Univ.of
TOROKTO
Library
BJNDINe USTAÜG 1 3 1923
/
ARCHIV
FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFT
NACH ALBRECHT DIETERICH
UNTER MITWIRKUNG VON
H. OLDENBERG C. BEZOLD K. TH. PREÜSZ
I
IN VERBINDUNG MIT L. DEUBNER HERAUSGEGEBEN VON
RICHARD WÜ^^SCH
VIERZEHNTER BAND
MIT 2 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 1 TAFEL
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG 191 1
SL
/de/, /4
±.
y
Inhaltsverzeiclinis
I Abhandlnngen s«it«
Das Fischsymbol im Judentum und Christentiun von I. Schef-
telowitz in Cöln a. Rh 1
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore, suivie de
recherches Bur la marque dans l'Antiquite par Paul Perdri-
zet, Nancy. Avec une planche 54
Das Alter des israelitischen Versöhnungstagee von Hubert Grimme
in Münster i. W. Mit einer Abbildung im Text 130
Bleitafeln aus Münchner Sammlungen von A. Abt in OflFenbach a. M.
Mit einer Abbildung im Text 143
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro. Original-
aufzeichnungen von Eingeborenen von J. Raum, Missionar in
MoBchi 159
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum von L Schef-
telowitz in Cöln a. Rh. Schluß ■ . 321
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods von Konrat Ziegler
in Breslau 393
Religio und Superstitio von W. F. Otto in München 406
Die älteste griechische Zeitrechnung. Apollo und der Orient von
Martin P. Nilsson in Lund 423
AXi^avzt^ von 0. Immisch in Gießen 449
II Berichte
1 Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 von K. Th.
Preuss in Berlin 212
2 Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 von Carl Meinhof
in Hamburg 465
3 Vedische Religion 1907—1910 von W. Caland in Utrecht . . 497
4 Griechische und römische Religion 1906 — 1910 von Richard
Wünsch in Königsberg Pr 517
6 Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte des
Mittelalters und der Neuzeit von Albert Werminghoff in
Königsberg Pr. ... 603
IV Inhaltsverzeichnis
III Mitteilungen und Hinweise
Von L. Deubner (Moderner Totenkult) 302, (Volkskundliches) 304,
(Berichtigung) 305, (Zum Argeeropfer) 305; A. Hellwig (Anthro-
pophyteia) 306; L. Curtius (Christi Himmelfahrt) 307; J. Gold-
ziher (Magische Steine) 308, (Zu Archiv XIII 153) 309; B. Kahle f
(Schwimmendes KruziBx) 309, (Zum Nerthuskult) 310; A. v. Doma-
szewski (Exsuperatorius) 313; M. Lidzbarski (Zur Chadirlegende)
313; L. Radermacher (Berührungszauber) 314; 0. Janiewitsch
(Volkskundliches aus Rußland) 315, (Volkskundliches aus der
Ukraine) 315; H. Usenerf (Zu den Mysterienbräuchen) 317;
R. Wünsch (Krähen als Dämonen bei den Römern) 318, (Moderner
Fluchzauber) 318, (Der Zauberer Dardanus) 319, (Zu üseners Weih-
nachtsfest) 320.
Von A. Wiedemann (Regenzauber) 640, (Zum ägyptischen Tierkult)
640, A. von Löwis of Menar (Zu den Nordkaukasischen Stein-
geburtsagen) 641; E. Pfuhl (Zur Geißelung der spartanischen
Epheben) 643; A. Wilhelm {@stov ■S-eöjrKJfia) 646; S. Sudhaus
(Epikur als Beichtvater) 647; F. Hempler (Zu Archiv XIII 339) 648
Register Von Willy Link 649.
I Abhandlungen
Das Fisch -SjTiibol im Judentum und Christentum
von I. Scheftelow^itz in Cöln a. Rh.
Inhalt
1. Im Jadentnm ist der Fisch im Wasser das Sinnbild eines gläubigen
Israeliten. Die ältesten Kirchenväter übertrugen dieses aus dem
Judentum übernommene Bild auf den Christen.
2. Der jüdisch -messianische Fisch Leviatan war auch dem Urchristentum
bekannt.
3. Messias in Verbindung mit dem messianischen Fisch.
4. Die Verschmelzung des Messias und des messianischen Fisches im
Christentum.
5. Bisherige Erklärungen über das christliche Ichthys-SymboL
6. Der Fisch ist bei den jüdischen Festmahlzeiten und in den Malereien
der Katakomben ein Symbol der Seligenspeise.
7. Ursprung der engen Verbindung des Fisches mit dem Auftreten des
Messias im Judentum. Astrologische Einflüsse.
8. Ursprung der jüdischen Vorstellung, daß die Seligen in dem
messianischen Reiche Fische genießen. Der Fisch als Verkörperung
göttlicher Kräfte bei den verschiedensten Naturvölkern.
9. Der Fiäch als Symbol des Schutzes gegen Dämonen und als glück-
bringendes Zeichen.
10. Die Fische als Darstellungen von Ahnengeistem. Fischfiguren in
Gräbern der vorchristlichen Zeit. Bedeutung der in jüdischen und
altchristlichen Gräbern gefundenen Becher, die mit Fischbildem ver-
ziert sind.
11. Der Fisch als Symbol der Fruchtbarkeit.
12. Jüngere Vergleiche mit Fischen im Judentum.
Das Christentum hat nicht nur die Septuaginta und eine
reiche jüdisch-religiöse Literatur mitübernommen, sondern „der
Gebrauch von Gebeten, liturgischen Formen, Katechismen
jüdischen Ursprungs, der Anschluß der christlichen Apologetik
an die jüdische beweist, wie viele seiner wirksamsten Mittel
ArchiT f. ReligionswisseDgchaft XIV 1
2 I- Scheftelowitz
und Kräfte der Propaganda es dem Judentum verdankt".*
Der Gebrauch des Alten Testaments beim Gottesdienst, die
Gewöhnung an eine Menge alttestamentlicher Gedanken und
Anschauungen und das Suchen nach Weissagung und Er-
füllung brachte das Christentum immer wieder mit jüdischen
Ideen .in Beziehung. Der christliche Gottesdienst zeigte ur-
sprünglich die größte Verwandtschaft mit dem Synagogen-
gottesdienst. Die Einrichtung der Festzeiten und Fasttage,
die heiligen Handlungen, die Kirchenämter, der religiös-sittliche
Vorstellungskreis, soweit wir ihn aus den Schriften der Aposto-
lischen Väter erkennen, — alles dieses geht auf das Judentum
zurück.^ Viele christliche Sinnbilder haben ihren Ursprung
im Judentum, wie die Taufe, das Abendmahl. Auch das
christliche Fischsymbol läßt sich auf das Judentum zurück-
führen. Es ist aus urjüdischem volkstümlichen Vorstellungs-
kreise erwachsen. Da auf das Fischsymbol im Judentum
bisher nie hingewiesen worden ist, und selbst das vor kurzem
erschienene Sammelwerk der Jewish Encyclopaedia nichts darüber
enthält, so will ich hier das Material zusammenstellen.
1 Der Fisch im Wasser als Sinnbild eines gläubigen
Israeliten
Rabbi Semüel, der im Anfang des 3. Jahrhunderts lebte,
erklärt denVergleich Habakuk 1,14: „Und du machst denMenschen
gleich den Fischen des Meeres" folgendermaßen: Deshalb werden
hier die Menschenkinder mit den Fischen verglichen, um an-
zudeuten: Wie die Fische im Meere, sobald sie aufs Trockene
heraufkommen, sogleich sterben, so sterben auch die Menschen,
sobald sie sich von der heiligen Lehre und den heiligen Vor-
schriften trennen.^ Midras Rabbä sucht ausfühirlich zu begründen,
' Wendland, Paul D. hellen.-römische Kultur, Tübingen 1907, p. 119.
* Vgl. Hoennicke, G. D. Judenchristentum im l.u. 2. Jhdt., Ber\inl908-y
Graetz Gesch. d. Juden*, Leipzig 1893, Bd. 4 p. 80.
* Talmud 'Ahödü zärü 3b, Midras Jalqüt zu Hab. 1, 14.
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 3
warum die Israeliten den Fischen gleichen: Der Segensspruch,
den Jakob seinen beiden Enkeln erteilt hatte, lautet: „Sie
mögen wie die Fische zahlreich werden inmitten des Landes".^
„Die Fische wachsen im Wasser auf, und trotzdem schnappen
sie, sobald ein Wassertropfen von der Höhe herabfällt, lechzend
danach, gleichsam als ob sie nicht genügend Wasser aus ihrem
Wasser schmecken könnten. Ebenso wächst auch Israel in
dem Wasser der heiligen Lehre auf, und sobald sie eine neue
Auslegung aus der heiligen Schrift hören, nehmen sie diese
begierig auf, als ob sie bisher keine Worte der heiligen Lehre
aus ihrem Wasserquell vernommen hätten."* Die heilige Lehre
wird im Judentum gewöhnlich mit Wasser verglichen.^ „Ebenso
wie jeder, der im Wasser nicht schwimmen kann, untergeht,
so geht derjenige zu Grunde, welcher sich nicht in der
heiligen Lehre zurechtzufinden weiß."* Daher liegt es nahe,
die Israeliten, die in dem Wasser der heiligen Lehre auf-
wachsen, den Fischen gleichzusetzen. Diese Vergleichung
war um 100 n. Chr. ganz selbstverständlich, denn Rabbi
'Aqibä wendet sie ohne weiteres an. Als damals die
römische Gewalt den Juden die Ausübung ihrer Religion bei
Todesstrafe verboten hatte, und Pappos, ein damaliger Führer
der jüdischen Freiheitsbewegung, den Rabbi 'Aqiba gerade traf,
wie er die israelitischen Gemeinden in den heiligen Gesetzen
unterwies, fragte er den Rabbi 'Aqiba ganz erstaunt: „Fürchtest
du dich nicht vor der römischen Gewalt?" Doch 'Aqibä er-
' Die alte aram. Übers. Targum Onkelos hat 1. M. 48, 16: -jISDT
■jiC tW^ „Und wie die Seefische mögen sie zahlreich werden." Lie LXX
übersetzt diese Phrase nur dem Sinne gemäß : nlTj&vv^tirieav sig nl^9os
aroir iTil z^g y^g.
* Beresit Eabba cap. 97; Pesiqta zutartU 5 M. 32, 2.
» Vgl. Talm. Beräköt 56b, Ta'anit 7a; Ps. 36, 9 — 10, Jes. 55, 1,
Jerem. 17, 13, Mekiltä (ed. Weiß) Wien 1865, p. 53; Tanhümä zu 2. M.
15, 22; Sifre, Abschn. 48; Jalqüt zu Jes. 51; Jalqüt zu Sir hassir b;
Sirach 15, 3.
* Midras Ta-nhionä, Paresä Ki Täbo (zu 5. M. 26, 16).
1*
4 I. Scheftelowitz
widerte: ,,Icli will dir ein Gleichnis erzählen: Einst ging ein
Fuchs an dem Ufer eines Flusses und bemerkte, wie die Fische
darin ängstlich sich bald an diesem Ort, bald an jenem
ansammelten; da sprach er zu ihnen: „Warum flieht ihr denn
bald hierhin, bald dorthin?" Sie antworteten ihm: „Wir fürchten
uns vor den Netzen, die uns die bösen Menschen stellen."
, Kommet doch" — entgegnete der Fuchs — „alle aufs Fest-
land, dann wollen wir wieder friedlich nebeneinander leben,
wie es früher bei unsern Urahneu der Fall war." Doch die
Fische erwiderten: „Bist du wirklich das klügste von allen
Tieren? Dieser Ratschlag zeugt von Torheit, denn wenn wir
uns schon in unserem eigenen Lebenselement nicht sicher
fühlen, um wie viel mehr müssen wir uns dann vor dem
Trockenen fürchten, das uns den sichern Tod bringt?" „So
wird es auch uns Israeliten ergehen, wenn wir unser Lebens-
element, die heilige Lehre verlassen" fügte 'Aqibä hinzu. ^
„Wie die Israeliten zahlreich sind, so sind auch die Fische
zahlreich, wie die Israeliten auf der Erde nicht aussterben, so
sterben auch die Fische in ihrem Lebenselement nicht aus.
Nur der Sohn eines Mannes Namens „Fisch" hat Israel ins
gelobte Land geführt, nämlich Josua, der Sohn des Fisches-,
ein Nachkomme Josefs (vgl. 1. Chr. 7, 20 — 27)."3 Rabbi
Aöi, der im 4. Jahrhundert n. Chr. lebte, stellt sogar die
Menschen als schwächliche Fische dem gewaltigen messiani-
schen Fisch gegenüber; „Wenn selbst der gewaltige Fisch, der
Leviatan, schließlich mit der Angel gefangen wird, was können
dann die schwachen Fische, nämlich die Menschen, tun?"*
Besonders werden die frommen Talmudjünger mit Fischen
verglichen. „Ebenso wie der Fisch vom Wasser einen Genuß
hat, so taucht ein hervorragender Gesetzeskundiger in jeder
Stunde in den Strömen des Balsams unter" (Midr. Tauhuma
* Talm. Beräköt 61b; Midras Tanhümä zu 6. M. 26, 17.
* hebr. nü n = „Fisch". * Bereait Rabbä cap. 97.
* Mö*ed qätän 26 b.
Das Fißch-Symbol im Judentum und Christentum 5
5. M. cap. 32 Einleit). „Die Schüler des Rabbi Gamaliel des
Alteren (um 40 n. Chr.) zerfielen in vier Arten von Fischen, in
unreine Fische, in reine Fische, in Fische vom Jordan und in
Fische vom Ozean. Ein unreiner Fisch ist derjenige, welcher von
Niedrigen abstammt und obgleich er viel Bibel, Misna und
Agada gelernt hat, dennoch seinen Verstand nicht geschärft
hat. Ein reiner Fisch ist derjenige, welcher von Reichen ab-
stammt, viel Bibel, Misna und Agada gelernt hat und Scharf-
sinn besitzt. Ein Fisch vom Jordan ist ein Talmudgelehrter
von großem Wissen, der aber auf Fragen nicht schlagfertig zu
antworten versteht. Ein Fisch vom Ozean ist ein Talmud-
gelehrter von großem Wissen, der die Fragen schlagfertig zu
beantworten versteht" (Aböt de -Rabbi Nätän c. 40).
Der Fisch im Wasser ist also ursprunglich das Sinnbild
eines Israeliten. Die ältesten Kirchenväter, die dieses urjQdische
Bild kannten, übertrugen es auf den Christen. Erschien ihnen
doch Jesus selbst als der gewaltige messianische Fisch. Tertullian
erklärt die Fische 1. Kor. 15, 39 für die Christen, quibus aqua
baptismatis sufficit.* An einer andern Stelle sagt Tertullian:
..Nos pisciculi secundum IXSYN nostnim lesum Christum in
aqua nascimur, nee aliter quam in aqua permanendo salvi
sumus."- Über den frommen Eremiten Bonosus äußert sich
Hieronymus: „Bonosus, quasi filius ix9^og, id est piscis,
aquosa petit."^ Auf der Grabschrift des Pektorios von Autun,
die etwa um 300 n. Chr. verfaßt ist, heißen die Christen
Ix^vos ovgavCov d'siov yivog.* In Alexandrien hat man den
Fisch als Sinnbild der Christen aufgefaßt.^ L. v. Sybel (Christi.
-Vntike II, 45) will den Fisch als selbständiges christliches
^vmbol aus dem messianischen Mahle ableiten, da er einer-
seits .,im Seligengelag, anderseits in der Speisensegnung der
■ De resurr, öi * De baptismo c 1.
" Epist. 7.
* Vgl. 0. Pohl D. Ichthys- Monument v. Autun. Berlin 1880.
'■ Vgl. Dölger Rom. Quartahehr. f. christl. Arch. 23, 16.
6 I. Scheftelowitz
Malereien und Sarkophagreliefs typisch" wäre. Allein die
Fische im Seligenmahl haben eine ganz andere Bedeutung
(s. unten Abschnitt 6). Das Judentum bietet also die einfachste
Erklärung für dieses Symbol eines Christen. Davon zu trennen
ist 'Ix^vg, das Sinnbild des Heilands.
2 Der messianische Fisch
Aber auch der ^Ix^vg, der aquae vivae piscis^ als
Bezeichnung für Christus ist vom Judentum abzuleiten, was
wir im folgenden klarzulegen suchen.
Nach dem altjüdischen Volksglauben wird am Ende der
Zeiten, wenn der Messias sich offenbart, auch der Leviatan
aus dem Meere steigen.^ Dieser ist der gewaltigste aller
Seefische ^, er haust im Weltenmeere^, und infolge seiner
unermeßlichen Größe nimmt er den siebenten Teil des Meeres
ein.^ In der Tiefe des Meeres über den Quellen der Wasser
hält er sich auf.® Sein Körper ist mit Schuppen bedeckt, er
ist ein reiner E^isch.^ Ihn vermag kein Sterblicher mit der Angel
zu fangen*, kein Mensch kann mit ihm spielen und ihn seinen
Jungfrauen zur Kurzweil anbinden." Dieser sehr große und reine
Fisch wird in der messianischen Zeit vom Engel Gabriel
gefangen, „doch wenn ihm hierbei Gott nicht helfen wird,
wird er es nicht können" (Talm. Bäbä Baträ 75a). Dann
wird dieser ungeheure Fisch zerstückelt und den Frommen
zur Speise vorgesetzt werden.'*' „Gott wird in der messianischen
' PaulinuB v. Nola, Kpist. 13, 11.
* Syr. Baruchapokal. 29, 3 — 4.
•"' Talm. Bäba Baträ 74b, Jalqüt zu Jönfi 1: bD hy Y^» iP-'lb ri5T
Ü-'H ^>1 * Ps. 104, 27. * 4. Esr. 6, 62.
ö Heuoch 60, 6; vgl. auch Midras 'Janhünm 5. M. 29, 9: „Der Le-
viatan lagert über dem Tehöm (== Meeresschlund)".
' Talm. gullin 67 b, Toseftä ^ullin 3, 27, Sifrä zu 3 M. 11, 10 (Ab-
schn. 78); Midr. Rabb i zu 3. M. 11, 10; Jalqüt zu 3. M. 11, 10.
» Hiob 40, 25. " lliob 40, 29.
'» Vgl. Heuoch 60, 24; 4. Esr. 6, 52; Syr. Baruchapokal. 29, 4; vgl,
auch Jes. 27, 1.
4
Das Fisch-Symbol im Judentum nnd Christentum 7
Zeit den Frommen ein Mahl herrichten, welches aus dem
Fleisch des Leviatan bestehen wird, denn es heißt Hiob 40, 20:
'Er setzt ihn seinen Genossen vor'. Das Verb r:-« bedeutet
nun an dieser Stelle dasselbe wie in 2. Kon. 6, 23: vorsetzen,
ein Mahl herrichten; und unter dem Ausdruck „Genossen"
sind die Gerechten zu verstehen."^ jjDer Kopf des Leviatan,
den nur diejenigen kosten werden, welche die heiligen Vor-
schriften erfüllt haben, schmeckt wie ein Meerfisch oder wie
ein Fisch vom Tiberiassee."* Als Jona sich im Bauche des
Fisches befand, bat er — so erzählt ein Midras — diesen,
daß er nun schnell zu dem Leviatan hinschwimme, da er die
Absicht habe, denselben mit einer Schlinge zu fangen, um
später nach seiner Rettung eine Mahlzeit für die Frommen
aus dem Fleische des Leviatan zu bereiten, was ihm aber
nicht gelang.^
Dieser jüdische Volksglaube ist auch ursprünglich von
dem Christentum übernommen und dann christlich gefärbt
worden.
In der etwa um das Jahr 200 n. Chr. verfaßten Grabschrift
des Abercius von Hieropolis heißt es: „Paulus als Führer
erkor ich; der Glaube gab stets das Geleite, setzte mir überall
vor als Speise den Fisch {ix^vv) von der Quelle (asrö arjyfig),
den ganz großen und reinen (xafi[isyi&T], xad'aQuv), den ge-
fangen die heilige Jungfrau, ihn nur reichte sie dar den
Genossen zum ständigen Mahle."* Hier ist der Fisch mit den
Beiwörtern „der sehr große und reine," von dem sich nur die
* Talm. Bäbä Baträ 75a, Jalqüt zu Hiob 40; Tanhümä zu 5. M.
29, 9. Vgl. auch das aus dem Mittelalter stammende "Werk Se/er Me'ülefet
Sappirim Abschn. 24, 11.
- Jalqüt zu Hiob 40.
' Jalqüt zu Jona 1. Der Leviatan ist demnach nicht, wie Hrozny,
Mittheil. d. vorderasiat. Gesellsch. 1903, 264 ff. annimmt, ein Drachen-
ungeheuer.
* Vgl. Ficker D. heidnische Charakter d. Abercius -Inschr., in Sitz
Preuß. Ak. Wiss. 1894 p. 87 ff. ; H. AcheUs D. Symbol d. Fisches, Mar-
burg 1889, p. 16 f.
8 I. Scheftelowitz
gläubigen Genossen ernähren, kein anderer als der Leviatan.
Bis jetzt hatte man diese Worte nicht genügend erklären
können. „Bisher ist — so äußert sich Harnack — in allen
Nachweisungen über heilige Fische in der Antike niemals
'der Fisch', am wenigsten als heilige Speise nachgewiesen
worden, während „der eine reine Fisch", und zwar als
Nahrung aus Dutzenden von christlichen Zeugnissen zu be-
legen ist. Möglich ist es immerhin, daß dieser Fisch noch
einmal im Heidentum entdeckt wird, aber zurzeit dürfen wir
nicht anders urteilen, als daß in dem ^I^d^vg wahrscheinlich
das Christusmysterium verborgen liegt." ^ jjDer christliche
Charakter der Abercius-Inschrift läßt sich nicht bestreiten, aber
das Christentum der Großkirche ist es nicht." ^ Auch in dem
apokryphen Religion sgespräch am Hofe der Sassaniden, das
etwa aus dem 5. Jahrhundert stammt, ist von dem Wasserquell
die Rede, der den einen Fisch besitzt, der mit der Angel der
Gottheit erfaßt wird und die ganze Menschheit mit seinem
Fleische ernährt; TCrjyi} yaQ vdaros . ■ ■ £va ^lovov l%^vv s^ovöa
ta tfjs ^s6tr]Tog ccyxCötQG) JCEQLlaiißavo^isvov, tbv ndvta xoö^ov
G)s ^v d'aldööT} diayivonsvov idCa 6aQxl TQECpovta.^ Somit ist
Dölgers Vermutung, daß wohl unter Tcrjyr] die Taufe zu ver-
stehen sei^, hinfällig.
3 Messias in Verbindung mit dem messianischen Fisch
Dieser messianische Fisch des Judentums steht nun in
engster Beziehung zum Messias. Die von Sünden beladene
Menschheit wird gleichsam als krank gedacht, die der Heilung,
d. h. der Vergebung der Sünden, bedarf. ^ Diese Heilung findet
' Harnack Ztir Abercius-lnschr., Leipzig 1895 p. 27.
* P. Wendland D. hellen. -römische Kultur p. 163.
' A.Wirth Aus orientalischen Chroniken, Frankfurt 1894, p. 161, 16;
'E^jjyrjCis T&v iv nsgaläi ngaxd-ivTODv, ed. Bratke inTheol. Unt. (Harnack)
XIX, 2 p. 12. Nicht mir einleuchtend ist die von Rob. Eisler Philologus
68, 199 Anm. vorgetragene Hypothese über nt^yi).
* Rom. Quartalschr. 28, 92 f.
» Vgl. Jes. 6, 10; 63, 6; Hos 14, 6.
I
Das Fisch-Symbol im Judentum and Christentum 9
in der messianischeu Zeit statt: „Und dann wird Gott seine
Knechte heilen".^ „Unsere Religion hat für die Seele zwei
Zeiten zur Erlangung der Vollkommenheit bestimmt, die eine
Zeit ist die der sittlichen Vollendung in ihrem Leben mit dem
Körper; ist jedoch die Seele in den Znstand der Krankheit
geraten, so erlangt sie erst zur Zeit der Auferstehung wieder
ihre Gesundheit".* Der Heiland der sittlich -kranken Mensch-
heit ist nun der Messias: ,.Xur unsere Leiden trug er und
unsere Schmerzen lud er sich auf . . . Strafe traf ihn zu
unserem Heile, und durch seine Wunden sind wir genesen".'
Auch gemäß der altpersischen Religion ist Zarathustra „der
Heiler des Lebens", der dazu berufen ist, das von den bösen
Dämonen (d. i. von den Sünden) krank gemachte Leben der
Menschen wieder gesunden zu lassen.* Ebenso wird in den
Lobpreisungen des Buddha im Lalitavistara (1, 1 und 1, 2) Buddha
bezeichnet als der „König der Arzte". „Träufle hernieder der
Heilung Schauer". ,.Du in der Heilkunde erfahrener, wahr-
haftiger Arzt, versetze die lange Leidenden mit dreifacher
Erlösung Heilmittel bald in Nirvänas Seligkeit".^
Ahnlich wirkt aber auch der eschatologische Fisch, der
Leviatan, als ein Heilmittel für die Gerechten dadurch, daß
sie von seinem Fleische genießen. Zur selben Zeit, wenn der
Messias kommt, wird man auch dieses messianischen Fisches
teilhaftig. „Messias erscheint erst dann, wenn der Kranke
sehnsüchtig nach dem Fische verlangt, den er nirgends finden
kann.''® Also das Auftreten des Messias und des Leviatan ist
^ D. Buch der Jubiläen 23, 10; Mekiltä (ed. Weiß) Wien 1865, p. 54,
Jalqüt zu 2. M. c. 4; Jalqüt zu Jes. c. 65; Tatthümä, Paresä Wajigas.
* Aharön Ben Elia (um lZQO)'Eshajjim, Leipzig 1841, Äbschn. 111.
' Jes. 53, 4 — 5. Auch in der Kabbalistik tritt immer wieder der
redanke auf, daß der Messias durch seine Leiden alle Sünden Israels
auf sich nimmt. Vgl. Elijähu Hakköhen Midras Talpijjöt, Warschau
5635 [1875] Bl. 241a. * Yasna 30, 6.
' Vgl. Lalitat-istara, übers, von S. Lefmann, Berlin 1874 p. 3 und 10.
® Talm. Sanhedrin 98 a.
10 I- Scheftelowitz
gleichzeitig und ihr Endzweck ist ebenfalls sehr ähnlich.
Daher konnten Vorgänge, die ursprünglich nur für den Leviatan
charakteristisch waren, ohne weiteres auf den Messias über-
tragen werden. So steigt nach dem apokryphischen Buch
4. Esr.^ der Heiland, „durch welchen Gott die Schöpfung er-
lösen will", „aus dem Herzen des Meeres" empor, was ur-
sprünglich nur vom Leviatan berichtet wird. Der Zöhär,
der ein Sammelwerk ist, das wesentlich im 13. Jahrhundert
aus altem Material zusammengestellt ist,* erwähnt, daß ein
Fisch, ebenso wie er ehemals Jona Rettung gebracht hat, in
der messianischen Zeit auch der ganzen Welt Heil bringen
wird. An den Vers Jona '2, 11: „Und Gott gebot dem Fisch,
da spie er Jona aufs Festland" knüpft der Zöhär ^ folgende
Bemerkungen: „Wenn Gott die Toten wiederbeleben wird, dann
wird er den Fisch, dessen Bauch das Gräberfeld versinnbild-
licht,^ gebieten, er solle die Toten ausspeien und von sich
geben. Und durch den Fisch werden wir ein Mittel der
Heilung für die ganze Welt finden.^ Ebenso wie der
Fisch, als er Jona verschlungen hat, starb^ und erst nach drei
Tagen wieder lebendig wurde und dann den Jona ausspie, so
ist auch die Erde jetzt tot, doch in der messianischen Zeit
wird sie die Toten erwecken und wieder von sich geben."
Dieser dreitägige Zwischenraum zwischen Tod und Wieder-
auferstehung ist also an Jona versinnbildlicht. Daher stammt
auch die Anschauung des Neuen Testaments, daß Jona ein
Vorbild des Jesus sei. „Und es soll dem Volke kein anderes
' 4. Est. 13, 3. 5. 25. 26. 61.
* Vgl. Rob. Eisler in Or. Literaturz. 1909 S.426f.
"" P.Wajaqhel, Wilna 1882 Bd. II Bl. 199b. Ebenso in Sebi Hirs
Jerahmiel Nahelat Sebi, Helcq 2, Ahschn. Ki-tabö, Amsterdam 5580.
•• In Jona, 2, 3 wird nämlich der Bauch des Fisches, in welchem
sich Jona befand, „der Schoß der Unterwelt" genannt.
* Nach Zöhär P. Hajje Särä ist der Fisch gleich, nach«iem er
Jona verschlungen hatte, gestorben.
Dm Fisch-Symbol im Judentum und Christentum H
Zeichen gegeben werden, als das Zeichen des Propheten Jönä."^
Auch Christus kehrte nach drei Tagen zu den Lebenden
zurück. Gemäß den jüdischen Schriftwerken tritt drei Tage
vor der Ankunft des Messias sein Vorläufer Elias auf.' Im
Talmud Sukkä 52a werden drei Messiasse aufgezählt: Elias,
Messias Ben-Josef und Messias Ben-David. Messias
Ben-Josef, der Vorläufer des letzten Messias, der im Kampfe
gegen die gottlosen Mächte sein Leben einbüßen muß, wird von
den Kabbalisten mit dem Propheten Jona identifiziert' Der
Zeitraum von drei Tagen spielt im Judentum eine sehr wichtige
Rolle. Gott läßt die Frommen nicht länger als drei Tage
leiden.* Nach dem Midras bezieht sich Hosea 6, 3: „Gott richtet
am dritten Tage die Menschen wieder auf, daß sie vor ihm
leben," auf die messianische Totenbelebung.* Das Volk Israel
mußte sich für den dritten Tag am Berge Sinai feierlichst
vorbereiten, „denn am dritten Tage wird sich Gott dem ganzen
Volke auf dem Berge Sinai offenbaren" (2. M. 19, 11).''
' Matth. 16, 4.
* Jalqüt zu Jes. 52, Pesiqtä Babhäti c. 25; vgl. auch Misna Söti
9, 5, Maleachi 3, 23, Matth. 17, 10 f.
* Vgl. Elijähü Hak-köhen Midrai Talpijjöt, Warschau 5635 Bl. 233.
In Midras Wajiqrä Rabbä c. 15, 1 wird Jona, mit Elias in Zusammen-
hang gebracht. Unter den christlichen Eatakombenbildem , wo Jona am
häufigsten dargestellt wird, befindet sich ein Gemälde aus dem vierten
Jahrhundert, welches uns den Elias zeigt, wie er zum Himmel fährt.
..Er ist zu dem benachbarten Jonas unter der Laube in Beziehung
gesetzt" (Wilpert B. Malereien der Katakomben Borns 1909 Taf. 160, 2).
* Jalqüt zu Josua 2 Abschn. 12; vgl. auch 1. M. 40, 19—20. Der
kranke König Hiskia ist am dritten Tage wieder geheilt (2 Kön. 20, 5).
Drei Tage lang fasteten die Juden und flehten Gott an, bevor Esther
den entscheidenden Gang zum König machte, der ihnen Rettung brachte
Esth. 4, 16).
^ Daselbst. Der Ausdruck „dritter Tag*' bedeutet in der Bibel dasselbe
wie „nach drei Tagen". Dieses geht auch deutlich aus 1. Kön. 12, 5
und 12, femer Jos. 9, 16 — 17 hervor.
® Über die Auferstehung nach drei Tagen vgl. auch Otto Pfleiderer
D. Christusbild d. urchristl. Glattbens, Berlin 1903, p. 105; Brückner
D. sterbende u. auferstehende Gottheiland 1908 (= Religionsgeschichtl.
12 I. Scheftelowitz
Es ist bis jetzt hier der Nachweis geführt worden, daß
nach den jüdischen Quellen sowohl der Messias als auch der
Leviatan wohltuend für die Menschheit sind. Jedoch wird nur
den durch den Heiland erlösten Menschen der Genuß des
messianischen Fisches zuteil. Der Leviatan ist gewissermaßen
eine Begleiterscheinung des Messias.
4 Die Verschmelzung des Messias und des Leviatan
im Christentum
Auch den Urchristen waren diese jüdischen Gedanken be-
kannt. Gerade im Judentum der Epoche Jesu tritt eine
sehnsuchtsvolle Erwartung nach dem Messias und dem damit
verbundenen messianischen Fisch auf. Auf einem Glase, das
den ersten Jahrhunderten angehört, sieht man den Heiland
abgebildet, der einen sehr großen Fisch hält.^ Hier ist augen-
scheinlich der Messias mit dem Leviatan dargestellt. Da die
Apostel in griechischer Sprache predigten und die Evangelien
und die LXX griechisch waren, so wurden alle heiligen, aus
dem Judentum stammenden Begriffe in der Sprache der Apostel
wiedergegeben. Auf diese Weise erhielt auch der messianische
Fisch die Bezeichnung 'I^d^vg- Sogar die Juden sprachen in
der Diaspora nur Griechisch, weshalb auch die meisten In-
schriften in den jüdischen Katakombengräbern griechisch sind.
Der Talmud Megillä 18a gestattete daher für den Gottesdienst
neben dem Gebrauch der hebräischen Sprache auch das Griechische.
Selbst die Ehescheidungsurkunde durfte griechisch abgefaßt
sein (Misnä Gittin 9, 8).^ Somit ist der griechische Ausdruck
'J%'9-vg als Übersetzung des jüdisch-messianischen Fisches nicht
im geringsten auffallend.
Volksbücher hrsg. v. Schiele, 1. Reihe, 16. Heft); E. Böklen D.Verwandt-
schaft d. jüdisch- Christi, mit d. pcrs. Eschatologie, Göttingen 1902, p. 27f.
' Vgl. F. X. Kraus R. E. d. christl. Alt. I, 517.
* Itabbi Jehuda (2. Jahrhundert) -wundert sich daher, daß in Pa-
lästina die Juden syrisch sprechen. Sie sollten doch entweder hebrilisch
oder griechisch reden (Talni. Bfibfi (Jämu 83a).
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 13
Der Anbruch der messianischen Zeit war an das Auftreten
des persönlichen Messias gebunden. Nun war für die Christen
der Heiland bereits eingetroffen. Folglich mußten auch schon
die Frommen im Genüsse des messianischen Fisches sein.
Daher war man genötigt den messianischen Fisch allegorisch
zu deuten und ihn mit der Person Christi zu einem einzigen
Gebilde verschmelzen zu lassen. Dieses Zusammenfließen von
Fisch und Heiland zu einer Gestalt kann übrigens auch noch
durch den Einfluß der klassisch -heidnischen Welt begünstigt
worden sein, denn im klassischen Altertum wird der Delphin,
der allgemein als heilig betrachtet wurde, auch als Ketter der
in Gefahr schwebenden Menschen geschildert. In der delphischen
Sage erscheint er „geradezu als eine Inkarnation des Apollo;
schwer faßlich laufen die Beziehungen zwischen dem Gott und
seinem heiligen Tiere hin und her. Als ^sXqiCvLog ist Apollo
ebenso von Doriern wie von loniern, vielleicht allgemein von
den Griechen verehrt worden." ^ Manchen Seefahrer hat er
aus der höchsten Not errettet. „Die Gesandten des Ptolemaios
Soter werden auf der Fahrt nach Sinope von einem Sturme
nach Westen verschlagen; da erscheint vor dem Vorderbug des
Schiffes ein Delphin und geleitet sie in ruhiges Fahrwasser,
bis er sie nach Krissa hingeführt hat, wo sie nun der göttlichen
Fügung gehorsam beim Orakel des Apollo sich genauere
Weisungen über ihre Aufgaben einholen." Gemäß der Erzählung
des Homerischen Hymnus hat Apollo in Gestalt eines Delphins
griechischen Schiffern offenbart, daß ihm in Delphi ein Heilig-
tum begründet werden möge.- Eikadios erleidet auf einer
Seereise Schiffbruch; da nimmt ihn ein Delphin auf seinen
Rücken und trägt ihn in die Nähe des Parnaß, wo er dann
Apollo einen Tempel erbaut.^
Die Heidenchristen scheinen nun die Vorstellungen von
dem Messias und dem Leviatan mit dem vom Tode errettenden
^ H. Usener Sintflutsagen, Bonn 1899, p. 147.
* Vgl. H. Usener Sintflutsagen, p. 145f. ' Usener, p. 147.
14 I- Scheftelowitz
Delphin verknüpft zu haben. So sind auf mehreren urchristlichen
Epitaphien oft Delphine dargestellt.^ Auch eine urchristliche
Gemme weist darauf hin; auf ihr ist ein riesiger Fisch mit
offenem Maule zu sehen, „der ein von drei Menschen und zwei
Vögeln besetztes Schiff auf dem Rücken trägt", er landet an
einer Küste, wo Petrus vor Jesus kniet.^ Da übrigens der
Christ an sich mit einem Fische verglichen ist, so lag es nahe,
in Jesus das Urbild des Fisches zu sehen.^ „Gerade die Zeit,
in welcher das Christentum sich ausbildete, hat auch die
Klügeleien der Gnosis gezeitigt; man wurde nicht müde, mit
den Buchstaben bedeutungsvoller Worte zu spielen, namentlich
indem man ihren Zahlenwert in Betracht zog. Aber es sind
selbstverständlich immer gegebene Worte, mit denen so gespielt
wird; und niemandem konnte es einfallen, durch theologische
Spekulation solcher Art Begriffe und Bilder erst zu schaffen/'^
Bereits die Kirchenväter lehren, daß der Fisch und Christus
ein einheitliches Wesen bilden. So spricht Prosper v. Aqui-
tanien^ 7;"^on dem großen Fisch, der selber die Jünger sättigte
und sich selbst der ganzen Welt als Fisch dahingab". Ebenso
sagt der heilige Augustinus'': „Bei dem Mahle, welches der
Herr seinen sieben Jüngern gab, und wobei er ihnen den
Fisch, den sie auf dem Kohlenfeuer gesehen, nebst den von
ihnen gefangenen Fischen und Brot vorsetzte, war Christus,
der gelitten, in Wirklichkeit der Fisch, der gebraten wurde."
An einer anderen Stelle bemerkt er über diesen messianischen
' Vgl. De Rossi De christianis monumentis 'Ix^vv exhibentibus in
Spicilegium Solesmense III, Paris 1855.
* Vgl. F. Becker D. Darstellung Jesu Christi unter dem Bilde des
Fisches. Breslau 1866, p. 84. Der Fisch ist hier 'Ix&vg, der die Seelen
der Frommen ins Jenseits hinübergeleitet.
" Vgl. TertuUian (oben S. 5) : Nos pisciculi secundum IXQTN nostrum
Jesum Christum.
* H. Usener Sint/lutsagen p. 224.
* De promiss. etpraedic. Dei II, 39, vgl. F. X. Kraus lloma sotter.* 247;
Achelis D. Symbol d. Fisches p. 42.
' Im Joh. Evaug. Tract. 123 sec. 2; III, 2460 ed. Gaume.
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 15
Fisch, daß er aus der Meerestiefe hervorgezogen und von der
frommen Erde (= Menschheit) verzehrt sei.^ Gemäß dem heiligen
Hieronymus ist „unter jenem Fisch, der im Tigris gefangen
wurde, dessen Galle und Leber Tobias nahm, um Sarah von dem
bösen Dämon zu befreien und seinem blinden Vater das Gesicht
wieder zu geben, Christus zu verstehen".' Hier ist augenscheinlich
der messianische Fisch mit dem Heiland identifiziert worden.
Augustin war bereits die Entstehung des 'Jjr^vg- Symbols
unbekannt, was aus seiner Erklärung hervorgeht, die er über
dieses Sinnbild anführt: Eo quod in huius mortalitatis abysso
velut in aquarum profunditate vivus, hoc est, sine peccato esse
potuerit'; d. h. „wie der Fisch im Wasser lebt, in welchem sonst
alle übrigen Wesen untergehen, so vermochte Christus allein
in dieser Welt ohne Sünde zu bleiben". Die ünhaltbarkeit
dieser Erklärung leuchtet ohne weiteres ein. Der Begriff
'Ix^vg war dem ältesten Christentum ein heiliges, aber im
Laufe der Zeit ein völlig unverständliches Bild Christi ge-
worden. Im 8. Buche der sibyUinischen Orakel bilden die
Verse 217 — 250 die Akrostichis 'Ir^öovg Xqsiötos &iov ^Yibg
IJottIq. Die Anfangsbuchstaben dieser Worte ergeben ^Ix^^vg.
Diese Akrostichis scheint der Niederschlag der symbolischen
Umdeutung des messianischen Fisches 'Ix^vg zu sein, da dessen
ursprüngliche Bedeutung bereits in tiefes Dunkel gehüllt war.
Nach A. Harnack* sind diese sibyUinischen Orakel um 265 n.Chr.
verfaßt worden. Die Identifizierung dieses Fisches mit dem
Heiland tritt uns auch aus der um das Jahr 300 n. Chr. ver-
fertigten Grabschrift des Pektorios auf dem Kirchhof Saint-
Pierre l'Estrier bei Autun entgegen, deren erste Verse die
Akrostichis 'Jj^-O-vg ergeben:^
' nie piscis exhibetur, quem levatum de profundo terra pia comedit
Augustinus Confess. XIU, 23 ed. v. Baumer, p. 367; vgl. Achelis D.
Symbol d. Fisches p. 31.
* F. X. Kraus Borna sotter.-, p. 243. =* De civitate Bei XVIII, 23.
* D. Chronol. d. altchristl. Liter. II, p. 189.
* Vgl. Otto Pohl 1). Ichthys- Monument von Autun, Berlin 1880.
16 I. Scheftelowitz
UcozrjQog ccyCcsv ^sXnjdscc Id^ßavs ßgäöLV,
„Nimm die honigsüße Speise des Heilands der Frommen, iß
mit Begier den Fisch, ihn mit den Händen haltend." Überhaupt
wird in dieser Inschrift der Ix^vg als Gabe des Herrn und
Heilands bezeichnet: 'Jj^O-vt ;|jd()ra^' ccQa, Xikalo^ diönota ßärsg.
H. Achelis^ hat nachgewiesen, daß das 'J^^ug- Symbol schon
um das Jahr 20Ö n. Chr. eine Geschichte hinter sich hat.
Tertullian (um 200) erwähnt zuerst die Bezeichnung ^Ix^vg
für Jesus. „Die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Worte:
secundum Ix&vv nostrum Jesum Christum als Wider-
legung der Häresie eingefügt werden, beweist zur Genüge, daß
Tertullian hier nicht eigene Erfindung bietet, sondern an einen
bereits einige Zeit eingebürgerten Sprachgebrauch anknüpft.'^*
5 Bisherige Erklärungen über das Ichthys-Symbol
Nach Dölger^ ist der'Ix^vg als Symbol Christi rein christ-
lichen Ursprungs. Es sei von Christus selbst im Anblick der
galiläischen Fischer zuerst ausgesprochen worden: „Folget mir
nach, ich will euch zu Menschenfischern machen." Und dieses
wäre von seinen Jüngern der Kirche übermittelt worden; „denn
die Taufpraxis verlangte in damaliger Zeit ein völliges Unter-
tauchen, so daß die Neophyten den im Wasser schwimmenden
Fisch als Symbol empfinden mußten, auch wenn der Katechet
oder Täufer nicht eigens darauf hinwies". Doch hätte man
in Anlehnung an das Bild der Fischer erwartet, daß Jesus in
erster Linie als Menschenfischer dargestellt würde.* Übrigens
' D. Symbol des Fisches, Marburg 1888, p. 10 — 61.
* Dölger Jium. Quartalsclir. f. christl. Altert. 23, 8.
" Böm. Quartalschr. 23, 1 flf.
* Das neutestamentliche Bild vom Menschenfischer geht aui
Jerem. li», 16 zurück: „Ich werde mächtige Fischer senden, die die
Menschen zuaammenfischen werden, spricht Gott." Rob. Pasler hat, wie
er mir schreibt, bereits in einem Vortrag über Orpheus (Oxford 1908) auf
Jes. 16, 16 hingewiesen; vgl. auch Eisler ITie fishing of Men in Early
Christian Literature (in Quest 1910).
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 17
geht ja die ursprüngliche Taufe auf die altjüdische Vorschrift
zurück, daß ein Heide, wenn er zum Judentum übertreten wollte,
unmittelbar nach seiner Beschneidung ein Tauchbad in einem Quell-
wasser nehmen mußte.^ Dieses Tauchbad war nur ein Symbol für die
Sündenreinheit und wird an keiner Stelle in Beziehung mit den
Fischen gebracht. Ich aber glaube den Nachweis gebracht zu haben,
daß das Urchristentum den messianischen Fisch des Judentums
gekannt hatte. Das christliche 'J^'ö'vj- Symbol ist nur durch
die natürliche Entwicklung des messianischen Fisches aus dem
Judentum verständlich.
Auch der Erklärungsversuch H. Pischels ist völlig unbalt-
bar. Dieser hervorragende Sanskritist suchte den Ursprung des
christlichen Symbols nach Indien zu verlegen, da nach seiner
Ansicht das Alte Testament keine Anknüpfungspunkte dafür
biete, während bei den Brahmanen und Buddhisten von ältester
Zeit an uns Sagen überliefert sind, in denen ein Fisch als
Retter erscheint.' Diese Vermutung hält Hans Schmidt' ohne
weiteres für richtig: in Indien „wird der älteste Gedanke, der
Ursprung des christlichen Fischsymbols gewesen sein".
Pischel hat zwar das Symbol des Fisches als Retters auch
für Indien zahlreich belegt, jedoch nicht den Beweis erbringen
können, daß dieses indische Sinnbild ins Christentum über-
gegangen sei. „Man fragt sich doch unwillkürlich, wie kam
man dazu, das indische Fischsymbol in das Abendland zu
übertragen. Geläufig könnte das Fischsymbol doch zunächst
nur solchen Christen gewesen sein, die in der indischen Religion
aufgewachsen . . . waren. Daß aber geborene Inder nach ihrer
Bekehrung zum Christentum bereits am Anfange des zweiten
Jahrhunderts einen besonders einflußreichen Verkehr mit dem
Abendlande gepflogen hätten, ist nicht bekannt, auch nicht
' Vgl. Schürer Gesch. d.Jüd. Volkes*' III 181 f., Misnä Pesähim 8,8
Talm. Pesähim 92 a ; Jebümöt 46 a und 47 b ; Keritöt 9 a ; Masseket Gerim 1, 3.
* Vgl. R. Pischel in S. B. Preuß. Ak. d. Wiss. 1905, S. 606 f.
"' Jona, Göttingen 1907, S. 154 f.
Archiv f. Religion»wi8senschaft XIV 2
18 I. Scheftelowitz
erweisbar." ^ Schließlicli weisen die Eigenheiten des 'I^d-vg-
Symbols auf den altjüdischen messianischen Fisch hin, was
bisher nicht aufgedeckt war. Schon Windisch, der im Schluß-
kapitel seines Werkes: Buddhas Geburt^ die zahlreichen Über-
einstimmungen der buddhistischen Legenden mit den christ-
lichen behandelt, gelangt zu dem Resultat, daß hier keine
Entlehnungen stattgefunden haben, sondern die Ähnlichkeiten
zwischen manchen christlichen und buddhistischen Erzählungen
nur als Parallelen, im eigentlichen Sinne des Wortes als
„Linien, die sich nicht berühren und nicht schneiden", auf-
zufasssen sind.
6 Der Fisch bei den jüdischen Festmahlzeiten und
in den Malereien der Katakomben als Symbol der
Seligenspeise
Neben dem Glauben an den einen messianischen Fisch,
den Gott gleich bei der Wiederauferstehung der Toten den
Frommen vorsetzen wird, herrschte noch die altisraelitische Vor-
stellung, daß die Seligen im messianischen Weltreiche sich
hauptsächlich von Fischen ernähren werden. Bereits bei Ezechiel
finden sich Spuren von dieser Anschauung. Dieser Prophet schildert
Kap. 47, wie in jener zukünftigen Zeit ein Strom unter der
Schwelle des wieder neuerstandenen Tempels hervorfließen
wird. „Jedes Geschöpf, welches sich regt, wird überall, wohin
der starke Strom kommen wird, leben, und sehr viele Fische
werden sein. Wohin auch immer diese Gewässer fließen
werden, werden sie heilvoll sein; und alles lebt, wohin der
Strom kommt. Und Fischer werden dann daran stehen, von
Engedi bis En-Eglajim werden Plätze zum Ausspannen der
' Dölger Böm. Quartalschr. 23, 32, vgl. auch H. Oldenberg ZDMG
69, 627. Der Versuch Oldenbergs, der gegen Pischel das 'Ix^'vg-iijmhol
abermals aus der Akrostichis herleiten wollte, ist unhaltbar, vgl, A. Die-
terich Archiv f. Belig. wiss. 8, 606 Anm.; H. Schmidt Jotia, S. 186 f.;
Uaener Sintßutsagen S. 224.
» Äbhdlg. d. süchs. Ges. d. Wiss. Bd. 26 (1908).
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 19
Netze sein; nach ihrer Art werden Fische darin sein, wie die
Fische des orroßen Meeres, sehr riele."*
Darauf beruht nun der altjüdische Brauch, am Sabbat und
an Feiertagen Fische zu genießen, der besonders bei den Juden
der östlichen Länder und des Orients noch heute gepflegt wird.
Diese Sitte läßt sich bereits im Talmud nachweisen. An den
Festtagen gab es wenigstens zwei Gerichte, von denen das eine
stets aus Fischen bestand (Misna Besä 2, 1, Talm. Besä 17 b).
Zu Ehren des Sabbat soll man große Fische essen, heißt es
im Talmud.- Es wird auch von einem frommen Mann, namens
Jösef berichtet, der stets den schönsten Fisch für den Sabbat
kaufte. ^
Auch in den im Mittelalter entstandenen Sabbatliedem wird
auf diese uralte Sitte, am Sabbat Fische zu genießen, angespielt,
so heißt es dort z. B.: „Wie schön und lieblich bist du unter
allen Genüssen, o Sabbat, Wonne der Betrübten, dir werden
Fleisch und Fische zubereitet vor Anbruch des Festes"^*; oder
„Fleisch, Wein und Fische dürfen beim Festmahle nicht
fehlen, und prangen diese drei vor ihm, so wird ihm dafür ein
Lohn erstehen, weil er den Sabbat verherrlichen wollte".*
Ähnlich heißt es in dem von Abraham Ibn-Ezra (12. Jhdt.)
verfaßten Sabbatliede, das mit den Worten Ki esmerä sabbät
beginnt: „Er ist ein Tag, wo man Brot, köstlichen Wein,
Fleisch und Fische genießt " Rabbi Salomon Luria, der 1573
» Ez. 47, 9—10.
' Sabbät 118b; Jalqüt zu Jes. 58.
'• Sabbat 119a; Pesiqtä Babbäti cap. 23. Aus Nehemia 13, 16
erfahren wir, daß in Jerusalem „Tyrer wohnten, die Fische brachten
und andere Waren und sie am Sabbat den Juden verkauften". Der
um 860 n. Chr. lebende Gäön Xatronai Bar-Hilai wird von der jüdischen
Gemeinde zu Lucena in Spanien angefragt, ob man an einem jüdischen
Feiertage vom Markte etwas kaufen dürfe. Die Antwort des Gfiön lautete:
„Man darf am Feiertage nichts kaufen, selbst nicht einmal Fische oder
Mehl" (Xatronai Bar-Hilai Qehüsat hakämim, Wien 1861, S. 110).
* Zemiröt Lei Sabbät, beginnend mit mä jäfit.
' Zemiröt Lei Sabbät, beginnend mit Jöm Sabbät qödes.
2*
20 I- Scheftelowitz
starb, hebt hervor, man solle am Sabbat-Mittage zur Erhöhung
der Feier Fische essen, was am Freitagabend nicht erforderlich
ist. Er sagt: „Ich muß eine Mahnung an meine Glaubens-
genossen richten, welche das Abendessen am Freitage
reichlicher ausstatten als das Mahl am Sabbatmittage, indem
sie am Abend die guten Fische essen; da aber die Fische
das Hauptelement für die äußere Verehrung des Tages
bilden sollten, gehören sie zur Tafel des Tages selbst. Von
jeher war ich darauf bedacht, nicht am Abend, sondern
am Mittage des Sabbat mich am Fischgenuß zu erfreuen,
der allein der Würde des Tages angemessen ist."^ Ein
neueres hebräisches Buch, welches die altjüdischen Bräuche
behandelt, führt für den sabbatlichen Fischgenuß folgenden,
aus einem älteren Werke entnommenen Grund an: „Das
sabbatliche Fischgericht soll an den messianischen Fisch
'Leviatan' erinnern."^
Zur Erinnerung an den messianischen Fisch, den einst die
Frommen kosten werden, wird wohl auch folgender Brauch
dienen: In Tunis legen die Juden bei Festen und Hochzeiten
auf ein Kissen einen Fischschwanz, der gewöhnlich von einem
Thunfisch herrührt.^ Bereits der römische Dichter Persius
erwähnt diese eigentümliche jüdische Sitte. Er schildert
Satirae V, 180 — 184 einen am Abend beginnenden jüdischen
Feiertag, an dem die Anhänger des Judentums ganz den
talmudischen Vorschriften entsprechend ihre Zimmer durch
viele Lichter erhellen, zum Festmahle Wein haben, während
der große Schwanz des Thunfisches „die ganze rötliche
Schüssel einnimmt"; „man murmelt mit den Lippen ein Gebet
und scheut ehrfurchtsvoll den jüdischen Sabbat".
' Vgl. Sefer Jam sei Selömö, Gittin IV § 51.
* .rishäq LiY>iec Sefer maVea mim, Warschau (M. J. Halter) 18itl, S. 20.
' H. Dunant Notice sur la regence de Tunis, Genf 1858 p. 241. Der
Fischschwanz könnte aber auch nur die Fruchtbarkeit symbolisieren
(siehe unten Abschnitt 11); man vgl. südital. J£r pcsce 'Penis'.
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 21
Dispositae pinguem uebulam comuere lucernae
portantes violas, rubrutnque amplexa catinum
cauda natat thunni, turnet alba fidelia cino
labra moves tacitus, recutitaque 8<ibbcUa palles. *
Bereits in den alten jüdischen Katakomben kommt diese An-
schauung, daß Fische die Seligenspeise bilden, plastisch zum Aus-
druck. In einem,der Deckengemälde der jüdischen unterirdischen
Begräbnisstätte an der Via Appia zu Rom „sind zwei Gruppen von
drei bez w. vier Fischen so angeordnet dargestellt, daß einer der Fische
auf einem hohen Körbchen gelegt ist, während die andern daneben
am Boden hingestreckt sind. Daran schließen sich, in be-
sondere Umrahmung gesetzt, Körbe mit Brot gefüllt".* „An
eine mechanische Nachahmung christlicher Symbole kann hier
schwerlich gedacht werden"' Da man bisher die Fisch-
darstellungen nur auf urchristlichen Grabmälem kannte und
sie als rein christliche Symbole auffaßte, so gelangt H. Achelis*
zu folgender wunderlichen Ansicht: „Da es hier ausgeschlossen
ist, an eine beabsichtigte Darstellung des evangelischen Speisungs-
wunders zu denken, so bleibt für die Erklärung nur ein doppel-
ter Ausweg übrig: entweder wollten die Juden hier dieselbe
Idee darstellen, wie die Christen dort, so daß diese Idee auf
neutralem Boden läge, oder es ist eine mechanische Über-
tragung*'. Diese Vermutung ist völlig unhaltbar Das ewige
Leben wird auch von jüdischer Quelle unter dem Bilde des
Freudenmahles, in welchem Fische die Hauptrolle spielen,
* poliere hat hier eine ähnliche Bedeutung wie metuere in den
jüdischen Katakombeninschriften Roms, z. B. Ephem. epigr. IV Xr. 838
Äemilio Volenti eg. Romano metuenti; C. I. L. IV, 29, 759 Larciae Qua-
dratillae natione Eomanae metuenti; C. I. L. IV, 29, 763 Deum metuens;
Tgl. auch den lat. Komm, zu Persius Satirae v. Fred. Plum, Havnia€
1827, p. 478 f. Ein alter Scholiast, der daselbst zitiert wird, meint
fälschlich, daß die Juden einen Thunfisch am Feiertage in den Tempel
gebracht und ihn dort verzehrt hätten.
* V, Schnitze Die Katakomben, Jena 1877, S. 121.
* A. Harnack Theol. Lit. Z. 1882, Sp. 373.
* H. Achelis D. Symbol d. Fisches, Marburg 1888, S. 93.
22 I- Scheftelowitz
geschildert.^ Dem Talmud gemäß sitzen die Frommen nach
dem Tode in der Nähe Gottes beim Freudenmahle und
jeder einzelne hat einen kostbaren Tisch.^ Dieses Bild des
himmlischen Seligenmahles in der jüdischen Katakombe ist
nur ein symbolischer Ausdruck des Satzes: Dieser hier
Ruhende ist des jenseitigen ewigen Lebens teilhaftig geworden.
Gemäß Talmud Qiddusin 31b soll man, werfti man sich an
einen frommen Verstorbenen erinnert, sprechen: „Sein Andenken
gereiche zum Segen für das Leben im Jenseits." Die uralte
jüdische Grabinschrift, die sich an einen biblischen Satz
1. Sam. 25, 29 anlehnt, lautet: „Seine Seele sei eingebunden in
das Bündel des ewigen Lebens"' (vgl- Talmud Hagigi 12b).^
Dieser Wunsch wird auch in einem Festgebet Ribbön hä'öläm
während des Aushebens der Tora ausgesprochen: „Auf daß wir teil-
haftig werden des glücklichen langen Lebens, des Lebens der
künftigen Welt." Er ist wohl auf Dan. 12, 2 zurückzuführen:
„Und viele von den im Erdenstaube Schlafenden werden er-
wachen, diese [die Frommen] zum ewigen Leben, doch
jene Gottlosen zu Schanden und zu ewiger Abscheu." Daher
liest man auf den Grabsteinen der jüdischen Katakomben viel-
fach: „Zum ewigen Leben" oder „er ruhe bei den Gerechten".^
Der Wunsch, in der messianischen Zeit zum ewigen Leben zu
^ Vgl. Jes. 25, 6 f., Midr. Wajiqrä Rabbä cap. 13, 4.
* Ta'anit 25 a.
* Vgl. auch Midr. Rabbä P. Haazinu , ferner Frazer in Änthropol.
Essays present. to E. B. Tylor, Oxford 1907 p. 143—160. Dieser Satz
kommt gewöhnlich in der Abbreviatur n"3;i3n vor.
* Vgl. A. Berliner Oesch. d. Juden in Rom, Frankfurt a. M. 1893,
I S. 73 — 89. Über die jüdischen Katakomben zu Rom vgl. Marucchi
Catacombe Bomane, Rom 1905, S. 234 — 247; H. Vogelstein u. Rieger
Oesch. d. Juden in Born I, S. 49 ff. u. 459 — 483; N. Müller in Herzog,
Realencyclop. d. protest. Theol.'X 794f. Garucci II cimitero degli antichi
Ebrei, Rom 1862. Auch auf alten jüdischen Grabsteinen des 13. Jahr-
hunderts heißt es: „Gott geleite ihn (sie) ins Paradies"; oder „Der im
Paradies jetzt seine Stätte hat"; vgl. S. Salfeld Mainzer Ztschr. 1908 p.
107—108.
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 23
erwachen, wird auf den jüdischen Katakomben- Grabsteinen
durch verschiedene Symbole bildlich ausgedrückt, wie durch
den Schöfar („Blasehorn"), oder durch den Hahn. Der Schöfar
ist eine x^nspielung an Jes. 27, 13: „In der messianischen Zeit
wird Gott in das große Hörn stoßen lassen, so daß die Ver-
lorenen und Verstoßenen wieder nach Jerusalem herbeikommen." '
Auch auf Grabschriften der christlichen Katakomben wird
darauf Bezug genommen. So lautet eine Inschrift: Cum
tubj\. terribilis sonitu concusserit orbem \ exitaeque
animae sursum in sua vasa redibunt.' Von dem
Hahn aber heißt es im Talmud: „Ebenso wie der Hahn
den Anbruch des Morgens erblickte, so wird Israel die Er-
lösung schauen."^ Auch in christlichen Katakomben erscheint
dieser Vogel.*
Der Fisch war nun bei den Juden ein Symbol der messia-
nischen Zeit und der himmlischen Genüsse, weshalb er auf den
ältesten jüdischen Grabdenkmälern sichtbar ist. Paolo Orsi hat
in der Rom. Quartalschrift 14, 207 ff. das Bild eines aus den
ersten Jahrhunderten stammenden jüdischen Grabsteines, den er
in Syrakus^ aufgefunden hat, abgedruckt. In der Mitte des
Steines ist ein Fisch dargestellt, über ihm sind zwei runde
* Vgl. auch Zachar. 9, 14. Daher ist auch im Koran die Posaune
das Symbol des jüngsten Gerichts, vgl. die Suren 6. 27. 36. 39. £0.
74. 78. 80.
* De Waal Borna sacra, München 1905, S. 109.
' Sanhedrin 98b, Auf altcbristlichen Totenlampen ist häufig der
Hahn abgebildet (siehe die Sammlung des Konsul Xiessen, CöLn). Auch
hier ist es das Symbol der Auferstehung. In China wird bei einem
Leichenbegängnis die Figur eines Hahnes vorangetragen, was mir
Museumsdirektor Prof. Adolf Fischer, Cöln, der viele Jahre in China war,
mitteilt.
* Vgl. F. X. Kraus E. E. d. chrisü. Altert. I, 643.
* Über einen anderen jüdischen Grabstein vgl. Orsi Rom. Quartalschr.
14, 194, worauf der siebenarmige Leuchter, ein Palmzweig, Zedemfrüchte
und auch ein schlecht gezeichneter Fisch dargestellt sind. Eine andere,
in Syracus entdeckte jüdische Grabinschrift aus byzantinischer Zeit findet
sich in Corp. Inscr. Graec. Nr. 9895.
24 I- Scheftelowitz
Brote, die eine kleine Vertiefung in der Mitte haben^, und
ein zweihenkliger Weinkrug, wie er in vielen jüdischen Kata-
kombengräbern zu seben ist.^ Unterhalb des Fisches sind zwei
übereinander stehende Vögel, wohl Turteltauben.^ Die ganze
rechte Seite des Steines wird von einem Palmzweig (dem
Lüläb) beschattet, an dessen unterem Ende zu beiden Seiten
je ein Paradiesapfel (EtrSg) ist* Die linke untere Seite des
Steines ist durch runde Brote ausgefüllt. Sämtliche Bilder
auf diesem Steine sind urjüdisch. So auch die Taube, die
auf mehreren altjüdischen Grabsteinen zu finden ist. Sie
ist das Sinnbild eines frommen Israeliten, der unschuldig
verfolgt ist. Bekannt ist die Aussendung der Taube durch
Noah, wo sie beim zweiten Male mit dem Olblatte als
Zeichen des wiederkehrenden Friedens, der erneuten Gottes-
gnade wiederkam. Die Taube mit dem Olblatt versinnbildlicht
nach dem Ausspruch des Midras den Beruf Israels, der das
Licht der heiligen Lehre, den Frieden und die Versöhnung der
Menschheit bringen soll.'' Nach dem Talmud stellt die Taube,
die unschuldig gedrückt, gequält und verfolgt wird, ohne selbst
zu verfolgen, die sittsam lebt und ihr Blut zur Versöhnung
der Sünden anderer auf dem Opferaltar verspritzt, den
unschuldig leidenden Israeliten dar.'' „Die Nation Israel ist
mit einer Taube verglichen, denn so finden wir Ps. 68, 14:
Ihr werdet sein gleich den silberbedeckten Flügeln der Taube,
deren Gefieder goldig schimmern; denn so wie die Taube
' Ähnliche Brote sind auch zuweilen auf jüdischen Weingläsern
gemalt, vgl. Orsi Hörn. Quartalschr. 14, 208.
* Vgl. R. Garrucci Storia delV arte christiana, Prato 187S— 1880.
Taf. 490.
•' Der untere ist größer als der über ihm befindliche, daher möchte
Orsi den unteren für eine Gans halten, doch der spitze Schnabel spricht
dagegen.
* Palme und Paradiesapfel sind zwei altbekannte jüdische Sym-
bole, die häufig in den jüdischen Katakomben vorkommen.
'■ Sir has-sir. Babbä zu 1, 15 und 4, 1.
" Bäbü Qäniä 93 a, Sabbat 130 a.
Das Fisch-Symbol im Judentum and Christentum 25
nur durch ihre Flügel geschützt ist, so sind die Israeliten auch
nur durch die Gottesgebote, welche sie ausüben, geschützt,
und so wie die Tauben sich nur mit ihresgleichen paaren, so
schließt sich das Volk Israel nur seinem Vater im Himmel
an/'^ Das Bild der Taube wird wohl ursprünglich in den
Zeiten der Verfolgung auf den jüdischen Grabsteinen angewendet
worden sein.
Der Wein und die Brote, die neben dem Fische auf dem
jüdischen Grabstein zu Syrakus dargestellt sind, gehen ebenfalls
auf eine urjüdische Sitte zurück. Es ist nämlich Vorschrift,
die Hauptmahlzeiten am Sabbat und an den Festtagen durch
Wein und Brot einzusegnen (cit;;). Dann verteilt der
Vorsitzende des Mahles, nachdem er über zwei Brote den
Segensspruch gesprochen und ein Brot angeschnitten hat,
kleine Stücke dayon an die Herumsitzenden.* Der dazu ver-
wendete Becher Wein heißt: kos sei beräkä „Becher des Segens".
Diese Zeremonie wurde für sehr wichtig gehalten, so daß der
Talmud hierüber sagt: „Wer über ein volles Glas Wein den
Segenspruch sagt, hat Anteil am diesseitigen und am jenseitigen
Leben"* Selbst in der messianischen Zeit spielt „der Becher
des Segens" eine bedeutende Rolle. „Gott veranstaltet in der
zukünftigen Welt den Frommen ein Mahl, wobei sie reichlich
essen und trinken werden. Am Schlüsse der Mahlzeit wird aber
Gott dem würdigsten Manne, dem König David, den 'Becher des
Segens' reichen, der dann hierüber den Segenspruch sagt."^
Diesen Brauch, die Festmahlzeit mit Brot und Wein ein-
zusegnen, übten noch die urchristlichen Gemeinden aus, was
' Tahn. Beräköt 53b.
* Vgl. Pesähim 106a, Jösef Karo Sülhän-'Anik : Örak Hajjim,
Abschn. 271; vgl. auch Beräköt 423 — b (Misnä).
' Beräköt 51b, Sabbat 76b, 'Erubin 29b, Pesähim 105b; 119b.
^ Beräköt 51a Die Sitte, über Brot und Wein den Segenspruch
zu machen, ist uralt, vgl. 1. Mos. 14, 18.
* Pesähim 119b, Bereut Rabbä c. 88, Jalqüt zu Jerem. 25; Jdlqüt
zu Ps. 23,5 gibt sogar die genaue Größe des gewaltigen Bechers an.
26 !• Scheftelowitz
klar aus 1. Kor. 10, 16 hervorgeht; denn rö notrJQLOv tris svXoyCccg
0 svXoyov^ev setzt die hebr. Phrase Ti^'i^ b\b DnD by '7'ia vor-
aus; ebenso geht tbv ccqtov bv xXäiisv, wie auch das in
Apostelgesch. 2, 42 vorkommende xkocßig tov äQtov auf hebräisch
Dnc zurück, das ursprünglich „Brot brechen" (Jes. 58, 7) be-
deutet, im Talmud aber der gewöhnliche Ausdruck für das
Einsegnen und Verteilen des Brotes an die an der Tafel
Teilnehmenden ist (vgl. Rös hassänä 29 b).^ Daß an dieser
jüdischen Sitte die Urchristen noch festgehalten haben, zeigt uns
ein aus dem 2. Jahrhundert stammendes Bild in einer Wölbung
der Priscilla- Katakomben, die erst in den letzten Jahren
aufgedeckt sind. Hier sind sechs Personen, an einer Tafel
sitzend, dargestellt, auf welcher ein Weinbecher und Brote
sich befinden; „der Vorsitzende hat ein rundes, flaches Brot
in beiden Händen und ist im Begriff, es zu brechen und dann
unter die Tafelgenossen zu verteilen".^ Auf einem alten
jüdischen Weinglas ist der Fisch ebenfalls abgebildet (vgl.
R. Garrucci Storia dell'arte christiana VI, Tav. 490). Eine
alte Phiole jüdischen Ursprungs, worin der zur Einsegnung des
Festmahls erforderliche lüiT'p -Wein aufbewahrt wurde, ist die
kugelförmige Flasche der Sammlung Disch zu Köln, jetzt im
British -Museum, Sie trägt folgende durch zwei Fische unter-
brochene Inschrift: Hie ZHCAIC AEI EN AfAGOIC^ Der Inhalt
^ Über den Qiddus als Ursprung der Eucharistie vgl. Box Jewish
antecedents of the Eucharist (in Journ. of Theol. Stiidies 1902 p. 357 ff.).
* A. de Waal Borna sacra, München 1906, S. 55.
' F. X. Kraus B. E. d. christl. Altert. 1, 617. In Cöln gefunden, vgl.
Bonn. Jahrb. 64, 127 f.; 71, 124 und Taf. VI Nr. 1360; Dalton Catalogue
of Early Christ. Antiquity of the British Mus. Nr. 653. Dieselbe Inschrift
trägt auch eine im Jahre 1732 zu Rom gefundene kristallene Trinkschale,
vgl. Janßen, Jahrb. d. Ver. v. Altertumsfreunden i. Bheinl. 16, 75. In
zwei, aus dem 4. Jahrhundert stammenden Gräbei-n zu Cöln sind zwei
Glasbecher mit folgenden Inschriften gefunden: TTI€ ZHCAIC KAAQC
und Bibe multis annis (vgl. Jahrb. d. Ver. v. Altcrtumsfr. i. BJieinl. VI
Taf. 11 u. 12, 1; XVI, 76 f.; Aus'm Weerth Bonn. Jahrb. 69, 67; Kisa
/Aschr. f. Christi. Kunst 1899 Sp. 15, 38, 79; Fig. 120 u. 121.) Auch auf
Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum 27
der griechischen Inschrift weist auf jüdischen Ursprung hin,
denn diese griechischen Worte gehen auf einen altjüdischen
Trinkspruch zurück. So sprach R. Aqibä bei einem Gastmahle
zu seinen Gästen beim Kredenzen der Becher: NT:n Y.z-,
cnsb •'■•m „Wein und Leben sei entsprechend den Weisen".^ Ein
anderes jüdisches Weinglas, das aus den romischen Katakomben
stammt und von A. Berliner^ beschrieben ist, hat eine ähnliche
Inschrift: UCs, ^Tj'ffaig usrä räv öäv Tcdvtov.
Das Fischsymbol ist auch auf folgendem alten Grabstein
jüdischen Ursprungs vorhanden. Ein bei De Rossi^ erwähnter
Stein aus den römischen Katakomben hat zwei symmetrisch
gestellte Fische. Darunter ist die Inschrift: Valerie
Mariem Valerius Epagathus conserve sorori et coniugi
quacua vixit an. XXX VIU v[ivi] pos[uerunt]. „Also die Ver-
storbene ist Valeria, welcher ihre Mitsklavin Mariem, ihr
Bruder Valerius und ihr Gatte Epagathus den Denkstein setzten.
Die christliche Provenienz des Steines ist zweifelhaft. De Rossi
erkennt dies an, V. Schnitze, Katakomben p. 129, erklärt ihn
bestimmt für heidnisch. Zu beachten ist aber die Form des
Namens Mariem, die doch nur aus dem hebräischen D"n?3
verständlich ist; das deutet auf jüdische Herkunft dieser Frau".*
einem von Winckelmann i. J. 1725 bei Xovara in Italien ausgegrabenem
Glasbecher steht: Bibe vivas multis annis (vgl. Aus'm Weerth Bonn.
Jahrb. 69, 66). Ob hier jüdische oder urchristliche Gläser vorliegen, läßt
sich nicht bestimmen. Daß bereits im Anfang des 4. Jahrhunderts in
Cöln eine größere jüdische Gemeinde -war, geht aus dem Codex
Theodosianus XVI, 8, 3 hervor. Um 200 n. Chr. ist auch für Griechen-
land der Trinkspruch: ^t]6£iag belegt, vgl. Dio Cassius LXX, 18.
' Vgl. TaJm. Sabbat 67b. Der altjüdische Trinkspruch lautete ge-
wöhnlich: D'^TI? „Zum Leben", vgl. J. Lipiec Sefer Mate'amim, Warschau
1891, p. 49.
* A. Berliner Gesch. d. Juden Borns I, 61.
* Spicil. Solesm. III, 554.
* H. Achelis D. Symbol d. Fisches, Marburg 1888, S. 62 f. Aus den
römischen Namen der Mitsklaven, die den Stein gesetzt haben, läßt sich
nicht auf ihren Ursprung schließen, da ja die meisten Juden, wie aus
den jüdischen Katakomben ersichtlich ist, römische Namen trugen.
28 I- Scheftelowitz
Auch die römischen Proselyten haben die altjüdischen Zu-
kunftshoffnungen in ähnlicher Weise auf ihrem Grabe zum
Ausdruck gebracht. Die älteste Darstellung des himmlischen
Mahles auf den Katakomben besitzt die sogenannte Galerie der
Flavier. „Sie wird noch in das erste Jahrhundert gesetzt."
„Im Fond des Raumes ist das Mahl als Hauptbild gemalt, der
Eintretende und Vorschreitende hat es immerfort vor Augen,
seine zentrale Stellung verbürgt seine zentrale Bedeutung.
Leider sehr beschädigt, stellt es ein Mahl zweier Personen dar,
bartloser Männer im Chiton; sie sitzen auf jener Art Kanapee,
wie sie in der Kaiserzeit Mode war und, mit dem Dreibein-
tischchen davor, gerade auf Grabsteinen sich öfter findet. Der
besser erhaltene der beiden wendet sich im Gespräch zu seinem
Genossen. Vor ihnen steht ein Dreibein mit den Speisen,
einem Fische und drei Brötchen. Von rechts tritt ein Auf-
wärter heran, er bringt das Getränk zum Mahle . . . Unser
Mahl kann weder die Speisung der Tausende, noch Jesus' letztes
Mahl oder sonst eines der in den Evangelien erzählten Mahle
sein, noch auch das liturgische Abendmahl."* Hier gelangt
noch ungetrübt die urjüdische Anschauung zur Darstellung.
Es liegt daher die Vermutung nahe, daß jener Flavier, der
dieses Gemälde hat anbringen lassen, ein Proselyt war. Auch
alle übrigen aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts
stammenden Bilder, wie Noe in der Arche und Daniel in der
Löwengrube, sind aus dem Alten Testament entnommen. Nun
steht es fest, daß zur Zeit des Domitian ein Flavier, namens
Flavius Clemens, dem Judentum zugetan war.^ Eine Anzahl
Flavier-Namen kommen auch in den jüdischen Katakomben
vor.^ Auch der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus war
* L. v. Sybel Christliche Antike I, Marburg 1906, S. 199.
* Vgl. H. Graetz Gesch. d. Juden IV*, 109 f.; Graetz D.jüd. Proselyten
im Römerreich (Breslau 1884) 5f. 28f. ; Lebrecht in der Jüd. Zeitschr.v.
A. Geiger XI, 273; H. Schiller Gesch. d. röm. Kaiserzeit I, 577 f.; Lemme in
Neue Jahrb. f. deutsche Theologie I, 367.
* Vgl. A.Berliner Gesch. d. Juden in Born I p. 78. Falls jedoch diese
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 29
in die flavianische Familie aufgenommen und wohnte in dem
Palaste der Fla vier, so daß er hinreichend Gelegenheit hatte,
diese Kaiserfamilie mit dem Judentum bekannt zu machen.
Für die späteren Flavier war jedoch das Judentum mit seinen
zahlreichen strengen Gesetzen nur ein Übergangsstadium zum
Christentum . dessen Annahme für den Heiden keinerlei Schwierig-
keiten bot. Schon Josephus scheint dieses anzudeuten: „Viele
der Hellenen sind zu unserem Glauben übergegangen, die einen
sind dabei fest geblieben, andere, welche der Standhaftigkeit
nicht föhig waren, sind wieder abgefallen.*' ^
Die ältesten christlichen Anhänger haben auf ihren Gräbern
die jüdischen Symbole übernommen. Fast auf allen jüdischen
Grabschriften findet sich der Satz: „In Frieden" (in pace,
iv eLQijvTi, zib'is ! gemäß der talmudischen Vorschrift: „Einem
Toten wünsche man: „Gehe ein in Frieden", da es von
Abraham heißt (1. M. 15, 15): „Du wirst in Frieden zu
deinen Vorfahren eingehen."' Diese Formel nebst den ältesten
jüdischen Symbolen, wie die Palme, der siebenarmige Leuchter
und die Taube, ist auch von den Christen übernommen worden.'
Auch die christliche Idee des Seligenmahles , worin der
Fisch die Hauptrolle spielt, ist aus dem messianischen Zukunfts-
mahle des Judentums entsprungen. „Sie liegen an deinem
Toten Freigelassene waren, so würde dieses nur beweisen, daß die Familie
der Flavier jüdische ^^klaven hatte.
' Josephus Contra Apion. II, 10.
* Beraköt 64 a, Mö'ed qUtän 29; vgl. auch 2. Kön. 22, 20; Jes. 57, 2.
•■■' Vgl. De Rossi in Specilegium Solesmense III, C. M. Kaufmann
Handbuch d. chrisü. Archäologie, Paderborn 1905, S. 207. Über den sieben-
armigen Leuchter auf christlichen Denkmälern, der ebenso wie bei den
jüdischen teils aufrecht«tehend , teils umgestürzt dargestellt ist, vgl.
