  Fleet  483)  enthalten  ist,  muß  nach  Fleet  auf 
Irrtümern  der  ceylonesischen  Ansätze  über  die  Zeit  zwischen 
Devänampiya  Tissa  und  Parakkamabähu  I  beruhen.  Die  hier 
erforderliche  Revision  —  ich  fürchte,  sie  wird  nur  sehr  bruch- 
stückweise möglich  sein  —  bereitet  Fleet  durch  eine  dankens- 
werte Tabelle  der  älteren  ceylonesischen  Königsdaten  nach 
den  Chroniken  Dipavamsa  und  Mahävamsa  vor.  Ich  möchte 
dazu  bemerken,  daß,  so  erwünscht  eine  Aufdeckung  der  die 
bezeichnete  Zeitperiode  betreffenden  Irrtümer  sein  wird,  doch 
die  weitere  Frage  offen  bliebe,  wie  es  um  die  Korrektheit 
der  Bemessung  der  Entfernungen  steht,  die  zwischen  Candra- 
gupta, Asoka,  Devänampiya  Tissa  auf  der  einen  Seite,  dem 
Tode   Buddhas   auf  der   anderen    Seite    liesfen.      Daß    ich  hier 


981  fiF.;  V.  A.  Smith  und  F.  W.  Thomas,  Indian  Antiquary,  1908,  19ff.; 
Hultzsch,  Journ.  R.  As.  Soc.  1909,  728 flF.;  denselben  und  Fleet,  ebend. 
1910, 142  fiF.,  146  ff. ;  V.  Gopala  Aiyer,  Ind.  Antiquary  1908,  345  ff.  —  Über  die 
Spuren  einer,  -wie  es  scheint,  in  Ceylon  auftauchenden  Ära,  die  auf  der 
Datierung  von  Buddhas  Tod  auf  483  v.  Chr.  beruht,  weiß  ich  bis  jetzt  nur  auf 
die  Mitteilung  von  A.  B.  Keith,  Journ.  R.  As.  Soc.  1909,  176  zu  verweisen. 

'■  Zeitschr.  der  Deutschen  Morg.  Ges.  34,  751  ff. 

*  Tfte  Origin  of  the  Buddhavarsha ,  the  Ceylonese  reckoning  frotn 
the  death  of  Buddha  (Journ.  of  the  R.  Asiatic  Soc.  1909,  823 ff.). 


Der  indische  BuddhismuB  (1907—1909)  613 

den  Glauben  Fleets  an  die  Überlieferung  nicht  teilen  kann,  ist 
oben  S.  611  angedeutet. 

Von  Arbeiten  zur  Kirchengeschichte  des  Buddhismus  yer- 
zeichne  ich  —  neben  manchem  früher  Erwähnten,  das,  wie 
leicht  ersichtlich,  auch  dies  Gebiet  berührt  —  zunächst  Fleets 
Artikel,  der  dessen  Untersuch ang  über  die  körperlichen  Re- 
liquien Buddhas  zu  Ende  führt ^,  und  Puinis  Aufsatz*,  in 
welchem  chinesische  Versionen  des  Berichts  über  die  Verteilung 
jener  Reliquien  behandelt  werden.  Mit  den  beiden  ersten 
Konzilien  beschäftigt  sich  0.  Franke.^  Die  Kapitel  CuUavagga 
XI.  XII,  auf  denen  das  Wissen  von  diesen  Konzilien  zu  be- 
ruhen schien,  sind  nach  ihm  nur  Luftblasen  (S.  79).  Was 
man  seit  den  Tagen  des  Dipavamsa  für  Berichte  über  Konzilien 
hielt,  sind  in  Wahrheit  „more  or  less  readings  in  'good  form' 
for  bhikkhus  in  all  events  and  circumstances"  (S.  44),  erfunden, 
um  die  Etikettenfragen,  die  sich  beim  Zusammentreffen  älterer 
und  jüngerer  Brüder  ergaben,  zu  illustrieren.  „It  is  only  when 
the  reason  for  it  becomes  clear,  that  one  can  afford  to  enjoy 
the  ingenuity  of  the  construction.  The  enjoyment  is  caused, 
be  it  Said,  more  by  the  humour  of  the  procedure  than  by 
historical  or  aesthetic  reasons"  (S.  37).  Am  ersten  Konzil  ist, 
scheint  mir,  allerdings  nicht  viel  zu  halten;  daß  auch  das  zweite 
eine  Luftblase  sei,  davon  wird  Fr.,  wie  ich  glaube,  un- 
befangene Leser  des  betreffenden  Berichts  schwerlich  über- 
zeugen. Verwandt  mit  den  hier  besprochenen  Unter- 
suchungen dieses  Forschers,  sind  die,  welche  derselbe  in 
seinem    Aufsatz    über  die   großen   Fäli- Chroniken  niedergelegt 

'  J.  F.  Fleet  The  tradition  about  the  corporeal  relics  of  Buddha. 
JRAS  1907,  341  ff. 

*  C.  Puini  Le  reliquie  del  Buddha.  Giorn  della  Soc.  As.  Italiana 
Tol.  XXI  (1908),  59  ff. 

'  R.  Otto  Franke  TJie  Buddhist  Councils  at  Bäjagaha  and  Vesäli 
OS  alleged  in  CuUavagga  XI.  XII.  Journal  of  the  Päli  Text  Society, 
1908,  Iff.  —  Leider  hat  mir  nicht  vorgelegen  C.  Puini,  II  Jlahäparinir- 
vätia-sütra  nella  traduzioiie  cinese  di  Pe-fa-tsu,  e  il  primo  Concilio  di 
Bäjagrha  (Riv.  degli  Studj  Orientali,  vol.  I,  Fase.  1). 


i 


614  H.  Oldenberg     Der  indische  Buddhismus  (1907—1909) 

hat.^  Wir  geben  ihr  Ergebnis  am  kürzesten  mit  den  Worten 
wieder,  mit  denen  Fr.  selbst  dies  in  seinem  Aufsatz  über  die 
Konzilien  (S  1)  tut.  Es  handelt  sich  um  die  Widerlegung  davon, 
„that  the  authors  of  the  Dipavamsa,  Mahävamsa,  and  Samanta- 
päsädikä  had  any  chronicles  contained  in  the  old  Sinhalese 
Commentary  on  the  Canon  ...  in  their  possession".  Vielmehr 
schrieben  Mahävamsa  und  Samantapäsädikä  den  Dipavamsa  aus, 
und  „in  the  absence  of  any  sources  (doch  wird  WZ  KM  XXI,  350 
immerhin  die  Frage  offen  gelassen,  ob  der  Dipavamsa  eine  Quelle 
hinter  sich  hat),  the  last-named  work  must  be  considered  as 
standing  unsupported  on  its  own  tottering  feet^'.  Mir  scheint 
diese  These  zutreffend  von  Geiger  widerlegt.^  — 

In  einem  interessanten  Aufsatz^  sucht  Kern,  auf  Grund 
der  Bezeichnung  vaitulyasütra ,  die  anstatt  vaipidyasütra  dem 
Saddharmapundarika  in  Handschriftenfragmenten  beigelegt  wird, 
welche  aus  Kashgar  stammen,  eine  Brücke  einerseits  zwischen 
den  vetulla-,  vetulyaJca -Ketzern,  der  ceylonesischen  Chroniken 
sowie  des  Kathävatthu-Kommentars  und  anderseits  dem  Mahäyäna 
herzustellen.  Die  scharfsinnige  Kombination  wird  meines  Er- 
achtens  noch  weiterer  Prüfung  bedürfen.  — 

Neue  Erscheinungen  betreffend  die  etwa  in  Frage  kommenden 
Zusammenhänge  zwischen  dem  Buddhismus  und  der  altchrist- 
lichen Literatur  habe  ich  an  anderem  Orte  besprochen.* 

^  R.  Otto  Franke  Dipavamsa  und  Mahävamsa.  Wiener  Zschr.  f. 
d.  Kunde  des  Morgenlandes  XXI  (1907),  203 ff.,  317 ff. 

*  Wilh.  Geiger.  Noch  einmal  Dipavamsa  und  Mahävamsa.  ZDMG 
63,  540  ff. 

'  H.  Kern  Vaitulya,  Vetulla,  VetulyaJca.  Verslagen  en  Mededee- 
lingen  der  K.  Akad.  van  Wetenschappen,  Afd.  Letterk.  4*  R.,  D.  VIII, 
312  ff.  Amsterdam  1907.  Vgl.  dazu  L.  de  la  Vall<5e  Pouesin,  JRAS  1907, 
43 2 ff.;  Windisch  Abh.  der  Sachs.  G.  d.  W.,  phil.  hist.  Kl.  XXVIl,  470 ff. 

*  van  den  ßergh  van  Eysinga  Indische  Einflüsse  auf  Evangelische 
Erzählungen.  Mit  einem  Nachwort  von  Prof.  Dr.  E,  Kuhn.  2.  vermehrte 
Auflage.  Göttingen  1909.  —  A.  J.  Edmunds,  Buddhist  and  Christian 
Gospels.  Now  first  compared  frotn  the  Originals.  4"'  Edition  (mit  Bei- 
trägen von  Prof.  M,  Auesaki).  2  Bde.  Philadelphia  1908  —  1909.  — 
Vgl.  H.  0.,  Theol.  Literaturzeitung,  1909,  Sp.  626 ff. 


6  Der  Jainisnins 

Ton  H.  Jacobi  in  Bonn 

In  dem  letzten  Jalirzehnt  sind  die  Bekenner  dieser  Religion 
aus  ihrer  bisherigen  Ruhe  herausgetreten.  Die  Jainas,  kon- 
servativ aufs  äußerste,  soweit  ihre  religiösen  Satzungen  in  Be- 
tracht kommen,  sind  trotz  alledem  nicht  unberührt  geblieben  von 
dem  Einfluß,  den  westliche  Ideen  und  Einrichtungen  in  immer 
wachsendem  Maße  auf  die  Gestaltung  der  Gesellschaft  in  Indien 
ausüben.  Die  früher  fast  isolierten  Gemeinden  sind  in  engereu 
Verkehr  und  Ideenaustausch  getreten,  und  in  einzelnen  Ge- 
meinden übernehmen  hervorragende  Laien  sowie  lokale  Vereine 
die  Leitung  der  fortschrittlichen  Bewegung.  Die  Jain  Swetambar 
onference,  deren  Organ  die  Monatsschrift  'Herald'  (in  Guzerati) 
ist,  berät  in  jährlichen  Wanderversammlungen  seit  1902  die 
gemeinsamen  Interessen  der  Jainas  und  disponiert  über  Fonds 
zur  Unterstützung  von  Tempeln  und  Schulen,  von  Armen  und 
Lebewesen'  (Tierasyle),  sowie  von  literarischen  Unternehmungen 
(ein  detailliertes  Verzeichnis,  granihäiali ,  aller  bis  jetzt  be- 
kannten Jainawerke  bzw.  Handschriften  derselben  in  öffentlichen 
Bibliotheken  und  lokalen  Sammlungen,  bhändärs).  Die  Ver- 
einigung der  akademisch  Gebildeten,  the  Jain  Graduates  Asso- 
ciation, vertritt  besondere  Interessen  und  hat  z.  B.  die  Berück- 
sichtigung der  Jaina-Literatur  im  Universitätsstudium  erreicht. 
Mancherorts  haben  die  Jainas  eigene  Schulen,  in  Benares  ein 
besonderes  College  (Yashovijaya  Jain  Pathashala),  das  unter  der 
Leitung  des  gelehrten  und  eifrigen  Muniraj  Dharmavijaya  Zög- 
linge nach  einheimischen  Methoden  und  Zielen  ausbildet  und 
auch  Texte  herausgibt  in  einer  eigenen  Serie,  neuerdings  auch  in 
einer  Monatsschrift,  grantJiatnälä.  Überhaupt  ist  die  publi- 
zistische Tätigkeit  der  Jainas  eine  ungemein  rege.  An  manchen 
Orten  geben  wohlhabende  Patrone  die  Mittel  her  zur  Ver- 
öffentlichung von  Texten,  meist  mit  Guzerati  Übersetzung,  so- 
wohl einzelner  Werke  als  auch  kleinerer  Serien  (am  umfang- 


616  H,  Jacobi 

reichsten  die  Räyachandra  Sästramälä).  Auch  Gesellschaften 
haben  sich  zu  dem  gleichen  Zwecke  gebildet,  von  denen 
besonders  die  Jain  Dharma  Prasäraka  Sabhä  in  Bhavnagar 
und  der  Jain  Dharma  Vidyä  Prasäraka  Yarga  in  Pälitäna 
wegen  Publikation  einer  größeren  Reihe  von  wichtigen  und 
interessanten  Sanskrit-  und  Präkrit- Werken  hervorgehoben  zu 
werden  verdienen.  Endlich  sei  noch  erwähnt,  daß  in  Ahmeda- 
bad  ein  Unternehmen  hervorgetreten  ist  zur  Yerö£Fentlichung  der 
kanonischen  Schriften  in  zuverlässigen  Ausgaben,  soweit  solche 
bisher  noch  nicht  erschienen  sind.  Einige  dieser  Texte  haben 
europäische  Gelehrte  zur  Bearbeitung  übernommen,  und  dem 
Berichterstatter  ist  die  Werbung  von  weiteren  Herausgebern 
übertragen. 

Übergehend  zu  den  eigentlich  gelehrten  Arbeiten  auf  dem 
Gebiete  des  Jainismus  glaubt  der  Berichterstatter  einerseits  auf 
die  Nennung  von  reinen  Textausgaben  im  allgemeinen  ver- 
zichten zu  können  als  außerhalb  des  Interessenkreises  des 
Archivs  für  Religionswissenschaft  liegend,  anderseits  auch  die 
in  Guzerati  und  Hindi  geschriebenen  Aufsätze  jainistischer 
Zeitschriften  beiseite  lassen  zu  dürfen. 

Eine  umfangreiche  Bibliographie  der  Jainas  hat  A.  Guerinot 
veröffentlicht:  Essai  de  Bibliographie  Jaina.  Paris,  Ernest 
Leroux  1906.  Nach  einer  orientierenden  Einleitung  über  den 
Jainismus,  werden  in  12  Abteilungen  nicht  nur  alle  auf  den- 
selben bezüglichen  selbständigen  Werke  und  Abhandlungen, 
sondern  auch  alle  irgendwie  interessanten  Ausführungen  über 
einzelne  Punkte  der  Lehre  und  Geschichte  desselben  in 
anderen  Werken,  überall  mit  knapper  Inhaltsangabe,  in 
852  Nummern  behandelt.  Ergänzt  wird  dieses  große  Werk 
durch  das  von  demselben  Verfasser  in  demselben  Verlage  1908 
erschienene  Repertoire  d'Epigraphie  Jaina,  precede  d'une 
esquisse  de  l'histoire  du  Jainisme  d'apres  les  inscriptions,  das  mit 
derselben  Gründlichkeit  bearbeitet  noch  ein  besonderes  Interesse 
durch  die  ausführliche  historische  Einleitung  beanspruchen  darf. 