Garrucci Dissertationi archeologiche II, 158, Eoma 1865; Delattre iatnpes
chretiennes (Cat.) Nr. 694; F. X. Kraus Roma sott.* 1879, S. 293 f. Selbst
die Taube in Verbindung mit dem Fisch, wie dieses auf dem jüdischen
Grabstein zu Syrakus zu sehen ist, kommt auf vielen christlichen
Katakomben -Grabmälem vor, vgl. Achelis D. Symbol d. Fisches S. 67
F. X. Kraus Borna sott.* 244.
30 I- Scheftelowitz
I == Gottes] Tische und werden gespeist in Ewigkeit", sagt
ein alter syrischer Kirchenvater.^ Nachdem einmal in Jesus
der Messias gesehen und so das Gottesreich als gegenwärtig
anerkannt war, mußte infolgedessen schon die tägliche Mahlzeit
des Christus und seiner Anhänger als charakteristischer Zug
des messianischen Mahles angesehen werden. „Es ist auch
kein Zufall, daß Jesus in den Evangelien so gern beim Mahle
vorgeführt wird; dabei machen sich wichtige Züge des messi-
anischen Mahles bemerkbar; das Gottesreich ist Freude; im
Gegensatz zu dem fastenden Bußprediger sehen wir Jesus
essen und trinken."^ Joh. 21, 8 — 13 berichtet vom Mahle
am See Genezareth: „Wie sie nun ans Land stiegen, sahen
sie ein Kohlenfeuer bereitet und einen Fisch darauf und Brot
. . Und Jesus kam und nahm das Brot und gab es ihnen
und den Fisch ebenso." Matth. 14, 19, Mark. 6, 38 ff., Luk. 9,
13 ff. und Joh. 6, 11 schildern die Speisung der 5000 mit fünf
Gerstenbroten und zwei Fischen. Auch bei der Erscheinung
des wiederauferstandenen Christus fand die Mahlidee Eingang.
Jesus erscheint (nach Lukas 24, H6ff.) gleich nach seiner Auf-
erstehung im Kreise seiner Jünger und verlangt zu essen
„Sie aber reichten ihm ein Stück gebratenen Fisches und
Honigseim."^
Also auch nach christlicher Auffassung besteht das Seligen-
mahl der messianischen Zeit in Fisch und Brot. Daher kommt
in allen Mahlbildern der christlichen Katakomben Fisch neben
Brot vor.
Auf Anhänger der judenchristlichen Gemeinde scheinen
die ursprünglichen Katakomben der S. Lucina zurückzugehen.
Dort Avurden Grabschriften adliger Römer aus dem Anfange
1 Aphraat Hom. XXII.
» L. V. Sybel Christliehe Antike I, S. 193.
* Luk. 24, 42. Es ist bei den Juden ein alter Brauch, am Neujalirs-
feste das Brot, womit das Mahl eingesegnet wurde, mit Honig zu
genießen. Zur Einsegnung des jüdischen Festmahles genügt auch Rrot
allein, falls kein Wein zu beschaffen ist.
Das Fisch - Symbol im Judentum und Christentum 31
des 2. Jahrhunderts zutage befördert, die den Familien der
Caecilier, Comelier und der Pomponier zugehörig sind. „Jene
ursprüngliche Grabstätte ist uns teilweise noch mit ihren
Gemälden bis heute bewahrt. Eine schmale Treppe führt von
der Oberfläche des Bodens in eine doppelte Grabkammer; die
Deckenmalerei des zweiten Gemaches ist vortrefflich erhalten,
ganz im Stile der pompejanischen Wandgemälde."^ Sämtliche
bildlichen Darstellungen gehen auf altjüdische Motive zurück.
Zunächst ist zum Zeichen dafür, daß der Tote der juden-
christlichen Gemeinde angehört habe, vor dem Eingange im
ersten Gemache dargestellt, wie der ehemalige Heide das nach
jüdischen Gesetzen vorgeschriebene Tauchbad in einem Quell-
wasser genommen hat. Oben schwebt eine Taube mit einem
Olblatt im Schnabel, was ein altjüdisches Symbol ist. In der
Mitte des Gemaches ist Daniel in der Löwengrube zu sehen.
Zwei andere Bilder, die in den vier Ecken abwechselnd an-
gebracht sind, gehören ursprünglich dem Heidentum an, nämlich
der gute Hirte, der ein Schaf auf seinem Rücken trägt, und
die Orante (d. i. eine Frau, die die Arme zum Gebete erhoben
hat)."' Der gute Hirte ist keine sklavische Nachahmung des
Hermes, der auf seinen Schultern einen Widder trägt, sondern
unter demselben Bilde haben ja die Juden nicht nur Moses,
sondern auch den messianischen König darcrestellt. Moses
selbst hatte den Beinamen „der treue Hirte ".^ Der Midras
erzählt: „Als Moses in der Nähe der Wüste die Schafe
seines Schwiegervaters weidete, entlief ihm ein Lamm. Moses
begab sich auf die Suche nach demselben und fand es bei
einer Quelle, seinen Durst hastig stillend. Da sah Moses ein,
* A. de Waal Borna sacra, München 1905, S. 65.
* Die älteste Darstellung des guten Hirten stammt aus den Kata-
komben der S. Priscilla, vgl. A. de Waal Borna sacra p. 54. Über die
heidnische Darstellung des guten Hirten vgl. F. X. Kraus Born, soiter.* 229 f.
* Vgl. Midr. Räbbä zu 2. M. Abschn 2: Zchir zu Bertsit 18, 23:
N^r'^r;?: 5rr"i; vgl. auch Jes. 63 11, wo Moses „der Hirt seiner Herde'-
genannt wird.
32 I- Scheftelowitz
daß es nur deshalb entlaufen war, weil es durstig war, und
er machte sich darüber Vorwürfe, daß er nicht genügend für
das Tier gesorgt habe. Mitleidig nahm er das müde Tier
auf seine Schulter und trug es zur Herde zurück. Da
sprach Gott zu ihm: Da du ein solch treuer Hirte einer
Schafherde bist, so wirst du wohl auch meine Herde, das
Volk Israel, mit Schonung und Liebe behüten, sei du daher
der treue Hirte meines Volkes." ^ Ebenso werden der wahre Prophet
(Zach. c. 11) und der messianische König unter dem Bilde eines
guten Hirten geschildert (Jerem. 23, 4. Ezech. 34, 23). Selbst
Gott wird mit einem fürsorglichen Hirten verglichen: „Wie
ein Hirt wird er weiden seine Herde, mit seinem Arme die
Lämmer sammeln, an seinem Busen sie tragen" (Jes. 40, 11).^
Die römischen Proselyten werden daher auf ihren Grabgemälden
Moses oder den König der messianischen Zeit als den guten
Hirten dargestellt haben."^
An die Darstellung des jüdischen Grabsteines zu Syrakus
erinnert das Bild auf der Rückwand der zweiten Kammer von
S. Lucina, „wo wir nämlich auf der Steinleiste zwischen zwei
aus dem Tuff ausgehöhlten Gräbern einander gegenüber zwei
Fische sehen und neben ihnen (fast scheint es, als trügen sie
ihn) je einen geflochtenen Korb, auf welchem oben Brote
liegen. Das Flechtwerk ist vorn in der Mitte offen gehalten,
um ein mit rotem Wein gefülltes Glasgeiaß erscheinen zu
lassen."* Bisher konnte man keine genüyiende Erklärung
^ Midr. Räbbä zu 2. M. Abschn. 2.
* Vgl. auch Ez. 34, 11—16, Ps, 23, 1—4 (wo Cxott selbst den ver-
storbenen Frommen ein treuer Hirte ist) ; Ps. 80, 2.
* Josephus Bell. Jud. II, 8, 9 berichtet von der jüdischen Sekte der
Essener: „Nächst Gott zollen sie die größte Verehrung dem Namen des
Gesetzgebers Moses." Über Moses auf den Sarkophagbilderu vgl.
L. V. Sybel Christliche Antike II, 117—124,
* Anton de Waal Borna Sacra S. 65 — 66. Die früher allgemein
verbreitete Ansicht, die Fische seien Träger der Körbe, ist falsch, vgl.
I. Wilpert D. Malereien der Katakomben Roms, S. 288 f. u. Taf. 27, 1 u, 28.
Das Fi seh -Symbol im Judentum und Christentum 33
dieser Illustration geben. Nach Anton de Waal scheint der
Wein in den beiden ein sinnbildlicher Hinweis zu sein, „um
zugleich mit dem Brote ein Symbol jenes geheimnisvollen
Mahles zu sein, welches uns zur Teilnahme am ewigen
Himmelsmahle vorbereitet". Nur vom urjüdischen Standpunkte
aus erhält dieses Bild seine richtige Bedeutung, wie ich bereits
oben bei den jüdischen Darstellungen ausgeführt habe.
An das Bild im jüdischen Coemeterium zu Rom erinnern
einige Malereien in den Sakramentskapellen von S. Callisto,
die aus der ersten HäKte des 3. Jahrhunderts stammen
und aus sechs kleinen dicht nebeneinander liegenden Cubicula
bestehen. Auf einer Seiten wand sieht man sieben Jünglinge
zu einem Mahl zusammensitzen. „Jeder der Gastmahlsgenossen
streckt einen Arm nach zwei großen, auf Schüsseln vorgelegten
Fischen aus, während sie — zwei ausgenommen — den anderen
Arm in lebhaftem Gestus erheben." Vor dem Tische sind acht
Brotkörbe, links und rechts je vier, aufgestellt.* An der Decke
eines dieser Cubicula findet sich eine ähnliche Szene. „Auf
einem Drei fuße liegen zwei Brote und ein Fisch. Zu beiden
Seiten stehen drei bzw. vier Körbe mit Brot."' In dem daran
anstoßenden Cubiculum sieht man das Bild eines Mannes und
einer Frau, zwischen ihnen einen dreifüßigen Tisch. Die Frau
..neigt sich leicht abwärts nach dem Tische hin und erhebt
betend die Arme". Der dreifüßige Tisch ist „mit Speisestücken,
darunter Brot und ein Fisch, bedeckt. Letzterer und ein
darunter liegendes Brot werden von der männlichen Person
ergriffen".^ In diesen Zusammenhang gehören noch die-
jenigen Katakomben -Grabsteine, welche Fisch und Brot als
Bilder tragen.*
* H. Achelis D. Syvibol des Fisches S. 77; L. v. Sybel Christi
Antike I S. 204.
* H. Achelis D. Symbol des Fisches S. 87 f.
* H. Achelis a. a. 0. S. 89. Über ähnliche himmlische Mahlbilder
aus dem 4. Jahrhundert s. L. v. Sjbel Christi. Antike I S. 206.
* Vgl. H. Achelis D. Symbol d. Fisches S. 97 f.
Archiv f. Religionswissenschaft XIV 3
34 I- Scheftelowitz
In den Katakomben der Plautilla an der ostiensischen
Straße ist ein Freigelassener aus dem Hause der Flavier
begraben, Titus Flavius Eutycbes, dessen Inschrift mit dem
Zurufe kare bale [= care vale] schließt, dann sind zwei Brote
und darunter zwei Fische dargestellt.^ Zur Einsegnung des
Festmahls gehören nach talmudischer Vorschrift wenigstens
zwei Brote. Oben S. 28 f. sind bereits die Beziehungen der
Flavier zu den Juden festgestellt.
Der Wunsch, daß der Verstorbene in das himmlische
Leben eingehe, wurde also ursprünglich bildlich durch eine
himmlische Fischmahlszene ausgedrückt. Deshalb sind diese
Seligenmahle natürlich auch gewöhnlich in den blumen-
reichen Auen des Paradieses dargestellt. Das älteste Beispiel
bietet die dem Anfang des 2. Jahrhunderts zugeschriebene
Capella Graeca des Coemeterium Priscillae. Hier ist das
Gemälde eines Seligenmahles im Grünen zu sehen. „Das
Polster liegt am Boden in weit offenem Halbkreis; davor
stehen ein Becher und zwei Schüsseln, die eine mit zwei
Fischen, die andere mit fünf Broten. Sieben Personen sind
beteiligt . . . unter ihnen zur Linken der Mittelperson befindet
sich eine Frau . , , der bärtige Siebente sitzt links; er hält mit
vorgestreckten Händen einen nicht mehr recht deutlichen
Gegenstand", wohl ein Brot. Endlich stehen zu beiden Seiten
des Gelages linker Hand vier, rechts drei volle Brotkörbe gereiht.
„Die gereihten Brotkörbe, das sieht jeder sofort, stammen aus
der Speisung der Tausende." ^ Hier ist die altjüdische Vor-
stellung vom himmlischen Mahle mit der evangelischen Speisung
zusammengeflossen. Dieser Grundgedanke, daß der Verstorbene
würdig sei, die Auferstehung zu erleben, wurde im Laufe der
Zeit viel einfacher durch zwei Fische oder sogar nur durch
einen einzigen Fisch zum Ausdruck gebracht, da ja der Fisch
* Vgl. A. de Waal Rotna Sacra S. 68.
* L. V. Sybel Christliche Antike 1 202, vgl. auch C. M. Kaufmann
Handb. d. christl. Ärchäol, Paderborn 1906, S. 303 — 304.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 35
das Charakteristische des himmlischen Mahles ist. Darum
kommen auf den christlichen Katakomben- Grabsteinen nur
zwei Fische bzw. ein Fisch vor.^ Auch in den christlichen
Katakomben von Hadrumetum in Afrika ist der Fisch gefunden '
In einer verfallenen altchristlichen Basilika einer altrömischen
Stadt Nordafrikas, die erst vor einigen Jahren aufgedeckt
wurde, sind in dem Mosaikbelag des Fußbodens, der dem
Eingang zunächst gelegen ist, Fische dargestellt. „Dem Styl
nach zu urteilen, gehören die Mosaiken dem Ausgang des
vierten oder fünften Jahrhunderts an."' Sehr häufig erscheint
in späterer Zeit der Fisch in Verbindung mit dem urchristlichen
Symbol, dem Anker/ Während der Fisch die Hoffnung auf
das Jenseits ausdrückt, bezeugt der Anker das Bekenntnis des
Beigesetzten.^ Ein im Jahrie 1841 auf dem Mons Vaticanus
aufgedecktes Grabmal zeigt über zwei Fischen und einem
Anker die Worte: IX&YZ ZSINTSIN. Viktor Schnitze*' hat
hier die eucharistische Bedeutung des Fischsymbols vermutet.
Unter ZSINTSIN sind vielmehr die im Jenseits Ewiglebenden
verstanden, die des Genusses des messianischen Fisches teil-
haftig sind. Nach altjüdischer Auffassung werden die Frommen,
die nach ihrem Tode ins Jenseits gelangen, die Lebenden ge-
' Nach J. Wilpert Pnnzipienfragen d. christl. Archäologie (Freiburg
1889) p. 7 geschah die Verdopplung der Fische aus symmetrischen Gründen.
Dölger {Rom. Quart. 1910 p. 75) glaubt dagegen, daß unter den zwei
Fischen die Christen angedeutet wären; „der Plurahs kann nur minde-
stens durch zwei Fische ausgedrückt werden."
* Böm. Quartalschr. 20, 217.
■• Rom. Quartalschr. 15, 91. Auch in der kürzlich aufgedeckten
Basilika von Aquileja in der Xähe Venedigs, die etwa um 300 n. Chr.
erbaut wurde, sind Mosaiken mit Fischen gefunden worden (vgl. die
Ztschr. Adria, Triest 1910 Nr. 3).
* Vgl. H. Achelis D. Symbol d. Fischts, Marburg 1888, S. 60 — 62;
F. Becker 1). Barstellung Jesu Christi unter dem Bilde des Fisches,
Breslau 1866 Nr. 57. De Waal Rom. Quartalschr. 18, 263.
* „Ein auf einer Grabplatte eingeritzter Fisch kann nie den Christus
bedeuten" (H. Achelis D. Symbol d. Fisches S. 9).
* V Schnitze D. Katakomben, Jena 1877, S. 117.
3*
36 I- Scheftelowitz
nannt (vgl. Midr. Tanhümä 5 M. c. 34 Schluß; Pirqe Aböt 4,
29). Daher heißt es in den Grabinschriften der jüdischen
Katakomben: diu ßCov (hebr. db^y •^inb) „zum ewigen Leben".
Auch das Neue Testament versteht unter dem Begriff „Leben"
das ewige Leben der Seligen (Matth. 1, 14; 19, 17). Dasselbe
nun was Ix^vg S<övtov ausdrückt, versinnbildlichen auch viele
andere Bilder, die in den christlichen Katakomben häufig zu
sehen sind, wie das Isaakopfer, Daniel in der Löwengrube, die
drei Jünglinge im Feuerofen, die Susanna (die aus den apo-
kryphischen Büchern des Alten Testaments stammt); sie sind
„sämtlich sinnbildliche Darstellungen der Rettung aus dem Grabe
zum seligen Leben im Himmel".^
Auf einem christlichen Grabmale zu Thessalonich heißt es:
„Den süßesten Eltern zur Ruhestätte bis zur Auferstehung."
Darunter befindet sich das Bild eines Fisches. Der Glaube
an die Auferstehung ist auf einem alten Katakomben-Grabstein
durch folgenden Satz ausgedrückt: „Er hat seinen Leib der
Erde anvertraut, bis der frohe Tag der Auferstehung dämmert." ^
Die meisten christlichen Gräber weisen nur das Zeichen
des christlichen Glaubens, den Anker, auf. In der Kata-
kombe der heiligen Priscilla finden wir auf 370 Inschriften
39 mal den Anker, elfmal die Palme, zweimal die Taube und
nur dreimal den Fisch. Von diesen drei Fisch -Grabsteinen
entstammen wohl zwei vielleicht noch aus dem 2. Jahrhundert,
dagegen der dritte sicherlich aus dem 3. Jahrhundert. Bereits
Wilpert* hat richtig vermutet: „Das spätere Auftreten des
^ De Waal Roma sacra, München 1906, S. 100 f. Daher wird auch
auf den alten Grabinschriften der sehnsüchtige Wunsch ausgedrückt:
vivatis in Deo oder vivas in Deo (vgl. Georg Schmidt D. unterirdische
Born Brixen 1908 p. 124, 143, 271). Daher haben zuweilen die den
Toten beigelegten tönernen Henkelkrüge die Aufschrift: ^ijßrig (derartiges
findet eich in der Sammlung des Konsul Niessen, Cöln).
* emfioc 3k ycürj sIookul ccvaardasws sväyysXov i](ucq sixj]ts. Vgl. de
Waal Borna sacra S. 108.
* Böm. Quartalschr. 20, 14.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 37
Fisches an sich liegt in der Natur der Sache begründet", da
es die Vereinfachung der älteren Darstellungen ist, welche
mehrere Fische aufweisen, „aus denen er sich als selbständiges
Symbol entwickelt hat." Die himmlische Fischmahlzeit ist so-
mit später nur durch einen Fisch angedeutet worden. Dieser
f'ine Fisch wurde dann im Laufe der Zeit als das Symbol des
Heilands, als 'Ix^vg, gedeutet. Daher wird nun anstelle des
Fischbildes das Wort 'Ix^^S gesetzt.^ Ebenso wie den Juden*
war auch den ältesten Christen der Fisch eine bevorzugte
Speise, Aus Tertullian adversus Marcionem I, 14 geht hervor,
daß Marcion die Fische als eine „heilige Speise, sanctiorem
cibum" betrachtet hat; die Marcioniten und Manichäer haben
daher Fischspeise bevorzugt. Die Montanisten begründeten ihre
-trenge Fastenordnung damit, daß sie behaupteten: „Christus
aß nach seiner Auferstehung Fisch und nicht Fleisch, weswegen
auch wir Fisch essen und nicht Fleisch."'' Clemens von
Alexandrien^ sieht in dem Fischgenuß die bvxoXos xal
d-sodägrjtog xai öaxpgav XQOCpT].
Mit dem Beginn des 5. Jahrhunderts ist das Fischsyrabol
fast überall verschwunden.^
' So z. B. de Waal Borna Sacra S. 112: Bettonifus] in pace Deus
cum spiritam(!) tuum(!).'7;ir9'ys. DecessitVII Idus Febr. ^ I • annorumXXII.
* Die Juden setzten ihren Gästen, die sie besonders ehren wollten,
Fische vor (vgl. Taliu. Makköt IIa, Sifre zu Deuter. Abschn. 37).
' F. J. Dölger Eöm. Quartalschr. 23, 154. * Paed. II, 1.
'' Vgl. F. X. Kraus Borna sacra S. 240. Herr Prof. A. Müller, Religions-
lehrer an der hiesigen Oberrealschule, macht mich noch auf folgendes,
sehr altes Mosaikbild aus der Basilika S. Apollinare Xuovo zu Ravenna
aufmerksam, welche kurz nach dem Jahre 500 erbaut wurde. Es stellt
das letzte Abendmahl dar. Prof. A. Müller, der das Original gesehen hat,
beschreibt es mir folgendermaßen: Die ganze Auffassung der Szene er-
innert noch sehr an die entsprechenden Bilder in den Katakomben.
Der gedeckte Tisch ist mit einem Polster eingefaßt, auf welches sich
die um den Tisch liegenden Personen stützen. Während die Apostel
bartlos sind, ist Christus bärtig; er Hegt an der Ecke, links vom
Beschauer. Auf dem Tische sind vor den Aposteln Brote, während in
der Mitte eine Schüs.sel mit zwei Fischen steht.
38 I- Scheftelowitz
Das spätere Christentum, dem der ursprüngliche Sinn des
Fischmahls nicht mehr geläufig war, sah in den Fischen eben-
falls das Christus -Symiaol 'Ix^vg, und so wurde das eigent-
liche messianische Fischmahl zum Sinnbild der Eucharistie.
Schon H. Achelis^ meint, daß die eucharistische Bedeutung
des Fisches „erst später hineingelegt worden" und nur ver-
ständlich sei „als eine Weiterbildung der einfacheren Vor-
stellung, daß der. Fisch Christus bedeutet". Die Bezeichnung
^Ixd^vs für den Heiland ist aus einer Verschmelzung des Messias
mit dem messianischen Fisch hervorgegangen, und letzterer
dient ja nach altjüdischen Vorstellungen den Frommen einst
zur Speise. Daher konnte Christus bei den Kirchenvätern zu
demjenigen Fisch werden, „durch dessen innerliche Heilmittel
die Menschheit täglich erleuchtet und ernährt wird".^ Nicht
nur das Christentum, sondern auch der Islam hat den
Glauben an das ewige Leben und die Auferstehung vom
Judentum übernommen. Daher ist nach den Dogmatikern des
Islam die himmlische Speise der Seligen der Fisch, der die
Erde trägt.^ Auch den Muslims ist der Fisch eine bevorzugte
Speise, worüber es im Koran (Sure 5) lautet: „Seine Speise
diene euch und den Reisenden als Lebensmittel "
Eine ähnliche Rolle wie der Fisch bei der Wieder-
auferstehung im Judentum spielt der messianische Stier
Ha^ayas im Parsismus. Dieser unsterbliche Stier wird erst
am Tage der Wiederauferstehung von dem Heiland Saosyant
' Achelis D. Symbol d(S Fisches, Marburg 1888, Ö. 51.
* Vgl. Prosper v. Aquitanien De promiss. et praedict. T)ei
II, 39: Piscis . . . cuius ex interioribus remediis quotidie illuminaumr et
pascimur.
* Vgl. I. B. Rüling Beitr. z. Eschatologie des Islam, Leipzig (Disaert.)
1896, S. 66. Nach Sure 6, 112—116 sendet Gott dem Jesu auf sein
dringendes Bitten einen himmlischen Tisch mit Speisen für die
Menschheit herab. Als Hauptspeiso wird von den Kommentaren der
Fisch genannt. (Darauf bin ich von Rob. Eisler aufmerksam gemacht
worden.)
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 39
geschlachtet. Das Fett dieses Tieres wird, gemischt mit Hörn,
den Frommen als Unsterblichkeitstrank vorgesetzt.^
Diese den Juden nicht fremdartig klingende persische Vor-
stellung vom messianischen Stier ist, da die persischen An-
schauungen über die zukünftige Welt sich vielfach mit den
jüdischen eng berührten, neben manchen andern Ideen über
das Leben im Jenseits und über die messianische Ära in die
jüdische Eschatologie aufgenommen. Für solche Vorstellungen,
die eigentlich mehr den Unterströmungen der jüdischen Religion
angehört und niemals einen wesentlichen BestandteU des Juden-
tums ausgemacht haben, suchte man nachträglich Anhaltspunkte
in der Bibel. So glaubte man den messianischen Stier bereits
in Hiob c. 40 angedeutet zu finden, wo neben dem messianischen
Leviatan auch ein gewaltiges Landtier, namens Behemöt, wohl
„Flußpferd" (s. Gesenius-Buhl: Handwörterb. z. A. T.") ge-
schildert wird. Auch die Ableitung des Namens von Behemä
(„zahmes Vieh"j schien für die Annahme eines Stieres zu
sprechen. Erst in der spätjüdischen Literatur tritt neben dem
Leviatan das messianische Landtier Behemot auf (vgL 4. Buch
Esra 6, 51; Syr. Baruchapokal. 29, 4), mit dessen Fleisch die
Frommen am Jüngsten Gerichte gespeist werden (Henoch 60, 7;
4. Esra 5, 51 — 52). Im Midras* wird er als gewaltiger Stier
• Vgl. Dädistän i Dinik c. 37, 99. 119; 48, 34; 90, 40; Bundekis 19,
13; 30, 25; Zädsparam 11, 10. Dieser Trank, der Hüä heißt, spielt auch
im Mithrasknlt eine wichtige Rolle, vgl. A. Dieterich Bonn. Jahrb. 1902,
5. 32. Nach dem Parsismus wird sonst den verstorbenen Seligen gleich
nach ihrem Tode im Himmel als Speise eine Art Butter, Maidyök-zarem
vorgesetzt. Sie wird als die allerangenehmste Speise bezeichnet; vgl.
Dädrstän i Dlnlk c. 31. 13. Hädöxt yask U, 38; MenixardU, 152. Der
messianische Stier der Perser kann ursprünglich die Sonne im Tierkreis-
zeichen des Stieres, im Frühlingsäquinoktium, darstellen. So stammen
auch „ die ältesten erhaltenen babylonischen Urkunden aus der Periode
des Stieres; der Kalender ist vollständig hierauf zugeschnitten."
(J Benzinger Hebr. Archäologie* p. 163.)
* Wajiqrä RAbbä P. 13, 4; P. 22, Pesiqtä-Bahhäti cap. 16; Jalqüt
zu 3. Mos. cap. 11. Der Midras Tanhumä 3. Mos. cap. 11, 1 u. 5. Mos.
29, 9 gibt über den Leviatan und den Behemöt folgende Schilderung:
40 I- Scheffcelowitz
geschildert, der in der raessianischen Zeit mit dem Leviatan
einen Zweikampf bestellt, in welchem beide sich gegenseitig
tötlich verwunden werden. In dem Satze Hiob 40, 19: „Sein
(des Behemöt) Schöpfer wird das Schwert heranbringen", fand
man nun eine Bestätigung für die Anschauung, daß Gott dann
diesen Stier mit einem Schwerte zergliedern und an die Frommen
verteilen werde (s. Kommentar Rasi zu Hiob 40, 19). In der
hebräischen Dichtung Aqdämüt,^ die von dem um 1060 n. Chr.
lebenden Rabbi Meir Ben-Jishäq verfaßt ist, wird diese
eschatologische Vorstellung genau geschildert: „Bald wird uns
Gott in die ewige Welt leiten, die er uns in seiner Erhaben-
heit von Anfang an zum Anteil beschieden hat. Nun erhebt
sich ein Zweikampf zwischen dem Leviatan und dem Berg-
stier, sie greifen einander tapfer an und führen einen be-
lustigenden Kampf. Mit den Hörnern führt der Stier Behemöt
seine tötlichen Stöße. Der Fisch aber schnellt ihn tot mit
seinen ehernen Flossen. Gott tritt herzu mit einem gewaltigen
Schwerte und zergliedert sie und bereitet sie zum köstlichen
Mahle für die Frommen. Diese sitzen rings um Tische* von
Jaspis und Karfunkel neben balsamströmenden Bächen und
zechen entzückt aus vollen Pokalen des köstlichen Weins, der
seit der Schöpfung der Welt in Beeren aufbewahrt ist."
In der zukünftigen Welt wird den Frommen aus dem Fleische des
Behemöt und des Leviatan ein Mahl hergerichtet. Gott fordert zunächst
die Engel auf, den Leviatan zu erlegen. Sobald sie ihm aber gegen-
überstehen, und er seine Blicke gegen sie heftet, geraten sie in Furcht
und ergreifen die Flucht. Er reißt seinen Mund auf und verschlingt sämt-
liche Fische des Meeres. Auf Geheiß Gottes schießen die Engel Pfeile
gegen ihn, allein er fühlt sie nicht; sie schleudern dann mit Wurf-
maschinen gegen ihn gewaltige Steine, aber sie schaden ihm nicht. Da
läßt Gott den Behemöt, der auf 1000 Bergen weidet, in gewaltige Wut
gegen den Leviatan geraten, er stürmt gegen ihn an und beide töten
sich gegenseitig. Sogleich versammeln sich die Frommen um diese beiden
messianischen Tiere, und Gott läßt dann jeden einzelnen seinem Ver-
dienste entsprechend von ihnen Fleisch essen.
' Diese Dichtung wird am ersten Tage des Säbu'öt-Featea verlesen
und ist im Mahzör aufgenommen.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 41
7 Ursprung der engen Verbindung des Fisches mit
dem Auftreten des Messias im Judentum
Daß der Anbruch der messianischen Zeit im Judentum
eng mit dem Fischsvmbol verknüpft ist, scheint auf astrologische
Vorstellungen zurückzugehen. Im Altertum spielten die zwölf
Tierkreisbilder des Himmels die wichtigste Rolle im Kalender.
Diese uralten Bilder kamen bereits in babylonischen Abbildungen
vor. Niemand weiß, wann sie erfunden worden sind. Bereits
in grauer Vorzeit wurden besonders der Tierkreis und die
Planeten beobachtet.* Die Jahreszeitpunkte des Weltenjahres
suchte man im Tierkreis zu fixieren.- Nach altorientalischer
Auffassung konnte man den richtigen Zeitpunkt wichtiger
Ereignisse aus den Gestirnen erschließen. Die Babylonier
gaben daher stets auf den Stand der Himmelskörper acht,
und „überzeugt davon, daß dieser Zusammenhang mit dem-
jenigen, was sich auf Erden ereignet, und daß die Götter
hierdurch den Menschen ihren Willen zu erkennen geben,
nahm man bei den wichtigen Vorfallen sorgfältig Notiz von
demselben, um aus ihm Weissagungen bezüglich der nächsten
Zukunft herzuleiten".'
Auch die alten Inder glaubten, daß alle Ereignisse in der
Welt von den Tierkreisbildern und den Planeten abhängig
wären. „Alles, was hier in der Welt Schönes und Unschönes
zu schauen ist, das stammt von ihnen" (von „dem Monde, den
Sternbildern, Planeten").* „Von den Planeten hängt ab der
Könige Erhebung und Fall und das Sein und Nichtsein
der Welt; deshalb sind die Planeten besonders zu ehren."'
* Vgl. Ginzel D. astronom. Kenntn. d. Babylonier (in Beitr. z. alt.
Gesch 1902); A. Jeremias D. Alter cL babylon. Astronomie, Leipzig 1908.
* Vgl. 0. Gruppe Griech. Myth. u. Religionsgesch. I, 450. Über die
astrologischen Anschauungen in Nordabessinien vgl E. Littmann Arch.f.
Beligioymc. 11, 298 ff.
' P. Tiele Gesch. d. Relig. d. Altert. I, S. 209f. ; vgl. Diodoros Bt|3i»o*^'x;j
töropixi} (ed. Vogel, Leipzig 1888) IIc 30 — 31.
* MaiträyanaUpanisadQ, IQ. * Yäjhavalkyal^ZQl.
42 I- Scheftelowitz
Nach dem Glauben der Inder kann man unter einem günstigen
oder üblen Gestirn geboren werden.^
Die alten Perser nahmen an, daß jedes Wesen seinen
besonderen Stern habe.^ Alles, was sich unter den Menschen
ereignet, steht im Zusammenhang mit den Gestirnen.^ Die
Stellung der Tierkreisbilder ist nach persischer Auffassung von
Einfluß für das menschliche Geschick.*
In China wird ebenfalls bei allen wichtigen Angelegen-
heiten der Astrologe gefragt, welcher aus den Gestirnen den
günstigen Tag zur Vornahme eines Aktes berechnet. Ebenso wie
die Babylonier unterscheiden sie Glücks- und Unglückstage (vgl.
F. Heigl, Religion und Kultur Chinas, Berlin 1900, p. 130f.).
Dieser Glaube, daß das Schicksal des Menschen durch
die Konstellation der Geburtsstunde bestimmt werde, besonders
durch die Stellung der Planeten zu den Zeichen des Tier-
kreises, war ursprünglich den alten Israeliten und Griechen
völlig fremd. Diese astrologischen Lehren scheint wohl
hauptsächlich der Babylonier Berossos den Griechen vermittelt
zu haben. „Die Verbreitung und Bedeutung, die diese Lehren
und die astrologische Praxis fanden, off'enbart sich in der
Aufnahme der Astrologie in die stoische Theologie und in dem
lebhaften Streite, der seit Karneades um ihre Geltung geführt
wurde. Und mit der hellenistischen Zeit setzt eine reiche
astrologische Literatur ein."^ Dieser Aberglaube hatte sich
über die ganze klassische Welt verbreitet. Plinius^ berichtet:
' Vgl. Kausika Sütra 40, 25. =* Vgl. Menlxard 49, 22 — 23.
' Dädistän i Dlnik 70, 2.
* Epistles of Mänüsclhar 2, 0 — 11; Herodotos 1, 131 berichtet, daß
die Perser die Sterne verehrten.
" P. Wendland Z). hellen.-röm. Kultur, Tübingen 1907, S. 80: vgl. auch
F. BoU D. Erforsch, d. antik. Astrologie in iV'. Jahrb. f. d. klass. Altert. 1908,
S. 103 ff.; F. Cumont, B. oriental. Eeligü>nen. übers, von Gehrich, Leipzig
1910, S. 191—205.
® Plinius Ilistoria vaturalis 11, 23. Den Römern war ursprünglich
die Verehrung der Gestirne fremd, vgl. W. Gundel De stellarum appel-
latione et religione Romana, Rel. gesch. Vera. u. Vorarb. III 2, Gießen 1907.
Das Fiach- Symbol im Jadentnm und Chnstentam 43
Viele Menschen schreiben ihren Gestirnen die Ereignisse zu
„nach den Gesetzen der Konstellation bei der Geburt". „Diese
Meinung fangt an, sich festzusetzen, und sowohl der Gebildete
als auch der rohe Haufe nähert sich ihr im Sturmschritt."
Bei der Deutung des Sternes ist es nach Plinius von Wichtig-
keit, „welche Ähnlichkeit er zeige, und an welchem Orte er
erscheine".' Das Altertum glaubte, daß die herrorragenden
Menschen besonders helleuchtende Sterne hätten.- Li der
Geburtsnacht Alexanders d. Gr., da der Tempel der ephesischen
Artemis in Flammen aufging, stand ein auffallend glänzender
Stern am Himmel. Schon die Mitwelt deutete ihn auf den
kommenden Heiland, und der Sternglaube hat mit dazu bei-
getragen, dem Mazedonier bei den Persem den Weg zu ebnen.
Noch mit der Geburt Alexanders Severus' (222 — 235) verknüpft
die Überlieferung die Erzählung von einem plötzlich auf-
leuchtenden Stern, der die künftige Weltstellung des nicht in
Purpur geborenen Knaben voraus verkündet hätte. Ähnliches
berichtet der Talmud: Bei der Geburt Moses' erhellte plötzlich
ein überirdisches Licht das Haus, in welchem das Kind ge-
boren wurde.^ Nach dem Midras* war dieses Licht in der
ganzen Welt sichtbar. Auch bei der Geburt Jesu erscheint
über Bethlehems St?ll ein Stem.^
Die Israeliten haben erst durch die Berührung mit den
Assyrem die Stemdeuterei in ihrer Verwertung für das Ge-
schick des einzelnen Menschen kennen gelernt.^ Dieser Aber-
' Plinius Historia nat. U, 92. * Vgl. Plinius II, 28.
' Talm.Sötä 12a und 13b; MegilJä 14a.
* .7a7gM( zu 2 M. 2.
'" Vgl. Matth. 2, 2. Über den Glauben an die Sterne und besonders
über den Stern Christi vgl. auch Hugo Kehrer D. lügen drei Könige in
Literatur u. Kunst, Leipzig 1909.
* Die astralen Grundlagen waren zwar den Israeliten seit ältester
Zeit bekannt, aber die eigentliche Astrologie stand in unvereinbarem
Gegensatze zu ihrer monotheistischen Religion, denn es galt als heid-
nische Art, aus den Sternen die Zukunft ergründen zu wollen (vgl.
Jes. 47, 13).
44 I- Scheftelowitz
glaube scheint etwa um 700 v. Chr. in Palästina eingedrungen
zu sein. Die Bibel berichtet, daß der assyrerfreundliche König
Manasse die Gestirne des Himmels verehrte.^ Diesen Aberglauben,
daß von den Sternbildern das Geschick des Menschen abhänge,
sucht Jeremia (10, 2) zu bekämpfen: „An die Sitten der
Völker gewöhnt euch nicht, und vor den Zeichen- des Himmels
zagt nicht, wenn auch die Völker davor zagen." Die Misnä*
wirft den Heiden die Verehrung der Sterne und der Tierkreis-
bilder vor. Die um 140 v. Chr. verfaßten Sibyllinischen
Orakel des 3. Buches behaupten, daß die Juden „weder aus
den Sternen die Orakel der Chaldäer suchen, noch Astrologie
treiben, denn das alles ist verführend".^ Allein im gewöhnlichen
Volksglauben der Juden hatte man bereits lange der Astrologie
höbe Bedeutung beigelegt. Schon Aussprüche von Talmud-
lehrern aus dem 1. Jahrhundert beweisen, daß man an die
Sterndeutung sehr viel glaubte.^ „Das Schicksal des Menschen
hängt von dem Planeten ab, der in der Geburtsstunde herrscht",
heißt es im Talmud.^ Rabbi Eliezer aus Modein behauptete,
schon Abraham habe große astrologische Kenntnisse besessen,
weshalb er von vielen aufgesucht wurde.*' Ebenso sagt der
Zöhär,'' daß Abraham aus den Gestirnen die Geschicke der
einzelnen Völker lesen konnte. Diese Ansicht, daß Abraham
die Astrologie genau gekannt hatte, ist sehr alt. Bereits
jüdisch -hellenistische Schriftsteller ^ der vorchristlichen Zeit
berichten dieses.^ Talmudlehrer des 2. Jahrhunderts n. Chr.,
' II. Kön. 21, 3 und 5. * Misnä Abödä zärä 4, 7.
* Sibyll. Or. Ilf, 227 f. Über das Alter dieses 3. Buches vgl. E. Scliürer,
Gesch. des Jüd. Volkes lll*, 571 f.
* Y gl Talm. Sabbat lb&a,Nedärim'62.
* Sabbat 156a; vgl. auch Zöhär Beresit Bl. 180b: btwn •^^br\ b'D'rt
„Allee hängt vom Tierkreis ab." Ähnlich heißt es im Talm. Mö'ed
qätün 25a: „Rabbä lehrt, daß Leben, Kinder und Lebensunterhalt vom
Planeten abhängt."
° Talm. Baba Baträ 16. ' Zöhär Beresit, Paresä Lek-lekä.
« Vgl. P. Wendland 1). helkn.-röm. Kultur, S. Ulf.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 45
wie Rabbi Meir und R. Jose haldigten der Astrologie*, ebenso
R. Chaninä (3. Jahrhundert).' Doch suchten andere Weise
diesen Aberglauben zu bekämpfen, so R. Aqibä, R. Jöhanan,
Räb und Semüel,' indem sie behaupteten, das Geschick Israels
stehe nicht unter dem Einfluß der Tierkreisbilder; jedoch
geben sie zu, daß die Sterndeutung für die Geschicke anderer
Völker von großem Einfluß sei.*
Auch von den Juden sind die wichtigsten Begebenheiten
unter den Menschen in Beziehung zu den Planeten und Tier-
kreisbildern gesetzt worden.^ So ist die altisraelitische An-
schauung, daß Gott die Handlungen der Menschen mit der
Wage wägt', unter dem Einfluß der Astrologie mit dem Rös-
hassänä-Fest, welches am ersten Tisri (d. i. der siebente Monat)
im Tierkreisbild der „Wage" gefeiert wird, eng verschmolzen.
Dieses bestätigt der Midras Rabbä", der ausdrücklich bemerkt,
daß dieses Fest mit dem Tierkreisbild der „Wage" im Zu-
sammenhang stehe, da Gott^an diesem Tage die Taten der
Menschen auf einer Wage abwiegt. Nach Josephus® wurde
die Zerstörung des Tempels bereits lange vorher durch ein
schwertähnliches Gestirn ancrekündicrt.
Dem Midras gemäß hatte Haman aus den Sternbildern zu
berechnen gesucht, wann der geeignetste Zeitpunkt für die
Vernichtung der Juden wäre. Und er fand, daß sein Plan
unter dem Tierkreis der „Fische" am besten ausgeführt werden
könnte, denn er dachte: „Wie die großen Fische die kleinen
' Talm.Sukkä 29 a, Mekiltä (ed. Weiß, Wien 1865) S. 4 a.
* Sabbat 156. » Sabbat 156 a.
* Sabbat 156, Mekiltä (ed.Weiß^ S. 4 a.
* Vgl. z. B. Talmud Berdköt 64 a, Hörajöt 14 a.
« Vgl. Hiob 31, 6, Ps. 62, 10, Miäle 16, 11, Dan. 5,27, Baruch 41, 6.
Diese Anschauung, daß die Gottheit die guten und bösen Handlungen
der Menschen wiegt, war auch bei den Ägyptern heimisch; vgl. Budge
Book of deaih 22 f., ebenso auch im Parsismus, vgl. Dädistün i Duiik
c. 8. 1 u. 13, 3, Men i xard 2, 119 — 121; Ardä Vlräf 5, 6.
' Bamidbur Rabbä c. 16, 1.
" Bellum Judaicum VI, 5, 3; Tacitus Histor. 5, 13.
46 I- Scheftelowitz
verschlingen, will ich auch die Israeliten verschlingen." „Doch
Gott sprach: Du Bösewicht! Zuweilen werden die Fische
verschlungen, zuweilen aber verschlingen sie, jetzt sollst du
von den verschlingenden [Fischen] verschlungen werden."^
Besonders suchten die Juden aus den Tierkreisbildern das
Erscheinen des Messias vorherzubestimmen, denn der Prophet
Jöel (3, 3 f.) hatte ja verkündet: „Und ich gebe Wunderzeichen
auf dem Himmel und auf der Erde . . . bevor der Tag des
Herrn kommt." Nach Pesiqtä zutartä (S. 58 a) und Zöhär
(2. Mos. S. 3) wird ein Stern am Morgen die Geburt des
Messias andeuten. Das Herannahen der messianischen Zeit wird
durch ein deutliches Zeichen am Himmel zu erkennen sein.^
Der Talmud setzt die Kenntnis der zwölf Tierkreisbilder
(mazalöt) als allgemein bekannt voraus.^ Die Reihenfolge der
zwölf Zodiakalzeichen nebst den ihnen zugehörigen Monaten,
wie sie in den jüdischen Schriftwerken aufgezählt werden,
lautet folgendermaßen: 1. Täleh „Widder" — Monat Nisan.
2. Sör „Stier" — Monat Ijjar. 3. Teömim „Zwillinge" —
Monat Siwan. 4. Sartän „Krebs" — Monat Tamüz. 5. Ari
„Löwe" — Monat Ab. 6. Betüläh „Jungfrau" — Monat
Elul. 7. Möznajim „Wage" — Monat Tisri. 8. 'Aqräb
„Skorpion" — Monat Marheswän. 9. Qeset „Bogen" —
Monat Kisleb. 10. Gedi „Ziegenbock" — Monat Tebet.
11. Deli „Eimer"— Monat Sebat. 12. Dägim „Fische"
— Monat Ädär.*
* Midras Rdbhä zu Esth. 3, 7, Jalqüt Simeöni zu Eeth. 3, 7.
* Sibyllin. Or. III, 796 flF. Daher scheint auch Aqibä den Freiheits-
helden Bar-Kosiba, den er für einen Messias hielt, Bar-Kökebä
(„Sternensohn") genannt zu haben; vgl. Midr. Ekä 2, 2; Jer. Talm.
Ta'anit IV, 7, p. 68b.
" Vgl. Berdköt 82b; ebenso das 5. Buch der Sibyllin. Gr., das
etwa im 2. Jhdt. n. Chr. verfaßt ist; vgl, E. Kautzsch, Apokryphen Bd. II
183; E. Schürer, Gesch. des jüd. Volks III*, 681—582.
* Vgl. Pesiqtä Eabhäti, c. 20; Midr. Tan}iumü 6. M. c. 82; Midr
Mablä zu Esth. 3, 7; Jalqüt Simeöni zu 2. M. Absch. 418; Jalqüt Sim.
zu 1. Kon. 7; Tal-Gebet, beginnend mit „Elim bejöm" im Muss.if-
Das Fisch -Symbol im Judentmn und Christentum 47
Für das Auftreten des Messias bietet nun das Sternbild
der „Fische" die bedeutungsvollsten und günstigsten Merk-
zeichen. Nach einer jüdischen Überlieferung ist nämlich die
Zeit, die der Ankunft des Messias vorangeht, in zwölf Abschnitte
geteilt, von denen ein jeder besondere Drangsale für die Welt
bringen wird. Erst nach dem zwölften Zeitabschnitt wird sich
Messias offenbaren', denn die Zwölfzahl ist von guter Vor-
bedeutung (Jalqüt zu Jes. 66). Unter den zwölf Sternbildern
stehen die „Fische" an letzter Stelle und sind im zwölften
Monat sichtbar. Das Sternbild der „Fische" kann, da es als
letztes der Tierkreisbilder im letzten Monat auftritt, einerseits
symbolisch sehr leicht als der Zeitpunkt des Weltendes auf-
gefaßt werden, anderseits aber auch, da unter demselben Stern-
bilde das Frühlingsäquinoktium liegt, wegen des Frühlings-
anfangs den Beginn einer neuen blühenden Ära darstellen.
Daher liegt es sehr nahe, das Erscheinen des Messias auf
diesen Zeitpunkt zu verlegen, so daß also die Vorstellungen
von dem Anbruche der messianischen Zeit sich eng mit dem
Fisch verknüpften.
Gebet zum ersten Tage Pesah (verf. Ele'azar Kalir im 8. Jhdt. , vgl. Zunz
Literatur gesch. d. synag. Poesie S. 45); Gesem- Gebet, beginnend mit
„Jiftah eres lejes'a" im Mussäf-Gebet zu Semini 'aseret; Rasi
z. Talm. Rös hassänäh IIb; Qinöt Lei tise'ä be-Ab im Schluß-
stück beginnend mit „Zer'a qödeä"; Selömö Ibn-Gabirol (11. Jhdt.) in
seinem Keter malküt.
' Syr. Baruchapokal. c. 27. Auch nach dem Parsismus tritt der
Heiland, der die Auferstehung aller Toten bewirkt, am Ende des Welten-
jahres, das eine Periode von 12 000 Jahren umfaßt, auf (vgl. Bundehis
c. 7). Dieses Weltenjahx des Parsismus zerfallt ebenfalls in 12 Ab-
schnitte zu je 1000 Jahren. Vom 6. Millennium ist in Zädsparam 9 die
Rede. Am Ende des 9. Millenniums hat Zarathustra gewirkt (Dinkard VII,
c. 1, 51). Am Ende des 10., 11. und 12. Millenniums erscheint je ein
Messias, aber erst der letzte Heiland erweckt die Toten (vgl. Dinkard VJI,
c. 8, 51 — 10, 19; Bundehis 30, 1 — 3; Dädistän i Dlnik 2, 10; 48, 30;
Epistles of Mänulclhar II, 3, 3; Grdr. d. iran. Phil. II, 686). Nach jüdi-
scher Auffassung bleiben die Frevler in der Hölle über zwölf Monate
und werden dann erlöst {Jal^t zu Jes. 66; Edujot 2, 10; Jerus. Sanhedrin
10, 3).
48 I- Scheftelowitz
Im Einklang mit dieser Erklärung stehen folgende ältere
Angaben jüdischer Schriftwerke:
Der im 15. Jahrhundert lebende Tsaak Abrabanel erwähnt
in seinem Kommentar zu Daniel, daß der Messias unter dem
Zodiakalzeichen der „Fische" auftreten werde.^ Aus demselben
Grunde hat auch der im 17. Jahrhundert lebende Pseudomessias
Sabbatai Sebi eine sonderbare Zeremonie mit einem Fische vor-
genommen, den er wie ein Kind in die Wiege gelegt mit der
Angabe: Israel werde unter dem Zodiakalzeichen „Fische" erlöst
werden. ^
In einem aus dem 8. Jahrhundert stammenden Tal -Gebet
des ersten Tages des Pesah- Festes heißt es: „Du mögest die
Früchte des Jahres vermehren im Himmelstore ^ der „Fische",
mache sie fett, o Tau, laß die schlummernden Saaten Wurzel
fassen, um sie erblühen zu lassen, wie Tau eine Rose erblühen
läßt."* Nach einem Kommentar zu dieser Stelle ist nun
unter den „schlummernden Saaten" allegorisch das Volk Israel
zu verstehen, das bei dem göttlichen Tau der Erlösung und
Totenauferstehung ^ wiederum auf blühen wird.® Auch hierin liegt
die Vorstellung, daß unter dem Sternbilde der Fische die Er-
lösung erfolgen wird. Infolge dieser Auffassung hielt man es
für ein günstiges Vorzeichen, wenn ein Kind am fünften Tage
der Woche, an welchem ja Gott die Fische erschaffen hat, ge-
boren wurde. Ein solcher Mensch wird nach talmudischer
Auffassung später Hervorragendes leisten im Wohltun gegen
' Vgl. die hebr. Monatsschrift des Bär Goldenberg Nögä hajjäreah,
Lemberg 1872 I, S. 17.
* Vgl. H. Graetz Gesch. d. Jtiden, Bd. 10 (Leipzig 1868) Note 3,
Nr. 7, S. XXXII.
" Der Ausdruck „Himmelstor" für Sternzeichen kommt daher,
weil man sich im Altertum vorstellte, als ob die Sterne aus einem
Himmelstore hervorträten; vgl. das Buch Henoch 33, 3 u. 72 — 82.
* Tal- Gebet, beginnend mit Dm Q-^Vn (verf. v. Eliezer Kalir).
* Über den Tau der Totenauferstehung vgl. Jes. 26, 19; vgl. auch
J. Goldziher, Archiv XIII p. 45 ff.
" S. Mahzör sei Pesah, Metz, 11. Hadamard 5677 BI. 95a.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 49
seine Mitmenschen.^ Ebenso wie es im Tierkreisbild zwei
Fische gibt, nimmt auch der Talmud zwei Leviatan an, einen
männlichen und einen weiblichen, von denen Gott bereits den
weiblichen Fiscli getötet hat, dessen Fleisch bis zur Auf-
erstehung für die Frommen konserviert ist (Bäbä Baträ 73 b).
Daher wird wohl auch „Jinön" der allgemein übliche Name für
den Messias geworden sein, indem dieser Name wahrscheinlich
volksetymologisch mit hebr. nun „Fisch" in Zusammenhang ge-
bracht wurde. H. Dölger* hält die Bezeichnung „Jinön" nur für
eine künstliche Wortspielerei, da er nur eine einzige Stelle für
das Vorkommen dieses Namens kennt, nämlich Talmud San-
hedrin 98 b, wo neben zwei künstlich konstruierten Messias-
namen, wie Haninä und Menahem Ben-Hisqiä, auch zwei
sehr alte Bezeichnungen Silä^ und Jinön erwähnt werden.
Bereits in einer sehr alten Überlieferung kommt der Messias-
name Jinön vor: ,.Vor Erschaffung der Welt wurde bereits der
Name des Messias erschaffen, denn es heißt Ps. 72, 17:
Sein Name ist ewig, vor [Erschaffung] der Sonne war sein
Name Jinön".* ' Das hohe Alter dieser Überlieferung wird
auch durch das Buch Henoch, das um 100 v. Chr. ent-
standen ist, bezeugt. Henoch 48, 3 geht auf diese altjüdische
Auslegung zurück: „Bevor die Sonne und die Tierkreis-
zeichen geschaffen, bevor die Sterne des Himmels gemacht
wurden, wurde sein [des Messias] Name vor dem Herrn
* Talm. Sabbat 156 a.
* Rom. Quartalschr. 23, 38.
' Beresit Sabbä Abschn. 98 übersetzt 1. Mos. 49, 10 folgendermaßen:
„Nicht weichen wird das Zepter von Juda und das Rechtswesen, bis der
§ilä erscheint, d. i. der königliche Messias." Ebenso Jalqüt Sime'öni und
Tarrjum OnJcelos zu 1. Mos. 49, 10. Somit ist die Auslegung, daß Silä der
Name für Messias sei, alt und wird wohl durch Ez. 21, 32 beeinflußt
worden sein: „Bis der [Messias] erscheint, dem das Recht gebührt".
Über §il:i vgl. auch Jalqüt zu Jes. 18 und Adolf Posnanski Schiloh, die
Auslegung von Genesis 49, 10 im Altertum, Leipzig 1904.
* Talm. Pesähim 54 a, Nedärim 39b, Jalqüt Sim. 1. Mos. Abschn. 20;
Beresit Babbä Abschn. 1; Jalqüt zu Jer. c. 17.
ÄrchiT f. Religionswisseuschaft XIV 4.
50 !• Scheftelowitz
der Geister genannt." Jinön als Name des Messias ist
häufig belegt.^
Hiermit habe ich nachgewiesen, daß Dölgers Annahme
über den messianischen Namen Jinön unwahrscheinlich ist, er
war vielmehr ein allgemein geläufiger Ausdruck für Messias.
In einer mittelalterlichen jüdischen Quelle wird Jinön tat-
sächlich mit hebr. nun (aram. nüna) „Fisch" in Zusammen-
hang gebracht. So sagt der Zöhär hädäs ausdrücklich: „Gott
wird vermittels der Fische Israel durch Messias erlösen, denn
es heißt Ps. 72, 17: Vor Erschaffung der Sonne war sein
Name Jinön".'"^ Diese jüdische Auffassung scheint im Mittel-
alter sehr verbreitet gewesen zu sein, denn im 17. Jahrhundert
wurde allgemein „Jinön" von nun abgeleitet.^
Auch die indischen Fischmythen, welche manche Ähnlich-
keiten mit den jüdischen Vorstellungen aufzuweisen haben,
scheinen auf astrologische Anschauungen zurückzugehen und
mit dem Sternbild der „Fische" in Beziehung zu stehen.*
Ebenso wie vor dem Auftreten des jüdischen Messias
suchen die Kranken gemäß einer buddhistischen Legende sehn-
süchtig nach einem bestimmten Fisch, von dessen Genuß die
^ Vgl. Pesiqtä de-Bab Kahänä, ed. Buber, Lyck 1868, Bl. 148a;
Midras Tanhüma, Paresä Nä'sö Einleit.; Midras Misle 3 u. 19; Ekä
Rabbä 1, Jalqüt zu Ps. 72, 17; gemäß einem späten Midras hat der
Messiaa acht Namen: Jinön (Ps. 72, 17), Semah (Jes. 4,2), Mäsiah
(Dan. 9, 25f.), Pele (Jes. 9, 5), Joes (Jes. 9,5), El (Jes. 9, 5), Gibbör
(Jes. 9, 6), Abi-'ad-sar-sälöm (Jes. 9, 5); vgl. Susmann Eli'ezer
Jalqüt Eliezer, Preßburg 5624, Bl. 70b.
* 3"in3i tT^iiw i"3> bj^niüib i-isiDn ibNn irsb p-iQ!>:b n""np"n i^^y
" Vgl. G. Ludovici Dissertatio philologica de nomine Christi eccle-
siastico acrosticho Ix^vg, piscis, Lipsiae 1699; H. Dölger Jiöm.
Quartalschr. 23, 38.
** Der Fisch als Retter ist auch in der syrischen Sage mit dem
Tierkreisbild in Zusammenhang gebracht. So soll der südliche Fisch
im Tierkreis die ins Meer gefallene Isis oder Derketo gerettet haben
und deshalb verstirnt worden sein; vgl. F. Lübkers Beallexikon d. klass.
Altert., Leipzig 1891, S. 1152.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Christentum 51
Heilung abhängt, den sie aber nirgends finden können. Da
beschloß der fromme König Padmaka, sich für seine kranken
Untertanen zu opfern. Mit dem inbrünstigen Gebete, daß er
in der nächsten Geburt als Rohita-Fisch wiedergeboren
werden möge, tötete er sich selbst und wurde sofort auf dem
Sande des Flusses als Rohita-Fisch wiedergeboren. Die
Gottheiten ließen die Kunde davon im ganzen Reiche ver-
breiten, worauf nun das herbeiströmende Volk mit Messern
das Fleisch des Fisches abschnitt, durch dessen Genuß es so-
gleich geheilt wurde. Trotz der Schmerzen fühlte sich der
Rohita-Fisch hierdurch sehr glücklich, und nachdem er sich
ihnen zu erkennen gegeben hatte, bekehrte er sie zum Buddhismus.^
In der brahmanischen Sage von Manu erscheint der Fisch
sogar als der Retter der gesamten Menschheit. Nachdem der
Gott Brahma die Gestalt des Fisches angenommen hatte, rettete
er den Manu vor der hereinbrechenden Sintflut, indem er ihn
veranlaßte, eine Arche zu bauen, wohin er mit den sieben Rsis
sich begeben sollte, und außerdem allen Samen legen sollte,
den er ihm angeben würde. In Fischgestalt leitete dann
dieser Gott die Arche durch die Fluten.* Auch Visnu nimmt
als Heilbringer die Fischgestalt an. In Bhägavatpiiräna 8, 24, 43
fordern die Munis den Satyavrata auf, an Visnu zu denken:
„Der wird uns aus dieser Gefahr retten und uns Heil schaffen "
Als nun Satvavrata an ihn denkt, erscheint Visnu in Fisch-
gestalt, denn „zum Heile für die Wesen nimmst du die Ge-
stalt der Fische an'", heißt es in diesem Werke (8, 24, 27).'
In Gestalt eines goldenen Fisches wird Visnu auch bei einer
Feier dargestellt, die ihm zu Ehren am zwölften Tage des
Monats Märgasiras, des ersten Monats des indischen Jahres,
stattfindet, wobei er mit folgenden Worten angeredet wird:
' Avadänasataka, ed. Speyer. S. 168ff.; Fischel S. B.Pr.Ak. Wiss.
1905, S. 511 f.
* Satap. Brähm. I, 8, 1, 1 — 10; Mahäbhar. 3, 187; vgl. Pischel
S. B. Pr. AI: Wiss 1905. S. 515. » Vgl. Pischel a. a. 0. S. 531
4*
52 I- Scheftelowitz
„Wie du, 0 Grott, in Gestalt eines Fisches die in der Unterwelt
befindlichen Veden gerettet hast, so rette auch mich."^
Auch nach babylonischer Auffassung bringt eine Gottheit
in Fischgestalt der Menschheit Heil. Nach dem Oannes-
Mythos, den Berosus wiedergibt, ist ein fischartiges Wesen,
namens Oannes, welches ganz den Leib eines Fisches, aber
einen menschlichen Kopf und menschliche Füße hatte, aus
dem Meere emporgestiegen. „Dieses Wesen verkehrte am
Tage mit den Menschen, ohne Speise zu sich zu nehmen,
überlieferte den Menschen die Kenntnis der Schriftzeichen,
Wissenschaften und Künste aller Art, lehrte sie die Besiedlung
von Städten, die Errichtung von Tempeln, die Einführung von
Gesetzen und die Landvermessung, zeigte ihnen das Säen und
Einernten der Früchte und überlieferte den Menschen über-
haupt alles, was zur Kultivierung des Lebens gehört. Seit
jener Zeit habe man nichts anderes darüber Hinaus-
gehendes erfunden."^ Aus der viel früheren Periode, in
der das Frühlingsäquinoktium noch unter dem Tierkreisbild
des „Stieres" stattgefunden hatte, scheint dementsprechend der
messianische Stier der Perser zu stammen.
Sehr unzutreffend ist daher Wundts Erklärung, die er über
den Ursprung des messianischen Fischsymbols gibt: „In der
indischen Flutsage ist es der Gott selbst, der in Fischgestalt
die Arche lenkt; und wenn in Griechenland der Delphin die
ähnliche Rolle des Retters übernimmt, so ist es wohl das mit
dorn Seetier überhaupt sich verbindende Bild der sicheren Be-
weffunsf durch die den Menschen gefährdende Meerflut, das
diese Vorstellung erweckt, ein Bild, das ja auch in dem christ-
lichen Fischsyrabol lange nachgewirkt und hier, nachdem seine
ostasiatische Heimat längst vergessen war, die merkwürdigsten
> Pischel a. a. 0. S. 519.
* Vgl. A. Jeremias in Röscher» Lexikon d. gricch. u. löm. Mythol.
III Sp. 577 f. und in seinem Buche Das A. T. im Lichte des alten Orients,
Leipzig 1904, p 4lf.
Das Fisch -Symbol im Judentum und Chriatentom 53
Deutungen gefunden hat."^ Diese Erklärung Wundts könnte
wohl für den rettenden, göttlichen Delphin Griechenlands
möglich sein, allein das Fischsvmbol des christlichen Hei-
lands geht, wie ich bereits oben glaube nachgewiesen zu haben,
auf den jüdischen Leviatan zurück, der unter dem £influß des
Tierkreisbildes der „Fische'' in engen Zusammenhang mit dem
Messias gebracht wurde und so schließlich mit ihm zu einer
Person verschmolz.
' W. Wandt Völkerpsychologie, Bd. II Mythos und Religion, T. 3,
S. 176. Auch W. Caland Arch. f. Religionsw. 11, 140 lehnt den Ursprung
des christlichen Fischsymbols von Indien ab; er nimmt jedoch an, daß
es sich „aus christlichen Anschauungen erklären läßt' .
[Schlol folgt]
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore,
suivie de recherches sur la marque dans rAntiquitö
Par Paul Perdrizet, Nancy
Avec une planche
I
L'histoire de Pandare et d'Echedore: texte et traduction 56. Sens,
dans eette histoire, des mots Griyiiara, ygäyniara 58. Bibliographie des
ouvrages relatifs a la marque dans l'Antiquitd 59.
II
La marque par scarification 60. Par cauterisation 61. Dans le
droit criminel du Moyen Age et des temps modernes 63. Suppression
de la marque au fer rouge par la Constituante: le rapport de Lepelletier
Saint-Farjeau 65. Fers ä marquer, de type heraldique, medievaux et
modernes 67. Leur analogie avec les rvitoi antiques ä parasemes 68.
Les prisonniers Samiens, dans la guerre de 440, marques au paraseme
de la chouette athenienne 69. Digression sur la chouette de Phidias a
l'Acropole 70. Theocrite 1' 'ElccfpÖGniixog portait-il une marque servile
au fer rouge ou un tatouage de consecration? 72.
III
Du tatouage: que son origine remonte aux temps les plus recules 73.
Du tatouage eu Grece dans la civilisation premycenienne 75. Traces de
tatouages totämiques dans la legende grecque: les KvliiiQävsg de
l'CEta 76. Repulsion de la G-rece classique pour le tatouage 77. Itepi-
gramma fugüivorum et les coUiers d'esclaves fugitifs 80. Du tatouage
comme flätrissure des mauvais esclaves 84. Le pröcepte du Ps. Plio-
cylide 88.
IV
Des moyens employes par les anyiiariat pour cacher ou pour faire
disparaitre la marque de fl^trissure; le recours a Asclepios 91. Pandare
le Thessalien et Echedore sont-ils des personnages historiques? 93. La
Thessalie et le commerce des esclaves 94. Comment dissimulait-on les
marques au fer rouge V 95. Comment les mödecins grecs faisaient dis-
paraitre les tatouages 97.
P. Perdrizet La miraculeuse histoixe de Pandare et d'Echedore etc. 55
V
La marqne militaire au temps dn Bas Empire, d'apres Vegece 98.
Elle est etendue aux fdbricenses 99. Et aux hydrophylaces de Con-
stantinople 99.
VI
Pourquoi les Peres y fönt si souvent allusion: le signaculum de la
confirmation et la marqne du tniles Christi 101. De la croii et du tau
comme marquea sacrees. 102. Textes bibUques pour et contre la marque
sacree 105. L'haggada relative au roi Joachim 106. La marque sacree dana
YApocalypse et dans les sectes orientales du christianisme archaiqne 107.
Le stigmate militaire, cas particulier du stigmate religieux 109. Sur-
yivance de l'usage des marques de consecration dans le christianisme
actuel 112. Tatouages de pelerinages 113. Les stigmates de FranQois
d'Assise ont pour origine un texte mal compris de VEpitre aux Ga-
lates 114. Les marques de consecration dans les religions antiques 117.
VU
Dextres de bronze, votives, des religions syriennea 118. Les d^dicaces
que ces dextres portent au poignet sont imit^s des inscriptions de
consecration gravees sur le poignet du fidele 122. Tatouages religieux
en forme de palmes, reproduits sur les dextres de Sidon 123. Tatouages
en forme de cercles, reproduits sur la dextre de Darmstadt 123.
VIII
Les soldats du Bas Empire portaient tatoue sur la main le nom
de l'Empereur 124. Les Actes de MaximiUen 125 Pourquoi ä la
main 126. Pourquoi les Carpocratiens portaient une marque de con-
secration sur la partie posterieure du lobe de l'oreille droite 127.
L'usage de la marque militaire remonte au III« siecle 128. C'est un
rite d'origine syrienne 129.-
I
En etudiant ici meme le miracle du vase brise*, depois
Asclepios qui l'a opere ä Epidaure, jusqu'ä saint Antoine de
Padoue qui l'aurait reussi en Provence, j'ai montre comment
un theme folklorique se repete d'une religion a une autre, ä
travers les siecles. L'enquete d'un theme n'est jamais finie.
' Archiv für Beligionsicissefischaft VIII 1905, p. 305 — 9. Cf mon livre:
La Vierge de Misericorde, etude dun theme iconographique (Paris, 1908),
p. 30 et les references indiquees en 1909 par 0. Weinreich (Antike
Heilung^tcunder RGVY VEI 1, p. 4, note 4).
56 Paul Perdrizet
Depuis la publication de mon travail, j'ai trouve que le miracle
du vase brise aurait ete opere aussi par saint Jean l'Evange-
liste.^ Pour continuer ces recherches sur les fameuses steles
d'Epidaure, je voudrais aujourd'hui entrer dans quelques ex-
plications sur un autre Xa^a non moins divertissant^, et dont
le recit est, ä certains egards, vraiment instructif. En voici
le texte et la traduction.
•
OvTog I l^yxad'svdoov ö^Jtv stds' kdöxst avtov t\ai\vCai xata-
dijöat tu etCWly^ccta 6 @ebg xa]l TtsXBöQ'ai viv, knsl [xa l'laj]
ysvrjtai tov aßdtov, [a(psX6(i£vov rä]v xaivlav av%'i^[Ev slg
t]bv va6v • a^sQag ds ysvo [^evag ki,avs6tcc] xal acpriXsto
Tä\v xai\vCuv 'Kai xh [isv TtQOöcanov [^EZSKud'aQxo xg>\v 6xiy-
ficir[c3v, TJav d[£ x^aivCav ävsd'rjxs slg xbv vcc [bv, 'i^ovöav
tä yQ\diiiiax\a t]« ^x xov ^lexänov. 'ExiSoQog xa navöcc\\[QOv
öxCy^axa EX\aßB nol xolg vnaQxovßiv. Ovxog Xaßcov nccQ [JTav|-
ddgov iQYinaxa] Si6x äv&sßsv x&i @£g>l slg ^EnidavQOV vtcsq
ttv\rov I ovx\ u7CE8i8ov xccvxa ' kyxad^svdcov ds bipLv stds.
Edöxsi ol 6 @s\bg\ \ exiöxäg ijtSQoxfjv viv, sl s%ol rivct: xqt^i-
fiaxa TCaQ HavddQOv E . . \ ®HNAN avd^s^a slg xb lagöv,
avxbg d' ov (pd^sv XsXccßijxsiv ovd'sv j| xoiovxov Jtdp avxov ' ccXX^
al' xa vyiij viv JtOL7]6'rjL, dvd'r,6slv ol slx6\va ygatl^dfisvog '
fiExä ds xovxo xbv ^sbv xäv xov UavdttQOv xaivC av Ttsgiörj-
6ai tisqI xa öxCy^axd ov xal xsXsöd^aC viv, hnsl xa ii, sX&rjt
ix xov ccßdxov, dcpsXö^svov xäv xaivlav aTCovCrlfaöQ^ai \ xb Ttgöö-
' Honorius d'Autun, Specuhim Ecclesiae, dans Migne, P. L., CLXXII,
835: vas vitreum, quod in multas particulas dessiluit, pristinae sanitati
restituit. Suivant d'autres, saint Jean aurait rapproch^ les morceaux
de pierres precieuses: cf. Ps. Isidore, De ortu et obitu Patrum, 72
(P. i., LXXXIII, 151) et Legenda aurea, eh. IX. Je ne puis renvoyer
aux Acta SS, puisque le natale de Jean l'Evangeliste est comm^mor^
le 27 dt^cembre, et que la collection des Bollandistes n'a pas d^passö le
d^bat de novembre.
* Wilamowitz {Hermes, XIX, 452) le qualifie de „besonders be-
lustigend".
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 57
OTCOV ttjcb tag xgcivas xal iyxuTontQC^aö&ca slg tb vöag'
a\\iUQag di ysvo^evag ite^.d^cov sx rov dßdxov xäv xaivCav
ufpriXsto, ' xä ygd^^axu ovx i^ovöav ' eyxad'idav öe elg xb
v8c3Q iaQTj xb avxov ngöGanov aol rolg IdCoig öxLyfiaöiv xai
TU xov navSuQov ygdiißaxa Xskaßr^xog}
Pandare le Thessalien, qui avait des stigmates au front
Cet komme, endormi [datis Vabaton], eiä une lision: il lui
semhla que le Dieu lui nouait une bände sur ses stigtnaies et
lui prescrivait de l'erdever quand il sortirait de Vabaton, et de la
consacrer dans le temple. Uauhe venue, Pandare se leva et ota
la hande; et voici, les stigmates avaient disparu. Et il consacra
dans le temple la hande ou se trouvaient les teures que jusque
Ja, il avait eiies au front.
Eche'dore, qui attrapa les stigmates de Pandare, en
plus des siens.
11 avait regu de Pandare l'argerU que cdui-ci voulait donner
au dieu d'Epidaure qui V avait gueri. Echedore garda cet ar-
gent. Endormi, il eut une vision: il lui semhla que le Dieu
debout devant lui, lui demandait s'il avait Vargent que Patidare
envoyait comme offrande au sanctuaire; lui niait avoir rien regu
mais prometiait que si le Dieu le debarrassait [de ses stigmates],
il lui consacrerait l'ima^e peinte [de sa guerisonj*; apres quoi
le Dieu lui avait noue sur ses stigmates la bände de Pandare,
et lui avait prescrit de Venlever ä sa so)iie de Vabaton, puis de
se laver le visage ü la source et de se regarder dans le miroir
de Veau. Uaube venue, Echedore sortit du dortoir et enleva la
hande. Les lettres n'y etaient plus, mais en se regardant dans
Veau, il vit que sur son front, en plus des stigmates qui sy
trouvaient dejä, etaient gravees les lettres de Pandare.
' IG lY, n" 951, 1. 48—68 (Dittenberger , Sylloge*, t. U, p. 652).
- äv^r^6Btv oi eixöva ygaipdiitvog. La traduction de Reinach et de
Lechat, „il lui offrirait ane Image arec inscription", me semble in-
exacte.
58 Paul Perdrizet
Ainsi, par la volonte d'Asclepios les driyfiata ou yQafi-
liata de Pandare s'attachent au bandage noue par le divin
medecin, d'oü ils passent au front d'Echedore. La croyance
ä des transmissions de ce genre est extremement frequente dans
le fülk-lore universel. Une foule de remedes populaires suppo-
sent l'idee que la maladie est une sorte de parasite invisible,
adherant ä la peau, d'oü l'on peut le faire passer aux objets
qu'on mettra en contact avec le malade. Marcellus de Bor-
deaux prescrit, pour enlever les verrues, de les toucher
avec de petits cailloux, d'envelopper ceux-ci dans des
feuilles de lierre qu'on jettera sur un chemin; qui touchera
les cailloux attrapera les verrues, et celui qui les avait en
sera debarrasse.^
Mais dans le cas de Pandare et d'Echedore, il ne s'agit
pas de verrues, quoiqu'en ait dit Larfeld^; il ne s'agit pas non
plus de marques congenitales, quoiqu'en aient cru S. Reinach ^
et Lechat, qui traduisent örCy^ara et yquiiiiaxa par „taches".
II s'agit de marques de fletrissure. Aucun des epigraphistes
qui ont edite les steles des 'Idiiara ne l'a fait observer dans
son commentaire. C'est apparemment que l'interpretation vraie
leur semblait evidente. En redigeant ce travail, je me suis
aper9u qu'elle avait ete indiquee avant moi, independamment
Tun de l'autre, par Frazer* et par Dittenberger^ — celui- ci
dans un article posterieur ä la reedition de la Sylloge; je
m'aper9ois aujourd'hui qu'elle vient d'etre indiquee de nouveau
* De medicamentis XXXIV, 102, p. 357 Helmreich, citä par Frazer,
Golden Bough^, t. Ilf, p. 21 = t. II, p. 257 de la traduction Stiöbel.
Frazer indique beaucoup d'autres preuves de la meme croyance. Cf. en-
core Weinreich, op. l., p. 90, n. 3.
* Jahresbericht de Bursian, t. LH (1887), 3, p. 458.
* liev. archiol., 1884, t. II, p. 79, traduction des 'icliiccrcc reproduite
par Cavvadias, Fouilles d'Epidaure, t. 1, p. 26, et avec quelques modi-
fications, par Lechat, Epidaure, p. 144.
* Golden Bough^, loc. cit.\ Pausanias, t. III, p. 249.
■* Hermes, 1902, p. 301.
La miraculeuse hietoire de Pandare et d'EchÄiore etc. 59
par Weinreich"', independamment de Frazer et de Dittenberger.
Peut-etre l'a-t-elle ete par d'autres encore. En tout cas, je ne
Sache pas que persoime Tait prise pour point de depart d'un
travail sur la marque dans l'antiquite. Sujet doublement
interessant, qui conceme aussi bien la science des religions
que rhistoire de lancien droit. On n'arait comme travaux
particuliers, sur ce point tres special, que de vieilles disser-
tations tbeologico-philologiques, destinees principalement ä elu-
cider certains textea bibliques. J'ai pense qu'il y aarait quel-
que profit ä rajeunir ces recherches plutot desuetes.
Pour l'expose qui; va suivre, je me suis aide surtout de
trayaux publies en 1903 par Crusius et Wolters dans le Philo-
logus, p. 125 et V Hermes f p. 265; du commentaire de Bernays
sur les Oc3yivXC8sa {Gesammelte Abhandlungen, t. I, p. 246), et
du bei article TATOUAGE, des docteurs Lacassagne et Magi-
tot, dans le Dictionnaire encydopedique des sciences medicales.
Je tiens ä mentionner aussi quelques ouvrages des grands erudits
du temps jadis: les Observationes de Cujas, 1. VU, eh. 13; les
Eleda de Juste Lipse, 1. 11, eh. 15; les commentaires de Grotius
sur le 16" verset du XllP chapitre de YÄpocahjpse (vol. 11,
t. 2, p. 1205 des Opera theologica, ed. d'Amsterdam, 1679); le
De servis de Pignorius, dans le recueil de Graevius & Grono-
vius, Supplement, tome lU; le De legibus Hebraeorum ritualibus
de John Spencer, 1. 11, eh. 14 (2® ed., La Haye, 1686); les
notes de Burmann sur le 103* chapitre de Petrone, edition d'Ut-
recht, 1719; mais surtout le commentaire de notre grand ro-
maniste Jacques Godefroy sur 2 Cod. Theod. 7X, 40. La disser-
tation de Groebel, UTirMATIZMOZ, parue en 1721 dans
le t. X des Miscdlanea Lipsiensia, pp. 71' — 98, est pleine
d'erreurs. Par contre, celle d'Ebbesen, De usu stigmatum apud
veteres ad Galat. VI, 17, Leipzig, 1733, constitue un excellent
repertoire de textes. Ebbesen cite sur le meme sujet deux
autres dissertations, par Cornelius Hasaeus et par Erhard Spitz,
^ Op. l, p. 90, n. 2.
60 Paul Perdrizet
que je n'ai pu voir. Les articles excessivement sommaires de
la jRealencyclopädie de Pauly, s. v. STIGMA, et du Dictionnaire
des antiquites, s. v. NOTA, ne m'ont rien appris.^
II
II y a trois fa^ons de marquer (xaQK66SLv, ixxaQäööSiv^)
d'une fa^on durable: par cauterisation, par tatouage et par
scarification. Les Grecs et les Romains semblent avoir prati-
que seulement les deux premieres.
La scarification, c'est-ä-dire le fait de pratiquer des cica-
trices intentionnelles ä l'aide d'instruments tranchants^, est attes-
tee, ä une tres haute antiquite, chez les Beni-Israel* et chez leurs
voisins de Syrie, de Phenicie et de Moab ^, et un millier d'annees
^ Le Grand dictionnaire universel du XIX^ siede, de Pierre Larousse,
dans im article d'ailleurs interessant sur le tatouage, t. XIV, p. 1506, et
ä la suite de Larousse, les docteurs Lacassagne et Magitot, art. ?., p. 159,
renvoient ä une dissertation de Dresig, De usu stigmatum apud veteres^
laquelle nexiste pas. Dresig presida la these d'Ebbesen, son nom figure
sur le titre de la dissertation de celui-ci, en lettres beaucoup plus gran-
des, Selon l'usage, que le nom meme du proposant. D'oii l'erreur. Elle
se trouve aussi dans la table manuscrite du recueil factice de la Biblio-
theque royale de Munich, qui contient la the»e d'Ebbesen (Sigism: Fried:
Dresigii Dissertatio de usu stigmatum apud Veteres ad Gal: VI v: 17).
Ce volume porte l'ex-libris d'Etienne Quatremere. .Pen ai eu communi-
cation gräce ä l'aimable entremise de M. Max Maas,
* D'oü idcQayiLcc. Cf. Apoc. Joan., XIII, 17: ö ^;u<»v to ^jagay/ia zo
ovofia Tov %r]Qiov. Anacreont., 55: iv lex'^oi'S ft^v iitTioi JtvQog x^Qayy^
^Xovaiv. Schol. ad Arist. Nubes, 23. Etc.
"' Jöst, Körperbemalung, Narhenzeichenund Tätowieren {Beilin, 18S1),
p. 10; Dechelette, Manuel d'archeol. prehistorique, celtique et gallo-romaine
(Paris, 1908), t. I, p. 203.
* Zacharie, XIII, 6: xul igst ngog uvtov ti ai TtXrjyal txvtai ccvä
tisaov T&v XBiQÖav oov; xai iget' ag inXr'jyriv iv tm oix(p rät &yuTir\rä iiov.
Cette partie de Zacharie est datee par Rcuss {La Bible: Les Frophetes, t.
1, p 347) de la premiere moitie du VII« siecle.
'•' Esaüe, eh. XV (date par Iteuss de 800 euvirou: les Frophetes, t.
I, p. 81), verset 2: Ttdvtsg ßgccxioveg xccraTST^Tjfiivot. Jt5r<5mie (fin du
Vlle siäcle), XXXI, 37 de la version des Septante: näaat x^igsg x6'\povrat.
Levitique, XIX, 28; XXI, 5; Deuteronome, XIV, 1; III Mois, 18, 28.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 61
plus tard, dans la secte chretienne des Carpocratiens *, qui se
faisaient a l'oreille des marques au rasoir; eile est attestee encore
pour les Cariens-, les sectateurs de Mä-Bellone' et les pretres
d'Isis/ Tous les t^moignages en parlent soit comme dun rite
religieux, soit comme d'un rite funeraire.
La cauterisation etait designee en grec par les verbes
syxaCELv, xavöttjQidtsLV^ le tatouage par le verbe erC^siv, d'oü
erCy^ara, örCycov^, 6xiyyLaxlaq, ötiyfvg, 6TCy.trjs.' Mais ötCLeiv^
comme ses derives, s'entendait aussi au sens large, quel que füt
le procede employe: ainsi Herodote (VII, 35) appelle ffxiyeag
les gens qui marquerent au fer rouge, sur Fordre de Xerxes,
les eaux de l'Hellespont. En latin. la marque s'appelait nota,
ou au pluriel notaCy mais plus souvent Stigmata^ et dans la
langue populaire Stigma, genitif stigmae.^
Le fer ä marquer s'appelait xavri^'p^, jjapaxrijp.*® Signare
oportet frönteni calida forcipe, dit un vers d'Atellane^* conserve
par Priscien: ce qui signifie, non pas que le xautTjp füt une
pince, forceps, mais qu'il etait mis au feu et manie a l'aide
d'une pince; le feu echauffait non seulement le xavr^g, mais
' Epiphane, Panarion, XXVII (Migne, P. G , XLI, 372).
* Herodote. II, 61.
' Lucain, I. 565; Lampride, C<mimode^ 9.
* Finnicus Matemus, De errore profan, relig., II, 3; cf. Dennisoo,
dans Y Amer. Journal of archaeol., 1905, p. 33 sq.
■' I Tivioth. IV, 2: iv vezigoig xaiQot^ &no6Ti'i60VTui rivsg t^s «i'e-
TS(og, :Too6exovrsg . . . didaexaliaig datiLOPtatp . . . xsxavexrjQiaßiiivaw rijw
idiav 6vvsidr,6i,v. Strahon, V, 1, § 9.
® Arist^phane. fr. 97 Kock; Pollux, Onom., III, 79 Bekker.
^ Le substantif ezi'/ficcTiß^g est, sauf erreur, une creation de Gröbel.
* Petrone, p. 69: non omnia artificia servi nequam narras. Agaga
est. At curabo. stigmam habeat. Pour les metaplasmes de ce genre dans
le latin populaire, cf. Guericke, De Unguae vulgaris reliquüs apud Pe-
tronium (dias. Königsberg, 1875), p. 40.
*" Lucien, Piscator, eh. 46; Epiphane, l. cit.
*** Isidore de Seville, Orig., XX. 16: charader est ferrttm caloratum,
quo notae pecudibus inuruntur.
" Ribbeck, Com. rom. fr.-, p. 261. Ce vers provient de la lAgnaria
de Novius, sur lequel cf Schanz, Böm. Litt., t. I'. p. 153.
62 Paul Perdrizet
aussi la pince, d'oii l'epithete calida, qui convient bien pour
les tenailles du forgeron, et qui rappelle le sens etymologique
de forceps}
Le type de la marque se disait tvTtog^, 6i]^avtQov^, 6(pQcc-
yCg. II variait Selon les proprietaires*, et ne differait pas sensi-
blement de ceux qu'on employait pour marquer les betes : c'etait
soit un Symbole pictograpbique, soit une lettre ou un groupe
de quelques lettres. On se rappelle les chevaux marques du san
ou du coppa, öa^cpÖQccg, xoTtnarCag, dont il est question dans
Aristophane.^ De meme, c'etaient des lettres que Darius avait
fait marquer au fer rouge sur les quatre mille prisonniers grecs
qu' Alexandre delivra pres de Persepolis; Quinte Curce (V,
5, § 6) observe que c'etaient des lettres barbares, inustis Bar-
harorum litterarum notis, c'est ä dire des cuneiformes. Cune-
iformes aussi, selon toute apparence, les 6t Cynara ßaöiXrjia
* Ce mot, qui n'a rien ä voir avec forfex «cisaille», derive de
formus, gr. ■9'6pftos, all. ivarm, et de capto. Cf. Festus, p. 65 Thewrewk
de Ponor : formucapes fovcipes dictae, quod forma capiant, id est ferventia
(Walde, Lat. etym. Wörterbuch, p. 235; Ernout, Les elements dialectaux
du vocabulaire latin, p. 170).
^ Lucien, Piscator, eh. 4:6 : 6 Sh xvnog xov xccvTJJgos iotoa dlconrjjl ^
TriO'Tjxog. " [Xenophon], De vectigalibus, eh. IV, § 21.
* Martial, XII, 61 : Frans haec stigmate non meo notanda est. —
Ambroise, De obitu Valentiniani jun. (Migne, P. L , XVI, 1377): charac-
tere domini inscribuntur servuli. — Dion Cassius (XLVII, 10, t. II, p. 300
Melber) raconte l'histoire d'un GTtyfiariag qui, pendant les proscriptions,
se fit tuer pour le maitre qui l'avait fait marquer: ccTrexrovag iTtiarevO-r}
iy. TS T&v GKvXav Kai in x&v ertyiidrcov.
^ Nuees, 23, 122, 437. Komtaq>6Qog dans Schol. ad Lucian. adv.
indoct,, 5. Plutarque raconte que du temps oü son pere etait etudiant ä
Athenes, un voleur qui avait cambriole l'Ascl^pi^ion, fut poursuivi jus-
qu' ä Crommyon et arrete par le chion du sanctuaire {De sollertia anim.,
13, t. VI, p. 40 Bernardakis; cf. Elien, De anim.^ VII, 18). Ce chien de
police s'appelait KännaQOs. Le nom vient, je crois, non pas de xara-
TtsiQSiv, comme Tassurent Pape et Benseier, mais d'un Kappa = K{v(ov) =
IsQog Kvwv, dont etait marqude la brave bete. Peut-etre d'ailleurs convien-
drait-il de corriger ce KämtaQog en Kcc7TJta{q)6)QOs: la mauvaiae le^on
KaxTcdcQog proviendrait, soit d'une abreviation par contraction, soit d'une
haplographie.
La miraculeuße histoire de Pandare et d'Echedore etc. 63
dont Xerxes fit marquer les Thebains transfuges, apres l'affaire
des Thermopyles.^ Le cheval d'Alexandre s'appelait Bovx£q)äXag
ou BovxdcpaXog, parce qu'il portait sur la robe une marque en
forme de tete de boeuf ou de boucräne.^
Je ne sache pas qu' aucon archeologue ait eucore reuni
les tvTCOL parvenus jusqu'ä noos, qui ont servi pendant
l'Antiquite ä marquer les esclaves ou le betail.^ Mais
nous pouvons tres bien nous en faire idee, d'apres les
instruments employes au meme effet pendant le Moyen Age
et plus tard encore. Ils abondent dans les musees historiques.
Car c'est surtout depuis l'Antiquite que le chätiment de la
marque au fer a ete prodigue. D'une fa^on generale, le droit
penal du Moyen Age et des temps modernes, jusqu'au triomphe
de la Philosophie du XVII I^ siecle, a ete infiniment plus barbare
et plus fe'roce que le droit penal antique. II serait facile d'en
faire la preuve en etudiant, pendant et depuis l'Antiquite, soit
la torture, soit les divers supplices Pour nous borner ä la
marque par le fer rouge. qu'on recherche la place qu'elle tient,
par exemple, dans le code militaire promulgue par Frederic
Barberousse en 1158: Vecnyer (armiger) coupable dans le camp
' Herodote, TU, 223, d'oü Schol ad JEsch de falsa leg. 79, dans
les Oratores attici de Didot, t. II, p. 504. Plntarque, apologiste de sa
province, proteste contre ce recit, par esprit de clocher (De malignitate
Herodoti, 33), sans raisons bien valables.
* Arrien, Änabase, V, 19. Hesychios, Et. M., Et. Gud., s.v. Bov-
xicpalog. Schol. ad Arist. Xubes, 23. Cf. Aristophane, fr. 41 et 42
Kock. Les Anciens n'ont pas tous bien compris ce nom: oi dh iiyovaiv
OTi Xsvxbv efi^a eI^bv i^ti t^s xscpaXrig, ^'ias mv avros, fls ßoog xsqpocÄrjv
näXusta Blxaßfidvov (Arrien, loc. dt.). Strabon (XV, p. 1023: ixalstro dh
BovxB(fd).ag uxo tov ^Idrovs rov (lerärtov) et Aula-Gelle {\uits, V, 2 :
equus Alexandri regis et capite et nomine Bucephalus fuit) en donnent
nue explication inepte.
' J'ai note deux fers k marquer an musee de Mayence, Tun avec
Tinscription LEG. XXII AXT. (cf. Keller, Söm. Inschriften des Museums
der Stadt Mainz [appendice au catalogue de Becker, 1883], p. 25), Tautre
avec l'inscription FL. XERI SABIX (cf. Körber. Inschriften des Mainzer
Mtiseums [appendice au catalogue de Becker, 1900]. p. 107).
64 Paul Perdrizet'
de rixe ä main armee, exiista candenti fronte metallo / Detonsaqiie
coma, post vulnera pulsus dbihit^\ — - le soldat incendiaire ton-
debitur et in maxülis comhuretur et verherahitur- •, — le serf
coupable de vol pour la premiere fois, ahraso signattis vertice
frontemj Verhera dura feret^\ etc.^
La marque au fer rouge n'a disparu qu'assez recemment
des Codes penaux de la chretiente. En Siberie, les for^ats
furent marques (au visage) jusqu'en 1864. En France, l'abo-
lition de la marque date de la loi du 28 avril 1832, qui a fait
une revision complete du code penal. Mais il faut dire, ä la
gloire de la Revolution franQaise^, que la marque avait ete
' Günther de Pairis, Ligurinus sive de rebus gestis imp. Caes.
Friedend Aug. cognomento Aenobarbi, VII, 256 — 7 (dans Migne, P. L.
CCXri, 331 sq.).
* Ottonis et Bageivini Gesta Friderict imp. 1. III, p. 431 du t. XX
des Scriptores, dans les Monumenta Germaniae; dans la meme coUection
Leges, t. IL p. 107; Ligurinus, Vll, 299 — 300. Cf. Eisner, Das Heer-
gesetz Kaiser Friedrichs I (Breslau, Progr., 1882, et A. Schultz, 7>o.s'
höfische Leben zur Zeit der Minnesinger., t II, p. 256).
' Ligurinus, VII, 287 — 8.
* Ce n'est pas le Heu de traiter en detail de la marque au Moyen
Age. Je me borne a renvoyer au livre classique de Wilde, Das Straf-
recht der Germanen (Halle, 1842), qui en parle ainsi, ä la p. 515 (je
supprime les reförences): „Das Brandmarken, dessen von unsern Volka-
rechten nur einmal das longobardische erwähnt, während es in spätem
ßecbtsquellen häufig vorkommt, findet sich dagegen sowohl bei den
Angelsachsen als allen skandinavischen Völkern. Es war nicht bloß
Strafe wegen des Schmerzes und Schimpfes, sondern diente auch dazu,
den einmal Verurteilten und noch anderweitig Bestraften wieder zu er-
kennen; es traf ihn dann besonders beim wiederholten Diebstahl eine
höhere Strafe. Zufolge des Gulathingsgesetzes geschah dasselbe durch
ein Einbrennen eines Schlüssels in die Wange oder die Stirn, wie es
auch noch in spätem Jahrhunderten in Deutschland üblich war."
* Et ä la honte de Napoleon, qui a r^tabli la marque abolie par
la Constituante (Code penal des 5 sept 6 oct. an I) et par la Convention
(Code des Delits et des Peines du 3 brumaire an IV, preparä par Merlin
de Douai). Non moins que son code civil , le code penal de Napoleon
est un rccul par rapport a l'oenvre de la Revolution (voir pour le code
civil, ra])pr^ciation de Sagnac, La legislation civile de la Bcroluti(vn
frangaise, p. 388 et suivantes). La marque fut r«5tablie, ]>our la re'cidive
La miraculeuse histoixe de Pandare et d'Echedore etc. 65
supprimee par decret de l'Assemblee Constituante, date du 29 sep-
tembre de l'an I de la liberte (1791 de l'ere vulgaire), sur un
rapport de Lepelletier Saint Farjeau.' Le lecteur Toudra, je-
pense, connaitre ce rapport si prudent, si sense, et je crois bien
pouvoir dire si original: car la question de la marque avait
ete laissee de cöte, comme secondaire, par les grands publicistes
qui, dans la deuiieme moitie du XVIII* siecle, convainquirent
l'opinion qu'il etait urgent de proceder ä une refonte totale
du Code criminel. J'ai lä, sur ma table, un petit volume
venerable, oü sont reliees ensemble les trois brochures qui ont,
corame un triple eclair, illumine les tenebres de la barbarie: le
Trnite des Dtlits et des Peines [par Beccaria], traduit de ViMien
[par Morellet], ä Philadelphie, M. DCC.LXVI; — le Conunentaire
sur le Livre des DelUs et des Peines, par un avocat de province
[Voltaire], s. ]., M. DCC.LXVI; — et le Discours sur Vadmini'
stration de la Justice criminelle, prononce par M. S ***, avocat-
general [Servan], ä Yverdon, M. DCC. LXVll: aucune ne parle
de la marque.
Quant ä la peine de la marque, eile presente une tres-grande
question. On peut appuyer sur de tres-saines et de tres-fortes raisons
Topinion qu'un signe sensible doit faire reconnaitre Thomme que la justice
a dejä puni pour un crime, afin que s'il se rend coupable une seconde
fois, sa punition soit augmentee en raison de la perversite de ses penchans.
Parmi ceux qui ont röflechi sur cette question et qui Tont discutee,
il s'est meme trouve de bons esprits, qui ont porte ce principe josque
lä, qu'ils pensaient utile qu'une marque exterieure et apparente rendit
et pour certains crimes, par la loi du 23 florc'al an X = 13 mai 1802
(le texte et les travaux pre'paratoires de cette loi, avec les motifs du
retablissement, dans Locre, La legislation civile, commereiale et criminelle
de la France, t. XXIX, Paris, 1831, pp. 40-71). La loi du 12 mai 1806
appliqua, de plus, la marque aux menaces d'incendie de lieux habites.
Le Code pe'nal du 22 ferrier 1810 conserra la marque en lui donnant
une assez large application. Je dois ces renseignements ä mon tres dis-
tingue collegue, M. Geny, professeur de droit civil ä rUniversite de Nancy.
^ Public in extenso dans La Gazette nationnle ou le Boniteur uni-
r^el du mardi 31 mai 1791, p. 626. Cf. Henri Remy, Les principe«
generaiix du code penal de 1791 (These de doctorat de droit, Paria 1910).
Archiv i. Keiigionswisienschaft XIV r.
66 Paul Perdrizet
partout reconnaissable le condamne, afin que la societe pilt se tenir
continuellement en garde contre celui qui dejä l'avait offensee par un
crime. Les consequences de cette opinion extreme pourraient etre
dangereuses, meme pour le repos de la societe. En horreur ä tous les
hommes, exclus de tout commerce humain, de toute profession, de toute
industrie, portant dans tous les lieux habitös la honte, la defiance et
TefiProi, l'etre ainsi degrade aurait fui dans les forets pour y former une
peuplade faronche, devouee au meurtre et au brigandage. Les lois en
usage avaient övite cet inconv^nient , en adoptant un parti mitoyen,
qui, sans fl^trir le front de Thomme par l'affreux cachet du crime, laissait
pourtant sur sa jjersonne une marque cachee, m^ais ineffa9able, dont la
justice pouvait au besoin retrouver l'empreinte.
II nous a paru qu'une empreinte corporelle indel^bile etait incom-
patible avec le Systeme des peines temporaires, puisqu'elle perpötue,
apres l'epoque fixee pour le terme de la punition, une fletrissure qui
n'est pas une des circonstances les moins insupportables du chätiment.
Cette empreinte, quoique non apparente, peut si souvent et si
facilement se trahir, qu'elle ecartera presque toujours le malheureux
qui la porte d'un etat honnete, et des lors des moyens legitimes de
subsister. Demeurät-elle constamment invisible et inconnue, la con-
science de son opprobre poursuivra partout le condamne; degrade et
fletri ä jamais dans son etre physique, comment son äme pourra-t-elle
soulever le poids de la honte, et dans l'espoir de möriter l'estime
des hommes, contempler la recompense d'une conduite pure et sans
reproche? . . .
Une seconde consideration nous a encore frappes. C'est que, dans
le nouvel ordre de nos institutions, il sera bien moins facile au mechant
de se perdre et de se confondre dans la foule. La trace de son existence
ne peut guere s'efFacer; des registres exactement tenus dans chaque
municipalite presenteront le denombrement de tous les membres qui
composent la grande famille. II faudra que chacun ait un nom, un etat,
des moyens de subsistance ou des besoins notoires. Les vagabonds et
les inconnus formaient autrefois, dans la nation, une peuplade qui ne
se rendait guere visible que par ses attentats. Dejä on a indique, et
il vous sera propose encore, Messieurs, des moyens pour fixer dans l'ordre
social ces existences funestes et fugitives, et desormais l'^tat de vaga-
bond et d'inconnu devenant un signal de defiance, avertira suffisamment
la police et la justice de prendre des mesures repressives contre des
hommes justement suspects ä la societe.
D'apr^s 068 reflexions, nous pensons que dt^sormais aucune marque
indälöbile ne doit etre imprimöe au front du condamnö.
Revenons aux fers ä marquer. Certains musees, disions-
nouS; en conservent qui datent du Moyen Age ou d'un temps
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Ech^dore etc. 67
moins eloigne encore. Je n'ai examine que ceux des Musees
de Nuremberg et de Munich^, et du Musee historique lorrain
a Nancy. Ceux - ci proviennent du cabinet de feu Charles
Emmauuel Dumont (1802 — 1878), de son vivant juge au
tribunal de Saint-Mihiel et auteur de bons ouvrages historiques
Bur la Lorraine, notamment de la Justice criminelle des duches
de Lorraine et de Bar, du Bassigny et des Trois Eveches (Nancy,
Dard, 1848, 2 vol. 8"* avec planchesV „Ce savant magistrat
avait eu l'idee de former une collection des Instruments de
supplice dont s'est servi la justice criminelle depuis le Moyen
Age jusqu'ä nos jours ... La collection comprenait, entre
autres, deux fers ä marquer, dont Tun etait ä la croix de
Lorraine, l'autre aux deux barbeaux de Bar. Malheureusement,
ces deux pieces ne figurent pas dans la collection que les
heritiers de M. Dumont ont donnee au Musee lorrain assez
longtemps apres sa mort. On ignore ce qu'elles sont devenues.' "
II est probable qu'on aura fait disparaitre ces temoins fächeux
d'un passe que trop de gens affectent de regretter aujourd'hui.
Faute de photographies des originaux detruits ou disparus, le
lecteur se contentera des dessins publies par Dumont, et des
explications dont il les a fait suivre: „L'instrument employe
pour marquer, ecrit-il, fut toujours un fer rougi au feu; mais
sa forme varia considerablement. En Lorraine, c'etait une
croix dite de Lorraine; ä Metz, un M; dans le Barrois, avant
le milieu du XVI* siecle, deux barbeaux; dans quelques
seigneuries particulieres , les armes des seigneurs. Ces fers
fabriques quelquefois au moment de l'execution, n'etaient
astreints a d'autres dimensions qu' ä celles que le caprice
d'un marechal ferrant de village voulait bien leur donner".^
' Katal. des bayer. yationahnuseums , \ll. Bd. p. 29. M. 6. May,
professeur a la Faculte de Droit de Paris, me signale un fer ä marquer
conserre sous le n° 13 104 au Musee de Cluny. II provient de l'abbaye
de Cluny, dont il figure les armes: une def tnise en pal, Vanneau en pointe.
* Musee historique lorrain: Catalogue, par Lucien Wiener, 7« edition
(Nancy, 1895\ p. 310. * La justice criminelle des duches, t. 11. p. 285.
5*
68 Paul Perdrizet
Les Grecs semblent avoir prefere les pictographes, quand
il s'agissait de marquer des esclaves appartenant ä l'Etat, parce
qu'en ce cas il etait tout naturel de prendre comme type de
la marque le pictographe qui servait d'armoiries ^ ä la cite.
L'auteur du IIeqI jiöqcov attribue ä Xenophon, propose qua
les mines du Laurion soient exploitees par des entrepreneurs ä
qui l'Etat louerait des esclaves marques de son signe, avdQcc^toda
ösöriiiaöyiBva rq) druioöCco örj^dvtQO) (IV, 21). Ainsi, quand
jadis nos rois faisaient marquer les criminels de la fleur de
lis^, ou quand les papes les faisaient marquer des clefs de Saint
Pierre^, ou les ducs de Lorraine et de Bar d'une croix de Lor-
raine ou des deux barbeaux, c'etait la survivance d'une tradition
tres antique. Pendant l'expedition de Sicile, nombre des Athe-
niens tombes aux mains des Syracusains, furent marques d'un
cheval au milieu du front^: j'ai montre ailleurs ä propos du
decret vote en 373/2 par les Atheniens pour bonorer Alcetas
de Syracuse, que le cheval sans cavalier etait Tun des para-
' IIccQäoriiiov (Plutarque, Moralia, 399 f), iniar^iiov (Simonide, 136
Bergk- Hiller; Eschyle, Sept, 660). C'est employer le mot episeme ä. conti e-
sens que de parier, comme le fait Babelon {Traue des monnaics grecques
et rowaines, II, 1, 973), d'un «bouclier dont Pepiseme est orne de la lettre
cht»; le j(, sur la piece dont il s'agit — une monnaie archaique de Chal-
cis — constitue l'episeme du bouclier, lequel est lui-meme l'episfeme de
cette piece de monnaie.
- Institutes au droit criminel, par maitre P. Fr. Mayart de Vouglans,
avocat au Parlement (Paris, 1757), p. 409.
•'* «Antrefois, on marquait les voleurs qui etaient condamntSs au
fouet. d'une fleur de lis, qui est la marque du Souverain, comme ä Rome,
dans l'Etat Ecclesiastique, on les marque de deux clefs en sautoir, qui
Bont les armes de la Papaute. Mais cette marque a ete cbangee en
Celle d'un V, par la declaration du 4 mars 1724. L'usage de la fleur de
lis n'a plus lieu que dans le cas ou l'on condamne au fouet et ä. la
fletrissure, pour autre crime que le vol» {Tratte de la justice criminelle en
France, par M. Jousse, conseiller au presidial d'Orleans, Paris, 1771, t. I,j
p. 57; cf. Serpillon, Code criminel ou Commentaire sur l' Ordonnance dt
1670, Lyon, 1767, t. II, p. 1088.)
* Plutarque, Nicias, 29: tovrovs wb* oUhag inmXovv ari^ovreg tTtnot
sie t6 {liranov.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 69
semes syracusains.^ En 440, pendant la guerre entre Athenes
et Samos, les prisonniers farent marques de part et d'autre au
paraseme de ladversaire, les prisonniers atheniens d'une eduaivu-,
Tarmoirie parlante de Samos, et les prisonniers samiens dune
chouette. Dun fragment recemment public des Chroniques
d'Apollodore^, il partut bien resulter que ce fut en 440/39,
ä la fin de la guerre de Samos, que les Atheniens consacrerent
Bur l'Acropole la chouette de marbre, oeuvre de Phidias, qui est
figuree sur quelques monnaies d' Athenes*, qui est mentionnee
par Dion de Prouse', Ausone^ et Hesychios', et dont l'ei-
' BCH, 1896, p. 550; d'oü Georges Macdonald, Coin type^, iheir
origin and developtnent (Glasgow, 1905), p. 71. Freeman, Geschichte
Siciliens (deutsche Ausgabe von Lupus), t. III, p. 361, propose ä tort de
reconnaitre dans la marque infligee aus prisonniers Atheniens „das Ab-
zeichen der siegreichen svrakusischen Reiterei".
* La 6ä{utiva etait un vaisseau de guerre. La proue de eäfuciva
Bert de type ä de nombreuses monnaies samiennes , depuis le V^ sidcle
jusqu'aux temps romains. Percy Gardner n'en dit rien, dans sa mono-
graphie de la numismatique samienne {Xumismatic Chronicie, 1882 .
' Nicole, Le proces de Phidias dans les Chroniques d'ApoUodore,
d'apres un papyrus inedit de la collection de Genece, p. 17.
* Monnaie du cabinet de Berlin, reproduite dans Gerhard, AJcad.
Ahh., pl. XXV, 1 (t. I, p. 358) et mieux dans Michaelis, Der Parthenon,
pl. XV, 29, p. 282.
* Discours olympique, 6 ;^t. I, p. 156 Arnim): a.-rtixajcö xr,v ötiov-
Sr]v vnöav rä ntgl rriv ylavxa yiyvoyiivai ex^dov ovn avtv Sainoviag
rivbg ßovlr,6sag. vqp' fjs xal Tg 'A9rivä Xiyerai XQ06<piUg elvat ro ogvsov,
rfj xaXXißTi} zwv d'smv xal öoqptorärj, xal tjjs ye ^sidiov rixvr^g rraga 'AOtj-
vaioig Izvxev, ovx UTta^iäxsavxog civxr^v evyxad-idgvaai rfj d'Bö}. ßvvdoxovv
xä dtlfup Gell, dans son edition de V 'OXvfirtixög, a Lndique que la phrase
qui suit (UsQixiJa . . . ijtl r^s äcTcidog), t«nue pour authentique par
Dindorf, est une glose inept«, dont il n"y a rien a retenir pour l'intel-
ligence du passage.
* Mosella, 307 sq. Peiper. Cf. mon etude sur le Folk-lore de la
chouette dans VAntiquite, parue dans le Bulletin de la societe des Anti-
qxtaires de France, 1903, pp. 164—170, et ä part.
' Hesychios, 1. 1, p. 433 Schmidt, s. v. FAAT S 'EN IIO'AEI ■ jia-
QQi\Lia • avixEiTO yccQ VTto ^sidiov (MSS ^aidgov, corr. Meursius) iv rg
&xQ0Tt6let. Cf. Proverbia e codice Bodleiano, dans les Parcemiographi
graeci de Gaisford (Oxford. 1836), p. 28. no 264: FAAT S 'EN UO'AEI-
70 Paul Perdrizet
voto, dedie sur l'Acropole vers le milieu du V® siecle, par le fils
de Conon, Timothee d'Anaphlyste^, nous donneraitune idee appro-
ximative, si Ton en rassemblait les debris ^: il se pourrait meme
que cet ex -voto düt etre identifie avec la chouette sculptee par
Phidias. Cette chouette n'etait autre chose que la representation,
ä la mode tres antique, de la deesse Athena: car 'Ad^ijvä ylccvx-
G)7CLg fut une chouette avant d'etre une deesse ä la chouette.
Un an apres, en 438, les Atheniens dediaient la statue chrys-
elephantine du Parthenon: dans cette image splendide, rien,
quoiqu'on en ait pretendu, ne rappelait plus la chouette qui,
durant les temps primitifs, avait ete la forme que revetait la
deesse ä ses epiphanies. Ces deux ex-votos qui se succederent
ä une annee d'intervalle, exprimaieDt deux conceptions religieuses
bien differentes, l'une moderne, adaptee aux besoins religieux,
intellectuels et artistiques des plus eclaires d'entre les Atheniens
contemporains de Pericles et de Phidias, l'autre venue du fond
des äges et soigneusement conservee par les Atheniens super-
vTtb ^aidov (sie) &vExiQ"r\ ylav^ iv &xqotc6Xei,. C'est ä tort qu'Overbeck
{Schriftquellen, n°' 677 — 9) a ränge les textes de Dion, d'Ausone et d'
Hesychios parmi les temoignages concernant l'Athena chryselephantine
du Parthenon. C'est ä tort aussi, je crois, que Frickenhaus (Ath. 3fitt.,
1908, p. 23—4; cf. Pottier, dans BCH, 1908, p. 547) rapporte ces textes a
la ylav^ ze^e^ mentionnäe au IV* siecle dans un inventaire d'Athdna
Polias (Van Hille, Mnemosyne, 1904, p. 335). Je reviendrai ailleurs sur
ce sujet.
' Sur ce personnage, cf. Kirchner, Prosopographia attica, t I, p. 314.
' Cet ex -voto se composait d'une chouette de marbre haute de
pres d'un mfetre, sur une colonne dorique portant dans une cannelure
l'inscription Tifio&sos Kovovog 'AvacpXveriog. Cf. pour la chouette, Lebas-
Reinach, Monuments figures, p. 77, pl. 62 et Friederichs -Wolters, Gips-
abgüsse, n" 111; pour Tinscription. 10, I, n** 393, d'oü Dittenberger, Syl-
loge*, n" 14; jiour la d^couverte des deux parties de l'ex-voto, fiiite eu
1840 entre le Parthenon et les Propylt^es, Ross, dans Anndli dell'In-
stituto, 1841, p. 25, tav. d'agg. C. Le moulage de l'Ecole des Beaux-
Arts de Paris (Reinach, Bepertoire de la sculpture grecqtie et romaine,\
t. II, p. 826, n''4; t. III, p. 224, n° 2) reproduit, non pas Tex-voto trouvti
sur l'Acropole, mais une chouette conservee ä, Leyde et publice jadiij
par Gori.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 71
stitieux, comme il s'en groupait autour de Nicias et d'Hagnon,
de Diopeithes et de Lampon.
L'ex-voto de 439 temoignait de la gratitude des Atheniens
envers leur divine protectrice, qui leur avait octroye de faire
rentrer les Samiens sous le joug. II y a, je crois, correlation
etroite entre le type dont les Atheniens avaient marque leurs
prisonniers pendant la guerre de 440 et Toffrande de 439.
C'est par un Historien samien, Douris^, que nous savons
que les prisonniers de la guerre samienne avaient ete marques
de part et d'autre au paraseme de l'adversaire. Peut-etre Ari-
stote, dans sa monographie noXirda UafiCav^, avait-il dejä
mentionne le fait. L'un et l'autre, Aristote et Douris, avaient
pu lire sur TAcropole les deux decrets concernant, l'un la
marque des prisonniers samiens au type de la chouette^, l'autre
l'erection de la chouette de marbre sur TAcropole/ Photios
a qualifie de mensonger le recit de Douris concernant la marque
des prisonniers de la guerre samienne^, parce qu'il a cm, ä
tort, devoir appliquer a ce temoignage de Douris les reserves
de Plutarque^ sur le recit fait par ce meme Douris des pnni-
tions infligees aux Samiens apres la reddition de leur ville.
Quant ä la rersion de Plutarque lui-meme, suivant laquelle les
prisonniers atheniens auraient ete marques d'une chouette, et les
» FHO, t. ir, p. 482, n«59.
* Äristotelis fragmenta, ed. Heitz, p. 287.
' Elien, Hist var., II, 9: rovg cclii6xo(tivovg al^iicclätovs HayLiav
eti^fiv xaxcc tov Ttgoownov xal slvat rb eziy^ia yXavxa, xal tovro uttixov
* Dion, 1. cit.: evvdoxovv xä> dTjuca.
^ Photios, Lexicon, s. t. Zccaicov 6 Sf,u.os »s TCoXvyQäuuazog- ro
3h nkdeiui ^ovQiSog.
* Vita Periclis, XXVIII, 2: ^ovgtg S' 6 iMfiiog rovzoig irtirgayadst
TioXXijv oi/idrTjTK rcbv 'J9Tivai(ov xcd tov Usgixliovg xatr,yOQ(bv, r,v oute
QovxvSiSr^g iezoQTiXBV ovz' 'AQiaroziXr,g ■ ccXX' oi3' äXr,d-sv£iv loixsv, mg
&QU zovg ZQiriQÜQXOvg xal zoi-g i-xißdzag z&v Zaiiicov slg zrjv MiXr^aicav
ayoQav üyaycov xal öavici 7fQ06di]aug i(f' r]neQCig dexa xax&g ijdri SiaxEiyLS-
vovg 7iQ06Bza^£v dvsXslv ^vXoig rag xetpalccg ffvyxdifjavra? . siza ngoßaXstv
ccx7]dsvza Tcc aä^aza.
72 Paul Perdrizet
prisonniers samiens d'üne öd^aiva^, c'est un non-sens manifeste.
Plutarque d'ailleurs n'a du faire cette erreur que parce que
l'usage des parasemes comme marques etait depuis longtemps
tombe en desuetude. La mention la plus recente qu'on en
ait concerne le IV® siecle avant notre ere.^ Cet usage carac-
terise les guerres inexpiables entre cites grecques, il doit
avoir pris fin avec la liberte de la Grece. Quand Lucien
suggere de marquer les faux philosophes au type du renard
ou du singe ^, il fait allusion ä un usage aboli depuis long-
temps, qu'il connaissait comme nous le connaissons nous-
memes, par les textes attiques.
Dans ce projet de Lucien, le renard aurait marque les
intrigants et les arrivistes, et le singe les plagiaires. Ces
parasemes injurieux fönt songer ä celui dont etait marque un
Athenien mentionne par Lysias^: il portait le sobriquet d'
^EXacpöötiicros, parce qu'il avait ete esclave et qu'etant esclave,
il s'etait enfui et avait ete repris: or, les Anciens donnaient
aux esclaves marrons le surnom de «cerfs»""; on peut donc
admettre que l'individu en question, une fois repris, avait ete
marque par son maitre au type du cerf. — Teile est l'ex-
plication proposee par Dittenberger.^ Mon savant maitre, Paul
Wolters^, l'a contestee: il pense que le sobriquet en question
fait allusion ä un tatouage dionysiaque au type du faon, et il
' Id., XXVi. Cf. Kock, Com. att. fr., t. I, p. 408; Duncker, Gesch.
des Altertums, t. IX, p. 207 ; Busolt, Griech. Geschichte, t. III, p. 548.
* Vitruve, II, 8 : Artemisia, Rhodo capta, principibus occisis, tropaeum
in urbe Rhodo suae victoriae constituit, aeneasque duas statuas fecit, unam
Rhodiorum civitatis, alteram suae imaginis, eam ita figuravit' Rhodionim
civitati Stigmata imponentem.
" Piscator, eh. 46, p. 613: inl xov fiETWTCov arlypiava inißaXirta ^
iyxav6d.x(o xara xo ^LeoöffQvov 6 6h xvTiog xavxfjQog ^axa ccXmTtr]^ i] Tti&rjxog.
* XIII, 19. Cf. Philologus, 1895, p. 733 et 1903, p. 125 (Crusius)
"* Festus, p. 343 Müller: SERVORUM DIES festus vulgo existimatur
Idus Aug. quod eo die Sei: Tullius, natus servus, aedem Dianae dedicaverit
in Aventino, cuius tutelae sint cervi, a quorum celeritate vocant sercos.
« Hermes, 1902, p. 299. ' Rid., 1903, pp. 265—278.
La miraculeuse hietoire de Pandare et d'Echedore etc. 73
rappeile, ä Tappoi de son opinion, les nombreux vases peints
oü Ton Toit des Menades tatouees, sur le bras ou la jambe,
de Timage d'un faon ou dun chevreau. Mais, outre qu'il faut
distinguer, ce semble, entre le cerf. eXatpog, et le chevreau,
£Qtq)og, je remarquerai que les representations allegnees ne
concement que les femmes, et que le tatouage dionysiaque du
sexe fort parait avoir ete au type de la feuille de lierre ' ; ce-
lui des femmes etait au type de 1' igitpos, parce que, pendant
la Bacchanale, c'etaient les femmes seules, loin du regard des
hommes, qui dechiraient tout vivant et mangeaient tout cru 1'
SQKfog mystique. Les tatouages dionysiaques du chevreau et
de la feuille de lierre, reserves chacun ä Tun des sexes, sem-
blent prouver l'existence chez les Thraces de sex-totems, comme
on en a signale chez les Australiens.' Si ces remarques sont
just€s, le sobriquet 'EXacpöörixrog, etant porte par un hemme,
ne semble pas devoir etre explique comme le fait Wolters, et
je crois qu'il faut se rallier ä l'hypothese de Dittenberger.
m
Le tatouage est un art dechu. II date du premier äge
de l'humanite. Dans ce temps-lä, il n'etait pas ce qu'il est
devenu depuis, un moyen d'agrementer la peau humaine. Son
origine ultime est ä chercher, par de lä les raisons d'ordre artis-
tique, sociologique et religieux, dans le trefonds des rites de
la magie medicale. Le doct^ur Fouquet (du Caire) a releve des
traces non douteuses de tatouage medicaP sur la moraie de
la dame Amaunit, pretresse d'Hathor ä Thebes sous la Xl" dy-
nastie*; et il a montre que le tatouage comme moyen de thera-
' Perdrizet, Cultes et mythes du Pangee, p. 96—98.
- Frazer, Le totemisme (Paris, 1898), p. 72—75.
' Archives cTanthropologie criminelle, 1898, pp. 270—279.
* Trouvee en 1891 par Grebaut dans une tombe inviolee de Deir-
el-Bahari Cf. Maspero, Guide to the Cairo Museum, Le Caire, 1908.
p 536, n" 115: „Mummy of the ladT Amaunit. . . She was tatooed".
74 Paul Perdrizet
peutique est encore pratique en Egypte par les indigenes, tant
chretiens que musulmans. Ce travail du docteur Fouquet me
semble un coup de sonde jete dans l'abirae des origines. Je
m'empresse d'ajouter que, dans la pensee des primitifs, la
medecine et la luagie ne se distinguant pas l'une de l'autre,
ils ont du pratiquer le tatouage non seulement d'une fa9on
curative, pour donuer issue aux forces mauvaises etablies dans
le Corps du malade, mais aussi d'une fa9on preventive, pour
empecher la maladie d'entrer dans le corps de .l'homme bien
portant. Dans ce dernier cas, le tatouage devait representer
soit une figure schematique, ä laquelle la niagie avait attribue
une valeur propbylactique (le cercle, par exemple), soit un
objet reel, dans lequel on croyait que s'incarnait le divin.
L'image, comme le nom, equivaut, pour la magie, ä l'objet
ou ä l'etre qu'elle represente: poignarder le volt, c'est
poignarder la personne dont il est le Substitut; inversement,
rhomme qui portait tatoue sur sa peau l'image, ou le Sym-
bole, ou le nom du dieu qu'il adorait, portait ce dieu incor-
pore en lui, et par cette sorte de communion, se trouvait
premuni; marque du signe d'un dieu, il etait la chose de ce
dieu, celui-ci le preservait contre les maux possibles. Que
par suite le tatouage religieux soit devenu une marque de
servitude et de punition, eela s'explique aisement: la marque
divine etait mise sur les prisonniers de guerre, parce que le
dieu etait cense les avoir pris, sur les criminels, parce qu'il
etait cense les avoir punis. Eux aussi, prisonniers et crimi-
nels, etaient la chose du dieu, mais en un autre sens que
tantot. La marque de consecration participait de l'ambiguitc
generale des choses divines: dans certains cas, eile avait la
valeur d'un talisman; dans d'autres, c'etait ua signe indelebile
de degradation.
Les primitifs pratiquaient sur leur propre corps des Ope-
rations dont l'idee fait fremir la sensibilite des hommes d'au-
jourd'hui. 11 semble que la douleur physique füt supportee
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 75
beaucoup plus aisement par les habitanis des cavemes qu'elle
ne l'a ete depuis. TJn lecteur qui n'aime pas les promenades
„au jardin des supplices" netudiera pas sans frisson les tra-
vaux de Broca sur la trepanation neolithique^ et de Manou-
vrier sur le T sincipital des cränes trouves dans les allees cou-
vertes de Seine-et-Oise.' Bien des modes et pratiques en
honneur chez les sauvages, percement et etirement du lobe de
l'oreille et de la lerre inferieure, ablation des canines, etc.,
remontent sans doute ä une epoque extremement reculee. De
tant de supplices que s'infligeaient volontairement les hommes
des temps tres anciens, le moins terrible, quoiqu'il ne füt ni
sans douleur ni sans danger', etait encore le tatouage. II
semble avoir ete fort en vogue dans la Grece prehellenique.*
Certaines tombes des Cyclades ont fourni des alenes ä manche
de pierre et ä tige de cuivre, dans lesquelles les antiquaires
Scandinaves, si experts ä interpreter les debris de l'industrie
prehistorique, ont reconnu des instruments de tatoueurs, ana-
* Broca, Comptes rendus du VIU* Congres international d'anthro-
pologie et d'archeologie prehistoriques i, Budapest), p. 166. Cf. Dechelette,
ManueJ, t. I, p. 478.
- Manonvrier, Le T sincipital, dans le Bull, dt la soc. d'anthro-
pologie de Paris, 1895, p. 357. Cf. Dechelette, Manuel, t. I, p. 481.
' Lacassagne et Magitot, art. cite.
* Le travail fond amental sur cette question est celui de Blinken-
berg, Antiquiies premyceniennes, dans les Memoires de la Societe royale
des Antiquaires du Nord, 1896, p. 49 du tirage ä part (d"oü Dechelette,
dans JRevue archeologique, 1907, t. U, p. 38). II y faut joindre les re-
marques de Wolters, dans V Hermes, 1903, pp. 271 — 272. Hcernes {Ur-
geschichte von Europa, p. 31) assure qu'un des personnages peints dans
le tombeau de Seti ler, ä Bibän el-Mouloük (BenMite, Egypte, p. 539),
et qui porte au bras un tatouage, represente un chef egeen (cf.
Champollion, Monuments de VEgypte et de la Nubie, p. 260, d'oü Perrot,
Hist. de l'art, t. I, fig. 527). En realite, ce personnage, comme ceux
qui raecompagnent et qui semblent aussi tatoues (Lepsius, Denk-
mäler aus ^[typten und u^thiopien, t. ÜI, pl. 126), est un Libyen: cf.
Wiedemann, dans J. de Morgan, Recherches sur les origines de VEgypte,
p. 31.
76 Paul Perdrizet
logues ä ceux des vieilles tombes danoises.^ Les informes
statuettes prehelleniques portent parfois des ornements incises
sur la peau nue, qui doivent representer des tatouages^, peut-
etre des tatouages medicaux.
On a vu tantot que chez les Thraces le tatouage etaifc
probablement d'origine totemique. De meme chez les Bretons,
dont le Corps, nous disent les auteurs, etait couvert de ta-
touages representant toutes sortes d'animaux.^ On retrouve dans
la mythologie grecque des indices qui donnent ä penser que
ces marques totemiques n'etaient pas inconnues de la Grece pre-
historique: le fils qu' Antigene avait eu d' Haemon fut reconnu
parce qu'il portait sur son corps le totem de sa tribu, qui
etait Celle du Serpent.*
Dans la Grece classique, le tatouage avait perdu tout ca-
ractere magique et religieux. II existait, ä la verite, dans le
pays de l'ffita, des paysans qu'on appelait KvXinQdvsg, parce
qu'ils portaient, marquee sur l'epaule, Tiniage d'une coupe,
nvXi^. Mais Polemon le Voyageur, par qui nous connaissons
ce nttQdSoi,ov, avait note que les KvXlxqccvss n'etaient pas des
Grecs: ils tiraient leur origine de la Lydie, ils etaient venus
de Sardes ä la suite d'Heracles, quand celui-ci echappa ä la
' Les alenes des tatoueurs danois etaient ä manche d'ambre: cf.
Sophus Müller, Vor Oldtid, p. 237; Nordische Alterthumskunde, p. 241.
^ La Statuette de pierre trouvee pres de Sparte (Wolters, Ath. Mitt.,
1891, p. 51, d'oü Perrot, t. VI, fig. 334) porte sur les bras des chevrons
incisös.
" Solin, eh. XXII, p. 102 Mommsen*: (Britanniam) partim tenent
barbari, quibus per artifices plagarum figuras iam inde a pueris variae
animalium effigies incorporantur, inscriptisque visceribus hominis incre-
mento pigmenti notae cre^cunt: nee quicquam luage patientiae loco nationes
ferae ducujit, <{uam ut per memores cicatrices phirimum fuci artus bibant.
Cf. Hörodien, III, 14, 13: tä Sh eÖDfiata ati^ovrai ygatpais TtoixiXav ^moav
navto8an&v bIkoöiv.
■• Hygin, eh. LXXII, p 70 Schmidt: hinc üreon rex, quod ex dra-
conteo genere omnes in corpore insigne hahebant, cognovit. Cf. Eemein,
dans la Nouvelle revue historique du droit, 1901, p 131.
La miraculease histoixe de Pandare et d'Echedore etc. 77
sandalocratie d' Omphale.^ Peut-etre doit-on recoimaitre dans
la xvXih dont ils etaient marques un stigmate dionjsiaqae, et
se rappeler, ä propos de ces Lydiens etablis dans l'CEta, que
le culte de Dionysos ayait ses origines non seulement en
Thrace, mais en Lydie, comme Euripide le dit plasieurs fois
dans les Bacchantes.^
La Grece classiqne sentait trop vivement la beaute du
Corps humain, pour le salir des stigmates lirides du ta-
touage. Vlliade, X, 71 — 76, declare le vieillard inferieur au
jeune homme, pour une raison bien curieuse: quand ils sont
tues Tun et l'autre et depouilles sur le champ de bataille, le
cadavre nu du jeune homme est beau ä voir, tandis que celui
du vieillard est une laide chose; et cette comparaison semblait
aux Grecs si reconfortante pour les jeunes soldats que Tyrtee,
dans un de ses poemes guerriers, l'emprunte ä Homere.' Qu'on
se rappelle encore la legende de la double flute: Athena in-
rente cet instrument, mais comme eile constate qu'il lui de-
forme les joues, eile le jette avec degoüt. On pourrait multi-
plier les preuves analogues. Ah non! ce ne sont pas les
anciens Grecs qui auraient traite le corps humain de guenille
et de pis encore. On devine ce qu'une race, qui avait de la
beaute physique un sentiment si aigu, devait penser du tatouage:
eile trouvait fort bon que les Barbares fussent tatoues, et eile
tatouait ses esclaves, dont la plupart etaient des Barbares. C'est
* Athenee, 1. XI, p. 462 a: üolffKov iv rü> :rpcoToj rmv itgog kdaiov
xal 'Avxiyovöv cpr^öiv ovroag (Preller, Polemcmis periegetae jragmenta, 56)-
«T^S d' 'HgaxXsiai tfjg ti:r6 ttjv Oirr^v xal Tgaxtvcc, zöbv o/xTjTÖpcov (u9'
^HgccxXiovg rivhg äcpixaiisvoi ix Avdiag Kvlixgävsg . . . olg ov3h t§s «o-
liTsiag iisriSoeav ol 'HguxXeärai, ßvvoixtyvg aXXotpvXovg vjtoXaßövxBg.
KvXixgävsg dh Xsyovrui, Sri rovg conovg iyxBxaQayuivoi xvXixag r,6av.^
" F. 11: AiJfayv 3i Avd&v rovg TtoXvxQvGovg yvag et t. 464: Avdia
di iioi naroig. Le choeur des Bacchantes est compose de Lydiennes
(v. 55: Xmoveai Tn&Xov ^gv^iu Avdiag. Cf. v. 64 — 65: 'Aeiag ano yaLag\
'Isgov TfiäXov a^sitpaßa 9od^(ii).
* Fr. 8 Bergk-Hiller, v. 21 — 30.
78 Paul Perdrizet
la Grece qui a consorame la decadence de l'art tres antique du
tatouage, en l'employaiit ä la marque servile.
11 devait tomber depuis plus bas encore. Le tatouage, que
rhumanite primitive a pratique pendant des millenaires pour des
raisons graves, n'est plus guere aujourd'hui, dans la civilisation
europeenne, qu'une des modes caracteristiques de la basse pegre.^
Chose remarquable: aucun temoignage ne nous permet d'assurer
que dans l'Antiquite dejä, les criminels de profession se fissent
volontairement tatouer, comme leurs pareils d'aujourd'bui.
Sans doute, le sicaire d'Alexandre, tyran de Pheres, etait ta-
toue des pieds ä la tete; mais cet homme etait un esclave thrace,
harbarum et stigmatiam, compimctum notis Throeciis^, ses tatou-
ages relevent de l'etlinographie, non de la criminologie. Quant
au tatouage medical, il n'est atteste, chez les anciens Grecs et
Romains, par aucun temoignage certain; mais peut-etre les
petits cercles dont est marquee la main votive de Darmstadt ^
representent-ils des tatouages destines ä guerir une maladie de
peau, comme dans un des cas observes par le docteur Fouquet:
«J'ai eu l'heureuse chance, ecrit-il, de relever une Observation de
vitiligo traite sans succes par le tatouage, ce qui n'a rien de
surprenant, sur la main d'un Circassien de la classe aisee. L'ope-
ration, pratiquee par une ghagariah^, masqua pendant quelques
semaines, quelques mois au plus, les stigmates de la maladie
qu'elle devait faire disparaitre. La decoloration de la peau ne
^ Voir, outre Farticle de Lacassagne et Magitot, celui de Perrier
{Du tatouage chez les criminels), dans les Archives d'anthropologie crimi-
nelle^ 1897, p. 486 sq. Le meilleur de ce que Lombroso dit sur la ques-
tion, dans son Huomo delinquante (voir la 2e 4d. fran9aise, traduite sur
la 5e 6d. italienne, sous le titre L'Homme criminell Paris, 1895, 2 vol. 8"
avec album), est empruntd aux travaux de Lacassagne, notamment ä
Tarticle precitö.
* De officiis, II, 7, § 26.
' Pour cette main, voir plus bas, p. 123 et pl. I, 6.
* Nom des femmes d'une tribu nomade, qui exercent en Egypte le
tatouage et la circoncision. On les appelle aussi Halap „femmes
d'Alep" (Fouquet, art. cite, p. 273).
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 79
tarda pas ä gagner de proche en proche; aujourd'hui la main
malade presente un ilot bleu au milieu de chaque tache blan-
che aux contours sinueux, soulignant la maladie au lieu de la
dissimuler./)^
Le dtCxrrjg se servait de poin9on8 et d'aiguilles — gatpCdsg *,
XEQÖvai^, ßsXövat*, acus^ — en fer, qui ne ditferaient sans
doute pas beaucoup, comme forme, des outils de bronze em-
ployes par les tatoueurs de la Grece prehistorique. Les pe-
tites piqüres faites avec ces Instruments — viihiera ferro prae-
paraia^ — etaient imbibees d'une certaine encre, fisXav^:
comme dit Petrone, elles „buvaient les lettres" de Tinscription,
litteras hibebant. Le recit de Petrone auquel nous empruntons
ces expressions nous apprend aussi que l'esclave condamne a
la marque etait rase au prealable, comme aujourd'hui encore
les for9ats, arec cette circonstance aggravante qu'on lui rasait
non seulement la barbe et les cheveux, mais les sourcils. Par-
fois, on ne lui rasait qu'une moitie de la tete.* Le miserable,
ainsi accommode, devait etre hideux. üne fois marque, on lui
rivait aux pieds la double boucle^ — aidai, compedes — pour
' Fouquet, art. cite, p. 278, fig. 24.
- Herondas, V, 66. Epiphane, Tlavägiovy XXVII (Migne, P. G.,
XLI, 372).
* Clearque de Soloi, dans Athenee, 1. XII, p. 524 c?.
* EupoHs, Ta^iaQxoty fr. 259 Kock: 'Eyat di ye ßxi^to es ßßkovaiaiv
TQieiv.
* Prudence, Stephan., X, 1076. « Petrone, p. 106.
' Herondas, V, 66; Aetios, VIII, 12.
" Petrone, p. 103: mercennarius mens tonsor est; hie continuo radat
utriusque non solum captta, sed etiam supercilia. Artemidore, Oneirocr.y
I, 21, p. 23 Hercher: oxotsqov d'äv rfjg xtcpaXfIg fugog ipilov ixV ''■^S ovx
mv BvavvBidriTog, xaraxgcd^esTcci t^v Big Igyov dmiöeiov xaradlxTiv ' zov-
To yuQ xäxsi rraßaffTjudv ißti rotg xaTadixa^oiiivotg. Cypriani epist.
LXXVII, ad Xemesianum et ceteros martyras in metallo constitutos,
p. 159 Baluze (cf. p. 161): semitonsi capitis capillus horrescit. Cf. Momm-
sen, Droit penal romain, trad. Duquesne, t. lU, p. 244.
® Je traiterai de la double boucle comme punition servile dans la
Bei-, et. anc, 1911, 2« faacicule („Le chätiment de THellespont par Xerxes").
80 Paul Perdrizet
rempecher de fuir, et on l'expediait au ^tjtQsiov^, ä l'erga-
stule, au moulin ou aux mines^: c'etaient les travaux forces.^
L'Antiquite, pour marquer les esclaves, semble avoir em-
ploye aussi souvent le tatouage que le fer chaud. Avec celui-ci,
on ne pouvait guere imprimer qu'un signe, au plus que
quelques lettres.^ Le tatouage permettait de marquer un bien
plus grand nombre de caracteres, Un ötCxrrjg qui savait son
metier pouvait aisement inscrire sur Valhiim de la peau humaine
des caracteres qui ne fussent pas sensiblement plus grands que
les lettres onciales des manuscrits.
Herondas'* et Petrone" parlent d'un ^nCyQaiificc, Claudien^
d'un titulus imprime au front de l'esclave coupable. Uepigramma
fugitivorum auquel fait allusion Petrone, etait une formule
connue, notum, si connue que Petrone n'a pas pris la peine de
nous la conserver — ce qui ouvre le champ aux conjectures.
Selon Pithou, Vepigramma fugitivorum aurait consiste en une
lettre marquee au fer rouge, ^ ou F, abreviations de (p{vyäg),
f(ugitivus): Selon Juste Lipse^, c'etait, en toutes lettres,
^ Herondas, V, 32 avec la note de Crusius.
* Athen^e, 1. VI p. 272 e: xai ccl Tto/.lccl Sh avtai ccTZfxal (ivgiccäss
xmv olxETwv dsSsfisvcci slgyä^ovro rä ^stalXa.
* „La fletrissure, ou marque au fer chaud, est presque toujours
jointe ä celle des galeres", ecrivait Jousse en 1771 (op. l., t. I, p. 62).
* En France, au XVIIIe siecle, la Declaration du 4 mars 1724, art.
1, 3 et 5, prescrivait de marquer les voleurs d'un V; et les condamnes
aux galeres, des lettres GAL (Jousse, op. l., t. I, p. 57). En Lorraine,
les voleurs nocturnes etaient marqu^s des lettres VN. L'article 20 du
code pänal de 1810 s'exprime ainsi: »Quiconque aura etä condamn«? a
la peine des travaux forces ä perpetuite, sera fletri sur la place publique
par l'application d'une empreinte avec un fer bnilant sur l'epaule droite
. . . Cette empreinte sera des lettres TP pour les coupables condamnes
aux travaux forces ä perpetuite, de la lettre T pour les coupables con-
damnäs aux travaux forct^s ä temps, lorsqu'ils devront etre fletris. T.n
lettre F sera ajout^e dans l'empreinte si le coupable est un faussaire
" V, 77 — 9: infineQ ovx olösv \ "Av^ganog av iavxöv, avtix' släi/>ii
I 'Ev r& iisröanoi t6 iTÜyuafi^u ^x^^ tovto. " P. 103 et 106.
' In Eutropium, II, 344 — 5: Iura regunt, facies quamvis inscri}>tn
repugnet | Seque prodat tituln. ' Electorum 1. II, c. 15.
La miracaleuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 81
inscrite par tatouage, une formule comme cave a fugitivo. Selon
un scholiaste d'Eschine', c'etait la formale xdxsxs (le, (pevya.
Selon Pignori-, c'etait une formule analogue ä celle des carcans
d'esclaves fugitifs: tene nie quia fu/fi, et revoca me domino meo.
Je crois qu'il faut adopter l'hypotliese de Pignori, et meme
la pousser plus loin. Les inscriptions des carcans d'esclaves
ou des bulles de carcan^ peuvent nous donner idee des epigram-
mnta imprimes au front des esclaves fugitifs, parce que le
carcan et la marque repondaient au meme besoiu: l'esclave
ne pouvait pas plus «nlever celui-lä qu'eflfiacer ceUe-ci. Tons
les Colliers d'esclaves connus jusqu' ä present portent des in-
scriptions latines et datent de l'Empire: on peut donc attribuer
aux Romains la Substitution du carcan a la marque. Cette
Substitution s'explique-t-elle, comme le suggere Wolters*, par
un progres des sentiments d'humanite? On le voudrait; mais
je crains que le progres n'ait surtout consiste en ceci, que le
Collier ne gätait pas l'esclave; si le maitre voulait vendre son
esclave, il n'avait qu' ä lui enlever le carcan, pour faire dis-
paraitre le motif de depreciation que constituait la fächeuse in-
scription; ce qui n'etait pas possible avec la marque.
* Ad II, 79 {Oratores attici de Didot, t. II, p. 504): ol <pvyä3Bs täv
dovlav iaTi^ovTO t6 (lirconov, o ieriv insyQOCtfOvro' „xars^E f^f» (fsvya."
Dans les Fugitivi de Lucien, eh. 31, lorsque le de6n6Tr,i rattrape son
esclave fugitif, son premier mot est: "Exoi es, m Kdrd-aQs.
* De servis, col. 1144 sq. {Graevii et Gronovii antiquitates, suppl. t. III).
' Les inscriptions ont ete reunies et commentees naguere par Dressel,
CIL, XV, nos 7171 — 99 (adde M.irucchi, dans Nuovo Bull, dt arch.
crist., 1902, p. 126 et Merlin, C. B. Acad. Inscr. 19u6, p. 366 = Cat.
du musee Alaoui, suppl, Paris, 1908, p. 138, n«» 59, pl. LXXI, 1: la
bonne eiplication de ce colIier me semble avoir echappe ä M. Merlin;
je me raUie de celle de Schulten. Arch. Anzeiger, 1907, p. 166: il s'agit
d'une esclave qui etait fille publique et qui portait le nom d' Adultera),
Bous le titre : CoUaria serroium et canum fugitivorum ; il n'y a en effet
aucune diflFerence essentielle entre les inscriptions de l'une et de Tautre
Sorte; et cette constatation en dit long, ce semble, sur l'esclavage äRome.
* Hermes, 1903, p. 267, n. 1: »der spätere, humanere Ersatz des
Brandmale durch Halsband».
Archiv f. Religionswissenschaft XIV Q
82 Paul Perdrizet
En tout cas, l'hypothese de Pithou ne semble pas heureuse;
eile est contredite par le texte meme de Petrone. Eumolpe,
pour grimer Encolpe et Giton en esclaves, leur barbouille au
travers du visage, en lettres enormes, l'inscription des fugitifs:
implevit Eumolpus frontes utriusque inqentihus Utteris et notum
fugitivorum epigramma per totam fadem liberali manu duxit.
L'exageration est plaisante: en realite, l'inscription n'occupait
que le front, et eile etait en lettres assez petites, parce qu'elle
etait assez longue. Zonaras nous a conserve VenCyQcciina que
l'empereur Theophile (829 — 842) fit tatouer au front de
deux fanatiques iconolätres, Theophane et Theodore: eile n'a
pas moins de 12 vers iambiques.^ Et pourtant, une loi de
Constantin, inseree aux codes de Theodose ^ et de Justinien^
' Annales, ed. Paris., t. II, p. 146 = t. III, p. 409 Dindorf: ovrog
Kcci Tovg avraSsXtpovg cificpa, rov ©socpccvrj rs xal OeoScogov rovg oiioloyt]-
tdg, ilsy^avrag ttjv ixslvov Svßßsßstav, ix qi^öecov JtßoqpTjrtxräv rs xal
ygacpixäv, TtQ&rov (ihv öcpodg&g xccrrjxieato, slza xccl rag oipsig wbzwv
xuvsßri^s, xal rcclg arty^cctg ^iXav insxss, ygafi^aza d' itvTtov rce erly^iara •
Tcc S' ricccv ia^ßoL ovroi-'
Jldvrav Tcod'ovvtoav TtgoatQix^iv Tigog rijv jtöXiv,
"Onov TtävayvoL rov @sov Aoyov nodsg
"E(jrr]6ccv sig evaraatv t^s Olxov(i£vr]g
"Sl(fQ'r]6av ovroi rä> GBßae^ioi röno),
ZlxEvri TtovriQcc dsiöiSai^ovog JiXdvrig,
'Exslas TtoXXd Xomov i^ aitieriag
UQu^avrsg aiexQcc dsivu dvaesßocpQovcog.
'ExsiO'sv TjXäd-rjGav d>g cntoerccrcxi,
Ugog TTJV TtoXiv dh rov xgärovg Ttscpsvyörsg,
Ovx i^cccpfixccv rccg dd'iß^ovg ^mgiag.
"Od SV ygucpivreg ag xaxovgyoi rr]v Q-iav.
KaraxQivovrai xal diwxovrcci %äXiv.
* Const. 2 Cod. Theod. IX, 40: Inip. Constantinus Ä{ugusttis) Eumelio:
Si quis in ludum fuerit vel in metallum pro criminum deprehensorum
qualitate damnatus, minime in eius fade scribatur, cum et in manibus
et in suris possit poena damnationis una scriptione comprehendi : quo
fades, quae ad similitudinem pulchritudinis caelcstis est figurata, minime
maculetur. Dat. XII Kalendas april. Cabilluno, Constantino A. IV et
Lidnio IV coss. (a. D. 315).
» Const. 17 Cod. Just. IX, 47 (et non XIII, 47, 17, comme le dit
Chapot ap. Dict. des antiq., art. Servi, p. 1278, note 8).
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 83
defendait de fletrir la face hamaine, »cette face formee ä la
ressemblance de la Beaute divine«. >Donc, malheur ä toi,
tyran! s'ecriait cinquante ans plus tard, sous Leon le Sage
(886—911), le jurisconsulte Theodore, dans une scholie^ ä cette
loi de Constantin — malheur ä toi, qui as fait marquer le
front de ces saints!«
On comprend maintenant pourquoi l'inscription d'Epidaure
emploie indifferemment les mots ygafifiaTu ou 6tCyfiaTa pour
designer les marques de Pandare et d'Echedore; et Ion s'explique
la pointe de Tepigramme de Martial, II, 29, splenia tolle, Uges_
ou des expressions comme litterae^, inscriptiones frontis^ «mar-
ques», littercUus*, inscriptus^ «esclave de marque>, scribere,
inscribere <^ marquer). Litteratus se trouve pour la premiere fois
dans Plante, qui saus doute l'a calque du grec. Aristophane
dejä, dans les Babyloniens, avait parle d'esclaves noXvygdiiftaroi.'^
La comedie en efiFet, ä Rome" comme en Grece, s'est souvenfe
* BastXixd, LX, 51 § 54 (t. V, p. 874 Heimbach) : Oiai eoi zoLwv,
m rvgavvs, ort tov ayiov SsödcoQOv xal ©eoqpavrjv iv zoig ayioig avröbv
litvmTtoig iavi^ag. Cit« par J. Godefroy, Codex Theodosianus cum per-
petuis commentariis (Lyon, 1665), t. III, p. 295. II y a du reste une faute
d'impreasion dans la refe'rence de Godefroy: au lieu de Basil. 1. LX,
tu. 51, l'imprimeur a mis tit. 5.
* Valere Maiime, VI, 8, § 7: inexpiabili litUrarum nota.
' Seneque, De ira, HI, 3.
* Piaute, Casina, II, 6, 49: ST. Hoc agesis, Olympia. OL. 5» Ate
Utterattis ine sinat. Apulee, Metam. IX, p. 616 Oudendorp: frontem litterati.
' Martial, VIII, 75: Quattuor inscripti portabant vile cadaver. Pline,
Hist. nat, XVni, 4: nunc eadem illa vincti pedes, damnatae manus, in-
acriptiquc vultus exercent. Juvenal, XIV, 24: inscripta eryastula. Gaius
(Itistitutes, 1, 13, commentaire de laloi ^Elia Sentia; reproduit presque mot
pour mot par Ulpien, Regles, 11): servi . . . quibus Stigmata inscripta sint.
Ausone, Epigr. 36, p. 325 Peiper: Ergo notas scripto tolerasti, Pergante,
vultu. Aetios, Tetrabibl. II, serm 4, c. 12: öriyuaru xaXovei rä inl rov
*Q06<i>:tov 7} allov rivog (legovg rov emuazog irtf/gacföneva.
* Fr. 64 Kock.
^ Une comedie de Naevius, imitee d"un modele ^ec dont nous ne
WTons rien, a'appelait Stigmatias (Varron, De Ungua latina, VII, 107
Müller = Ribbeck, Com. lat. />.', p. 21).
6*
84 Paul Perdrizet
egayee aux depens des esclaves de marque, mais jamais plus,
serable-t-il, que dans les Bdbyloniens} L'action de cette piece
se passait dans un moulin, oü le choeur, compose d'esclaves
barbares, tournait la meule.^ On se rappelle le moulin decrit
par Apulee: dii honi, quales illic homunculi vibicibus lividinis
totam cutem depicti dorsumque plagosum scissili centunculo magis
iniimbrati quam öbtecti, . . . frontes liUerati et capillum semirasi
et pedes anulati, tum lurore deformes et fumosis tenebris vaporosae
caliginis palpebras adesi etc.^
Les Grecs employaient la marque pour le betail, pour les
prisonniers faits dans des guerres inexpiables, auxquels la baine
du vainqueur tenait ä infliger une fletrissure indelebile, inex-
pidbili litterarum nota per summam oris coniumeliam inusti*,
enfin pour les esclaves.
L'usage de marquer le betail au fer rouge etait general
dans l'antiquite.^ Mais l'ancien droit ne distinguait pas entre
l'animal domestique et l'esclave: Tun et l'autre n'etaient que
^ Fr. 64, 79, 88, 97 Kock.
* Cf. Maurice Croiset, Aristophane et les partis, p. 66.
•' Metani., IX, p. 616.
* Valere Maxime, VI, 8, § 7.
^ Gregoire de Naziance, De baptisma, cite dans le Thesaurus, s. v.
acpQuyi^o), col. 1626: •nqößaxov i6cpQayi6\iivov ov gaSicog inißovXsverut,'
t6 äh äarnLavxov KUnrais sidXwTov. Voir les commentateurs de Virgile
ad Georg., I, 263 aut pecori Signum; Ebbesen, op. laud., p. 15 — 17;
Bekker-Göll, Charikles, 1. 1, p. 130; Crusius, dans Philologus, 1903, p. 130.
Un texte curieux, qui parait avoir echappe ä ces erudits, et qui devrait
Stre cite d'abord, parce qu'il a Häsiode pour source, concerne le grand-
pfere d'Ulysse, Autolycos, qui, comme le dit YOdyssee, t, 395—396. n'avait
pas ßon pareil comme voleur et parjure. Cf. Hesiode, fr. 112 Rzach d'iipres
Tzetzäs ad Lycophr. 344 et Eudocie, Violarium, p. 876 et 894: kX^jitov
tmtovg T8 Kai ßSccg xal jtol(ivia rag ßcpQuyiSag «■^töv (iststcoisi xal ikäv-
&avs rovg Seanörag avxmv, mg qpTjöiv 'HaioSog. Voir encore Hygin. eh.
CGI, avec les remarques d'Esmein, dans la Nouvellc reime historique du
droit, 1901, p. 136. Au Moyen Age, les destriers portaient parfois les
armoiries de leur propriätaire marqu^es sur leur robe: cf. A. Schultz, Das
höfische Leben zur Zeit der Minnesänger, t. I, p. 600.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 85
des instruments animes. Ce droit admettait donc que le pro-
prietaire marquät ses esclaves comme il faisait ses betes.
En Egypte^ et en Asie*, le betail qui appartenait aux
temples etait marque au fer rouge. D'autre part, Herodote'
rapporte que les esclaves fugitifs qui cherchaient asile dans un
certain temple, pres de Canope, y etaient marques du Symbole
de la divinite egyptienne adoree en cet endroit: apres quoi,
devenus par cette Operation la chose de la divinite, ils etaient
intangibles, leur ancien maitre perdait tout droit sur eux.^
Des usages de ce genre ont-ils existe en Grece? On peut
admettre, quoique les preuves manquent, qu'en Grece anssi les
troupeaux sacres fussent marques au signe du dieu dont ils
etaient la propriete. Mais que des esclaves, en se refugiant
dans un sanctuaire grec et en y recevant la marque du dieu,
pussent echapper pour toujours aux poursuites de leurs legitimes
proprietaires, c'est une hypothese bien peu vraisemblable. Assure-
ment, plusieurs sanctuaires helleniques ont offert asile aux
esclaves*, mais sous des reserves de droit qui devaient etre
fort strictement definies, si l'on en juge par le reglement des
mysteres d'Andanie.^ Les Grecs n'auraient jamais concede ä
leurs sanctuaires les privileges exorbitants des temples orientaux.
Si Herodote a note celui dont jouissait le hieron de Canope, c'est,
je pense, qu'il ne connaissait rien de pareil en pays hellenique.
* Wiedemann, Htrodotos II" Buch, p. 183.
- Plutarque, Lticullus, 24: ßoeg legal vifiovrai Tleeeueg 'Agrifiidos,
T)V (läXiera 9swv ol -xigav Eiqtgdxov ßccQßaQOt rmöbet . . . jj^a^a/fiara
tpigoveai rf/C Q^sov Xayi,7td3u.
' Herodote, 11, 133: 'HQaxXio^ iscov, ig rb T/V KUTacpv/wv oixBTrig
OT£väv avd'Qmnwv i7iißäXr,Tai 6xiyy.ara igd, iwvrbv didovg zu 9'eä, ovx l|£0rt
Tovrov cctpaa9ai. Les autres temoignageg concemant YdevXia des temples
grecs sont tous grecs et d'epoque ptolemaique (LefebTre, dans C. B. de
l'Acad. des Inscr., 1908, p. 772); les textes hieroglyphiques n'en disent
rien (Wiedemann, op. L, p. 436; Sourdille, Herodote et Ja religion de
VEgypte, p. 177).
* Par exemple celui de Delphes: BCH, 1902, p. 320.
^ Foucart, Inscr. du Pelopoyinhe, p. 173.
86 Paul Perdrizet
«Voulez-vous savoir, demande Demosthene dans son plai-
doyer contre Androtion^, la difference qu'il y a entre l'esclavage
et la liberte? C'est que l'esclave expie corporellement tous
ses mefaits, tandis que Thomme libre, meme homicide, raste
maitre de son corps.» Cette doctrine explique qu'en Grece le
fouet fut applique aux esclaves seulement^, et que les seuls
esclaves fussent soumis ä la marque: d'oü l'espece que les pro-
fesseurs d'art oratoire faisaient traiter ä leurs eleves et qui a
du etre plaidee en effet plus d'une fois devant les tribunaux:
exmsatio est aut ignorantiae, ut si quis fugitivo Stigmata scrip-
serit eoqiie ingenuo iudicato neget se liberum esse scisse?
Seneque, il est vrai, raconte qu'un Macedonien s'etant
conduit envers un compatriote, son bienfaiteur, avec la plus
noire ingratitude, fut condamne par Pbilippe II ä recevoir le
stigmate.* Seneque ne dit pas que cette fletrissure ait accom-
' § 55: y,al ^f]v sl ^sIets ensipcxßd'ai xL dovXov rj iXsv9BQ0v tlvai
SicccpSQSi, xovTO (isyiGTOv av svQOire, ort rotg (ihv öovXoig to ew^a rwv
&di,xriiicct(ov ccTcdvrav vTtsv&vvov iori, rotg d' iXsv&iQOig, kccv ta (liyior' atv-
X&eiv, rovxö y' ivecrt. GäöaL. J'adopte, pour Kav xa fi^yiGx' axvxöidv, la
deuxieme interpretation de Weil {Les plaidoyers politiques de Demosthene,
t. II, p. 40). L'anonyme qui est Tauteur de la pars suspecta du Contre
Timocrate, § 167, repete la meme doctrine ä peu pres dans les memes termes.
* Glotz, Les esclaves et la peine du fouet dans le droit grec (C. B. de
l'Acad. des Inscr., 1908, p. 571).
^ Quintilien, Inst, orat., VII, 4, § 14.
* De beneficiis, IV, 37, p. 117 Hosius: Fhüippus Macedonutn rex
habebat militem manu fortem, cuius in multis expeditionibus utilem expcrtus
operam subinde ex praeda aliquid Uli virtutis causa donaverat . . . Hie
naafragus in possessiones cuiusdam Macedonis expulsus est; qui, ut nun-
tiatum est, accucurrit, spiritum eius recollegit . . . refecit, viatico instruxit
. . . Narravit Philippo naufragium suum, auxilium tacuit et protinus
petit, ut sibi cuiusdam praedia donaret. llle quidam erat hospes eius
is ipse, a quo receptus erat . . . Philippus illum induci in bona, quae
petebat, iussit. Expulsus bonis suis ille non ut rusticus iniuriam tacitus
tulit contentus, quod non et ipse donatus esset, sed JPhilippo epistulam strictam
fic liberum scripsit ... Je ne sais si les historiens ont souligne le carac-
tere authentiquement macedonien de cette histoire. On sait eu effet que
les rois Macedoniens s'assuraient la fidelite de leurs leudes en leur con-
stituant des sortes de fiefs (l'lutarque, Vie d' Alexandre, eh. 16, p. 29:J
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echädore etc. 87
pagne, pour le personnage en question, la perte de la liberte:
voilä donc un exemple dingenu condamne ä la fletrissure. —
Oui, mais ce cas ne nous concerne pas: il s'est produit hors
de la Grece, en Macedoine, du temps de Philippe II, et nous
ne parlons en ce moment que de droit grec et romain. — 11
est vrai encore que Piaton voudrait voir marquer au front et
aux mains l'etranger coupable de sacrilege, meme si cet etranger
est un homme libre^; et peut-etre en allait-il ainsi dans quel-
ques villes grecques. Mais c'est lä une exception qui, comme
on dit, confirme la regle. Piaton en eflfet veut aussi que le
sacrilege re9oiye un nombre illimite de coups de fouet^, autant
qu'il plaira au magistrat: l'enormite du crime explique cette
prescription, inusitee tout au moins ä Athenes, oü l'esclave ne
devait pas recevoir plus de cinquante coups*; eile explique aussi
la prescription de marquer l'etranger coupable de sacrilege
meme si c'est un homme libre.
En general donc, les gens qu'on marquait etaient des es-
claves, non pas tous les esclaves, mais les pires, surtout les
esclaves marrons [dgccjcetaiy, et ceux qui se refusaient aux caprices
Sintenis*; Dittenberger, Sylloge^, n^lTS; cf. Duchesne, lUission au Mont
Athos, p. 71, et Karst, Gesch. des hellenist. Zeitalters, t. I, p. 126): ainsi
oexplique que Nearque, qui etait d'origine cretoise (Diodore, XIX, 69, 1;
Arrien, Ind., XVIII, 10; Sylloge*, n" 916), füt qualifie de Ariraiog dans
les Maxsäovixd de Theagene (cf. Etienne de Bvzance, s. v. AH'TH):
il avait du recevoir a Lete un fief de ce genre. Fowler {The sources of
Seneca „De Beneficiis", dans les Proceedings of the Amer. Philol. Asso-
ciation, XVII, 1886), estime que la source principale du Tratte des
bienfaits est le stoicien Hecaton de Rhodes (sur lequel cf. Schmekel,
Die Philosophie der mittleren Stoa, Berlin 1892, p. 14): Hecaton avait du
trouver l'histoire ci-dessus dans quelque auteur du IVe siecle, peripa-
teticien ou historien, qui etait bien renseigne sur la Macedoine.
* Lois, IX, p. 854 d: og ä'av legoGvlcav Xri(f9^, iav [ikv r; dovXog i]
^svog, iv rä TigoemTCta xai raig ;j£e<Ji j'paqpa/g rrjv örftqpopäv xal (laßri-
ycaO'slg onoöag üv dd|ij toig dixacraig, ixrog rmv OQtav t^g j^mQug yviivog
ixßXri&rita). * Glotz, memoire die', p. 578.
' Aristophane, Oiseaux, 760: El Sh xvyxävn xig v(i&v 3Qa7iiTr,g
iöTf/fiivog. Lucien, Timon, § 17: wonsQ criyuariag SgccTchrig TtSTtsdrifisvog.