Der  JaimsmTis  617 

Eine  Übersicht  des  Glaubenssystems  der  Jaina  gibt  eine 
vom  Berichterstatter  übersetzte  und  erläuterte  Schrift  des  alten 
und  berühmten  Kirchenlehrers  Umäsväti  (Eine  Jaina-Dogmatik 
Umäsväti's  Tattvärthädhigamasütra,  übersetzt  und  erläutert  von 
H.  Jacobi  ZDMG  LX).  Diese  Dogmatik,  die  von  den  beiden  Ab- 
teilungen der  Jainas,  den  'Svetämbaras  und  Digambaras,  an- 
erkannt wird,  umfaßt  die  Psychologie,  Kosmographie,  Meta- 
physik und  Ethik  im  engsten  Anschluß  an  den  Kanon.  Von 
einem  anderen  Kirchenlehrer,  Haribhadra  (9.  Jhd.),  besitzen  wir 
eine  Behandlung  der  Jaina  Ethik,  den  Dharmabindu.  Dr.  Luigi 
Suali  hat  im  Giomale  della  Societä  Asiatica  Italiana  1908 
eine  Bearbeitung  dieses  Werkes  begonnen  (La  Legge  jainica), 
von  welcher  bisher  der  die  Laienpflichten  behandelnde  Teil 
erschienen  ist.^  Verwandten  Inhalts  ist  das  Yogasästra  des 
Polyhistors  Hemacandra  (12.  Jhd.),  der  auch  einen  Kommentar 
dazu  geschrieben  hat;  mit  diesem  beschäftigt  sich  Belloni- 
Füippi  (La  Yogasästra  vrtti,  GSAJ  1908). 

Li  einem  Vortrage  auf  dem  Oxforder  Internationalen  Kongreß 
für  Religionswissenschaft  „the  Metaphysics  and  Ethics  of  the 
Jaines"  hat  der  Berichterstatter  das  Verhältnis  der  Jaina-Philo- 
sophie  zu  der  Lehre  der  Upanisads,  dem  Buddhismus  und 
Sänkhya-Yoga  näher  zu  bestimmen  versucht.  Satis  Chandra 
Vidyabhusana  hat  in  seiner  Doktorschrift:  History  of  the 
Mediaeval  school  of  Logic,  Calcutta  1909,  die  Entwicklung  der 
Logik  bei  den  Jainas  behandelt,  nachdem  er  vorher  schon  das 
älteste  Kompendium  der  Jaina-Logik  herausgegeben  und  über- 
setzt hatt«.  (Nyäyävatära,  the  earliest  Jaina  work  on  pure 
Logic  by  Siddha  Sena  Diväkara,  Calcutta  1908). 


1)  Hier  möge  noch  auf  eine  Reihe  philosophischer  Abhandlungen 
desselben  ausgezeichneten  Forschers  hingewiesen  werden.  Contributi 
alla  conoscenza  della  Logica  e  della  Metafisica  Indiane  GS  AI  1906,  die 
eine  Übersetzung  des  jainistischen  "Werkes  Saddarsanasamuccaya  mit 
Kommentar  enthalten.  Die  bisher  erschienenen  Teile  behandeln  Kyäya 
und  Vaisesika. 


Qlß  H.  Jacobi     Der  Jainismus 

Von  Kanonisclien  Schriften  liegt  die  englische  Übersetzung 
des  8.  und  9.  Angas  vor  (L.  D.  Barnett,  Antagada-dasäo  and 
Anuttarovaväiya-dasäo.  From  the  Präkrit,  Roy.  As.  Soc. 
Publications — Orient.  Transl.  Fund  London  1907.)  Über  die  im 
6.  Anga  enthaltenen  Erzählungen  hat  gehandelt  Dr.  Wilhelm 
Hüttemann.  Die  Jnäta- Erzählungen  im  sechsten  Anga  des 
Kanons  der  Jinisten.  Straßburg  1907.  Damit  sind  wir  zu  dem 
Gebiete  gelangt,  das  stets  ein  besonderes  Interesse  für  die 
Forschung  gehabt  hat,  die  jainistische  Erzählungsliteratur. 
Dr.  Jarl  Charpentier  behandelt  in  seiner  Dissertation  solche 
Legenden,  von  denen  sich  Reflexe  bei  den  Buddhisten  und  an- 
derswo finden  (Studien  zur  indischen  Erzählungsliteratur  l.Pacce- 
kabuddhageschichten,  Uppsala  Universitets  Arsskrift  1908, 
ferner  ZDMGr  1908.)  Johannes  Hertel  hat  als  ersten  Band  der 
^Bibliothek  morgenländischer  Erzähler'  eine  Übersetzung  von 
Märchen  und  Legenden  aus  dem  Sanskrit  herausgegeben:  Aus- 
gewählte Erzählungen  aus  Hemacandras  Parisistaparvan,  Leip- 
zig 1908,  und  J.  J.  Meyer  bietet  unter  dem  Titel  'Hindu  Tales' 
an  english  translation  of  Jacobi's  ausgewählte  Erzählungen  in 
Mähäräshtri,  London  1909,  reiches  Material  zu  unserer  Kenntnis  der 
jainistischenErzählungsliteratur.Bildet  in  allen  diesenErzähluDgen 
der  Jainismus  das  Milieu,  so  ist  er  Zweck  und  Ziel  in  Siddhar§i's 
Upamitibhavaprapancä  Kathä  (906  n.  Chr.),  die  ein  allegorisches 
Weltbild  von  jainistischem  Standpunkt  bietet.  Eine  italienische 
Übersetzung  davon  hat  Ambrogio  Ballini  begonnen  (GASJ  1904 
5.  7.)  und  über  das  Werk  in  Contributo  allo  studio  della  Up. 
Kathä  di  Siddharsi.  R.  A.  d.  L.  1907  gehandelt.  Derselbe  Ver- 
fasser gibt  in  mehreren  Artikeln  der  R.  d.  St.  Or.  1907.  8  eine 
detaillierte  Inhaltsangabe  von  Vardhamäna  Süri's  Väsupüjya 
caritra  im  Anschluß  an  seine  Ausgabe  dieses  Werkes.  Der 
12.  Tirthakara  ist  ein  reines  Gebilde  der  Sage,  dessen  Vor- 
geschichte und  Schematisches  Lebensbild  den  Rahmen  bieten 
für  erbauliche  und  belehrende  Geschichten. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 

Diese  Terschiedenartigen  Nachrichten  und  Notizen,  die  keinerlei 
Vollständigkeit  erstreben  und  durch  den  Zufall  hier  aneinander  gereiht 
sind,  sollen  den  Versuch  machen,  den  Lesern  hier  und  dort  einen  nütz- 
lichen Hinweis  auf  mancherlei  Entlegenes,  früher  Übersehenes  und  be- 
sonders neu  Entdecktes  zu  vermitteln.  Ein  Austausch  nützlicher  Winke 
und  Nachweise  und  auch  anregender  Fragen  würde  sich  zwischen  den 
verschiedenen  religionsgeschichtlichen  Forschem  hier  u.  E.  entwickeln 
können,  wenn  viele  Leser  ihre  tätige  Teilnahme  dieser  Abteilung 
widmen  würden.  Sog  Rezensionen  soll  diese  Abteilung  ebensowenig 
enthalten  als  sie  „Berichte"  enthalten  soll. 


Lantes  uud  leises  Beten 

Über  die  Praxis  des  lauten  und  leisen  Betens  hat  aus  großer 
Belesenheit  heraus  im  IX.  Bande  dieser  Zeitschrift  (1906,  SS.  185 
bis  200)  Siegfried  Sudhaus  ein  Füllhorn  lehrreichen  Materiales  aus- 
geschüttet. Wer  dem  Herrn  Verfasser  für  diesen  seinen  Beitrag 
Dank  gewußt,  dem  ist  vielleicht  auch  mit  der  folgenden  ergänzenden 
Mitteilung  gedient,  die  ich  freilich  fuglich  hätte  etwas  fiüher  dar- 
bieten können. 

Das  im  Archiv  für  Religionswissenschaft  behandelte  Thema 
findet  sich  erörtert  in  einem  iim  1300  in  Japan  geschriebenen,  bis- 
lang noch  in  keine  andere  Sprache  übersetzten  Werke,  das  seitdem 
bis  auf  den  heutigen  Tag  bei  den  Anhängern  der  Jödo- Sekten,  die 
die  weit  überwiegende  Zahl  der  Buddhisten  in  Japan  bilden,  in 
höchstem,  man  darf  sagen  kanonischem  Ansehen  steht.  Das  Werk 
trägt  den  Titel  Sai-yö-shö  d.  i.  das  Wichtigste  der  Lehre  von  dem 
Paradies  im  Westen.  Sein  Verfasser  ist  ein  eingeborener  Priester, 
Köa  Shönin,  der  sich  hier  in  20  Dialogen  über  die  Doktrin  des 
Reinen  Landes,  d.  i.  über  den,  geradezu  frappante  Ähnlichkeiten 
und  tibereinstimmungen  mit  dem  paulini sehen  Evangelium  dar- 
bietenden. Sola  Fide  -  Buddhismus  und  die  Wirksamkeit  der  An- 
rufung des  Namens  Amidas  (Amitäbha  Buddha),  des  sogenannten 
Nembutsu,  des  Aussprechens  des  formelhaften  Gebetes  Namu  Amida 
Butsu,  ausläßt.  Ein  ganzer  Dialog  des  Sai-j5-shö  beschäftigt  sich 
mit  dem  vorliegenden  Probleme.  Das  Wesentliche  seines  Inhalts 
mag  hier  in  Übersetzung  stehen. 

Ein  Gläubiger  fragt:  „Ist  es  wohl  gleichgut,  ob  man  das 
Namu  Amida  Butsu  bloß  im  Herzen  denkt  oder  ob  man  es  laut 
ausspricht?  oder  aber  ist  die  eine  dieser  beiden  Weisen  als  besser 


620  Mitteilungen  und  Hinweise 

anzusehen  als  die  andere?"  Thm  wird  als  Antwort:  „Zendö  Daishi 
(d.  i.  der  chinesische  Patriarch  Shän-täo,  die  Hauptautorität  der 
Buddhisten  des  „Reinen  Landes";  er  lebte  um  600 — 650)  hat, 
indem  er  erklärte  »zehn  Anrufungen,  eine  einzelne  Anrufung  oder 
ein  einmaliges  Gedenken«  eine  jede  gleicherweise  gelten  lassen. 
Und  so  läßt  sich  auch  von  keiner  von  beiden  sagen,  sie  sei  un- 
genügend uns  zum  Eingang  zum  ewigen  Leben  zu  verhelfen.  Indes, 
wenn  es  denn  einerlei  ist,  für  welche  von  ihnen  man  sich  ent- 
scheiden will,  so  ist  es  doch  besser,  man  ruft  mit  gesprochenen 
Worten  an.  Was  nun  aber  diese  letztere  Übung  anlangt,  so  spricht 
man  von  einem  stillen  Nembutsu,  worunter  ein  solches  Aussprechen 
zu  verstehen  ist,  das  nur  dem  eigenen  Ohr  vernehmbar  ist.  Das 
als  lautes  Nembutsu  bezeichnete  Aussprechen  wird  hiernach  ein 
solches  sein,  das  auch  für  die  Ohren  anderer  hörbar  ist.  Es  wird 
nun  aber  gelehrt,  daß  in  diesem  nicht  weniger  als  zehn  verschiedene 
Segenswirkungen  beschlossen  sind.  Vor  allem  die,  daß  es  der  Pein 
der  drei  schlimmen  Wege  ein  Ende  setzt.  Eine  jede  dieser  drei 
Existenzformen,  das  Leben  als  Höllenbewohner  wie  als  Preta  wie 
auch  als  Tier  ist  ja  über  alle  Maßen  leidvoll.  Man  darf  sich  das 
Dasein  in  der  einen  oder  anderen  dieser  drei  Regionen  nur  einmal 
in  Ruhe  vergegenwärtigen,  die  bloße  Vorstellung  davon  schon  muß 
einem  körperlichen  Schmerz  verursachen.  Und  wie  erst  sollte  man 
sich  bei  dem  Gedanken  an  sie  der  Trauer  erwehren  können,  da 
man  sich  doch  sagen  muß:  Welches  von  den  Wesen,  die  dort 
hausen,  ist  nicht  am  Ende  gar  mein  eigener  Vater  oder  meine 
Mutter?  Daß  sie  jetzt  also  der  Pein  verhaftet  sind,  wofür  ist's 
die  Vergeltung?  Am  Ende  gar  nur  dafür,  daß  sie  mit  solcher 
Liebe  an  mir,  ihrem  Kinde,  gehaftet?  Bei  solchen  Gedanken  faßt 
einen  erst  recht  tiefster  Schmerz.  Man  möchte  ihrer  Seele  so  gerne, 
und  wär's  auch  nur  für  eine  Weile,  Erholung  schaffen,  ihre  Qualen 
stillend.  Nur  daß  man  leider  nicht  imstande  ist,  solches  zu  tun. 
Aber  siehe  da,  vermittelst  der  Stimme  unseres  Nembutsu -Anrufens 
vermögen  wir's,  ihre  Pein  zu  enden.  Des  freuen  wir  uns  über  alle 
Maßen.  —  Eine  andere  Segenswirkung  ist  die,  daß  das  laute  An- 
rufen den  Sinn  vor  Zerstreuung  bewahrt.  Spricht  man  nämlich 
das  Nembutsu  mit  lauter  Stimme,  so  werden  die  irrenden  Gedanken 
zum  Aufhören  gebracht  und  die  Seele  ist  der  Verwirrung  entrückt. 
Darum  hat  Junshiki  Höshi  in  seiner  Schrift  über  die  rechte  Weise 
des  Nembutsu  gesagt,  man  solle  hurtig  und  mit  lauter  Stimme 
rufen,  indem  man  die  einzelnen  Worte  (na-mu-A-mi-da-butsu) 
deutlich  ausspreche.  —  Da  ist  weiter  besonders  köstlich  die  Segens- 
wirkung, welche  darin  besteht,  daß  alle  Buddhas  sich  darüber 
freuen.  Verlangen  ja  doch  alle  die  zehntausend  Buddhas  samt  und 
sonders  nach  nichts  so  sehr  wie  eben  nach  Nembutsu.    Nun  denn, 