88 Paul Perdrizet
du maitre. Dans un mime d'Herondas, une dame dans le genre
de la femme de Putiphar, jalouse de sön bei esclave Gastron,
qui s'est permis une couclierie avec une autre qu'elle^, fait querir le
tatoueur: qu'il vienne vite, avec ses aiguilles et son encre, pour
marquer le coupable au front! De cette saynete, de cette
»tranche de vie« ([il^og ßiolöyog), qui jette un jour si cru
sur les moeurs d'Alexandrie, on rapprochera ce precepte des
2JtCy^ccTcc ni] yQccil^ris s^ovsLdC^av &£Qcc7tovta^,
car les recherches de Jacob Bernays ont etabli que les ^(oxvXCdsia
sont un pseudepigrapbe juif, ecrit ä Alexandrie probablement,
dans la deuxieme moitie de la periode hellenistique, c'est-ä-
dire ä l'epoque meme d'Herondas. On y voit poindre l'aube
de la morale future: le sentiment de l'egalite, de la dignite
humaine, s'y affirme. C'est le meme sentiment, si Ton veut,
qui s'affirmera plus tard dans la loi de Constantin: facies, quae
ad similitudinem pulchritudinis caelestis est figurata, minime
maculetur.^ Mais comme le precepte du Juif alexandrin, sous
sa forme purement laique et humaine, a pour nous, modernes,
un autre accent! Et qu'il est plus categorique! La loi de
Clement d'Alexandrie, Faedag., III, 2, § 5, p. 242 Stählin: wg yag tbv
SoaTthTTiv rä exLy^axcc, ovxa xj]v yiOt,%aXi8a dslxvvöi avO-iaiiaxcc. Etc.
* Je dis les choses telles qu'elles sont, puisqu'on s'y est mepris:
»Cn mime d'Herondas, ecrit Chapot, dans le Biet, des antiq., art. Servi,
p. 1271, met en scene la durete d'un maitre bien vite apaise.«
* Dans le passage de Juvenal, XIV, 21 — 22 {Tunc felix, quoiies uli-
quis tortore vocato \ Uritur ardenti duo propter lintea ferro) ^ il ne s'agit
pas de marque au fer rouge, mais d'une variete de supplice, dont il est
question dans Ciceron, In Verrem, V, 63, et Topic, 20, et dans Seneque,
De Ira, III, 3.
^ Vers 225 de l'edition de Bernays dans l'appeudice de son memoire
lieber das pJiokylideische Gedicht (Gesammelte Abhandlungen, t. I, p. 261;
cf. p. 246). Sur le Pseudo-Phocylide, voir encore Renan, Histoire d' Israel,
t. IV, p. 260.
■* Code Theod., IX, 47, 17. Je n'ai pas vu Ich anciennes disser-
tations d'Ernst Tenzell, De stigmatibus in facie et do Sam. Fried. Willen-
berg, De stigmate in facie non scribendo.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 89
< onstantin defend de fletrir la face de rhomme; mais comme
eile ne dit rien. du reste du corps, le Roi de France et le Pape
feront marquer sur l'epaule du miserable Tun sa fleur de lis et
l'autre les clefs du cieL
A Rome, sous la Republique, rhomme libre coupable de
Kalumnia etait, dit-on, puni de la marque: on lui imprimait au
front la lettre K, avec le fer rouge.^ Cette penalite, qui entrainait
l'infamie, tomba en desuetude sous l'Empire Par coutre, les
Empereurs firent plus d'une fois marquer des ingenus con-
damnes aux travaux forces*: c'est que ceux-ci, du fait meme de
leur condamnation, perdaient la liberte, devenaient esclaves de
rjltat, serii poenae. II faut descendre jusqu'au commencement
du Moyen Age pour trouver des cas d'ingenus fletris de la
marque sans etre condamnes a la servitude et aux travaux
forces.^
Le droit grec en general, surtout le droit attique, sem-
ble avoir ete plus soucieux des egards düs ä l'homme libre
et ä l'esclave ne dans la liberte. Diodore signale comme l'une
des causes de la guerre servile d'Eunus, qui vers 140 — 130
avant notre ere devasta la Sicile, la barbarie de certains grands
pr'oprietaires, qui avaient fait marquer des esclaves nes libres.*
* Cf. Humbert, article CALVMNTA dans le Dictionnaire des
Antiquites.
* Suetone, Caligula, 27: multos honesti ordinis, deformatos prius
*igmatum notis, ad metalla et ad munitiones viarum aut ad bestias con-
lemnavit. — Pontius, Vita et passio S. Cypriani (Baluze, Cypriani opera,
•ol. CXXXYIII) : quis denique tot confessores, frontium notatarum secunda
nxscriptione signatos, allusion a un passage de la fameuse lettre de
yprien aux confesseurs travaillant comme forgats dans les mines de
Sigus en Xumidie (Monceaux, Histoire litteraire de VÄfrique chretienne,
t. II, p. 248, d'oü Schanz, Rom. Litt.*, t. III, p. 357).
' Opilion et Gaudens, expulses de Ravenne sur l'ordre de Theodoric,
cherchent asile dans une eglise de cett« Tille: edixit (Tlieodoricus) vti
ni tntra praescriptum diem Bavenna urbe decedant, notas insignüi
frontibus pellerentw (Boece, Consol., I, 4, p. 13 Peiper).
^ Diodore, 1. XXXIV, eh. 2, § 1, 27, 36.
90 Paul Perdrizet
La servitude, ä ceux-ci, etait infiniment plus douloureusequ'aux
autres: le plus recent poete de Y Anthologie l'a bien senti:
L'ESCLAVE
Tel, nu, sordide, affreux. nourri des plus vils mets,
Esclave — vois, man corps en a garde les signes —
Je suis ne lihre au fand du golfe aux helles lignes
Oü l'Hyhla plein de miel mire ses Ileus sommets . . }
Un esclave ne dans la liberte gardait en general l'esperance
d'etre rachete; et souvent il lui arrivait de l'etre. C'etait donc
le fait d'un maitre barbare que d'abuser du passage d'un homme
par la servitude pour lui infliger ce que Blas le cynique, dans
son etonnante autobiographie, appelait r^g tov ÖEßTCotov nixgCccg
evußokov.^ Mais etant donne la douceur generale des moeurs
grecques, je ne puis croire que les esclaves stigmatises Sans
l'avoir merite fussent bien nombreux. Un maitre, d'ailleurs,
devait y regarder ä deux fois avant d'infliger la marque, car
eile gätait le physique de l'esclave et depreciait sa valeur en
le classant pour toujours parmi les mauvais sujets.
C'etait donc, en general, une fächeuse recommandation que
de porter stigmates, de meme que sous l'Ancien Regime d'etre
fleurdelise — avec cette diiference aggravante que la fleur de lis,
imprimee sur l'epaule, conformement ä la loi de Constantin, ne
se voyait pas, tandis que les stigmates etaient imprimes sur le
front. Meme quand il avait reussi, d'une fa9on ou d'une autre,
ä sortir de la servitude, le Griy^atlag continuait ä sentir les
effets de sa fletrissure. Nous ne sommes pas informes sur les
dispositions que les diverses legislations de la Grece pouvaient
contenir ä cet egard, mais nous pouvons nous en faire idee
^ J. M. de Heredia, Les Trophecs.
* Diogene de Laerte, IV, 7, § 1 : t'/ioi ö TTari]Q (ikv 7}v änEXBvd-£Qo>;,
x& ayKmvi &7io^v666^svog — duSr'ßov äh rör rocQixi^-rcoQOV — yivO'S
BoQvod'svitTig, ^x^^ oi TtQoaoiTCOv ccXXa cvyyQaqiriv tnl rov ngocrnTtov, ri)^
TOV äsaTCOTOv Tti'xgiag cv(ißoXov ' (ii'jttiq dh oiav 6 toiovrog av yijiicci,, &%'
olyii](iatos- Cette fille en maison s'appelait Olyinpie (Athencie, XIII,
p. ö92a). Cf. V. Arnim, dans Pauly-Wissowa, V, 483.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 91
par Celles du droit romain. Nous cormaissons par les commen-
taires de Gaius^ et d'Ulpien', une loi iElia Sentia, qui defi-
nissait la condition des afiranchis deditiiii: „Sont parmi les
dedititii les aflFranchis, quelle que soit la fa^on dont ils ont
obtenu raflfranchissement, qui, durant leur esclavage, ont ete
punis de la double boucle et de la marque^; ou qui, ä raison
d'un delit, ont ete tortures et juges coupables; ou que leur
maitre a livres pour combattre dans l'amphitheätre; ou qu'il
a enfermes dans une ecole de gladiature ou jetes en prison.«
La condition de dedititius etant la pire qu'un affranchi put
connaitre {pessima libetias, dit Gaius, I, 26), on comprend que
les anciens esclaves qui avaient merite, pendant leurs annees de
servitude, le chätiment de la marque, figurassent en tete de
cette enumeration des dedititii.
IV
Revenons maintenant ä nos deux comperes, Echedore et
Pandare. C'etaient deux Grecs auxquels ^^etait arriTe malheur».
11s avaient ete esclaves en Grece, quoique Grecs. Piaton vou-
drait que les Grecs n'eussent point d'esclaves grecs*, mais ce
voeu n'a jamais ete entendu, et Piaton lui-meme a connu la
servitude ä Egine. Mais autre chose etait d'avoir ete esclave
comme Piaton, et esclave de marque comme Echedore et Pan-
dare. Ou peut-etre nos deux personnages avaient-ils merite la
marque comme sacrileges. De toute fa^'on, ils devaient tenir
ä faire peau neuve. Et comme l'art humaiu etait impuissant
» Instit., I, 13. » Begles, 11.
' Qtii servi a dominis poenae namine vincti sint quibusve Stigmata
inscripta sint. Je montrerai ailleurs (Rev. et. anc, 1911, 2« fascicule: »La
legende du chätiment de l'Hellespont par Xerxes») que la double boucle
et la marque sont des chätiments serviles qui n'allaient guere Tun saus
lautre, de meme que dans notre ancien droit, »la fletrissure ou marque
avec le fer chaud etait presque toujours jointe ä celle du fouet ou ä
Celle des galeres et ne se pronon9ait presque jamais seule« (Jousse, op.
dt., t. I, p. 57).
Eep., V, p. 469b: (ir,dk "ElXriva aQa 6ov}.ov ixzfi6d-ai avxovg.
92 Paul Perdrizet
a enlever les marques du cautere, ils eurent recours au dieu
d'Epidaure. II exau^a Tun, mais aggrava le cas de l'autre,
parce que Tun avait voulu lui payer ses honoraires, tandis que
l'autre se les etait frauduleusement appropries. De meme, ä
Athenes, quand Neocleides, un homme politique connu par ses
malversations, etait alle dormir dans l'abaton d'Asclepios pour
obtenir la guerison de sa chassie^, le dieu avait expres aggrave
son cas, sous pretexte de le guerir:
Tbv dh NsoxlsCdrjv ^äXXov enoCrjösv xv(pX6v}
Que penser du double Xaiia de Pandare et d'Echedore?
Que retenir de cette histoire grecque?
Les steles des guerisons etaient afficliees dans le sanctuaire,
elles ofifraient aux visiteurs des echantillons du savoir-faire du
Dieu, soigneusement choisis par les pretres. 11 est plaisant
qu'elles lui attribuassent, entre autres pouvoirs, celui de
debarrasser les öny^arCai de leur marque d'infamie: singuliere
clientele que celle-lä!
Ici, quelques observations sur les noms de nos deux mira-
cules ne seront pas hors de propos.
Le second est-il bien un nom? Le mot d&Qov a souvent
le sens d'»offrande«, et le verbe ex^iv le sens de »garder«.
Ce serait une harmonie preetablie bien surprenante qu'un
homme qui avait voulu garder pour lui une ojfrande destinee
au dieu d'Epidaure s'appelät justement Echedore. Le pretre
qui inventa cette histoire pieuse dut choisir, pour designer le
triste personnage qui en etait le heros, un nom transparent,
du genre des surnoms ou sobriquets dont le Dieu lui -meme
gratifiait les gens qui lui avaient fait tort, par exemple les
libres penseurs: ort xoCvvv efi^goö&sv ccnCörsLg avrolg ovx
iovöiv ScjtCdroLs, t6 Xoijthv aötto xb „'l^^riffrog" '6voiiu.^
' NsoxXsiSi^g u yXäfiav (Aristophane, Ecclesiae., 398).
* Ploutos, 747. Cf. Weinreich, op. laud , p. 96.
* Premiere stele des "layLaxa, 1. 32—34.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 93
Pandare aussi est un nom etrange. On peut feuilleter
les indices des recueils epigraphiques et les prosopographies,
on n'en trouvera pas d'exemple. Et pour cause! ün Grec ne
devait pas plus etre tente d'appeler son fils TldvdttQog que nous
n'appellerions un enfant Judas ou Ganelon. Pandare etait
dans la legende grecque le type du fourbe\ son nom etait
synonyme de parjure.^ Les honnetes professeurs, vengeurs de
la bonne foi par Pandare si souvent offensee, expliquaient ä
leurs jeunes eleves que ce nom signifiait 6 jcccvra dgdöag svexa
xdgdovg xal aksovs^Cag.^
Bien naifs serions-nous si nous tenions Echedore et Pandare
pour des personnages historiques. L'inscription a beau nous
assurer que Tun des deux etait de Thessalie: nombre de recits
legendaires contiennent des precisions de ce genre, sans que
l'historicite du recit ou des personnages en soit pour autant
garantie. Sans doute, plus d'un miracle relate dans les steles
d'Epidaure a son origine dans quelque ex - voto, Statuette* ou
ycCva^} Mais rien n'interdit de penser que d'autres ont ete
inventes de toutes pieces, par les pretres. Si celui dont nous
parlons est de ce nombre, il est possible d'expliquer que Pan-
dare y soit donne pour Thessalien. Dans le Ploutos d'Aristo-
phane^ la deesse Pauvrete demande ä Chremyle: »Quand vous
m'aurez chassee, quand tout le monde aura de quoi, qui tra-
vaillera? — Les esclaves. — Mais comment aurez-vous des
• Cf. Perdrizet, Le chien d'or de Zeus, dans Bull, de corr. heü., 1898,
pp. 584 — 586 (resume dans Röscher, Lexicon, s. v. Pandaros).
- Dion de Prouse, LXXIY, 15 (t. II, p. 197 Arnim): rör äqiEvsexsQtav
riavxwv i] JJavdäQov (isörcct (ikv ayoQCcl «»'©"pcöartar, nsistal 6h ccyviai.
Antoninus Liberalis, XI, 1, rapporte d'apres Y 'OQvi&oyovia de Boios, une
particularite concernant Pandare, qui n'etait pas faite non plus pour le
rendre sympathique aux gens cultives: Tlavöagsog anisi r^s 75s rjy^
Ecfsaiag, iv' sctIv vvv 6 JTpiicbv Ttaga Trjr TtöXiv m SiSol ^r}y,T)zr}Q
döäQov ^iriSinots ßtxovv&iivai rijv yaerdga vtco git'kov oTtöeov av TtXr^Q'og
(l6svsyxr,Tai. Cf. Esmein, dans la Nauvelle revxie hütorique du droit,
1901, p. 133. ' Etym. Magnum, s. nANJA'PESlK
* Syll-, 802, 1. 40. 5 Id, ibid., 1. 10.
94 Paul Perdrizet
esclaves? Qui voudra encore se donner le tracas d'en vendre?
— 11 se trouvera toujours bleu, repond Chremyle, quelque
Thessalien, pour venir nous en proposer, de la part de leur
syndicat de marchands d'hommes» :
KsQÖaCvsiv ßovköfisvög rtg
s^TtOQog r]X(x}v ix &6<36alCag TCagä nXsCötav ävdQUTCodLöxmv}
Ainsi, ä la fin du V® siecle, beaucoup d'dvdQaTtodiötaC etaient
des Thessaliens. C'est, sans doute, que la marchandise dont
ils trafiquaient se trouvait aisement en Thessalie: la trans-
formation d'un peneste en esclave devait etre un fait frequent.
Les marchands thessaliens embarquaient leur betail humain ä
Pagases, le port principal du pays. Le poete comique Hermippos,
enumerant plaisamment dans les ^oQuocpÖQOi les produits
caracteristiques des diverses cites grecques, dit de Pagases qu'elle
avait pour specialite les esclaves de marque,
AI Uayaöal dovXovg xal öny^atCag %aQ8xov6Lv}
Y eut-il beaucoup de öriy^uTCca, encourages par l'exemple
de Pandare, pour aller dormir dans le dortoir d'Epidaure?
J'ai peine ä le croire: les coquins, en general, ne sont pas des
sots, et ne donnent guere dans les billevesees. Si vraiment
Asclepios avait delivre les ex-esclaves de leur note d'infamie,
on lui serait reconnaissant de s'etre penche sur ces fronts
fletris. Mais il n'y avait ä Epidaure que des pretres, bien
incapables d'effacer les tares indelebiles. Les savants, il est
vrai, admettent et expliquent que certains mystiques, de Con-
stitution maladive, ä force de penser aux cinq plaies du Christ,
Boient devenus, dans une certaine mesure, des «stigmatises »^;
mais il est plus difficile de croire que l'imagination ait produit
l'effet inverse, qu'elle ait efface les raarques de quelques ötty^atCcct,
' Ploutos, 521 — 622.
* Citd par Athenee, p. 27 f (Kock, Com. att. fr-, t- 1, P- 243).
".Cf. Alfred Maury, La magie et l'astrologie dans VAntiquite et an
Moyen Age. 3« ^dit., pp. 365—422.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 95
par une reaction energique du physique sur le moral, ä force
de foi dans la puissance et la bonte d'Asclepios!
Pour faire peau neuve, un öriy^uccrCug devait employer
d'autres moyens que Fautosuggestion. Ces moyens variaient
Selon que les stigmates etaient des marques au fer rouge ou
des tatouages. La marque au fer rouge est indelebile. Mais
il etait possible de lui substituer une autre cicatrice, qui, eile,
n'avait rien d'infamant.^ Ou encore, on essayait de la cacher.
Certains la cachaient sous une bandelette.- D'autres laissaient
pousser leurs cheveux et les rabattaient sur le front; et si on
leur demandait pourquoi cette coiflFare singuliere, ils pouTaient
repondre avec le Dionysos des Bacchantes (v. 194):
'IsQog 6 nlöxafiog' rä ^Eä S'avtbv tgscfc),
ils pouvaient pretendre qu'ils avaient fait ä une divinite le voeu
de ne pas couper leur chevelure, pour la lui oflfrir un jour.'
La place du marche, a Athenes, fourmillait de ces inquietants
nazireens, c'est Diphile qui l'assure:
'Sli!ir]v iycj xovg Ix^vojccokag rö ngötSQOv
slvai TCovrjQOvg zovg 'A&rjvTjöLV tiovovg.
T6öe d\ ag soixs, tö yivog aöneg ^rjQiov
ixißovXöv k6xL T^ q>v6£i xai navxajov.
* Lacassagne et Magitot, art. cit., p. 96: »En Russie, les condamnes
au bagne de Siberie qui s'evadaient, tächaient de faire disparaitre les
lettres revelatrices. Des nombreux moyens employes, la plupart con-
sistaient ä substituer ä une cicatrice d^jä si profonde une autre cica-
trice de forme quelconque, que les evades attribuaient toujours ä la gelee«.
* Porphyre, Vie de Pythagore, 14 (p. 24 Nauck*): Jiowaofpävr,? öh
Ib'/si dovXivaca fiir Zaijiio|tr rät IIvd'ayoQoc, i^neeövra d' slg Xr]6täg xai
6Tix9ivta . . . df]6(xi, rö ^fxcoTCOv dtä ru eriyyiMxa.
' Wilcken, Haaropfer, dans la Bevue cöloniale internationaJe, 1884;
Robertson Smith, The Religion ofthe Semites, new edition, p. 325; Frazer,
Pausanias, t. IV, p. 393; Hartland, The Legend of Perseus, t. II, p. 215;
Hepding, Attis, seine Mythen und sein Kult, RGW I, p. 162, notes 4 et 5 ;
Hubert et Mauss, Melanges d'histoire des religions, p. 13. Cf. Theodoret,
Quaest. in Levit, § 28, dans Migne, P. G., LXXX, 337: üätQ-aeiv "EUrtvss
|t^ anoxsiQfiv rmv naiSiav vag xogvcpcig äXla (laki-obg iäi\ xai rovzovg
iura xQÖtOf äiuTid-fvat. rotg 6aiuo6iv.
96 Paul Perdrizet
'Evtavd-a yovv iötiv tig v:tSQ7jxovrLy.(bg,
x6^7]V XQS(pC3V IIBV TCQGiTOV ISQOCV tOV dSOV^
&g tpr]6iv oi) öiä tovto y, aXX aötiyfisvog
Äpö rov (letcojtov TtaQUTCstaöii avtriv «;f£t.^
Pour empecher les öxiy^atlai de recourir ä ce pieux subterfuge,
on s'avisait parfois de les marquer, non sur le front, mais
entre les yeux.^ Certains tächaient de dissimuler quand meme.
Une epigramme de Martial trace la Charge d'un rastaquouere qui
passait sur les trottoirs de Rome, couvert de bijoux, vetu et
chausse par les meilleurs faiseurs; chose singuliere, il avait le
front constelle de mouches:
Et numerosa linunt stellantem splenia frontem.
Ignoras quid sit? Splenia tolle, legest
A l'inverse de la marque au fer rouge, les tatouages
etaient efFa9ables. Les medecins anciens avaient ä cet effet
des moyens^ dont plusieurs, au dire des gens competents ^, ne
different pas sensiblement de ceux qu'on eraploierait aujourd'hui.
Lucien y fait aUusion.^ Martial promet ä un »ereinteur« de le
^ Kock, Com. att. fr., t. II, p. 563; cf. v. Prott, dans Ath. Mitt,
1902, p. 87. Libanios se souvenait peut-etre de ce couplet, quand il
ecrivait, ä propos des envieux, dans son discours Sur l'Esclavage: tbv
rovSs TOV voGTj^axos (sc. (pQ'ovov) ^inti-sav Ttöäg ovx av adiy.oir\v, zl xaXoir}v
iXsvd'SQOv; og Ttävta olxirriv exiy^ccxiav TtaQzXriXvQ'BV ic^'v^iicc. 'O /iev ys
icp8vrog rov ösaTCorov xalg vtcIq rov ^srcuTtov d'Qi^lv iTtixccraß^vai evyycaXv^ag
TOvvsLdog ysXän] av, wg dij ovx ißriy^itvog, rov äh ovdhv av TtoiTjßsis (li] ovxi
tTJueß&ai {6d. Reiske, t. II, p. 68 = ed. Förster, t. II, p. 546): rapproche-
ment indique par Cobet, dans Mnemosyne, t. V, p. 142.
* Lucien, Piscatores, 46: inl rov nsroanov ßriyiiara imßaXixb) i]
iyxavedxo) Ttaga xb iisßdcpQVov.
' Epigr., II, 29. La le9on quis sit est mauvaise.
* Cf. Friedländer, Sittengeschichte^, t. I, p. 394.
* Lacassagne et Magitot, art. l., pp. 145 — 150.
* Traiectus, 24: PAJ. TL xovxo; i%vi] fihv xai 6i]tisia noXXä xmv
iyKav(idxav, ovk olöa Sh oTtag i^aXrjXncxai, fiäXXov Sh ixxexonxai. Ilöag
ravxa, m KvviöKS . . .; KYN. 'Eyca ßot (ppaco) • TtäXai novr^gog di' Scnai-
Sevaiav ysvdfiEvog xal noXXa diu xovxo iintoX/jOag exiyyiaxa insidij xäxioxa
(pi,Xoaoq)Btv ^pla/iTjv, xax' oXiyov ccnocöag xäg xrjXidag ri)g il^v^^g 6cTtsXovad(iTtv
&yu&ä) ys ovxo) Kai äwaiiKarärco xQ'H'^diiEvog xä> (paQfiäxw.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Ecbedore etc. 97
marquer de teile £39011 que l'habile medecin Cinnamos n'y
pourra remedier.^ Ailleurs*, il nomme un autre medecin grec,
Eros, comme expert ä ce genre de eure. Scribonius Largus'
en nomine un troisieme, Tryphon, et donne la formule de
l'emplätre que prescrivait cet habile homme. Aetios^* et Paul
d'Egine ^ nous ont conserve des fonnules analogues: celle qu'avait
inventee le medecin Criton etait specialement reputee. Co-
lumelle preconise au meme eflFet une plante dont il ne dit pas
le nom, saus doute parce qu'il ne pouvait le faire entrer dans
ses hexametres:
Lactis gusium quae condiat herba,
Ddetura quidetn fronti data signa fugarum,
Vimque suam idcirco profitetur nomine Crraw.^
Pline, Galien, Dioscoride, Marcellus recommandent la renon-
cule^, la mandragore*, la fiente de pigeon delayee dans du
■ Epigr., VI, 64, vers 24—26 (avec la note de Friedländer):
Ät si quid nostrae tibi bilis inusserit ardor,
Vivet et haerebit totaque legetur in Urbe,
Stigmata nee vafra delebit Cinnamus arte
* Epigr., X, 56: Tristia servorum Stigmata delet Eros.
' Scribonii Largi conpositiones ed. G. Helmreich, § 231: Quatenus
4xcrium et exulcerantium medicamentorum hdbita est mentio, ponemtis, qua
Stigmata tollantur. Indignis enim multis haec calamitas ex transversa
uccidit, ut dispensatori Sabini CaJvisi naufragio in ergastulo deprehenso,
quem Tryphon tnultis delusum et ne casu qiiidem uUo litteras confusas
häbentem medicamento liberavit; alii candidi spicae capitis tritae cum
eantharidibus viginti Alexandrinis — sunt autem variae et oblongae —
sulphuris vivi p.-^I et victoriati, chdlcitis p.^ IS, cerae pondo triens, ölet
pondo triens; ceram contritis ceteris admiscuit et inposuit.
* Tetrabibh, II, serin. iv, c. 12.
* IV, 7, d'apres les Commentaires d'Archigene. ^ X, 124 — 126.
' Pline, Hist. nat., XXV, 109: ravuncxdum vocamus, quam Graeci
hatrachion. Genera eius quattuor . . . Omnibus vis caustica. Ideo . . .
ittuntur . . . ad tollenda Stigmata. De meme Galien, Oribase (cito par
Paul d'Egine, IV, 7) et Dioscoride, II, 205: dura^tir f;fft lixtoTix^v xal
^Cj^apcoriXT/'r • oO'si' xori eriyyiara i^aigsi.
* Pline, Hist. nat., XXV, 110: Stigmata in fade mandragoras inlitus
delet. Dioscoride, III, 76: 7iciQUTQtß6(isvd rs cpv'/.Xu Tcgöecpara ^avögayoQOv,
i'^'^XV ^^^ W^QccS c' 7) s' 6tiy\LCira avBv xov llxovr a(f)avi^Bi.
Archiv f. Keligionswissenechaft XIV 7
98 Paiil Perdrizet
vinaigre.^ Je laisse aux savants competents le soin de distin-
guer ce qui dans ces divers remedes, releve de la medecine
scientifique, et ce qui ressortit ä la magie.
V
Nous n'avons parle jusqu'ici que des marques de fletrissure,
infligees surtout aux esclaves." L'Antiquite a connu des stig-
mates d'autre sorte, ceux des soldats et ceux des adeptes de
certaines religions: je voudrais traiter, en guise de corollaire,
des uns et des autres.
Vegece (383 — 450) nous apprend que les recrues (tirones)
n'etaient pas tout de suite considerees comme de vrais soldats.
On leur faisait subir au prealable, durant plusieurs mois, des
exercices d'epreuve; apres quoi, quand les tirones avaient ete
reconnus aptes au Service, on les inscrivait sur le matricule de leur
Corps. Cette inscription comportait quelque ceremonie, comme
encore de nos jours le serment des recrues dans les armees
monarchiques: les nouveaux milites pretaient serment ä l'era-
pereur, et recevaient la marque militaire.^
Les militaires proprement dits ne furent pas seuls, durant
le Bas Empire, ä recevoir cette marque. Les empereurs l'im-
poserent ä deux corporations que leurs fonctions avaient fait
assimiler ä des corps de troupe: les fabricenses des diverses
fabricae de l'Empire, et ä la fin du V** siecle les fontainiers de
Constantinople.
' Pline, Hist.nat., XXX, 4, p. 131 Mayhoff': Stigmata delentur colum-
bino fimo ex aceto. Marcellus de Bordeaux, De medicamentis, eh. XIX,
§ 25, p. 183 Helmreicb.
* Vögece, I, 8: Non statim punctis signorum scribendus est tiro
dilectus, verum ante exercitio pertemptandus , ut, utrum vere tanto operi
aptus sit, possit agnosci ... II, 6: JHligenter lectis iunioribus anitnis
corporibusque praestantibus , additiv etiam exercitiis cotidianis quatuor
vel eo amplius niensuum, . . . legio formatur. Nam victiiris fpicturis n
in cute punctis milites scripti, cum mxitriculis inseruntur, iurare solent
et ideo militiae sacramenta dicuntur.
ri
I
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 99
Les fabricenses^, ouvriers des manufactures d'armes que
l'Etat entretenait dans toute l'etendue de l'Empire, etaient,
comme devraient l'etre les ouvriers de nos arsenaux et manu-
factures militaires, assimiles aux soldats. Leur Service s'appelait
militia. Gertains privileges, tels. que l'excuse des charges muni-
cipales et la dispense de donner le logement, leur assuraient
une conditio!! assez avantageuse pour que les curiales tä-
chassent parfois de se faire indüment recevoir dans les fabricae.
Ces Privileges avaient leur revers: interdiction de travailler
pour les particuliers, de quitter la manufacture; pour plus de
Bürete, Tempereur faisait marquer au bras les fahicenses}
Furent encore assimiles aux soldats les vdgo^pvXaxes, ä
qui etait confie le Service des eaux de Constantinople. L'impor-
tance de ce Service n'etait pas moindre dans la Nouvelle Ronie
que dans TAncienne; encore aujourd'hui, dans l'une et dans
l'autre, eile est attestee par des monuments imposants. La
Constitution de Zenon (474 — 491) concernant les vÖQOfpvXuxss
j de Constantinople compare leur Service au service militaire: c'est
I une garde oü l'on ne peut pas plus tolerer de negligence ou de
desertion que dans celle du rempaii ou du camp.* Ainsi se
justifie la marque militaire ä laquelle sont soumis les vÖQOipvJiUiiB^.
' Je suis le lumineux expose de Jnllian, art. FABRICA du Dict.
des antiquites.
* 4 Cod. Theod., X, 22 (De fabricenaibus) : Itnperatores Areadius et
Honorius Augusti Hosio magistro officiorum. Stigmata, hoc est nota
publica, fabricensium brachiis ad itnitationt^m tirorium infligatur, ut hoc
modo saltem possint latitantes agnosci: his, qui eos susceperint vel eonim
lihero^, sine dubio fabricae vindicandis , et qui svhreptione qtuulam
deelinandi operis ad publicae cuiuslibet sacramenta militiae transierunt.
Dat. XVIII Kai. ian. Constantinopoli Honorio Augusto IV et Eutychiano
consulibus ( a. d. 398).
' 10 Cod. last., XI, 43: Imp. Zeno A(ugiistusj Spontio . . . Universos
aquarios vel aquarium custodes, quod hydrophylacas nominant, qui omnium
(aeductuum huius regiae urbis custodiae deputati sunt, singulis manibus
'im felici nomine nostrae pietatis imprisso signari decernimus, ut huius-
di adnotatione manifesti sint omnibus nee a procuratoribus domorum
quolibet alio ad xtsus alios avellantur vel angariarum vel operarutn
7*
100 Paul Perdrizet
VI
Les Peres de l'Eglise, tant grecs que latins, fönt frequemment
allusion ä la marque militaire.^ Cela vient de ce qu'ils com-
parent sans cesse leur secte ä une armee, leurs eglises ä des
forteresses, leurs couvents ä des camps, les fideles ä des soldats,
les apostats ä de^ deserteurs, etc., au point qu'on a pu ecrire
tout un livre sur cette comparaison.^ Elle apparait dejä dans
les plus anciens documents chretiens, les epitres de Paul.
Et Paul ne l'a pas inventee, car avant lui les Stoiciens et les
nomine teneantur. Quod si quem ex isdem aquariis mori contigerit, eum
nihilo minus qui in locum defuncti subrogatur signo eodem notari praeci-
pimus, ut militiae quodammodo sociati excubiis aquae custodiendae in-
cessanter inhaereant nee muneribus dliis occupentur.
' Cyprien, Ad Donalum, p. 6 Baluze: tu tantum, quem iam spiri-
talibus castris caelestis militia signavit, tene incQrruptam, tene sobriam
religiosis virtutibus disciplinam. (La date de l'epitre ä Donat ne pent
etre fixee avec pröcision: cf. Schanz, Rom. Litt, t. III*, p. 386). —
Ambroise, De obitu Valentiniani iunioris consolatio (ecrite en 392), eh. 58:
charactere domini inscribuntur et servuli, et nomine imperatoris signantur
milites (Migne, P. L., XVI, 1377). — Jean Chrysostome (f 407), 3« sermon
sur la II« Epitre aux Corinthiens, sub fin. : Ka&ccTCSQ etQccrimraig cqppayis,
ovTco KatcidriXog yivf] näeiv (Migne, P. G., LXI, 418). Anrieh (Mysterien-
■wesen, p. 124) cite la traduction latine de ce texte, d'aprfes Marini {Bull,
di arch. crist., 1869, p. 24) : ni Tun ni l'autre n'en avait donne la
refdrence. — Jörome (f 420), Ad Esamm: scribet in manu sua DEI SVM,
ut novo tirocinio servitutis Christi se militem glorietur (Migne, P. L.,
XXIV, 435). — Adtios (VI« s.: cf. Wellmann, dans Pauly-Wissowa, I, 708),
Tetrabibl. II, 4, eh. 12 : erlynaxa Kalovöi rcc inl rov TtQoßwTtov t) ciXXov
rivbg (iBQOvg rov Gmfiarog i7CiyQCC(p6[i,Bva, olä iexi x&v 6tQaTevo(isvav iv raig
XSQßr- ce texte a 6t6 souvent attribue ä Elien, par nne confusion qui,
comme l'a notö Ebbesen (op. l., p. 20), semble imputable ä GrotiuB
(Opera theologica, t. II, p. 1206).
* Harnack, Militia Christi (Berlin, 1905). Le sujet avait 6t6
•esquiss^ faiblement par Koffmane, Entstehung und EntwicJcelung des
Kirchenlateins bis auf Augustinus- Hi er onymus (Berlin, 1879), p. »9—61.
Voir encore Cumont, Les religions orientales dans le paganisme romain
(Paris, 1907), p. XIV. Quand Sulpice Sävfere dit de Martin, candidatm
inter scholares, qu'il ötait »candidat au baptßme«, agebat baptismi
candidatum {Vita Martini, II, § 8), il joue probablement, comme l'a r^
JuUian {Bev.et.anc, 1910, p. 269), sur l'expresBion militaire de candidatum
La miraculetise histoire de Pandare et d'Ech^dore etc. 101
Cyniques' comparaient leur secte ä une armee, leurs chefs
d'ecole ä des generaux.
Comme les soldats de rempereur, les chretiens, qui sont les
soldats du Christ, sont marques d'un stigmate, mais d'un
stigmate spirituel et invisible. Ou encore, ils sont marques
comme les brebis d'un troupeau, parce qu'ils sont les ouailles
du Christ.' Cette marque mystique, que le Christ comme chef
de l'armee chretienne imposait ä ses soldats, et comme pasteur
a ses brebis, etait le signe de la confirmation. Dans les
Premiers siecles de l'Eglise, la confirmation suivait immediate-
ment le bapteme.^ Celui-ci etait une sorte de contrat, la con-
firmation en etait Vobsignntio: l'eveque la donnait, en qualite
de representant de la communaute; on la designait par les
Bubstantifs 6g)QayCs*, Signum, signactdum, et par les verbes
6ifQaylt,SLv, sigtiare, consignareJ' Avec l'huile sainte, xQiö^a,
l'eveque tra9ait, de la main droite, une croix sur le front
du fidele.^ Ce rite s'explique par des raisons scripturairee,
dont nous devons ici dire quelques mots.'
* Lucien, Fugitici,^: ^lAOZO^IA. Elei Ttvfs, w Ztr. iv iiiruixfiia)
x&v T£ noi.}.(bv xat zöbv q:iko60(fOvvT(ov . . . a|ioröt vtc iuot TcrrföO'af
%al Tovvo^u rö TjyifTSQOi' iniyQcc(povTai. — 16: rar dio-/fvr,v xal 'AiTied'ivriv
%al Kgarr^Tu ^7CiyQa(po(i4vo}v xal v-xb tm xvvl ravxoiJisvav.
* üne inscription, qui n'est connue que par la Sylloge Virdunensis
et qui, d'apres De Rossi, devait orner, dans la basilique de Saint Pierre
au Vatican, le baptistere eleve par le pape Damase, commengait ainsi (De
Rossi, Inscr. christiana* JJrhis Bomae VIl-^ saeculo ayüiquiores, II, 1, p. 138):
Istic insontes caelesti ftumine Iotas \ Pastoris sitmvii dextera signat oves.
* Cf. l'article Confirmation dans V Encyclopedie des sciences religieuses
de Lichtenberger; De Rossi, dans Bull, di arch. crist., 1869, pp. 28 — 31;
Anrieh, Das antike Myterienwesen in seinem Einfluß auf das Christen-
tum (Göttingen, 1894), p. 123.
* Par ex. rrjr dsOTcoTixTjv cqiQuylda dans Theodoret, Hist. eccl., IV,
18, p. 339 Gaisford, avec la note de Valois.
' Voir les exemples reunis par Baluze dans son edition de Cyprien
(Paris, 1726), p. 464, et par Koffmane. op. l, p. 83.
^ Prudence, Psychomachie, 360—61.
' Cf Locard, Le tatouage chez les Hebreux, dans les Ärchives
d'anthropologip criminelle, 1909, p. 56 sq.
102 Paul Perdrizet
Entre autres visions dont fut favorise Ezechiel, on se
rappelle celle-ci: le prophete vit sept anges sortant du Temple;
six portaient des massues; le septieme portait, comme les scribes,
l'ecritoire ä la ceinture; ä celui-ci l'Eternel dit: »Passe ä travers
Jerusalem, et trace une marque sur le front de ceux qui
deplorent les abominations qui s'y coramettent.«^ Or marque
en hebreu se dit tav, ce qui est aussi le nom de la derniere
lettre de l'alphabet hebrai'que, lettre dont la forme, sur les
monuments les plus anciens, est pareille au tau grec ou encore
ä la potence dont on se servait pour crucifier, T. De lä vient
la traduction traditionelle: »Trace un tau, T, c'est ä dire trace
une croix sur le front des justes^^, traduction tendancieuse, qui
transforme ce verset en une prophetie de la Crucifixion.
C'est encore le signe de la croix, T, que la tradition a reconnu
dans la ßfpQayig &sov t,&vtog dont l'ange avait marque les
144000 esclaves deDieu quientourent l'Agneau de l'Apocalypse.^
C'est lui encore que la tradition chretienne retrouve dans le
texte de VExode concernant l'institution de la Päque: »Vous
prendrez du sang de l'agneau, et vous en mettrez sur les mon-
tants et sur le linteau des maisons oü vous serez . . . et ce
sang sera un signe, tau, en votre faveur: quand Je verrai ce
sang. Je passerai outre, et le fleau destructeur ne vous atteindra
pas quand J'en frapperai l'Egypte.«^
De la combinaison de ces deux textes d'Ezechiel et de
VExode devait sortir, au Moyen Age, un double theme sym-
bolique, dont les deux parties se repondent comnie les deux
* Ez^chiel, IX, 4: SitlQ'e fisßiiv 'l8Q0v6<xXi]^i. xal öog 67)(ieiov tn} tc.
(liroiTCa x&v ccvögäv t&v ■naTaGXivaiövTOiv. Cf. Reuss, Jja Bible: /.'.''
Prophetes, p. 31.
* Äpoc. Joan.y VII, 2: xai i'dov aXXov ciyyBXov . . . i';uo»'ra acpQuytda
&soi} ^mvTog ... 3: aq}Qayi6o}(isv rohg SovXovg toI» Qtov ijii&v M rmv
listmifwv «vrcov.
" Exode, XII, 7 : Yul Xi'milfovrcd äno tov ainaro*;. xcct d'i'jßoveiv fnt
xibv dvo CTud'iiwv Kul M rriv cpXiccv ... 13: xo:> fffra« ro aJiia vfitr H'
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Ech^dore etc. 103
volets d'un triptyque: le Crucifiement de Jesus, cloue ä une
croix en forme de T, s'encadrait enb-e ces deux prefigures, les
Israelites marquant du T leurs maisons, et Tange marquant du
T les justes de Jerusalem.
De ces deux textes encore etaient, des les premiers siecles
du Christianisme, sortis deux rites, celui de la confirmation,
dont nous venons de parier, et celui de marquer avec des croix les
maisons, aux montants et aux linteaux des portes et des fenetres,
tant les maisons des morts que les demeures des vivants et
que les eglises. C'est l'habitude, chez les Orthodoxes, que le
jour de Päques, le papas vienne tracer, avec un cierge allume,
une croix enfumee sous le linteau des maisons. Dans oette
coutume persiste un rite qui remonte aux plus anciens temps
du Christianisme: qu'on se rappeile les croix dont sont accom-
pagnees, en Asie Mineure, en Egypte, en Syrie, les inscriptions
chretiennes. Dans ces textes epigraphiques, qui suent, si j'ose
dire, la superstition et la peur, oü Ton devine la place que
tenait alors dans la pensee des hommes la crainte du Demon,
de la magie et du mauvais oeil, ce n'est pas l'inscription meme,
c'est la croix dont eile est precedee ou accompagnee, qui est
l'essentiel: on s'en rend compte souvent ä lire l'inscription
eile -meme: rov ötavgov Jiagövxog ix&Qog ov xariGxvöt^ — rov
olxov rovxov Kvgiog diatpvXätsi Trjv siöodov xai tiJv eHodov,
rov etavQOv yäg 7tQOxsi[isvov ovx löxvßSL öff&ulßbs ßdöxavog^
— t6 öti^lbIov tovto vixä^ — iv rovra oi niGxol vixov6iv\
etc. Souvent la croix n'est accompagnee d'aucun texte: ä eile
seule, eile suffit pour ecarter le Malin.
* Fublicatians of an American Archaeological Expedition to Syria
in 1889—1900. — Part III: Greek and Latin Inscriptions, by W. K'.
Prentice, n»« 91, 320, 328, S31.
- Prentice, p. 20. La fonnule initiale est empruntee ä Fs. CXXI, 8;
cf. Waddington, Inscriptions de Syrie, nos 2646, 2662 a.
= Prentice, n»» 201, 210, 219, 237, 255.
* Cousinery, Voyage dans la Macedoine (Paris, 1831), t. I, p. 124.
104 Paul Perdrizet
II convient, je crois, d'insister sur la connexite des deux
rites, celui de tracer la croix au front des neophytes, et celui de
la tracer au linteau, autant dire au front des eglises et des maisons
chretiennes. Les docteurs Lacassagne et Magitot ont dit avec
beaucoup de justesse que »les grafßi sont les tatouages des
murailles«: le mot est vrai d'autres graffiti encore et d'autres
tatouages que de ceux dont les deux savants maitres en me-
decine legale entendaient parier.
Les fideles, dans les religions orientales, desiraient devenir,
comme dit VÄpocalypse (VII, 3) »esclaves de Dieu«, dovXovg
Tov @sov : ils se faisaient donc graver sur la peau une marque,
par analogie avec la marque servile; et ils trouvaient bon aussi
de la graver sur leurs maisons et sur leurs tombeaux. Ainsi,
le stigmate religieux s'est detache, si l'ou peut dire, du corps hu-
main pour devenir une sorte de caractere epigrapbique. La feuille
de lierre qui tatouait le Dionysiaste du sexe fort, marque aussi la
stele du Dionysiaste defunt, comme le montre la stele d'Ery-
threes, recemment publiee par Wilamowitz ; ^ et continuant ses
avatars, eile finit par devenir un signe prophylactique, qui termine
ou ponctue les inscriptions. De meme pour la croix qui, ä force
de figurer dans les inscriptions prophylactiques, devint ä la
longue un simple signe d'ecriture, servant ä marquer le com-
mencement et la fin d'un texte, parfois ä en separer les mots.
Les anciens Rabbins croyaient pour la plupart^ que le
signe mysterieux mis sur Qaün par Jahve^ etait une marque
* Nordionische Steine, p. 13 — 15, dans les Abhandlungen de TAca-
d^mJe de Berlin, 1909.
* Cf. Ebbesen, op. l., p. 7: Rabbini Cainum stigmate notatum fuisse
plerique affirmant, et quamvis, qua in re constiterit, dissentiant inter se
ac digladientur , in eo tarnen fere ipsis convenit, quod hoc Signum instar
Stigmatis Caino sit a Deo ipso impositum.
' Genese, IV, 16: xai fO-sro Kvqiog 6 Qbos crutitov tmKäiv toü (lii
&VBks[v wbrov Ttävta tu eigißxovTu uvröv. Reuss (La Bible: VHistoire
Sainte et la Loi, t. I, p. 304) rejette cette Interpretation: »Nous ne
eaurions dire, dcrit-il, a quoi l'auteur a songä en parlant d'un signe; en
tout cas, ce n'^tait pas, comme le veut Tex^gese traditionnelle et populaire,
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 105
du genre de Celles dont nous parlons. Quoiqu'il en soit de
ce passage obscur de la Genese, il est sür que les Juifs pra-
tiquerent d'abord, comme toutes les autres tribus semitiques
leurs voisines, le rite de la Stigmatisation. On en a la preuve
peut-etre dansun passage du XI 11^ chapitre de Zacharie ^, chapitre
qui remonte, croit-on, au VIP siecle, en tout cas dans le Pseudo-
Isaie*, qu'on date generalement de la fin de l'exil en Babylonie:
un temps viendra, predit le Voyant, oh TEtemel fera gräce a
son peuple, oü les Israelites porteront, grave sur la main,
le nom de Jahve: ovtos IqsI'xov 0£Ov slfii, xai ovrog ßorjösrai
inl rq) ovoiiaxt, 'la/.aß, Tcal stsqos £:iiyQdip£L x^^Q'' «vrov tov
060V elfii. Mais cette fa^on materielle de concevoir le Service
de Dieu devait repugner assez vite aux Israelites d'esprit eleve.
Ainsi s'explique, assez peu de temps apres le Pseudo-Isa'ie,
l'interdiction formellement exprimee par le Levitiqiie, XIX, 28:
ygä^Hara 6xixxa. ov ycoirfösxs iv v^ilv!^ En sorte que la Bible
contient, touchant la Stigmatisation, deux textes contradictoires,
Fun qui la preconise, l'autre qui la defend. De lä vient
que parrai les Eglises d'Orient, les unes ont rejete ce tres
rieux rite de consecration, et les autres Tont garde:
l'aversion des Grecs Orthodoxes pour le tatouage* provient en
une marque au front de Qain, car cette marque l'aurait fait aussitöt
reconnaitre.o Et il traduit: >L"Eternel etablit un signe en faveur de
Qain, pour qu'il ne füt pas expose ä etre tue par le premier venu.«
' Zacharie, XIII, 6.
* Ps. -Isaie, XLIV, 5. Plusieurs MSS omettent xbiqX avror (voir
l'apparat critique de Swete). Reuss {Les Prophetes, t. II, p. 224) e'crit:
»La phrase xal irsgog iTtiyqdipii xbiqI avrov tov Geov sl(ii fait allusion ä la
coutume ancienne de tatouer le nom de leur maitre: cf. Ep. aux Galates,
VI, I7<'f. Reuss a raison, de maintenir contre les hesitations de Gesenius
{Commentar über Jesaia, Leipzig, 1821, t. II, p. 79), qu'il s'agit d'un
tatouage. Mais il se trompe en rapprochant ce texte de ceux qui con-
cernent le stigmate servile et en comptant parmi ceux-ci le passage de
\'Ep. a%ix Galates.
' Cf. Spencer, De legibus Hebraeorum ritualibus, II, 14.
* Lacassagne et Magitot, art. l, p. 96, la signalent chez les Russes,
sans l'expliquer. En Greoe, les gens tatoues sont fort rares.
106 Paul Perdrizet
fin de compte du Levitique, tandis que le Pseudo-Isaie justifie,
pour les Syriens Catholiques, pour les Jacobites, les Nestoriens
et les Coptes, les tatouages religieux dont ils se marquent le
poignet. Le vieil Orient est impuissant ä se delivrer de ses
superstitions millenaires. Bien des Juifs memes ne devaient
obeir qu'ä regret ä la defense du Levitique, tant etait
grande la coutagion de l'exemple et puissantes les habitudes
hereditaires. C'est pour faire peur ä ces hesitants que fut
inventee, je suppose, Vhaggada du roi Joachim. La Bible
disait de lui, tres brievement, qu'il avait fait ce qui est mal
aux yeux de l'Eternel, et que pour cette cause, l'Eternel per-
mit au roi Nabuchodonosor de l'emmener en captivite a
Babylone. ^ Mais, sur les fautes de Joachim, les Rabbins
en savaient plus long que la Bible: ils racontaient qu'en-
tre autres crimes contre Dieu, Joachim avait commis celui
de se faire marquer sur le corps le stigmate du faux dieu
Todonazer, ce qui fut constate apres sa mort, sur son
cadavre: et voilä pourquoi l'Eternel avait livre Joachim ä
Nabuchodonosor. Cette hagyada est l'une de Celles que les doc-
teurs catholiques du Moyen Age ont empruntees aux Rabbins^;
ils l'avaient apprise, ce semble, du Juif converti, Hehraeus in legis
scientia ßorens (comme l'appelle Raban Maur), qui au VHP siecle
ecrivit les Quaestiones hehraicae in libros Paralipomenon.^
' II Chron., eh. 36.
* Sur les legendes d'origine haggadique daus le catholicisme
m(idieval,cf. monEtude sur le Speculum hunianae sahationis Paris,1908,ch.V.
" Sur l'auteur des Quaestiones hehraicae, cf. S. Berger, Quam noti-
tiam Unguae hehraicae hahuerint Christiani Medii Aevi ieniparihus in
Gallia (these Paris, 1893) et mon Eütde sur le S. H. S., p. 79. Voici
le passiige des Quaestiones oü est racontee Vhaggada de .loachiro : Inter
cetera mala quae gessit, etiam hoc fecit in corpore suo, quod Dominus
prohihuit, dum diceret: Ne stigma facietis in coi*poribu8 vestris, qtine
postquam mortuus est, in corpore eitis inventa sunt. Huc spectat quod
Hehraei rcferunt, stigmata scilicet in occisi loachimi corpore repcrta,
quihus religionis desertae iestimonium inerat, nomen daemonis stii Codo-
nazer expressissc (Qu. hehr, in lih. II Paralip. XXXVI, 8, dans Migne,
La miracnleuse histoLre de Pandare et d'Echedore etc. 107
Dans la vision de Jean, les 144000 dovXoi rov &eov qui
entouraient l'Agneau sur la montagne de Sion portaient le
nom de l'Agneau et celui de son Pere inscrits sur leurs fronts';
et la Bete sortie de la terre avait oblige tous les hommes,
libres ou esclaves, ä s'imprimer une marque au front ou ä la
main droite.^ Cette marque etait soit le nom de la Bete, soit
le nombre (ccQL&^uog, i(t^(pog) de ce nom: et ce nombre etait 666,
la tl^ficpog du nom de Neron, Plusieurs heresies chretiennes
conserverent le rite du stigmate religieui: preuve, entre bien
d'autres, que les heresies comportaient une forte part de sur-
vivances. Des t^xtes sur lesquels nous reviendrons plus loin
attestent l'existence de niarques de consecration chez les
Carpocratiens. Un moine manicheen d'Afrique, ä la fin du
V" siecle, aurait porte sur la cuisse une inscription ainsi con-
^ue: MANICHAEVS DISCIPVLVS CHRISTI lESV.» De ce
curieux temoignage, on rapprochera la description que l'Apo-
calypse fait du Christ vainqueur de la Bete: >Sur son manteau
et sur sa cuisse etait inscrit son nom, Roi des rois et Seigneur
des seigneurs .* On en rapprochera encore, sinon, comme le
voulait Montfaucon\ les statues.ou statuettes antiques, grecques
P. i., XXUI, 1402). D'oü Pierre le Mangeur, Eist, schal, L IV Regum,
c XXXIX, dans Migne, P. L, CXCVIII. 1421: Stigmata sttnt inventa in
corpore occisi contra legem, id est nomen idoli, quod colebat, Codonazer.
* Apoc. Joan., XIV, 1 : xai idov, xa/ Höh rö ügviov ierög ^nri rö oqo^
Himv, xai ^£r' avTOV Ixarör rseeagcixorTa reeeagsg ;{iitadf j l/ouöat rö ovofia
avTOv xcil to livo^a rov Ttargög airrov ye'/Qaftusvov irtl rätv usTmTtoiv avrmr.
* Id., XIII, 11: xal bIöov u'/lXo 9}]Qiov ccvaßaivov ix t^c y^S ••• 16:
xai Tcoisl nävrcic . . . Tovg ikBvd'foovs xat roiv doi-Äot'?, tva ämaiv avTot^
j^ägayficc inl Ti]i ;j^fipös avT&v r/jc df^iäg t) ^:ri rö uf'rojrror avT&v.
' Victor Vitensis, De persecutione Vandalica, debut du 1. II (Migne,
P. L., LVin, 201): De Manichaeis repertus est unus, nomine Clementianus,
monachuft illorum, scriptum habens iu femore etc. Dans quelques MSS,
les pieux copistes ont fait a ce Clementianus la gracieusete de l'appeler
Dementianus.
* Apoc. Joan., XIX, 16: xal i^^i tTcl rö tjiärtov xcci l:ri rör ii7,q6v
^xi'rov ovo(uc ysygafnuvov Ba6ii.bvg ßaöiXiav xal KvQiog xvgiav.
'" L' Antiquiti expliquee, t. III, 2e partie, p. 268.
108 Paul Perdrizet
et etrusques, qui portent des inscriptions votives sur la cuisse^
mais des pierres gravees comme le camee du Cabinet de
Vienne^, qui represente un dieu debout, tenant le foudre, et
portant sur les cuisses des 'EcpEßia yga^^ara. L'inscription
d'une dedicace sur la cuisse d'une statue ou d'une Statuette
temoigne simplement de la mefiance du donateur; quand la
dedicace etait gravee sur la base, il etait possible, eu changeant
la base, de cbanger l'inscription et d'attribuer ä quelque ecor-
nifleur le merite de l'ex-voto. Mais, dans le cas du camee de
Vienne, le litboglyphe eüt aussi bien pu graver dans le cbamp
ses lettres ephesiennes ; s'il les a mises sur les cuisses de la
figure, c'est, je crois, que le rite des marques ä la cuisse etait
pratique dans la secte ä laquelle appartenaient l'auteur et le
proprietaire de ce talisman.
La marque ä la cuisse parait d'ailleurs avoir ete plutöt
rare. De meme pour la marque ä la nuque, qui caracterisait, au
dire de Lucien^, les devots d'Atargatis ä Bambyce-Hierapolis
(faute de porter reellement le joug de leur deesse, ils y sup-
pleaient en se faisant graver ä la nuque la marque qui les
consacrait ä Atargatis). En general, le stigmate sacre se portait
a la main droite. Car, malgre toute leur piete, les devots
devaient avoir de la repugnance pour la marque au front,
parce que c'etait au front que les esclaves portaient le stig-
mate de fletrissure. On preferait, je suppose, la marque ä la
' Statuette du Vlle s., en bronze, avec inscription en dialecte beotien
{Monuments Piot, t. II, pl. XV) ; statues archaiques en marbre, du Ptoion
{BCH, 1887, pl. XIV, p. 287) et de Samos {Ath. Mut., 1900, p. 190,
pl. XII); bronze du musde de Leyde avec inscription etrusque (Martha,
L'art etrusque, fig. 343); bronze de Virunum (R. v. Schneider, Die Erz-
statue vom Helenenberge, dans le Jahrbuch der kunsthist. Sammlungen
des Kaiserhauses, Vienne, 1893, p. 20 sq.); Apollon mentionnä par Ciceron,
De Signis, § 93: signum Apollinis . . . cuius in femore litteris minutis
argenteis nomen Myronis erat inscriptum\ A.Abt Die Apologie des Äpuleius,
RGW IV, 284.
* Babelon, La gravure en pierres fines, fig. 137.
' De dea Syria, 59 : ert^ovxai äk TtccvTtg, oi (ikv ig xuQjiovg, ol äk
ig wbx^vag.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 109
main, ou plus exactement au poignet: örC^ovraL ds xdvrsg, ol
(ihv es xaQXovg, dit Lucien des Syriens de Bambyce. Un
papyrus du IP siecle avant notre ere, qui donne le signalement
d'un esclave fugitif a övona "Eq^kov ög xal NsiXog xaXelrat,
to yevos IJvQog äno Bafißv/.rjgf dit qu'il etait iöxiyyiivog xbv
dBi,i6v xagnov ypa/i/iaffi ßagßaQixoig} C'est au poignet droit
que les Coptes d'aujourd'hui sont tatoues. Ceux qui ont visite
les eglises coptes du Vieux Caire ont eu ä se debattre contre
des nuees d'enfants, des petites filles surtout, qui fondent sur
le touriste, en lui montrant leur poignet droit, oü est tatouee
une croix, et en lui criant: »Nosranü* Bakchich!« Chez les
Coptes, le rite de la Stigmatisation du poignet droit derive
apparemment du Pseudo-Isaie, XLIV, 5: exr/gd^si x*^P^ avxov'
rov &SOV elfii.
Pour nous, modernes, Fusage de la marque militaire est
dabord un grand sujet d'etonnement, tant l'idee de la marque
est associee aujourd'hui ä l'idee de fletrissure. Cette association
explique l'erreur oü sont tombes beaucoup des erudits qui ont
parle de la marque militaire. Juste Lipse, il y a quelque
trois Cents ans, ecrivait, dans son fameux ouvrage sur Tarmee
romaine: Siib Principibus etiam ergastula inirudere ceperunt.
Et quid mirer? ipsi eos Jiabuere quam servos. Ecce enim tirones
jam capios compungehant , et in oute signabant . . . Vera haec
Stigmata fuere.^ Dans son Histoire de Vesdavage, Wallon ecrit:
>Les soldats du Bas-Empire sont la propriete de l'Etat. Pour
* Letronne, Fragmente inidits de poetes grecs, suivis de deux papyrus
grecs du Musee Boyal, ä la suite de l'Aristophane de la collection Didot,
p. 14, »celebre e sempre fresco commento«, comme dit Ltunbroso (Archiv
für Papyrusforschung, t. IV, p. 63).
* »[Je suis de la reUgion] du Nazareen«.
' De militia romana, 1. I, dial. 9, p. 59 de Te'dition d'Anvers, 1596.
Cf. Lange, Historia mutationutn rei militaris Romanorttm (Göttingen,
1846), p. 97 : Multa sunt qiiae testentur, postremis Imperatorum temporibus
Bomanos ab antiquo animo militari quam maxime degenerasse. Huc refero,
quod dilecti instar servorum stigmatum notis inurebantur, ne aiifugientes
delitescerent.
110 Paul Perdrizet
les gaider, on les marquera comme des troupeaux, comme des
esclaves . . . Les aigles romaines qui, pendant si longtemps,
avaient guide les legions ä la conquete du monde, semblent
n'etre plus lä que pour veiller sur des troupeaux de captifs.<<^^
Cette citation doune le ton d'un ouvrage qui releve plutot de
l'apologetique que de l'histoire.^ Turpin de Crisse avait depuis
longtemps explique la marque militaire d'une fa9on plus
juste.^ Le fait qu'on ne rimprimät aux conscrits qu'apres
une attente de plusieurs mois, quand ils passaient de la
condition expectative de Uro au grade de miles, prouve
que la marque militaire n'etait pas une fletrissure, mais au
contraire un honneur. Pour qu'il n'y eüt pas de confusion
avec le stigmate servile, la marque militaire etait imprimee,
non au front, mais ä la main. Si l'on en croyait Wallon, eile
aurait ete instituee uniquement pour perraettre de reconnaitre
les deserteurs. On ne niera point que teile ait fini par etre
la principale utilite de cet usage deconcertant. La marque
permettait de reconnaitre notamment, dans les couvents, les
mauvais soldats qui avaient prefere la securite et l'oisivete de
la vie cenobitique aux dangers de la guerre et aux fatigues
des camps. De temps ä autre, les empereurs faisaient proceder
ä des enquetes dans les couvents, pour eu extraire les deser-
teurs. Naturellement, les eveques protestaient. On a une
lettre de Gregoire P"", pape, a l'empereur Maurice (582—602)
sur la loi qui defendait aux soldats de se faire moine: in lege
suhiunctum est, nt nulli qui in manu signatus est, converti liceat}
' Hist. de i'esclavage dans Vantiquite*, t. III, p. 150.
' G. Perrot dit tres bien, dans sa Notice historique sur Walhn
(C. E. de l'Acad. des Inscr., 1905), p. 689: »Le Richard II est peut-etre,
parmi tous les oiivrages de Fauteur, le Beul oü ne se trabisse pas une
autre preoccupation que celle de la verite bistorique.«
" Commentaire sur les Institutions militaires de Vegece (Montarg-is,
1779), t. I, p. 110.
* Gregorii epist. 1. III, 61 (t. I, p. 221 de l'^d. Ewald et Hartmauu,
dans les Monumentu (Jennaniae; Migne, F. L., LXXVIl, 663).
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 1 1 1
Cette loi venait d'etre renouvelee par Maurice; a en croire
les pieuses gens, c'etait Julien qui l'avait promulguee.^ Gregoire
Bupplie respectueusement l'empereur d'abroger cette Constitution,
ou tout au moins de l'adoucir; d'ailleurs, il ne se permet pas
d'elever de protestation, car »dans ce temps-lä, ce n'etait pas
l'eveque de Rome, mais l'empereur et le concile oecumenique
qui legiferaient en matiere ecclesiastique«.'
Gardons -nous de prendre, comme l'a fait Wallon, l'effet
pour la cause. Le stigmate militaire, ä l'origine, etait tout
autre chose que la marque des esclaves ou des betes. S'il eüt
ete ce que croit Wallon, on ne comprendrait pas que les
soldats du Bas Empire, si peu dociles, se le fussent laisser
imposer. L'explication juste est ailleurs. Outre le stigmate
servile, l'antiquite a connu le stigmate religieux. Dejä Bongars',
en 1772, observait que c'etait un usage religieux chez les
Anciens de s'imprimer sur la peau le signe de la divinite ä
laquelle on se consacrait. Et Juste Lipse avait pressenti la
Solution vraie, quand il ecrivait: potuit exemplo quodam pravae
religionis primo hoc indmi, itt talis quasi consecratus müitiae
ostetulerdur.*
Pravae religionis est un mot imprudent. Car, somme toute,
la tonsure des pretres romains procede du meme principe que
le stigmate religieux: c'est, comme celui-ci, un signe physique,
corporel et visible, de consecration. De meme, teile fayon
de se couper les cheveux, que pratiquaient les Solymes^ et les
' LL, III, 64 (t. I, p. 225 des M. G.): praecepit Mauritius, ut nullus
tjftii actionem publicatn egit, nullus qui optio vel manu signatus vel inter
milites fuit habitus, ei in monasterio converti liceat, nisi forte si militia
eins fuerit expleta. Quam legem primum, sicuti diaint qui leges veteres
noverunt, Julianus protulit, de quo scimus omnes, quantum Deo adversus fuit!
* Hinschius, Das Kirchenrecht, t. lU, p. 685, auquel se referent,
pour ce passage, les ^ditenrs des Lettres de Gregoire dans les Monumenta.
* Institutions de Vegece, avec des Eeflexions militaires (Paris, 1772),
P- 138. * De viilitia Romana, p. 60 de Ted. d'Anvers
'" ChoeriloB, fr. 4 Kinkel.
112 Paiil Perdrizet
Arabes^; de meme encore, chez les Egyptiens^, les Juifs et les
Musulmans, la circoncision. La christianisme d'ailleurs, en cer-
tains pays et dans certaines classes de la societe, n'a jamais
renonce tout ä fait au stigmate religieux. Je n'entends point
parier seulement des sectes attardees du christianisme oriental,
Coptes, Abyssins, Jacobites.^ J'ai en vue aussi le catholicisme
romain. Le Dominicain allemand Henricus Suso, qui vivait au
debut du XIV® siecle, s'etait grave avec un poin9on de fer le nom
de Jesus sur la peau, ä l'endroit du coeur."* On dira que Suso
etait un mystique malade. Mais en Italie, encore aujourd'hui,
fleurit le tatouage religieux: dans les sanctuaires oü l'on va en
pelerinage, ä Lorette notaniment, existent des professionnels, qui
executent sur la peau des pelerins des tatouages religieux, comme
Souvenir et porte-bonbeur.^ Les voyageurs ont souvent observe
la meme pratique ä Jerusalem, cbez les cbretiens de rite latin.
Notre vieux Thevenot la decrit ainsi*^ (il ne connait pas encore
le mot de tatouage, qui est d'origine tabitienne et n'a ete intro-
duit en fran9ais que dans la deuxieme moitie du XVIIP siecleV:
1 Härodote, III, 8.
* Reitzentein, Zivei religionsgeschichtUche Fragen (Strassburg, 1901),
p. Isq.; Foucart, dans le Journal des Savanfs, 1911, p. 5 sq.
' Ebbesen, op. laud., p. 20: ^Äbyssinos praeter sacrum baptismi
fontem Stigmata etiam quaedam fronti superaddere consuesse, memorat
God. Stewechius ad Vegetium, II, 5, p. 68. De Jacohitis idem facere
solitis praeter alios evölvi potest lo. Dougtaeus Anal. Sacr. Part. II,
p. 125. De JEthiopibus vero (c. a. d. des Coptes) lo. Alb. Fabricius
Biblioth. Graec. Lib. I, c. 32, p. 211, ex quo praeterea intelligtmus Ber-
nardum Ochinum suis oculis in Italia vidisse baptizatos cauterio inustos.«
* Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter (Leipzig,
1881), t. II p. 354; Encyclopcdie des sciences religieuses de Lichtenberger,
t. XI, p. 756; Paul, Grundriß der german. Philologie, t. II*, p. 357.
" Trede, Das Heidentum in der kutholischen Kirche, t. IV, p. 324.
Cf. Lombroso, L'homme criminel, traduction fran9aise, Paris, 1887, p. 263.
® Voyage de M. de Thevenot au Levant, 1. II, eh. 46, 3^ t^dition
(Amsterdam, 1727), t. III, p. 638.
' Admis en 1798 dans le Dictionnaire de l'Äcademie. Cf. Hatzfeld-
Darmesteter-Thomas, Dictionnaire gencral de la langue fran^aise, au mot
TATOÜER, et en tete du t. I, Traitc de la jormation de la langue, p. 35.
i
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 113
De la maniere de marquer ce qu'on veut sur le bras.
»Nous emploiämes tout le Mardi 29 Avril ä nous faire
marquer le bras, comme fout ordinairement tous les Pelerins,
ce sont des Chretiens de Bethlehem suivant le rit Latin qui
fönt cela. Ils ont plusieurs moules de bois, desquels vous
choisissez ceux qui vous plaisent le plus, alors ils les em-
plissent de poudre de charbon, puis vous les appliquent,
de Sorte qu'ils y laissent la marque de ce qui y est grave;
apres cela ils vous tiennent de la main gauche le bras dont
la peau est bien tendue; et dans la droite ils ont une petite
canne oü sont deux aiguilles, qu'ils trempent de tems en
tems dans de Teuere melee avec du fiel de boeuf, et vous en
piquent suivant les lignes marquees par le moule de bois:
cela fait sans doute mal, et ordinairement il en vient une
petite fievre qui dure fort peu, et les bras en restent enflez
trois fois plus qu' ä l'ordinaire durant deux ou trois jours.
Apres qu'ils ont pique tout du long de ces lignes, ils lavent
le bras et regardent s'il y a quelque faute, lors ils recom-
mencent, et quelquefois ils y retournent jusqu' ä trois fois.
Quand ils ont fait, ils vous enveloppent le bras bien serre,
et il se fait une croüte qui tombe deux ou trois jours apres,
et les marques restent bleues, et ne s'effacent jamais . . .«
II est piquant de rapprocher de cette description minutieuse
le temoignage d'un voyageur qui a observe, deux cents ans
plus tard, les memes pratiques, mais qui, n'ayant pas la foi
robuste du bon Thevenot, a defendu contre les tfT^xrai hiero-
Bolymitains l'integrite de son epiderme:
»On ne saurait avoir une idee, ecrivait Gabriel Charmes \
de tous les genres de commerce qui fleurissent ä Jerusalem.
J'ai ete arrete un jour dans une rue par un homme ä figure
avenante qui voulait ä tout prix me faire un tatouage sur le
' Revue des Deux Mondes du 15 juin 1881, p. 771; r^imprime
dana son Voyage en Palestine, p. 91.
ArchiT f. Beligio&gwissenschaft XIV g
114 Paul Perdrizet
bras pour constater que j'etais un hadji et que j'avais ete ä
Jerusalem. Je pouvais choisir entre la croix grecque, la croix
latine, la fleur de lis, le fer de lance, letoile, mille autres
emblemes. L'operation ne faisait aucun mal; je ne la seniirais
pas; pendant qu'on me tatouerait, je fumerais un narghile, et
je prendrais du cafe tout eu causant avec la femme et la lille
de l'operateur, lesquelles m'adressaient d'une fenetre les signes
les plus provocants . . . D'ailleurs les plus grands personnages
s'etaient offerts ä l'epreuve qu'on me proposait. Vingt certifi-
cate en faisaient foi. J'ai su resister ä ces nobles exemples;
je ne me suis pas fait tatouer; mais j'ai copie un des certifi-
cats; il montre tres clairement que le prince de Galles a ete
plus faible que moi . . . En voici le texte; je pense que per-
sonne ne sera assez sceptique pour douter de son incontestable
authenticite :
»Ceci est le certificat que Francis Souwan a grave la
croix de Jerusalem sur le bras de S. A. le prince de Galles.
La satisfaction que S. A. a eprouvee de cette Operation
prouve qu'elle peut etre recommandee. (Signe:) VANNE,
courrier de la suite de S. A. le prince de Galles. Jerusalem,
2 avril 1862.«
J'ai peur que la bonne foi de Gabriel Charmes n'ait ete
surprise. Vanne me semble un nom aussi fantaisiste qu' 'ExsScoQog
Je soup^onne une mystification dans le certificat qu'exhibait le
sieur Souwan. Revenons ä des sujets plus graves.
La tradition raconte que le poverello d'Assise reyut les
stigmates, c'est-ä-dire fut marque des cinq plaies de Jesus. Ce
miracle, que certains historiens admettent^ et que des physiolo-
gistes expliquent^, eut un immense retentissement. Beaucoup
de pieuses personnes, hommes et femmes, desirerent ardemment
^ Sabatier, Vie de S. Frangois d'Assise (2« ed., Paris, 1894),
pp. 401—412.
* A. Maury, La Magie et V Astrologie dans VAntiquite et au Morien
Age (8e ^d., Paris, 1864), pp. 357—409.
La miraculeuse hiatoire de Pandare et d'Echedore etc. 115
recevoir la meme gräce que Fran9ois. Personne n'en avait
ete favorise avant Ini; mais apres lui, les stigmatises sont
legion, surtout dans l'ordre Dominicain \. rival de celui du saint
d'Assise. ^>Depuis que les compagnons de Fran(;ois avaient cru
devoir relever la saintete de leur maitre par cette similitude
etrange avec le Christ, les stigniates passerent ponr un trait
de la plus haute saintete.« "
Si Fran^ois d'Assise a souhaite recevoir les stigmates du
Christ, c'est probablement ä cause d'un passage mal compris
de VEpitre aux Galates, VI, 17: sya tä örCyiiara tov 'Ir^öor
6v tä 6(6(1^X1 ßaöTcitco. Fran^ois entendait, ä tort, ces mots
au sens materiel, il pensait que saint Paul etait marque des
cinq plaies de Jesus. Mais la parole de l'apotre ne doit pas
plus etre entendue dans ce sens materiel qu'au sens symbolique
qu'a par exemple cette phrase de Ciceron^: sit inscriptum in
fronte uniiiscuiusqw civis, quid de re puhlica sentiat, car l'apotre
n'a pas pretendu designer, par l'expression erlynara tov ' Ir^eovy
la marque mvstique du bapteme. Pour savoir ce qu'il a voulu
dire, relisons l'epitre aux chretiens de Galatie. Son oeuvre
dans cette province etait menacee par de sourdes menees des
chretiens de Judee; l'apotre, pour la defendre, ecrit cette lettre
fougeuse. »II la dicta, dit Renan ^, d'un seul trait toute entiere,
comme rempli d'un feu Interieur. Selon son usage, il ecrivit
de sa main en post-scriptum : «Remarquez bien ces caracteres, ils
sont de ma main». II semblait naturel qu'il terminät par la
salutation d'usage; mais il etait trop anime, son idee fixe
l'obsedait, Le sujet epuise, il y rentre encore par quelques
traits vifs: Des gens, qiii veident plaire par la cJiair, vous forcent
ä vous faire circoncire . . . Les circoncis rCöbservent pas la Loi,
mais ils veulent que vous soyez circoncis, afn de se glorifer dans
votre chair . . . Pour moi, Dieu me garde de me glorifier, si
• Perdrizet, La Vierge de Misericorde (Paris, 1908), p. 31.
* Renan, dans VHistoire Utteraire de la France, t. XXVIII, p 2.
» In Catil, I, 13. § 32. ' Saint Paul, p. 322.
8*
116 Paul Perdrizet
ce n'est en la croix de N. S. J. C, . . . car en Christ Jesus la
circoncision n^est rien, le prepuce n'est rien; ce qui est tout, c'est
d'etre cree ä nouveau. Paix et misericorde sur tous ceiix qui
ohserveront cette regle, sur V Israel de Dieu. Mais qu^ä Vavenir
personne nemesuscite plus de tracasseries; car je porte les stigmates
de Jesus sur mon corps. La gräce de N. S. J. C. soit avec votre
esprit, freres! Amen!« Quels sont donc ces stigmates qui
recommandent Paul et sa doctrine? La tradition^ et la critique
sont d'accord sur ce point: il s'agit des coups de fouet et des
coups de bäton que l'apotre avait re9us au cours de ses missions.
»Les Juifs, ecrit-il aux chretiens de Corinthe^, m'ont applique
cinq fois leurs ti-ente-neuf coups de fouet^; trois fois j'ai ete
bätonne; une fois j'ai ete lapide.« Ainsi l'expression 6t Cynara,
dans VEpitre aux Gdlates, est metaphorique: eile fait allusion
aux cicatrices dont le corps de Paul etait balafre. ^
Mais pourquoi les appelle-t-il örCyfiata tov ^Ivjöov? Car
enfin, ce n'est pas de Jesus, mais des ennemis de Jesus, Juifs
et Gentils, qu'il les a re9ues. Renan dit que l'apotre les appelle
ainsi, parce qu'elles fönt ressembler son corps ä celui de Jesus
apres la flagellation. Je crois plutot qu'il veut rappeler qu'il
les a re9ues pour Jesus et qu'elles sont le signe de sa con-
secration ä Jesus ^; autrement dit, je crois que le mot ör Cynara
' On lit dans une lettre d'un synode de C/ple, concernant les per-
edcutions du clerge orthodoxe par les Ariens (Th^odoret, Hist. ecch, V,
9, p. 409 Gaisford): aXXoi dtacpoQOig yiaTa^avd'evTsg cclKtccig in ta. ßriyftara
TOV Xqi6tov xal tovs (imlaTtccs iv tö) acafiari nsQicpSQOVGi.
'' 11 Gor., XI, 24—25. Cf. Renan, Saint Paul, p. 449.
' Consuetudo legis erat ad majus XL verbera dari, dit le Speeuhim
humanae sdlvaiionis, XXI, 6, d'apres Deuteronome, XXV, 3. Pour ne
pas enfreindre cette prescription de la loi mosaique, les Juifs s'en
tenaient ä 39 coups, qu'il s'agit de flagellation pc^nale ou de flagellation
rituelle: cf. mon Etüde sur le S. H.ß., p. 8.
* C'est donc avec raison que Stein cite ce passage de VEj»tre aux
Gdlates dans son edition d'H^rodote, pour commenter le texte relatif a
l'asile egyptien de la bouche Canopique (II, 113): iar\ 'HqccxXsos Iqöv,
ig rb ^r xaraqpuycbv ofxtVrjs orsv (ov Scv^gtäTKOv inißcckijTai (iriy^iaTct iqu,
iavrbv öiSovg t& @sä), ovy. S^sari tovtov &'ipaG9cci.
La miraculeuse histoixe de Pandare et d'Echedore etc. 117
; eroquait ici, dans l'esprit de saint Paul et dans celoi de ses
i lecteurs, non Tidee de la marque servile — car l'apotre se
glorifie de ses örCy^iara — mais l'idee de la marque religieuse.^
j Paul est natif de Tarse, il ecrit ä des Asiates qui connaissaient
tous, comme il le connaissait lui-meme, le rit« des marques de
consecration; car la plupart des religions orientales rimposaient
ä leurs adeptes. 11 est atteste, en Galatie meme, pour celle
d'Attis, le dieu de Pessinonte*; en Syrie, pour celle d'Atargatis,
la deesse de Bambyce-Hierapolis'; en Thrace et en Grece,
pour la religion thraco-macedonienne de Dionysos*; en Egypte
pour la religion isiaque.^ Quand Peregrinus se brüle a Olympie,
Lucien prevoit que la credulite populaire fera un dieu de cet
extravagant: il aura ses mysteres et ses pretres, on instituera
en son honneur des flagellations rituelles, las devots seront
marques de son nom, au fer rouge: ^QXvgoiiaL de ^ (i-^v xal
Ugiag avtoi äxodeix^rjöeöd^ai fiaötCyav ^ xavtr^gCcav.^
' Cf. Maory, op. l, p. 360: *U j avait dans la Bible plosieurs
allnsions ä l'o8age repandu dans TOrient de port«r au bras droit un
signe indicatif de la divinite au aervice de laquelle on s'etait vouä:
c'est ä cette habitude que se rapportent vraisemblablement lee paroles
de Saint Paul.«
' Prudence, Peristeph., X, 1076—1080. Le sobriquet de ydikos
donn^ ä Ptolemee IV Philopator {Etym. Magnum, s. v. FA'AAOC., qui
portait le tatouage dionysiaque (cf. Bev. Et. Anc., 1910, p. 236), fait
allusion aux marques que portaient las GaUes, aussi bien ceux d'Attis
que ceux d'Atargatis. Cf. le v. 9 de Velogium d'Abercios (Hepding, Attis,
p. 84): Xüov d'ildov ixsl icqiXQav etpgayet&av liovra.