Mitteilungen  und  Hinweise  621 

so  werden  sie  sich  doch  um  so  mehr  freuen,  wenn  sie  hören,  wie 
jemand  es  mit  lauter  Stimme  betet.  Und  so  oft  man  darum  an- 
ruft, ist  man  voll  Zuversicht  in  dem  Gedanken  daran,  was  Freude 
doch  nun  wieder  bei  ihnen  sein  werde.  —  Ein  Priester  (es  war 
Eikwan  Rishi)  hat  weiter  gesagt:  „Jemand,  der  zuhört  (wenn 
andere  zu  Buddha  beten),  dessen  Vergebungen  werden  ausgewischt 
werden."  Auch  das  ist  doch  wohl  ein  außerordentlicher  Segen. 
Es  sind  deren  nur  allzuviele,  die  so  tief  in  der  Sünde  stecken,  daß 
man  gar  nicht  anders  kann  als  Erbarmen  mit  ihnen  haben,  den 
Armen,  die  immerfort  in  die  schlimmen  Wege  (d.  i.  Hölle,  Preta- 
und  Tierwelt)  gebannt  bleiben,  einem  nichtausgeheckten  Ei  ver- 
gleichbar, das  unberührt  im  Neste  verbleibt.  Sie  selber  aber  lassen 
sich's  nicht  einfallen,  auch  nur  einmal  das  Wort  „künftiges  Leben" 
in  den  Mund  zu  nehmen.  Wie  könnte  es  da  anders  sein,  als  daß 
ihr  Sündenkarma  sich  auswächst?  Lassen  wir  sie's  denn  wenigstens 
hören,  wenn  wir  unser  Namu  Amida  Butsu  sprechen!  Ihre  Sünde 
wird  dann  doch  wenigstens  in  etwas  ausgelöscht.  Und  ist  das 
nicht  eine  große  Sache?  —  Ein  viel  größerer  Gewinn  noch  freilich 
ist  es,  daß  eben  dadurch  auch  unsere  eigenen  Verfehlungen  be- 
seitigt werden.  Engo  Hoshi  sagt  in  seinem  Kommentar:  „Horcht 
jemand  nur  recht  auf,  wenn  der  wunderbare  Klang  an  seine 
Herzenstüre  klopft,  alsbald  wird  er  auch  der  Schmutzumstrickung 
ledig  sein  und  frei  wird  sich  sein  Herz,  der  Bande  los,  ergehen 
können."  Damit  meint  er,  daß,  wenn  die  Laute,  mit  denen  wir 
selbst  vernehmlich  beten,  an  unser  eigenes  Ohr  tönen,  wir  sie  ver- 
nehmen zu  eigenem  großen  Gewinn,  indem  unser  Inneres  davon 
getroffen  und  bewegt  werde;  alsbald  wir  sie  vernehmen,  sei  auch 
schon  unser  Sündenkarma  hinweggeräumt,  und  freier  werde  uns 
die  Brust,  und  leichter  werde  es  ims  ums  Herz,  indem  alle  die 
falschen  Gedanken,  in  die  wir  verstrickt  gewesen,  hinweggefegt 
würden.  So  ein  Großes  ist  es  um  das  Anrufen  des  Buddhanamens. 
Betet  jemand  mit  vernehmlicher  Stimme  und  hört  also  sich  selber 
beten,  so  schinilzt  seine  Sünde  vor  beidem  zugleich  dahin,  sowohl 
vor  seinem  Anrufen  als  imter  seinem  Hören  der  Stimme  seines 
eigenen  Betens.  Und  so  wird,  dieweil  er  mit  einer  Stimme  zu 
dem  Buddha  ruft,  zwiefach  die  Sünde  von  ihm  abgetan.  Was 
unter  dem  Himmel  könnte  wirkungskräftiger  sein?  —  Da  es  solcher 
Segenswirkungen  aber  mehr  sind,  die  ich  dir  nicht  alle  so  einzeln 
aufzählen  will,  so  soll  man  geflissentlich  mit  vernehmbarer  Stimme 
sein  Xamu  Amida  Butsu  erschallen  lassen,  nur  aber  immer  dabei  auch 
wohl  darauf  bedacht  sein,  daß  man  nicht  zum  Gespötte  der  Menschen 
wird,  durch  die  Art  seines  Betens  nicht  Kritik  herausfordert." 
Heidelberg  Hans  Haas 


i 


622  Mitteilungen  und  Hinweise 

Eugastrimytlien 

Bei  antiken  Schriftstellern  begegnet  uns  nicht  selten  die  Vor- 
stellung, daß  Seher  die  Gabe  der  Weissagung  durch  einen  Geist 
erhalten,  der  in  sie  eingeht  und  aus  ihnen  heraus  Zukünftiges  ver- 
kündet^. Ebenso  hören  wir  aber  auch  von  Lügenjjropheten ,  die 
sich  jenen  Glauben  zu  nutze  machten,  als  Bauchredner  durch  allerlei 
Kunststücke  das  leichtgläubige  Volk  hintergingen  und  sich  dadurch 
einen  lohnenden  Erwerb  sicherten;  man  nannte  sie  iyyaaxQL^iv&oi, 
späterhin  üvd'covsg^  einer  der  bekanntesten  ist  der  von  Aristophanes 
verspottete  Emykles^. 

Christliche  Schriftsteller  wissen  ähnliches  zu  erzählen^,  und 
bis  in  neuere  Zeiten  finden  wir  derartige  Berichte.  So  greift  z.  B. 
Eabelais  auf,  was  er  vom  antiken  Material  kennt  —  das  ist 
nicht  wenig  !^  —  und  ergänzt  es  aus  zeitgenössischen  Nachrichten 
im  Pantagruel  IV  58,  wo  er  seinen  Helden  an  den  Hof  des  Herrn 
„Gaster"  führt.  Pantagruel  ärgert  sich  da  über  zwei  Arten  von 
lästigen  Gesellen,  die  zudringlichen  „Gastrolater"  und  vor  allem 
über  die  Engastrimythen  oder  Ventriloquisten,  die  sich  von  des 
alten  Eurykles  Geschlecht  herleiteten;  c'estoient  divinateurs,  enchan- 
teurs  et  abuseurs  de  simple  peuple,  sembJans,  non  de  Ja  houcJie, 
mais  du  venire  parier  et  respiondre  ä  ceux  qui  les  interrogeoient^. 
Es  scheinen  auch  Frauen  darunter  zu  sein  —  wie  ja  auch  das 
Altertum  Prophetinnen  und  das  Christentum  Pseudoprophetinnen 
kannte ,  aus  denen  die  Ilvd-covsg  sprachen ''  — ,  denn  Rabelais  erzählt 

*  Die  Zeugnisse  sind  jetzt  übersichtlich  vereinigt  bei  J  Tambor- 
nino  De  antiquorum  daemonismo,  Religionsgeschichtlicbe  Versuche  und 
Vorarbeiten,  hrsg.  v.  Wünsch  u.  Deubner  VII  3  S.  59  f. 

*  Tambornino  aaO. 

«  Tambornino  S.  93  f. 

*  Vgl.  den  Rabelais -Kommentar  von  Gottlob  Regis,  Band  II 
(Leipzig  1839)  S.  730 f. 

^  Oeuvres  de  Rabelais  par  Burgand  des  Marets  et  Eathery,  Band  II 
(Paris  187.'i)  S.  274. 

®  Vgl.  Wetstein  zu  Apostelgeschichte  XVI  16;  Tambornino  S.  93  f. 
Eine  derartige  Lügenprophetin  scheint,  wie  Regis  aaO.  bemerkt,  die  in 
Mailand  begrabene  Guillelmina  gewesen  zu  sein,  von  der  Pater  J.  Mabillon 
in  seinem  Museum  Italicum  Band  I  (Lutetiae  Paris.  1687)  S.  19  f.  spricht. 
Sie  hatte  es  verstanden,  sich  in  den  Schein  großer  Heiligkeit  zu  ver- 
setzen und  eine  Sekte  um  sich  zu  sammeln,  von  der  Johannes  Petrus 
Puricellus  behauptete:  Guillelminae  sectain  non  fuisse  spurcitiis,  nti 
Donatus  ante  omnes  vulgavit,  infamem:  sed  impiis  deliramentis , 
quae  mentcm  tantum,non  etiam  corpus  afficerent  ac  inficeretit: 
idque  probat  Puricellus  ex  publico  instrumento,  qtiod  Inquisitores  anno 
MCCC  conffcerunt.  Aus  demselben  instrumcntum  geht  hervor  Guillcl- 
minam  aut  certe  eins  asseclas  primarios  (nam  id  ipsa  ex  ficta  modeUia 
pernegare  visa  est)  .  .  depraedicasse ,  Quod  ipsa  Guillelmina  <ssct  Spiritus- 
sanctus  in  sexu  femineo  incarnatus  e  Constantia  Boemiae  Regis  uxore. 
Diese  impudentissima  praestigiairix  galt  noch  längere  Zeit  nach  ihrem 


Mitteilungen  und  Hinweise  623 

weiter:  Teile  estoit,  environ  Van  de  nostre  benoist  Servateur  1513, 
Jacobe  Bodogine,  Italiane,  femme  de  hasse  viaison.  Ihre  Geschichte 
verdankt  Rabelais  einem  Landsmann  der  Jakobaea,  dem  Caelius 
Rhodiginus,  der,  ohne  allerdings  das  Jahr  1513  zu  nennen, 
folgendes  berichtet^: 

Pltilochorus  in  tertio  de  vaticiniis*  efiam  mulieres  vocat  iyya- 
öTQi^iv&ovg.  Id  ne  quis,  iit  fahulosinn,  risu  excipiendum  pxttei, 
testatum  volumus,  tempestate  hac,  immo  vero  liaec  prodente  me, 
fuisse  in  patria  mea  muUercidam  hiimili  loco,  Jacoham  nomine. 
Ex  cuius  venire  immundi  Spiritus  vocem,  jjraetenuem  quidem,  sed 
tarnen,  übi  teilet,  dearticulatam  et  prorsus  intelligihilem ,  auäivi 
ipse,  sed  et  innumeri  alii,  non  Bhodigü  modo,  verum  et  toto  fere 
Italia,  Quando  fitturi  avida  potentum  mens  saepe  accersitam  ventri- 
loquam,  ac  omni  exutam  amictu,  nequid  fraudis  ocniltae  lateret, 
inspectare,  ac  audire  concuivit.  Cincinnatulus  daemoni  nomen  erat. 
Hac  nie  appellatione  gestiens  inclamanti  subinde  respondebat.  Si 
de  praeteritis,  aui  praesentibus  scitareris,  quae  recanditissima  forent, 
responsa  dabat  saepe  mirifica.  Si  de  futuris,  semper  mendacissimus, 
sed  et  inscitiam  suam  nonnunquam  murmure  incerto,  vel  bombo 
verius  ignoralibi  retegebat. 

Diese  Erzählung,  die  Rabelais  ziemlich  getreu  übersetzt,  ent- 
hält manchen  bemerkenswerten  Zug:  In  der  Zukunft  liegende  Dinge 
pflegt  der  Geist  falsch  anzugeben;  das  gehört  zum  Wesen  dieser 
Dämonen,  sie  sind  mendaces^.  Auch  daß  er  sich  zuweilen  unan- 
ständig aufführt  (et  souvent  sembloit  con fesser  son  ignorance,  en 
Heu  de  y  respondre  f'aisant  un  gros  pet),  nimmt  nicht  Wunder; 
der  foetor  infolerahilis  der  unreinen  Geister,  besonders  der  aus  den 
Besessenen  ausfahrenden,  ist  ja  bekannt*.  Und  daß  dieser  ,,Nuschler 
oder  Cincinnatulus"  manchesmal  unverständliche  oder  barbarische 
Worte  murmelt  {rnarmonant  quehjues  motz  non  intelUgibles ,  et  de 
barbare  terminationj  ist  ganz  nach  Geisterart:  der  Dämon,  dessen 
Austreibimg  Lukian  im  Philopseudes  cap.  16  berichtet,  antwortete 
bisweilen  ßaqßaqi^oiv. 

Heidelberg  Otto  Weinreieh 

1281  erfolgten  Tod  als  Heilige,  Festtage  waren  ihr  geweiht,  bis  endlich 
19  Jahre  nach  ihrem  Tod,  als  man  ihr  Treiben  durchschaut  hatte,  jener 
superstitio  ein  Ende  gemacht  wurde. 

*  Lectionum  Antiqiiarum  lib.  V  cap.  X,  Basüiae  apud  Frobenium 
1517  S.  212.     «  Wohl  nach  Suidas,  s.  Müller  FHG  I  p.  416  frg.  192. 

'  Tambornino  S.  49;  95. 

*  Acta  Sanctorum  Juli  V  S.  152 D  droht  der  Dämon:  oiscoenum  . . . 
foetorem  in  exitii  mea  tibi  tuisqiie  relinquam;  das  geschieht  auch  so: 
cum  magno  eiulatic  et  foetor e,  quem  ipse  praedixerat,  imtnundus  Spiritus 
exire  compelUtur  (152 E).  Vgl.  z  B.  noch  148F;  Juni  V  497F;  die 
Beispiele  lassen  sich  leicht  mehren. 


624  Mitteilungen  und  Hin-weise 

Zu  dem  Zaubergesang  in  der  Nekyia 

(Archiv  Xn  S.  2  ff.) 

V.  2 2 f.:  Bei  Anubis  darf  man  wohl  an  den  mit  ihm  so  oft 
gleichgesetzten  chthonischen  Hermes  (vgl.  'EQ^avovßtg)  denken, 
zumal  dieser  in  Totenbeschwörungen  (z.  B.  Aischylos  Cho.  1.  124; 
Pers.  628f)  gerade  an  erster  Stelle  angerufen  wird.    Dann  könnte 

man  Vers   23  lesen: ]   KvXXrjvaie,  TCaQEvvsta  Aao&osilag. 

Kvllriviog  {KvXXrjvalog)  als  Beiwort  des  Hermes  ist  bekannt;  zum 
folgenden  vgl.  Orph.  Arg.  133 ff.:  (^'Eqvtov  nal  ....  'Kylova^  tovg  .  .  .) 
Aao&orj  Msviroto  TtaQSvvrjd'eig  iX6iev6Ev  KvXXtjvrjg  (leöicov. 
Den  Anfang  wage  ich  nicht  zu  ergänzen;  um  aber  eine  Möglichkeit 
anzudeuten,  so  hat  man  ja  bei  der  Annahme,  daß  mit  dem  Er- 
haltenen ein  neues  Wort  beginnt,  zur  Ausfüllung  der  Lücke  von 
neun  Buchstaben  nicht  viel  Auswahl,  und  es  könnte  etwa  ötQoyyvXs 
(vgl.  Wessely,  Denkschr.  d.  Wiener  Ak.  XXXVI  A  415)  dagestanden 
haben. 

V.  24:  iXd^  'EQ^fiet  konnte  leicht  statt  'EQ(irj  geschrieben 
werden.  Daß  agrca^  für  den  ipvxOTto^TCog  Hermes  -  Anubis  ebenso 
paßt,  wie  für  den  chthonischen  Zeus,  mit  dem  er  hier  vielleicht 
gleichgesetzt  wird,  ist  klar. 

V.  25:  üdL  jLie]  aldsaadfisvoi  KQYjrjvars  ktX.  Der  Beschwörer 
hat  die  Geister  in  seiner  Gewalt  und  droht  ihnen. 

V.  26:  Ald-Qi]r]  nal  i&cov^  vgl.  die  häufige  Parallelisierung  von 
al&i^Q  und  ')(^&(av  oder  yata:  Hymn.  Orph.  33,  1 1  f.;  57,  5;  Fragra. III 1, 
von  ai&SQtog  und  i&ovtog:  Wessely  a.  a.  0.  2916;  A  170f.;  Pap.  mag. 
ed.  Dieterich  (in  Fleck.  Jb.  XVI.  Suppl.  747 ff.)  II  28. 

V.  28:  'AßXava&ca  ist  wohl  nicht  als  Kurzform  xon^AßXccva&avaXßa 
zu  fassen,  sondern  als  das  hebräische  ahlan  atka  „Vater  komm  (zu) 
uns"  (vgl.  Kopp,  Palaeographica  critica  III  u.  IV  §  580 ff.);  hieraus 
wird  erst  die  Zauberformel,  die  von  hinten  wie  von  vorn  zu'  lesen 
ist,  entstanden  sein.  "'AßXuva^oi  konnte  dann  als  Name  gebraucht, 
werden  wie  Gotthilf,  Gottseibeiuns.  So  könnte  man  daran  denken, 
an  den  Anfang  das  durch  I.  Kor.  16,  22  bezeugte  (la^av  a&d 
„Herr  komm"  als  MaQava&o)  zu  setzen  (vgl.  Kopp  §  581);  Buch- 
stabenzahl und  Quantität  würden  entsprechen. 

V.  29:  eßr}xaQBi,7]  nach  Dieterichs  Konjektur  =  ißiKCiQSis  ibis- 
köpfiger,  d.  h.  Thoth-Hermes  (vgl.  Erman,  aeg.  Rel.  91.   104). 

V.  33:  Mit  '^Qtsv  könnte,  wie  Dieterich  meinte,  Orion  ge- 
meint sein  (t  in  ißptwv  ist  bei  Epikern  und  Theokrit  lang).  Herr 
Professor  Boll  macht  mich  freundlichst  darauf  aufmerksam,  daß 
die  Form  Hyrieus  als  (Pflege-)  Vater  des  Orion  (Hygin  astron.  II  34) 
auf  die  Form  'SlQievg  =>  Orion  eingewirkt  haben  könnte,  zumal  neben 
^YQtevg  auch  OvQisvg  vorkommt,  wie  Urion  neben  Orion  bei  Hygin. 