' Lucien, De dea Syria, § 59.
* Rev. Et. Anc, 1910. p. 234— 238, et mea Cidtes et mythes du Pangee,
p. 96—98.
* Dennison, dans V American Journal of archaeology, IX (1905),
p. 33 sq.
® De morte Peregrini, eh. 28. Quant ä la religion mithriaque, il
ne me semble pas prouve qu'elle comportat le rite des stigmates de
conse'cration. Le texte de Tertullien, Mithra signat in /rontibus müites
«tos {De praescr. haeret., 40), aUegue par Cumont {Les mysteres de
Mithra*, p. 131- et par Hepding {Attis, p. 163), me semble viser un rite
aymbolique, analogue ä la confirmation chretienne.
118 Paul Perdrizet
VII
Je ne vois point que pour l'etude du rite oriental, et plus
precisement semitique, de marquer le poignet droit d'un
stigmate sacre, on ait fait etat jusqu'ici des mains orantes, de
bronze, dont il existe un assez grand nombre d'exemplaires.
Je n'entends point parier des mains de bronze consacrees ä
Sabazios, que Blinkenberg a etudiees naguere^: Celles- ci forment
une classe speciale, ä cause des symboles magiques dont elles
sont chargees, et ä cause de leur geste : c'est celui dit de la benedic-
tion latine, les deux derniers doigts replies, les trois autres allonges,
le pouce touchant le grand doigt et l'index. Les mains votives
du culte de Sabazios representent la main du dieu, a tout le
moins celle du pretre, puisqu'elles benissent. 11 n'en est pas
de meme des autres mains votives, qui toutes sont des mains
orantes, levees, la paume en avant, les doigts allonges et joints:
Celles -ci representent des mains de fideles, elles perpetuent
le Souvenir d'une priere. Toutes ces mains orantes proviennent
de cultes semitiques. Toutes, comme d'ailleurs aussi Celles du
culte de Sabazios, sont des mains droites; et quand elles portent
une dedicace, celle-ci est toujours gravee sur le poignet.
Avant de tirer de ces observations les conclusions qui me
semblent s'appliquer ä notre propos, je crois bon de donner
la liste des dextres orantes ä dedicace.
A. Culte du dieu d'Heliopolis
Musee du Louvre. Provenance: Niha, sur le versant du Liban
qui regarde la plaine de Ba^albek. Publice par Dussaud, Notes
de Mythologie syrienne (Paris, 1903), p. 119, pl.I. La Photographie
ci-contre (PI. I fig. 1) a ete executee ä ma demande par la Biblio-
theque Doucet. Dextre orante, portant contre la paume une
petite idole du Baal d'Heliopolis {ßaXdviov).'^ Sur le poignet,
^ Darstellungen des Sabazios und Denkmäler seines Kultes, dans
Archäologische Studien (Copenhague, 1904).
* Chronique Pascale, p. 303 de Ted. de Bonn: ytaTeXvßs 6 OeoSöeio^
xai ro ' HXiovn6XB0)g t6 rov Balaviov.
La miracnleuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 119
la dedicace: MsvCöxos vTchg / iavrov xal ^vyttTQ{bg) / xal övfißCov
xai j ^Qsarav sv^äfie/vog.
B. Culte cCune divinitc syrienne
Main conservee au patriarcat maronite de Bikirle (Liban).
Publiee par Lammens, dans le Musee Beige, IV (1900), p. 310,
n**ö7: . . . Xevöa xa^äs j kxsXavö^riv xfig / d^eov ävi^rjxsv.
C. Culte du Tres Haut (Ssbg "Ttlfiörog)
La collection formee jadis ä Bejrouth, par feu Peretie, chan-
celier du consul de France, contenait cinq dextres de bronze
portant sur le poignet des dedicaces au ©«ög "TptOTog. EDes
avaient ete trouvees ensemble ä Sa'ida, l'ancienne Sidon, dans
un endroit qui n'a malheureusement pas ete note. Dussaud
{Notes, p. 118) a revoque en doute cette provenance, sans
raison valable. Les cinq mains furent vues chez Peretie par
Beaudouin et Pottier, qui en publierent les inscriptions dans
le Bulletin de corresjjmdance hdlenique de 1879, pp. 264 — 267,
Sans en donner, malheureusement, ni photographies ni dessins.
Depuis, la collection Peretie a ete vendue et dispersee. J'ignore
oü se trouvent aujourd'hui trois de ces cinq monuments. Les
deux autres fönt partie de la collection De Clercq. J'es-
perais en publier des photographies. MM. Rene Jean, De Ridder
et Pottier ont bien voulu s'entremettre aupres du possesseur
actuel de la collection De Clercq; mais la permission de faire
photographier les deux mains leur a ete refusee.
1. »Main droite; long. 0™ 17. üne palme, de chaque
cote, gravee ä la pointe, se continuant jusqu' ä l'extremite du
petit doigt et du pouce. L'inscription, de meme que les
suivantes, est gravee sur le poignet: nqöxXa / sv^a^d/vrj vaig /
iavTrjs I xh xov oi'xov avxfig / avi^riX£V€ {BCH, 1. 1., n"^ 18).
Aujourd'hui dans la collection De Clercq. ün facsimile de
l'inscription dans De Ridder, Cöä. De Clercq, Les Brmzes, p. 195,
qui aurait bien du donner une reproduction de l'objet meme ou
du suivant.
120 Paul Perdrizet
2. »Main droite; long. 0*" 18. Memes ornements que surj
la precedente. Dedicace: Zijvcjv xs Nixovö^a) / evi,dnsvoi /'
ävsd^rjxav« {BCH, 1. L, n*' 19). Aujourd'hui dans la coUection
De Clercq; cf. De Ridder, CoU. De Clercq, Les Bronzes, p. 194,
qui admet, ä la ligne 2, la restitution des premiers editears,
Nixov6(a). Cette forme, qui serait un barbarisme en greC;
classique, n'en est pas un dans la xolvi^ qu'on parlait en|
Syrie, ä l'epoque imperiale : la plupart des MSS de VÄpocalypse *
de Jean donnent, au verset 1 7 du chapitre II, la forme ionienne
vixovvti au lieu de vix&vxi (cf. Viteau, Etüde sur legrec du Nouveau
Testament, Paris, 1893, p. XIX). Mais, comme le facsimile
publie par De Ridder n'indique aucune trace de lettre apres
NIKOYJL, je crois preferable de lire Niyiov£.
3. »Main droite; long. 0°* 17. Les palmes de chaque cote
sont ä peine visibles et les caracteres presque entierement effaces.
Dedicace: . . . sv/^cc^ev/i^ vtcbq avxrig / xal ®so8(oqov dvögog/
xal xmvav I &sa ^Tij^CötG)« BCH, 1. 1., n° 20. Selon Dussaud
{Notes, p. 118), l'objet se trouverait au Musee National d'Athenes.
J'ai prie M. Holleaux de l'y rechercher: »nous avons, me repond-il,
Stai's et moi, fait la revue de tous les bronzes du Musee, y
compris ceux qui se cachent dans les ccTiod^ijxaL et les tiroirs
fermes. La main Peretie n'y est pas et, m'assure Stais, n'y a
jamais ete. II avait, croit-il, ete question, voilä tres longtemps,
d'acquerir quelques objets de cette coUection, mais suite ne
fut pas donnee ä ce projet.<^
4. »Main droite; long. O"' 15. Lettres pointillees, peu
visibles et confondues les unes avec les autres. Dedicace: @ep
'T/ifCörc) rriJQlciv sv^a/fisvog dvs&)]/xsv« (BCH, 1. 1. n° 21).
Le nom FrjQCav est bien extraordinaire. Peut-on admettre
qu'un Sidonien de l'epoque imperiale ait porte le nom du geant
tricepbale, occis en Espagne par Heracles? En tout cas, il
faudrait accentuer Fri^iciv, et remarquer que cette orthographe
est iotacisante, au lieu de FrjQvcbv. Mais je crois que le nom
du donateur n'a pas ete lu correctement. Les doutes sont con-
;zet, Histoire de Pandare et d' Echedore
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 4
ileligions Wissenschaft XIV, 1/2
Abb. S
Abb.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 121
firmes par Fröhner, qui a decrit l'objet en question dans son
('atalogue de la vente Hoffmann, 1893, p. 570: »Le nom du
consecrateur, ecrit-il, et son patronymique restent ä dechiffrer.«
5. »Main droite sans ornements. Long. 0"" 1 7. Inscription:
.iovx[t]a/v7j« {BCH, L 1., n° 22). Cette lecture est confirmee
par Fröhner, qui a decrit l'objet dans le Cat. de la coli. Ho/fmann,
1899, p. 569.
D. Culte du dien de Dolichc
1. PL I, fig. 2. Main droite ouverte, trouvee ä Heddern-
heim, conservee aujourd'hui chez le comte Solms, ä Assenheim;
publiee pour la premiere fois par J. Becker, Drei römisdie Votiv-
hände aus den RJieinlanden (Frankfort, 1862), p. 17, pl. I: cf. Kan,
De Jovis Dolicheni cuUu (Groningen, 1901), p. 102, n° 141 et CIL,
XIII, II, 1, p. 430, n° 7343: lovi Ddiceno jG. hd. Marinusj centurio
Briüonum Guruedens(ium) I d. d. Sur le culte de Doliche, qua
las Syriens de Commagene repandirent dans tout l'Empire et
qui a fusionne notamment avec le culte du dieu d'Heliopolis
(CIL, in, 3462: /. O.M.Dulceno Heliopolitano), voir en dernier
lieu l'article de Cumont, DOLICHENVS, dans Pauly-Wissowa.
Le nom Marinus, que porte le donateur de la main d'Heddern-
heim. et qui est frequent dans les inscriptions relatives au dieu
de Doliche, indique que le donateur etait pretre de ce dieu;
il vient du syrien marlnä, qui a le meme sens que notre
Monseigneur, en latin dominus, en grec de6jc6r},g. Le pere de
Philippe l'Arabe s'appelait ainsi (Waddington, Inscriptions de
Syrie, p. 491—2, n° 2072—76).
2. PI. I, fig. 3. Main droite trouvee en 1862 dans la Galicie
Orientale, district de Zaleszczyki, village de Myszkow, conservee
au musee polonais Ossolinski de Lemberg, et publiee par W. De-
metrykiewicz et J. Zingerle, dans le Beiblatt der Jahreshefte de
1904, col. 149 — 152. Les trois derniers doigts sont allonges et
ecartes; le pouce et l'index tiennent delicatement une petite sphere
sur laquelle devait se dresser jadis une Statuette, dont il ne reste
que les pieds. Demetrykiewicz, ä cause des enseignes legionnaires
122 Paul Perdrizet
que surmontait une main levee, Symbole de la fidelite au
serment militaire (A. v. Domaszewski, Die Fahnen im römischen
Heere, p. 53), suppose que cette Statuette deyait representer
la Victoire. D'apres l'analogie avec la main du Louvre, contre
la paume de laquelle est fixe le balanion d'Heliopolis, je crois
que la main de Lemberg etait surmontee de la Statuette du
dieu ä qui eile etait dediee. La dedicace, gravee sur le poignet,
a ete lue ainsi par E. Bormann: I{ovi) 0{ptimo) M{aximo) /
Doliceno / Gaius optio / c(o)h{ortis) I His2)(anorum) {müiariae) /
v(otum) s(olvit) Kihens) m(erito). A cote de la main de Lem-
berg, nous en reproduisons une autre, anepigraphe, provenant,
dit-on, d'Italie, et conservee au musee de Wiesbaden (Bekker,
Drei römische Votivhände, fig. ä la p. 10); eile est mutilee, et
on ne savait pas en expliquer le geste: je crois qu'elle devait
comme la main de Lemberg, tenir entre le pouce et l'index une
petite sphere, servant de support ä une Statuette du dieu de
Doliche (PI. I, fig. 4).
n y a, je crois, correlation entre les marques de consecra-
tion que les adeptes des religiuns semitiques s'imprimaient ä
la main ou au poignet droits et les inscriptions votives des
dextres de bronze qu'ils avaient accoutume d'oflPrir ä leurs
dieux. Ces dextres, qui fönt toutes le geste de la supplication
et qui, par consequent, representent la main de l'orant, out
toutes leur dedicace gravee sur le poignet. Pourquoi lä plutöt
que sur le dos de la main ou sur la paume? La main sym-
bolique de ralliance entre les Gaulois du Velay, OvEXavvoi, et
une ville grecque de Provence, porte son inscription sur la
paume. ^ Si les dextres votives des cultes semitiques portent
toutes leur dedicace sur le poignet, c'est sans doute pour une
raison rituelle, parce que les fideles qui dediaient ces dextres,
etaient, comme les Syriens de Bambyce, höriy^svoL rbv de^ibv
xaQjtbv yQaniiaöi. Si l'on se rappelle que les dedicaces de
' S. Reinach, Bronzes figures de la Gaule romaine, p. 869; Cat. des
bronzes de la Bibl. nationale, p. 461; 10, XIV, n" 2432.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 123
cette Sorte d'objets sont parfois ecrites en pointüh' et accom-
pagnees de pnlmes gravt'es a la poiute, qui vont de la section
du poignet ä l'extremite du petit doigt et du pouce, la cor-
relation que nous indiquons apparaitra comme plus vraisemblable
encore: ce pointille fait songer aux piquetures d'tme inscription
|tatouee, ces palmes representent les tatouages religieux qui
Fcouvraient la main droite du fidele: tatouages religieux, et non
|de simple ornement; car on admettra bien que la palme eu
'henicie, pour des adorateurs du Tres Haut {Ssbs "Ytlfiötos},
Büt un sens sacre.*
Les textes qui parlent du stigmate religieux apprennent
[u'il etait parfois place, non sur le poignet, mais enl x^'^Qh
[fiur le dos de la main ou metacarpe. Et il pouvait consister,
[non en une inscription, mais en dessins plus ou moins schema-
itiques, en signes plus ou moins pictographiques, dans le genre
[des tatouages en usage chez les Syriens et les Arabes
[d'aujourd'hui, chretiens et musulmans. Une main de bronze
[anepigraphe, dont la proTenance exacte est inconnue, mais qui
jlon toute apparence a ete trouvee dans la vallee du Rhin, et qui
st conservee au musee grand-ducal de Darmstadt (PI. I, fig. 5),
)orte sur le poignet, sur le metacarpe et ä l'attache des cinq
loigts, un certain nombre de petits cercles incises, treize en tout.
[Becker, qui a fait connaitre ce monument, y voyait rex-voto
d'une personne qui souflfeait d'une maladie de peau: les petits
cercles representeraient des plaques ou des pustules.* II est
possible, comme on l'a dit plus haut, qu'ils representent des
tatouages medicaux, destines ä faire disparaitre les plaques
d'une lepre blanche. Mais il est encore plus plausible d'y voir
des marques religieuses. ün fragment de calotte cranienne
' Dans la Bible, la palme est mentioimee frequemment dans les
ceremonies de purification (II Macc, X, 7), et dans les triomphes (I Macc,
XIIl, 37 et 51; IV Esdras, II, 45—6: Ev. Joan., XH, 13; Äpocal, VII, 9).
* Brei römische Votivhände, p. 15, pl. 11, 1 a, b. Jen dois la Photo-
graphie, ainsi que celle de la main de Wiesbaden, a l'aimable entremise
de M. Hans Draorendorff.
124 Paul Perdrizet
trouve dans Voppidum gaulois de Stradonitz^, est parseme de
cercles pareils.
VIII
Revenons, apres ce long detour, au stigmate militaire.
Je crois qu'il fut, ä Torigine, un cas particulier du stigmate
religieux. Saint Ambroise nous apprend que les soldats etaient
marques du nom de l'empereur, nomine imperatoris signantur
milites^ — nomine et non in nomine. Le stigmate militaire
representait donc le nom de l'empereur regnant — d'oü
l'expression regius character dont se sert Augustin — c'est-ä-
dire, probablement, une abreviation, ou peut-etre la il^7}q)og du
nom imperial. Le stigmate militaire se rattache donc au culte
des empereurs, et plus precisement au culte dont les empereurs
ont ete l'objet de la part des armees. La question du culte
rendu aux empereurs par les armees est expediee en six lignes
par Beurlier^, dans un chapitre intitule: »Du culte rendu aux
empereurs par les Colleges prives et les particuliers«. En
realite, c'etait un culte officiel, prescrit par les reglements
militaires, et meme le seul culte officiel que connüt l'armee;
il est absolument distinct des cultes prives dont les militaires
de tout grade, individuellement ou en groupe, honoraient les
divinites ä leur convenance. Les medaillons des enseignes que
portaient les imaginiferi^, les statues imperiales erigees dans
les camps rendaient presents au milieu des armees les genies
des empereurs; ces images recevaient le culte du par les mili-
taires au sou verain, et ce culte etait le lien de la discipline,
car celle-ci etait fondee sur le serment, et le serment etait jure
sur le nom sacrosaint de l'empereur. On con^oit, dans cette
hypothese, non seulement que les soldats se soient laisses
marquer, mais qu'ils aient tenu a l'etre. Non seulement le
* Pic, Le Hradischt de Stradonitz, traduction D^chelette (Leipzig
1906), pl. XLIII, fig. 17; Dt5chelette, Manuel, t. I, p. 480, fig. 167.
* Essai sur le culte rendu aux Empereurs romains (Paris, 1890),
p. 261. * V. DomaszewBki, Die Fahnen im römischen Heere, p. 69 sq.
I
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 125
stigmate militaire n'etait pas plus deshonorant pour un soldat
que la tonsure totale pour un pretre isiaque ou la tonsure
partielle pour un pretre catholique romain; mais meme c'etait
un talisman, le nom de Tempereur, comme tout nom divin,
devant avoir une vertu prophylactique. Cette idee semblait
evidente aux pai'ens du Bas Empire, dans des pays et ä une
epoque oü la superstition etait au comble. Ajoutons que les
Boldats, particulierement, devaient etre tres superstitieux, en raison
meme des dangers auxquels ils etaient alors exposes, dans un
temps oü Ton se battait presque sans cesse; ils recherchaient de
tous cotes les moyens magiques de se rendre invulnerables.
Une preuve que le stigmate militaire etait bien d'ordre
religieux, nous est fournie par les Actes äes Martt/rs. Un
jeune chretien, Maximilien, avait ete pris comme tiro. Le jour
arrive oü il doit passer miles, c'est-ä-dire etre mesure, inscrit
sur le role et marque de la marque militaire. Maximilien se
laisse mesurer, incumari^, mais quand on veut le marquer,
signari, il refuse. Pourquoi? Le texte ne le dit pas, mais ce
refus s'explique tres bien, si la marque militaire etait ce que
nous pretendons. Pour un chretien scrupuleux, il etait aussi
reprehensible de se laisser imprimer ce signe de paganisme
que de faire le geste de la priere devant la statue de l'Empereur.
Subir cette marque aurait ete, pour Maximilien, adherer ä la
religion imperiale; cette adhesion ä une forme de paganisme
l'aurait ravale au rang des lapsir
^ Ce verbe därive de ittcoma ou incomtna, lyxoyL^La, mot qui designait
la toise fichee en terre, avec laquelle on mesurait les soldats. Cf. Du
Gange, Gloss. lat., s. v. INCOMA, d'apres Saumaize ad Lampridium, p. 199.
* Acta Maximüiani , dans les Acta priiuarum martyrum sincera et
sehcta de Ruinart, p. 300 de Ted. d' Amsterdam , 1713, reproduits dans
Hamack, Militia Christi, p. 114 — 7: Dion proconsul dixit: „Incumetur .'"
Cumque incumetus fuisset, ex officio recitatum est: „Habet pedes V,
uncias X." Dion dixit ad officium: „Signetur!" Cumque resisteret
Maximilianus, respondit: „Non facio; non possum militare." Dion dixit:
„Milita, ne pereas! . . ."
126 Paul Perdrizet
Autre preuve que le stigmate militaire etait radicalement
different du stigmate servile: tandis qu'on imprimait celui-ci sur
le front, on imprimait celui-lä sur la main — sans nul doute
sur la main droite. Pourquoi lä plutot qu'ailleurs? Les heros
de notre tragedie classique parlent sans cesse de leur main, ou de
leur bras, pour dire leur bravoure, leur force physique et guerriere
Ils n'ont de leur defaite accuse que mon bras,
lit-on dans V Alexandre de Racine, acte IV, scene 2; et Ton se
rappelle les propos de fier-ä-bras que le jeune Horace tient
ä sa soeur {Horace, acte IV, scene 5):
Ma sceur, voici le bras qui venge nos deux freres,
Le bras qui rompt le cours de nos destins contraires,
Qui nous rend inaitres d'Alhe; enfin, voici le bras
Qui seul fait aujourd'hui le sort de deux Etats!
Ces metapbores usees et pour nous plutot deplaisantes, sont
prises des langues anciennes^; elles avaient un sens tres plein
jadis, dans un temps oü l'on combattait de pres, ä l'arme
blanche, et oü l'avantage et la vie restaient ä qui maniait d'une
main plus habile et d'un bras plus robuste le glaire ou la
pique. De toutes les parties du corps d'un soldat, celle qu'il
importait donc le plus de consacrer au Service du Divus imperial,
c'etait le bras ou la main. Une raison analogue explique peut-
etre que dans certaines sectes chretiennes on l'on n'entrait
qu'apres avoir entendu une catecbese esoterique, l'oreille füt la
partie du corps qui recevait la marque de consecration. Les
Carpocratiens portaient sur la face posterieure du lobe de
l'oreille droite une marque faite au cautere ou au rasoir ou
au poin9on^ — sur le lobe de l'oreille, parce qu'ils playaient
* Par ex. Virgile, yKn., XII, 428 : neque te, uKnea, mea dextera sei-^vat.
* IrentSe, Contra haereses, 1. I., eh. 20,4 (t. I, p. 210 Harvey) = Hip-
liolyte, ^iXoßocpov^Bva, 1. VII, cli. 32 (p. 256 Miller): rovriov ftvig xai
xavrriQiä^ovßi, rovg ISiovg iiad-riTac h< rnig öniaa (ifgsai rov Xoßov tov
äs^iov arög. — Epiphane, Panono«, XXVII (Migne, P. G'., XLI, 872): acpga-
ytda dh iv kuvt^qi, /) di' iTtirrjösvCstag |v(>/ot) ?) QatpiSog inizid'SCißiv ovrot
ol VTtb KaQTioxQä iiil tov öe^ibr f.oßuv rov (orbg rolg vn ai^xüiv ccnaroanivoig.
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 127
lä le siege de la memoire: cette croyance existait aussi chez
les Grecs et les Romains^, eile rend raison de ces pierres
gravees^, fort nombreuses, de la basse epoque, qui representent
une oreille droite dont une main touche le lobe; dans le champ
est la legende MNHMONEYE. Tantöt les Carpocratiens scari-
fiaient le lobe de l'oreille avec un rasoir, ou le per^aient avec
un poin9on: pour expliquer ceci, il faut se rappeler que roreille
percee etait chez les Orientaux un signe d'esclavage': d'oü
l'usage, chez les Juifs, de percer avec un poinyon l'oreille des
esclaves ä perpetuite* Tantöt ils le brülaient avec le t'er
rouge: la raison de ce rite se trouve dans des textes evan-
geliques, qui expliquent aussi que la marque füt placee sur la
face posterieure {sv rotg öxCöa iiigsöt) du lobe: >Je vous bap-
tise avec l'eau, avait dit Jean le Baptiste, mais quelqu'un
viendra apres moi, £();u£Tai ds [lov ÖTcCöa, qui vous baptisera
avec l'Esprit et le feu.« ^ Ce bapteme de celui qu'avait annonce
le Baptiste etait signifie, dans la secte carpocratienne , par la
marque au cautere imprimee sur la partie posterieure du lobe de
l'oreille: „aVioi di", &s (pr^etv' Hgax/Jav, „xvqI tu aza xav ötpga-
yt^ouivcov yMX£6),^rjvavto^\ ovtag axov6uvt£s tö d:co6tokr/c6v.^
Le stigmate militaire s'imprimait sur la main droite du
nouveau soldat, comme le stigmate religieux des Orientaux sur
la main droite du neophyte. ('ette similitude permet de former
' Virgile, Bucol., VI, 3; Copa, 38; mais surtout Pline, Hist. ntU.,
XI, 103 (t. II, p. 365 MavhofiF): est in aure ima memoriae locus, quem tan-
gentes antestamur (cf. Piaute, Le Perse, IV, 9, 8; Horace, Sat., I, 9, 76);
est post aurem aeque dexteravi Xemeseos, gu<ie dea Latinum nomen ne in
Capitolio quidem invenit, quo referimus tactum are proximum a minitno
digitum, veniam sertnonis a düs ibi recondentes.
* Le Blant, 750 inscriptions de pierres gravees, dans les Memoires
de VAcademie des Inscriptions, t. XXXVI, p. 7 et 39—41, n^s 90—102.
B'autres pierres gravees portent MNHMOXEYETE, ou MNHMONETE
THU KAäHZ Tl'XIfJ^ (Spon, Miscellanea eruditoe antiquitatis, p. 297).
' Renan, Histoire d'Israel, t. II, p. 366.
* Exod€, XXI, 6. ' Matth., UI, 11; ii«?., III, 16
" Clement d'Alexandrie, Eclogae propheticae, 25 (t. III, p. 143 Stählin).
128 Paul Perdrizet
une conjecture assez vraisemblable sur la date approximative
ä laquelle le stigmate luilitaire fut institue dans les armees
imperiales. Mais avant d'exposer cette Hypothese, il importe
d'ecarter un texte qui a induit quelques savants en erreur.
Quand Tertullien (dont l'activite litteraire commence dans la
derniere decade du IP siecle) ecrit, probablement en se rappelant
des Souvenirs d'enfance (il etait fils de centurion^), qu'il a vu
(dans les camps de l'armee d'Afrique) »Mithra marquer au
front ses fideles«, l'expression dont il se sert pour designer les
Mithriaques, milites suos^, n'implique nullement^ que le signe
dont il s'agit fut imite de la marque militaire, qui, je crois,
n'etait pas encore en usage au temps oü Tertullien etait enfant
de troupe; car la marque militaire etait imprimee ä la main,
tandis que le signe des Mithriaques l'etait sur le front; d'ailleurs
la marque militaire semble avoir ete un tatouage, et le signe
des Mithriaques une marque au fer rouge.^
Ce texte de Tertullien ecarte, le temoignage le plus ancien
concernant le stigmate militaire est celui de Cyprien (f 258),
' Schanz, Eöm. Litt.*, t. III, p. 280; cf. Harnack, Militia Christi,
p. 39: „als Soldatenkind scheint Tertullian im Lager die Zeremonie ge-
sehen zu haben."
* De praescriptione liaereticoi'um, eh. 40, p. 577 Oehler: Diaboli
sunt partes intervertendi veritatem, qui ipsas quoque res sacramentorum
divinorum idolorum mysteriis aeinulatur. Tingit et ipse quosdam, utique
credentes et fideles suos; expiationem delictorum de lavacro repromittit,
et, si adhuc memini, Mithra signat illic in frontibus milites suos, celebrat
et panis oblationem et imaginem resurr ectionis inducit.
" Elle n'implique pas non plus, je crois, que ce signe fut confär^
au Mithriaque quand il parvenait au grade de miles, le troisifeme de la
hi^rarchie mithriaque. Le mot milites, dans ce texte de Tertullien, a le
sens metaphorique „d'adeptes", de „fideles", comme on dirait milites
Christi pour designer les Chretiens. Sur ce point, je me säpare de
Franz Cumont {Textes et monuments relatifs aux mystires de Mithra, t. I,
p. 318—9).
■• Gregoire de Naziance reproche ü, Julien de mepriser les martyrs
chrdtiens, lui qui admire ras ^x Mi&QOV ßacävovg xai %av6Bii ivöixovg
rag (iveriKag (Migne, P. G., XXXV, 592 — et non 620, comme cite
Cumont, Textes et monuments, t. II, p. 15 b).
La miraculeuse histoire de Pandare et d'Echedore etc. 129
dans sa lettre ä Donat. Ceux d'Ambroise, de Jerönie et de
Jean Ciirysostome, ceux de Vegece et d'Aetios sont beaucoup
plus tardifs. Du reste, aucun de ces auteurs ne parle du stig-
mate militaire comme d'une institution recente.
Si l'usage de marquer la main droite du soldat derive
vraiment du rite de marquer la main droite du fidele, on peut
supposer, etant donnee l'origine Orientale de ce rite, que le
stigmate militaire a ete introduit d'abord dans l'armee romaine
d'Orient, et plus precisement dans les legions de Syrie, sous 1^
empereurs Syriens, au debut du IIP si^cle. II aurait ete institue
par l'empereur oriental et Syrien par excellence, ce Baöiavog^ en
qui s'incamait l'Elagabal d'Emese, que l'on n'en serait pas etonne.
Quand au debut du II® siecle, Juvenal ecrivait
lam pridem Syrus in Tiberim defluxit Orontes',
il signalait un phenomene qai avait commence bien avant lai,
et qui, apres lui, devait prendre des proportions immenses,
au für et ä mesure des progres du culte imperial et des cultes
orientaux dans Rome, christianisme compris. On a remarque
souvent que le culte imperial fut accepte beaucoup plus tot et
plus aisement par les Orientaux de l'Empire, et qu'üs le
pousserent beaucoup plus loin que les Occidentaux: le prosterne-
ment devant l'empereur, le nom de Ssog ou de Divus donne
ä l'empereur vivant, sont d'origine Orientale^; de meme, sans
deute, le stigmate müitaire, en qui l'on retrouve la vieille
croyance de l'Orient ä la divinite des souverains. On y retrouve
d'autres choses encore, bien orientales aussi, la croyance ä la
vertu prophylactique du nom divin, le desir ardent du fidele
de consacrer son corps ä son dieu, le rite tres antique des
marques de consecration.
* C'est la vraie forme de ce nom, derive de basus, mot oriental
qui signifiait, ce aemble, »grand pretre«: cf. v. Domaszewski, Religion
von Emesa, dans cet Archiv, t. XI, p. 237 (= Ahh. zur röm. Religion,
i p. 211). * Sat., lU, 62. » Benrlier, op. dt., p. 52—4.
ArclÜT f. Beligionswissenschaft XIV
Das Alter des israelitischen Yersöhnungstages
Von Hubert Grimme in Münster i. W.
(Mit einer Abbildung)
In meiner Studie „Das israelitisclie Pfingstfest und der
Plejadenkult" (Studien zur Geschichte und Kultur des Alter-
tums I, 1) hatte ich zu zeigen versucht, daß von den drei
israelitischen Festen, die Wellhausen als eine organisch zu-
sammengehörige Gruppe bezeichnet hat, das mittlere, Schabuoth,
sich nach Ursprung und Inhalt so erheblich von den beiden
anderen, Mazzoth und Sukkoth, unterscheide, daß der Begriff
einer" alten Erntefestdreiheit nicht aufrecht zu halten sei.
Im weiteren Verlauf der Untersuchung kam ich dazu, mich
über das Alter der verschiedenen biblischen Feste auszusprechen.
Ich fand, es könne die Dreizahl der Feste, die Deuteronomium
als legal bezeichnet, keineswegs älter sein als die Fünfzahl
von Leviticus und Numeri. Die Idee einer Weiterentwicklung
der einen zur anderen sei nicht zu halten; beide Festtafeln
seien insofern voneinander unabhängig, als jede ein anderes
Publikum von Festfeiernden vor Augen habe. Die Fünfertafel
enthalte alle Feste der zweigeteilten, d. h. aus Heiligen und
Profanen bestehenden altisraelitischen Gemeinde; was sie
an Festen ohne nähere Zusätze anführe, ginge die Gesamt-
gemeinde an; was aber die Bezeichnung "CTp N"ip7a bzw. rriiüy
trage (nämlich der 1. und 7. Tag von Mazzoth, der Schluß
des Festaktes von Schabuoth, der 1. und 8. Tag von Sukkoth,
das Neujahrs- und Versöhnungsfest), seien Versammlungen der
Heiligen (= Internen) gewesen. Das Deuteronomium habe, ent-
sprechend seiner Tendenz die Gemeinde zu imiformieren, in
Hubert Grimme Das Alter des israelitischen Versöhnungstages 131
seiner Liste die Versammlungen der Kadösche möglichst zurück-
treten lassen, und sei so infolge des Ausscheidens zweier ihrer
Sonderfeste zu seiner Dreizahl gelangt
Gegen diese meine Ansicht ließe sich einwenden, daß doch
eines der Feste, die in der Fünferliste mit der Charakterisierung
'CTp arrp'n auftritt, das auf den 10. VII. gesetzte Versöhnungs-
fest, von Wellhausen durch sehr starke Argumente als nach-
exilisch dargetan sei, somit das cTp N~pr: nicht auf Sonder-
verhältnisse in der altisraelitischen Gemeinde hinweisen könne.
Daraufhin möchte ich der Frage nach dem Alter dieses Ver-
söhnungstages einmal näher treten und untersuchen, ob Well-
huusens Argumente wirklich durchschlagend sind, und ob sich
uicht positive Anhaltspunkte für ein höheres Alter der Ver-
söhnungstagfeier finden lassen.
Wellhausen (Prol*. S. 105) behauptet, die ersten embryo-
uischen Keime eines Versöhnungsfestes wären erst im Exile
/.utage getreten; das machten Ezechiel und Zacharia wahr-
scheinlich. Für eine solche Wahrscheinlichkeit spricht nur wenig.
In Ezechiels Festordnung ist davon die Rede, daß der Priester
wie am 1. I. so auch am 1. VII. (gemäß der Lesart der Sept.)
den Tempel entsühnen solle und zwar am letzteren Termin
„wegen derer, die versehentlich und unwissentlich gesündigt"
(tiei ri5Ö C"»«?:). Diesen am 1. VII. vorzunehmenden Akt be-
zeichnet Wellhausen als einen Vorläufer des Jöm-Kippür- Ritus
des Gesetzes. Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß zwischen
beiden Veranstaltungen Ähnlichkeit, ja Zusammenhang besteht,
80 wird damit der Versöhnungstag des Ezechiel keineswegs zum
Prototyp desjenigen der Thora; er kann auch einer Umformung
des letzteren entstammen. Ezechiel fühlte sich zum Refor-
mator des Kultus im Sinne des strengen Jahwismus berufen:
deshalb möchte er das doch gewiß alte Pfingstfest, in dem er
das altheidüische Substrat wohl noch durchschimmern sah,
ganz abschaffen: deshalb mußte ihm auch das Ritual des gesetz-
lichen Versöhnungstages, dessen Azazelzeremonie einem Jahwe-
132 Hubert Grimme
Verehrer Skrupel machen konnte, reformbedürftig erscheinen.
Daraufhin mag die Sühnung der Gemeinde ron ihm in eine
Reinigung des Tempelraumes umgewandelt worden sein. Diese
verlegte er auf den 1 . VII., weil er den Neujahrscharakter
des 10. VII. entweder nicht mehr erkannte oder nicht gelten
lassen wollte und für jede der Jahreshälften zwei einander
parallele Festtage anstrebte. Somit dürfte der Versöhnungstag
des Ezechiel nichts Embryonales, wohl aber Rudimentäres an
sich tragen.
Weiter findet Wellhausen, auch der Prophet Zacharia
habe von einem Versöhnungstag im Sinne des Gesetzes nichts
gewußt; denn von den bei ihm erwähnten vier Fast- und Klage-
tagen, als deren Termin er ganz allgemeiu den 5. und 7., 4.
und 10. Monat nennt, sei keiner als Versöhnungstag anzu-
sprechen. Letzteres kann man Wellhausen ohne weiteres zu-
geben: der Prophet zählt vier Tage auf, die die Erinnerung
an vier ünglückstage Judas wach hielten. Aber zum Beweise
für das Nichtvorhandensein des gesetzlichen Versöhnungstages
genügen diese Aufzählungen nicht. Der Prophet erwähnt
vier Tage, an denen gefastet wurde im Hinblick auf nationales
Unglück, um in Aussicht zu stellen, daß diese später „zu Freude
und Jubel und zu frohen Festzeiten" werden sollten, wenn
Israel seine religiösen und sittlichen Pflichten ernster nähme.
Den Versöhnungstag neben diesen Trauertagen zu nennen hatte
der Prophet gar keine Veranlassung; wie sein Inhalt Sünden-
bekenntnis und Buße war und er in einem Reinigungsakt der
Gemeinde seinen Abschluß fand, so hätte Zacharia eher auf
seine bleibende Bedeutung für Israel, als auf das Wünschens-
werte einer Umänderung seines Charakters hinweisen können.
Aber das Zeugnis von Ezechiel und Zacharia wiegt in
Wellhausens Beweis nicht so schwer wie das von Nehemia
8 — 9. Dieses soll ausschlaggebend sein, „Ezra" — sagt er —
„begann die Vorlesung des Gesetzes am Anfang des 7. Monats,
danach am 15. wird Laubhütten begangen: von einer Sühn-
Das Alter des israelitischen Yersöhnongstages 133
feier am 10. des Monats wird in der genauen und gerade für
Liturgisches interessierten Erzählung nichts berichtet, sie wird
dagegen am 24. nachgeholt. Dies testimonium e silentio ist
vollgültig — bis dahin bestand der große Tag des Priester-
kodex nicht, der erst jetzt eingeführt wurde." Hier ist zu
fragen, warum Ezra, der jeden Buchstaben des Gesetzes für
verbindlich nahm, den Tag nicht schon am 10. VII. begangen
habe. War er bei der Lesung bzw. Promulgierung des Gesetzes
m '2. VIL schon bis zur Laubhüttenfeier gekommen, so war die
Erwähnung des Yersöhnungstages sicher schon vorhergegangen.
Wellhausen, dem überhaupt die Termine der jüdischen Feste
Nebensachen sind, geht darüber leicht hinweg: „Sein Termin
wird" — er sagt nicht, ob unter Ezra oder einem späteren —
..teilweise im Anschluß an Ezechiel durch das alte Neujahr
Lev. 25, 9) bedingt sein, teilweise im Anschluß an Zacharia
durch das Fasten Gedaljas, welches freilich später dann doch
noch besonders gefeiert wurde." Der letzte Zusatz vermindert
die Beweiskraft dieser Ausführung außerordentlich; denn
wenn der Versöhnungstag vom Termin des Gedaljafastens Be-
sitz ergriffen hätte, so würde das unter gewöhnlichen Um-
ständen die Verdrängung des letzteren durch den ersteren be-
deuten, nicht aber, daß sich das Gedaljafasten einen neuen Ter-
min gesucht hätte.
Immerhin wirkt es auf den ersten Blick befremdend, daß
der Bericht bei Nehemia nichts von einer am 10. VII. ab-
gehaltenen Versöhnungstagfeier enthält. Und was soll man von
dem Wesen der Veranstaltung am 24. VII halten, bei welcher
der Gedanke der Sühne für die Sünden der Anwesenden unter
Hinweis auf alle Vergehungen der früheren Geschlechter im
Vordergrunde stand? Um Antwort auf solche Bedenken und
Fragen zu geben, muß ich ein Gebiet betreten, das zu den
dimkelsten der hebräischen Altertumskunde gehört, in der Hoff-
nung, ein wenig zu seiner Aufhellung beitragen zu können:
ich meine das der israelitischen Schaltpraxis.
134 Hubert Grimme
Für die Jahre srechnung der Israeliten war von alters-
her der Mondlauf maßgebend. So war ihr Jahr ein Mondjahr,
allerdings ein gebundenes, das durch Schaltungen mit dem
Sonnenlauf und dem dadurch bedingten regelmäßigen Wechsel
der Jahreszeiten in Einklang gebracht wurde. Über die dabei
befolgte Schaltpraxis liegen direkte Zeugnisse bisher nicht vor;
dennoch scheint es möglich, an der Hand biblischer Berichte
das Prinzip derselben in etwa festzustellen.
Ich gehe von einer König Jeroboam betreffenden Notiz des
ersten Königsbuches aus. Hier wird Kap. 12, 32 ff. über eine
dem jüdischen Berichterstatter ketzerisch scheinende Maßnahme
folgendes mitgeteilt:
1V2a1l^ nby-i'ca n-^brij^b nnrb bx-r-^nn riirN p nntörr b3?-by"^i nniri-'n
bN-p-^sa niiy-ncN nntt:^; by hy^i ; nby icn m7:an "»^riiD-rN bN r">33
123b 5n iD3>iT inb^^ Nin— iiir»! cnrin i^^üt:!"! liinn ar ^b>' ricT^nn
: -i^Liprib nNT72ri-br b^T bNiiij->
Textlich ist dieser Bericht in üblem Zustande: darauf
weisen schon die vier von altjüdischen Textkritikern eingescho-
benen Pesik und die Berichtigung des nnbtt durch das Kere
lab»; das zeigen stilistische Unebenheiten wie die dreimalige
Wiederkehr der Wendungen niayn^N und nntttlri-b:? by^"). Die
Urform der Stelle wird wohl bedeutend kürzer gelautet haben,
etwa folgenderweise:
bN-n^na nb3>-"i^N nST^rrb:» bs^^i rtiirfn -icx ans :;n crn'ni ^^-^t
: bkSnbi
„Da veranstaltete Jeroboam ein (Laubhütten-) Fest, wie
es in Juda gefeiert wurde, und stieg zum Schlachtaltar hinauf, den
er in Bethel errichtet hatte, am 15. Tage des 8. Monats, eines
Monats, den er von sich aus neu eingesetzt^ hatte,
und veranstaltete den Israeliten das Fest."
' fifia wird besser mit arab. bada'a, badaja ,schaffeu' ,ueu machei
zu vergleichen sein als mit syr. badä ,erlügen'.
Das Alter des israelitischen Versöhntmgstages 135
Über das, was diese Stelle aussagt — einerlei ob man sie
iu der überlieferten oder der korrigierten Fassung nimmt —
sind die Exegeten verschiedener Meinung. So lesen Benzinger
und Kittel in ihren Handkommentaren zu den Königsbüchem
— jener mit Sicherheit, dieser mit Wahrscheinlichkeit —
heraus, daß in Juda bzw. Jerusalem vor der Zeit Jeroboams
ier Termin für das Laubhüttenfest der 15. VIIl. gewesen
sei, und daß dieser Termin unter jenem Könige auch für
das Nordreich für maßgebend erklärt worden sei. Hier-
gegen hat E. König (ZDMG 1906, 638) betont, daß es
dem Autor nicht darum zu tun gewesen wäre, das jerusa-
lemische Fest als auf den 15. VIIL fallend zu konstatieren,
sondern festzustellen, das Fest sei im Nordreiche von Jeroboam
auf einen neuen Termin, den 15. VIIL, verlegt. Bei dieser
Interpretation, die ich für die richtige halte, fragt es sich,
was für eine Bewandtnis es mit diesem 8. Monat habe, den
Jeroboam „von sich aus neu eingesetzt^'. Ich glaube, es kann
sich dabei nur um einen Schaltraonat handeln. Wie es in
Babylonien in der Kompetenz der Könige lag, nötigenfalls
einen Schaltmonat in das Jahr einzusetzen (vgl. Brief 4 des
Hamraurabi an Siniddinam bezüglich Einschaltung eines Monats
hinter dem Ulul oder 6. Monat), so wird auch Jeroboam, der viel-
leicht bei seinem Aufenthalt in Ägypten einer Unregelmäßig-
keit in der Jahresrechnung Israels inne geworden war, sich das
Recht genommen haben, einen Schaltmonat einzufügen, vermutlich
einen zweiten Adar, da in der älteren Königszeit wohl der
Herbst Jahresanfang bedeutete. Seit dieser Schaltung fiel nach
der Anschauung der Judäer, für welche die Neuerung Jeroboams
nicht maßgebend war, das Laubhüttenfest des Nordreiches in
den 2. Monat — bzw. nach Einführung des Frühlingstermins
für Neujahr — in den achten.
Aus dem Schalten des Jeroboam läßt sich nicht ohne
weiteres entnehmen, ob in Israel die Jahresregulierung eine
nur gelegentliche oder eine regelmäßig wiederkehrende war.
136 Hubert Grimme
Aber mit Hilfe eines anderen biblischen Bericbtes kommt man
dazu, letzteres für wahrscheinlicher zu halten und zugleich
darzutun, daß sich das Südreich vom Nordreich bezüglich der
regelmäßigen Schaltung nicht unterschieden habe.
In 2 Chronik. Kap. 30 wird berichtet, König Hiskia habe
nach Beratung mit den Obersten unter Zustimmung der Volks-
gemeinde beschlossen, das Passahfest statt im ersten Monat erst im
zweiten zu feiern. Daraufhin seien Boten wie durch Juda so
auch durch Israel, speziell auch zu den Stämmen Ephraim und
Manasse, gesandt, um zur Teilnahme an diesem Passah ein-
zuladen. Die große Mehrzahl der Nordisraeliten habe jedoch
die Einladung höhnisch abgewiesen, so daß die Festfeier nur
unter Assistenz von Jadäern und einigen wenigen Gästen aus
Asser, Manasse und Zebuion vor sich gegangen wäre.
Hiskia muß sehr triftige Gründe gehabt haben, um das
traditionell auf den 14. I. fallende Passahfest einen Monat
später zu feiern. Jedenfalls waren es andere als die, welche
die Chronik ihm unterlegt. Da das mosaische Gesetz (Num.
9, 6 ff.) die Möglichkeit einer Passahfeier am 14. II. vorsah,
nämlich für solche, die wegen Verunreinigung durch eine Leiche
oder wegen einer weiten Reise den regelmäßigen Passahtermin
nicht innehalten konnten, so möchte der Chronist — oder eher
noch ein Interpolator — den späten Termin des Passahs des
Hiskia damit erklären, daß die Priester vorher nicht mit ihrer
Heiligung fertig geworden seien und noch nicht genügend Volk in
Jerusalem zugegen gewesen wäre. Aber diese Gründe erklären nicht
die großen und offenbar wohlüberlegten Vorkehrungen, die für
das Fest seitens des Hofes getroffen waren. Ein Blick auf die
damalige Zeit und Zeitlage gibt uns den Schlüssel zur richtigen
Beurteilung der auffälligen Maßnahme. Sie ist frühestens im
7. Jahre des Hiskia erfolgt — ob auch die Chronik den Bericht
darüber unmittelbar auf die Erzählung von kultischen Reformen
aus dem 1. Jahre des Königs folgen läßt — : das geht aufs
deutlichste aus den Werbereden hervor, womit die Boten des
Das Alter des israelitischen Versöhnungstages 137
Königs an die Nordstämme herantraten: ,.lhr Israeliten, bekehrt
euch zu Jahwe, dem Gott Abrahams, Isaaks und Israels, damit
er sich den Entronnenen zukehre, die euch aus der Gewalt
der Könige vor Assyrien noch übrig geblieben sind, usw."
Hiernach war die große Katastrophe über das Xordreich schon
hereingebrochen, die nach 2 Kg. 10,10 im 6. Jahre des Hiskia
erfolgte. Dadurch waren die Nordstämme ihrer Heiligtümer
und Kultbehörden verlustig gegangen, und es war für sie jetzt
eine brennende Frage, von welcher Seite sie dafür Ersatz be-
kommen würden. Was lag da für Hiskia näher, als den Ver-
such zu machen, jene zu bewegen, sich den Jerusalem ischen
Tempel als geistlichen Mittelpunkt zu wählen? Nun wäre aber
ein solcher Versuch ohne Konzessionen an die religiöse Eigen-
art der Nordstämme von vornherein aussichtslos gewesen; so
nehme ich an, daß Hiskia gewillt war, das israelitische Jahr
und damit den Festkalender Saraarias für Jerusalem zu akzep-
tieren. Das Signal dazu sollte die Feier von Passah im zweiten
Monat sein, der der Monat des israelitischen Passahfestes war,
da ja — wie oben gezeigt — das israelitische Laubhüttenfest
in den (judäischen) 8. Monat fiel. Trotz dieses Entgegen-
kommens erreichte der kluge König nicht das Angestrebte. Zum
Spott, den sein Anerbieten bei den Nordstämmen, die seine
Politik durchschauen mochten, hervorrief, scheint er von selten
der strenggläubigen Judäer noch den Vorwurf der Gottlosigkeit
geemtet zu haben, wie aus der bösen Note zu schließen ist,
die er in der Mischna bekommt (Traktat Pesachim 4): weil er
..einen Nisan im Nisan einschaltete" (ic:: ic; 2-jr). Es ist
wahrscheinlich, daß Hiskia nach seinem Mißerfolg den Gedanken,
das israelitische Jahr in Juda einzuführen, fallen gelassen
habe; jedenfalls entsprach unter Josia (vgl. 2 Chronik. 35, i) der
Passahtermin wieder den alten Bedincmnffen.
o o
Wenn nun nach dem vorhergehenden das judäische Jahr
von dem israelitischen sich nur dadurch unterschied, daß es um
einen Monat später begann als jenes, und das Schalten des
138 Hubert Grimme
Jeroboam diese Differenz bewirkt hatte, so muß in den 200 Jahren
zwischen Jeroboam und Hiskia das Mondjahr des Nord- und
Südreiches nach dem gleichen Schaltprinzip reguliert worden
sein. Es war dies wohl ein dreijähriger Zyklus: das schließe
ich aus dem Termin des gesetzlichen Versöhnungstages, wobei
ich im Gegen satze zu Wellhausen ihn samt den Terminen aller
jüdischen Feste als etwas im Wesen der Feste Begründetes ansehe.
Nach Lev. 16,29; 23,27; Num. 29,7 ist der 10. VII. der Tag
der Versöhnungsfeier. Wellhausen (Prol. 105) hat auf den
Neujahrscharakter dieses Tages hingewiesen, da auch das Jobel-
jahr am 10. VII. seinen Anfang nähme, und fügt daran die
Vermutung, während des Exils sei Neujahr noch am 10. VII.
in der jüdischen Gemeinde gefeiert worden. Daran anschließend
erklärt Bertholet (Komm, zu Lev. 16) es für undenkbar, daß,
wenn zwei Neujahrstermine — einer 1. VII, der andere
10. YiL — überliefert seien, der letztere auffälligere nicht auch
der ältere sei. Dieser Schluß ist übereilt. Zwei Neujahrs-
termine können recht wohl neben einander bestanden haben,
unter der Voraussetzung, daß in der Rechnung Gottes das Jahr
anders begrenzt sei als in der Rechnung der Menschen. Im
bürgerlichen Leben erwies es sich als praktisch, die Differenz
zwischen dem zwölfmaligen Mondumlauf und dem einmaligen
(scheinbaren) Sonnenumlauf erst dann zur Jahreslänge hinzu-
zufügen, wenn sie die Länge von einem Monate erreicht hatte,
d. h. in der Regel nach je drei Jahren; dabei fiel das bürger-
liche Neujahr stets auf den ersten eines Mondmonats. Aber
das Jahr, nach welchem Gott rechnete, wenn er das Fazit der
Jahressünden der Menschheit zog, konnte nicht ein künstlich
zurechtgemachtes sein; es mußte in seiner Länge den natür-
lichen Bedingungen entsprechen, war somit erst nach Verlauf von
12 Monaten und der zwischen 9 und 10 Tagen schwankenden
Differenz zu Ende. Dann fiel aber das göttliche Neujahr
auf den 10. VII., den Tag der gesetzlichen Sühnfeier, und diese
bedeutete somit die Neujahrsfeier Gottes.
Das Alter des israelitischen Versöhnungstages 2.39
Aber indem man Gott größere Konsequenz in der Jahres-
begrenzung zuschrieb, als im bürgerlichen Leben nötig war,
konnte sein Neujahrstermin nicht immer auf den 10. VII. fallen;
er mußte vielmehr ein wandernder sein, der innerhalb dreier
bürgerlichen Jahre, von denen das dritte ein Schaltjahr war,
der Ileihe nach auf den 10. VII., 20. VII. und 1. \^I. fiel. Läßt
sich für ein solches Wandern des Versöhnungstages ein biblisches
Zeugnis beibringen?
Als ein solches betrachte ich die Nachricht Neh. 9 über
den von der jüdischen Gemeinde unter Ezra abgehaltenen Fast-
und Bußtag. Man ist darüber einig, daß er als Versöhnungs-
tag genommen werden könnte, falls sein Termin es zuließe.
Nun stimmt aber m. E. dieser zu den oben entwickelten Vor-
bedingungen für das göttliche Neujahr. Man nehme an, es
liege hier der zweite der wandernden Neujahrstermine vor: dann
konnte von Seiten der Gemeinde vermutlich erst am 24. VII.
der Neujahrssühnakt verrichtet werden. Am 20. VII. hinderte
die Feier des Laubhüttenfestes dessen Abhaltuncr; desgleichen
an den weiteren zwei Tagen. Weshalb der nun folgende 23. VII.
nicht zum Fasttag taugte, geht zwar aus der Bibel nicht
hervor, wohl aber aus der späteren jüdischen Praxis. Ihr ist der
23. der Tag des eigenartigen Festes Simchath»Thora, das eine Art
von religiösem Bacchanal vorstellt. Man bezeichnet es als eine
rabbinische Einrichtung, aus keinem anderen Grunde, als weil
überhaupt keine Zeugnisse über seine Entstehung vorliegen.
Nachdem sich mir aber in meiner Studie über das israelitische
Pfingstfest (S. 103 f.) herausgestellt, daß segar der Halbfeiertag
Lag Beomer (d. i. der 33. Tag nach Ostern), eine angeblich
rabbinische Einrichtung, altorientalischen Ursprungs ist, halte
ich es nicht für zu gewagt, auch Simchath-Thora für ein
aus gutbiblischer Zeit stammendes Fest zu nehmen, das, weü
nicht ersten Ranges, in der Thora unerwähnt gelassen wurde,
auch nicht wie die vier oben erwähnten nationalen Fasttage
eine zufällige Erwähnung in der Bibel erfahren hat, aber schon
140 Hubert Grimme
durch sein gar nicht zu mittelalterlichen Kulteinrichtungen
passendes Wesen sich als alt ausweist. War nun der 23. VII.
durch eine Art Simchath-Thora- Feier besetzt, so konnte die
jüdische Gemeinde erst am 24. VII. das göttliche Neujahr in
ernster Weise mitfeiern.
Hiermit stehen wir am Endpunkte des Beweises, daß der
Bericht über die Kultreform des Ezra nicht gegen, sondern für
die Annahme eines hohen Alters des Versöhnungstages spricht.
Zwar konnte ich nur Indizien für meine These vorbringen,
aber solche in geschlossener Kette. Sollte ein derartiger Indi-
zienbeweis weniger wiegen als der Beweis e silentio, auf den
gestützt Wellhausen behauptet, daß von einer Versöhnungs-
feier vor Ezra nicht die Rede sein könne?
Nachdem so die Schranke entfernt ist, die die Forschung
bewog, die Entwicklung der Versöhnungsfeier in nachexilische
Zeit zu verlegen, eröffnet sich im Hinblick auf das Ritual der
Feier die Möglichkeit, diese dem ältesten Bestände des Gesetzes
zuzurechnen, ja, sie mit der Werdezeit des Volkes Israel in
Verbindung zu bringen. Dabei habe ich vor allem die Azazel-
zeremonie im Auge. Diese enthält in dem Zuge, daß die
Sünden der Gemeinde einem Ziegenbocke aufgehalst werden,
der sie zu Azazel in die Steppe zu tragen hat, die Anerkennung
eines im Gegensatz zu Jahwe stehenden dämonischen Prinzips,
wie es der strenge Jahwismus des Deuteronomisten und der
Propheten als bedenklich empfinden mußte. Konnte Azazel doch
nicht wie etwa die ein Kapitel später (Lev. 17, 7) genannten
an"'5>b als nur in der Vorstellung der Heiden existierend ge-
nommen werden! Hier haben wir unstreitig einen höchst alter-
tümlichen Zug des Gesetzes vor uns, nicht etwa einen „archa-
istischen Aufputz", wozu ihn die Exegese seit Wellhausen gerne
machen möchte. Man lasse den Azazel aus dem Gesetzes-
texte, und etwas ganz Wesentliches, das Mittel, die Sünden der
Gemeinde samt ihren Nachwirkungen aus der Welt zu schaffen^
fiele weg; der Sühnakt wäre ohne Abschluß.
Das Alter des israelitischen Versöhnungstages 141
Azazel erweist sich aber auch durch seine Namensform
als ein nur in die Frühzeit Israels passender Dämon. Von den
zahlreichen Deutungen, die dieser Name von Septuaginta und
Hieronymus an bis auf die neueste Zeit erfahren hat, halte ich
keine für richtig. Den Kern des Wortes bildet nicht die
Wurzel T7r 'stark sein' oder bir 'entfernen', sondern diejenige,
die in äthiopischem g"ezäg"ez 'zottiges Yließ' vorliegt. Diese,
auf ciserythräischem Sprachgebiete zu t?77 umgewandelt, ergab
mit der Endung -el (die wahrscheinlich Deminutivbedeutung
hat) '1?,!?. d. i. 'der kleine Haarige', ein Wort, das synonym
mit koranischem :jifrit (von der Wurzel Jafara = amharisch
g"afara 'dichthaarig sein' mit der südarab. Nisbeendung -it)
und anderen arabischen Feldteufelnamen wie anch mit dem
hehr. (D)'r':nD ist Wenn es in der Bibel die Schreibung ^^J^.
aufweist, so liegt darin der Beweis, daß es von aramäischer
Seite den Israeliten zugeführt worden ist; duldet doch das Ara-
mäische in der Regel nicht das Vorhandensein von zwei Ajin in
einer Wurzel, wovon eines meist zu Aleph geschwächt wird.
Mit Aramäern sind die Israeliten hauptsächlich zu zwei Zeiten
zusammengekommen: während des Exils und in der Zeit des
Zusammenlebens mit den Ismaeliten, d. h. arabischen Aramäern,
vor der Eroberung des gelobten Landes. Aramaismen, wie sie
das Exil den Juden zuführte, sind bisher im Pentateuch nicht
nachgewiesen: so ist auch der b'H'y wohl kein Überbleibsel aus
dieser Periode. Dann bleibt fast keine Wahl, als das Urbild des
Azazel in der nordwestarabischen Steppe zu suchen. Daß hier
in sehr alter Zeit der Begriff von haarigen Dämonen lebte,
entnehme ich aus der beistehend reproduzierten Figur, die
nach Euting in el-Oela in mehrfacher Wiederholung rechts
und links von Minäergräbem in den Felsen eingemeißelt ist,
Sie mit Euting als 'Mumienbild' oder (nach privater Mit-
teilung) als stilisierten Löwen zu nehmen, möchte ich nicht
befürworten; dafür ist besonders der Kopf zu fratzenhaft ge-
bildet.
142 Hubert Grimme Das Älter des israelitischen Versöhnungstages
Abb. 1. Bämonenbild aus el-Oela.
(Aus: D.H.Müller, Epigraphische Uenkmäler
aus Arabien, Tafel VII, links.)
Meine Untersucliung hat
zu dem Ergebnisse geführt,
daß die Feier des israeliti-
schen Versöhnungstages An-
spruch darauf erheben kann,
als ein alter Bestandteil des
Gesetzes genommen zu wer-
den, So wird auch die Fünfer-
liste der israelitischen Feste,
wie sie Leviticus und Numeri
enthalten, gegenüber der
Dreierliste von Deuterono-
mium nicht zu einer jungen
Aufstellung, weil sie den
Versöhnungstag mitaufführt.
Endlich ist meine Aufstellung,
^1-p N"ip7a bedeute „Versamm-
lung der Heiligen'^, von dieser Seite nicht zu widerlegen.
Bleitafelu aus Münclmer Sammlungen
Von A. Abt in Offenbach a, M.
Mit einer Abbildung
1. Mit der Amdtschen Sammlung ist auch ein 14,5:11 cm
großes, rechteckiges Bleiplättchen in das Antiquarium in München
gelangt.^ Die eine Seite (rt) ist in 7 Zeilen zur guten Hälfte,
die andere (6) in 17 Zeilen vollständig beschrieben. Nach
Fertigstellung des Textes ist die Tafel dreimal vertikal zur
Schriftrichtung gefaltet und mit einem starken Nagel durch-
bohrt worden, der auf Seite a die Zeilen 6' und 7^, auf Seite h
die Zeilen 9^ und 10^ getroffen und verletzt hat. Außerdem
ist dann beim Auseinanderfalten die Tafel durchgebrochen,
doch passen die beiden Teile genau aneinander.
Auf Seite a steht:
Kaiabriu) TTdvqpiXov Kai
eXTTibac Tcic TTavqpiXou d-
TTttcac Ktti ^pTaciac dTtdcac,
GouKXeibriv, eXiribac
6 idc 9ouKXeibou, Cupoc
Ktti Trapatriiici . . ciric
cu br] 'Hpjifj Ka(i)T0xr|
* Es trägt die Nummer A 769. Durch die Freundlichkeit Dr.
J. Sievekings haben mir alle hier besprochenen Stücke im Original vor-
gfelegen.
* Beschädigt: das a von koi, das zweite a von Trapa.
' Beschädigt: das erste H von Hpjari, wobei aber sicher bleibt, daß
es kein G war; die Haste des folgenden P; das i von KaiT0xr|.
* tu von "fuvaiKüüv fast völlig verloren.
* Obere Teüe des ai von kui beschädigt.
144 A. Abt
Diesen Text verzeichnet Audollent^ als den einer tabula infra
mutila nach Ziebarth.^ Dessen Text geht auf eine Abschrift
zurück, die Wolters 1895 im athenischen Institut nahm, ehe
die dort zum Kauf angebotene Tafel wieder im Handel ver-
schwand. Ziebarths Lesung wird durch das Arndtsche Original
an zwei Stellen berichtigt:
Zeile 3 steht deutlich epYaciac a-rracac, nicht Tiacac, und
Zeile 5 an Stelle des -rrpoc der Wolters'schen Abschrift sicher
Cupoc, also ein Eigenname, der die Annahme einer Lücke im
Text unnötig macht. Wir erkennen als Träger einen Sklaven^
der nach seiner Heimat heißt ^ und in die Sphäre unserer Tafeln
wohl paßt, wo schon ein Syriskos genannt wird.^ Unser Syros
kann, wenn man einen Konstruktionsfehler annimmt^, ein Ver-
fluchter, kann aber auch der Verfluchende sein, der sich nicht
ganz selten nennt, so unklug dieses Verfahren auch sein mochte,
wenn man die Möglichkeit der Entdeckung und eines Gegen-
zaubers bedachte."
* defixionum tabellae, Paris 1904, Nr. 73, S. 101.
* Neue attische Fluchtafeln, Göttinger Nachrichten, phil.-hist. Klasse
1899 S. 117 f. Nr. 19, dazu Wünsch, Rhein. Mus. LV (1900) S. 62ff.
' Fick-Bechtel, griech. Personennamen* S. 338, 345. Wünsch, def.
tob. att. 24b 2, 8 4; I. Gr. II 969c i6, 988 6, 1328, 4141, 4142 [add.
834b I 70], [add. 834 b II 5], [add. 834c 23]; Menander, Georgos v. 39
(Kretschmar, de Men. reliquiis p. 9) ; Plautus Cist. : Syra lena, Merc. : Syra
atius; der Syrus servus bei Terenz (Menander) Heaut. Adelph., eine Syra
anus in der Hec, Hör. Sat. I 6, 38, Lucian Toxaris 28: olK^rric yctp oOtoö
COpoc Kai Toüvoiua Kai rriv Traxpiba; K. Schmidt, Griech. Personennamen
bei Plautus, Hermes 37, S. 210. — Andere Sklavennamen nach Ländern:
Fick-Bechtel S. 332ff.; Wünsch, def. tob. att. 14 2, 16 2, 67a 4, 68a 9, b ii,
72 1, 141a 1; Audollent, def. tab. 8öb.
* Zugehörige Tafel bei Audollent, Nr. 70 Zeile 4; vgl. Menander,
Epitrepontes 21.
* Bei Wünsch {def. tab. att) 103 a 6, 141a i liegt er tatsächlich vor.
® Audollent, praefatio XLV adnot. 1 — 3. Verschreibung für Cüpou
ist wohl ausgeschlossen, da auch bei Audollent 72 4 keine Herkunft des
Thukleides angegeben ist, Verschreibung am Anfang des Wortes wird
man ohne zwingende Gründe nicht annehmen. Von dem CupicKoc bei
Audollent 70 4 ist unser COpoc jedenfalls zu scheiden, wenn auch der
Nominativ für den Akkusativ stehen sollte.
Bleitafeln aus Münchner Sammlungen 145
Zeile 6: Das i von Kai ist vorhanden Hinter xriuci zwei
Ritzlinien, sicher keine Buchstabenteile. ^ Vom vorletzten Buch-
staben der Zeile ist die rechte Hasta im Bruch untergegangen,
der Mittelstrich setzt so tief an der linken an und läuft so
flach, daß H ebensogut möglich ist als N. In der Lücke haben
höchstens 2 Buchstaben Platz, die Deutung des Buchstaben-
komplexes bleibt unsicher.*
Zeile 7: Die Lesung Hpuri ist sicher^, dazu vergleiche
man die Schreibung HKairi auf Seite b Zeile 13 und in unserer
Zeile das br\, das nach einigen Analogien gleich be ist.* Bei
KaiTOxn halte ich das am oberen Ende verletzte i für ein an-
gefangenes T, das dem a zu nahe kam und durch ein anderes
ersetzt wurde, so daß kotoxh gleich Kdroxe zu lesen ist.
Die Seite b enthält folgende Verfluchung:
Kaxabriuj 'QqpiXiujva
Kai 'QqpiXinri kui "OXuMTrov
Ktti TTicTiav Kttl Mdfabiv
Ktti TTpÖTov Ktti Kotbov, 0ou-
6 KXeibriv Kai MeXava Kai
Küü|aov
Ka\ Baxiba kui Kittov.
TOÜTUiV TUJV CtvbpUJV Kai
TuvaiKÜJV Ktti eXiTibac
10 Ktti Trapd Geuüv Kai TTa(p') fipiu-
' Ebenso kann ein die Hasta vor ci im unteren Drittel schräg durch-
ziehender Strich kein Buchstabenteil sein, eher ein Tilgungsstrich.
* irapä Tfi[TT€p]ci(q)ö)[vrii] Kaibel; irapä <T)>»*|[puj]ecciv<c> oder napa-
Tripiiciv oder -rrapä Tfji 'lci(&)i Wünsch, der auch die Möglichkeit in Betracht
sieht, daß 6 nach Zeile 7 zu lesen sei und das fehlende Verbum enthalte.
' Vgl. S. 147 Anm. 2.
* Wünsch, def. tob. att. 90a 4 cü bi kötoxoc fivou; 109. i f. u|ueic
hk cpiXm TTpaEiöiKai Karexere aür ö)v koi '6p]uf| Kdroxe; Pap. Paris, ed.
Wesaely 1418 ir^ian^ov b"6pivöv, 1821 6öc bi noi udcrjc H;uxnc üixoraTriv,
2787 eu^evlrl b' ^rrdKOucov. W. Rabehl de sermone defix. Att., Diss. Berlin
1906 S. 10 u. 21. Für br\ kann ich nur pap. Par. 445 = 1966 anführen:
Kai bi] vöv XiTo^xai ce iiidKap.
ArchiT f. Religionswisaenschaft X IV JQ
146 A. Abt
ujv Ktti epYCtciac fiirdcac
Ktti irpoc TÖv '€p)nfiv TÖV
KotTouxov Ktti Trpöc Tfi(v) 'H-
KotTriv Kai TTpoc Triv rfj Kai
15 xfiv fev
Trpöc 0eouc ä-rravTac
KOI iLieiepa öeujv. *
Auch diese Seite schenkt uns eine verschollene Defixion
wieder^, es fallen also die seit Ziebarths Veröffentlichung als
zwei Tafeln geführten Texte in eine doppelseitig beschriebene
zusammen, die nach 1895 jedenfalls aus dem athenischen
Kunsthandel in Arndts Besitz gelangte. Zum Texte ist dies
zu bemerken:
Zeile 2 konnte die Lesung OXujlittuuv dadurch entstehen^
daß dem Schreiber beim Ritzen des 0, das er immer aus zwei
Halbkreisen zusammensetzt, der Griffel nach rechts ausglitt,
wodurch ein scheinbarer Anstrich zu einem Q entstand.^
Zeile 3: Der wagerechte Strich des A in Mayaöiv ist deut-
lich, das N war zuerst dicht am i vom Schreiber vorgezeichnet,
dann ist es durch ein stärker eingeritztes in weiterem Abstand
ersetzt,^
Zeile 8 ist uu nicht kleiner zwischen seine Nachbarn gestellt*,
sondern die Zeile zieht sich von hier ab (wie 7 von ba ab) nach
oben, um den hinter Kuj|liov (6) gebliebenen Raum zu füllen.
Zeile 11: Tirracac ist sicher.^
Zeile 13: Das angebliche i von Kaiouxiov" ist eine ganz
dünn eingeritzte Linie ^, die der Schreiber außerdem mit einem
' Audollent Nr. 72.
* Die Hochstellung der Silbe Xi in QqpiXiiar] ist bei Ziebarth wohl
Satzfehler, das Original gibt keinen Anlaß dazu.
•'' Spuren einer Vorzeichnung der Buchstaben in dünneren Linien
weist Seite b noch mehrfach auf. * So der Druck bei Ziebarth.
* Angezweifelt von Wünsch, Berl. phil. Wochenschr. 1907 Sp. 1677.
" Die Lesung ist auch in Meisterhans-Schwyzers Grammatik d att.
Inschr." p. 115. 1068 übergegangen. ^ Vgl. Anm. 3.
Bleitafeln aus Münchner Sammlangen 147
Strich des 0 durchstreicht. Man wird kotouxov zu lesen
haben.* Bei rrpöc ttii war p zunächst vergessen, ein vorgezeich-
netes 0 wird von ihm mitten durchstrichen Die Hasta nach
Tri ist ein angefangenes N, von dem folgenden H ist sie durch
einen ziemlichen Zwischenraum getrennt.*
Zeile 14: Bei K von KAI am Zeilenschluß folgt der Bruch
dem Zug der beiden schrägen Striche, Ziebarths Lesung lai
beweist demnach, daß die Tafel 1895 schon zerbrochen war,
denn nur beim Zusammenlegen der Hälften wird der Buch-
stabe klar.^
Zeile 16: Von Beouc^ an biegt die Zeile nach oben aus, bei
der Silbe rrav ist sie so hoch geführt, daß die Worte niv rfj
(^Zeile 14) getroffen und durchschnitten werden. Der Schreiber
hat offenbar rfiv rf\ als falsch empfunden, es nochmals ge-
schrieben und dann die beanstandeten Worte dadurch getilgt,
daß er die nächste Zeile in sie übergreifen ließ^
Als Haupttext hat der Schreiber b angesehen, der auch
an Fluchgottheiten und Verfluchten reicher ist. Er hat dafür
gesorgt — die Richtung der Faltungen und der vom Nagel
mit nach innen gerissenen Lochränder zeigt es — , daß diese Seite
geschützt nach innen lag. Den Text a faßt Wünsch wohl mit
Recht als Nachtrag, die Verschiedenheit der Fluchgötter und
Defigierten auf a und b macht die Auffassung von a als erstem
Entwurf trotz des unvollständigen Textes wenig wahrscheinlich.
' Für OY = 0 hat Rabehl S. 10 kein Beispiel, nur für o = ou.
* Für HKarri vgl. oben S. 145 Anm. 4; auf Seite b noch Z. 14 u. 15
Triv rfj neben tt^v fev und 'Cpjanv Z. 12 gegenüber 'Hpuf) a 7.
' Reste beabsichtigter, aber aufgegebener Buchstaben in Z. 14: vor
dem K des ersten koi eine Hasta, unter dem i ein o, vor irpoc ein p oder t.
* Das 0, das Ziebarth klein druckt, hat die reguläre Höhe, unter
dem u das ursprünglich fdlschHch verdoppelte o, innerhalb des tt von
airavTac gleichfalls ein vorgezogener Buchstabe (a?).
^ Die Absicht der Tilgung ist besonders klar bei dem v von airovrac,
das unnatürlich breit geschrieben ist, damit seine Hasten die Zeichen
V und Y der Worte xriv -pi treffen. Auch Z. 17 wird so durch den linken
Anstrich des Q eine vorgeritzte Senkrechte durchschnitten und getilgt.
10*
148 A. Abt
Vom religions wissenschaftlichen Standpunkt aus bietet
unsere Tafel zwei Besonderheiten, die Erwähnung der eXTiibec
Kai TTapd OeuJv Kai nap' fipuuuuv, die Wünsch als Jenseitshoff-
nungen erklärt hat^, und dann das Auftreten der Göttermutter
als Fluchgottheit. Vielleicht kann man an diesem letzten
Punkte auch noch etwas weiter kommen. An der attischen
Herkunft unserer Tafeln ist wohl kein Zweifel, und in Attika
bestand neben dem Staatskult der Mrixrip der Verband der
Orgeonen der Mr|Trip jueTOtXri im Peiraieus, der sich zum großen
Teil aus Leuten der untersten Schichten zusammensetzte^, und
den wir aus seinen Inschriften seit dem 4. Jahrh. v. Chr.
kennen.^ Dieser Kultrerein nun hatte religiöse Beziehungen
zur Qeä Cupia, er hat unter dem Archon Herakleitos (1. Jahrh.)
eine Ehrung beschlossen für Nikasis aus Korinth, weil sie in
ihrer Eigenschaft als Priesterin der Cupia 'Aqppobixri dieser im
Namen der Orgeonen Opfer dargebracht hatte.* Das ist ver-
ständlich, denn einmal hat die syrische Göttin ebenfalls ihre
Gemeinde im Peiraieus ^ und dann glichen sich die phrygische
Göttermutter und die syrische Atargatis in Wesen ^ und Dar-
> Rh. Mus. LV (1900) a. a. 0.
* P. Foucart, les associations religieuses p. 159 ff.
* Die Belege bei E. Ziebarth, Das griech. Vereinswesen S. 36, das
ältere Material auch bei Foucart, a.a.O. p. 85, 98ff, 197 ff.
' I. Gr. II 627.
^ Die ^VTTopoi Ol KiTiek erhalten 333/2 das Recht, Land für ein
Heiligtum ihrer 'Aqppobixri im Piräus zu erwerben (I. Gr. II i 168)
Maass, Orpheus S. 74 nimmt an, dieser Tempel sei nicht gleich gebaut
worden, und bis dahin habe dieser Kult im Metroon der Orgeonen ein
Unterkommen gefunden. Ein hinreichender Grund für diese Hypothese
besteht nicht, so bestechend sie gerade für unsern Fall auch ist. Ein
eigner Tempel wird freilich in den Inschriften der Salaminier (I. Gr. II 5,
616 c; vgl. 611b) nicht erwähnt.
* Luc. de dea Syria 15 ?cti U koI äXXoc Xötoc iepöc . . . öti i^ m^v
Qeä 'P^n kriv; Hesych s. v. Kußnßn; 0. Gruppe, Gr. Mythol. u. Relgesch.
IL 1629. L', 1586.8; WisBOwa, Rel. u. Kult. d. Römer S. 300ff.; Ziebartb,
Vereinsw. 203.
Bleitafeln ans Münchner Sammlungen 149
Stellungen^ so stark, daß man sie in späterer Zeit als gleich
empfand*; vielleicht liegt wirklich eine alte Beeinflussung zu-
ffrunde, die beide Kulte aufeinander übten.' Unsere Tafel nun
stammt, wie die dionysischen Namen der Verfluchten zeigen,
aus den Kreisen der Thiasoi und betrifft die unterste Schicht
ihrer Angehörigen, Sklaven. Ein Sklave ist auch der Cupoc,
und dieser oder einer seiner Genossen ruft die Mnxrip 0ۆJv an.
Der Schluß liegt nahe, daß dieser Semite des 3. Jahrh. dem
Kultverein der großen Göttermutter angehört habe, weil er in
ihrer Verehrung und ihrer Darstellung die heimische große
Göttin wiederzufinden glaubte. Als dann die Notwendigkeit
an ihn herantrat, in einem Fluch sich an möglichst mächtige
Gottheiten zu wenden, wählte er neben den in seiner zweiten
Heimat geläufigen chthonischen Wesen die große Göttin seines
Geburtslandes, setzte aber den Namen für sie ein, unter dem
sie. wie er meinte, in seiner Bruderschaft verehrt wurde.
' Luc. d. d. Syr. 15 r| Geöc tö iroXXä ^c Petiv ^niKv€€Tai. AeovTcc
Xdp uiv qp^pouciv Kai TÜjiTravov ^x^i Kai ^iti t^ K€(paXrj injpToqpop^ci,
ÖKOiTiv 'P^r|v Auboi iroieouciv. Vgl. abend. 32. Einen schlagenden Beweis
dafür fand Foucart S. 100 in einem att. Relief, das nebeneinander 2 weib-
liche Gottheiten mit den Abzeichen der Kybele darstellt. Da nun aber
Verdoppelung einer Gottheit in der Darstellung nicht selten ist (Usener,
Dreiheit Rh. Mus. LVni (1903) 191 fiF.), so wird man davon absehen
müssen, hier Rhea und die dea Syria abgebildet zu finden. Vgl. jetzt:
G. Radet, Cyb^b^, Bordeaux 1909.
* Auf Delos heißt in der Kaiserzeit Atargatis Mnnip OeOuv: Bull,
de corr. hell. VI. 1882. S. 479 ff. u. Inschr. Nr. 22, 25; auf späteren In-
schriften der att. Orgeonen: Foucart, Inschr. 16, für die aber Maass,
Orpheus 73 die Gleichsetzung der Mr)TTip OeOüv und der 'Aq)po6iTTi be-
streitet. In Brundisium: C. I. L. IX. 6099 L. Pacilius. Taur. Sac. Matr.
Magn. et Suriae Deae; Inschr. des Tribuns M. Caec. Donatianus aus
Carvoran ^3. Jahrh.) C. I. L. VII. 759. 4 eadem mater divutn . . . dea Syria
und die Inschr. eines Bronzesitzbildes der Kybele aus Rom (C. I. L. VI.