Mitteilungen  und  Hinweise  625 

V.  34:  yatoB]  via,  xsövri,  ßioxu  usw.  Anrufung  der  Nyx? 
via  heißt  sie  auch  bei  Wesselj  2789.  Da  ca  in  später  Zeit  wie 
£  gesprochen  wurde,  so  könnte  das  KAIATTHBIOTA  leicht  aus 
KeANHBIOTA  verderbt  sein;  vgl.  Hymn.  Orph.  28  (auf  Perse- 
phone)  3:  xeövi],  ßcoöcori. 

V.  35 f:  Wiederum  Anrufung  der  Nyx,  etwa  zu  ergänzen: 
■fjfiiT£kiq]g,  i&ovta  xal  ovQuvia  aal  oveigcov  [firiVtjQ,  i]]g  xal  6£iQio[i 
a6T£Q£g  k^eyivovio.  Vgl.  Hymn.  Orph.  2  (auf  Nyx)  8:  i^jittrcAij?, 
ir^ovLtj  tjö'  ovgavlr}  TtuXiv  avriq]  ib.  5:  ju^re^  öveiQcav.  Zu  V.  36 
vgl.  Hymn.  Orph.  6,  3:  ccßTiQeg  ovqccvioi,  Nvxxog  (pika  xixva  fisXaCvrig. 
Zu  6ELQ101  ib.   5:  TtvQOSvxeg. 

Heidelberg  Ernst  Schmidt 

Bildopfer  bei  Empedocles 

Im  128.  Fragment  des  agrigentinischen  Sehers  scheint  mir  Diels 
(Fragm.  d.  Vorsokr.  2  p.  210  Z.  42)  in  seiner  Übersetzung  einen  bezeich- 
nenden sacralen  Ausdruck  nicht  ganz  klar  wiedergegeben  zu  haben. 
Der  Dichter  schildert  den  milden  blutlosen  Kult  der  göttlichen  Liebes- 
macht in  der  Welt  durch  die  Menschen  des  goldenen  Zeitalters: 
T^v  (sc.  Kv:tQiv)  Ol  y  evetßiecGiv  äydXuaaiv  IXäexovTO 
yganrots  te  ^mioiei  ^vgoici  T£  daidaXeödfioig  xrX. 

Duftende  Salben,  lautere  Myrrhen,  lieblicher  Weihrauch  und  gold- 
braune Honigspenden  erhält  die  Göttin.  Tieropfer  aber  galten 
jenen  höheren  Menschen  als  verruchtester  Frevel.  —  Die  yganxa 
t&ia,  mit  denen  Empedokles  den  Reigen  erlaubter  Opfergaben  er- 
öflFnet,  hat  nun  Diels  mit  „gemalte  Bilder"  übersetzt,  und  wohl 
als  Kunstwerke  aufgefaßt,  die  der  Göttin  als  Anathemata  zugeeignet 
worden  wären.  Damit  wäre  aber  der  Sinn  dieser  Worte  kaum 
getroffen.  Gemeint  ist  wohl:  „mit  gemalten  (Opfer)tieren". 
"Die  'pia  fraus',  die  hier  den  Urmenschen  zugemutet  und  damit 
den  Jüngern  des  Weisen  empfohlen  wird,  ist  aus  vielen  Beispielen 
wohlbekannt.  In  Sonderheit  im  etruskischen  und  im  ägyptischen 
Ahnenkult  sind  die  kostspieligen  Toten  opf er  im  größten  Maßstab 
dadurch  abgelöst  worden,  daß  man  die  ursprünglich  in  natura  bei- 
zusetzenden Gegenstände  an  den  Wänden  der  Grabkammem  im 
Abbild  verewigte  (s.  z.  B.  Walker  the  Egyptian  dodriue  of  fimeral 
offering^,  Proc.  Soc.  Bibl.  Archeol.  XXVI  76  ff.).  Es  ist  also 
durchaus  einleuchtend,  daß  die  Orphiker,  denen  der  Gedanke  an  die 
Seelenwanderung  einen  furchtbaren  Abscheu  gegen  die  Tieropfer 
der  Staatsreligion  einflößte,  bei  ihren  Bemühungen,  der  Opferpflicht 
gegen  die  Götter  gerecht  zu  werden,  ohne  den  Frevel  der  Ahnen- 
tötung und  des  Fraßes  zu  begehen,  auf  das  Auskunftsmittel  der 
Weihung  —  und  natürlich  auch  Verbrennung  —  von  gemalten 
Tieren  verfallen  mußten,  zumal  durch  neupythagoreische  Zeugen 
(Porphyr,  vit.  Pyth.   26  z.  B.)  feststeht,  daß  eine  analoge  simulatio 

Archiv  f.  Beligionswissengchaft  XIII  -  40 


626  Mitteilungen  und  Hinweise 

in  sacris  mit  Hilfe  von  tierförmigen  Pormbroten  (övattivoi,  jSdfc;  etc.), 
wie  sie  bei  allen  Völkern  nachzuweisen  sind,  in  den  d'iaßoi  jener 
Mystiker  tatsächlich,  geübt  wurde. 

Feldafing  a.  Starnberger  See  Robert  Eisler 


Ton  Abzielmng  der  Sterbenden  Hauptküssen' 

Zu  der  früher  von  mir  angeführten  älteren  Literatur,  worin 
das  Wegziehen  des  Kissens  unter  dem  Kopf  eines  Sterbenden  er- 
wähnt oder  besprochen  wird  (s.  Archiv  XI  151),  ist  noch  hin- 
zuzufügen: Casparis  Questelii  Dissertatio  academica  de  pulvinari 
morientibus  non  suhtrahendo,  Von  Abziehung  der  Sterbenden  Haupt- 
Küssen,  Jenac  1718  (zuerst  1678);  zitiert  von  G.  Lammert,  Volks- 
medizin und  medizinischer  Aberglaube  in  Bayern  und  den  an- 
grenzenden Bezirken,  Würzburg  1869,  S.  101,  Anm.  2.  Questel 
schließt  seine  Abhandlung  mit  folgendem  Satze:  Subtractio  Pulvi- 
naris  est  Actus  moraliter  malus,  quo  Moribundis  Capitis  Ledulus. 
non  sine  Jiomicidii  nota,  ad  doloris  ahrwmpendi,  festinandaeque 
mortis  rationem  tollitur  (p.  51). 

Von  den  Bräuchen,  die  Questel  beiläufig  erwähnt,  will  ich 
hier  hervorheben  die  Su2)erstitiosa  capitis  equini  moribundis  sup- 
positio  i^uü  quibusdam  in  locis  id  fieri  ab  Amico  edocemur';  p.  18) 
So  berichtet  Mussäus  aus  Mecklenburg:  Phantasiert  ein  Schwer- 
kranker, so  legt  man  ihm  zuweilen  einen  toten  Pferdekopf  unter 
das  Kopfkissen;  der  Dunst  macht  ihn  sofort  ruhig  (Jahrbücher 
des  Vereins  für  mecklenburgische  Geschichte  und  Altertumskunde  II, 
128;  zitiert  von  Grimm   DM.^  626). 

Vom  Wegziehen  des  Kopfkissens  handelt  ausführlich  auch  Jobann 
Heinrich  Zedier  in  seinem  Universallexikon  XXXIX  (1744),  Sp.  19o5tt'. 
Halle  a.  S.  Theodor  Zachariae 

Totenmaske  bei  den  Wogulen 

In  seiner  Untersuchung  über  die  Wogulen  (Beilage  zum  VI. 
u.  VII.  Band  d.  ucenyja  zapiski  d.  Universität  Kasan  1907)  teilt 
W.  Pavlowski  unter  anderem  auch  folgenden  Bestattungsbrauch 
mit:  das  Gesicht  eines  toten  Wogulen  wird  mit  Hirschhaut  bedeckt, 
indem  man  auf  die  Stelle  der  Augen  und  des  Mundes  Kupfer- 
knöpfe aufnäht.  Wisocki  sucht  (in  den  Nachrichten  d.  Archäologisch  - 
historisch-ethnogi'aphischen  Gesellschaft  an  d. Univ.  Kasan  Hand XXIV, 
3.  1908,  254  —  257)  nachzuweisen,  daß  es  sich  in  diesem  Falle 
um  eine  Totenmaske  handelt.  Bei  dem  in  seiner  Sammlung  be- 
findlichen Wogulenidol  ist  die  Stirn  und  das  Gesicht  (mit  Aus- 
nahme der  Nase)  mit  Hirschhaut  bedeckt,  auf  der  Stelle  der 
Augen  sind  runde  Öffnungen  und  auf  der  des  Mundes  ist  eine 
ovale  Öffnung  gemacht. 

Starodub  Or.  Janlewitsohi 


Mitteilungen  und  Hinweise  «627 

Durstige  Seelen 

Daß  die  schon  im  Altertum  weit  verbreitete  volkstümliche 
Anschauung,  daß  die  sogenannten  durstigen  Seelen  während  der 
Dürre  die  Regenwolken  aussogen  und  die  Quellen  austranken,  auch 
heute  noch  in  voller  Kraft  ist,  ergibt  sich  aus  folgendem  Berichte 
der  „Nowoje  Wremja"  vom  27.  Juli  1909  (N.  11957):  im  Dorfe 
Gromowka  gingen  die  Bauern  auf  den  benachbarten  Friedhof, 
machten  das  Grab  eines  Selbstmörders,  den  sie  als  den  Urheber 
einer  großen  Trockenheit  betrachteten,  auf  und  füllten  den  Sarg 
durch  eine  Öffnung  mit  Wasser,  um  den  Regen  herbeizuzaubern. 
Andere,  in  ihren  Grundzügen  ähnliche  Berichte  aus  früheren 
Jahren  wurden  bereits  in  der  „Kiewskaja  Starina"  mitgeteilt.  Als 
Urheber  der  Dürre  betrachteten  die  Bauern  die  Gehängten  (cf. 
0.  Gruppe,  Griech.  Mythologie,  p.  761,5).  So  wurden  im  JaJire 
1859  die  Leichen  zweier  Gehängten  ausgegraben  und,  um  den 
Hegen  herbeizuzaubern,  mit  Wasser  begossen  (li)OO,  Band  I,  p.  2). 
Im  Dorfe  Warwarowka  (Bezirk  Konstantinograd)  begossen  die 
Bauern  während  der  Dürre  in  der  Xacht  das  Grab  eines  Gehängten 
mit  Wasser  und  glaubten,  je  schneller  das  Wasser  zu  der  Leiche 
kommt,  desto  schneller  wird  es  regnen  (1899,  Band  YIII,  p.  201). 

Starodub  Or.  Janievätsch 

AYPA 

Das  aus  dem  XVIII.  Jahrhundert  stammende  Euchologium 
X.  189  (aus  der  Handschriften  -  Sammlung  d.  Grigorovic  im  Rum- 
janzewschen  Museum  in  Moskau)  enthält  unter  anderem  (auf  p.  36)^ 
auch  ein  folgendes  Gebet  des  heiligen  Gregorius  zur  Beschwörung 
der  Avoc:  (jArroQy.iauog  (sie)  tov  uyiov  TtcaQog  i]iia)v  Fgiyogiov  xov 
xf-av^arovQyov  y.cau  t»js  avQa  ^^kAettov  daiiiovogY'.  Oqki^o  ae  itaGuv 
i^vGGov  Kai  dainoviov  avQct  aQSsviKOV  avQu  ^rjlvxov  aßga  ano  xov 

vdaTog  aß^a  ciito  xov  aiuaxog  aßQcc  utco  jivi]uaxog  u  UTto  XQOvöfiaxog 

c  rpv^ecüg  a  utio  y.xtjvog  .  .  .  OQXt^o  kotixco  'iccXenc)  ÖQiTtavfj  .  .  .  xai. 
ei-xiv  (^uQ^ayyelog)  ccvxt}'  Tiod'ev  eQ'/^t}  neu  vjiayyjg  uvqu  {.lekuv}]  uiui- 
vo^evi}  xot'isiXe  K£g)aXe:  y.ai  etTisv  uvxto'  eya  imaya  avO-ocoirov  oöxsa 
cpayiiv  %ai  xekvcc  avxav  aqtavt^eiv'  xai  Xsysi  uvxij  o  UQiccyyslog 
'n'faii]k'    ovx  i'Kjiig  E^ovGiav  oöxea  uvd'Qca-nov  (puytiv  xui  xovg  aQQSvag 

rpaVl^SlrV    cdX     SmßQS^EL     £7tt     6£  Kg    0    &g    TtVQ     e^     OVQCiVOV    Kai    öuc- 

o/.OQTtiaet  STTi  7toxa(iov  Kai  £7ti  d'aXaGOai'  i^eXd'e  kui  avayoot]6cov  a-xo 
uiXovg  . . .  aXX  vnaye  öe  eig  xo  ooog  xa  vibiGxu  y.ai  y.ovßovg  '.  y.oijcpovg) 
^QUKOVxog  cpuye  xa  oöxsa  avxov  y.ai  nie  xo  aifia  avxov   .  .  . 

*  Auf  p.  8  ein  Gebet  Basilius  des  Großen  zum  Schutze  gegen  „ver- 
hiedene  Krankheiten  und  Dämonen",  ViktoroT.  Sobranije  rukopisei 
rigorovica.    Moskau  1879  (=  Jahresbericht   des    öffentlichen   und    Rum- 

nnzewsclien  Museum.     1876  —  78  p.  46). 

*  Bei  Mansvetov  in  den  Drevnosti  Trudy  d.  Kaiserlich  Archäo- 
logischen Gesellschaft.     Bd.  IX,  I  1881  p.  36. 

40* 


628*  Mitteilungen  und  Hinweise 

Über  die  Form  dieser  Beschwörung  und  den  Namen  des 
Dämons,  der  hier  angerufen  wird,  vgl.  die  Bemerkungen  bei  Fr.  Pradel, 
Griech,  u.  süditalienische  Gebete  etc  p.  86f.,  93f.,  95f.  (auch  bei 
A.  Abt,  die  Apologie  des  Apuleius  von  Madaura  p.  183).  Im 
Volksglauben  erscheinen  die  Winde  ziemlich  oft  als  krankheits- 
erregende Dämonen.  So  z.  B.  bei  M.  Höfler,  deutsches  Krankheits- 
namenbuch, München  1899  p.  221  s.  v.  Hauch,  p.  775  s.  v.  Waht; 
bei  Pradel  (a.  a.  0.  p.  10  8.  9)  t)  o&svöiqTCors  l'ffrat  SQy^ofisvcc  tavra 
reo  ificpvörj^an  xa  ivaigia  kccI  ccKa&aQra  Tcvev^ccra.  Im  IlaQvaöOog 
XV  (1892)  p.  557^  lesen  wir  folgende  Beschwörung  des  „'^£(»ix6": 
'Aeqlko  kI  avefiLKO  vX  yvqeveg  'd(b  7tovQ&eg',  Na  nag  va  ßy^g  <J£  oqi, 
as  ßovvo,  ߣ  Qi^i^vo  Xt&ccQi,  Nu  ^SQa&y  7]  QL^a  TO-u,  va  fiaQa&fj  ■{] 
oiOQcpri  xov. 