80970) Mater Deor. et Mater Syriae. D. S. Vgl. Apul. met. VIU. 25
p. 196. 25; IX. 10. p. 210.5 Helm.
' Hepding, Attis, S. 125, 161f., 217; Gruppe a. a. 0. II. 1586.8.
Vgl. noch J. G. Frazer, Adonis, Attis, Osiris, London 1906. S. 54 ff., 56 i.
80. 81.2.
150
A. Abt
2. Zum alten Bestände des Antiquariums gehören die
folgenden Tafeln 2, 4, 5. Von diesen ist die Defixio 2 (Abb. 1)
eine ungefähr rechteckige Tafel (6 : 4,5 cm) ^, die Oberfläche
ohne Spur von Faltungen, nahe am oberen Rande, ungefähr
in der Mitte ein kleines Loch, das sehr vorsichtig hergestellt
^ sein muß, da bei
heftigerem Durch-
schlagen eines Na-
gels der Rand sicher
zum
eines
Abb. 1
ausgerissen wäre.
Vielleicht hat es
Durchziehen
Fadens ge-
dient, dann wäre
die Tafel aufge-
hängt gewesen und
keine Defixion.
Vorstehende Zeichnung bietet in möglichst treuer Nach-
bildung aus dem Gewirre der Ritzlinien, welche die Tafel be-
decken, nur die, welche sicher zu Buchstaben gehören oder
wenigstens gehören könnten. Das Ergebnis ist trostlos genug.
Buchstaben und Buchstabenteile überschneiden sich, manchmal
läßt sich die Absicht der Tilgung wahrscheinlich machen^,
anderes sieht wie Ligaturen aus^, manche Komplexe wieder-
holen sich.^ Es liegen entweder überhaupt sinnlose eqpecia
Ypa)U)aaTa vor oder ein durch Umstellung und Verkritzelung ab-
* Ohne Inventarnummer; aus Attika.
* Z. 2 tilgt das erste u) den darunter sichtbaren Haken, später b
das e, am Ende steht das große a über aei. Z. 4: Fünftletztes Zeichen
uu von \ durchschnitten; in der Mitte das fe-artige Zeichen über den
Bogen vor p weggezogen.
» Z. B. pc in Z. 1; €T, epa Z. 2; riav Z. 3; vf, auu? Z. 4.
* aiei, bzw. lei Z. 3, 4, 5, vielleicht auch Z. 2 Schluß. Dazu noch
(nach Immisch) die Gruppe rjuvca oder Tuvca Anfang 4 und Ende 5.
0
Bleitafeln aus Münchner Sammlungen 151
sichtlich unleserlich gemachter Zaubertext ^, denn ein unverfäng-
licher Privattext ist es sicher nicht.^ Ignorabüiter Jamminae
litter atae kennen wir aus der feralis officina der Pamphila',
wo es keine Defixionen, sondern wohl qpuXaKxripia xfic TTpd£eujc
sind*, aber mit Bestimmtheit läßt sich hierüber ebensowenig
etwas sagen, als über die Zeitstellung des Stücks, wo nur die
Form des uu auf das 2. Jahrh. n. Chr. wiese, wenn man Formen
der Steininschriften ohne weiteres vergleichen dürfte.*
3. Ähnlich steht es mit Nr. 3 aus Sievekings Privatbesitz.*
Es ist ein unregelmäßig viereckiger Bleifetzen, der bei 4 cm
größter Breite und 8 cm größter Länge durch Brüche in
fünf Felder zerlegt ist, deren erstes von links unbeschrieben
ist, ebenso die linke Hälfte des zweiten. Das fünfte ist ab-
gebrochen, paßt aber genau an.
Am oberen Rande scheint keine Schrift verloren zu sein,
dagegen ist das Stück an der rechten Kante vielleicht auf ihrer
ganzen Länge, sicher an der oberen und unteren Ecke ver-
stümmelt. Man erkennt folgende einigermaßen sichere Züge^:
* capamei glaubt Immisch Z. 4 zu erkennen, in 5 bilden die
Gruppen ei r|v, aiei, -fx] sinnvolle Worte. Aus Z. 5 läßt sich bei ganz
willkürlicher Cmstellung dcl cu2I[u]Tnvai, atcl äxci cu2[rivai gewinnen,
aber ohne jede Gewähr auch nur für "Wahrscheinlichkeit (Mitteilang
Wünschs^.
* Privattext auf Blei: Wilhelm, Jahresheft« d. österr. arch. Inst.
Wien VII (04) 94 ff.
' Apul. met. III. 17 p. 65. 5 Helm.
* Vgl. für solche: Wessely, Denkschr. Acad. Wien, phil.-hist. Kl.
1893 S. 11, pap. Lond. 46, 373 ff. u. 308 ff. Wess.; Wünsch, Zaubergerät
V. Pergamon, Ergänzungsh. 6 des archäol. Jahrbuchs S. 39.
ä Müller, Hdb. I* 536.
® Nähere Herkunftsbezeichnungen fehlen mir.
' Unsicher ist Z. 1 hinter e ein Rest, der etwa zu einem rz gehören,
aber auch zufälliger Kratzer sein könnte. Z. 2 scheint an erster Stelle
nie ein ganzer Buchstabe gestanden zu haben, sichtbar ist heute nur ein
schräger Strich innerhalb der rechten Hälfte des links liegenden ti.
Ebenso scheint zwischen t und cc nie etwas gestanden zu haben; nach
cc unsichere Reste, darunter vielleicht b über dem x] in Z. 3. Z. 3 und 4
sind die 6 nicht sicher, da gerade hier Falten durchgehen, die das Vor-
152
A. Abt
%
TTOCClüTTbe .
^ leGajLiaTCC
3. 'fGcVlCT , . ib . .
■ n
a TGcKaeue . . . ^c.
.
5 KC . oex . Kec .
Weder ein Lesen der Zeichen von hinten nach vorn^ oder
von oben nach unten, noch einfache Umordnungen der Buch-
staben^, noch schließlich Annahme lateinischer Wörter in
griechischen Lettern'^ verhelfen zu einem vernünftigen Sinn.
So muß denn auch zweifelhaft bleiben, ob man den quer
geschriebenen Buchstabenkomplex axi|LiTibri mit xi)Lir| und axi|uoc
zusammenbringen darf. Am ehesten ist unserm Stück noch
die tanagräische Tafel bei AudoUent^ zu vergleichen.
4. Dagegen hilft uns bei Tafel 4 das Lesen von rechts nach
links zum Verständnis des Textes. Es sind zwei Stücke einer
großen Fluchtafel'', nur am linken Ende zusammenpassend.
Das obere (a) mißt am unteren Rand 12, am oberen 4 cm,
die Breite ist an den Rändern je 4, in der Mitte 7 cm, das
untere Stück (&) ist rechteckig 14 : 8 cm. Durch Faltungen
ist die ganze Tafel (a und h) in 16 Felder zerlegt, von denen
12 durch Nagellöcher und Brüche beschädigt sind. Der Text
läuft in sieben Zeilen quer über die Tafel, so zwar, daß a nur
in seiner linken unteren Ecke 12 Buchstaben trägt, von denen
9 zur ersten, 3 zur zweiten Zeile gehören. Der Text, der an
den Schmalseiten unverstümmelt ist, lautet:
handensein der Punkte innerhalb der Kreise ungewiß machen. Zwischen
T und i in Z. 3 kann ich nichts Sicheres erkennen, ebenso zwischen ö
und r). Z. 4 nach e zunächst leerer Raum, dann unmittelbar vor tc wage-
rechter Strich, der zu einem t, c oder e gehören könnte. Z. 5 nach kc
Spuren eines runden Buchstabens (?), zwischen e uud t keinerlei Reste,
nach dem nicht ganz sicheren c am Ende die oberen Anfänge von ai (?),
das andere weggebrochen.
' Vgl. Wünsch, def. tah. att. 112, 123, 177-180, 182.
* Ebenda 77, 85. " Audollent 231, 251, 267 al.
* 82. p. 134. ^ Ohne Inventarnummer.
Bleitafeln aus Münchner Sammlungen 153
PHIAKArPG ATIAKN HTYAAAKQA
IHTYAArePATIAKNHTYAAlMIoK
QAA II ArPG ATIAK N A
TAA NoTYAAhH ^KA
5 Yp TY
APAlKYArAflTAT N ^
KA Y Ar lANe
Das ergibt von rechts nach links gelesen:
bujKXX auTrjV xai id epT« kqi np
Koc)aia(v) aurriv Kai Tct Ipfa auxfic
ä[uTn]v Ktti TCi dpTdcia biu
XkX . . . ryfa auTÖv [K]a(i) xd [epTa . . .
5 [a]uTOÖ
rXuKia
Zur Lesung: Zeile 1 t und e im Bruch größtenteils ver-
loren, doch durch Zeile 2 und 3 gesichert, bei auTf^v ist nf
aus dem ursprünglich doppelt geschriebenen a verbessert, u ist
dann eingeflickt.
Zeile 2: cr|T. Das c steht zur Hälfte auf a, zur anderen
auf &, ist aber vollständig^, r|T dagegen stark beschädigt.
Zeile 3: Das y war vergessen und ist so nachgeholt, daß an
das rechte Ende des Querstriches von a ein kleiner senkrechter
Strich angesetzt wurde, so daß eine Art Ligatur entsteht. Das
V gegen Schluß der Zeile wegen eines hier durchgehenden
Xagelloches, das b wegen der Versinterung der Platte ungewiß.
Auch Zeile 4 und 5 verhindert der Sinter, mehr zu erkennen,
als oben gegeben.^
* Dieser Buchstabe verhalf zur Erkenntnis der Zusammengehörig-
keit beider Teile, die in München als zwei verschiedene Tafeln galten.
* Bei der Umschrift oben ist angenommen, daß ra für ax ver-
schrieben ist, wie Z. 2 aycp für a^pe, doch ist von dem i des iok trotz
Unversehrtheit der Stelle keine Spur da. Da die Zeichen von rechts
unten nach links oben quer über die Tafel laufen, so köimte das oben
an den Schluß von Z. 6 gestellte t zur Not auch zu Z. 5 gehören.
154 A. Abt
Zeile 6: Die Gruppe aTiTax ist von einem Nagelloch stark
mitgenommen, was als ir umschrieben ist, könnte auch ein
mißratenes r] sein, das t auch p, sodaß man herauslesen könnte
Tct rip(T)a r\uKia(c).^
Zeile 7 ist das meiste unsicher, zwischen X und u Baum für
drei, zwischen u und a für zwei Zeichen, y geht mit dem oberen
Querstrich in ein Nagelloch, könnte also auch Teil eines tt sein.
Verflucht werden mindestens^ fünf Personen, drei Frauen,
von denen die Namen Kocjuia und fXuKia kenntlich sind, und
zwei Männer, von denen nur ein Namensrest riya in Zeile 4
erhalten blieb.
Die Namen weisen auf Sklaven-, bzw. Hetärenkreise." Den
Leuten sollen ihre epY« „schief gehen"* — einmal ist dem
' Das Fehlen des y wäre nicht auffällig, der Schreiber hätte die Silbe
Ya versehentlich in der richtigen Reihenfolge hingesetzt und dann das y
als Anfang des Namens benutzt. Auffallend dagegen wäre hier y] für e.
* Wenn man nämlich annimmt, daß Z. 3 Anfang kein neuer Name
weggefallen ist, sondern die Zeile sich auf die 1 und 3 f. genannte Per-
son 5uuk\\ bzw. öuj\k\ bezieht. Oder sollten die X beidemal für a stehen
und Ka(T)abu) zu lesen sein? Bezieht man mit Wünsch das px] am
Schluß von 1 zu öujkW, so wird man zweifellos einen Namen zu er-
kennen haben.
* Auf att. Inschriften nur eine Koc|a[iJÜ] I. Gr. II 3 3874 und ein
Köcnioc III 1, 1115. 7 [III 1, 1004 IL 19.]. Außerhalb Attikas I. Gr. VII.
1162 (Tanagra), IX 2, 1295. 21 (OlooBBOn) und 568.8 (Larisa), in den
beiden letzten Fällen Freigelassene; I. Gr. XIV 1958. 5, 2308 (Tochter
eines Köcjlioc) vgl. I. Gr. ant. 473. Der Name würde zur Klasse B i,
S. 46 bei Bechtel, att. Frauennamen gehören. Zum Schwund des v im
Akkusativ vgl. Audollent 86. a. 2, Rabehl S. 25 ff. Für Glykia vgl. Fick-
Bechtel, griech. Personennamen* S. 86. Eine Freigelassene des Namens:
I. Gr. XIV. 1369. TXuK^pa bei Ziebarth a. a. 0. Nr. 20 = Audollent Nr. 52. 4.
S. 7. I. Gr. II 4, S. 12. I. Gr. II .% 772b B. col. II. 27; 4271b in letz-
tem Fall nur fXu erhalten. Vgl. K. Schmidt, griech. Personennamen bei
Plautus, Herm. 37. S. 191 zu Hedytium. Glycerium mulier bei Teren. Andr.
Pape führt für Glykeia C. I. Gr. II. 3445 b an, für Glykia 3440 (Lydien)
950 (Athen). Für die Form verweist mich Heraeus auf Ligia bei Mart.
X. 90, XII. 7 neben Ligea Verg. Georg IV. 336.
* Diese Erklärung des Rückwärtsschreibens bei Rabehl S. 7; wenn
er aber als Beweis gegen die Absicht, bloß unleserlich zu machen, an-
Bleitafeln aus Münchner Sammlungen 155
Schreiber fi epfacia und rot epT« zusammengeflossen^ — viel
mehr ist der Tafel nicht abzugewinnen, wenn auch eine Nach-
lese am Original wohl noch einen oder andern Buchstaben
hinzuentziffem könnte.
5. Tafel 5' ist ein rechteckiger Bleistreifen (15,5:6), oben
und rechts unvollständig, ohne Nagelspuren. Fünf Zeilen Schrift
sind mehr oder minder vollständig erhalten:
ILievuu i . . [ev]
beiEiv . . . vilui Kttl va . . . .
x\v dTUJvi2l€c6ai iLieXXei ev tiu Maina[KT]
ripiüjvi ^T^vl Kai aÜTÖv eTnKaT0pu[TTu)]
5 . . Kttl TÖC CUVblKOC OUTOO
Zeile 1 und 2 ist bis auf das Angegebene teils durch Sinter,
teils durch Bruch der Tafel vernichtet. Zeile 2 würde [dqpaJviJluj
die Lücke füllen.' Zeile 4 ist pi durch Einsetzen eines Bogens
in die linke obere Ecke eiues ursprünglich geschriebenen ir
hergestellt.
Zeile 5 gibt die Schreibung töc cuvbiKOC einen Anhalts-
punkt für die Zeitbestimmung. Auf Inschriften findet sich o
für ou trotz Eukleides bis zum Ende des 4. Jahrh.*, wesent-
lich später ist unser Stück wohl kaum.
fuhrt, es würde auf ein und derselben Tafel manchmal ein Name erst
von rechts nach links, dann aber richtig geschrieben, so dürfte er zu
wenig mit der Gedankenlosigkeit des Schreibers rechnen, der gerade bei
den weniger geläufigen Eigennamen beim zweitenmal unwillkürlich in
die gewöhnliche Schreibweise verfiel, weil sie leichter war.
' Für ähnliche Kontaminationen: Wünsch, de f. tab. att. 75 a. 2;
Audollent 15. 21, 25; Index VIU A i. Syntactica ß. p. 532. Ipxa und
ipTCicia nebeneinander: Wünsch 69.6; 75b: 137. Audollent 47.5,7;
52. 13/4. 68 A. 6.
* Sie trägt die Inventamummer III. 1146.
' Audollent 49, it (neben kotopOttu; auf einer attischen Tafel).
* Meiaterhans-Schwyzer, Gramm, d. att. Inschr.' 26; Wilhelm, üb.
d. Zeit einiger att. Fluchtaf., Österr. Jahreshefte, Wien 1904 (VU).
S. 106, 107.
156 A. Abt
Der Defixionscharakter ist durch dasVerbum eTTiKaxopuTTeiv*
zweifellos, die Verwendung im Prozeßzauber neben toc cuvöikoc
durch dtTUJViZieceai.^ Sind wir einmal so weit, so ergänzt sich
leicht [ev]bei£iv^, wozu dann t^v als Relatiy gehört.^ Gegen
wen der Fluch gerichtet ist, erfahren wir nicht; eine Ergänzung
von Zeile 1 zu Mevuu[va] ist bei der Unsicherheit des M zu
gewagt und hilft nichts.^ Etwas weiter führt vielleicht die
Erwähnung des Monats Maimakterion. Der Verfluchende muß
bei Abfassung des Textes gewußt haben, daß der Prozeß in
diesem Monat zum Austrag kommen mußte, sonst hatte es
keinen Sinn, den Dämon auf einen bestimmten Termin zu be-
mühen. Nun gibt es in der attischen Prozeßordnung Streit-
sachen, deren Verhandlungstermine dKpißeic Kaict )afiva liegen,
unter Umständen sogar eVluTivoi sein müssen: die der e'iniropoi.
Und diese liegen diro xoö Bor|bpo|uia)Voc juexpi toO Mouvixujuvoc,
^ Der Ausdruck eTTiKaxopÜTTU) aöxöv Kai xöc cuvöikoc, bei dem in
^TTi ein logischer Fehler liegt, weil ja noch niemand „vergraben" ist,
erklärt sich als verkürzt für KaxopÜTTU) auxöv Kai ^TriKaxopOxxu) xöc
CUVÖIKOC. Für öpuxxeiv vgl. S. 165 Anm. 3. Schluß von der an der Tafel
geübten Tätigkeit auf den Zustand des Verfluchten: vgl. Wünsch zu
Ziebarth Nr. 10, 17 a. a. 0., R. Münsterberg, österr. Jahreshefte. VII. 142.
* Luc. Prom. sive Cauc. 4 (vom Verteidiger); vgl. bis accus. 12
(vom Kläger), Lysias irp. Cifji. §20 p. 43. 5, Thalheim (vom Angeklagten)
Aristoph. Eq. 614 (vom Verteidiger).
•' Thalheim bei Pauly-Wissowa V 2, 2651, Meyer-Schoemann-Lipsius,
att. Prozeß I (1883) 270 ff., 286 ff.
* f|v = ^ctv v?äre als jon. Form (Meisterhans- Schwyzer' 266. 1989)
auffällig, anderseits setzt fiv einen Ausdruck gvöeiSiv dYUJviJIeceai vor-
aus, der unbelegbar ist.
* Menones auf Fluchtafeln: Ziebarth a. a. 0. 7. 2, 14, i, 7. (nach
Wünsch, Rh. Mus. LV. 64), letztere Tafel gleichfalls Prozeßfluch gegen
M., Philokydes, Philostratos , Kephisodor und öXXoi. Wünsch, dcf. tab.
att. 95 b. 1,4 ist zeitlich von unserer Tafel zu vreit getrennt (cuvriTÖpouc
gegen cuvöikoc), als daß Gleichheit der beiden Menones anzunehmen
wäre. Der Name ist sehr häufig; von den 22, die in der Prosop. Attica
aufgezählt werden, würde nur 10 086 passen, der 362/1 eine leitende
Stellung bei der athen. Flotte einnimmt und 360 von ApoUodor, Sohn
des Bankiers Pasion, angeklagt wird.
Bleitafela aus ilünchner Sammluagen J57
iva TTapdxprm« tujv biKaiuiv tuxövtcc dvd'fujvTai; man legt die
Handelsgerichtsperiode in die stille Zeit der Seefahrt und urteilt
die einzelnen Klagen rasch ab, um die beteiligten Kaufleute
und Bundesgenossen nicht ohne Not in der günstigen Jahres-
zeit durch Sitzungen aufzuhalten und zu schädigen.' Ursprüng-
lich gehörten die biKai euTiopiKai vor die Xautodiken, die auch
nur in bestimmten Monaten tagten', im 4. Jahrb. ging ihr Amt
in dem der Thesmotheten auf, die auch evbeiEeic annahmen,
auch in Handelssachen.* Können wir so aus der Nennung
eines Wintermonats ^ als Termin mit einiger Wahrscheinlich-
keit auf einen Streit in Handelssachen schließen, so läßt sich
ebenso wahrscheinlich feststellen, daß der eine Streitteil ein
Fremder war. Als in den „Vögeln" einer erklärt, er wolle
gegen Pisthetairos im Munjchion Klage führen, weil er im
Wolkenkuckuksheim — also im Ausland — ungerecht be-
handelt worden sei®, verbessert der Scholiast diese Angabe
mit dem Hinweise, daß nach Philetairos (mittlere Komödie)
Prozesse gegen Fremde in den Maimakterion gehörten, da in
jenes Dichters „Monaten" auf die Frage Tic ecTi Mai^aKtripiujv
geantwortet werde: )nfiv biKdciuoc' Da das Stück )Lifjvec hieß,
so muß der Maimakterion biKdcijaoc in einer ganz speziellen,
» Belege bei [Dem.] geg. Apat. XXXIII, 23, [Dem.] üb. Halon. VII. 12.
Xen. TTÖpoi in. 3; vgl. H.Weber, att. Prozeßrecht in den Seebnndstaaten,
Studien z. Gesch. n. Kultur d. Altert, herausg. v. Drerup I. 5 1908 S. 22,
.j8. I. Gr. I 38. frg. f. 14 (Ol. 89 soll der fiuurivoc abgeurteilt werden,
der zur Nichtlieferung des q)öpoc aufreizt, also doch wohl ein Bundes-
genosse.
* I. Gr. I 29.4; Lysias XVII, § 5 S. 197 Thalheim: ^v tA ^a^nA»a»vt
^Tivi Ol vauTobiKai ouk ^Se&iKocav.
* Meyer-Schoemann-Lipsius, att. Prozeß II 628, 636 f.
* Schol. Arist. Vesp. 1120. Etym. magn. 338, 39.
* Att. Prozeß I 270 ff., 286 ff. I. Gr. II. 546. 35; 18, 21, 28 (Einfuhr-
gesetz u. Prozeßordnung betr. Handel mit koischem jiiXtov, Mitte d.
4. Jahrb.); Arist. Eq. 278: Andoc. IT 14 'bei Zufuhrleistung an den
Feind .
® Maimakterion ungefähr gleich November: Unger bei Iwan v. Müller,
Hndb I * S. 730. • v. 1046 Hall-Geldart.
158 ■^- -^^t Bleitafeln aus Münchner Sammlungen
ihn von andern Monaten unterscheidenden Hinsicht gewesen
sein, und wir haben keinen Grund zum Zweifel, wenn ein
Kommentar uns belehrt, diese Besonderheit habe in der Be-
schränkung der Fremdenprozesse auf diesen Monat gelegen.
Einen weiteren Beleg bietet das schon von Lipsius heran-
gezogene Fragment der aristophanischen Apaiuata f| Nioßoc.^
Hier gibt jemand, der irgendwie mit der Unterwelt zu tun hat,
über deren rechtliche Beziehungen zum Diesseits Auskunft:
eCTlV YCtp TllLlTv TOiC KOtTUU irpÖC TOUC avu)
otTTÖ cu)Lißö\ujv Ktti }xf]y ö Mai|aaKTripiu)v
ev dj Troioö|uev tdc biKac Kai idc Tpa^dc
Wenn also ein Fremdling aus dem Lande, von dem keiner
wiederkommt, eine Klage gegen einen Einheimischen auf der
Oberwelt hat, oder umgekehrt, so ist sie auf Grund eines
Staats Vertrags im Maimakterion einzureichen, widrigenfalls sie
abschläglich beschieden werden muß. Dieser Witz, auf attisches
Publikum berechnet, muß attische Rechtsverhältnisse persiflieren.
Damit dürfen wir die Vermutung aussprechen, unsere Fluch-
tafel verdanke ihr Dasein einer evbeiHic in Handelssachen, bei
der die eine Partei — der Verfluchte, denn die Tafel ist attischen
Fundorts — ein Fremder war, den die Landesgesetze zwangen,
in einem ganz bestimmten Monat sein Recht zu suchen.
1 Meinecke III 297, vgl. att. Prozeß II 773 f.
* Frg. 278 Kock, Hall-Geldart.
Die Religion der Landschaft MoscM am Kilimandjaro
Originalaufzeichnungen von Eingeborenen
Von J. Raum, Missionar in Moschi
Vorbemerkungen
Ohne Frage bieten dem Forscher, der sich mit einem
Naturvolk beschäftigt, die religiösen Anschauungen seines
Forschungsgebiets die meisten Schwierigkeiten dar. Die sach-
gemäße Erkenntnis der religiösen Gedankenwelt eines kultur-
armen Stammes ist eine Aufgabe, die dem wissenschaftlichen
Reisenden, der nur wenig Zeit auf einen Stamm oder ein
Volk verwenden kann, kaum gelingen wird. Die Gründe dafür
liegen auf der Hand: der Naturmensch st«ht fast immer dem
Fremden mißtrauisch gegenüber und ist weit davon entfernt,
ihm die altererbten heiligen Anschauungen und Bräuche ohne
weiteres preiszugeben. Aber selbst wenn er sich dazu ver-
stehen sollte, so ist jenem damit nicht sehr viel geholfen. Es
erfordert eine genaue Kenntnis der Sprache, es gehört eine
intime Bekanntschaft mit dem ganzen Vorstellungskreis eines
Volkes dazu, um seine religiösen Gedanken, die ja den Kern
seines geistigen Lebens bilden, richtig zu erfassen und dar-
zustellen. Das sind aber alles Bedingungen, die bei einem
literaturlosen Naturvolk nicht leicht zu erfüllen sind. Selbst
dem, der ex professo sich länger mit einem Stamm be-
schäftigt, auch dem europäischen Missionar wird es schwer,
sich einzufühlen in die ihm ganz fremde, primitive Ge-
dankenwelt. Es kommt eben nicht nur darauf an, die einzelnen
Erscheinungen und Tatsachen richtig zu erfassen, sondern es
gilt vielmehr, das einzelne im Zusammenhang des Ganzen zu
160 J Raum
erkennen, und die Motive, die der einzelnen Tatsache zugrunde
liegen, nachzuempfinden.
Diese Erwägungen schienen mir nötig zur Würdigung der
nachfolgenden Originalaufzeichnungen von Eingeborenen über
die Religion ihrer Landschaft Moschi am Kilimandjaro. Sie
stammen in der Hauptsache von Yohane Msando, einem christ-
lichen Dschaggalehrer, ohne Frage einem der begabtesten Mit-
glieder unserer Dschaggagemeinden. Der Umstand, daß der
Verfasser Christ ist, darf nicht dazu verleiten, den Wert seiner
Aufzeichnungen über die heidnischen Gedanken und Institutionen
seiner Volksgenossen gering zu schätzen. Im Gegenteil: seine
Ausbildung in den Missionsschulen hat ihm einen freieren Blick
verschafft, der ihn befähigt, das Wesentliche zu erkennen und
herauszuheben. Als Christ kann er den Geisterdienst selbst-
verständlich nur verwerfen, aber das hindert ihn keineswegs,
ihn, mit dem er von Jugend auf vertraut ist, zu schildern, wie
er ist. Ich kann mich durchaus dafür verbürgen, daß in dem
Bericht nur Tatsachen stehen.
Es stehen mir zwei Manuskripte über denselben, durch
die Überschrift bezeichneten Gegenstand zur Verfügung. Es
wird aber das beste sein, wenn ich nur das eine, eben von dem
genannten Yohane Msando verfaßte, zur Darstellung bringe und
aus dem zweiten an gegebenen Stellen Ergänzungen aufnehme.
Diese Stücke sind mit B bezeichnet und durch eckige Klammern
als von wo anders her stammende Abschnitte kenntlich gemacht.
Runde Klammern im Text umschließen erklärende Zusätze von
mir. — Aus psychologischen Gründen habe ich mich ent-
schlossen, das Manuskript A unverkürzt mitzuteilen, auch wo
es nicht berichtet, sondern raisoniert. Es wird für die Leser
des Archivs vielleicht nicht uninteressant sein, zu erfahren, wie
ein christlich gewordener Dschagga über seine religiöse Ver-
gangenheit denkt. Im Interesse der Originalität ist auch die
ursprüngliche Ordnung des Manuskripts beibehalten, obwohl sie
nicht immer unanfechtbar ist. Meine Tätigkeit beschränkt sich
Die Religion der Landschaft Mcschi am Kilimandjaro 161
also darauf, die Aufzeichnungen in möglichst getreuer Über-
setzung zu reproduzieren, sie durch geeignete Stücke aus B
zu ergänzen und das Ganze mit sachgemäßen Anmerkungen zu
begleiten.
Ich hoffe, daß die Arbeit einen nicht ganz unbrauchbaren
Beitrag zur Religionskunde der ostafrikanischen Bantuvölker
darstellt
Die Art und Weise, wie man in den Pflanzungen
zu Gott betet^
I
Die Geister (tvarttmu)
(Einleitung.) Die Leute hier am Kilimandjaro pflegen alle
die Ahnen geister zu verehren, ihnen zu dienen und oft Gebete
an sie zu richten. Zwar wissen sie, daß es einen Gott (Muwa,
B. u.) gibt, der im Himmel ist, aber sie fürchten ihn nicht in
dem Grade, wie die Ahnengeister. Weshalb? Gott ist einer,
der Geister aber sind viele. Gott heischt einmal eine einzige
Sache; die Geister aber stellen (oftmalige) Forderungen an
jeden einzelnen.
1
Was sind die Ahnengeister? (Allgemeine Bemerkungen
j über den Geisterdienst der Bantu, speziell der Dschagga: Der
Ahnenkult der ostafrikanischen Bantu hat bei den Dschagga
zu paradigm atischer Reinheit sich ausgebildet, bzw. sich rein
bewahrt. Über die Geister gibt es sehr bestimmte, von allen
geteilte Meinungen; die Verhältnisse der Lebenden zu ihnen
sind auf das genaueste geregelt.
Der Ahnendienst, wie er bei den Dschagga sich darstellt,
hat eine doppelte Wurzel: eine religiöse und eine soziale. Seine
^ d. h. die Religion der Dschagga. Mit dem Namen: Dschagga
bezeichnet die Kilimandjarobevölkerung nicht sich selbst. Sie nennen
sich: wandu wa mndeny = Leute die in den (Bananen-) Pflanzungen
•wohnen. Ganz Dschaggaland ist auch ein einziger großer Bananengarten.
Archiv t KeligioDswiasenscbaft XIV j i
162 J- Raum
religiöse Wurzel ist der animistische Geisterglaube, der hier
Seelen- und Unsterbliclikeitsglaube ist. Sozial ist aber der
Geisterglaube der Dscbagga bedingt durch die Stufe der mensch-
lichen Gemeinschaft, die sie erreicht haben. Die Dschagga
zerfallen in eine Reihe patriarchalischer Sippen. Die Kinder
folgen dem Geschlecht des Vaters; der Mann ist der Herr (Be-
sitzer) der Frau, die durch Kauf (Vieh) erworben wird. Die
Häuptlingsschaft scheint auf Usurpation von auswärts, nämlich
von der Küste zugewanderter Geschlechter, die keine Bantu
waren, zurückzugehen; die Traditionen der Dschagga reichen
überall noch in die häuptliugslose Zeit zurück. Die dem
Dschagga nahe verwandten Kamba kennen nur eine Ge-
schlechterverfassung; bei den ihnen gleichfalls nahe stehenden
Taita und Pare gibt es zwar Häuptlinge, aber mit geringer
Autorität. Die Herrschervölker anderen Stammes, die wir in
Ostafrika unter den Bantu treffen — in Uganda die Wahuma,
in Usambara die Wakilindi (diesen entstammen sehr wahr-
scheinlich auch die Herrschergeschlechter der Dschagga)
scheinen ein anderer Beweis dafür zu sein, daß die meisten
Bantustämme Ostafrikas von sich aus noch nicht zu Staaten-
bildungen fortgeschritten sind, daß ihre Einwanderung also
jüngeren Datums ist. — Die einzelnen Mitglieder einer Dschagga-
sippe sind verbunden durch das lebendige Bewußtsein gemein-
samer Abstammung; sie feiern gemeinsame Schlacht- und
Opferfeste; Männer und Frauen werden mit dem Sippennamen
als Ehrennamen gegrüßt. Es herrscht die Sitte der Exogamie,
die mir einmal von einem Moschimann durch den Umstand be-
gründet wurde, daß, falls die Frau aus der eigenen Sippe wäre,
sie ja keinen Bluträcher hätte. Die Sippen scheinen ursprüng-
lich totemistisch gewesen zu sein; das Geschlecht der Walyatu,
z. B. hat den Hundspavian als Wappentier; er wird direkt alst
msiki = Schwester bezeichnet. i
Der Ahnenkult der Dschagga ist nichts anderes als die
über das Grab hinaus fortgesetzte Farailiengenossenschaft. Dit
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 163
Familieng^meinschaft ist heiligt geschützt durch den Glauben,
daß von der Haltung der Pietät — die hier mehr als Verhalten,
denn als Gesinnung zu fassen ist — Wohl und Wehe des ein-
zelnen abhänge. Die Ehrfurcht gegenüber den Alteren, auf
denen die Familiengemeinschaft beruht, erscheint also als
religiöse Pflicht; sie scheint für das jüngere Familienglied ge-
boten durch die Meinung, daß jene eine Art höherer Macht
besitzen, die sich nach dem Tode ins Wunderbare, ja Grenzen-
lose steigert. Aber auch die Respektspersonen bei Leibesleben
zu verletzen ist schon unheilvoll; es besteht die Überzeugung,
daß in einem solchen Fall die jenseitige Familiengemeinschaft
für die verletzte Respektsperson eintreten werde. So kann z. B.
der Vater den unverbesserlichen Sohn den Geistern übergeben:
idanibika warumu. Das hätte natürlich schwere Folgen für
Leib und Leben des ungehorsam Betroffenen. Daher ist die
Pietät gegen die älteren Familienmitglieder eine Forderung,
die im eigenen Interesse des Jüngeren liegt.
Der Mann, der Kinder hat, wird bei den Dschagga an-
geredet: mhe = Vorderer, Älterer, oder: mndumi = Mann; die
Frau: mae = Mutter, mfe == Gebärerin, mongo = Säugerin.
Kinderlose Frauen und Männer gelten als unheilbringend; sie
werden, wie die unverheiratet gestorbenen, oft nicht begraben,
sondern ausgesetzt. Kinderlosigkeit gilt den Dschagga als der
furchtbarste Fluch.
' Auf den Glauben an die Heiligkeit der Familienbande scheint
es auch zurückzugehen, wenn bei den Moschileuten vorehelicher von
Folgen begleiteter Verkehr der beiden Oreschlechter als Frevel gilt; es
wird von den Mädchen Keuschheit bei Eingehung der Ehe verlangt. Die
Hochzeit ist eine Angelegenheit der ganzen Sippe, die daran teilnia mt.
Nach Erzählungen Eingebomer sind in l'rüheren Zeiten die beiden
Schuldigen, aufeinander gelegt, gepfählt worden. — B sagt darüber:
bevor sie — die Braut — verheiratet ist, gibt man sehr auf das Mädchen
acht, daß sie nicht unehelich empfange. Hat sie unehelich empfangen,
ehe die Hochzeitszeremonien stattgefunden haben, so belangt der „Alte"
den jungen Mann. Dieser muß zwei Ziegen stellen, den Brauch zu
„entsühnen" {yolora eig. = kühl machen = gut machen).
11*
164 J- Raum
In der patriarchalischen Sippe sind die Rechte jedes ein-
zelnen Familiengliedes nach Alter und Geschlecht genau ge-
regelt. Der jüngere Sohn darf vor dem älteren z. B. nicht
beschnitten^ werden oder heiraten. Diesen Anspruch macht er
auch nach seinem Tode geltend. Wenn oben gesagt wurde,
daß der Geisterdienst bei den Dschagga die über das Grab
hinaus fortgesetzte Familiengemeinschaft sei, so ist dies ganz
wörtlich zu nehmen. Die Beziehungen zu den einzelnen Geistern
bemessen sich nach der Stellung, die sie in der Familie bzw.
Sippe einnehmen.
Eine matriarchalische Erinnerung scheint durchzuschimmern
in dem Umstand, daß für die jungen Knaben und Mädchen der
Mutterbruder (wasidu) derjenige ist, dessen Gunst oder Ungunst
ihnen am meisten Segen oder Unsegen bringt.
Trägt der Geisterdienst der Dschagga einen im ganzen
düsteren Charakter, so ist doch seine ethische und soziale Be-
deutung nicht zu verkennen. Der Glaube, daß die Pietät, auf
der alle Familiengemeinschaft beruht, die religiöse Pflicht des J
Menschen sei, deren Erfüllung eine Forderung des eigenen
Wohles ist, beschränkt die Ichsucht des einzelnen und macht
eine weitere Entwickelung der menschlichen Gemeinschaft, die
ja von der Familie ausgeht, überhaupt erst möglich.)
Die Ahnengeister sind die Geister der Verstorbenen. Hier-
zulande sagt man, es seien die Schatten der Verstorbenen.
Der Grund zu dieser Bezeichnung ist der Umstand, daß sie
keine Knochen (Leib) haben. Zwar von Ansehen sind sie wie
ein Mensch, der hier auf Erden lebt, nur ist es nicht möglich,
daß einer, der den hier Lebenden angehört, ihn (den Geist) um-
fange. Auch wenn man ihn einen Augenblick wahrnimmt,
plötzlich ist er verschwunden, sei es, daß er ein Alter, ein
* Durch die Beschneidung, die gemeinsam mit allen Altersgenossen,
auf Anordnung des Häuptlings, an ihm vollzogen wird, tritt der junge
Dschagga in die Zahl der Heiratsfähigen ein. Sie ist daher ein sehr
ersehntes Ziel.
Die ReligioD der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 165
Mann, eine Frau oder ein Kind ist. Das sind die Ahnengeister,
an die die Dschagga glauben. Etwas, was dem christlichen
Glauben, daß es Teufel gäbe, entspricht, ist den Dschagga
nicht bekannt.
Der Aufenthaltsort der Ahnengeister ist die Tiefe.* Sie
haben ihre Heimat hier unten, unter dem Boden, inmitten der
Erde. Auch Volksversammlungen halten sie ab, wie die Menschen,
femer haben sie ihren König. Wenn ein König hier auf Erden
stirbt, so bekommt er auch bei den Geistern Gewalt und be-
sitzt seine eigenen Krieger. Die, welche ihm hier unter den
Lebendigen zugehörten, die ruft er auch (dort in der Unter-
welt) alle zu sich. Wenn jemand hier verstirbt und dorthin
geht, so hält er sich auf bei seinen Familienangehörigen; die
Familie aber weilt unter ihren Volksgenossen. Alles ist so
geordnet, wie hier auf Erden. Wenn die Leute hier (im
Diesseits) etwas unternehmen wollen, so halten sie darüber,
was es auch sei, eine Beratung ab. In ebensolcher Weise be-
raten sich die Geister. Aber die Volksversammlungen der
'jeister sind unvergleichlich größer als die der Menschen. Sie
veranstalten ihre eigenen gemeinschaftlichen Beratungen (um
zu beschließen"), wie ihre besonderen Angelegenheiten zu regeln
seien und wie es auf Erden und mit den Menschen gehen
solle. [B. weiß über das Verhältnis der Geister zu den Lebenden
noch folgendes zu berichten: Früher, als noch nicht das Christen-
tum hiehergekommen war, aber auch jetzt noch, pflegten, nach
der Angabe der Leut«, die Geister auch mit den Menschen auf
Erden zu kämpfen. Befanden sich zwei oder drei Leut« auf
dem Wege, so gewahrte (wohl) einer davon, wie die Geister
mit ihm kämpften, als ob er mit Menschen kämpfte; er be-
fand sich dabei in einer Art traumhaften Zustandes. Er rief
dann (wohl) seinen Gefährten zu, sie möchten ihm beistehen,
es kämpften Leute mit ihm, aber der andere sah sie nicht.
' Daher erklären sich die Dschagga ein Erdbeben als ein Vorüber-
ziehen der Geister.
166 J- Raum
Wenn dann ein solcher Mensch nach Hause kam, so brachte
er etwas (als Spende), um die Geister damit anzuflehen.^ Oder
er wurde krank und glaubte, die Geister hätten ihn so ge-
schlagen, daß er sterben müsse. — Oder jemand ging seines
Weges und sah die Geister am Wege sitzen, wie Menschen,
und sich untereinander unterhalten und beratschlagen über
Dinge, die sie hier auf Erden anstellen wollten. Einer, der
derartiges wahrnahm, kann nach dem Glauben der Leute nicht
mit dem Leben davonkommen, da er eine Versammlung der
Geister gesehen hat. Er brachte eine Gabe, um damit die
Geister anzurufen, daß er nicht sterben müsse. Daher machte
sich in früheren Jahren nach Eintritt der Dunkelheit niemand
mehr auf den Weg, oder (wenn er das tat), so wandelte er
ganz mäuschenstill.]
Aber die Geister bleiben nicht für immer in dem Wohn-
ort der Geister. Bei den Geistern^ befindet sich nur der Vater,
der Großvater und der Urgroßvater; der Ururgroßvater aber
nicht mehr. Unterhalb des Aufenthaltsortes der Geister gibt
es nämlich einen anderen Ort, der Kilengetseny^ heißt. Dort,
in KilengeUeny ist der Ort, wo der Ururgroßvater und die
weiteren Familienahnen der absteigenden Linie sich befinden.
Zu denen, die in Kilengetseny weilen, wird nicht mehr gebetet,
mit Ausnahme des einen oder anderen Urahnen, der als Erster
(der Sippe) hierher an den Kilimandjaro gekommen ist. Ein
solcher ist z. B. Oririna, der Urahn des Häuptlingsgeschlechts
von Pokomo'', der aus dem Lande Pokomo in der Nähe der
Küste herkam. Diesem bringen sie das eine oder andere Jahr
Opfer dar; man schlachtet dabei ein Stück Vieh an dem Orte,
' iterewa mndu na kindo sagen die Dschagga = jemand mit einer
Sache (d. h. Gabe) bitten oder anflehen. Die Bitte oder das Gebet wird
durch die Gabe unterstützt. * Einer Familie.
" Ein Wort von dunkler Herkunft und Bedeutung.
* Eine Landschaft westlich von Moschi, die also ihren Namen hatto
von Pokomo am Tana.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaxo 167
an dem er sich bei seiner Einwanderung angesiedelt hatte.
Auch die anderen Sippen (der Dschagga) opfern in ebender-
selben Weise dem Urahnen, der als erster hierher kam. Was
den, der jenem (Oririna) in Pokomo vorherging, betrifft, für
den hält man gegenwärtig kein (Opfer-) Mahl mehr.
. Anderenteils aber sagt man, jene, die der längst vergangenen
Zeit angehören, verwandelten sich in Tiere, z. B. Frösche und
Iltisse * Da ist dann das Ende der Toten. Das ist aber nur
Sage, keineswegs ein allgemeiner Glaube. [B: Es wird erzählt,
daß früher die Hyänen die Verbindimgswege der Landschaften
herabgekommen seien, wie Menschen singend. Sie gingen,
Leute daheim zu rufen, und erzählten ihnen etwas. Eine wahre
Geschichte, die sich zugetragen hat, nachdem die Europäer
schon das Land in Besitz genommen hatten: hier in Moschi
lebte ein Mensch im Bezirk Mahoma. Zu dem kamen die
Hyänen und redeten mit ihm, gleich Menschen. Sie sagten
zu ihm: Nimm dies Ochsenkalb und schlachte es. Dann gehe
auf den breiten (von den Europäern angelegten) Weg. Dort
wirst du ein Mädchen antreffen, unterhalb des Weges sitzend,
das bring zu dir nach Hause! Als der Mann das tat, da fand
er das Mädchen, das ihm bezeichnet war. Dieser Mann ist
vielleicht noch jetzt am Leben. — Weiter: In früheren Zeiten,
als die Hyänen mit den Menschen verkehrten, da pflegten sie
oftmals Reigentänze aufzuführen. Auf dem Heimwege befind-
lich, kamen sie und pflegten zu singen und zu tanzen wie
Menschen. In der Nacht, wenn die Leute sich zur Ruhe ge-
legt hatten, da hörte man, wie sie (die Hyänen) auf den Ver-
bindungswegen gingen und einander zuriefen: Kamerad, Kamerad!
wie Menschen. Dies veranlaßte die Leute zu dem Glauben,
daß die Menschen nach dem Tode sich in wilde Tiere ver-
wandelten und in ihnen lebten. Daher gerieten die Leute,
wenn in früheren Zeiten eine Hyäne im Lande heulte, in
' Also Seelenwandemngsglaube. Als Geistertiere kommen noch
der Schakal, die Ginsterkatze u. a. in Betracht.
168 J- Raum
Furcht, daß dem Lande ein Unglück widerfahren werde und
gingen zu den Wahrsagern, um den Grund (des Heulens) zu
erfahren. Das gleiche war der Fall bei dem Geheul eines
Schakals. Wenn er auf einer freien Fläche in der Landschaft
sich hören ließ, so ging das das ganze Land an; wenn er aber
in der Pflanzung jemandes heulte, so bezog sich das nur auf
ihn, es konnte daraus nur für ihn Unheil entstehen. Daher
ging er, sich ein Orakel zu holen, um zu erfahren, weswegen
er von einem wilden Tiere angeheult worden sei, was das zu
bedeuten habe. Nach der Anweisung des Wahrsagers brachte
er dann den Geistern ein Stück Kleinvieh zum Opfer dar.]
2
Welche Gedanken bewegen nun die Leute dazu, zu den
Geistern zu beten, sie zu ehren und zu fürchten? Sie glauben,
die Menschen hier auf Erden seien erzeugt von Ruwa (Gott,
s. u.), der im Himmel ist. Dieser gibt den Menschen An-
weisungen, wie sie hier auf Erden zusammenleben sollen, die
Alten mit den Jungen, so daß der Vater eines Menschen
sein Herr sei. Auch wenn jemand ein Krüppel oder ein Armer
ist, so hat ihn Ruwa so gemacht. Weiter sagen sie: Gott, der
im Himmel ist, will, daß wir Menschen unsere Respektspersonen
und unsere Angehörigen lieben sollen. Wir sollen ihnen auch
das, was wir erwerben, mitteilen.^ Sie meinen: wenn jemand
hier auf Erden verstorben ist und in die Tiefe geht, wo man
ihn nicht mehr sieht, so erhält er die Macht, einem zu helfen,
oder einen zu verderben, wenn man ihn vernachlässigt. Und
noch ein anderes: Die Ahnengeister pflegen vom- Hunger ge-
peinigt zu werden, sie wünschen Speise von ihren Angehörigen
' Ob diese Beziehung von Ruioa zum Geistevdienst genuin sei,
ist zweifelhaft, da nach den eigenen, weiteren Aussagen des Verfassers
die Furcht vor der Macht der Geister das Hauptmotiv ihrer Verehrung
im einzelnen Falle ist. Sicher ist, daß der Dschagga den Geisterdienst
im ganzen als die religiöse Pflicht xkt' i^oxi^v betrachtet; seine Unter-
lassung v^Qrde ein schwerer Frevel sein.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 169
ZU erhalten. Wenn ihnen nun Speise mangelt, so suchen sie solche
zu erhalten. Gibt man ihnen nicht bald etwas, so werden sie
zornig und wir Menschen erfahren Unglück. Wenn wir also
den Ahnendienst unterlassen, so bringen wir Gott auf^ und
bringen zugleich die Geister auf. Das ist der Grund,
weswegen man die Ahnengeister fürchtet. Wenn die Ahnen-
geister nichts verlangen würden, so würde sich niemand vor
ihnen fürchten.
Merke auf, so will ich dir erzählen, wie die Ahnengeister
Macht und Zorn besitzen. Sie zeigen ihre Macht besonders
an den Seen, in den heiligen Hainen, bei Erdbeben, und indem
sie die Menschen krank machen, ja töt€n. Alle Flüsse (am
Kilimandjaro) haben Becken, in die sich das Wasser von
einem Wasserfall herabstürzt. An einem solchen Ort befindet
sich ein Geistersee. Dort gehen die Geister ein und aus und
steigen dann und wann empor zu den Menschen. Dabei
nehmen sie Rinder, Ziegen und Schafe mit sich fort, die auf
den Grasflächen geweidet werden. Femer schleppen sie den
Leuten, die am Wasser wohnen. Tröge weg. Und wenn ein
Mensch nahe an den See hingeht, so wird er von ihnen er-
griSen und weggeführt. Wenn sie dich aber fassen und du
hast eben einen scharfen Gegenstand, etwa ein Buschmesser, zur
Hand, und wenn du dir damit dann eine Verwundung beibringst,
so daß du blutest, so tragen sie dich nicht fort, denn du hast
eine Wunde.* Ferner holen sie den Menschen in der Nacht,
wenn er schläft, führen ihn im Leibe fort und lassen nur sein
Zeug in der Hütte zurück. Da bringen sie ihn dann zu sich,
nach Hause, und ojffenbaren ihm Dinge, die sie hier auf Erden
anrichten wollen.' Wenn du, mein Freund, so von den Geistern
' So freveln wir. Der Erzähler versetzt sich ganz in die Seele
seiner heidnischen Landsleute.
* Dieser Glaube beruht vielleicht auf der Heiligkeit des Blutes.
' Die Wahrsager, tcaJasa, die den Verkehr der Geister mit den
Lebenden vermitteln, werden in dieser Weise von den Geistern fort-
170 J- Raum
fortgeführt werden solltest, und du gelangst hin, so sieh dich
ja nicht zu sehr nach ihren Dingen um, sondern sei vorsichtig!
Warum? Die Geister pflegen nähmlich schlechte Speisen zu
essen. Ihre Kinder gehen dahin und dorthin, um Speise zu
suchen und bringen Käfer und Schmetterlinge (als solche) mit
heim. Wenn du das wahrnimmst und darüber deinem Erstaunen
Ausdruck gibst, so nehmen sie ganz und gar von dir Besitz,
so daß du nicht mehr zurückkehren kannst. Da kocht z. B. eine
alte Frau (eben bei den Geistern) eine einzige Yamsknolle in
einem großen Tontopf und sie quillt (wunderbarerweise) auf,
so daß alle ihre Kinder satt werden. Wirfst du aber dein Auge
darauf, o weh! was hat dann dein Blick angestellt! Die Yams-
wurzel quillt nicht mehr, du aber wirst über die Maßen ge-
schlagen und wirst dabehalten mit Gewalt, damit du sie (die
Geister) nicht etwa auf Erden in Schanden bringest. Oder
wenn etwa einer deiner Angehörigen fortgeführt worden ist,
so hebe ja sein Zeug nicht auf von dem Bettgestell (auf dem
es liegen geblieben ist), noch rufe ihn, sonst wird er dort ver-
schwunden bleiben. — Als in alten Zeiten die Feinde ins Land
fielen, da erhoben die Seen ein Geschrei: o-o-i!^ Laß gut
sein! Heute wollen wir die Feinde vertreiben. Und die Feinde
wurden wirklich verjagt. Die Weiber (der Geister) erhoben ein
Triumphgeschrei ^, um ihren Männern dafür zu danken, daß
sie die Feinde vertrieben hätten.^
Aber auch die Geister werden überwacht und verjagt von
anderen, noch mächtigeren Geistern. Wie die Europäer hierher
gekommen sind (und von dem Land Besitz ergriffen haben),
so geschah es auch bei den Geistern.^ Das hindert die Geister,
geführt und von ihnen mit OtFenbarungen bedacht. Das ist ihre
Legitimation vor ihren Kunden. * Kriegsruf.
* okululu, eine Art Jauchzen in hohen trillernden Tönen.
' Die Geister kämpften also für das einst von ihnen, nun von den
Ihrigen bewohnte Land.
* Interessante, zum Teil amüsante rezente Weiterbildungen des
Geisterglaubens.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 171
Machttaten (auf Erden) auszuführen wie früher. Ja auch
Steuer müssen die Geister an die (Geister der) Europäer ent-
richten. (Man sagt:) ,,0 weh! Bei den Geistern, da ist noch
viel schwerere Drangsal, ihr Leute! Sieht man ein altes Weib
von den Geistern, so ist sie schmutzig über und über!^ Sie
haben zerrissene Lappen zur Kleidung und sind ganz erbärm-
lich abgemagert!" — Diejenigen, die von den Geistern nächt-
licherweise im Traum fortgeführt werden, sind es, welche so
den Leuten (von den Geistern) erzählen, und die Wahrsager.
3
Wie die Ahnengeister geehrt werden und von den Dingen,
die sie erhalten, um sie zu begütigen. Jede Sippe hat ihre
eigenen Geister. Es gibt aber auch Geister, die über das ganze
Land eines Häuptlings Macht haben. Ihnen bringt der Häupt-
ling im Verein mit den Kriegern bei einzelnen Gelegenheiten
Opfer. In dem Hain, dort, wo der Ahnherr des Häuptlings
sich angesiedelt hat, als er hierher einwanderte, dort vollzieht
man den Brauch (das Opfer).* In einem heiligen Hain wagt
' Wohl weil sie vor lauter Arbeit nicht mehr dazu kommen kann,
sich zu waschen.
* Drei Kreise von Geistern sind es, von denen der Dschagga sich
umgeben weiß, deren Macht je nach der Entfernung von ihm stufenweise
abnimmt. Der engste Kreis sind die Geister der Familie; das Verhält-
nis zu ihnen berührt unmittelbar Wohl und Wehe des einzelnen; sie
haben die meiste Macht über ihn. Sie werden verehrt an einem Ort in
der Pflanzung, wo in einem Gehege von Drazänen der Schädel in einem
Tontopf beigesetzt ist. Der Tote hat dadurch eine ,, Heimstätte" bei den
Seinen erhalten; hier nimmt er Gebet und Opfer entgegen. — Der zweite,
weitere Geisterkreis, der dem einzelnen schon ferner steht, ist der der
Geister der Sippe, von denen aber nur Ahnherr und Ahnfrau in Betracht
kommen. Ihnen wird bei bestimmten Gelegenheiten von der ganzen Sippe
ein Opfer dargebracht, und zwar in dem heiligen Hain, der die Stätte
bezeichnet, wo die Urahnen gewohnt haben sollen. In dem Wort für
den hl. Hain: Kjungu, oder mit einem anderen Präfix: müngu, ist sehr
wahrscheinlich das Bantuwort für Gott: Mungu (Miilungu) erhalten,
das die Dschagga durch Euua ersetzt haben. — Der entfernteste Kreis
sind die Geister, die dem ganzen Land zugehören; es sind die Geister
172 J- Raum
kein Mensch einen Baum zu fällen, sonst würde er von den
Geistern bestraft werden und der Häuptling würde ihn pfänden.
Wenn aber ein Baum von selbst zu Boden bricht, so erkennen
daran die Leute, daß die Geister erzürnt sind. Man teilt es
dem Häuptling mit, der die Alten beruft, daß sie an dem Ort
ein Opfer darbringen. Oder wenn man Eleusinefelder anlegen
will, oder eine Seuche ins Land kommt, so schickt der Häupt-
ling zu den Wahrsagern nach einem Orakel. Wenn diese die
Weisung gegeben haben, so bringt der Häuptling fden Landes-
geistern) ein Opfer dar. Auch wenn die Leute in den Krieg
ziehen wollen, geschieht das. Da bittet dann der Häuptling
seinen (toten) Vater und Großvater, daß diese sich mit ihren
Beratern versammeln und dem Kriegszug ein sicherer Führer
sein möchten, damit er auch Beutevieh mit heimbringen
möchte.
Folgende Dinge bilden Opfer an die Geister: Rinder,
Kleinvieh, Bier, Eleusinekorn, Honig, Milch, Tabak. Aber die
Geister erhalten keineswegs schnell aufeinander folgende oft-
malige Opfer, sondern nur dann, wenn sie fordern. Wenn
jemand zur Stillung eigenen Bedürfnisses schlachtet, so über-
gibt er aber das Schlachttier (als Opfer) den Geistern.^ Ein
kastrierter Stier, ein altes Mutterrind und ein kastrierter
Hammel werden nicht zum Opfer dargebracht. — Es sind nun
Anlässe zweierlei Art, die die Menschen eigens zur Darbringung
ihrer Opfergaben veranlassen: Zeichen und ein Übel.
der allerersten Besiedler des Berges oder der Ahnen der Häuptlings-
geschlechter. Ihre Verehrungsstätte wird ebenfalls durch Baumgruppen
bezeichnet, die manchmal in der Steppe sind, da von doi*t aus die Be-
siedler zum Berg aufstiegen. Mit ihnen hat der einzelne überhaupt
nichts zu tun; ihr Dienst ist eine politische Angelegenheit. — Dagegen
gibt es außer den genannten noch Geister, die einem verderblich werden
können: das sind solche, mit denen man in nahe, Leib oder Leben
berührende Beziehung getreten ist, so der Geist des Blutbruders.
* Jede Schlachtung ist dem Dschagga ein Fest, um das die ganze
Familie, auch die jenseitige, sich sammelt.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 173
a) Zeichen.^ Ein Zeichen nennt man dies, wenn die
Geister, die etwas ausrichten oder (Menschen) töten wollen,
Torher ihre Boten schicken. Boten der Geister sind Hyänen,
Schakale, Ginsterkatzen, Eulen und Grillen, außerdem noch
viele andere Tierey jedoch nur solche bestimmter Art. Wenn
eine Hyäne oder ein Schakal nahe der Heimstätte eines
Menschen heult, so bedeutet das Böses, etwa, daß jemand (in
der Familiej krank werde oder sterbe. Oder wenn eine Grille
in der Hütte zirpt, so erkrankt jemand, oder man wird in eine
Streitsache verwickelt. Wenn Schakale oder Ginsterkatzen
(nächtlicherweise) im Hofe sich miteinander balgen, so ist das
furchterregend. Wenn ihr in den Krieg zieht, und ein Vogel,
(von bestimmter Art) ruft nahe deinem Kopfe, so kehrst du
nach Hause zurück mit den Worten: Ich habe ein böses Vor-
zeichen gehabt. Wenn dann der Kriegszug noch nicht am
Aufbruch ist, so gießest du Bier in eine Schöpfkalabasse und
stellst es auf den Hof mit den Worten: Ihr tvarumu, wenn ihr
nicht wollt, daß ich in den Krieg ziehe, so sendet etwa Ginster-
katzen, die das Bier in der Nacht allemachen mögen. Kommen
diese nicht, so machst du dich auf den Weg. Was tut also
jemand, wenn er ein Zeichen in seinem Hause wahrnimmt?
Er muß zum Wahrsager gehen und sich die Geister nennen
lassen, die das Zeichen geschickt haben.
b) Ein Übel besteht darin, daß ein Glied in der Familie
erkrankt. Ist die Erkrankung leichter Art, so sucht man für
sie Arznei. Wird es aber schlimmer, so geht man zum Wahr-
sager. Die Wahrsager nehmen jeden Geist wahr. (Der um ein
Orakel kommende spricht zum Wahrsager:) „Frage für mich
die Geister, HerrI — es gibt aber auch wahrsagende Weiber —
mein Kind ist krank!" (Wahrsager:) „Wo ist das Bündel?"'
„Hier ist es!" Man bringt Eleusinekom oder etwas anderes
' wuhenu, eig. etwas Fremdes, Seltsames, Ungewöhnliches.
* Die Feldfrücht«, die sein Honorar bilden, bringt der Kunde dem
Wahrsager gewöhnlich in ein Bündlein gebunden mit.
174 J- Raum
Kleines mit. Dann befragt der Wahrsager die Geister mittels
Eleusinekornes oder dem Blatt von einer Drazäne (mit der er
das Wasser in einem Gefäß schlägt); andere legen Tabak auf
die iimere Handfläche und rühren daran, indem sie achtgeben.
Dann wird einem verkündigt: der Großvater, die Mutter, der
Verwandte des Vaters, die Großmutter väterlicher- oder mütter-
licherseits u. a. m. wollen Mehl (Bier), oder ein Stück Kleinvieh,
oder ein Rind. Wenn es aber ein Stück Vieh, auch nur Klein-
vieh ist, die der Geist verlangt, versteht man sich nicht sofort
dazu, sie zu schlachten. Man bindet ihr einen Strick aus
Bananenbast um den Hals^ und spricht: „Du Geist Soundso'-*,
der du diesen Menschen ergriffen hast: mache ihn gesund, so
werde ich erkennen, daß du (und kein anderer) es bist und
dir dann deine Ziege spenden". Genest er (der Kranke), so
wird die -Ziege wieder aufgehoben.'^ Erfolgt aber keine baldige
Gesundung, so geht man zu einem anderen Wahrsager, der
einem dasselbe oder etwas anderes sagt. Wenn es aber mit
dem Kranken immer schlimmer wird, dann freilich wird das
Stück Kleinvieh schnell geschlachtet (als Opfer), vielleicht zwei
an einem Tag. (Dabei wird etwa folgendes Gebet gesprochen:)
„Hier ist die Ziege, mein Vater Mhilema^, wende doch deine
Augen auf den Kranken, daß er gesund werde! Erhöre, erhöre
o König, o Erde, o Himmel, laß dich erbitten! Wenn du es
bist, der ihn ergriffen hat, so mache ihn nun gesund, Herr,
dann wirst du noch ein anderes (Stück Kleinvieh) erhalten.
Mögest du essen und dein Weib esse die Eingeweide^, sie möge
* Zeichen der Weihung oder des Opfergelöbnisses.
* Dabei wird der Name des vom mlasa bezeichneten Geistes genannt.
' Der Geist wird also regelrecht an der Nase herumgeführt.
* Der Geist wird mit seinem Namen genannt, er heißt also hier j
Mkilema. ' I
* Bei den Dschagga ist jede Schlachtung ein Fest ; ihre Nahrung j
ist sonst rein vegetabilisch; sie sind aber — vielleicht ebendeswegen —
sehr gierig nach Fleisch. Sogar die Eingeweide des Tieres werden, sehr
oberflächlich gereinigt, verzehrt; mit ihnen müssen oft die Weiber und
Kinder sich begnügen. ■
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 175
die Weiber der ganzen Sippe rufen, daß sie zusammenkommen.
Esset das Stück Kleinvieh imd macht also den Kranken gesund!"
Wird er (der Kranke) dann nicht gesund, so mußt du, wenn
du wohlhabend bist, noch viele (Opfertiere) schlachten, indem
man dir viele Geister namhaft macht. Hilft alles nichts^, so
spricht man (bei der Darbringung des Opfers): „Wenn du es
bist, der ihn ergriffen hat, den ich aber nicht kenne, hier ist
das Rind, usw."
Arme Leute, die keine Rinder besitzen, erhalten die Wei-
sung, Kleinvieh oder Bier darzubringen, nicht Rinder, weil
sie solche nicht erlangen können.^ Und was ihre aus Klein-
vieh bestehenden Opfertiere betrifft, so schlachten sie (manch-
mal) heimlicherweise solche, die bei ihnen zur Fütterung
untergestellt sind."' Das hat zur Folge, daß sie Haussklaven
werden, die für Herren arbeiten müssen. Einige aber, die
nicht anderen gehöriges (Vieh) schlachten wollen, verschaffen
sich etwa den Kopf oder das Bein einer Ziege und bringen
damit ein Opfer dar. Manche stellen auch Honig als Opfer
hin und sprechen, es sei eine Ziege. Denn mit Honig erwirbt
man Ziegen. Die gewöhnlichen, alltäglichen Opfergaben aber
bestehen in Bier, Biersatz, Honig, Eleusinekom und Milch.*
Wenn nun jemand den Geistern etwa ein Stück Kleinvieh
als Opfer schlachtet, erhalten diese dann das ganze Fleisch?
Mit nichten. „Wir Gebenden genießen das ganze Fleisch, samt
* Hat man ohne Erfolg die ganze Reihe der in Betracht kommenden
Familiengeister mit Opfern bedacht, so kommt man auf den Gedanken,
daß ein unbekannter, vor alters Verstorbener die Krankheit verursacht habe.
* Wie die Opfernden selbst, so sind auch ihre Geister genügsam.
' Die "Wartung des Viehs erfordert in manchen Dschaggalandschaften
sehr viel Arbeit, weil die Weide nicht zureicht und in der heißen Zeit
das Gras stundenweit aus der Steppe geholt werden muß. Da wird
denn sehr oft Vieh bei anderen zur Fütterung untergestellt, die den
Milchnutzen oder jedes dritte geworfene junge Tier haben.
* Die Ansprüche der Geister richten sich eben durchaus nach den
Ansprüchen und der Lage der Lebenden. Für gewöhnlich erhalten sie
nur Vegetabilien, die eben die alltägliche Nahrung der Lebenden bilden.
176 J- Raum
dem Blut. Was aber die Geister anbetrifft, so ist deren Teil
das jLeben^ der Ziege, das ein Schatten ist, das gelangt zu
ihnen hin und stellt die ihnen entsprechende Ziege dar.^ Auch
wenn ich ihnen ein mageres Stück Kleinvieh schlachte, so
sehen sie darüber nicht scheel. Was auch die Geister erhalten,
sie sehen darüber nicht scheel/' Wenn jemand rein gar nichts
hat als Gabe an die Geister, so borgt er von ihnen selbst
etwas Eleusinekorn — d. i. Erde — (die er aufhebt mit den
Worten): „Hier ist Eleusinekorn, es ist euer Eigentum, das
ich von euch leihe, bis ich anderes (wirkliches) erlange und
euch spende. Erhöret, erhöret, o Wunderbare, o Berg des
Alten, o Stolz des Landes, o Zierde des Ostens! Erhaltet mir
das Leben und schenkt mir Gesundheit! Oder wie soll ich
es denn sonst nach eurer Meinung machen? Habt Geduld,
ich wiU Gras schneiden, bis ich eine Ziege als Putterlohn
erhebe, die werde ich euch spenden. Wenn ihr mich so
bedrängt, werdet ihr dann etwas erhalten? Unmöglich! Ihr
werdet (höchstens) von euresgleichen ausgelacht werden. So
behütet (mich) denn, dann werdet ihr auch das eurige er-
halten." —
Auch ein Dank (für geleistete Hilfe) an die Geister findet
statt: „Hier ist die Ziege, die ich euch spende. Ihr habt sie
mir verliehen und ich bringe sie euch wiederum dar, um euch
damit zu danken. Ihr habt mich am Leben erhalten, so daß
ich bis zum heutigen Tag gelangte. Erhaltet mich auch ferner-
hin, und verleiht mir andere (Stücke Kleinvieh), so sollt ihr
wieder Gaben erhalten."
Ferner gibt es einen Lobpreis und ein Rühmen der Geister,
aber nur in Verbindung mit Bitten: „0 Berg des Alten, o Fülle
des Landes", oder bei eidlichen Versicherungen: „Ich soll
meinen Vater beschimpfen (seil, wenn das nicht wahr ist)",
* Echt animistische Theorie! In Madschame werden übrigens den
Geistern einige Fleischstückchen hingeworfen, die aber, im Verhältnis
zum Ganzen, hier auch nichts besagen wollen.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 177
„bei dem und dem (Geist)". Bei Ausrufen der Bewunderung
äußert man: ,, Erstaunlich in der Tat, Mutter", „ja wirklich,
Vater!"
Wenn die Geister einem Menschen Vieh verleihen, so
mischen sie auch solches für sich darunter. Ein ganz schwarzes
Stück Kleinvieh gehört den Geistern. Der Eigentümer wagt
nicht, es einem Gläubigen als Zahlung zu geben. Es wird
geschlachtet und dem Geist gegeben, der sein Eigentümer ist.
Auch mit einem solchen Stück Kleinvieh, das die Farbe kyära
am Kopfe trägt, oder einen solchen von der Farbe msori und
marehe verhält es sich so, femer mit Rindern, deren Farben
liyara oder rangya ^ sind. Oder wenn bei dem Wurf eines
Stückes Vieh die hinteren Beine zuerst kommen, so gehört es
den Geistern. Wenn die Wahrsager ein Orakel geben, so
sprechen sie oft zu den Leuten: „Du hast ein Stück Kleinvieh
von doppelter Farbe, seinetwegen bist du ergriffen!'' Oder:
„Du hast ein Rind von der Farbe hyara und hast es unter-
schlagen! Der Geist, der es dir verlieh, ist dein Oheim
mütterlicherseits, du aber hast es ihm nicht gegeben und so
ist er erzürnt." [B.* Man hat zwei Arten von (Familien-)
Geistern, die auf zwei Arten verehrt werden, nämlich Geister
der rechten und Geister der linken Seite. Der Mensch wird
also von den Geistern beider Seiten beschützt
A. Die Geister der rechten Seite
Geister der rechten Seite nennt man die von dort, wo
der Mensch selbst herstammt, nämlich von dort, wo sein Vater
und Großvater her ist. Die Toten ihrer Herkunft (d. h. die der
Verwandtschaft des Vaters und Großvaters) sind es, die den
' Ich kann die im Text nicht übersetzten, naturgemäß selten vor-
kommenden Farbnamen augenblicklich nicht identifizieren.
* ß bringt verschiedene Ergänzungen zu dem Vorhergehenden, so
über die Arten der Familiengeister, die Opferzeremonie, die Ansprüche
einzelner Geister, und die Art, wie die jenseitige Familiengenossenschaft
für die diesseitige eintritt.
Archiv f. ReligiouswisBeuschaft XIV J2
178 J- Raum
Menscilen behüten oder ihm Unheil bringen. Deswegen fürchtet
man sie. Alles nun, was der Mensch (eben in der väterlichen
Verwandtschaft) erhalten hätte bei Leibesleben, das wird ihm
auch gespendet nach seinem Tode; er wird dazu eingeladen
unter Nennung seines Namens, nur daß es (das Dargebrachte)
eben verzehrt wird von den Lebenden, nach dem Glauben,
daß er nur den Schatten davon verzehre, da er auch nur ein
Schatten sei. Es gibt nichts, was die hiesigen Leute genießen,
und was sie, zusammensitzend mit ihrem Verwandten verzehrt
hätten, zu dem sie diesen, auch nach seinem Tode, nicht
riefen unter Nennung seines Namens. Auch wenn jemand mit
ihm Feindschaft hatte und ihn (hier auf Erden zum Schlacht-
fest) nicht mehr gerufen hätte, so muß er ihn doch jetzt (als
Geist) dazu einladen, nur wegen der Furcht. Auch wenn sie
(die Verwandten) bei Lebzeiten einander nicht gut waren, so
bemüht sich der Lebendbleibende doch um seine (des Toten)
Gunst, damit dieser ihm nicht am Leben schade, oder ihm
sein Eigentum nehme. Daher betet jener (der Lebende) oft-
mals zu ihm, damit er nicht mehr der Feindschaft gedenke,
sondern ihm nun seine Freudschaft zuwende. Man glaubt,
wenn einer jemanden aus der Verwandtschaft vorsätzlich ums
Leben gebracht hat, ohne daß dieser es verschuldet hatte, so
werde derselbe ihn (den Mörder) töten, um sich zu rächen.
Auch wenn er (der Tote) bei seinen Lebzeiten sich nicht an
ihn gewagt hätte, so wage er sich doch jetzt an ihn, ohne
daß es ihm schwer würde, jetzt habe er zweifellos Macht über
ihn, weil er ihn, den Toten, nicht mehr sähe. Oder wenn das
nicht der Fall sei (wenn der Geist den feindlichen Verwandten
nicht selbst töte), so vertilge er ihm seine Kinder.^ So tut
der Vater dem Sohn, wenn er mit ihm in Feindschaft stirbt,
indem dieser nicht, wie es sich gebührt, nach ihm (dem Vater)
gesehen oder ihm kein gutes, ausreichendes Essen gegeben
' Oder sein Vieh.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 179
hatte. Nach seinem Tode hindert er (der Vater) ihn, etwas
zu erlangen. In gleicher Weise verhält es sich mit der Mutter.
Das, was das Kind ihr vorenthielt, das wird sie ihm vor-
enthalten, oder sie peinigt es auf andere Weise. Dasselbe ist
der Fall mit dem Bruder. Ist es der jüngere Bruder, so wird
er nach seinem Tode heischen, was ihm als jüngeren Bruder
gebührt. Umgekehrt begehrt der ältere Bruder das, was ihm
als solchem zusteht. Wenn hierzulande jemand einen jüngeren
Bruder hat, so heiratet dieser nicht, bevor der ältere ein Weib
genommen hat. Auch wenn er (der Altere) gestorben ist, so
wird über dem Weib (das der jüngere Bruder zu nehmen im
Begriff steht) zuerst sein Name genannt, dann erst darf sie
das des jüngeren Bruders werden^, weil eben jener unverheiratet
gestorben ist. Man glaubt, wenn jener sehen würde, daß sein
jüngerer Bruder ein Weib nimmt, während er unbeweibt habe
dahingehen müssen, so werde er in gleicher Weise darüber
aufgebracht, wie wenn es zu seinen Lebzeiten geschehen wäre.
Oft läßt man es sein Bewenden haben, ohne daran zu denken,
dem Toten ein Weib zu geben, bis dann der Mann (also der
jüngere Bruder selbst) oder das Weib erkrankt. Da heißt es
denn, jener sei erzürnt darüber, daß sein jüngerer Bruder ge-
heiratet habe und er sei unverheiratet. Man nimmt dann ein
Stück Kleinvieh und bindet ihm einen Strick aus Bananenbast
um den Hals, oder man schlachtet es sofort, um ihn zu er-
bitten, daß die Krankheit aufhöre, die dadurch entstand, daß
sein jüngerer Bruder ihm mit dem Heiraten zuvorgekommen
Bei. Gesundet hierauf der Mann, die Frau, oder das von ihnen
erzeugte Kind, so glaubt man, daß der Tote das Opfer, mit
dem man ihn erbeten hat, sich habe gefallen lassen. —
Wenn daher jemand (in der Familie) erkrankt, so geht
man zum Wahrsager nach einem Orakel, um den Grund der
Erkrankung zu hören und den (bestimmten) Geist zu erfahren.
Es findet also Totenhochzeit statt.
12^
180 J. Raum
der mit einem Opfer zu erbitten sei. Der Wunsch dieses
Geistes, etwa nach Mehl (Bier) oder einem Stück Kleinvieh
wird eben durch das Orakel kund. Denn man glaubt, daß es
Geister gäbe, die nach Mehl, oder nach Fleisch, oder Honig,
oder Eleusinekorn, oder Milch verlangten. Eleusinekorn und
Milch sind Dinge, mit denen man weibliche Geister anfleht.
Die Leute glauben eben, daß die Geister ihre Ansprüche
geltend machen, wenn man sie lange nicht mit einer Gabe
bedacht hat. Wenn ein Wohlhabender ein Orakel erhalten
hat, so betet er für sich und bringt dem Geist Mehl dar, der
ihm als der bezeichnet worden ist, welcher ihn ergrifi'en habe.
Gesundet er nicht, so betet er mit einem Schlachttier, einem
Stück Kleinvieh oder Rind, wenn er ein Viehbesitzer ist. Bei
der Schlachtung spuckt er zuerst (viermal) dem Tier auf den
Kopf, indem er es mit den Händen hält, auch sein anderer
Bruder spuckt darauf, desgleichen die Mutter, indem sie für
das Kind betet. Dabei zählen sie die Fleischstücke auf, wie
sie (die Geister) bedacht werden sollen. So wird der toten
Mutter das zugezählt, was sie bei Lebzeiten erhalten haben
würde, desgleichen dem Bruder. In dieser Weise wird das
ganze Stück Vieh den Geistern ausgeteilt, immer entsprechend
den Anteilen, die sie bei Lebzeiten erlialten haben würden.
Die Austeilung des Opferfleisches erfolgt aber so, daß es einem
der Geister als Hauptinhaber zugesprochen wird, der es aus-
schlachten und der gesamten, gleich ihm verstorbenen Sippe
verteilen soll. Nach der Übergabe des lebendigen Tieres an
die Geister schlachtet man nun das Fleisch aus in Gemein-
schaft mit den Verwandten, dasselbe, das man eben den Geistern
gespendet hat. Denn man sagt, die Geister trugen den Schatten
des Opfertieres davon, den Lebenden aber gehöre das Fleisch.
Wenn sie aber schlachten, so wollen sie keinen Menschen zu-
gegen haben, der Neid empfinde (wegen des Fleisches), in der
Meinung, auch die Geister betrachteten das Tier, das sie er-
hielten mit Neid; sie könnten sonst kommen und ein anderes
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 181
heischen. — Wenn ein Kind krank ist, so betet man mit dem
Opfer für dasselbe. Kann es schon reden, so spricht man
ihm vor, wie es sagen solle, das spricht es dann nach. —
Wenn die Leute ein Opfertier schlachten, um die Geister
zu erbitten, so haben sie Beschwörungsformeln, die sie an ein
Stück Fleisch in seinem Inneren richten. Sie bestimmen ein
Zeichen, um sich darüber zu vergewissern, ob das Fleisch,
das man dem Toten dargebracht hat, ihm angenehm gewesen
sei oder nicht ^, oder ob der Opfernde etwa in eine Streitsache
verwickelt werde, oder ob der Kranke sterben werde, oder ob
man etwa zu vielen Rindern kommen werde. So haben sie be-
stimmte Zeichen, auf die sie sich verlassen, und die ihnen
Unterpfänder von zukünftigen Dingen sind.
B Die Geister der linken Seite
Was die Geister der linken Seite betrifft, so fürchtet man
sie nicht so sehr, weil man glaubt, daß sie nur kleine Gaben,
nicht solche, wie die der rechten Seite, heischen. In hohem
1 Grade furchterregend sind nur die Geister von zu Hause, die
der Familie. Diese haben besonders Macht gegen die Menschen.
Geister der linken Seite nennt man die von dort, wo die Mutter
herstammt. Die Dinge, mit denen man sie bei Leibesleben
dann und wann bedachte, die spendet man dem Großvater
mütterlicherseits oder dem Mutterbruder auch nach dem Tode,
hie und da einmal. Mit ihnen hat es nicht so viel auf sich. —
So werden also die Toten von zwei Seiteu angebetet : 1. wird
ihnen geopfert von ihren eigenen Kindern, 2. von ihren
Xeffen und Nichten. Hat der Tote viele (die ihm Verehrung
zollen müssen), so erhält er von allen Gaben.
Stirbt etwa der Vater der Mutter oder der Mutterbruder
(wasidii), ohne daß ihm der Mahlschatz entrichtet wurde- und
* Es findet also Eiugeweideschau statt.
* Neben Leistungen in Bier und Fleisch an den Vater, den Bruder
und. die Mutter der Braut besteht der Maklschatz {iigosa, der Kaufpreis
182 J- Raum
das Kind, der Neflfe oder die Nichte wird krank, so heißt es:
Das kommt davon her, daß der Oheim nicht den Mahlschatz
erhielt. Man betet dann zu ihm und gelobt ihm, er würde
eine Gabe erhalten, wenn das Kind gesund geworden sei.
Ein besonderer Fall ist der, daß jemand stirbt mit Hinter-
lassung einer Tochter, die bei ihrem Manne sich befindet, für
die aber noch nicht der Mahlschatz bezahlt ist, es ist aber die
ganze Sippe bis auf den Letzten ausgestorben (die Frau hat
also auch keinen Bruder mehr): Da nimmt denn ihr Mann ein
Rind oder ein Stück Kleinvieh, bringt es mit sich fort auf den
Weg, und spricht es dann dem Toten zu mit den Worten:
„Hier ist deine Färse! Und jetzt führe ich sie mir nach Hause
zurück, du hast sie deiner Tochter in Pflege gegeben, damit
sie davon Milch habe!" Hierzulande pflegen nämlich die Väter
bei ihren verheirateten Töchtern Rinder zur Fütterung unter-
zustellen, wenn ihre Männer arm sind. — Ist die Färse
heimgekommen, so wird der Frau gesagt: „Es ist das Rind
deines Vaters, das er dir anbindet, damit du Milch davon
habest."'
Der Neff'e (die Nichte) geht auch nicht zu dem Oheim
(Vater oder Bruder der Mutter), ohne daß ein Stück Kleinvieh
für ihn (den Neffen von dem lebenden Oheim) geschlachtet und
ihm von demselben das Kitsonu {n = ng in singen) angesteckt
worden ist.* Das geschieht aber nur dann, wenn er (sie) zum
für die Frau) auch in lebendem Vieh, das an den Vater oder Bruder der
Frau zu bezahlen ist. Es kommt nun häufig vor, daß die Frau teilweise
auf Kredit heimgeführt wird.
^ So ist also dem Toten sein Recht geworden.
' Siehe über das Kitsonu Band X dieser Zeitschrift pag. 274 f
Das Kitsonu, ein aus der Stirnhaut einer Ziege in ßingform geschnittener
Fellstreifen, stiftet einen Bund: die beiden Bundschließenden stecken es
einander an. Die Bedeutung beruht wohl darauf, daß auf der Stirn des
Tieres sich der Speichel der beiden Bundschließenden gemischt hat;
sie werfen beide vorher solchen darauf. NeflFe und Oheim halten sich
also einander als fremd ; durch das Kisohu wird dann eine Art Adoptions-
verhältnis begründet.
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 183
ersten Male dahin geht, ohne daß er vorher schon dagewesen
war. Und wenn der Neffe (die Nichte) krank ist, da lädt man
ihm Bier auf, das er zu seinem Oheim trägt, damit der Oheim
für ihn zu seinen Geistern bete, den seinen, des Oheims, von
wo die Mutter herstammt — Eine andere Sache: Wenn ein
. EJQabe Vieh hält, es ihm aber nicht recht gerät, so bringt er
seinem Oheim Bier und bittet ihn, damit er für ihn bete und
ihm, dem Neffen, günstig sei. Dann wird er Gedeihen haben.]
Anhang
Von der leiEetznng der Toten und dem Fluch der Sterbenden
(Vorbemerkung:) Wenn man von alledem absieht, was
ich erwähnt habe, wie die Geister ihre regelmäßigen Opfer
heischen, so ist noch als etwas Furchtbares zu nennen dies,
wenn ein Mensch stirbt, ohne beigesetzt^ zu werden, sei es,
daß er zu Hause den Tod findet, oder an einem unbekannten
Orte; ferner, wenn jemand stirbt mit einem Fluch. Die Geister,
bei denen einer dieser Fälle eintritt, können auch durch das
Opfer vielen Viehes nicht begütigt werden.
Das Begräbnis
Jeder Mensch wird nach seinem Tode in der Erde bestattet.'
Diejenigen, die Kinder haben, werden in der Hütte begraben',
flofem sie in ihrem Heimwesen gestorben sind. Der Mann
■wird rechts neben (unterhalb) der Tür bestattet, nahe den
* Der Ausdruck yungo, der das Aufstellen des wieder ausgegrabenen
Schädels in der Pflanzung nahe dem Gehöft der Famüie bezeichnet, be-
deutet wahrscheinlich eigentlich: Tereinigt werden seil, mit der Familie.
Der Tote hat damit gewissermaßen seine Heimstätte erhalten; an diesem
•Orte nimmt er die ihm gebührenden Gaben in Empfang.
' Bei den Unfruchtbaren und im Kindesalter Verstorbenen ist dies
Aber unter den Dschagga vielfach ursprünglich nicht der Fall, wie der
"Verfasser später selbst erwähnt.
' Die festgestampfte Erde verhindert die Ausdünstung.
184 J- Raum
Stangen^, mit eingebogenen Beinen, das Gesiclit zum (hell-
glänzenden) Kibo gewendet. Die Frau wird in dem (der Tür
gegenüberliegenden) Winkel begraben, auf der oberen (linken)
Seite, das Gesicht zur (dürren) Steppe gewandt. Die Kinder
und die Unfruchtbaren werden in der Pflanzung bestattet, oder
hinter der Hütte. Stirbt jemand, der Vieh besitzt, so wird ein.
Stück geschlachtet und die Leiche mit dem Fell bedeckt; Arme
werden mit Drazänenblättern und mit einem Kraut, das zur
Bestattung ausgesucht wird, zugedeckt. Bevor die Leiche eines
Erwachsenen in die Grube gesenkt wird, läßt sich jemand, ein
Verwandter, hinab und steigt dann wieder heraus. Bei dem
Begräbnis eines unfruchtbaren Menschen werden seine Dinge,
die er am Leibe trägt, auch seine Kleider, auf ihn gelegt.
Niemand will etwas in Besitz nehmen, was einem Unfrucht-
baren gehörte. Auch sein Vieh nimmt man nur an sich, weil
es eben Speise ist, aber es wird nicht sehr gern gehabt.
Nur die Häuptlinge werden in einem Troge bestattet und inj
eine Hütte eingeschlossen.
Das Fleisch des zum Begräbnis eines Menschen dienendei
Stück Viehes wird nur gegessen von "^solchen, die weder Vatei
noch Mutter mehr haben. Wenn jemandes Vater gestorbei
ist, und du issest von dem, was dabei geschlachtet worden ist^
so stirbt dein Vater.
Es gibt Leute unter den Dschagga, die ihre Kinder (undl
Unfruchtbaren) gar nicht bestatten mögen. Sie setzen sie aus]
in der Pflanzung oder im Busche
Auch wenn jemand hier in den Pflanzungen von einem]
wilden Tier getötet worden ist, wird er nicht^begraben. Das!
' ndingo die Stangen, die kreisförmig in die Erde eingerammt,!
oben in einer Spitze zusammenlaufend, von innen | durch Pfosten ge-
ßtützt und von außen mit Gras dicht und^sauber^eingedeckt werden und
ßo das Gerippe der Hütte bilden.
* Nur die Erzeuger und Gründer .der Familie erhalten die patri-
archalischen Ehren.
Die Religion der Landschaft; Moschi am Eilimandjaro 185
wilde Tier soll ihn völlig aufzehren. Desgleichen werden die,
die unter den Speeren der Feinde fallen, nicht beerdigt. Jedoch
werden ihre Schädel mit den anderen vereinigt S wenn sie ge-
funden werden.
Nach dem Tode jemandes wird am Todestage die Toten-
klage erhoben und man trauert einige Tage. Aber in betreflf
der Trauer der Angehörigen kommt es auf das Alter an, das
dieser erreicht hat. Hat jemand schon Urenkel, so wird seinet-
wegen nicht geklagt. Seine Urenkel und Enkel tanzen viel-
mehr einen Reigentanz, wozu sie sich mit Fett salben. Sie
singen dabei:
Der Lauf des Alten ist zu Ende gekommen.
Daher laßt uns schwingen im Reigentanz!
Verscheidet jemand an einem Orte, wo Menschen sich befinden,
und er wird nicht bestattet, so gerät er zum Verhängnis und
tötet andere.
Regelung der Hinterlassenschaft
Vier Tage verfließen nach dem Begräbnis eines Menschen,
der vierte ist „der der Reibung seines Zeuges", wenn er Kinder
hinterlassen hat. Dazu kommen alle Familiengenossen auf den
Hof. Das Schlaffell des Verstorbenen wird auf dem Hofe
ausgebreitet und sein Zeug (Kleider). Dies nimmt jemand',
reibt es an einem seiner Enden zwischen den Fingern, auch
etwas Bier wird dabei auf das Zeugende gespuckt. Der Rei-
bende proklamiert dabei folgendes: „Wenn jemand da ist, der
eine Forderung an den Verstorbenen hat, so soll er es heute
sagen, damit es bekannt werde! Wenn jemand es nicht heute
angibt, sondern an einem anderen Tage kommt, so ist es Trug!
' mit denen der Familie, daheim; man „bringt sie heim".
* Gewöhnlich wohl der älteste Bruder des Verstorbenen und die
älteste Schwester der Verstorbenen. Durch die „Reibung des Zeuges",
die wohl eine Waschung vorstellen soll, wird die Habe des Toten von
den Lebenden in Besitz genommen.
186 J- Raum
Sein Zeug soll gerieben werden, wie das dieses Menschen!"
Ist ein Gläubiger vorhanden, so erklärt er etwa: „Der Mann
hat ein Stück Kleinvieh von mir!" — Einer Frau, die keine
Töchter hat, wird nicht das Zeug gerieben^, ebensowenig einem
Mann, der keine Söhne hat. Wenn aber jemand stirbt, ohne
daß sein Zeug gerieben wird, so wird er böse werden.
Ist das Zeug gerieben, so wird das „Bier der Spuckung"
(wari woputsaj bereitet. Ein Alter aus der Verwandtschaft
schöpft mit einem Schöpflöffel, stellt sich aufrecht, nimmt
einen Schluck in den Mund und spuckt es um sich^; die Kinder
des Verstorbenen sind dabei gegenwärtig. Das Bier, welches
im Troge übrigbleibt (nachdem alle gespuckt haben), wird
nur von einem genossen, der keinen Vater mehr hat. Nur
einem Manne wird die Spuckung dargebracht.
(Die Schlachtung eines Stückes Kleinvieh zur Begleitung
des Geistes zu der übrigen im Geisterreich versammelten Familien-
genossenschaft.) An einem nahen Tage wird dann ein Stück
Kleinvieh geschlachtet, um ihn (den Verstorbenen) mit der
Sippe zu vereinigen. Bevor das Stück Vieh zu seiner Auf-
nahme dort geschlachtet ist, muß er für sich allein weilen.
Die anderen Geister sprechen zu ihm: Du kannst nicht bei
uns bleiben, wenn du nicht mit uns vereinigt bist. Wenn er
nicht vereinigt wird, so macht er seinen Nachkommen hier
auf Erden Pein.
Die Ausgrabung und Beisetzung
Wenn ein Jahr verflossen ist, so wird der Mensch aus-
gegraben. Die Knochen werden in einem Gehege von Drazänen
niedergelegt. Der Schädel wird, getrennt davon, ebenfalls in
einem Gehege von Drazänen beigesetzt, in einem Tontopf ge-
^ Das bewegliche Eigentum der Frau wird von den Töchtern geerbt.
* Förmliches, feierliches Spucken ist Zeichen der Huldigung. Die
obige Zeremonie ist wahrscheinlich zu deuten als feierliche Verabschiedung
des Toten.
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 187
borgen. In der Grube wird sorgfältige Nachschau gehalten,
damit auch nicht ein Knöchelchen zurückbleibe. Ein Mensch,
der nicht ausgegraben würde, würde ein sehr böser und tückischer
Geist werden. Warum? Wenn er nicht ausgegraben wird,
so muß er dort bei den Geistern an einen Ort gebannt sitzen
bleiben und kann nicht hin und her wandeln; dann wird er
von Zorn erfüllt, weil er eben keine Bewegungsfreiheit hat.
Ein solcher kann durch kein Mittel besänftigt werden. Betreffs
derer aber, die in der Ferne gestorben sind, von denen aber
ungefähr bekannt ist, in welcher Gegend sie gestorben sind,
gilt: Weiß man nicht die bestimmte Stelle (wo der Tote liegt,
kann man daher nicht zu seinem Schädel gelangen), so hebt
man einen Stein auf in dem betreffenden Lande und bringt
ihn nach Hause. Uas ist gleichsam sein Schädel. Unterläßt
man aber das, so wird der Tote zum Verhängnis und spricht:
Warum wollt ihr mich nicht suchen, daß ihr mich nach Hause
bringt?
Der Ort, wo die Schädel beigesetzt sind, muß jedes Jahr
beharkt und hergerichtet werden. Das nennt man das üra-
graTben der Opferstätten. Die Leute beharken dort im Monat
Mdemo und gießen dabei Mehl (Bier) aus auf die Erde.^
Der Fluch der Sterbenden
Stirbt jemand durch Verschuldung eines anderen Menschen
(d. h. Familienmitgliedes), oder hat er (von einem solchen) Pein
erduldet oder ihm einer gefehlt, der mit ihm Mitleid gehabt
hätte, so spricht er beim Herannahen des Todes den Fluch
* Die Leute beglückwünschen dabei die Toten, wie sich unter-
einander, zum neuen Jahre, d. h. zur neuen Ackerperiode. Der erste
Monat des Dschaggajahres heißt Mdemo = Ackermonat [deina = ackern).
Die Jahreswende ist die Zeit des Frühlingsäquinoktiums, das die große
Regenzeit bringt. Man begeht sie durch große Festlichkeiten und ge-
denkt dabei auch der Toten, deren Wohlwollen für die neuen Acker-
früchte wichtig ist. Das ist die einzige regelmäßige Institution des
Geisterdienstes.
188 J- Raam
aus und sagt: „Wenn ich einmal bei den Geistern bin, so
werdet ihr sehen, was ich euch antun werde. Nur mit einem
Leopardenschwanz kann man mich begütigen." Oder: „Nur
mit Elefantenmilch kann man meinen Zorn stillen."^ Einen
solchen Geist kann man mit keinem Mittel erbitten, er wird
seine Angehörigen vertilgen. Manche suchen dann aber einen
Medizinmann; der entfernt einen Zahn aus dem Schädel jenes
Menschen, der den Fluch gesprochen, und bindet ihn zusammen
mit einem Zaubermittel. Nach erfolgter „Bindung" vermag dann
der Geist nicht mehr zu töten. Stirbt aber ein solcher an
einem Ort, ohne daß man weiß, wohin er verschwunden ist,
dann kann man ihn nicht mehr „binden".
Bei allen Geistern ist der letzte Fluch das Schrecklichste.
Der Fluch der Schwester aber ist der schlimmste, er hat die
Eigenschaft zu wüten.
Hast du jemand in der Familie, der z. B. mit Aussatz*
behaftet ist, so nimmst du dich ihm gegenüber sehr in acht,
damit er dir nicht nach seinem Tode den Aussatz anhängt.
Dieser Umstand ist es, der die Dschagga hauptsächlich ver-
anlaßt, ihre Familienangehörigen zu lieben. "
[B erzählt, wie schon bei Leibesleben die Verletzung der
Familienbande unheilvoll sei: Wenn dein Vater, Mutter, Bruder,
Oheim unwillig sind bei Leibesleben, wenn sie über dich auf-
gebracht sind und dir zürnen, so werden auch jene, die bereits
verstorben sind, unwillig und du mußt unheilvolle Dinge er-
fahren. Hat daher jemand mit diesen Streit, so beeilt er sich
mit der Versöhnung und bringt auch Bier dar, um damit zu
den Geistern zu beten, zum Zeichen, daß der Streit beendet
sei. — Auch wenn jemand mit seiner Frau Streit hat und er,
* Das soll heißen: Ich bin auf keine Weise zu versöhnen. Leoparden-
schwanz und Elefantenmilch sind Dinge, von denen eines so unmöglich
zu erlangen ist, wie das andere.
' Die echte lepra kommt am Berge vor; unter dem Wort saka
•werden aber auch bösartige Ausschläge zusammengefaßt.
Die Religion der Landschaft Moachi am Eilimandjaro 139
der Mann, übergibt sie den Geistern^, so suchen sie beide^ wenn
etwa die Frau später erkrankt, zwei Stücke Kleinvieh, eines
für die Frau und eines für den Mann, und beten damit zu
den Geistern. Das nennt man Verfehlungsopfer (?). Nach der
Opferung bringt die Frau Bier herbei un4 spendet es dem
Mann, damit sein Sinn freundlicher werde. Geraten sie über
etwas Kleines oder Großes in Streit, so bringen sie es bald zum
Austrag, indem sie meinen: Wenn sie miteinander erzürnt blieben
und Kinder erzeugten, so würden diese sterben, wegen ihrer
gegenseitigen Feindschaft. Oder, wenn der Mann seine Frau
geschlagen hat, und diese nachher zurückkommt, so schneidet
er einer Ziege ein Ohr ab und sie stecken einander die sitsonu
an: damit machen sie den Zorn wieder gut, den sie gegen-
einander hegten. Darauf kocht die Frau dann Essen für den
Mann und dieser ißt davon. Bevor er nic^t der Ziege das Ohr
abgeschnitten hat, kann sie für den Mann weder kochen, noch
mit ihm essen. — Wenn es aber ein ganz großer Streit ist,
der eine Trennung beider verursacht hat : die Frau infolgedessen
wieder zu den Ihrigen gegangen ist und dort eine lange Zeit,
etwa ein Jahr zugebracht hat, mit einem Kind, so gibt ihr der
Vater, wenn sie später wieder nach Hause, zu ihrem Gatten,
zurückkehren will, ein Stück Kleinvieh, dem ein zweites von
dem Mann zugesellt wird, zum Opfer. Dies Stück Kleinvieh
heißt: Die Ziege der Wiedereröffnung der Türe, da sie eben
für lange Zeit von ihrem Mann getrennt war und sein Haus
leer gelassen hatte. — Oder der Mann schlägt etwa die Frau und
die Frau verletzt ihn durch einen Biß, so ist das eine schwer-
wiegende Streitsache. Wenn nämlich bei den Dschagga ein
Weib einem Mann eine blutende Verletzung beibringt, so ist
das etwas sehr Ernstes. Vor ihrem Vater (oder Bruder) wird
die Streitsache zum Austrag gebracht. Die Frau bringt dann
' Siehe über das idambika icarunm oben S. 163. Die Formel der
Verwünschung lautet einfach: Ich übergebe dich den Geistern.
190 J- Raum
eine Ziege, um die Verletzung gut zu machen, die sie dem
Mann beigebracht hat.
Bei diesem ihrem Tun leitet die Leute der Gedanke: die
Geister sind in gleicher Weise darüber erzürnt. Wenn eine
Person, die über dir {mnene = älter, größer) ist, in Gedanken
deinetwegen murrt, weil du dich gegen sie vergangen hast, so
werden die Geister für sie mit böse und es kann für dich Un-
heil entstehen aus dem Zorne der Person, die über dir ist. So
heißt es eben, daß der Mann über der Frau sei. Wenn er auf-
gebracht ist, so entsteht für die Frau Unheil aus dem Zorne
des Gatten. Auch über Sohn und Tochter hat er (der Mann)
Macht und kann sie den Geistern übergeben, wenn sie ihm un-
gehorsam sind. — Oder, wenn die Mutter böse ist über (das
Kind), so sind auch die Geister böse. — Auch die Mutter des
Gatten und die Fl-au dürfen keinen Streit miteinander be-
kommen. Es gebührt der Frau, ihrer Schwiegermutter Ehr-
furcht zu erweisen, so daß sie einander nicht feind werden,,
sonst könnte der Frau etwas zustoßen, wegen der Schwieger-
mutter. Auch dem Schwiegervater darf sie keine bösen Worte
geben, sondern muß ihn ehren. In dieser Weise übt jemand
Aufsicht über sein Haus. Erhebt sich ein Streit zwischen der
Mutter des Gatten und der jungen Frau des Sohnes, so suchen
sie eine Ziege, spucken dieser beide Speichel auf den Kopf und
sagen dabei, daß sie des, was sie einander angetan hätten, ein-
ander nicht mehr gedenken wollten. In gleicher Weise solle
der Sinn der Geister sich erheitern, weil Schwiegermutter und
Schwiegertochter sich wieder gut wären; die Schwiegertochter
erklärt dabei, daß sie nicht mehr so handeln wolle. Zu ihrem
Gebete gießen sie wohl auch nur Milch, Bier oder in Wasser
aufgelösten Honig aus auf den Boden, zur Gabe an die Geister.]
Andere Geister, die den Menschen verderben können
Abgesehen von den Geistern der Familienmitglieder ist es
der Geist des Blutbruders, der Gaben von dir heischt. Hast
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 191
du mit jemand einen Blutbund geschlossen und die Blut-
brüderschaft übertreten, so wird er dir zum Verhängnis.
Ein anderer ist der (einstige) Besitzer des Pflanzungs-
grundstückes, das du bewohnst, ohne es von deinem Vater
ererbt zu haben. Er will seinen Anteil haben an den Feld-
früchten, die du darauf baust
Wenn du eine Pflanzung bewohnst, auf der der Fluch
eines der Ahnen der Sippe, die Besitzerin der Pflanzung war,
lastet, so wird sie dir zum Verhängnis. Erzeugst du ein Kind,
80 stirbt es. Auch dein Vieh stirbt und dein Weib. Zuletzt
bist nur du übrig.
4
(Urteil über den religiösen Wert des Geisterdienstes. ) Ver-
mag denn der Geisterdienst den Leuten Befriedigung zu ge-
währen? Das läßt sich schwer behaupten. Er vermag es
ganz und gar nicht. Aus welchem Grund? — Doch das kann
nur ein Christ verstehen. — Wie sollen sie denn Freude daran
empfinden? Die Geister wollen immerzu Gaben haben; sie
sind gierig und geben sich nicht zufrieden. Sie kennen keine
Güte, auch Mitleid ist ihnen etwas Fremdes. Man richtet häufig
durch Gaben begleitete Gebete an sie, aber sie wollen es nicht
Wort haben, daß sie etwas erhalten hätten.* Deswegen sprechen
viele: „0 wenn mir doch jemand den Weg zu den Geistern
zeigen wollte, so würde ich sie niedermachen mit dem Schwerte!
* Von der Mißgunst der Geister, auch gegeneinander, erzählt B
ein bezeichnendes Beispiel: Wenn ein Kind geboren ist, so ruft der
Vater die Sippe und schlachtet etwa zwei Rinder (natürlich nur der
Wohlhabende). Bei der Geburt eines Mädchens schlachtet man ein
männliches und ein weibliches Tier. Man sagt: Den Geistern, die einem
Menschen ein Kind geschenkt haben, gebührt Dank. Die männlichen
Geister sollen das männliche, die weibUchen das weibliche Tier essen.
Schlachtet man aber zwei männliche Tiere und das Kind ist ein Mäd-
chen, so nehmen die männlichen Geister den weiblichen das Fleisch mit
Gewalt weg und diese gehen leer aus. Darüber werden sie erbost und
das Kind wird möglicherweise krank und stirbt.
192 J- Raum
Warum spende ich ihnen immer aufs neue Gaben und sie wollen
mir doch keine Linderung gewähren?" Ja, man lästert die
Geister sogar. Böse Dinge, die den Leuten begegnen, kommen
nach ihrer Meinung von den Geistern her: „0 was ist das für
eine böse Sache! Sie ist so schlecht, wie die Geister!" Wenn
zu den Geistern für einen Kranken gebetet wird, so wird ja hier
und da einer gesund. Aber oft machen sich die Leute arm
mit den Geistern, ohne daß sie Linderung erfahren, so daß
einige überhaupt an ihnen verzweifeln und nicht mehr öfter
zum Wahrsager gehen, noch häufiger opfern mögen. Sie be-
finden sich aber gerade so, wie die anderen.
Wenn einer allen möglichen Geistern geopfert hat, ohne
Linderung zu erfahren, so läßt er sie zuletzt und richtet seinen
Blick zum Himmel.
Es gibt auch niemand, der zu den Geistern gehen wollte,
um dort zu bleiben. Nur für dieses Leben betet man zu den
Geistern und verläßt sich auf sie. (Man spricht:) „Jeder freue
sich, solange er hier am Leben ist. Nach dem Tode gibt es
nichts Gutes mehr. Bei den Geistern ist nichts Gutes". Oder:
„Wer mir zugehört, der soll mich heute lieben und mir etwas
zum Genießen geben. Sterbe ich, so hat es ein Ende". So
pflegen die Leute zu sprechen.
n
Gott (Muwa)
(Einleitende Bemerkungen über den Gottesglauben der Dschagga)
(Über dem ganzen Geisterdienst schwebend, aber ohne
innere Verbindung mit ihm, kennen die Dschagga [eine Art
göttliches Wesen. Teilen sie diesen Gedanken mit allen Bantu-
stämmen, so nimmt er doch bei ihnen besondere Formen an
Den bei den Ostafrikanern häufigsten Gottesnamen: MuungUf
Mulungu usw. — nach Bleek sind sämtliche Formen abzuleiten
von dem Adjektiv kulu = alt; also etwa zu deuten = der
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 193
Uralte; bei den Südafrikanern findet sich für Gott auch: Molimo,
was sehr wahrscheinlich mit Kanimu zusammenzubringen ist
— haben die Dschagga nicht. Sie nennen Gott Ruica^. ein
Wort das in der absoluten Form nur Sonne, in der lokativen
aber Himmel bedeutet. Diesem Wort JRuwa fehlt das Präfix »w,
das im Bantu die Person bezeichnet (Mstiahili = der Suahili;
Plur.: WasuaJiili). Die Dschagga sprechen in einem Atem ganz
unbefangen von Kmca als dem Tagesgestiru — Ruwa geht auf,
Ruica geht unter, Itutca scheint sehr — und von RutOfi als
göttlichem Wesen: Ruica hat die Menschen erzeugt, usw. Be-
reitet das unserem Denken Schwierigkeiten, so bestehen solche
für den Naturmenschen eben nicht; bei ihm waltet, wie beim
Kinde, die Phantasie vor statt des Verstandes. Physikalische
Kenntnisse hat er nicht; die Grenze des übernatürlichen und
Geheimnisvollen beginnt für ihn sehr bald; es ist ihm ganz
natürlich, Dinge der Außenwelt, von denen starke Wirkungen
auf ihn ausgehen, zu beseelen, in ihnen mächtige Wesen zu
sehen. Aus der Beseelung des wunderbaren Tagesgestims oder
des mächtigen Himmelsdomes, der aUgegenwärtig über dem
Menschen sich wölbt mit seiner flimmernden Sternenpracht,
von dem der Blitz herabzuckt, der Regen und Dürre sendet,
wird ihre göttliche Verehrung zu erklären sein.
Natürlich ist dieser animistische Sonnen- oder Himmels-
glaube eines Bantuvolkes nicht zu verwechseln mit echten
Astralreligionen. Daran hindert schon der Umstand, daß die
eigentliche Religion der Dschagga der Ahnendienst ist Gott
kann neben den Geistern nicht aufkommen; ein eigentlicher
Kultus wird ihm nicht gewidmet; Ruwa droht oft zu einer
bloßen Idee oder Ahnung sich zu verflüchtigen, die keine
praktische Bedeutung mehr hat. Um so unerklärlicher wird
es freilich, daß solch eine Idee, mit der man praktisch fast
nichts anzufangen weiß, bei den Bantu sich findet.
* Es ist das Bantuwort für Sonne, das in anderen Dialekten vor-
kommt in den Formen: Izuxca, jua usw.
Archiv £ Beligionswissenschafc XIV jg
194 J. Raum
Nach dem Gesagten werden die Vorstellungen der Dschaggä
über Ruwa charakterisiert durch eine große Unbestimmtheit.
Bei den Aussagen über Uuwa handelt es sich mehr um Gottes-
sagen, oft sehr merkwürdiger Art, als um von allen geteilte
Meinungen. Wie echte Sagen verändern sie sich im Munde
jedes Erzählers. Die dichtende und gestaltende Phantasie des
Volkes, aber auch die Anfänge des Denkens schaffen sich in
diesen Vorstellungen über Ruwa mit ihren Ausdruck.
Allerdings gibt es gewisse allgemeine Züge, mit denen
Rmva ausgestattet wird. Aber sie ergeben eben schattenhafte
Umrisse, kein Bild. So denkt man sich Ruwa als groß, ja
ungeheuer. Ferner erscheint er oft neben den armseligen,
immer fordernden Geistern als der reiche, milde Spender. Aber
dabei bleibt er für den einzelnen doch ein unfaßbares Etwas;
über seine Gestalt und Lebensweise macht man sich die wunder-
lichsten Vorstellungen. Vor allem ist seine Macht gegen die
der Geister in keiner Weise abgegrenzt. Er zeigt sich auch
nicht eifersüchtig darüber, daß man in der Regel die Geister
statt seiner verehre. Würde man einen Dschaggä fragen, wer
größere Macht hätte, Ruwa oder die Geister, so würde er wohl
Ruwa die größere Macht zuschreiben. Aber er handelt eben
gerade umgekehrt.
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn
es keinen festen Kreis von Wirkungen gibt, der eindeutig auf
Ruwa zurückgeführt wird. Das einzige Gebiet, auf dem seine
Macht nicht in Kollision tritt mit der der Geister, scheint,
nach der übereinstimmenden Meinung der meisten, das Gebiet
der atmosphärischen Wirkungen: Regen und Dürre, die
Nahrungsmangel im Gefolge hat, kommen ja offensichtlich
von oben herab. Wenn aber morgens und abends vou
manchem Dschaggä um Schutz und Hut zu Ruwa gebetet
wird, oder um Vieh, und dieser dadurch als Förderer des
Lebens und Erhalter erscheint, so werden eben Bitten um
Verlängerung des Lebens, um Güter, wie Vieh oder Nach
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 195
kommenschaft, noch öfter an die Geister gerichtet. Selbst bei
allgemeinen, das ganze Land berührenden Angelegenheiten,
wie bei dem Gedeihen der Früchte des Feldes oder bei Seuchen,
denkt man zunächst an die warumu, erst in zweiter Linie an
Buica. Daß jene fortdauernd lebendig in das Geschick der
Oberirdischen eingreifen, davon hat man ein sehr deutliches
Bewußtsein, während der Einfluß von Buiva dunkel und un-
bestimmt bleibt L^nter diesen Umständen ist auch die Trag-
weite der Sätze, die man gelegentlich hören kann: Rutca
limohye wandu =■ Ruwa ist der Erzeuger der Menschen, oder:
limia bestimmt dem Menschen die Grenzen des Lebens, eine
geringe. Manche lassen die Menschen von selbst entstehen,
manche denken an die uanimit. Nur der Tod derer, die im
natürlichen Alter sterben, scheint sich auf Ruwa zurückzuführen .
Dagegen das Ableben derer, die in früheren Jahren sterben,
haben entweder Zauberei oder die uanimu verschuldet. Ein
Moschimann sagte mir einmal: Indem die Geister die Menschen
töten, stehlen sie dieselben dem Ruwa. Charakteristisch für
jden Begriff von Ruwa ist es, daß man in gewissen Ausnahme-
lfällen auf ihn zurückgreift. Von einem solchen, der auf un-
erklärliche oder plötzliche Weise, etwa durch einen Unfall
oder durch ein wildes Tier, ums Leben gekommen ist, hört
iraan den Ausdruck: ni Ruwa lyoke lyanibäJia = sein Ruwa
hat ihn getötet. Krüppel darf man nicht verlachen, Ruwa hat
isie so gemacht. Wenn eine allgemeine Hungersnot ins Land
jlkommt, so heißt es: Ruwa lyatsa = Ruwa kommt. Ein ganz
! lohne Anhang dastehender, schutzloser Mensch heißt: mndu o
i Ruwa == einer, der Ruwa zugehört, der sich auf Rutca ver-
lassen muß. In Moschi wendet man sich bei einem Kranken
:iann an Ruwa, wenn alle Geisteropfer nichts fruchten. Das
in den oben angeführten Ausdrücken Bezeichnende ist nun
lies, daß, wie man finden wird, in ihnen Ruwa sich ersetzen
äßt durch: Schickung, Schicksal; mndu o Ruwa = einer, der
uch auf sein gutes Glück verlassen muß.
13»
196 J Raum
Wir können dazu schreiten, das Resultat unserer kurzen
Untersuchung zu ziehen. Wir sehen aus allem, daß die
Dschagga mit dem Begriff Ruwa sehr undeutliche Vorstellungen
Terbinden. Hinter der scharfumrissenen Realität der Geister,
deren Art das Spiegelbild des Dschagga selbst ist, und an die
für ihn fast ausschließlich Segen oder Unheil geknüpft ist,
tritt Ruwa zurück. Er ist eine unbestimmte und unfaßbare
Größe, von der im letzten Grunde abhängig zu sein man
freilich das dunkle Gefühl hat. Man darf vielleicht Ruiva
deuten als die in der Sonne oder im Himmel verkörperte
schaffende oder vernichtende Naturmacht, die als Einzelwesen
vorgestellt wird.
Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß auf den Gottes-
glauben der Dschagga fremde Einflüsse eingewirkt haben.
Gott in dem Tagesgestirn oder im Himmelsgewölbe zu sehen,
scheint keine genuine Bantuvorstellung zu sein. Wohl aber
sind die Masai Himmelsanbeter. Die Dschagga haben auch
sonst manches von den Masai angenommen, zum Teil sich mit
ihnen gemischt. Dafür, daß die Gleichung: Gott = Himmel
von den Masai stammen könnte, ist noch der besondere Um-
stand ins Gewicht fallend, daß die Dschagga auch den Gottes-
namen der Masai: ngai kennen und anwenden. Auch
mohammedanischer Einfluß ist nicht ganz unmöglich. Es ist
historisch sicher, daß im Osten des Kilimandjaro Zuzug von
der mohammedanischen Küste her stattgefunden hat. Endlich
mögen wohl auch bereits von der christlichen Predigt die Gottes-
vorstellungen in gewisser, unbewußter Weise tangiert worden sein.)
Wenn die Leute oftmals zu den Geistern gebetet haben,
ohne Frieden und Freude zu finden, wenden sie sich zum
Himmel, zu Ruwa, dem Erzeuger der Menschen. Denn sie
sprechen: Der Erzeuger der Menschen ist Gott, der im Himmel
ist; von den Geistern sagen sie das nicht. Vielleicht gibt es
aber doch einige, die das von den Geistern denken Aber die
meisten schreiben es Gott zu.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 197
Von Gott haben sie keine deutlichen Vorstellungen, sondern
sie machen sich über ihn verschiedene Gedanken. Daß sie
sich solche verschiedene Gedanken über Gott machen, erkennt
man daran: 1. Am Tag sagt man wohl: Dem Rutva, der hier
am Himmel wandelt, verdanken wir die Rettung dieses
Menschen. So sagt man also, wenn man die Sonne am
Himmel sieht. 2. Nachts stellt sich einer wohl in den Hof,
sieht direkt himmelwärts und spricht: Ruua, Häuptling, Heil
dir! Du hast mich den Tag (gut) verbringen lassen, laß mich
auch die Nacht (gut) verbringen! — Auch am Morgen sehen
viele in derselben Weise gen Himmel, nach dessen Mitte, also
nicht gerade nach der Stelle, wo die Sonne aufgeht.' Sie
sprechen dabei: Dank sei dir, Ruwa, Herr, du hast mich in
der Nacht beschirmt! Beliebe mich auch tagsüber zu schirmen
und laß es mir nicht fehlen an etwas zum Sattwerden, Häupt-
ling! — Dabei werfen sie Speichel aus (himmelwärts).
Es scheint, daß sie bei Riitca zwar auch an die Sonne,
aber mehr an den Himmel im ganzen denken. Wenn man
geradezu glauben würde, daß die Sonne Ruwa sei, da würde
doch der, der in der Nacht (zu Rnua) betet, nach unten
blicken, weil man glaubt, daß die Sonne nächtlicherweise sich
unter der Erde (herumwandelnd) befinde. Auch abends würde
er sich dahin wenden, wo sie untergeht. Aber so machen sie
es keineswegs. Der Grund, weswegen sie an die Sonne denken,
ist der: sie wissen, daß die Sonne etwas sehr Großes ist, das
einen wunderbaren Glanz hat. Sie kann auch wandeln bei
Tag und bei Nacht, ohne Ruh und Rast. Es gibt aber nie-
mand, der dir angeben könnte, warum sie so herumwandele, ob
es sei, um zu wachen, oder aus welchem anderen Grunde. Sie
glauben auch, daß sie an Gestalt dem Menschen gleiche. Auch
rede sie wie ein Mensch und esse, und zwar Gras. Sie habe
' Der Erzähler meint, sie wendeten sich bei ihren Gebeten an
JRuwa fast mehr an den ganzen Himmel, als an die Sonne im be-
sonderen.
198 J- Raum
sich auch ein Gehöft errichtet: wenn sie im Zenit steht, so
sei sie in ihrem Gehöft angekommen. Der Mond aber sei die
Frau des Buwa und die Sterne seien die Rinder des Riiwa.
Die Geister sind veränderlich: sie gehen an den Geister-
ort, später steigen sie hinab nach Kilengetseny und endlich
Terwandeln sie sich in Tiere. Aber Buwa bleibt immer wie
er ist, nur streift er eben umher. Was dir Buwa bestimmt
hat, das trifft dich auch. Die Geister sind tückisch, Buiva
aber ist herrlich und macht die Menschen groß. Wenn Ruwa
erzürnt ist, dann sterben alle Länder aus. Buiva kennt Mit-
leid. Wenn es Buwa beliebt, einen Menschen gern zu haben,
so wird er groß. Ein kleiner Mensch, der verachtet ist und
von den anderen geplagt wird, wird später groß und vornehm
werden. Wenn Buwa will, so kommt Regen. Buwa aber hat
einen Medizinmann bestellt zur Aufsicht über den Regen.
Auch der Donner ist etwas von Buwa Gesetztes. Blicke ja
nicht unverwandt gen Himmel, sonst wirst du „die Kälber
Gottes" sehen! An manchen Jahren sieht man in der Nacht
(am Himmel) etwas wie eine Schlange, das sich bewegt (ein
Meteor), das ist ein „Kalb des Buwa". Wenn das jemand
sieht, so bedeutet das Schlimmes, vielleicht den Tod. Ein
anderes ist ein Komet. Das ist ein Zeichen von Buwa. Wenn
es erscheint, so will Buwa die Menschen schlagen.
Gebete an Buwa
An Buwa richtet man nicht so oft Gebete, wie an die
Geister. Man betet zu Buwa dann, wenn man die Geister
ohne Erfolg angebetet hat.^ Hat man den Geistern viele Tage
hindurch Opfer dargebracht, der Kranke gesundet aber nicht,
dann sagt man (wohl): „Jetzt hilft alles nichts mehr. Niemand
soll fernerhin zum Wahrsager gehen! Die jetzt zu schlachtende
Ziege diene als Opfer für Biiwal" Die Ziege wird dann
* Man darf darin doch vielleicht eine Ahniing sehen, daß von Riiica
im letzten Grunde auch die Geister abhängig seien. ^
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 199
herbeigeschafft, wenn die Sonne im Zenit steht. Man bringt
sie in den Hof, spuckt (indem man sie mit den Händen hält)
ihr auf den Kopf und spricht: „Hier ist die Ziege, Ruwa,
mein Häuptling. Du allein weißt, wie du mit diesem Menschen
verfahren wirst, als ob du ihn gleichsam von neuem erzeugest."
Die Ziege wird dann weggenommen, hinter das Haus gebracht
und geschlachtet. Das Fleisch verzehren sie selbst. Ruwa
erhält nur die Seele.*
Wenn man in den Krieg geht, so finden Opfer an die
Geister statt, aber auch an Rutva: „Ruwa, mein Häuptling,
mögest du mich an die Hand nehmen und sicher führen! Ge-
währe mir auch ein Rind, Häuptling, damit ich dir mit ihm
ein Opfer bringe." — Kehrt der Kriegszug mit Beutevieh
zurück, so opfert und dankt man das einemal den Geistern,
das anderemal Ruiva (indem man dabei spricht): „Bleibe gesund,
Ruiva^, mein Häuptling, du hast mich wohlbehalten zurück-
gebracht, so daß ich nach Hause gelangte! Hier ist eine Ziege,
Reicher, mögest du mir später eine andere verleihen!"
Der Mond heißt die Frau des Rmia, weil sie an Gestalt der
Sonne gleicht und auch den Weg geht, den die Sonne wandelt.
Der Mond ist kleiner, als der Gatte. Er waltet in der Nacht',
des Tags über aber der Gatte. Auch sein Licht ist kleiner.
An den Mond richtet man weder Gebete, noch Lob-
preisungen.* Nur bei kleinen Kindern findet sich folgender
' Solche Opfer an Buica sind selten.
* Gesundheit wünscht der Dschagga zum Abschied, zum Dank und
zur Huldigung.
* Wenn die Sonne sich zum Untergange neigt, dann heißt es:
Euwa lyanengija mka ngaico = Buwa übergibt seiner Frau den Schild.
Bis zum Morgen soll sie dann walten.
* Im Leipziger Ev. - Luth..Missionsblatt erzählt Missionar Gutmann
Beispiele von Mondverehrung aus den westlichen Dschaggalandschaften
(Jahrg. 1909, S. 17): „Der Tag, au welchem die schmale, feine Mond-
sichel zum ersten Male wieder am westlichen Horizont sichtbar wird, ist
besonders glückbringend. An ihm muß man daher sein Gebet an den
Mond tun. Wer das tun will, stellt sich an diesem Abend auf einen
200 J- Kaum
Brauch. Beim erstmaligen Erscheinen der neuen Mondsichel
rufen sie aus: „Mond, ich habe dich wahrgenommen! Das
Rind des Vaters möge ein Kuhkalb werfen, damit ich Milch
zu trinken bekomme; das liind des Oheims aber möge ein
Ochsenkalb werfen, damit ich vom Fleischanteil zu essen be-
komme." — Der „Fleischanteil" ist das Fleisch, das die ver-
heiratete Schwester und der Schwestersohn vom Bruder bzw.
Oheim erhält und der in der Hüfte besteht. — Aber sie
sprechen nur so beim Erscheinen der Mondsichel; es bedeutet
kein Gebet, sondern es sind nur Worte.
Oder, wenn die Mondsichel sich so neigt, daß sie gebeugt
ist, indem das eine Ende in schiefer, nach abwärts gewendeter
Stellung sich befindet, so kommt Hungersnot hieher in die
Pflanzungen. Indem man aber so sagt, schreibt man die Her-
kunft nicht dem Mond zu, sondern Buwa.
Die Sterne sind die „Rinder des Buwa'^. Ob er sie aber
auch schlachtet, darüber weiß niemand Bescheid. Sterne, die
von den Leuten in ihrem Gang beobachtet werden, sind die
Venus und die Plejaden.
Es gibt zwei Venussterne, einen kleinen und einen großen.'
In früheren Zeiten, nahe 1895, da fürchteten sich manche
Leute, die eben nicht wissen, daß die Venussterne umher-
wandelu und sich trennen und daß der eine am Morgen
sichtbar ist, vor Anfang der Morgenröte, und der andere am
Abend sich zeigt an dem Ort, wo die Sonne untergegangen
ist. Als sie das wahrnahmen, daß die Venus am Morgen nicht
Hügel, spuckt dem Mond viermal entgegen, wobei er ansdrücklich bis
vier zählt und betet dann: „Mein Mond, gib mir Frieden, gib mir
Speise, halte alle Händel von mir fern!" Ein charakteristisches Rache-
gebet an den Mond lautet: „Mond ich bitte dich, brich ihm Hals und
Nacken." — Vielleicht sind es Frauen, die sich in solcher Weise au ila»
„Weib des Euwa"' wenden.
' Obwohl der Moschimann den Morgenstern und den Abendsteru
mit demselben Worte bezeichnet, so ist ihm doch unbekannt, ilaß e«
ein Stern sei.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 201
mehr schien, da fürchteten sie sich — sie waren der Meinung,
daß die Venus alle Morgen gesehen werde — und glaubten,
es würde vielleicht ein unheilvolles Ereignis eintreten, vielleicht
würde ein König von einem anderen aus seinem Wohnsitz
vertrieben werden. — Auch den Lauf der Plejaden pflegte
man in früheren Zeiten zu betrachten. Aber jetzt sind derlei
Dinge bei vielen in Vergessenheit geraten.
ni
Andere Stücke aus dem Glauben der Dschagga
Die Medizinmänner
(Vorbemerkungen über das Zauber wesen bei den Dschagga.
Neben dem Geisterdienst nimmt der Zauberglaube einen breiten
Raum ein im religiösen Meinen und Handeln des Volkes.
Allerdings ist dieser Zauberglaube und -brauch im engeren
Sinn nicht zur Religion der Dschagga zu rechnen; er ist unter-
religiös; mit dem Geister- oder Gottesglauben hat er nichts
zu tun. Er beruht auf der Überzeugung, daß bestimmte
sinneufäUige Dinge durch Beschwörungen, die in der Regel
mit einer Handlung (Manipulation) verknüpft sind — bei den
Dschagga spielt das Bespucken eine große Rolle — , Sitz nütz-
licher oder schädlicher Kräfte magischer Art werden können.
Gewiß darf man da unterirdische Verbindungskanäle mit dem
Fetischismus annehmen. Aber von Fetischismus selbst ist hier
besser nicht zu sprechen. Jene Zauberkräfte werden von
unseren Ostafrikanern durchaus als dingliche behandelt. Sie
werden nirgends Objekte kultischen Handelns bei ihnen.
Der Dschagga unterscheidet prinzipiell zwischen Heil-,
bzw. Schutzzauberei, die von öifentlich dafür bekannten Per-
sonen, den wahanga oder Medizinmännern, berufsmäßig aus-
geübt und honoriert wird und zwischen der bösen, verderb-
lichen Zauberei, die er ivusavi (v = w) nennt. Sie gilt als
ein Verbrechen, da sie den Menschen an Leib und Leben
202 J- Raum
schadet, und geht im Geheimen im Schwange, sei es, daß sie
in bestimmten Familien sich forterbt, oder von einzelnen ge-
legentlich ausgeübt wird. Es kann natürlich vorkommen, daß
ein Medizinmann sich auch auf verderbliche Zauberei versteht,
was er aber selbstverständlich streng geheim hält.
Die genannten Medizinmänner nun, die ihr Handwerk nur
nebenbei, nicht als einzige Beschäftigung betreiben, weil sie in
der Regel dafür nur gering honoriert werden, haben mannig-
faltige Tätigkeiten, die sich häufig auch auf verschiedene Per-
sonen verteilen. Da gibt es walasa, deren Aufgabe ist, den
Verkehr zwischen den Geistern und ihren lebenden Familien-
angehörigen zu vermitteln, ilasa = die Geister befragen durch
eine Art Los. Einer, der zur Zunft der walasa gehen will,
verschwindet plötzlich vorher auf wenige Tage; es heißt dann,
die Geister hätten ihn zu sich geholt, um ihm Offenbarungen
zu geben. Oder er gibt an, im Traum von ihnen entführt
worden zu sein.
Eine andere Tätigkeit der wahanga ist das itamana == be-
sprechen. Sie besprechen die Krankheit, dabei verabreichen
sie wohl auch Medizin \ die sie ebenfalls besprechen; die
Medizinmänner kennen eine Reihe medizinischer Pflanzen. Oder
sie fabrizieren Schutzzauber, z. B. Amulette. Weiter gibt es
wahanga, deren Tätigkeit darin besteht, solche, die durcli
schlimmen Zauber geschädigt worden sind, zu entzaubern. Ist
jemand ein Fremdkörper, Holzkohlen, Erde oder ein kleiner
Knochen, in das Fleisch hineingehext worden, so machen sie
Einschnitte an der betreffenden Stelle — das nennt mau:
isara = einschneiden — und saugen (angeblich) mit dem Blut
^ Man darf nicht glauben, daß die Naturvölker ganz ohne medi-
zinische Kenntnisse seien. Vor etwa zehn Jahren war ein Sudanese der
Sphutztruppe in Moschi erblindet. Der Arzt der Militilrstation behandelte
ihn lange ohne Erfolg. Ohne Vorwissen des Arztes begab er sich dann
in Behandlung eines heidnischen Mnyamuezimannes, der damals auf der
Missionsstation Moschi arbeitete. Nach einigen Tagen kam er sehemi
dann zurück zum größten Erstaunen aller Europäer der Militärslation.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 203
das Corpus delicti aus dem Körper; sie bringen dasselbe, es
aus dem Munde hervorzieliend, nachher zum Vorschein. Der
sinnenfälliore Gecrenstand, der Leib und Leben eines Menschen
bedrohte, könne aber auch von ihm entfernt sein. Der böse
Zauberer nimmt bestimmte Dinge, die mit Leben und Leib
des Menschen oder Viehes zusammenhängen, z. B. Haare,
Fingernägel, heimlich weg — die Dschagga nennen das: iiaäa
lifo = eine Spur nehmen — , und verbirgt sie unter Ver-
schwörungsformeln und Flüchen an einem unbekannten Ort.
Dann gehen gegen Leib und Leben dessen, mit dem jenes
Ding in Verbindung gestanden hat, unheilvolle Folgen aus.
Da ist es denn Aufgabe des Medizinmannes, herauszubringen,
wo der böse Zauber verborgen liegt. Dies nennt man ikuheo.
Dabei spielen Rauch und Gnuschwanz eine Rolle. — Um-
gekehrt kann der mlianga seinerseits ein Übel oder eine Krank-
heit ,,binden" {ifunga), eben dadurch, daß er einen Stoffteil aus
dem kranken Körper fortbringt und irgendwo unterbringt.)
Da aus ihrem Glauben an die Geister und an Rtitca den
Leuten kein wahrer Segen und kein Friede kommt, so haben
sie nichts, worauf sie vertrauen können. So suchen sie denn
die Medizinmänner auf, die im Besitz von Heil- und Schutz-
zaubermitteln sind, die auch Amulette zu verfertigen verstehen
zum Schutze ihres Lebens und zur „Bindung" (Unschädlich-
machung, Abhaltung) von Dingen verschiedener Art.
Wenn jemand erkrankt, so gibt er sich nicht zufrieden
mit Orakeln und Opfern, sondern er bemüht sich in vielerlei
Weise. Er ruft einen Medizinmann, der zu besprechen ver-
steht, und dieser bespricht ihn. Was ist nun ein solcher, der
zu besprechen versteht, für ein Mensch? Er hat Zaubermittel,
die die Krankheit „beschwichtigen" {yolora abkühlen) und
andere, er weiß auch den Ort, wo eine schlimme Zauberei
hinversteckt worden ist. Es heißt aber auch, daß ein Medizin-
mann, der Besprecher ist, auch imstande sei, einen Menschen
zu behexen (mit schlimmer Zauberei}, so daß er sterbe. — Er
204 J. Raum
ist auch im Besitz von einer Wurzel ndalaho (von sehr starkem
Geruch) und vieler Arzneien oder eines Gnuschwanzes. Alle
diese Dinge hat er von einem anderen Medizinmann erstanden,
der vor ihm tätig war. Im Begriff, einen Kranken zu be-
sprechen, kaut der die Wurzel ndalaho, so daß der gute Geruch
spürbar wird, und nimmt etwas Wasser in den Mund. Dies
getan, so faßt er, falls der Patient etwa an Kopfweh leidet,
dessen Kopf mit beiden Händen und spricht: pya — pya — pyino
werde kühl wie der Baumschliefer und das mendel^ Weiter
zählt er auf (mit dumpfer, murmelnder Stimme) Namen von
Bergen und Flüssen, die er kennt. Ist er fertig mit dem Be-
sprechen, so knackt er mit den Fingergelenken oder er sucht
ein Orakel mit dem Blatt einer Drazäne und gibt dir an, daß
du den Geistern Bier spenden sollest oder etwas anderes. Ein
großer Medizinmann ist auch im Besitze von guten Arzneien;
die holt er hervor, bespricht sie und gibt sie dir. Die Arznei
heilt dich dann im Verein mit der Besprechung.
Zu einem Verrückten (msuko)^ wird ein Medizinmann ge-
rufen. Er kommt und entfernt einem verschiedene Dinge aus
dem Leibe (die hineingehext worden sind und den Wahnsinn
verursacht haben), als da sind: eine Feder, Pingernägel. Er
bespricht und bindet sie in ein Bündelchen, das dann an einem
Orte verborgen wird, der zwar den Angehörigen des Verrückten
bekannt ist, diesem selbst aber nicht. Das nennt man „Binden
des Wahnsinns". Zuvor schlachtet man ihm (dem Medizinmann)
* Der Baumschliefer (dendrohyrax) , ein murmeltierartiger Nager,
der im G-ürtelwald des Berges lebt, ist den Dschagga heilig; sein Blut
dient den Zwecken des yolora, der Beschwichtigung schädlicher Mächte.
Auch das mende genannte Tier ist heilig; ich kann es nicht identi-
fizieren.
- Man darf nicht glauben, daß die „Naturvölker" frei wären von
Störungen des Nervensystems. Temporärer Wahnsinn scheint bei den
Dschagga nicht ganz selten zu sein. Die Sache bedürfte der Unter-
suchung. Es ist nicht unmöglich, daß es sich in manchen Fällen um
eine Autosuggestion handelte.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 205
ein Stück Kleinvieh. Wird der Verrückte gesund, so erhält
er ein Rind.
Auch der Aussatz wird „gebunden".^ Der Medizinmann
gibt dem Kranken Arznei und saugt den Eiter mit seinem
Munde aus der kranken Stelle. Manche tun den Eiter in eine
Kürbisflasche, in der sich Milch befindet, die wird dann auf
den Markt getragen und dort ( unter die Marktprodukte) hinein-
geschmuggelt. Deswegen mögen viele Wohlhabendere keine
Milch vom Markte. Hat etwa die Arznei den Aussätzigen gesund
gemacht, so heißt es, der Medizinmann habe den Aussatz „ge-
bunden".
Einer schwangeren Frau wird eine Schnur besprochen vom
Medizinmann, die sie sich anlegt, um keine Fehlgeburt zu haben.
Jeder Mensch aber wünscht ein Amulett (mbingu) oder
ein „Hölzchen", das eingekerbt ist in der Mitte. Es ist be-
sprochen. In der Mitte hat es ein Loch, so daß es, unter
den Perlen an einer Schnur aufgereiht, am Halse getragen
werden kann. Die Amulette und „Hölzchen" bilden ein Schutz-
mittel für den Menschen, daß er nicht behext, von keinem
wilden Tier gefressen werde, daß man ihn gern habe, usw.
Wenn du mehrere Amulette anhast und dich etwa anschickst,
Bier zu trinken, so tröpfelst du zuerst etwas Bier auf das
Amulett.' Wenn etwa ein böser Zauber darin ist, so kann
er dich nicht mehr behexen. Manchmal erhält man auch ein
Amulett, das man verschluckt und das im Leibe bleibt. Wird
einem dann etwas zum Genüsse gereicht, das Zauberei enthält,
so erbricht man das Genossene wieder. Den Häuptlingen wird
eine Baumschlange besprochen, die sie verschlucken und die
in ihrem Leibe lebendig bleibt. Kein Mensch kann ihn dann
mehr behexen. Bei seinem Tode kommt dann die Schlange
▼on selbst wieder hervor.
* Es wird sich wohl hier nicht um die echte Lepra, sondern um einen
»useatzähnlichen Ausschlag oder langwierige Geschwüre handeln
'' Auf andere Amulette wird im Augenblick der Gefahr gespuckt.
206 J- Raum
Oder wenn dir Holzkohle oder ein Knochen von irgend-
einem Lebewesen in den Leib gehext worden sind, so rufst du
den Medizinmann, und er kommt, dir einen Einschnitt zu
machen. Zuerst steckt er ein Feuer an mittels des Feuerquirls
und Feuerbrettchens ; an dessen Rauch riecht er und erkennt
so, an welcher Stelle du behext bist. Dann macht er einen
Einschnitt und bringt mit seinen Backen die Kohle hervor.
Oder es gibt böse Zauberer, die von deinem Leibe dir
eine „Schur" nehmen, Haar oder etwas anderes, infolgedessen
du erkrankst und hinschwindest, bis du endlich stirbst. Von
der Frau wird Menstrualblut genommen und sie ist dann nicht
imstande, ein Kind zur Welt zu bringen. Auch Milch von
den Kühen wird fortgenommen und in einer Baumhöhle ver-
borgen, oder der böse Zauberer wirft ein Zaubermittel in die
Rinderabteilung, dann trocknet die Milch ein (im Euter).
Aber vielfach nimmt man wahr, daß die Medizinmänner
bewußte Betrüger sind. Manche sieht man mit Kohle in den
Backen, wenn sie von zu Hause kommen. Manche haben
andere Dinge, z, B. solche, die zu schlimmer Zauberei dienen;
sie geben aber an, sie hätten sie entfernt aus dem Leibe oder
der Hütte eines Menschen.
Die bösen Zauberer
Worin besteht die böse Zauberei bei den Dschagga? Es
sind Dinge vielerlei Art, die zubereitet werden, um dem Wider-
sacher im geheimen an Leib und Leben zu schaden. Unc
zwar werden diese schlimmen Zaubermittel hauptsächlich voi
bestimmten Tieren genommen. Aber bestimmte Kunde voi
dieser schlimmen Zauberei könnte man sich nur durch die'
Zauberer selbst verschaffen. Die anderen wissen nur dies und
jenes davon. Es geht auch nicht an, etwa einen Zauberer zu
bitten, er solle einem diese Dinge mitteilen. Kommt man zu
einem Zauberer und bittet ihn, daß er es einem „zeige", so ist
man selbst ein zweiter Zauberer geworden. Soviel sich davon
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 207
erkennen läßt, sind es Schlangen, Kröten, Krähen und Kroko-
dile, die zur Bereitung dienen. Die Betreffenden selbst aber
kennen viele Tiere und Kräuter. Wie es viele Heilzauber gibt,
so auch viele verderbliche. Die Tiere verbrennen sie auf einer
Topfscherbe zu Ruß und heben ihn auf an einem verborgenen
Orte, wo kein Mensch es sehen kann.
Schlimme Zauberei findet sich bei einem jeden Menschen,
der sie betreiben will, sei es ein Mann oder ein Weib, oder
seien es Kinder, die darin unterwiesen sind. Die Männer haben
aber zum Teil andere Zaubermittel als die Frauen.
Wie fängt es nun einer an, um ein böser Zauberer zu
werden? Auf zweierlei Art und Weise: a) Es gibt Familien,
die sich von jeher mit der schlimmen Zauberei beschäftigen.
Der Großvater zeigt sie dem Vater, der wieder dem Sohne.
Auch die Frau, die Zauberin ist, hat es übernommen von
Mutter und Großmutter. Ein Mann zeigt aber einem Mädchen
keine Zaubermittel. Ist jemand alt und der Sohn noch klein,
so zeigt er es seinem Weibe, damit später das Weib den Sohn
unterweise. Das Weib, das keine Tochter hat, zeigt es dem
Sohne, wenn der Mann gestorben ist.
Wenn der Vater oder die Mutter vom Tod übereilt wird,
ohne das Kind in der Zauberei unterwiesen zu haben, so
spricht die Großmutter oder die Tante (Vaterschwester) zu
diesem: „Salbe mich! Ich will dir das „Herkommen'^ deiner
Mutter, bzw. unseres Großvaters zeigen." Das Kind bringt
ihr dann Milch und Fett. Wenn es ein Mann ist (der einem
das „Herkommen" zeigt), so schlachtet man ihm eine Ziege.
Dann ruft er einen nächtlicherweise und unterweist einen.
Denn es bringt Unheil, wenn die Eltern sterben, ohne dem
Kinde das „Herkommen" gezeigt zu haben — die (in der
Familie erbliche) Zauberei nennt man das „Herkommen" — :
Die Nachkommen würden von Übeln heimgesucht werden.
Wenn er ein Kind erzeugt, so würde er sterben. Oder er
würde oft erkranken.
208 J- Raum
b) Manche andere Leute kaufen die Zaubermittel, wena
sie zu bebexen wünschen. Man erwirbt sie aber von einem
Angehörigen eines fremden Landes; z. B. damals, als die
Wakamba im Lande waren, kauften viele Moschileute von
ihnen oder von den Taitaleuten. Zaubermittel von einem iu
der Nähe Wohnenden zu kaufen ist gefährlich. Einer, der im
Besitz von solchen ist, wagt nicht, zuzugestehen, daß er ein
Zauberer sei; er fürchtet sich, man möchte ihn darum fragen,
um ihn zu verraten, so daß es unter den Leuten auskäme.
Doch mögen sich nicht viele Leute Zaubermittel erwerben.
Was die Zahl der Zauberer anbetrifft, so mag es in einem
solchen Ländchen, wie Pohomo, etwa gegen ein Hundert geben,
Männer und Frauen zusammengenommen.'
Wie man zaubert, und welche Macht der Zauberei
eignet
Hinsichtlich der bösen Zauberei sind, nach dem Glauben
der Leute in den Pflanzungen, zwei Dinge zu bemerken: 1
Zum ersten gibt es Eßzauber (kireyo)^, der einem in die
Speise getan wird. Man wird überredet zum Essen und es (die
Speise samt dem Zauber) bleibt im Leibe stecken, so daß man
entweder bald stirbt oder nach wenigen Tagen. Es geschieht
auch, daß man am Leibe siech wird und ein ganzes Jahr die
Krankheit mit sich herumschleppt, bis sie zum Tode führt.
Ein anderer Genußzauber, von dem ich zu hören pflege, wird
in das Wasser der Kanäle geworfen. Die Leute dort in der
Landschaft, die das Wasser trinken, sterben dann aus. Davon
wird aber erzählt als von etwas, das in früheren Zeiten vor-
gekommen sei, nicht jetzt.
Zum zweiten gibt es böse Zauberei, wobei mit dem Mund:
oder in Gedanken Beschwörungsformeln gesprochen werden. j
' Die Landschaft Nohomo hat etwa 1600 — 2000 Bewohner.
* Hierbei spielen sicher vegetabilische, den Zauberern bekannt«'
Gifte eine Rolle. !
Die Religion der Landschaft Moschi am Eilimandjaro 209
Wenn du etwa eben über dem Essen bist, so kann ein Zauberer,
der dich dabei sieht, sei es, daß er nahe sei, oder daß du dich
in der Hütte befindest oder er, dich behexen, so daß du
stirbst oder erkrankst Wenn ein Weib ihr Kind säugt, so
kann ein Zauberer das Kind behexen mittels der Milch, die
es trinkt. Ein Zauberer kann Kohlen, Erde, Steine in deinen
Leib hineinzaubern; er nimmt eine „Spur^' von dir, etwa von
deinen Haaren, verbirgt sie und du wirst krank und siech.
Ein Weib „wirft" ein Zaubermittel, entfernt von dir (aber so,
daß sie dich im Auge hat), so bekommst du Kopfweh und
Fieber. Auch die Rinder werden behext. Der Zauberer stößt
nächtlicherweise an deine Hütte mit seinem Gesäß, dann kommt
das Zaubermittel in die Hütte in einem Bündelchen und gräbt
sich von selbst in die Erde. Die Kuh kann dann nicht mehr
gemolken werden; mit der Milch ist es vorbei. — Ein anderes:
Der Zauberer kann das Kind behexen in seiner Mutter Leib.
Das Kind wird dann krank geboren. Es gibt Kinder, die nach
der Geburt nicht den ganzen Unrat entleeren können, denen es
im Leibe stecken bleibt. Das schreibt man der Zauberei zu.
\\ ie stellen es nun die Leute an, daß sie sich schützen,
um nicht ganz (von den Zauberern) vertilgt zu werden? Es
gibt dazu drei Wege: a) Vorsicht, b) Heilmittel, c) die Medizin-
männer, die Einschnitte machen und die Zauberer ausfindig machen.
a) Der Eßzauber würde die Leute vertilgen, wenn mau
nicht auf der Hut wäre. Bei jedem Menschen, der dir Essen
gibt, merkst du auf, ob er zuerst davon genieße. Tut er das
nicht von selbst, so sprichst du zu ihm: Danke! Nimm nun,
bitte, einen Bissen! Nimmt er zuerst einen Bissen und schluckt
ihn hinunter, so nimmst du die Speise in Empfang und issest.
Wenn er etwas Schädliches hineingetan hat — tückische Weiber,
^e keine (anderen) Zaubermittel haben, tun Menstrualblut von
sich hinein — , so wird er nicht kosten wollen. Sucht er dich
au hintergehen, so verweigerst du die Annahme (der Speise\
Eine andere zur Vorsicht dienliche Sache: Jeder soll das Essen
ArchiT f. Beligionswissen Schaft XIV 14
210 J- Raum
an einem Ort aufheben, wo es nicht gesehen wird. Es gibt
Leute, die mischten böse Zaubermittel in das Essen, um einen,
den sie haßten, damit ums Leben zu bringen; es (das ver-
zauberte Essen) tötete aber ihre eigenen Kinder. Man pflegt
den kleinen Kindern auf jede Weise einzuprägen, sie dürften
keine Speise essen, die sie von jemand erhielten, der nicht
zum Hause gehöre, auch dürften sie sich nicht bei den Leuten
herumtreiben. Wenn du jemand als schlimmen Zauberer kennst,
so hältst du ihn von öfteren Besuchen bei dir ab. Denn wenn
man mit dem bösen Zauberer Freundschaft macht, gerade dann
will er einen behexen.
Gegen einen schlimmen Zauberer, der nicht bekannt ist,
wird der Fluchtopf ^ „geschlagen'' damit er aus Furcht vor
dem Pluchtopf ablasse von seiner Zauberei. Verhält er sich
darauf nicht ruhig, so gibt man ihm das Kimanganu^ zu
trinken. Wird er dadurch überführt, so fürchten sich die
Leute vor ihm und machen ihm Vorhalt.
b) Ein böser Zauberer, der einem Kind schädliche Speise
gegeben hat und der entdeckt wird, wird gescholten. Man
sagt ihm, daß, falls das Kind sterben würde, er (das Blutgeld)
zahlen müßte. Da bringt er dann ihm bekannte Arzneien hervor,
tut sie in ein anderes Essen, gibt es dem Kind und es genest.
Aber auch die Leute selbst kennen viele Arzneien, die sie
nehmen, wenn sie wissen, daß sie behext sind.
c) Ist ein Mensch behext mit Kohlen, Erde oder einem
Knochen, so kann diese Dinge nur einer der oben beschriebenen
Medizinmänner entfernen.
Was veranlaßt nun die Leute dazu, schlimme Zauberei
zu treiben? Da gibt es ein Behexen des Menschen, dem man
' Eine Art magisches Bann- und Ächtungsmittel. Siehe Globus
Band LXXXV No 7.
* Gottesurteil zur Überführung des Schuldigen und Reinigung des
Unschuldigen. Es besteht in einer Abkochung von Stechapfel, unter
deren betäubendem Eindruck der Schuldige gesteht.
Die Religion der Landschaft Moschi am Kilimandjaro 211
feind ist. Der Hauptgrund aber, weswegen sie einander be-
hexen, ist die Mißgunst. Diese ziehst du dir zu, wenn du
etwa den andern übertriffst an Schönheit des Leibes oder an
Ansehen unter den Menschen, wenn du mehr Vieh besitzest
als andere, wenn du besser als andere zu ackern verstehst,
wenn du mehr Kinder hast und durch . vieles andere mehr.
Ein Weib, die wahrnimmt, daß der Mann die zweite Frau
mehr liebt als sie, wird neidisch. Oder ihre Mißgunst wird
hervorgerufen durch den Umstand, daß ihre Mitfrau Kinder
hat, sie aber keine. Wenn ein Mann selten schlachtet, und
er hat eine Mutter oder eine Frau, die Zauberinnen sind, so
wünschen sie, daß er erkranke, damit er ein Opfertier schlachte
und sie sein Fleisch zu essen bekämen.
Wenn es auch nach alledem so aussieht, als ob die
Menschen die böse Zauberei liebten, so darf man doch daraus
nicht schließen, daß diese ihnen etwas Gutes verschaffe. Den
Leuten ist die schlimme Zauberei ein Abscheu. Man sagt:
Geht ein schlimmer Zauberer an einem Ort vorüber, wo ein
kleines Kind sich befindet, das noch nicht gelernt hat, einen
Menschen zu fürchten, so erkennt es doch den Zauberer und
fürchtet sich vor ihm. Und oft geschieht es, daß einem Weib,
das viele Kinder ihrer Kameradinnen zugrunde gerichtet hat,
auch die eigenen alle sterben. Oder sie selbst erfahrt viel
Unglück. Dann sagt man, sie habe ein Mitglied der Sippe
behext (einer Respektsperson durch schlimme Zauberei den
Tod gebracht^, das habe ihr solches angetan; dieser Mensch
suche sie mit Übeln heim. Unter diesen Verhältnissen will
ein Teil der Leute von der schlimmen Zauberei gar nichts
wissen, sie vererben weder solche in ihrer Familie, noch mögen
sie welche durch Kauf erwerben.
14'
n Berichte
Die Berichte erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtigkeit
für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in 2 bis
3 Jahrgängen schließen. Mit Band IX (1906) beginnt die neue
Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen der Zeit
seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß des betr.
neuen Berichts referiert.
1 Eeligionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909
Von K. Th. Preuß in Berlin
Nordamerika
Allgemeines. Von einer Methode der amerfkanischen
Forschungen in religionswissenschaftlichen Fragen der Ethnologie
kann man im wesentlichen nur in bezug auf die Auffindung neuen
Materials sprechen. Hierin nehmen die Amerikaner — andere
Nationen kommen nur für die Erforschung der Eskimo Grön-
lands und ein wenig für Britisch Nordamerika in Betracht —
schon längst einen Ehrenplatz ein, aber so hervorragende
Schilderungen wir schon aus früherer Zeit besitzen, so ist doch
«in Fortschritt nach der Seite eindringenderer Beobachtung und
vor allem des gleichmäßigeren Wertes alles Erschienenen nicht
zu verkennen. Nur in der Aufzeichnung des Textmaterials
herrscht noch, mehr als nötig ist, die englische Sprache statt
K. Th. Preuß Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 213
der einheimischen Idiome vor. Auch wird nicht immer genau
auseinandergesetzt, wie die Texte und Ergebnisse zustande ge-
kommen sind, inwieweit die einheimische Sprache beherrscht
wurde u. dergl. m., was zur Beurteilung des Inhaltes not-
wendig wäre. Anerkennend muß hervorgehoben werden, daß
außer der Veröffentlichung des Rohmaterials mehr als früher
zusammenfassende Übersichten gegeben werden, wodurch ein
schöner Anfang zu einem psychologischen Verständnis gemacht
und dem Berichterstatter die Arbeit erleichtert wird. Möchte
nun auch der Grundsatz aufkommen, Mythen- und Geschichten-
sammlungen nie ohne den Versuch einer Erläuterung zu ver-
öffentlichen statt der hier und da vorhandenen „abstracts".
Gegenwärtig ist die Fülle des Materials, so viel auch noch
zu tun bleibt, so gewachsen und das Verlangen nach Über-
sicht so groß geworden, daß wir nunmehr auch moderne, sonst
in jeder alten Wissenschaft vorhandene Hilfsmittel, bekommen
haben bzw. in den nächsten Jahren zu erwarten haben. Ein
solches ist das ungemein nützliche alphabetische Handbook
of American Indians north of Mexico edited by Frede-
rick Webb Hodge in two Parts. Part I*, an dessen Her-
stellung sich fast 50 amerikanische Gelehrte seit vielen Jahren
beteiligt haben. Es gibt vor allem über jeden Namen, der je
auf eine Indianergruppe angewandt ist, Auskunft, schildert
kurz jeden Stamm und gibt unter den Stichworten der Kultur-
elemente auch vielerlei Religiöses, z. B. unter color symbolism
(sehr lehrreich), dances, eagle, fasting, feasts, fetish, games,
masks, mythology usw., die freilich nur einen ganz ungefähren
Begriff geben können und meist für solche sind, die der Ameri-
kanistik ferner stehen. Empfehlenswert auch für Amerikanisten
ist hier besonders der wohldurchdachte Artikel über mythology
von Hewitt, dem wohlbekannten Autor von „Orenda and a
Definition of Religion".*
* Bureau of American Eihuology Bulletin 30, Washington 1907
X u. 972 S. » S. dieses Archiv TU 232 f.
214 K. Th. Preuß
Der Artikel „games" in dem Handbook stammt von
Stewart Culin und ist ein aus dem YoUen geschöpfter wert-
voller Auszug seines großen Werkes Games of the North
American Indians^, über das ich nunmehr zu berichten habe.
In erster Linie ist es ein genaues Nachschlagewerk, geordnet
nach Spielarten und innerhalb derselben nach linguistischen
Gruppen, wozu noch ein vorzüglicher Index und eine Spiel-
tabelle kommt. Allein so nützlich das an sich wäre und so
gern man ähnliches auch über sonstige Geräte — denn es
handelt sich nur um Spiele, die mit Hilfe von Geräten unter-
nommen werden — und über irgendwelche andere Parallel-
erscheinungen bei den verschiedenen Stämmen hätte, so muß
man doch verlangen, daß zugleich über die Art der
Verbreitung und über den psychologischen Ursprung nach-
gedacht werde. Und das hat auch Culin getan. Er schließt
auf einen religiösen Ursprung der Spiele. In der Einleitung
zu jeder Spielgruppe gibt er kurz an, in welchen Fällen die
betreffenden Geräte oder eins von ihnen nicht zum Spiel,
sondern auf Altären, bei Zauberzeremonien, als Amulett, als
Schmuck und Maskenemblem gebraucht werden. So liegen
zahlreiche Geräte auf den Altären der Hopi und Zuni und be-
gegnen in ihren Zeremonien, der Ring des hoop and pole
game, bei dem ein Speer oder dergl. in den Ring geschleudert
wird, liegt auf dem Altar des Sonnentanzes der Arapaho und
bedeutet die Sonne, der Ring mit vier Pfeilen dient auch zur
Krankenheilung bei den Oglala Dakota und bezieht sich auf
die vier Weltteile zwischen Zenith und Nadir. Bei den Navaho
gibt er den mit ihm berührten Gliedern und besonders dem
Munde des Kranken Kraft und auch ethische Tugenden, und
1 24th Ann. Report of the Bur. of Ethnol, Washington 1907 S. 1 — 809.
Ich ergreife hier die Gelegenheit, um Mr. W. H. Holmes, Chief of the
Bureau, zu bitten, den Anmerkungendruck der Reports etwas größer zu
gestalten, da längere Anmerkungen in dem jetzigen Petitdruck stets
Augeuschmerzen hervorrufen.
Religionen der Naturrölker Amerikas 1906—1909 215
die zwölf dabei gebrauchten Exemplare werden nachher in der
Dreizahl nach den vier Richtungen fortgelegt. Ring und Pfeil
bilden Nase und Mund der Maske des Hehea Onkel Katschina-
Dämons (Hopi), Ring und zwei Pfeile den Kopfschmuck der
Flötenpriester (Hopi). Der genetzte Ring desselben Spiels als
Amulett und Haarschmuck ist weit verbreitet (S. 427). Der
Netzschläger (Rackett) des Ballspiels dient den Missisauga-
Indianern (Ontario) als ein Gerät, um damit die Zukunft zu
schauen usw. Auch gibt es zahlreiche direkte Angaben der
Indianer über die magischen Ziele der Spiele selbst. Vertrei-
bung von Krankheiten, Herbeiführen des Regens, Wachstum
von Pflanzen und Tieren, Stärkung der eigenen Zauberkraft,
guten Erfolg u. dergl. m. Dazu ist die Zugehörigkeit der Spiele
zu den religiösen Festen zweifellos.
Culin will aber noch näher dem Ursprung der Ziele nach-
gehen. Zu diesem Zwecke geht er vom Mythus aus. Doch
müssen wir uns vorläufig mit einer summarischen Angabe be-
gnügen, denn eins seiner Hauptargumente, die Zwillingsmythe,
will er erst an anderer Stelle entwickeln. Der Verfasser sucht
nämlich den gemeinsamen Ursprung der Spiele und entsprechen-
den Zeremonien in den Helden, die durch List und magische
Spiele ihre Gegner überwinden, und meint, ihr Grundtypus
seien der Morgen- und Abendstern, die Patrone des Spiels, die
Herrscher im Osten und Westen, über Tag und Nacht, Sommer
und Winter. Als konkretes Beispiel führt er die Zwillings-
Kriegsgötter der Zuüi an, denen als Herren des Schicksals und
der Mutmaßung in der Tat die verschiedenen Spielgeräte und
zwar je in der Vierzahl zugeschrieben werden. Ebenso haben
ihre Waffen, Wurfkeule, Bogen und Pfeile bzw. Lanze und
Wassernetzschild gewöhnlich vierfache Abzeichen, indem auf
jeden ein Paar kommt. Culin meint nun, die Spielgeräte seien
meist Nachbildungen dieser Waffen, die Würfelstöcke z. B.
seien Pfeilschäfte bzw. kleine Bögen, auch die Wurfstäbe, die
man besonders auf Eis und Schnee gleiten läßt (snow-snake),
216 K. Th. Preuß
seien ursprünglich Bögen (bei den Omaha sind sie wirklich
Bögen) oder sie seien mit den Keulen der Zuni- Kriegsgötter
zu vergleichen, der genetzte Ring des hope and pole game
sowie der Netzschläger des Ballspiels sei aus ihrem Wasser-
schild hervorgegangen usw. Die Folge dieser Meinung ist,
daß Culin nun überhaupt die Verbreitung der Spiele von Süd-
westen aus, wo ihre Verwendung in Mythen und Zeremonien
so deutlich ist, über Nordamerika wie auch „vielleicht" nach
Süden, nach Mexiko usw. annimmt.
Würden wir nun auch die Meinung des Verfassers dahin
abändern, daß nicht Zeremonien und Spiele, wie er meint,
von den Himmelsmythen, sondern alles drei, Zeremonien,
Spiele und Mythen aus derselben Ursache, nämlich aus astralen
Anschauungen und Riten, den vier Weltrichtungen usw. ihren
Ursprung haben, so könnte man vielleicht vor einer solchen
Konsequenz erschrecken, doch habe ich selbst für das mexi-
kanische Ballspiel und das der Vereinigten Staaten einen
himmlischen Ursprung, die Nachahmung des Sonnenlaufs, an-
nehmen müssen.' Ich glaube aber doch, daß man die Spiele
und ihre Geräte zunächst nicht sämtlich unter dem Gesichts-
punkt der Zuhi- Zwillingsmythe und eines südwestlichen Aus-
gangsortes betrachten darf, sondern jedes Spiel an sich studieren
muß, und dann wird man wohl auch manchmal den Himmel,
wenn auch nicht die Religion, zur Erklärung entbehren können.
Eskimo. In dem Werke The Eskimo of Baffin Land
and Hudson Bay from Notes Collected by Captain
' Zeitschr. d. Oes. f. ErdJxunde, Berlin 1905 S. 362 f., 378f. Auch
die Möglichkeit, daß Morgen- und Abendstern in den Helden nord-
amerikanischer Mythen zu erkennen sind, halte ich für gegeben, be-
sonders seitdem ich bei den (Jora dieses Brüderpaar so lebendig gefunden
habe. So halte ich jetzt die (a.a.O. 375 f.) erwähnten Brüder der Che-
rokee und Menominee (Manabush) für Morgen- und Abendstern, was
den dortigen Ausführungen völlig entsprechen würde. Doch nannte ich
sie die Sonne und das Feuer in der Unterwelt.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 217
George Corner, Captain James S. Mutch and Rev.
E. I. Peck bietet Franz Boas' auch in religiöser Hinsicht
eine ausgezeichnete Ergänzung zu seinen eigenen Beobachtungen
in Baffinland und zugleich sehr vieles Neue für die Zentral-
eskimo überhaupt. Ja die Unmenge von Tabuvorschriften und
Gebräuchen im täglichen Leben, zur Erlangung von Nahrung
und zur Abwehr von Krankheit, die erst durch die eingehenden
Untersuchungen zutage getreten sind, heben diese Eskimo nun
vor den andern heraus und befestigen das Büd der Primitiven
als einer im höchsten Maße von religiösen Ideen geleiteten
Menschheit, zumal alle abergläubischen Handlungen Gemeingut
sind und nicht von den Schamanen ausgehen, eine so große
Rolle diese außerdem noch spielen. Eine sehr große Anzahl
von Mythen und Erzählungen, freilich nicht im Urtext, und
Schilderungen von wirklichen Vorfallen führen besonders gut
in die religiösen Anschauungen ein, während die kurz ange-
führten Tabuvorschriften meist das Gefühl erwecken, wie viel
uns noch fehlt, um die Tatsachen zu verstehen. Eine Reihe
Erzählungen sind ihnen übrigens mit den Smith- Sund -Eskimo
gemein, wie Boas nachweist.
Die auch sonst verbreitete Anschauung, daß menstruierende
Frauen und die Berührung von Leichen den Erfolg auf der
Jagd hindern, ist hier durch eine besondere Theorie begründet.
Solche Leute erscheinen nämlich dunkel und ein Dampf steigt
von ihnen auf. Das ist aber nur den dadurch unangenehm
berührten Seetieren sichtbar und veranlaßt sie, sich fern zu
halten. Deshalb müssen die Frauen ihren Zustand und ebenso
Fehlgeburten offenbaren, damit man sich vor ihnen hüten
kann. So kommt es wohl, meint Boas mit Recht, daß die
nachträgliche Beichte nicht nur eines solchen Zustandes, sondern
jeder verletzten Tabuvorschrift das dadurch herbeigeführte Miß-
geschick sofort wieder aufhebt. Auch die Vorschriften nach
' Bulletin of the Amer. Museum of Nat. Hist. XV. Part 1. 2. New
York 1907. 670 S.
218 K. Th. Preuß
erfolgter Tötung von Tieren, die von andern Gegenden eben-
falls genugsam bekannt sind, haben zum Teil ihre Theorie.
Die Seelen gewisser Seehundsarten und Walfische bleiben drei
Tage beim Körper und alle Tabuverletzungen haften an ihr
und verursachen ihr Schmerz. Wenn sie dann herab nach
Sednas Wasserreich gehen, werden eben dadurch auch deren
Hände wund, und sie straft die Leute durch schlechtes Wetter,
Krankheit und Tod, bis das Vergehen gebeichtet ist. Bei
Beobachtung der Tabuvorschriften dagegen lassen sich die Tiere
gern wieder töten, wenn sie von Sedna wieder emporgesandt
werden, und suchen sogar eigens zu diesem Zwecke den Menschen
auf Solche Tabuübertretungen sind z. B. das Entfernen von
Oltropfen unter der Lampe, Schütteln der Bettunterlage, Ab-
kratzen des Eises von den Fenstern. Besonders kompli-
zierte Vorschriften herrschen für die Vermeidung alles dessen,
was zu Walroß bzw. Renntier gehört, wenn man das eine bzw.
das andere der beiden Tiere jagt, da sie nach' einem Mythus
eine Abneigung gegeneinander haben. Also wiederum eine
nachträgliche Theorie. Boas möchte daraus etwas kühn schließen,
daß die Eskimo früher gar nicht an der See gelebt haben.
Tabuverletzungen hängen sich auch an die eigene Seele und
machen den Betreffenden, oder im Falle eines Vergehens der
Mutter ihr Kind krank. Die Seelen Verstorbener bringen bei
Übertretungen von Tabuvorschriften anläßlich des Todesfalles
ebenfalls starken Schneefall, Krankheit und Tod. Die Vergehen
hängen sich an die Seele, sie muß vom Angakok (Schamanen)
aufgesucht und durch blutige Messerstiche von den Anhängern
befreit werden.
Im Herbst ist die größte Zeremonie, wenn Sedna, nach-
dem die Seelen der Angakut (Plural von Angakok) sie besucht
und ihre Versprechungen und Vorschriften aus ihrem Reiche
zurückgebracht haben, ihrerseits die Menschen aufsucht. Ist sie
nahe genug, so schleudert der Angakok — angeblich zu ihrem
Vergnügen — die Harpune nach der Mutter der Seesäugetiere,
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 219
worauf sie schleunigst in ihr Reich zurückflieht. Boas meint,
das geschehe in demselben Sinn wie das erwähnte Stechen der
Seele von Verstorbenen, nämlich zur Befreiung von den ihr
anhaftenden Übertretungen der Menschen. Merkwürdigerweise
soll durch Austausch von Weibern ihr Rückzug beschleunigt
werden. Solch zeremonieller Weibertausch kommt hier übrigens
auch bei andern Gelegenheiten vor. Am nächsten Tage kommt
die Dienerin Sednas maskiert, und es wird fröhlich gefeiert.
Unter anderem fassen die im Sommer bzw. im Winter Geborenen
zusammen je an ein Strickende und ziehen. Siegt der Winter,
so ist viel Nahrung, im andern Falle schlechtes Wetter zu
erwarten. — Es ist Sitte, sehr viel Amulette zu tragen, die
zum Teil ganz unauffällig an der Kleidung angebracht werden.
Die Spitze eines Renntierschwanzes, an den Rock genäht, gibt
z. B. Erfolg auf der Renntierjagd. Mit dem Kind macht die
Mutter die Bewegung des Kayakruderns und Bogenschießens
nach dem Essen durch, und schleudert die Gabel in die Eß-
schüssel, was das Harpunieren eines Seehundes bedeutet. Da-
durch wird der Knabe ein geschickter Jäger.
Über die nördlichsten Bewohner der Erde, die Eskimo
von Cap York und Smith Sund in Grönland, haben wir ein
äußerst anziehend geschriebenes Werk von dem Mitglied e der
„Dänischen literarischen Expedition" (1902 — 1904) Knud
Rasmussen, The People of the Polar North, das aus
zwei dänisch geschriebenen Werken des Verfassers^, von
G. Herring zusammengestellt und ins Englische übersetzt ist.*
Es ist ein eigenartiger Fall, daß hier ein Autor, der besser
wie die Eskimo selbst Kayak zu fahren und den Hundeschlitten
zu lenken weiß, der fast seine ganze Kindheit in West-
grönland zugebracht und selbst etwas Eskimoblut in den
Adern hat, vertraut mit ihrer Sprache und voll tiefen Ver-
ständnisses, ja voller Liebe für diese einsamen Menschen uns ihr
' Ihre Titel lauten englisch New People und Under the Lash of the
North Wind. * London 19o8 XX u. 358 S.
220 K. Th. Preuß
Denken und Fühlen vermittelt und den Schatz ihrer Mythen und
Erzählungen vorlegt. Infolge dieses dichterischen Gefühlstones
sind freilich seine Ausführungen nicht immer so streng wissenschaft-
lich, wie man es wünschen möchte. Über diese nördlichsten Eskimo
gab es außer den Bemerkungen der Polarfahrer und A. Kroebers
ethnologischen Studien, die er an sechs von Peary nach New
York gebrachten Eskimo anstellte^, keine ausführlichen Nach-
richten. Sie werden aber durch Rasmussens Tätigkeit — er
hat seit den Forschungen, auf denen dieses Buch beruht, schon
zwei weitere Expeditionen dorthin unternommen — wohl bald
zu den best bekannten gehören. Für die Religion sind vor
allem die Mythen und Erzählungen wichtig, die über Tabu-
gebräuche, Macht der Schamanen u. dergl. mehr aufklären und
— ebenso wie die Religion überhaupt — mit denen der zen-
tralen Eskimo vielfach übereinstimmen. Die übrigen Kapitel
enthalten allenthalben kurze Bemerkungen über Religion und
Schilderungen mythischer Denkweise im täglichen Leben. Be-
sonders eigenartig und ergiebig ist aber das Kapitel über Amu-
lette (S. 138 f) und Zaubersprüche (S. 140 f). Im ersteren Fall
handelt es sich um eine Menge durchsichtiger Tatsachen von
Analogiezauber. Ein Stückchen eines Herdsteins in die Kleider
genäht gibt langes Leben und Stärke im Unglück, da es
Generationen hindurch dem Feuer widerstanden hat. Frauen,
die den Kopf eines Kittiwake ins Kleid nähen, gebären nicht
zu große Kinder, da der Vogel nur kleine Eier legt usw. Die
Zauberformeln, von denen Rasmussen sieben anführt, sind alt und
feststehend und dienen gegen Krankheit, Gefahr und Mißerfolg
beim Fang, doch dürfen sie nicht mißbraucht werden, sonst
verlieren sie ihre Kraft. So sagt man, um beim Beschleichen
eines Seehunds nicht gesehen zu werden: „Laß mich ver-
schwinden zwischen der Erde und dem Gletscher." — Auch
von den West- und Ostgrönländern, bei denen sich Rasmussen
* The Eskimo of Smith Sund, Bull. Amer. Museum of Nat. Hist.,
New York XII 1900 S. 266—327.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 221
vorher und nachher aufgehalten hat, enthält das Werk u. a.
religiös brauchbare Erzählungen.
Indianer der Nordwestküste. John R. Swanton,
einer der scharfsinnigsten und unermüdlichsten amerikanischen
Beobachter, hat uns in seiner Abhandlung Sozial Conditio n,
Beliefs and Linguistic Relationship of the Tlingit
Indians^ namentlich eine Fülle intimer religiöser Tatsachen
beschert, teils unmittelbare Beobachtungen und Erkundigungen,
teils eine Zusammenfassung aus den Texten, die anderswo
veröffentlicht werden sollen. Das Material ist von ihm inner-
halb von 3 Monaten zusammengebracht worden.
Wenn die Tlingit auch eine Unmenge allenthalben wirkender
Geister haben, die der Verfasser, wie ich an anderer Stelle erwähnte*,
zu der indianischen Auffassung einer unpersönlich übernatürlichen
Kollektivmacht verdichten zu können glaubt, so treten uns doch
wieder die persönlichen Wirkungen in großen und kleinen
Naturobjekten, besonders auch in Tieren als dämonenschatfend
entgegen. So bildet diese Abhandlung lediglich durch An-
führung von Tatsachen geradezu ein Schulbeispiel von dem
extremen Eindringen der Religion in alle Lebensverhältnisse
und in alles Tun. Nicht nur Sonne, Mond, den Wind, die
See, Berge, Gletscher, heiße Quellen usw. bittet man um Glück
und beeinflußt man durch Anrede in ihren spezifischen Wirkungen,
sondern man spricht auch den Baum an, den man fällt, ja
sogar Angelhaken und Leinen für den Heilbuttfang, indem man
sie Schwager und Schwiegervater nennt. Uriniert man in
irgend einen See oder Sumpf, so machen die Geister einen
schwach, und nur durch Hineinwerfen eines aufgeschnittenen
Hundes kann man wieder gesund werden. Adler, Kormoran,
Grislybär, Landotter, Wolf, Walfisch, Frosch usw., aber auch
* 26ih Eep. Bureau of Ethnol., Washington 1908 S. 391 — 486.
* Im Anschluß an die Ausführungen von Clodd in dem allgemeinen
Bericht Archiv XIII S. 430.
222 K. Th. Preuß
Käfer, Fliegen, Muscheln haben ihre mehr oder weniger starken
spezifischen Kräfte, die durch Ansprache usw. beeinflußt werden
können. Eßbare Muscheln z. B. können einen krank machen,
aber durch Ansprache verhindert man das. Der getötete Grisly-
bär wird ganz besonders als Freund angeredet und behandelt,
damit seine Bärengenossen den Jäger nicht töten. Viele Tiere
gewähren Glück auf der Jagd. Swanton spricht es klar aus, daß
alle Wappentiere der Geschlechter solche Kräfte besitzen, wes-
halb wohl auch die Namen der Kinder von ihnen genommen
werden. Wie bekannt, sind alle diese Totemtiere durch irgend
eine Beziehung zu einem Ahnen zu ihrer Stellung gekommen,
aber hier sind sie bezeichnenderweise meist zu einem Ahnen,
der Schamane war, in Beziehung getreten. Ein Übergang dazu
scheint die Sitte zu sein, einen Gegenstand (?), den jemand sah,
und der einem dann Glück brachte, vorn an die Hauswand
zu malen. Der zauberische Einfluß von Tierschnitzereien z. B.
an Angelhaken wird hervorgehoben. Früher habe man alle
Schnitzereien, die irgendwie einem menschlichen Wesen ähnelten,
angeredet.
Der Schamanismus erreicht bei den Tlingit seinen
Höhepunkt. Jeder Schamane hat eine Menge von helfenden
Dämonen und viele Masken, von denen jede neben einem
Hauptdämon noch einen oder mehrere Helfershelfer dar-
stellt. Solche dämonischen Darstellungen um die Augen der
Maske verleihen z. B Schärfe des Blicks und befähigen
zur Entdeckung feindlicher Dämonen. Besonders geeignet ist
zur Stärkung solcher Eigenschaften der Holzwurm, dessen
Fähigheit, sich ins Holz zu bohren, seine Kraft nach jeder
Richtung augenscheinlich macht. Andere Dämonen stärken
die Rassel des Schamanen. Adlerklauen, gespaltene Tierzungen
und vieles andere wird zu Schamanen - Zauberbündeln ver-
einigt. Außer der Heilung von Krankheiten, die meist einer
Behexung zugeschrieben wurden, hatte der Schamane auch bei
der Gewinnung der Nahrungsmittel und im Kriege zu helfen,
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 223
wo ganze Dämonenscharen auf ihr Gebot gegeneinander kämpften.
Die Krieger mußten sich von Weibern fernhalten und durften
sie nicht sehen. Man machte Figuren von den Feinden aus
Holz, tötete sie und band sie als Gefangene zusammen. Solche
Figuren hatten sowohl die Krieger wie ihre Frauen. Bei der
Abfahrt brachten letztere ihre Figuren den Männern, die ihnen
dafür die eigenen zuwarfen. Fing nun eine Frau die Gestalt
nicht, so war es ein Zeichen, daß ihr Mann fallen würde. Die
zurückbleibenden Frauen trieben Analogiezauber. Ein langes
Brett war das Kanu, in dem die Frauen angeblich saßen.
Würde die Schüssel, aus der alle gemeinschaftlich aßen, um-
stürzen, so täte dasselbe das Kanu ihrer Männer. Zahlreich
sind auch die „Medizinen" für alle möglichen Fälle, für die
Jagd, für die Erlangung von Reichtum, von Liebe, von An-
sehen, ja auch für die Gabe der Unterhaltung. Eine besondere
Erklärung haben die Tlingit für die Geschenkfeste (potlatch),
die dadurch dem Verständnis überhaupt näher gebracht werden.
Solche potlaches bei der Errichtung von Häusern oder Grab-
pfosten, bei der Einführung in die Geheimgesellschaft waren
um der Toten willen da. Bei jeder Decke, die man weg-
schenkte, wurde der Name eines Toten genannt, und die Decke
kam ihm zugleich zugute, ebenso jede ins Feuer geworfene
Gabe. Die Toten wurden bei den Festen gegenwärtig gedacht.
Gesänge zum Gedächtnis der Toten waren daher an diesen
Festen sehr zahlreich Bei den Haida dagegen findet sich diese
Beziehung der Potlaches auf die Toten überhaupt nicht. Die
Sitte ^der Geheimgesellschaft stammt aus dem Süden und hat
wenig Bedeutung.
Während eines zehnmonatigen Aufenthaltes auf den Königin
Charlotte-Inseln 1900/01 hat J. R. Swanton ein umfangreiches,
ungemein eindringendes Material zusammengebracht, das er in
drei Werken veröffentlicht hat und das die Grundlage und auch
wohl den Abschluß für die Untersuchungen über die Haida
bilden wird: 1. Contributions to the Ethnology of the
224 K. Th. Preuß
Haida*, 2, Haida Texts — Masset Dialect^, 3. Haida
Texts and Myths, Skidegate Dialect.^ Wir haben nur
das erste Werk zu betrachten, das besonders die religiösen An-
schauungen und die soziale Organisation mit ihren totemistischen
Abzeichen enthält. Hier ist dankenswerterweise auch manches
von dem Inhalt der Mythen verarbeitet. Swanton unterscheidet
1. Wesen der oberen Welt, 2. Seewesen, 3. Landwesen und
4. Gottheiten als Patrone menschlicher Tätigkeiten. Die
Götter der oberen Welt, Sonne, Mond, Sterne, Donnervogel,
Winde usw. nehmen wenig Raum in dem religiösen Leben
ein. Auch der oberste Gott Power -of-the-Shining-Heavens,
zu dem man wegen Krankheit betete, ist nicht populär. Die
übernatürlichen Seewesen, das Volk des Ozeans, scheint von
den Seetieren unterschieden zu werden, obwohl jedes Tier die
Verkörperung eines solchen übernatürlichen Wesens sein kann.
Jedoch gibt es entsprechend den Tiergattungen u. a. Völker
von Heringen, Lachsen, Fischen, Schwarzwalen und besonders
von Schwertwalen, die alle unten auf dem Grunde ihre Städte
haben und oft wie Menschen erscheinen. Sie erhalten als
Opfergabe Tabak, Fett u. dergl., indem man sie um guten ^ang
bittet Unter den Landwesen nehmen die an den Mündungen
der Flüsse wohnenden „Frauen" eine hervorragende Stelle ein,
die die Ergänzung zu den immer als männlich betrachteten
Wesen des Ozeans zu sein scheinen. Entsprechend der
doppelten Natur der Seetiere gibt es ein übernatürliches Volk
von Grislybären, schwarzen Bären, Wieseln, Landottern, Adlern,
Kaben usw., die alle den Menschen helfen oder schaden können.
Das Käuzchen wird um trockenes Wetter angerufen, indem
man Tabak ins Feuer wirft. Auch Bäume, Büsche, Stöcke,
Steine haben ihre Geistwesen. Die interessante Gruppe der
' The Jesup North Pacific Exp. V S. 1—300. Leiden 1905.
* A. a. 0. X S. 271—812. Leiden 1908.
' Bulletin 29. Smithsonian Inst. Bur. of Am. Ethn., Washington
1906. 448 S.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 225
Patrongottheiten (vgl. Sondergötter) hat keine Beziehung zu
natürlichen Erscheinungen. So gewährte die „Eigentumsfrau''
Reichtum, wenn man sie sah. Von den beiden „die Singer"
genannten Schwestern lernte man Gesänge. Es gibt einen
Dämon der Pestilenz oder der Pocken, einen des gewaltsamen
Todes, einen weiblichen der Klage, von dem man auch die
Trauergesänge und die Trauerkleidung lernte, einen Dämon
des Diebstahls, der die Menschen dazu verleitet, usw.
Schamanen wirken durch die sie in Besitz nehmenden
Geister der genannten Klassen, doch vererbt sich das Schamanen-
tum, und zwar meist vom Onkel auf den Neffen, dem er vor
seinem Tode seine Geister offenbart. Die Geister suchen auch
öfter einen durch lange Enthaltung von Nahrung rein Ge-
wordenen, um in ihn einzufahren. Aber auch jeder Nicht-
schamane kann seine physische Kraft vermehren, Reichtum
erwerben und Erfolg aller Art, z. B. beim Fischfang, im Kriege
und auf der Jagd erlangen, wenn er sich der Nahrung und
seiner Frau enthält, in der See badet, Schwitzbäder ge-
braucht usw. Für Krankenheilungen wird ebenfalls nicht nur
der Schamane gebraucht, sondern eine Menge von seltsamen
Medizinen, z. B. Wurzeln, Muscheln, Rinde, stagnierendes
Wasser u. dergl., die unter bestimmten Vorschriften herein-
gebracht, zusammen gekocht und getrunken werden. Ein
wirklicher Heilwert ist also nicht vorhanden. Ebenso gibt es
Medizinen für die Schnitzkunst, für das Tanzen, für den Er-
werb von Eigentum. Manche Medizinen sind im Besitz be-
stimmter Famüien, z. B. ein Liebeszauber, ein Mittel jemanden
zum Häuptling zu machen usw., und dürfen nicht nachgemacht
werden.
Die Schwangere hatte sich bestimmter Speisen zu ent-
halten, sonst würde das Kind bestimmte Fehler bekommen.
Sie darf nichts Häßliches sehen, weil es auf das Kind über-
gehen würde. Ebenso müssen die anderen Personen im Hause
bestimmte Rücksichten auf das kommende Kind nehmen. Ein
Archir f. ReligionswissenBchaft XIV 15
226 K. Th. Preuß
Mädclien zurzeit der Pubertät hat übernatürliche Kräfte, wird
lange Zeit (bis fünf Jahre) abgesondert gehalten und hat be-
stimmte Vorschriften zu erfüllen, namentlich in bezug auf
Diät, um keinen Schaden zu erleiden. Von den Kriegssitten
ist bemerkenswert, daß die Frauen unter anderen zeremoniellen
Handlungen fasteten und in der Idee eines Analogiezaubers
über ihre Kinder herfielen und sie scheinbar zu Sklaven
machten, um das gleiche ihren Gatten zu erleichtern. Auch
die Krieger hatten bestimmte Diät zu beobachten. Ein
Schamane ging mit jedem Zuge mit, hatte besonders die
Seelen der Feinde zu töten und traf nach seinen Beschwörungen
allgemein gültige Anordnungen. Jäger und Fischer unter-
standen ebenfalls bestimmten Vorschriften.
Granz besonders wichtig sind Swantons Untersuchungen
über die Clan- und Familienabzeichen, die teils Tiere, teils
Naturerscheinungen darstellen und auf den Hauspfeilern,
Totemsäulen, Kanus, Rudern, Schüsseln, Löffelstielen, Masken,
Rasseln usw. geschnitzt und gemalt sind. Auch die Gesichts-
bemalungen zeigen diese Embleme. Swanton hat nun genau die
Geschichte der einzelnen Familien bis zu dem gemeinsamen
mythischen Ursprung in einer der beiden streng exogamischen
Clans verfolgt, aus denen die Haida zusammengesetzt sind,
und ebenso, soweit möglich, den Ursprung und die Verteilung
der Abzeichen. Das Ergebnis ist, daß die Abzeichen, da sie
auf die vorhin skizzierten übernatürlichen Wesen zurückgeben,
religiöser Natur, etwa in der Art wie die persönlichen Schutz-
geister, sind, daß sie aber keineswegs selbst Ahnherren dar-
stellen, sondern, wie einige Beispiele zeigen, durch ein banales
Ereignis, in dem das Tier usw. eine Rolle spielt, in den Be-
sitz der Familien gekommen sind. Für das Verständnis der
Exogamie aber, die uns wegen ihres wohl zweifellos religiösen
Ursprunges hier auch interessieren muß, ist es weiter von
Belang, daß Swanton zu dem Schluß kommt, der Rabenclan seien
die eigentlichen Haida, der Adlerclan die später Hinzu-
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 227
crekommenen. Noch heute verhalten sich die beiden oft wie
Feinde, indem es z. B. Mann und Frau nicht darauf ankommt,
einander im Interesse ihres Clans zu verraten. Beide Clans
haben auch, wenigstens in der Theorie, ganz verschiedene Ab-
zeichen und ebenso verschiedene Götter bzw. Dämonen, die
noch heute deshalb als Raben bzw. Adler unterschieden
werden. Der Rabenclan hat als Hauptabzeichen den zauber-
mächtigen Schwertwal, der Adlerclan den Adler.
Selish. Im weiteren Verfolg der Jesup-Expedition sind
wiederum zwei Selishstämme von James Teit untersucht
worden. Zunächst sei das Werk „The Lillooet Indians''*
erwähnt.
Seine Darstellung der Lilluet, die etwas westlich vom
mittleren Fräser wohnen und zum Teil über ihn hinwegreichen,
ist ein sehr erfreuliches Werk, da es uns sehr vieles mitteilt,
was heute vollständig verschwunden ist. Heute sind die Ein-
wohner Christen, und in ihren Dörfern befinden sich Kirchen;
ihre Kleider und ihre Häuser sind nach der Art der Weißen
gemacht, die Schamanen verrichten nicht mehr ihr Werk, und
die Feste werden nicht mehr gefeiert. Was wir also über die
Indianer erfahren, wird meist nach Tradition berichtet Trotz-
dem sind die Nachrichten verhältnismäßig reichlich und sicher
selbst über Dinge, die 20 Jahre und mehr zurückliegen.
1858 kamen die weißen Minensucher und Priester an. Um
1830 soll schon der Ausdruck chief above zur Bezeichnung
der Gottheit gebraucht und eine Art Sonntag mit Abhaltung
von Tänzen gefeiert worden sein. Man möchte gern wissen,
wie, wann und wo der Verfasser seine Auskünfte erlangt hat.
Mit den Eingeborenen scheint er in ihrer Sprache verkehrt zu
haben, da er der nahverwandten Sprache der Thompsonindianer
vollkommen mächtig ist. Außerdem ist unter den Lilluet der
Tschinukjargon sehr verbreitet. Texte scheint er jedoch nicht
' The Jemp North Pacific Expedition II, S. 193 — 300. Leiden, 1906.
15*
228 K. Th. Preuß
aufgenommen zu haben, die aufgeschriebenen Mythen sollen
an anderer Stelle veröffentlicht werden. Auch Sprachliches fehlt.
Vieles entspricht den Verhältnissen bei den benachbarten
Thompsonindianern. Ursprünglich scheint jedes Dorf nur An-
gehörige eines einzigen Clans enthalten zu haben. Jeder Clan
gebrauchte eine Maske, die den mythischen Urahn darstellte
oder auf sein Leben Bezug hatte. Alle diese Verhältnisse
scheinen von den Küstenselish übernommen zu sein, die sie
ihrerseits von N. empfangen haben mögen. Besondere Auf-
merksamkeit beanspruchten auch bei diesem Selishstamm die
einschneidenden Verhaltungsmaßregeln für die Eltern vor und
nach der Geburt eines Kindes und für die Kinder zur Zeit der
Pubertät. Alle diese Vorschriften beziehen sich auf das Wohl
und die Fähigkeiten der Kinder. Die jungen Leute machen
sich z. B. lange Einschnitte am Körper, angeblich, um das
schlechte Blut herauszulassen. Auf dem Grabe wurden ein
paar Sklaven des verstorbenen Besitzers getötet. Unter den
religiösen Zauberhandlungen ist z. B. die Beeinflussung des
Wetters durch das Verbrennen des Felles von Tieren inter-
essant, die das Wetter beherrschen. So wird z. B. die Kälte
durch den Coyote und den Hasen, der Schnee durch die Berg-
ziege u. dergl. m. hervorgerufen. Besondere Tänze wurden ab-
gehalten, wenn jemand eine Offenbarung vom Herrn des Geister-
reiches im Westen erhielt. Solche Tänze waren in diesem und
jenem Leben äußerst nützlich. Es gab ferner Maskentänze der
persönlichen Schutzgeister, die erwähnten Clantänze und Spuren
der Winterzeremonien der Kwakiutl- und Nutkastämme. Leider
erfahren wir von den Festgesängen nichts. Hat sich nichts
davon erhalten? Masken gebrauchten auch die Schamanen.
Den Schluß bildet eine von Boas geschriebene Ergänzung
aus der kurz vorher erschienenen Arbeit von Hill-Tout,
The Stlatlum^, worunter die oberen Lilluet zu verstehen sind.
* The Journal of the Änthropological Institute of Great Britain
and Ireland 1905, Bd XXXV, S. 126—218.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 229
James Teit berichtet in derselben gründlichen Weise
noch über seine Forschungen bei einem andern Selishstamm
den Nachbarn der Lilluet, in dem Werke The Shuswap,' Über
ihren gegenwärtigen Zustand und die Art, wie die Forschungen
zustande gekommen sind, ist dasselbe zu sagen wie über die
Lilluet. Es folgen hier jedoch eine große Anzahl Mythen-
In den religiösen Sitten schließen sich die Shuswap viellach
an die Thompson -Indianer und Lilluet an. Da sind zunächst
die Pubertätsgebräuche. Die Mädchen gingen zur Puber-
tätszeit, wo sie als „mystery" galten , in der Nacht umher
und übten sich in der Stählung ihrer Kräfte. Dasselbe taten
die Jünglinge, um einen Manitu zu bekommen. Sie riefen
die Dämmerung, andere Gruppen jedoch fast nur Tiere, Waffen
und andere Objekte an. Was sie im Traume schauten, malten
sie auf Felsen, um dadurch ihren Manitu schneller zu erlangen
oder andere Wünsche erfüllt zu sehen. Das ist zur Erklärung
der so weit verbreiteten Felszeichnungen höchst wichtig.
Auch gelten alle Felsinschriften als zauber kräftig. Um Erfolg
in besonderen „Berufen" als Schamane, Spieler, Krieger zu
erlangen, bevorzugten sie besondere Übungen. Z. B. schnitten
sich die angehenden Spieler in die Zungenspitze und schluckten
das Blut, um Glück zu erlangen. Der Erfolg dieser Übungen
war dann aber auch der, daß jeder einzelne mehr oder weniger
zauberkräftig war, ein Zustand, den wir überhaupt für die
Primitiven als Norm annehmen müssen.
Schutzgeister waren besonders Hund, Coyote, Grislybär,
^Volf, Adler, Fuchs, weißes und geflecktes Pferd, Otter, Biber
usw., Wasser, Feuer, Regen, Blut, Donner, Tabak, Tabaks-
pfeife, Waffen aller Art usw., Menschenfresser, Toter, Hungers-
not, Skalp, Mann, Frau, Knabe usw. Manche hatten mehrere
von diesen Geistern, die wiederum für bestimmte Berufe mehr
oder weniger geeignet waren. Wer den Schwan als Schützer
* The Jesup North Pac. Exp. II, 7. Leiden 1909 S. 443-813. 8".
230 K. Th. Preuß
hatte, konnte z. B. Schneefall hervorrufen, indem er mit
Schwanenflaumfedern auf dem Kopf tanzte. Sehr bemerkens-
wert ist nun, daß die Schützer im Traume eine bestimmte
Bemalung, Haartracht, Kleidung, Kopfbedeckung oder irgend-
einen Schmuck zu tragen anordneten, oder eine bestimmte
Diät vorschrieben, um einen bestimmten Erfolg zu erlangen.
Im allgemeinen repräsentierten Teile eines Tieres, die man an
sich trug, z. B. Herz, Huf, Knochen, Haar, Schwanz usw.
den ganzen Schutzgeist, konnten aber auch für sich allein ein
selbständiger Schutzgeist sein. Zu diesen selbständigen Geistern
gehörte besonders das Blut. Den Menschenfressergeist hatten
nur Schamanen, die sich dann als solche, z. B. Leichen fressend
und überhaupt wie Verrückte benahmen. Einmal im Winter
kamen alle zusammen, und jeder sang seinen Schutzgeist- Gesang.
Ganz den theoretisch begründeten Totengebräuchen der Zentral-
eskimo (s. oben S. 217ff.) entspricht es, daß Trauernde kein frisches
Fleisch essen durften, sonst haben ihre Landsleute keinen Erfolg
im Fang. Mannigfach waren die Wetterbeeinflussungen zur
Erlangung von Regen, mildem Wetter oder Kälte. So ver-
ursachten die Bergschafe, wenn man sie jagte, kalten Wind,
Schnee und Nebel. Dann mußte man den Schwanz eines Mutter-
schafes — bei Widdern war das Verfahren etwas anders —
im Feuer versengen und gegen die Sonne richten, dabei zugleich
um gutes Wetter und Sonnenschein bitten. Jagdtiere wurden
mit Achtung behandelt, um Glück in der Jagd zu erlangen,
der erlegte Bär wurde besungen und um Hilfe bei der Jagd gebeten.
Auch hier wurden wie bei den Lilluet Tänze auf Botschaften
vom Geisterlande hin unternommen, namentlich zur Zeit der
Winter- und Sommersonnenwende. Diese waren vom Oberhaupt
des Totenreiches, dem „Alten" angeordnet, um die Verbindung
mit den Toten aufrecht zu erhalten und ihnen den Aufenthalt
dort angenehmer zu gestalten.
Im westlichen Teil des Stammes gab es erbliche Totem-
gruppen für die erste Rangklasse, die Vornehmen, und eine Menge
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 231
von nicht erblichen Gesellschaften für die zweite Rangklasse,
das gewöhnliche Volk. In letztere konnte jeder nach kurzen
Vorbereitungen und Fasten eintreten, aber auch die Gründer
der Totemgruppen unter den Vornehmen scheinen ihre Totem-
abzeichen durch eine Art Einweihung wie in eine geheime
Gesellschaft erlangt zu haben. Solcher Gesellschaften des
gewöhnlichen Volkes gab es eine ganze Menge, die je einen
Schützer, meist ein Tier, besaßen. Unter diesen Schützern
befanden sich wiederum u. a. Menschenfresser, Leichnam,
Hungersnot, Wind, Regen, Schnee usw. In den Tänzen wurden
die Tiere und sonstigen Dämonen öfters dargestellt, zuweilen
durch Anwendung von Masken. Im Hundetanz wurde ein Hund
von einem in Wolfsfell gekleideten Mann lebendig zerrissen und
gefressen. Doch 'sind die Nachrichten leider mager. Einfluß
von den Küstenstämmen im letzten Grunde ist wohl zweifellos.
Takelma Indianer. Enge kulturverwandt mit den nord-
kalifornischen Stämmen sind die Takelmaindianer, die im süd-
westlichen Teile von Oregon saßen, und von deren spärlichen
Resten in der Siletz- Reservation im nordwestlichen Oregon
Edward Sapir sehr bemerkenswerte Angaben über ihre Reli-
gion veröffentlicht hat in der Abhandlung Religious Ideas
of the Takelma Indians of Southwestern Oregon.^ Es
giebt hier eine Unzahl übernatürlicher Wesen ohne oberste
Spitze. Tiere und Pflanzen, Naturphänomene und Himmels-
körper wie Sonne, Mond, Wind, Schnee, Regen, endlich Felsen,
Wälder und Berge sind oder beherbergen solche Wesen; oder
diese oflenbaren sich in den Naturerscheinungen. Wie die
Maisgöttin der Mexikaner der Mais selbst ist, so sind die
Eicheln, das Hauptnahrungsmittel, ein Teil des Fleisches der
Eichelfrau. Ein waschbärartiges Tier bringt durch Trommeln
den Donner hervor. Zaubersprüche, bzw. Gebetsformeln können
' Journal of American Folklore XX S. 33—49. Boston and New
York 1907.
232 K. Th. Preuß
die Geister beeinflussen. Sapir teilt elf von diesen sehr inter-
essanten Sprüchen in einheimischer Sprache und Übersetzung
mit Erläuterung mit. Das Käuzchen, das begierig nach Hirsch-
fleisch erscheint, und dessen Schrei der Vorbote einer guten
Hirschjagd ist, wird so angeredet, wenn es sich hören läßt:
„Willst du essen? Ich werde fünf oder zehn Hirsche fangen
und dann wirst du Fett zu essen haben und Blut zu essen
haben. Du wünschst zu essen." Dadurch wird das gute Omen
verstärkt. Zum Neumond sagt man: „Möchte ich glücklich
sein und noch eine Weile leben. Selbst wenn man von mir
sagt: 'er starb' möchte ich gerade wie du wieder aufstehen.
Ja, wenn viele üble Wesen dich verzehren, wenn Frösche
dich essen und wenn viele üble Wesen wie Eidechsen dich
aufessen, so gehst du von neuem auf. Möchte ich es künftig
gerade so machen wie du." Der Schnee, der zwar die Hirsche
von den Bergen scheucht, sie aber den Menschen mißgönnt,
Avird durch folgende listige Ansprache zum Aufhören gebracht:
„Treibe die Hirsche hierher, die schwarznackigen, die hinten
auf dem Berge wohnen an dunkeln Stellen unter den Bäumen."
Dann tut er es nämlich gerade nicht und hört auf zu fallen.
Der Niesende fürchtet, daß ein Abwesender seinen Namen in
Verbindung mit einem Übeln Wunsche genannt hat und spricht:
„Wer nennt meinen Namen? Möchtest du von mir sagen:
'mögest du gedeihen und noch einen Tag vorwärts schreiten
(weiterleben)'. Möchtest du gegen mich (Luft) blasen." Das
Blasen am Anfang und Ende eines solchen Wunsches fördert
zauberisch die Erfüllung.
Sehr gefürchtet und gehaßt waren die Zauberärzte, die
zwar durch inhaltlosen Gesang und Saugen den „Schmerz''
als Krankheitssubstanz auffanden und entfernten, auch zum
Regenmachen und zur Beendigung des Schneefalles u. dergl.
notwendig waren, aber schon durch den bloßen Willen einen
vergiften konnten oder einen „schössen", weshalb sie gern ge-
tötet wurden, wenn man es zu tun wagte. Männer und Frauen
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 233
konnten gleichmäßig Schamanen werden, auch ein Schamane
mit weiblichen Neigungen wird erwähnt. Diese hatten je
einen oder mehrere Hilfsgeister, wie Panther, Wolf, Klapper-
schlange, Sonne, Mond, Wind usw., denen sie Untertan waren,
während das Volk keine besaß. Doch hatte man gegen sie
Hilfe von einer zweiten Klasse von Zauberärzten, die nur
durch Singen und Reiben des leidenden Körperteils heilten
und ihrerseits niemanden vergifteten. Diese hatten als Schutz-
geist den Hühnerhabicht, die Eichelfrau, verschiedene Berg-
geister usw. Sie gingen gegen ihre Nebenbuhler vor, indem
sie Mythen erzählten, in denen den anderen Schamanen durch
ihre Schutzgeister, die Eichelfrau usw. übel mitgespielt wurde.^
Solche Schutzgeister schadeten ihnen noch jetzt durch bloßes
Erzählen. Auch konnte der gute Schamane dem bösen, dem
außer Krankheit auch andere Übeltaten, wie das Abfallen der
unreifen Eicheln infolge eines Sturmes, in die Schuhe geschoben
wurden, seine Schutzgeister für immer aus dem Munde aus-
treiben, indem er den bösen nackt neben das Feuer legte und
ihn mit Asche bestreute.
Von periodischen Zeremonien wird nur ein Fest beim
ersten Erscheinen von Lachsen und Eicheln im Frühjahr er-
wähnt, an dem die Frauen nicht teilnehmen durften. Tänze
fanden nur beim Pubertätsfest der Mädchen, beim Kriegstanz
und den Riten der Schamanen statt.
Kalifornische Indianer. Roland B. Dixon, dessen
Darstellung der Maidu uns im vorigen Bericht beschäftigte,
hat seitdem seine Untersuchungen bei den zum Shasta-Sprach-
stamme gehörenden Indianern veröffentlicht, darunter eine aus-
führliche Arbeit über die eigentlichen Shasta: The Shasta.*
* Hoffentlich wird der einheimische Text der Mythen, der auf-
geschrieben ist, anderswo mitgeteilt, da hier nur die wörtliche Über-
setzung gegeben ist.
* BuUetin of the Amer. Mus. of Xat. Bist. XVIl, p. 381—498.
New York 1907.
234 K. Th. Preuß
Was darin über die religiösen Sitten berichtet wird, stammt
von den Beschreibungen alter Leute, da die Gebräuche selbst
schon in Wegfall gekommen sind. Vor der Geburt eines
Kindes hat nicht nur die Mutter bestimmte Diät zu be-
obachten, sondern auch der Vater darf außer Hirschen nichts
jagen, sonst würde das Kind bestimmte Leiden und Fehler
haben, z. B. Epilepsie bei Tötung eines Fasans. Auch nach
der Geburt muß er fünf Tage allein bleiben, wenig schlafen,
schwitzen usw., die Frau dagegen einen Monat. Das Kind
bleibt fünf Tage in einem Korbe über dampfendem Wasser.
Bei einer Totgeburt macht der Vater Einschnitte in seine Arme,
beobachtet auch die Vorschriften strenger und länger. Stirbt
das Kind innerhalb von fünf Tagen nach der Geburt, so hat der
Vater sich zehn Tage in der Menstruationshütte seiner Frau
aufzuhalten, muß nackt lange Nachtwanderungen unternehmen
und hört Stimmen von Personen. Alles das geschieht, um wieder
Erfolg zu haben. Auch sonst scheint diese Methode, Glück
zu erlangen, befolgt zu werden. Im Alter von 10 — 11 Jahren
werden Knaben und Mädchen die Ohren durchbohrt, wonach
sie fünf Tage wenig schlafen und essen dürfen. Besonders
strenge sind die zehn Tage währenden Pubertätszeremonien
für das Mädchen, das dazu eine besondere Hütte bewohnt,
strenge Diät beobachten muß, wenig schlafen und zu niemand
sprechen darf und über den Augen einen Federkopfschmuck
trägt, so daß sie nicht aufsehen, noch Sonne und Mond schauen
kann. Alle zehn Nächte tanzt das Mädchen, öfters wegen zu-
nehmender Schwäche von zwei Männern unterstützt, und eine
Menge geladener Freunde und Verwandter mit ihr. Ihr Ge-
sicht ist dabei stets — auch wenn sie in der Hütte sitzt —
nach Osten gerichtet, und am Mittag nach der zehnten Nacht,
wo der Tanz bis Mittag fortgesetzt wird, wird ihr die Feder-
maske allmählich aufgerichtet und schließlich nach Osten
geschleudert. In dieser letzten Nacht soll auch, wie bei
den Maidu, allgemeine geschlechtliche Vermischung erlaubt
Religionen der Naturvölker Amerikaa 1906—1909 235
sein, während sonst von der Frau unbedingt Keuschheit ge-
fordert wird.
Die Seele geht nach Westen und dann über die Milch-
straße nach Ost€U zum Seelenaufenthalt. — Besonders ein-
gehend sind die eigenartigen Nachrichten über die Schamanen,
von denen die meisten Frauen sind. Das Gebiet der Shasta
ist voll von Potenzen Axeki, „Schmerzen", die im wesent-
lichen in menschlicher Gestalt in Felsen, Seen, Stromschnellen,
in der Sonne, dem Monde usw. wohnen, oder Tiere sind und
den Menschen Krankheit, Tod und allerhand Übel senden.
Diese sind zugleich die Helfer der Schamanen. Wer zum
Schamanen bestimmt ist — meist ist das Amt erblich, indem
der Helfer erblich ist — , kann sich dem Rufe nicht entziehen.
Zuerst kommen Träume, dann erscheint ihr ein Mann, der ihr
zu singen gebietet. Im Zustande der Bewußtlosigkeit lernt sie
den ihr vom Geiste vorgesungenen Gesang, weiß dann auch den
Namen des Helfers auszusprechen und wird kurz darauf von
ihm geschossen. Ein „Schmerz" wie ein dünner, an den
Enden spitzer Eiszapfen fliegt in ihren Leib, und sie kann
ihn dann beliebig herausnehmen und hereinstecken. Monate
später, wenn die vielen Requisiten besorgt sind, wird ein be-
malter und mit Federn geschmückter Pfahl — oder bei
mehreren Helfern mehrere — errichtet, an dessen Fuß die Geräte
liegen, der Helfer wird gerufen, und nach dreitägigen Zere-
monien ist der Schamane fertig. Sie vermag nun, alle „Helfer'',
die es überhaupt gibt, zu sehen, und kann gleich ihnen durch
Schießen des ihr verliehenen Schmerzes die Leute krank
machen und töten, ist aber auch in jeder Handlung, in der
Diät und in allem dem Willen ihres Helfers unterworfen.
Bei der Heilung erfährt sie, während sie in ziemlicher Ent-
fernung vom Hause des Kranken raucht, von ihrem Helfer
die Umstände des Falles. Im Hause selbst erweicht der Ge-
sang, der nur eine Wiederholung der Worte des Helfers ist,
den Schmerz, und Saugen fördert dann zuerst einen farbigen
236 K- Th. Preuß
Kloß und schließlich den „Schmerz" zutage, der in die glühende
Asche gesteckt oder, wenn er von einem Schamanen geschossen
ist, zerbrochen wird, damit dieser stirbt. Bei vielen Miß-
erfolgen wird die Schamanenfrau getötet, da sie ihrem bösen
Willen zugeschrieben werden. Besondere Requisiten und
Gaben verlangen die Klapperschlange und der Grislybär als
Helfer, wenn der Biß der betreffenden Tiere geheilt werden
soll. Der Schamane ahmt dann den Grislybären nach und
saugt dessen Zunge aus der Wunde. Bei Augenkrankheiten
sind besonders Sonnen- und Sternhelfer gut, erstere auch bei
Pfeil- und Flintenschußwunden. Epidemien entstehen dadurch,
daß irgend ein Helfer sich selbst oder einen „Schmerz" im
Boden inmitten des Dorfes verborgen hat und von dort aus
die Leute krank macht. Dann muß der Helfer des Schamanen
selbst kommen — während er sonst durch den Schamanen
wirkt — und den Verborgenen ins Wasser treiben.
Außer diesen Zeremonien des Pubertätsfestes, den schama-
nistischen Riten und dem Kriegstanz, der in 3 — 4 Nächten
vor dem Auszuge unter Beobachtung von Diät und Schilderung
der zu vollbringenden Taten stattfand, gibt es keine Feste
und Tänze. Dagegen kann man, wie erwähnt, nackt auf
Glück ausgehen, oder durch Selbstverwundung u. dergl. Erfolg
erringen. Gesänge, die nur wenige kennen, werden im Winter
in den Häusern zum Schutz gegen Klapperschlangen und
Grislybären gesungen. Gebete bzw. Zauberformeln helfen im
Kriege, bei der Grislyjagd und bei anderen Gelegenheiten.
Leider sind die dafür beigebrachten Belege in ihrem Sinne
nicht ganz klar.
Kürzlich sind Roland B. Dixons Notes on the Acho-
mawi and Atsugewi Indians of Northern California' er-
schienen, die ebenfalls zu dem Shasta-Sprachstamm gehören. Es
ist ersichtlich, daß die religiösen Sitten denen der Shasta sehr
* American Anthropologist X N. S. 208—220. Lancaster 1908.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 237
ähnlich sind, weshalb ich nicht näher darauf eingehe. Hier
konnten, wenn auch seltener, Männer, die nicht Schamanen
waren, durch Fasten, nächtliches Baden, Träumen usw.
„Schützer" erlangen. Es wäre namentlich zu wünschen, daß
man über die „nicht ungewöhnlichen" Mannweiber, also homo-
sexuelle Männer (berdashes), etwas Näheres erführe. Sie sind
überhaupt in älteren Berichten über Nordamerika häufig er-
wähnt, ohne daß man sich ein klares Bild von ihnen in reli-
giöser Beziehung machen kann.*
Auch von den Missionsindianem im südlichen Kalifornien,
die seit 100 Jahren unter christlichem Einfluß leben, haben
sich merkwürdigerweise im Munde weniger alter Leute noch
verhältnismäßig eingehende Nachrichten über ihre Religion
erhalten, die Constance Goddard Dubois 1906 gesammelt
hat und veröffentlicht: The Religion of the Luiseno In-
dians of Southern California.* Diese Indianer sprechen
einen Shoshoni-Dialekt. Der Einfluß der katholischen Kirche
hat bis auf den heutigen Tag es gerade nur zustande gebracht,
diiß die alten Leute den Schleier des Geheimnisses, der über
dem alten Glauben liegt, fallen lassen. Doch nicht mehr als
120 Jahre soll es her sein, daß diese Zeremonien des gött-
lichen Wesens Chungichnish von der Küste her nach San
Luis Rey kamen. Zwei Feste sind mit dieser Religion ver-
bunden, erstens die alle 2 — 3 Jahre stattfindende Einführung
von Knaben in den Chungichnishglauben vermittelst des
Trinkens der toloache -Wurzel und zweitens die Toten-
zeremonien. Diese beiden werden eingehend beschrieben, ohne
daß wir zu völliger Klarheit über die Bedeutung der interessanten
Einzelheiten gelangen. Seit 50 Jahren ist das erstere Fest nicht
mehr gefeiert worden. Im Dunkeln wird der Trank aus der Wurzel
* Vgl. Karsch Uranismus, Jahrb. für sexuelle Zwischenstufen III,
S. 125 f.
* Univers, of California Publications in Amer. Ärcfioeol. and EthmA.
VIII, S. 69—188. Berkeley 1908.
238 K. Tb. Preuß
der bläulich -weißen toloache- Blume (jimson-weed, datura mete-
loides) mit Wasser zubereitet, die Knaben knieen vor der heiligen
Steinschale und schlürfen nacheinander das Naß. Dann geht man
zu dem Hauptfestplatz, wo die Tänzer auf Händen und Knieen
kriechend und die Laute von Vögeln und anderen Tieren: von
Habichten, Eulen, Raben, Wieseln nachahmend, eintreffen.
Diese sind die persönlichen Schutztiere, wie Dubois sehr wahr-
scheinlich macht. Dann tanzt man singend um das Feuer,
die Knaben fallen infolge des Trankes bald nieder und werden
zum früheren Platz gebracht. Vor dem Auslöschen des ge-
waltigen Feuers werden allerhand wunderbare Handlungen
verrichtet: man stellt sich z. B. in das Feuer hinein, ohne daß
irgend etwas von dem Federschmuck usw. verbrennt. 4 — 5
Tage lang kommen die Bewohner je eines anderen Dorfes und
bringen den Knaben Federschmuck und die wunderwirkenden
Stöcke und unterrichten sie. Nun wird die Wanawut („Schnur")
genannte Nachbildung der Milchstraße, wohin nach dem Tode
die Seelen gehen, in eine fünf Fuß lange Grube gelegt, und
die Knaben müssen auf den drei runden flachen Steinen, die
in einer Reihe in die Figur geknüpft sind, von einem zum
andern springen. Der Zweck ist, sie dereinst von der Erde
zu befreien, aber auch, ihnen langes Leben zu verleihen. Es
folgt die Anlage einer Zeichnung aus farbigem Sande aus drei
konzentrischen Kreisen mit einem Loch in der Mitte. Die
Methode solcher Zeichnungen erinnert sofort an die aus-
gebildeten rituellen Sandzeichnungen der Navaho. Sie be-
deuten die Welt mit der Milchstraße, dem Himmel und
„unserem Geist" (der innerste Kreis). Außerdem sind die den
Übertreter der Vorschriften bestrafenden Tiere, Pflanzen und
Krankheiten dargestellt. Ein Klümpchen aus gemahlenem
Salbeisamen und Salz wird jedem Kandidaten in den Mund
gesteckt, der es, vor der Zeichnung knieend und sie mit den
Armen umfassend, in das Loch speit, worauf die Zeichnung
von außen nach innen zerstört und das Loch zugeschüttet
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 239
wird. Vorher geht die heilige Unterweisung in seinen Pflichten,
die sich auf Speisegebräuche, Verhalten zu den Alten und
praktische Lebensregeln beziehen. Den Ungehorsamen wird
Chungichnish den Bären, den Berglöwen, die Klapperschlange
senden, sie zu beißen, sowie stechendes Unkraut und Krank-
heit. Die Erde wird den Schuldigen hören, Sonne und Mond
ihn schauen.
Die Sandzeichnung wird zur Ausführung desselben Ritus
auch gebraucht, wenn die Jünglinge die Ameisenprobe durch-
machen. Hierbei werden Ameisen auf die nackten Körper der
auf dem Boden Liegenden geschüttet und später mit Xesseln
herunter geschlagen. Das erinnert an die Ameisenprobe einiger
Guayanastämme. Ein Wettrennen der Jünglinge folgt, der
Sieger bemalt einen Fels. Endlich werden nach dem Tode
eines solchen durch den toloache- Trunk Eingeweihten seine
Zeremonialobjekte in das Loch der Sandzeichnung vergraben.
Ganz anders war das Pubertätsfest für die Mädchen.
Diesen wird ein Tabakskügelchen in den Mund gesteckt, das
sie verschlucken müssen. Dann legt man das Mädchen in
eine durch Feuer vorher erwärmte, mit geweihten Zweigen
ausgelegte und mit Gesträuch bedeckte Grube, in der sie drei
Tage und drei Nächte unbeweglich liegen bleiben muß, während
in der Nacht die Männer und am Tage die Frauen singend
um die Grube herumtanzen. Dann wird sie herausgenommen,
und es folgt ein Wettrennen der Frauen und Bemalung eines
Felsens. Nach einem Monat der Enthaltung von Fleisch und
Salz wird die Zeremonie der Sandzeichnung wie bei den
Knaben abgehalten.
Von Trauerzeremonien wird das Verbrennen der Bilder
erwähnt, was nach Kroeber (im Nachtrag) in unregelmässigen
Zeiträumen vor sich geht, wenn genügend Leute gestorben
sind. Figuren werden wie im Leben gekleidet, stellen (nach
Kroeber) die Toten dar und werden nach Gesancr und Tanz
verbrannt. Als Signal schwingt der Häuptling dabei ein
240 K. Th. Preuß
Schwirrholz. Eine „andere Form dieser Zeremonie'* ist das
Aufrichten eines haushohen Kiefernstammes, den man ver-
schiedenfarbig bemalte und der den Toten darstellte. Er wurde
mit Körben auf der Spitze behangen und ganz oben befand
sich ein Rabenbalg. Man erkletterte ihn im Wettstreit. Um
ihn tanzte man. Dieses erinnert etwas an die mexikanische
Totenzereraonie des Festes xocotl uetzi, wo ein Mumienbündel
oben auf der Stange angebunden und das Bild des Feuergottes
Xocotl bzw. ein Vogel auf der Spitze angebracht war. Den
Pfahl erkletterte man und riß den Gott herab.
Dubois hat auch eine Menge der bei den Zeremonien
gesungenen Gesänge phonographisch aufgenommen und weiß
deren Inhalt zu erzählen, so daß wir wohl hoffen dürfen, sie
bald in extenso in Text und Übersetzung zu erhalten. Es
folgen dann eine Anzahl für die Religion wichtiger Mythen,
leider ohne einheimischen Text.
Im Anhang gibt A. L. Kroeber seine unabhängig davon
1904 aufgenommenen kurzen Nachrichten über die Luisenos,
die bemerkenswerte Ergänzungen bringen. Z. B. gibt "er eine
andere Darstellung der Sandzeichnung, die Erde genannt wird,
während das Loch in der Mitte der Nabel heißt, der das Grab
vorstellen soll als Drohung für eine Übertretung der Gebote
durch die Eingeweihten. Von besonderen Totenzeremonien
führe ich noch den Adlertanz an, bei dem Leute während der
Nacht abwechselnd um das Feuer mit einem Adler in der Hand
tanzen, der in der Gefangenschaft aufgewachsen ist. Des
Morgens wird der Adler, der einen verstorbenen Häuptling vor-
stellt, durch einen Druck auf das Herz getötet und dann ver-
brannt. Der Nachfolger des Häuptlings veranstaltet die Feier.
Weiteres ergänzendes Material über dieselben Indianer
bringt Philip Stedman Sparkman in seiner Abhandlung
The Culture of the Luiseiio Indians', wovon besonders
1 A. a. 0. VIII, S. 187—234.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 241
die wörtliche Wiedergabe der Anweisimg an die Knaben und
Mädchen bezügKch der Sandzeichnung in den Pubertätsriten
hervorzuheben ist und eine neue Darstellung der Zeichnung selbst.
Zum großen Teil dieselben Zeremonien berührt auch ein
alter Bericht, den die Missionen 1811 auf eine AnA'age über
die Indianer sämtlicher Missionen dieser Gegend an die mexi-
kanische Regierung in Mexiko schickten. Er ist auszugsweise
von A. L. Kroeber unter dem Titel A Mission Record of
the California Indians* aus dem Spanischen übersetzt und
mit Anmerkungen versehen worden. Hier wird z. B. von der
Mission San Fernando gesagt, daß die Indianer toloache
trinken, um Hirsche zu jagen. Sie würden dadurch stark und
seien zugleich geschützt gegen Klapperschlangen, Bären und
Pfeüe, die dann nicht in den Körper eindringen würden.
A. L. Kroebers Ethnographj of the Cahuilla In-
dians* zeigt auf den wenigen der Religion gewidmeten
Seiten, daß diese einen Shoshonidialekt sprechenden Indianer
des südlichen Kaliforniens den Missionsindianem nahe stehen.
Toloache wird wahrscheinlich ebenfalls von jedem Knaben ge-
trunken. Der Gebrauch des Trunkes bringt Reichtümer, wohl
wie Kroeber bemerkt, weü er Macht und Erreichen von
Wünschen gewährleistet. Auch das „Rösten der Mädchen'^
bei der Pubertätsfeier wurde wahrscheinlich geübt.
Auch von den Yuma sprechenden Diegueüoindianern des
südlichen Kalifornien haben wir kurze Andeutungen über das
Vorhandensein der bei den Luisenos beschriebenen Zeremonien,
wie es zugleich Tradition ist, daß sie vor 120 Jahren von diesen
zu den Dieguenos kamen. Constance Goddard Dubois
zeigt die Unterschiede und die gegenseitige Beeinflussung der
beiden Stämme in ihrer Abhandlung Ceremonies and
Traditions of the Diegueno Indians' auf. Fremde Züge
' From a Manuscript in the Bancro/t Library a. a. 0. YIII, S. 1 — 27.
* A. a. 0. VIII, S.29 — 68.
* Journal of Amer. Folklore XXI, S. 228 — 236.
Archiv f. Religionswigseuschaft XIV \Q
242 K. Th. Preuß
in den Mythen sind jedoch vorhanden und beruhen auf der Zu-
gehörigkeit der Dieguenos zu den Yuma, Mohave, Maricopa usw.
Was wir bis jetzt von der Religion der Kalifornischen
Indianer wissen, hat A L. Kroeber, The Religion of the
Indians of California^ in den Hauptzügen zusammengestellt,
um in einem Überblick über die Tatsachen Einheit bzw. Ab-
weichungen innerhalb Kaliforniens festzustellen und Gegensatz
bzw. Ähnlichkeit mit dem übrigen Nordamerika herauszuheben.
Da in den Auszügen der Berichte dieses Archivs ohnehin die
springenden Punkte in der Religion der kalifornischen Indianer
hervortreten, beschränke ich mich hier auf wenige Bemerkungen.
Kroeber hebt mit Recht hervor, daß bei den Kaliforniern
Symbolismus und Ritual, wie es sich auch in Geräten und
Pictographien zeigt, weniger entwickelt ist, wie sonst meist
in Nordamerika. An Stelle der Handlungen sind dafür die ge-
sprochenen und gesungenen Worte weniger nach ihrer Form
als nach ihrem Inhalt von besonderer Bedeutung. Die Kali-
fornier bilden ferner mit den Stämmen der pazifischen Küste in
den das Individuum betreffenden Sitten bei Geburt, Pubertät
und Tod eine Einheit, während im Osten und am Atlantischen
Ozean mehr öffentliche und Stammeszeremonien hervortreten.
Besonders die Pubertätssitten, z. B. daß das Mädchen nicht den
Kopf mit der Hand kratzen darf, stimmen mit denen der nord-
pazifischen Küste überein. Die große Masse der Zentral-
kalifornier bildet eine Einheit. Besondere Gebiete sind aber
der äußerste Nordwesten und der Süden Kaliforniens, die eine
höher organisierte und verwickeitere Kultur zeigen als das
Zentrum.
In Kalifornien war das gänzliche Fehlen des Totemismus
bisher eine feststehende Tatsache. Nun überrascht uns C. Hart
Meriams Abhandlung Totemism in California* mit ge-
nauen Angaben über verdchiedene Arten des Totemismus bei
' Univ. of Calif. Publ. in Amer. Arch. and Ethn. IV, S. 319—356.
" Amer. Anthropologist , N. S. X, 1908, S. 558 — 662.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 243
einer ganzen Anzahl von Stämmen, die zu verschiedenen
Sprachgruppen gehören. Über den persönlichen Schützer, den
Meriaras ebenfalls Totem nennt, haben wir schon einzelnes aus
der Arbeit von Dixon über die Achomawi und Atsugewi gehört.
Solch persönlichen Schützer, ein Tier, einen Baum oder Felsen,
sehen die jungen Leute bei den nördlichen Mewuk im Traum,
nachdem sie tagelang umhergewandert sind. Die mittleren und
südlichen Mewuk dagegen haben ein erbliches Totem, das sich
vom Vater auf den Sohn vererbt Sie teilen sich in zwei
Klassen, die „Land" und „Wasserseite", von denen die eine
Landtiertotems bzw. Bäume, die andere Wassertiertotems und
den Coyote hat, der im Mythus von jenseits des Meeres
kommt. Andere Stämme der Mewangruppe nördlich San
Franzisco mit erblichen Tiertotems sind die Oläyome, die nur
Säugetiertotems haben, und die Hoökooeko und Olamentko,
die nur Yogeltotems besitzen. Auch die Midoogruppe und die
Yokut werden als totemistisch namhaft gemacht.
Nördliche tShoshoni. Robert H. Lowie hat einen
Sommer hindurch (1906) die Shoshoni- oder Snakeindianer
in Lemhi, Idaho, studiert und berichtet nun unter Zuhilfe-
nahme der alten Quellen über diese Indianer überhaupt: The
Northern Shoshone.^ Die Hälfte nehmen Mythen und Er-
zählungen ein, die nach Übersetzungen seiner Interpreten
niedergeschrieben sind. Für unsere Zwecke kommen im wesent-
lichen nur die Seiten 211 — 236 in Betracht. Einige Tage vor
der Geburt eines Kindes enthalten sich beide Eltern des Fleisch-
und Fischgenusses. Früher wurde auch neben Pferden das
Weib des verstorbenen Häuptlings getötet. Es finden sich
keine Spuren von Altersgenossenschaften. Der Sonnentanz ist
hier und da spät eingeführt, der BüfiFeltanz z. T. dem Weiber-
tanz der Arapaho entnommen. Der Nuakintanz wurde Ende
' Anthrop. Papers of the Amer. Mus. of Xat. Hist. II, S. 163 — 306.
New York 1909.
16*
244 K. Th. Preuß
des Winters veranstaltet, um reichliche Nahrung, besonders an
Beeren und Lachsen, zu erlangen. Am anderen Orte hieß er
Grastanz und diente zum besseren Wachsen des Grases. Auch
beim ersten Lachsfang fand eine Zeremonie statt. Lowie er-
wähnt noch mehrere andere Tänze, ohne daß wir ein Ver-
ständnis für sie erlangen können. Bei dem wöhönökakin wurde
ein gezahntes Brett mit einem Stock gestrichen. Von diesem
Instrument (wöhönög) hatte der Tanz seinen Namen. Ähnlich
wie bei den Prärieindianern erwarb man übernatürliche Kraft
durch Träume, Visionen und Helfer. Man ' unterscheidet
zwischen solchen persönlichen Helfern büha, die einem Rat
erteilen und denen man gehorchen muß, und zwischen bloßen
Zaubermitteln fnadcu). Solch ein büha können aber auch z. B.
nur einige Wurzeln sein, die man in einem Säckchen trägt.
Will man einen Feind töten, so spricht man zu seiner Medizin,
bindet sie an einen Stein und wirft sie gegen ihn. Eine regel-
rechte Unterscheidung von Medizinmännern (Schamanen) und
gewöhnlichen Leuten ist nicht zu machen, da der Besitz von
Kriegs- oder Heilraedizinen nicht spezifisch ist. Helfen bei
Krankheiten die gewöhnlichen Heilmittel nichts, so wird ein
besonderer Medizinmann gerufen. Die Theorie ist dann, daß
ein Geist auszutreiben ist, was z. B. dadurch geschieht, daß der
Arzt aus seinen Händen einen Tubus bild^ und durch ihn am
Munde des Kranken saugt, bis dieser den Geist in Gestalt
eines kleinen Objekts ausstößt. Dankenswert ist die kurze
Zusammenfassung der mythologischen Konzeptionen, die aber
über unzusammenhängende Einzelheiten nicht hinausgehen.
Algonkin der Prärien. Im vorigen Bericht konnte ich
über die zeremoniale Organisation und den Sonnentanz der
Arapaho nach den ausführlichen Arbeiten von Kroeber und
Dorsey berichten, und jetzt ist ein anderer, ebenfalls zu den
Prärieindianem gehörender Algonkinstamm nach diesen beiden
Richtungen hin untersucht worden, gerade noch zu einer Zeit,
Religionen der Naturrölker Amerikas 1906—1909 245
wo einigermaßen ausführliche Nachrichten über die nun schnell
schwindende soziale Organisation eingezogen werden konnten,
und wo der Sonnentanz vielleicht zum letztenmal — infolge
falscher Berichte des betreffenden Indianeragenten an seine
Behörde — begangen worden ist: George A, Dorsey, The
Cheyenne, 1 Ceremonial Organisation, II The Sundance.*
Es ist dadurch ein schönes Vergleichsmaterial beschafft worden,
das Dorsey besonders seinem Interpreten Richard Davis, einem
Vollblutcheyenne, verdankt. Den Sonnentanz hat Dorsey selbst
zweimal vollständig mitgemacht, ebenso, wie es scheint, die
Zeremonie der Medizinpfeile im November 1902. Schade ist
nur, daß in dem ganzen Buch fast keine einzige einheimische
Bezeichnung vorkommt, was man für weitere Studien schmerz-
lich vermissen wird. Auch die in dem Sonnentanz vor-
kommenden Gesänge sind nicht mitgeteilt, obwohl solches
urkundliches Material — allerdings muß zugleich der ein-
heimische Text gegeben werden — vor allem zu schätzen ist.
Die beiden großen Zeremonien, die der Medizinpfeile und
der Sonnentanz, gehen von zwei verschiedenen Gruppen der
Cheyenne aus, deren Sprachen etwas voneinander abweichen.
Entsprechend wurden nach den Mythen die beiden Zeremonien
von zwei verschiedenen Helden bzw. von einem solchen mit
zwei verschiedenen Namen — Motzeyouf (standing medicine)
und Erect Homs — auf fast ganz dieselbe Weise nach vier-
jährigem bzw. viertägigem Aufenthalt in oder auf einem Berge
heimgebracht, wo sie ihnen von „der Großen Medizin" und
„dem Rollenden Donner" selbst geoffenbart wurden. In beiden
FäUen folgen ihnen die Büffel zur Ernährung des Volkes,
nach der Unterweisung von Erect Homs ist der Erfolg zu-
gleich die Erneuung der Natur. Motzeyouf brachte vier
Medizinpfeile mit, von denen zwei Macht über die Menschen,
zwei Macht über die Tiere besitzen. Die Zeremonie der
• Field Columbian Museum Publ. 99 Avthrop. Series IX, Nr. 1. 2.
Chicago 1905. 186 S.
246 K. Th. Preuß
Medizinpfeile wird jährlich vier Tage lang gefeiert, indem
jemand, der nachher die Rolle des Propheten Motzeyouf spielt,
das Fest zu veranstalten gelobt. Dabei muß jede Familie ver-
treten sein, und für jede wird ein Stab in dem für die Zeremonie
errichteten großen Medizinpfeilzelt niedergelegt. Hier werden
die Pfeile enthüllt und eventuell ausgebessert, worauf sie an
einem Pfahl vor der Hütte allen männlichen Individuen jeden
Alters zur Schau ausgehängt werden, während man ringsum
die Opfergaben niederlegt. Dann wird die alte Hütte ab-
gebrochen und über dem Pfahl von neuem errichtet. Die Pfeile
werden nun dem damit beauftragten Beamten zurückgegeben
und der Prophet zieht sich in sein Zelt zurück, um den
Medizinmännern zu prophezeien. Erneuuug des Lebens und
des Mutes sei der Zweck des Ganzen.
Motzeyouf hat auch die soziale Organisation des Stammes
eingesetzt, von der besonders die 40 Häuptlinge mit ihren vier
alten Medizinmännern als Berater und Führer und fünf Krieger-
genossenschaften zu erwähnen sind, wozu noch eine aus neuerer
Zeit kommt. Dorsey verweist auf die Ähnlichkeit einiger von
ihnen mit entsprechenden Gesellschaften der Arapaho, aber es
ist anderseits ein grundlegender Unterschied vorhanden: sie
sind nämlich nicht nach Altersstufen gegliedert und ent-
sprechend nicht an Rang verschieden wie bei den Arapaho,
sondern in jedem Alter kann man Mitglied einer jeden der
Gesellschaften werden. Zu drei Gesellschaften gehören auch
je vier Mädchen, meist aus den Töchtern der 44 Häuptlinge.
Diese Mädchen dürfen von den Mitgliedern nicht geheiratet
werden. Die Hufrasselkrieger, so nach ihren Rasseln genannt,
haben ein als Klapperschlange gestaltetes Musikinstrument aus
dem Geweih des Wapitihirsches, das auf dem Rücken Ein-
kerbungen hat und mit einem Antilopenschienbein gestrichen
wird. Wenn ein bestimmtes Medizinkraut gekaut und darauf
geblasen wird, während man es in eigentümlicher Weise be-
wegt, so kommen die Herden der Jagdtiere herbei. Bemerkens-
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 247
wert ist die mythische Ableitung der Hunde-, Menschen- und
der Wolfcresellschaft von solchen Tierwesen. In den Angaben
über die Abzeichen vermisse ich die Unterscheidung, was
davon beim Tanz und was im Kriege getragen wird. Das
zu wissen ist für den Zauberwert der Abzeichen durchaus
notwendig. Femer fehlen die zahlreichen Kriegsgesänge
gänzlich.
Für die genaue Beschreibung des Sonnentanzes, den die
Cheyenne „die Hütte neuen Lebens'' (new life lodge) nennen,
kann ich auf meinen vorigen Bericht (IX, S. 126 f.) über den
Sonnentanz der Arapaho verweisen, der infolge des Eindringens
neuer Elemente komplizierter ist. Dorsey selbst gibt am
Schluß die Unterschiede an. So haben die Tänzer der Cheyenne
nicht das Gelübde getan, zu tanzen, sondern gehören derselben
Gesellschaft an, wie der Mann, der die Zeremonie zu ver-
anstalten gelobte. Die Riten im Zelt, das für die vorbereitenden
Zeremonien errichtet wird, umfassen nacheinander die Her-
stellung von fünf immer größer angelegten kreisförmigen „Erden",
die die wachsende Erde und zugleich den Platz, wo die Büffel,
das Hauptnahrungstier, sich wälzen, darstellen sollen, während
z. B. durch die Grasstöpsel in den Augen und in der Nase des
Büffelschädels das Wachstum der Vegetation befördert werden
soll. Es soll eine Neuschöpfung und Emeuung alles Lebens
auf der Erde bewirkt werden. Das Feuer in dem Haupt-
zeremonialzelt soll die Hitze der Sonne vorstellen, und das
Zelt ist nach Osten gerichtet, damit die Sonne darüber ihren
Lauf nehme und alles fruchtbar mache. Bei den Cheyenne ist
auch der Mythus vom Ursprung des Sonnentanzes klarer
wiederholt, indem der Hauptpriester „die große Medizin" vor-
stellt, die die Zeremonien gelehrt hat, und der Held Erect
Horns, der sie empfängt, durch den Veranstalter des Festes
dargestellt wird, der das Gelübde dazu getan hat.
Ergänzungen besonders zu den Kriegergesellschaft^n der
Cheyenne bringt die Arbeit des kürzlich verstorbenen James
248 K. Th. Preuß
Mooney, The Cheyenne Indians.^ Er gibt noch eine
sechste Gesellschaft der „törichten Hunde" an, die von Dorsey
nicht erwähnt ist, und mehrere kleinere Gilden, so die ver-
schiedenen Arztgenossenschaften zur Heilung von kranken
Pferden (horse medicine doctors), die jede ihre besonderen
Mittel nebst Tabus, Bemalung, Gesängen usw. hatten, ferner
die Gesellschaft der „Verrückten Tänzer", die während der Tänze
durch Kauen einer Pflanze übernatürliche Körperkräfte und Ge-
wandtheit erwarben, und die Feuertänzer, die durch EinÖlung
des Leibes auf glühenden Kohlen zu tanzen vermochten. Zu er-
wähnen sind auch die Kameradschaften zwischen zwei jungen
Leuten fürs Leben, die füreinander eintraten und Pferde und
anderes Eigentum gemeinsam besaßen. Gewöhnlich gehörten
sie derselben Kriegergesellschaft an. Von den vier heiligen
Pfeilen wird erzählt, daß sie zur Verehrung ausgestellt wurden,
um das Blut vom Volke abzuwischen, wenn ein Cheyenne
einen Volksgenossen getötet hatte.
Von A. L. Kroebers Werk The Arapaho liegt nun auch
Teil IV Religion^ vor. Die zeremoniale Organisation, die
eigentlich auch hierzu gehören würde, ist schon in Teil HI
behandelt. Ebenso fehlen die Mythen, die an anderer Stelle
veröffentlicht sind. Es wäre aber wünschenswert gewesen,
hier eine Götterlehre oder dergleichen zu geben. In der Haupt-
sache besteht dieser Teil demnach in der Darstellung der Kult-
handlungen und namentlich in der Beschreibung von Zeremonial-
geräten, die für den Symbolismus, d. h. die Darstellung über-
natürlicher Kräfte, wichtig sind. Besonders interessant aber
ist das letzte Kapitel „persönliche übernatürliche Mächte", das
eine sonst nirgends vorkommende Menge von Amuletten und
„Medizinen" nebst Erklärungen bietet. Wir werden durch sie
' Memoirs of the Amer. Anthrop. Assoc. I, S. 367— 442. Lancaster
Pa 1907.
» Bull, of the Amer. Mus. of Nat. Hist. XVUI, S. 279-464. Vgl.
Archiv IX S. 123 f.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 249
SO anschaulich in die alle praktischen Tätigkeiten umfassende
Zauberatmosphäre des Prärieindianers eingeführt, daß ich damit
als Hauptsache des Ganzen beginne. Nach zwei bis drei,
höchstens sieben Tagen Fasten, meist auf Bergspitzen, erscheint
dem erwachsenen Mann sein Schutzgeist, gewöhnlich ein kleines
Tier in menschlicher Gestalt, das aber beim Entweichen Tier-
gestalt annimmt. Das Fell eines solchen Tieres trägt er dann
als Medizinsack. Oft sogar ist der Suchende ein Mann in
mittleren Jahren. Einer hat mehr, der andere weniger Zauber-
kräfte dadurch, aber eine besondere Klasse von Schamanen
gibt es nicht Nun werden aber solche Geister auch durch
bloße Lehre samt allen Medizinen übertragen, meist an Ver-
wandte, aber auch an Fremde, die dafür zahlen. Dann hat
man nicht nötig zu fasten. Auch gibt es eine Masse Zauber-
mittel, die infolge einer assoziativen Idee wirken, ohne
daß sie wie sonst vom Schutzgeiste im Traume offen-
bart oder während des Fastens gefunden worden sind. Ein
Federkopfschmuck, ein Hals-, ein Armband usw. enthalten
zuweilen sogar eine ganze Menge solcher Medizinen. Einige
Beispiele mögen das Ganze erläutern. Ein Medizinsack aus
DachsfeU, der einem Manne mit dem Dachse als Schutzgeist
zugehörte, enthielt sieben Medizinen gegen verschiedene Krank-
heiten, ohne daß ein wirklich medizinischer Wert irgendwie
wahrscheinlich war. Darunter war ein Stein, der sich in der
Seite eines Büffels gefunden hatte und, auf Geschwüre gelegt,
diese heilte, der Schwanz einer Schildkröte, der als Kopf-
schmuck getragen, die Gesundheit bewahrte, das Herz einer
Schildkröte, das zerstoßen und in Wasser getrunken Herz-
schmerzen heilte. Ein Mann sah nach dem Fasten jemanden
mit einer Medizinhalskette im Kampfe, der von den Pfeilen
nicht getroffen wurde. Ein andermal sah er nach dem Fasten
einen, dem zwei Klapperschlangen aus dem Munde kamen.
• Sie verschwanden, und er stellte fest, daß sie in seinem eigenen
Körper waren. Seitdem hat er sie in seinem Leibe und kann
250 K. Th. Preuß
Klapperschlangenbisse heilen. Von allen Klapperschlangen,
die er tötet, ißt er Fleisch und Eingeweide roh. In seinem
]\Iedizinsack aus Dachsfell befand sich die Figur seines Helfers
aus Fell, genau mit demselben Schmuck, wie er ihn im
Kampfe gesehen. Die ganze Figur wird im Kampfe als Kopf-
schmuck getragen. An einem Armband aus Dachsfell befand
sich ein Gopherfell, eine Eulenklaue, mehrere Schellen, Federn,
rote Beeren und einige Fellfransen. Das Dachsfell vermehrt
die Schnelligkeit des Reitpferdes, die Klaue hilft den Feind
ergreifen, die Bewegung der Federn