'AvÖQsag  MaQOvXt^g  bemerkt  dazu:  aeQiKog  Ttovog  liysxai  Ttäg 
novog  TtQOEQioiievog  in  xov  äsQog.  .Im  modernen  Makedonien  be- 
schwört man  die  'AvaxoXiKOvg  ymI  BoQSi-vovg  Kai  /IvxLKohg  Kai 
NoxLKOvg  öaliioveg  (Abbott,  Maced.  Folklore  Appendix  V  p.  366)^  Auch 
bei  den  Türken  finden  wir  denselben  Volksglauben  (Abbott,  a.  a.  0. 
p.  224  2).  Bei  N.  Vinogradov  (Beschwörungen,  Lfr.  II.  St.  Petersb. 
1909.  p.  11)  ist  ein  Gebet  „zum  Schutze  gegen  alle  Krankheiten" 
mitgeteilt,  da  lesen  wir:  „Erzengel  Michael,  nimm  du  deine  feurige 
Lanze  und  wehre  von  der  Gottessklavin  (der  Name  ist  zu  nennen) 
brausende  Winde  ab",  auf  p.  48  (Vinogradov  a.  a.  0.)  ein  anderes 
Gebet  „des  Furcht  einflössenden  Erzengels  Michael,  des  Oberhauptes 
der  himmlischen  Mächte"  zum  Schutze  gegen  „höllische,  oder  luftige 
Mächte".  Man  vergleiche  auch  die  „Erzählung"  (Povjest)  „von 
der  besessenen  Solomonia"  (aus  dem  XVII.  Jahrb.,  bei  Afanasiev, 
Philolog.  Annalen,  Woronjez  1868,  Bd  III  p.  275):  „Ihr  (der  Solo- 
monia) war  einst,  als  ob  jemand  an  die  Türe  ihres  Zimmers 
(chramina)  käme,  sie  stand  von  ihrem  Lager  auf  und  öffnete  die 
Tür,  da  brauste  es  ihr  ins  Gesicht,  Ohren  und  Augen,  als  ob 
das  ein  großer  Wirbelwind  wäre;  die  ganze  Nacht  verbrachte  sie 
ohne  Schlaf,  dann  befiel  sie  ein  Zittern  und  ein  schrecklicher 
Schüttelfrost."  —  In  verschiedenen  Beziehungen  berührt  sich  der 
Text  unserer  Beschwörung  der  AvQa  mit  einigen  slawischen  Be- 
schwörungen, die  ich  hier  zum  Vergleich  heranziehe.  So  bei  Milo- 
radowitsch  (Volksmedicin  i.  Bezirk  Lubni,  Gouvern.  Poltava  in 
der  Kievsk.  Starina  1900  V  p.  170)  lesen  wir  folgende  klein- 
russische Beschwörung  des  Fiebers:  „Fieber,  du  bist  scharfsichtig, 

*  Den  Hinweis  auf  diesen  Aufsatz  verdanke  ich  Herrn  Dr.  Wilhelm 
Drexler. 

'  Diese  Stelle  bei  Abbott  berührt  sich  aufs  engste  mit  dem  Gebete 
bei  Vasiliev  (Anccdota.  Oratio  in  infirmos  =  in  servam  Dei  Mariam 
p.  32.5)  .  .  .  (IT]  ccnb  ovQavov  aa&fjX&sv  r)  ScaO'ivsia  1]  Scno  äazigav  7)  <{:ro 
ijXiov  1}   eeX-^vrig,  fii]  &nb  fdqpou  vetpiXris  firj  &n6  xqvsqo^  äigog. 


Mitteilungen  und  Hinweise  629 

du  rührst  vom  Wasser,  vom  Wind  her,  du  kommst,  sobald  man 
an  dich  denkt,  sobald  man  grübelt.  Geh  du  zum  Wasser,  zu  den 
Winden,  zum  Feuer  und  zum  Kauch.  Hier  mußt  du  nicht  stehen, 
(du  mußt  nicht)  den  gelben  Knochen  reißen.  Geh  du  zum  Feuer, 
zum  Rauch,  in  die  weiten  Steppen.  Dort  kannst  du  schwärmen, 
und  die  Menschen  frösteln  machen.''  In  einer  anderen  (klein- 
russischen'^  Beschwörung  des  Fiebers  (bei  Afanasiev  a.  a.  0.  Bd  V 
p.  343)  wird  diese  Krankheit  auf  folgende  Weise  beschworen:  „Ob 
du  Drück -Fieber  bist,  ob  du  Zitter- Fieber  bist,  ob  du  vom  Winde 
oder  vom  Sturme  herrührst,  doch  geh'  du  dorthin,  wo  die  Hunde 
nicht  bellen,  wo  der  Hahn  nicht  kräht  (vgl.  Pradel  a.  a.  0.  p.  16  6 
0710V  y.vcov  ov  vXaKxet  o  xe  aXeKTcoQ  ov  qxovEi),  wo  man  die 
Stimmen  der  Christen  nicht  hört."  (In  einer  tschechischen  Be- 
schwörung des  XIII.  Jahrb.  verbannt  man  die  Krankheiten:  „na 
püsci  jdete,  anikomu  neskod'te"  oder  (bei  den  Russen)  gleich  wie 
bei  Pradel  10  6  eig  avvSqov  Kai  ayecoQyt}tov  xbv  xönov)}  Ferner 
wird  Avqu  in  unserer  Beschwörung  iiiXävi]  genannt.  Das  Beiwort 
scheint  mir  auf  ein  Fiebersympton  anzuspielen  und  kann  möglicher- 
weise hier  als  „dunkelblau"  erklärt  werden*  (jiiXavov  TiQOöajtov, 
blau  gewordenes  Gesicht,  bei  A.  Sobolewsky,  d.  römisch.  Paterikon 
in  der  altslawischen  Übersetzung  „Izbomik  Kiewskj"  p.  20).  Auch 
bildlich  wird  das  Fieber  als  eine  nackte,  blaue  Frau  dargestellt:  auf 
einem  Heiligenbilde  (beschrieben  bei  Popov  „Geistlich.  Bote"  l.'^63 
IV  )^  wird  ein  Fels  dargestellt,  der  aus  einem  See  mit  schwarzem 
Wasser  hervorragt.  Im  See  sieht  man  zwölf  ganz  nackte  Jung- 
frauen mit  zerzaustem  Haar.  Die  einen  sind  rot,  die  anderen  gelb 
oder  blau.  Auf  einer  Seite  sieht  man  den  heiligen  Sisinnius  mit 
über  den  See  ausgestreckter  rechter  Hand,  auf  der  anderen  Seite 
den  Erzengel  Michael,  der  mit  seinem  Stabe  den  Jungfrauen  einen 
Schlag  versetzt.  In  den  Beschwörungen  wiid  der  Fels  durch  den 
„Berg  Golgatha"  ersetzt;  vgl.  bei  Miloradowitsch  (a.  a.  0.  p.  170): 
„Auf  dem  Berge  Golgatha  stand  eine  Eiche.  Unter  dieser  Eiche 
saßen  sieben  Märthyrer:  Erzengel  Michael,  Gabriel,  Triel,  Meo- 
todymus,  Sizonty,  Klementy  und  Johann  der  Täufer,  und  sie  sahen 
ein  schreckliches  Wunder:  aus  dem  Meere  kamen  17  nackte,  un- 
gegürtete  Weiber  mit  zerzaustem  Haar.  Da  fragte  sie  Johann  der 
Täufer:  wer  seid  ihr?  wohin  geht  ihr?  Wir  gehen  in  die  Stadt 
Christi,  um  die  Leute  zu  quälen,  ihr  Blut  zu  trinken,  ihren  Leib  zu  er- 
müden und  dem  Tode  zu  übergeben.  Da  nahm  Johann  der  Täufer 
seinen  Stab  und  schlug  jeder  100  Wunden  an  dem  Kopf.  Die  Weiber 
sagten:  wer  ihi-e  (d.  h.  der  Märtyrer)  Namen  aussprechen  wird  und 

»  Vgl.  Afanasiev  a.  a  0.  Bd  IV,  V  343. 

*  Vgl.  Meyers  Konv.  Lexikon  u  Fieber:  ,, während  des  Schüttelfrostes 
-t  die  Haut  kühl  u.  bleich,  oder  bläulich  gefärbt". 

*  Vgl.  A.  Weselovskij,  Journal  Ministerstva  Narodn.   Proew.  1886  VI. 


630  Mitteilungen  und  Hinweise 

das  Wasser  lesen  (d.  h.  besprechen),  den  rühren  wir  nicht  an.  In 
einer  anderen  Beschwörung  (bei  Miloradovitsch)  ist  die  Zahl  der 
Weiber  22.  Der  heilige  Basilius  fragt  die  Weiber:  was  für  Menschen 
seid  ihr?  Wir  sind  nicht  Menschen,  antworten  die  Weiber,  wir 
sind  Feindesbrut.  Wir  sind  in  die  Welt  geschickt,  damit  wir  das 
rote  Menschenblut  trinken,  den  weißen  Leib  frösteln  machen  und 
die  gelben  Knochen  reißen.  Bei  den  Tschechen  (Afanasiev  a.  a.  0. 
BdIV,  V3.37)  begegnet  Jesus  (vgl.Pradela  a.O.p.92)  den  „Krämpfen 
und  Zuckungen  (psotnika)^'  und  fragt:  „kam  ty  jdes,  psotniku?  — 
Ja  jdu  de  zivota  te  a  te  osoby  —  maso  jisti,  krev  piti,  zilu  trhati 
kosti  lamati  chut'  k  jidlu  a  k  piti  brati,  a  spani  mu  odjimati", 
Starodub  Or.  JanieTvitseh 

Zur  Beschwörung  des  Geistes  Bettzaierle  (0.  Meisinger,  Archiv 
XII  S.  579)  vergleiche  man  K.  Weinhold  „Beschwörung  des  Alps" 
i.  d.  Zeitschrift  d.  Vereins  für  Volkskunde  VI  (1896)  p.  213  — 215 
(auch  Varianten  dazu  aus  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien). 

Starodub  Or.  Janiewitseh 

Genesia  oder  Parentalia?  —  Dank  des  trefflichen  Buches 
von  Wilhelm  Schmidt  (Geburtstag  im  Altertum.  Gießen  1908. 
p.  37)  über  griechische  und  römische  Geburtstagfeierlichkeiten  ist 
die  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Wortes  und  der  Bezeichnung 
yeviöia  erledigt.  Es  sei  uns  gestattet,  aus  einer  abseits  liegenden 
Quelle  und  aus  einem  bisher  wenig  beachteten  Schi'ifttum  zu  dieser 
Frage  das  Wort  zu  ergreifen.  Es  bedarf  zwar  keines  Beweises 
mehr,  nach  der  gründlichen  Untersuchung  Schmidts,  daß  zwischen 
Genesia  und  Parentalia  ein  Unterschied  bestand,  es  ist  aber  jedenfalls 
nicht  uninteressant,  die  Wirkung  dieses  religiösen  Festes  in  einend 
Milieu  zu  suchen,  wohin  des  Forschers  Blick  sich  sonst  nicht  verirrt. 

Im  Talmud,  Aboda  Zara  (K.  I  Misna  2)  wird  folgender  Satz 
gelehrt:  Das  sind  die  Feste  der  Heiden:  die  Kaienden,  Saturnalien, 
der  Siegestag  (nach  der  Erklärung:  der  Tag,  an  dem  Rom  die 
Oberherrschaft  gewann,  es  ist  der  Sieg  des  Octavian  bei  Actium), 
die  „Genesia"  der  Könige,  der  Geburtstag  und  der  Todestag.  Die 
Erklärer  konnten  sich  das  Wort  csb«  b^  N-'D"'3:i  ÖV  nicht  gut 
zurechtlegen;  sie  fragten  daher:  was  ist  unter  Genesia  zu  ver- 
stehen? R.  Jehuda  meinte:  der  Tag,  an  dem  die  Heiden  die 
Könige  installieren.  Tatsächlich  wurde  die  Einsetzung  eines  Königs 
feierlich  begangen.  Man  nannte  den  Tag  „natalis  imperii", 
(s.  Schmidt,  1.  c.  p.  2,  femer  Heinrich  Lewy,  Philologus,  Bd  52, 
p.  733).  Allein  gegen  diese  Erklärung  wird  der  triftige  Ein- 
wand erhoben,  daß  an  einer  „Stelle  die  Genesia  neben  dem 
natalis  imperii"  ruhig  nebeneinander  erwähnt  werden,  und  sie 
werden    als   zwei   voneinander   verschiedene   Feste    behandelt.      Die 


Mitteilungen  und  Hinweise  631 

zweite  Erklärung  identifiziert  die  Genesia  mit  Parentalia.  Das 
kann  doch  auch  nicht  stimmen,  dachten  sich  die  Alten,  dann  wäre 
doch  H'^Z^Zj-  CT  (der  Genesiatag)  oder  """^b  DT'  (Geburtstag)  über- 
flüssig. Da  kommt  wieder  dieselbe  Schwierigkeit  zum  Vorschein, 
welcher  die  erste  Erklärung  nicht  standhalten  konnte  (b.  Aboda 
Zara  p.  lOa).  Im  palästinensischen  Talmud  (Kl  M  2)  wollte  man 
einen  andern  Ausgleich  finden,  der  aber  gar  nicht  glücklicher  ist, 
als  die  Erkläningen  im  babylonischen  Talmud.  Unter  Genesiatag 
soll  man  die  Geburtstagsfeier  der  Fürsten  verstehen,  während  das 
folgende  Wort  den  Geburtstag  von  Privatpersonen  bezeichnet.  In 
Wirklichkeit  sind  auch  die  zuletzt  erwähnten  Feierlichkeiten  auch 
auf  Könige  zu  beziehen,  wie  aus  einer  Erklärung  (b.  A.  Z.  10  a: 
sein  (des  Königs)  Genesiatag  und  der  Genesiatag  seines  Sohnes, 
sein  (des  Königs)  Geburtstag  und  der  Geburtstag  seines  Sohnes) 
klar  hervorgeht.  Auch  aus  dem  zweiten  Teile  der  Misna,  wo  von 
Privatpersonen  die  Rede  ist.  geht  deutlich  hervor,  daß  dieser 
Unterschied  nicht  besteht,  und  ursprünglich  wird  gar  nicht  S'^sb?:  bc 
gestanden  haben,  sondern  weil  man  nicht  wußte,  daß  zwischen 
Genesia  und  Parentalia  ein  Unterschied  bestehe,  hat  ein  Glossator 
oder  Redaktor  diese  zwei  Worte  hinzugefügt  —  Ebenso  unan- 
nehmbar ist  die  Erklärung  der  Tosefta  (ed.  Zuckermandel,  p.  460, 
Zeile  27).  "^bri  "b"^  ^-  '^'«^  '^^"'  d^r  Tag  eines  jeden  Königs. 

Wie  Schmidt  gezeigt  hat,  waren  die  Genesia  Geburtstag- 
feierlichkeiten für  verstorbene  Personen,  während  die  ysvi&hu 
die  Geburtstagfeier  bei  Lebzeiten  bezeichnete.  Diese  Verwirrung 
in  der  Erklärung  des  Wortes  ist  durch  die  Vermischung  beider 
Begrifie  entstanden.  Aber  nicht  nur  bei  den  Juden  geschah  dieses, 
sondern  auch  bei  den  Griechen  und  Römern  ist  die  wahre  Be- 
deutung des  Woi-tes  ysvsaiu  in  Vergessenheit  geraten  (s.  Schmidt 
p.  40).  Im  spätem  jüdischen  Schrifttum  bedeutet  yeviöuc  schlecht- 
weg: Geburtstag  (so  Genesis  rabba  K.  88;  Pseudo  Jonathan 
targum  zu  Gen.  40.  20;  Targum  Enter  I  zu  K.  III.  V.  8.:  unsere 
(ienesiatage  beobachten  sie  nicht).  Die  frühe  Bekanntschaft  der 
Tuden  mit  den  wirklichen  Genesiafestlichkeiten  ist  aus  2  Macc. 
.7  ersichtlich.  —  Man  trieb  die  Juden  mit  aller  Gewalt  alle 
Monate  zum  Opfei-schmaus,  wann  des  Königs  Geburtstag  gefeiert 
wurde.  Hier  kann  sowohl  vom  Geburtstage  Antiochus  Epiphanes 
wie  vom  Geburtstage  seiner  verstorbenen  Vorgänger  die  Rede  sein. 
Das  Wort  selbst  zeigt  uns,  daß  die  Juden  noch  die  richtige  Be- 
deutung der  Genesiafeier  kannten,  und  die  Erwähnung  der  Paren- 
talia, daß  sie  zwischen   beiden  einen   Unterschied  kannten. 

Diese    Feste    waren    ibnen    verboten    wegen    des   heidnischen 
Charakters. 

Daß  die  Rabbinen  die  richtige  Genesiafeier  ebenfalls  kannten, 
geht    mit   Deutlichkeit    aus    der  Mechilta   (ed.  Friedmann,  p.  136) 


632  Mitteilungen  und  Hinweise 

hervor.  Zur  Stelle  Ex  XII  30  Denn  es  gab  kein  Haus,  in 
welchem  nicht  ein  Toter  war:  „E.  Natan  sagt,  gab  es  denn 
keine  Häuser,  in  welchen  keine  Erstgeborene  waren?  Es  war 
gebräuchlich,  daß  man  das  Bild  (^slkoviov)  der  Verstorbenen  im 
Hause  aufstellen  ließ  und  an  diesem  Tage  —  es  muß  der  Geburts- 
tag sein  —  zerrieben  und  zerstreuten  sie  es  und  dieser  Tag  war  so 
düster,  wie  der  Tag  der  Beerdigung."  Diese  nicht  klare,  allein 
ohne  Zweifel  wahrheitsgetreue  Schilderung  dürfte  an  die  Sühn- 
gebräuche erinnern  (vgl.  Schmidt  p.90).  Die  Parentalia  werden  unter 
yeveöt-a  noch  j.  Ros-hasana  p.  59  ZI.  19  (an  dem  Geburtstage  trifft 
den  Menschen  kein  Leid  und  Unheil)  und  Exodus  rabba  K.  15 
cf.  Jalkutll  175  verstanden. 

Nach  Absendung  des  Mss.  gelangte  ich  in  den  Besitz  (Febr.l9  1 0) 
von  H.  Blaufuß:  Römische  Feste  und  Feiertage  nach  den  Trak- 
taten über  fremden  Dienst.  Nürnberg  1909,  wo  S.  15 — 23  dieselbe 
Frage  besprochen  wird  und  der  Verfasser  zum  Resultate  ge- 
langt, daß  die  zwei  Worte  Geburtstag—  Todestag  nach  Nennung 
der  Genusia  bloß  eine  erklärende  Ausführung  zu  dem  Worte  Ge- 
nusia  sei. 

Vinkovce  (Slavonien)  A.  Marmorstein 

Todsünden.  Neben  der  uns  jetzt  ausschließlich  geläufigen 
Zahl  von  sieben  Todsünden  hat  Marie  Gothein  in  ihrem  interessanten 
Aufsatz  über  die  Todsünden  (Bd  X  dieses  Archivs  S.  416flF,)  auch 
ein  Achtlasterschema  verfolgt,  das  zuerst  in  dem  jüdisch -helleni- 
stischen 'Testament  der  XII  Patriarchen'  (hier  deutlich  sekundär 
gegenüber  den  sieben  Todsünden),  dann  in  christlichen  Schrift- 
stellern des  Orients  (Euagrios  vom  Pontus  und  Neilos)  auftritt  und 
von  da  durch  Cassian  in  die  abendländische  Kirche  übergeht.  Im 
folgenden  möchte  ich  auf  eine  Stelle  hinweisen,  die,  wie  sie  schon 
durch  ihr  relatives  Alter  ein  besonderes  Interesse  besitzt,  so  auch 
in  lehrreicher  Weise  zeigt,  daß  auch  in  diesen  Dingen  wie  so  oft 
die  Neunzahl  mit  der  Siebenzahl  konkurriert,  während  zugleich  in 
der  Neunzahl  noch  deutlich  genug  die  ursprüngliche  Achtzahl  sich 
verrät.  Die  Stelle  steht  in  den  wegen  ihrer  unmittelbaren  Lebendig- 
keit mit  Recht  gepriesenen,  nach  E.  Fabricius  (Bonner  Studien  für 
Kekule  S.  6  4)  zwischen  260— 24  7  vor  Christus,  nach  Andern  etwas  später 
entstandenen  Städtebildern  des  Herakleides  Kretikos  oder  Kritikos, 
die  in  den  Hss.  anonym  überliefert  sind  und  früher  unter  dem  Namen 
des  Dikaiarch  oder  eines  Athenaios  herausgegeben  wurden  (abgedruckt 
FHG  II  260,  verbessert  GGM  1104).  Es  ist  die  wohlbekannte 
böse  Charakteristik  der  böotischen  Städte  (fr.  I  25):  löxoQOvai  6'  of 
Boicorol  rcc  xar'  avrovg  vita^iovra  l'dicc  ccKhjQijixaTa  Xiyovtsg  xavra. 
tijv  fifv  aia'ji^QOKSQÖstav  KuroiKeiv  iv  ^Slgconco,  ror  6e  cpd'ovov 
iv  TavdyQa,  ttjv  cpilovstKlav  iv  Otöiiiaig,  f^v  ^ß^iv  iv  O^ßatg,  tt)v 


Mitteilungen  und  Hinweise  633 

rrXe  ovs^iav  iv  'Av&rjö6vi,  rrjv  nsqitQyiuv  iv  KoQcovaia,  ivUXaxaucig 
iriv  aXu^ovsiav,  rbv  Ttvgetov  iv  Oyjfijffrcö,  r^v  avui6d'i]6tav  iv 
'AkiaQxa.  TciJ'  ix  ndörjg  tr,g  'ElXccöog  cixXrjQrKicau  Big  rag  rijg 
BoKoxiag  rtöXiig  y.axsQQVtj  (an  Archilochos'  cog  Uuvikh'jvcov  OL^vg 
ig  &aaov  öwidga^ev  wird  man  hier  wohl  nicht  zufällig  erinnert). 
'0  GTi'/ipg  ^EQiKQUxovg'  "AvTfSQ  (fQovijg  £v,  g>£vy£  xrivBouoTUiv.  Es  ist  nicht 
uninteressant,  diesen  eigentümlichen  Lasterkatalog  mit  den  späteren 
zu  vergleichen.  Zunächst  ist  festzustellen,  daß  der  Verfasser  gewiß 
der  Wahrheit  gemäß  seine  Aufzählung  nicht  für  seine  eigene 
Schöpfung  ausgibt;  er  hat  in  seinem  Text  vorher  über  Tanagra 
vielmehr  sehr  günstig  gesprochen,  Anthedons  Fischergewerbe  nicht 
getadelt,  von  Oropos  das  Wort  nXsove^ia,  nicht  aiöxQoyjQÖtia  gebraucht, 
die  vßgig  der  Thebaner  allerdings  erwähnt  und  genauer  geschildert 
und  die  ewige  Prahlerei  der  Platäer  mit  ihrer  Perserschlacht  in 
seiner  wirkungsvoll  knappen  Art  vorgeführt,  dagegen  wieder  Thespiae 
rasch  abgetan  und  Koronea,  Onchestos  und  Haliartos  überhaupt 
nicht  erwähnt.  Auf  Herakleides  selbst  geht  also  die  Auswahl  der 
neun  Städte  und  der  neun  Übel  nicht  zurück,  und  es  hätte  daher 
keinen  Zweck,  etwa  den  Zusammenhang  des  Verfassers  mit  einer 
Philosophensekte,  z.  B.  mit  den  Peripatetikern,  falls  er  sich  erweisen 
ließe,  zur  Erklärung  heranzuziehen.  Es  scheint  allem  nach,  daß  es 
sich  um  eine  volkstümliche  Tradition  handelt;  mit  hellenistischer 
Mystik  fehlt  augenscheinlich  jede  Spur  von  Berührung.  Daß  die 
Neunzahl  durch  die  Verhältnisse  von  selbst  gegeben  wäre,  kann 
man  kaum  sagen;  man  sieht  zwar,  daß  nur  südböotische  Städte 
genannt  sind,  so  daß  das  Fehlen  von  Orchomenos  und  Akraiphion 
und  anderen  nicht  auffallen  darf;  aber  Onchestos  war  nicht  selbständig 
und  ist  doch  in  der  Liste  neben  den  selbständigen  Städten  des 
böotischen  Bundes  im  3.  Jahrh.  v.  Chr.  (s.  ihr  Verzeichnis  bei  Cauer 
in  P.-W.  II  657)  aufgeführt.  Ließe  sich  aber  die  Berücksichtigung 
von  Onchestos  etwa  noch  dadurch  erklären,  daß  doi-t  das  den  Mittel- 
punkt des  Bundes  bildende  PoseidonheiJigtum  war  und  der  erste 
Bundesbeamte  daher  auch  aQxcov  iv  ^Oy^riCxä  hieß,  so  weicht  doch 
das  aKX}jQr]^ia,  das  diesem  Ort  zugeschrieben  wird,  von  dem  übrigen 
Schema  völlig  ab,  da  hier  nur  von  einem  Unglück,  nicht  von  einem 
menschlichen  Laster  die  Rede  ist  So  scheint  das  Bedürfnis  nach 
Ausfüllung  der  Neunzahl  den  grimmigen  Witz  wenigstens  mit- 
veranlaßt zu  haben,  der  in  der  Einreihung  des  Fiebers  unter  die 
ursprünglichen  acht  Laster  liegt. 

Man  kann  fragen,  ob  dieser  Lasterkatalog  schon  da  war,  ehe 
er  auf  Böotien  angewendet  wurde.  Zwar  ist  vßQtg  (und  vTieoijtpccvia, 
was  der  Autor  in  seiner  Charakteristik  damit  verbindet)  für  Theben, 
ilu^oviiu  für  Plataeae,  auch  a.vca69i]6La  für  ganz  Böotien  sehr 
bezeichnend;  anderseits  aber  ist  v7C£Qrjq}avia  bei  Euagrios,  und 
namentlich   ccXa^oveia   und    avui69i]6ia    bei    Horaz    ('laudis    amore 


634  Mitteilungen  und  Hinweise 

tumes'  und  4ners'),  also  alle  drei  in  allgemeinen  Lasterscliemata, 
zu  finden.  Auffällig  ist  vor  allem  das  Fehlen  der  neben  der 
ccvaiö&tjötcc  den  Böotern  besonders  oft  vorgeworfenen  yaGXQi^aqyia, 
der  Schlemmerei:  man  sollte  denken,  ein  Böoter  oder  auch  ein 
Böoterfeind  hätte  sie  nicht  übergangen,  wenn  er  dieses  Laster- 
verzeichnis eigens  für  die  Böoter  erdacht  hätte..  Wie  dem  auch 
sein  möge:  jedenfalls  erscheint  hier  wieder  einmal  die  Neunzahl 
vor  der  Siebenzahl,  etwa  wie  die  böse  Neun  für  die  schlimmen 
Weiber  bei  Semonides  von  Amorgos  der  ^ bösen  Sieben'  späterer 
Zeiten  längst  vorausging;  und  umgekehrt  zeigt  sie  sich  als  die 
jüngere  in  der  Auswahl  der  neun  Städte  gegenüber  den  sieben 
Städten  des  alten  böotischen  Bundes  und  dem  sonst  gerade  in 
Böotien  auffallend  häufigen  Vorkommen  der  Siebenzahl  (Röscher, 
Sieben-  und  Neunzahl  S.  4 7 f.),  ungefähr  wie  bei  Röscher  die  neun 
Kykladen  und  wiederum  die  sieben  größten  Inseln  der  Welt  als 
Beleg  für  die  fortgesetzte  Parallele  von  Sieben  und  Neun  neben- 
einandergestellt sind.  Man  lernt  aus  alledem  vor  allem  große  Vor- 
sicht in  der  Behauptung  der  Priorität  für  die  eine  oder  die  andere 
der  zwei  wichtigsten  Gi'uppenzahlen.  Und  im  Perser  des  Plautus 
(IV  4  V.  554 ff.)  sind  der  Laster,  die  einer  wohlgesicherten  Stadt 
fern  bleiben  müssen,  sogar  zehn:  so  kommt  hier  zufällig  gorade 
in  einem  älteren  Zeugnis  eine  dritte  und  seltenere  Gruppenzahl 
zu  ihrem  Recht. 

Heidelberg  F.  BoU 

Nachtrag  zu  dem  Aufsatz  über  die  „Offa  judicialis''. 
(Siehe  S.  525  —  566.) 

Aus  Isländischen  Zaubei'büchern  hat  in  der  „Zeitschrift  des 
Vereins  für  Volkskunde"  XIII  Olafur  Davidsson  zwei  hierher  ge- 
hörige Formeln  veröffentlicht,  die  beide  den  Gebrauch  des  Ordals 
im  Zauber  für  Island  erweisen. 

Die  erste  S.  271  Nr.  10  lautet:  „Wenn  du  bestimmt  wissen 
willst,  wer  dich  bestohlen  hat:  Ritze  folgende  Worte  auf  Brot  oder 
Käse  oder  irgend  eine  Speise  ein  und  gieb  sie  dem  zu  essen,  gegen 
den  du  Verdacht  hast,  so  kann  er  sie  nicht  verschlucken  und  giebt 
sich  also  selber  an  oder  gesteht  es  ein.  Die  Worte  sind  diese:  makk, 
rakk,  fenakk."  Aus  einer  Kreddurhd.,  deren  Gi-undlage  nach  S.  160 
aus  dem  17  Jahrhundert  stammt;  in  der  vorliegenden  Form  neuer. 

Die  zweite  S.  274  Nr.  35  lautet:  „Hast  du  jemanden  in  dem 
Verdacht,  dich  bestohlen  zu  haben,  so  schreibe  diese  Worte  auf  Käse 
oder  Brot  und  lasse  es  ihn  essen:  paxx  magx  x  vix  ax  x.  Kann 
er  es  nicht  verschlucken,  so  ist  er  schuldig." 

Weitersweiler  A.  Jaooby 

[Abgoschlossou  am  31.  Oktober  1910] 


Register 

Von  "Willy  Link 

Man  beachte  besonders  die  Artikel  Opfer  und  Zauber. 


Abendmahlsprobe       533; 

561  ff. 
Abeudraahlsriten  543  tf. 
Aberglaube    14  f.;     20  ff.; 

75ff.;  153ff.;388;402ff.; 

466;475ff.;526ff.:626ff. 
Ablanathanalba  624 
Ablanatho  624 
Abraham  100;  105  f.;  154; 

181,0;  349,1;    353;    540 
Abwehrzauber  27ff. ;  40  ff. 

77 ff.;  156 ff.;  193;  371 

408: 410; 412; 438; 454 

488:     496:     529;     532 

627f 
Achtzahl  632  f. 
Adaml04f.;  109:  516; 5 18 
aer  314;  331  ^ 
Agni  145 
Ahnengötter  420 
Ahnenkult      111;       116; 

118ff.;  377:    379:   442; 

625 
Ahnenseelen  419  f. 
Alexander  94 f.;  16lff.;  — 

u     Esau     109,4;    —    u. 

Moses  95;  223;  228  f.; 

—  sZug  zum  Land d.  Se- 
ligen 182  ff.; zum 

Paradies  199  ff. 
Altchristliches        291  ff.; 

533;  536  ff.:  558  ff. 
Alttestamentliches   75  ff. ; 

4731;  529 
Amaterasu  378:  385 
Amazonen  204:  208:  245, i 
Ammon  541 
Amon  355  f 
Amulett  14 f.;  30;  38:  83; 

347;    370;  406  ff. :  428; 

455 
Anaitis  264  ff. 


Analogiezauber  34,i ;  414 ; 

416;  434  f.;  466 
Anaximander  306;  308  ff. ; 

330 
Anaximenes     306 ;      308 ; 

312  ff.;  330  f. 
Angliederungszeremonie- 

en  449  ff. 
Anhauchen  521  f. 
Animismus     112:     119  f.; 

401  ff.;    414 ff.;    426  ff.; 

445  ;  456 
Anubis  549;  624 
Aphrodite  248;  252;  259; 

261;263:265f;  317;  573 ! 
.\pis  53,1;  64  ff. 
ApoUon  63;    324 f.;  478t, 
Arbeitsgesänge  413;  438  f 
Archäologisches  47f. ;  55f. 

57,1;  61" f.;  68:  70,1;  72 

148;  159:  237;    334  ff. 

354  ff.;    359  f.;    367  ff. 

509;  572;  587  f. ;  603  ff. 
Ares  261;  263;  317;  326 
Artemis  248;  252;  254  tf. ; 

262; 264; 266;  268; 325; 

57lif. 
Asklepios  58;    72  f  :    574 
Astarte  84;  265,> 
Astralmythologie  351;  460 
Astrologie  u.  Christentum 

304  f. 
Aten  355 
Athene  252;  254 ff.; 262 ff.; 

317;  326 
Äther  318;  323;  329; 331 
«roxior  4ff. ;   13  ff. 
Attis  253 
Attribute   d.  Götter   378; 

462;  — d.Heiligen334f.; 

338ff  ;  —  d.Mondwesen 

463 


!  Atumä  358 

Auferstehung  durch  Tau 
I      u.  Regen  46 
1  Aura  627  ff. 

Ba  366  f. 

Baal  84 

Babylonisches  28  f.;  96; 
99.4;  185,5;  202 ff.;  224; 
288;  —  in  d.  Lebens- 
quellsage 195  ff. 

Bat  356 

Baumgötter  386 

Begräbnisriten  40  f  :  43  f. ; 
354;    359;    362 f.;    368; 
\      378;  626 
I  Bei  Zarbü  60 
!  Bergdämon  173,6;  242,3 
;  Berggötter   386 ;  420 
;  Beschneidung  84;  451 

Beschwörung  526  f.;  536; 
624;   627  tf. 

Beschwörungsformeln 
173,6;  303;  627  ff. 

Beschwörungswasser,  Be- 
gießen mit  B.  28 

Besprengung  mit  Blut 
32,2;  79;  81;  —  mit 
Wasser  30 ff.;  89;  158; 
542 

Beten,  leises  u.  lautes 
619  ff. 

Bilder  apotropäisch  455 

Bilderraub  571  f. 

Binden  u.  lösen  499,2 

Blick,  böser  34  f.;  38; 
453  f. 

Blut   beim  Bündnis    550; 

—  beim   Eid  442;    — 
i.  Zauber  s.  unt.  Zauber; 

—  u.  Milch  547  ff. ;  555 
Blutbund  550 


636 


Register 


Blutfarbe  339  f.;  342  f ;  548 
Blutrache  328 
Brautbettbenediktion 

157  f 
Brettspiel  i.  ägyj)t.  Grab. 

369  f. 
Brot   i.  Kult    u.   Zauber 

526  ff.;    —   u.  Käse  als 

Abendmahlselemente 

543  f. 
Brote,  süße  559  f. 
Buddha  282;  393  f.;  579  f; 

58-2;       586  ff.;     597  ff.; 

603  ff.;  620  f;  —  s  Tod 

611  f.;  — Wunder  586  f. 
Buddhismus  112  f.;  115  f.; 

118;132ff.;143ff.;152; 

276;  281;  —  in  Indien 

578  ff.;  —  in  Japan  375; 

379 ff.;  388ff.;   397;    - 

u.  Christentum  582 ;  614 
Bündnisriten  75:  550  f. 
Buto  357 

Chadhir92ff.;  191,1;  225; 
229  ff. ;  — ,  Abstammung 
103;  —,  Engel  106;  — , 
Name  95;  231  ff.;  474 f.; 
— ,  Retter  in  Not  97; 
— ,  Schutzgottheit  d. 
Schiffer  238  ff.;  —  u. 
Abraham  105  f, ;  —  u. 
Adam  109;  —  u.  Ahas- 
ver  110;  —  u.  'Ämil 
108;  —  u.  Chasisatra 
99,4;  —  u.  d.  Christen- 
tum 99  ff  ;  —  u.  d. 
heil.  Georg  110;  —  u 
d.  Messias  107  f  ;  —  u. 
d.  Synkretismus  93; 
234,4;  474;  —  u  Elias 
96  ff.;  103;  241;  243,2; 

—  u.  Elisa  97;  241;  — 
u.  Esau  109;  —  u.  Glau- 
kos 235  ff. ;  —  u  Henoch 
108;  —  u.Jeremia  108,4; 

—  u.  Lot  105,«;;  —  u. 
•Malkisedek  100;  103  f.; 

—  u.  Moses  109;  240; 
474;    —    u.  Seth    109; 

—  u.  Thomas  475;  — , 
Wasserguttheit  238 

Chadhirlegende,Ur8prung 

94' ff. 
Charaktere  9 


Christentum  in  China  114; 
117;  138;  152;  —  i. 
Japan  375;  —  u  Bud- 
dhismus 582;  614;  —  u. 
d.  ägypt.  Relig    348  f. 

Christus  282  ff.;  348  f.; 
533;   —    u.  Pan  467  ff. 

Circe  u.  Marica  571;  574 

Dämonen  27  ff.;  35  ff ;  40ff. 

75tf.;81ff.;112;  156f. 

173f.;189ff.;271f.;329 
,    358;  365;    370  f.;    402 

407;    411  f.;    415;   426 

428  ff.;  490;  519;  561  ff. 

62:^.;  628  ff. 
Daniel  538  f. 
dea  dia  484 
Demeter  55;  63  f.;  326 
Diana  248;  250;  569  ff. 
Dike  326;  476 
Dionysos  50;  53;  59;  71; 

324  f. 
Dioskuren  62 
Dis  pater  58;  73 
Donnergötter  386 
Dreiheit  d.  Götter  248  ff.; 

263  ff  ;  275 
Dreiteilung  d  .Seele  248ff.; 

305,1 
Dreizahl     34;     37;     164; 

166;  463  f.;    495;    630; 

534;  556 
Dyaus  120 

Ea  198,3 

Echelos  61;  63 

Eid    441  f.;    — ,    Sünden- 

bockidee  beim  E.  155; 

— ,    von    d.   Sektierern 

nicht  geleistet  274 
Eingeweideschau  90 
Ekstase  276ff.;  579t'.;  598 
Elemente  264;  307  ff.;  — 

als  &Boi  313;  321 
Elias  96  ff.;    103;    106  ff.; 

241  ff. 
Elisa  97;  241 
Engastrimythen  622  f. 
Engel  84;   106;   286;  52.^ 
Ephesia    grammata    533 ; 

536 
Erddämonen  75  ff. 
Erde,  Element  307 ;  810  ff.; 

—  i.  Eid  442 


Erdgötter  386 

Krdkult  121  f  ;  125 

I- rinnyen  326 

Eros  263 

Erstgeburt,    Weihung   d. 

E.  82 
Eschatologisches  46;  290; 

364  f. 
Essen  d.  Gottes  445  f. ;  — 

d.    Opfers    453;    —    u. 

Trinken    d.  Eides   442; 

von  mag.  Formeln 

529 
Ethik   i.  Jainismus    617; 

—  i.  Jap.   383;    396  f; 

—  i.  Konfuzianismus 
127;  130;  —  i.  Taois- 
mus  130;  — ,  sexuelle  E. 
bei  d.  Griechen  1  ff. 

Exorzismus  29;  527;  532; 

536 
Eva  353;  516;  518 

Familienkult  378 
Fascilina  569  f. ;  576  f. 
fasten    193;    426;    452  f.; 

528;  534;  536 
Fiiunus  483;  486  ff.;    498 
Feldgeister  79 
Fernzauber  403 ;  434  f. 
Fetisch  406  ff.;  415;  4-22: 

424;  485,2 
Fetische,  Formen  410  f. 
Fetischismus    112;     288; 

4()8;  414 
Feuer,  Element  249;  259; 

263  f.;  307  ff.;  —  i   Eid 

442 
Feuerdämon  84 
Feuergott  386 
Feuer  Verehrung  113;  249 
Fieberdämonen  629  f. 
Firmicus  247  ff.;  292  ff. 
Fisch  als  Seelenform  366  f. 
Fiachsymbol  239 
Flußgötter  386 
Formeln,  magische  s  Zau- 
ber; — ,  rituelle  302  f.; 

362 
Fruchtbarkeitszauber  458 

Ganymedes  477 

Gebete  291  ff;  302,i;  338 
414  f;  426;  431;  489 
495;  626  f;  632;  636  ff. 


Resrister 


637 


559;  619  £F.;   627  flF.;  — 
wirksam  während  d.  Re- 
gens "25  f. 
Gebetsformeln  302  f. 
Gebildbrote  446;  626 
Geburt  aus  Steinen  5 10  ff. 
Geburtsriten  145;  147 
Geister   28;    30;    38;    77 
79:  84;  112:  407;  409 f. 
414  ff.;  418  ff;  426;  428 
430;  432  f.;  518  f.;  529 
558;    597:    630;    —    n 
Tiere  360 
Genesia  630  ff. 
Genita  Mana  504 
Georg,  d.  heil.  G.  110:273 
Geschlechtliches  lff.;84; 
147;  156  ff.;  421;  446 f.; 
450;     452;     454;     458; 
493 ;  509  ff. 
Gestirne  als  ö-aoi  32 1 
Glaukos  96;  235  ff. 
Glaukossage  191  ff. 
Golgatha  629;  -  u.Adams 

Grab  104,4 
Gott  u.  Priester  285;  287 
Götter    119  f.;    139;    145; 
354ff.:378:385f.;4l8f.; 

—  als  Abstraktionen 
317;  —  als  Menschen- 
schöpfer 259:  263;  — , 
Beziehung  zu  den  Ele- 
menten   317;    331;    — . 

—  zu  Körperteilen  268 ; 
260  ff.:  — ,  —  zu    See- 
lenteilen 248  ff;  255  ff. 
— ,     Dreiheit     248  ff. 
263  ff.;  — ,  getötet  415 

-  ,  Schaden  bringende 
358;  423;  — ,  semit.  in 
Ägypt.  358:  —  u.  Men- 
schen 444;  — ,  Verhält- 
nis zu  Bild  und  Kult- 
stätte 327  f. 

Götterattribute   378;   462 

■Götterbilder  49  ff.;  65  ff.; 
327;  360;  422;  534; 
571  f.;  574 

Götternameu  63;  323; 
358:  365,5:   489:   574  f. 

Götterzepter  366 

Gottesurteile  525  ff. 

Grabbeigaben  354;  367  ff. 

Gräber  355 :  367  ff. 

Grenzriten  448 


Hades    50;    53;    61:    63; 

78;  324  f. 
Hadesfahrt  557 
Haine,  heilige  430:    570; 

573;  575 
Hand    81  f.;    455  ff.:     — , 

Bestreichen   mit    d.  H. 

39;    — ,    rechte     72  f.; 

455  ff. ;  —  u.  Eid  442 
Hände,  Bezieh,  zu  d.  Him- 
melsrichtungen 455 
Harn,  Seele  i.  H.  513 
Hathor  357:  371 
Hauchseele  403  f. 
Hauskult  378 
Heilgesänge  440  f. 
Heilgott  139 
Heilige  333  ff. 
Heiligenlegenden  336 ;  339 
Heilungs wunder,  psychol. 

Deutung  282  f. 
Heilzauber  26;    30:   276; 

282  f.;    336;    403;   434; 

438  ff.:  492  f.;  561 
Hekate  254  f;  258:  266  ff. 
Helios  319:329;476f.;541 
Hera  70;  266,i;  549 
Heraklit  306;  308;  315  f.; 

320  ff. 
Herrn anubis  624 
Hermes  61:  63;  259;  263; 

317;  476  f.;  540  f.:    — , 

chthon.  624 
Heroen  386 
Heroenkult  442 
Himmel,    Begriff   bei    d. 

Chin.  118  ff.:  122  f. : — 

i.   Eid  442 
Himmelfahrt  d.  Dionysos 

50 
Himmelsdämonen  411 
Himmelsgötter  418 
Himmelskult  118;  122 
Hinayäna  136;   393;   607 
Hochzeitsriten    31:    32,2; 

145;  148;  156  ff.;  448  f. 
Honig  im  Kult  544  f. 
Horus  365 

Hostien,  Herstellung  559f. 
Hydrocboos  476  f. 
Hymnen  126;  355;  549 


lao  540  f. 
Initiationsriten  452 


ira    als    Seelenteil    249; 

251  f.;  256  f.;  262 
Isis    57,1;    58;    60;    70  f.; 

73  f.;  253;  352;    365  f.; 

549;    -   Pharia  55 
Islamitisches  20  ff.;    34,i; 

—  bei    d  ChineE.  114; 
116:   152 

Jahve  420 

Jainismus  615  ff. 

Jakob  349,1;  540 

Jesua  154 

Josua  95;  99;  226,3 

Judentum  in  China    114 
ISO  ff. 

iudicium  offae  525  ff. 

Jüdisches  34,I;  41,4;  45f. ; 
75  ff.;  96  ff;  107,3:520; 
530;  —  i.  d.  griech.  Me- 
dizin 1;  18 

Juno  496  ff.:  —  Moneta 
248 

Jupiter  50;  58;  304 

Ka  366 

Kaiserkult  379 

Kaie  173;  188,2;  190,0: 
193,5;  194;    220;    242,3 

Käae  i.  Kult  543  ff  ;  — 
macht  unsterblich   555 

Keuschheit,  kult.  265 

Kindermythologie  271  f. 

Knabenliebe  446  f. ;  452 

Knochen  zerbrechen  ver- 
boten 153  f. 

Konfuzianismus       112  f. 
115  f.:  123  f.;  126;  144 

—  i.  Japan  375;  380f. 
388;  394  ff.;    — ,   Ethik 
i.  K.  127;  130 

Kopf,  Verhüllen  d.  K.  449 
Köre  63  f.;   74;  262 
Körperseele  403;  405;  412 
Körperteile,     Bezieh,    zu 

Göttern  258:  260  ff. 
Krankheitsdämonen  34  ff. ; 

438 
Kreuz  479;  528;  531:539 
Kreuzzeichen  81;  83 
Kultgründungen,  mo- 
derne 275 
Kultstätten    124  f.;     378; 
388 


638 


Register 


KultübertraguDgen  54  iF.; 

571  flf. 
Kultus,  Entstellung  277  f.; 

— ,  Verhältnis  z.  Mythus 

275  ff. 
Kultvereine  360  f. 

Lachen  i.  Kultriten  498  ff 
Lamaismus  142  ff.;  150 
Lao    tse    112 f.;     127  ff.; 

387;  394 
Lebensbaum  207 
Lebensquellsage       94ff. ; 

162  ff,;    179  ff;    206  ff.; 

221  ff. 
Lebensrute  496 
Lebensspeise  198,3 
Legenden,  jainist.  618 
Legendenijildung  93; 

196  f.;  341  ff. 
Liber  489 
libido  als  Seelenteil  248 ff.; 

257;  259 
Liebeszauber  38 ;  438 
Löwe  als  Symbol  73;  107,3 
Lucio,  San  333  ff. 
Lnpercal  486 
Luper calia  481  ff. 
luperci,  Name  481  ff. 
Lupercus  489 
Lustratio  90;  497  f.;  502; 

505 

Magna  Mater  574 
Mabäyäna    132  ff.;     390; 

392  ff.;  581;  603;  607 
Malkän  103  f 
Malkisedek   lOOff.;  154 
Mana  421;  424  f.;  427 ff.; 

435;    455;    — ,    Bezieh. 

z.  Animismus  427 
Manichäismus       bei       d. 

Chiiies.   113  ff.;  149 
Manna  552 
Maranatho  624 
Märchen  413;  459 
Marica  567  ff.;  —, Nymphe 

673;  —  u.  Diana  573  ff. 
Mars  484;  486 
Mazdeismus  bei  d.Chines. 

116 
Meineidszeremonien  164  f. 
Meng  tse  125;  127 
mens  als  Seelenteil    249; 

251  f.:   257;  262 


Mensch  aus  4,  7  u.  12 
Teilen  268  ff. 

Menschen  u.  Götter  444 

^riQia  86  ff. 

Messias  107  f.;  154;  271; 
283;  — ,  falscher  283  ff. 

Milch  498;  —  beim  Bünd- 
nis 550  f. ;  —  i.  Kult 
544  f.;  557;  —  macht 
unsterblich  549  f.;  555; 

—  u.  Honig  als  Abend- 
mahlselem.  547;  —  u. 
Taufe  554 

Milchbund  550  f. 

Mithras  247;  249;  259; 
264  ff;  509 

Mond  82;  323;  329;  351; 
453;  462  f.;  — ,  Ab- 
nahme ominös  44,4 

Mondgott  386;  464 

Mondmythen  462  ff. 

Monotheismus  i.  d.  ägypt. 
Rel.  355;  364 

Moses  95;  99;  109;  152; 
222  ff.;  240;  242;  246; 
349,1;  474 

Muhammed  96;  98;  223; 
227,0,,^;  228  f.;  243,2 

Mumienübertragung    360 

Musik,  rituelle  126;  413; 

—  u.  heil.  Zahlen  439; 
— .  Ursprung  437 

Mylitta  265 

Mysterien    328;  353;  557 
Mythenbildnng  270  ff. 
Mythus,  Entstehung  276  f. 

Nachahmung  i.  d.  Religion 

280  ff. ;  —  u.  Eid  442 
Nacktheit  491;  629 
Nabrnngsgöttin  386 
Namenaberglaube    475  ff 
Naturgötter  386 
Naturverehrung  116;  118; 

377 
Neilos  61 
Neith  358,2 
Nekyia,  Zaubersang  i.  d. 

N.  624 
Neleus  61;  63 
Nemesis  477 
Nereis  173 
Nereus  193,5 
Nestorianertum      bei     d 

Chines.   114:  116;  149  f. 


Neunzahl  37 ;  463  f.;  632 ff.    \ 
Neuplatonisches  247  ff. 
Neutestamentliches    153; 

155 
Ngilingili  408  ff". 
Niesen  597 
Ningal  358 
Nukar  358 
Nymphen  62  f.;  573 
Nyx  625 

Okkultismus  436 

Opfer85fl'.;126;193;365; 
414;  431;  446;  453; 
489 ;  —  Ahnenopfer 
121  f.;  146;  —  an  Hei- 
lige 341;  —  Bildopfer 
625  f. ;  —  Eidopfer  85 ; 

—  Erdopfer  121;    125; 

—  Erlösungsopfer  153; 

—  Götzenopfer  562 ;  — 

—  b.  Paulus  561;  — 
Grenzopfer  86 ;  —  Haar- 
opfer 239;  —  Himmels- 
opfer 503  ff.;  —  Löse- 
opfer 81 ;  —  Menschen- 
opfer 86  ff.;    119;    279: 

360;  453; ,  Ersatz 

87  f.;  500;  —  Passah - 
opfer  82;  —  Speise- 
opfer 88;  -  Sühuopfer 
86;  463;  —  Tieropfer 
80  f.;  85  ff.;  626;  — 
Totenopfer362,8;  625 :  — 
Türschwellenopfer  80  H'. 

Opferblut  79  ff. 

Opferschau  86;  90 

Opfertiere      86  ff. ;      45^; 
489  ff.;  498;  — ,  Ersat 
625  f. 

Orakel  258;  330;  — ,  Am- 
monisch.  70;  — ,  chal- 
däisch  255;  — ,  Delpli. 
54;  56;  68;  65;  71 

Orenda  404;  421  ff  ;  485 
479 

Oserapis  63,i 

Osirapis  67 

Osiris  58  f.;  66  ff.;  7.-i: 
263;  273;  284;  347;  352; 
361ff;549;— u.Cheuti- 
Amenti  364;  —  u.  Dio- 
nysos 50; 53;  —  u.  So- 
rapis  63;  68;  60 

oilai  89 


Register 


639 


Pan  489 ;  — ,  Tod  d.großen 

P.  467  ff. 
Pananimismus  -402 
Pandora  259 
Paradies     167,iO;     183,6: 

190,0;  199ff;  211;  234,0; 

619 
Pai-adiesströme     199,3; 

201:  206,1:  207 
Parammon  541 
Parentalia  630  ff. 
Parthenos  476  f. 
Passahmahl  153 
Paulus  281;  561  f. 
Persephone  64  ;  254  ff. ;  266 
Persisches  186,0 ;  249 ;  496 : 

518;  556  f. 
Personifikationen  120 ;  382 
Pflug,  rel.  Bedeutung  458 
Pflugkultur,     Entstehung 

457  ff. 
Phallus    83  f;    357:    383; 

404:  458 
Pherekvdes    317 ff.;    326; 

330  ' 
cpQ-OQci  2 f.;  9;   17 
(pd-OQiov  4 ff.;   13 ff.:   17 
Pluto  50;  52 ff.;  59;  63 ff.: 

69;   71;   74;  256 
Poseidon  263 
Präauimismus  401f ;  424  f ; 

429;  433:  439;  441 
Priester  u.  Gott  285;  287 
Probe  mit  dem  geweihten 

Bissen  526  ff. 
Propheten  622  f. 
Proserpina  50;  52;  54;  71 
Prozessionen  34,i;  338 
Psychologie  i.  d  Religion 

280  ff. 
Ptah  357 
Pubertätsriten  454 

Quell  entspringt  an  d. 
Märtyrerstütte  339;  — 
heilkräftig  84 

Ra  347;  350 

Rechtfertigung  i  Buddhis- 
mus 619:  —  i.  d.  Japan. 
Relig.  391 

Regen  25 ff.;  44,4;  46 

Regengötter  386;  418; 
420:  436 


Regenwunsch  20  ff. ;  26  f. ; 
44  f. 

Regenzauber  34,i;  414; 
438;  444;  627 

Reinheit,  kultische  328 

Reisezauber  32:  80  f. 

Reisprobe  533  f. 

Reliquien  342,i:  604:  613 

Rennut  357 

Resef  358 

Riten  bei  d.  Wiedergene- 
sung 80;  — ,  ihre 
psycholog  Entstehung 
275  ff  ;  — ,  sexuelle  452 

Robigus  505 

rote  Farbe  339 f.;  342 f.; 
548 

Safech  357 

Salben  z  Dämonenabwehr 
371 

Salz  i.  Eid  442 

San  Lucio  333  ff. 

Sarapis  53;  65 ff.;  476 

Satis  357 

Saturn  477 

Schadeuzauber  411;    438 

Schattenseele  403 

scheren  32;  239.4;  449 

Schiffszauber  239;  466 

Schlange  52;  72 f.:  353; 
357;  522;  —  als  Fetisch 
411;  —  als  Götterattri- 
but 249;  268;  — , 
Seelentier  405 ;  412:  — , 
Totemtier  406 

Schlangenzauber  564 

Schüsselzauber  466 

frechem  366 

Seele  Ulf.:  131;  146; 
— ,  Dreiteilung  d.  S. 
248;  305.1;  —  i.  Blut 
403 f.;  —  i.  Harn  513; 
—  i.  Sperma  447;  — 
i.  Nieren  403  f.;  — , 
Siebenteilung  d  S.  261 ; 
— ,  Ursprung  435 

Seelen  329;  366:  370: 
402 ff;  433;  459;  — , 
durstige  627 

Seelenstoff  329 

Seelenteile  249 ff.;    255 ff. 

Seelentiere  405 ff. ;  412 f.: 
420 

Seelenzauber  404  f. 


Selene  476  f. 
Sem  101  f.;  104  f. 
Semitisches     28  f.:     34,i; 

41.4;  45f.;  630ff 
Serapis   47 ff.;    53;    58 ff.; 

352 
Seth  109:  199,3;  365 
Sbinto  375 ff.;    395;    :;97; 

—  bei  d   Chin.  114 
Siebenzahl    13:    37;    39; 

46;      68;     217;      259f.; 

304;  598;  629;  632  ff. 
Simson  349,1 
Sol  304 

Sondergötter  419;  430 
Sonne  321;  323;  329 
Sonnengott  418 
Sonnengöttin    378;    385  f. 
Sonnenkult  347;  351;  365 
Sothis  357 
Speien  521  ff. 
Speiseverbote  406;  424 
6(püyia  85  ff. 
Spuckgeburt  521  ff. 
Stäbe,  heil.  366 
Stein    beim    Bündnis   75; 

—  i  Eid  442;  — ,  ma- 
gisch s.  Zauber 

Steingeburtsagen  509  ff. 

Sterbende,  Fortziehen  d. 
Kissens  b.  St.  626;  — , 
Riten  b.  St.  39  f. 

Sterne  321:  323;  329;  351 

Sterngott  386 

Sühnriteu  499;  507:   632 

Synkretismus ,  astrologi- 
scher 476  f  ;  —  i  Ägypt. 
364 f.;  — ,  relig   304 

Tabu     28;     358,   7;     399; 

424;  443 ff.;  447 
Tage,  günstige  u  Ungunst. 

366 
Talismane  406 
Tanen  357 
Tao  128ff :  387 
Taoismus    112  f.:     115  f.; 

127ff.:142;144ff  ;152; 

395 
Thaies  306;  308;  330 
Themis  476 f.;  541 
Thoth  366;  624 
Tierdenkmäler  359  f. 
Tiere     als     Seelentriiger 

405;     — ,     heilig     359; 


640 


Register 


371;  i.  Kult  405;  —  u. 

Eid  442 ;  —  u  Geister  360 
Tierkult  347;  358 ff.;  399; 

419 
Tiermumien  358  f. 
Tierzauber  37 1 ;  405  f. ;  408 
Tobiasnächte  156  f. 
Todsünden  632  ff. 
torüna  378 
torii  378 
Totemismus    358,7;     399; 

405 f.;  422;  424 f.; 444 f.; 

490 ;  — ,  Ursprung  405  f. 
Totemtier  405  f. 
Totenbeigaben  354;  367  ff. 
Totenbuch  361  ff.;  370 
Totengebräuche  20  ff  ;  30 ; 

40  ff.;   111;  145  f;  148; 

159 f  ;  368;  449 f.;  453; 

556 
Totenseelen  370 ;  416 ;  421 ; 

428 
Träume    49  ff.;     56;     65; 

71;    86f.;    132;     431f.; 

434 f.;   460 ff  ;   — ,   ero- 
tische 512;   516;   518f. 
Trennungszeremonieen 

449  ff 
Türe,     Heiligkeit    d.    T. 

448;  — ,  Heimkehrende 

dürfen  nicht  durch  die 

Tür  gehen  80 
Türpfosten ,     Bestreichen 

d.  T.  30;  81  ff. 
Tyche  55 
Typhon  253 

Uranos  120;  317 
Uschebti  368  f. 

Vampir  169  f. 
Varuna  120 
Vegetationsdämonen  411; 

499 
Vegetationsgötter       365 ; 

11 9f. 
Venus  u  Marica  671 ;  573  f. 
Verbote,     religiöse    153; 

406;  424 
Verhüllen   d.  Kopfes  449 


Vierzahl  .^39 

Vision  276 f.;  285;  545 

Vogel  als  Seelenform  366 ; 

—  als  Seelen tier  412 
Vögel,     göttliche    170  f.; 

175;   177;   180,3;   183 

Wallfahrten  3 36  ff. 
Waschung  28;  448;  496; 

562 
Wasser   i.   Abergl.  20  ff. 

27 ff.;    32 ff.;    336;  442 

—  i.    Kult    32,6;    544 
559 f.;  S.a.  Besprengung 

Wassergeist  84;  575,2 
Wassergötter  28;  386 
Wasserzeremonieen  28 f. 
Wein  i.  Grabritus  44,3 ;  45,2 
Weissagung  622  f. 
Weissagungszauber   76 ff. 
Wiedergeburt     80;     285; 

452;  585 
Wiedergeburtszeremonie 

501  ff: 

Winde  als  Krankheit  er- 
regende Dämonen  628  f. 

Windgötter  386 

Wolle  i.  Kult  601 

Wunder  48  f. ;  56 ;  598 ;  604 

Wunderpflanze  76ff.;  516; 
518 

Wundersteine  201;  206; 
515  ff. 

Wundertier  76  f. 

Wunschformeln  20  ff. ;  45  f. 

Yen  Hui  125 
Yoga  287;  679 

Zahl  40:  2;  17  f;  618 

Zahlen,  heil  u.  Musik  439; 
— ,  mytholog.  284;  — 
u.  Eid  442;  — ,  un- 
gerade 37  f. 

Zag  317  ff. 

Zauber  370 ff.;  383;  402; 
414;  — ,  Ursprung  404; 
415 f.;  433;  s  a.  Ab- 
wehrzauber, Analogie- 
zauber,      Fernzauber, 


Fruchtbarkeitszauber, 
Heilzauber,  Liebeszau- 
ber,Regenzauber,  Reise 
Zauber,  Schadenzauber, 
Schiffszauber,  Schlan- 
geuzauber,Schüs8elzau- 
ber,  Seelenzauber,  Tier- 
Zauber,  Weissagungs- 
zauber; —  Aufschrifter 
529 ff.;  538 f.;  541;  — 
Blick  78;  —  Blut  32,2 
77ff  ;  498 ff.;  —  Broi 
526 ff.;  634;  —  Buttej 
531 ;  — Engelnameu536 
628;  630;  -   Feuer  535 

—  Formeln  346:  358: 
361;  364;  370ff  ;  455 
499;  529;  532f  ;  536 
560;  6:^4;  —  Gesäng( 
413;  437 f.;  —  Haucl 
403 f.;  —  Hostie  558 
561  f.;  566;  —  Käse 
526ff.;634;  — Knocher 
76;  —  Knoten  370;  — 
Kraut  192;  198, l;  — 
Kreis  488;  —  Medizir 
407;  —  Menschenblui 
77;— Nacktheit  491;- 
Pflanzen  407 ;  —  Regen 
Wasser  29  f.;  —  Speiche 
522;  —  Spiegel  32,8 
Sprüche  346;  —  Steine 
175;  407;  —  Tänz( 
413;  —  Tau  46,2;  - 
Tierblut  78;  —  Umlau 
488;  490tf.;  — Urin  77 

—  Wasser  28ff  :  34  ff. 

—  Worte  276;  414;  426 
536;  566;  634;  -  Zei- 
chen 530  ff.;  538  ff;  564 

Zauberkraft  403 

Zehnzahl   202;    620:    634 

Zemzembrunnen  39  f. 

Z^v  324 

Zerubabel  164 

Zeus  47;  61;  63;  70;  120 
263;  272;  319;  824 
331;420;— ,chthou.624 

Zucken  466 

Zwölfzahl  260 


Druck  von  B.  O  Teubnor  in   Dresden 


BL 

A8 

Bd. 13 


Archiv  fUr  ReligionswiBsan- 
schaft  vereint  ndt  den 
Beiträgen  zur  Religione- 
v.lss8nschaftlichen  Gesell- 
schaft in  Stockholm 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 


UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY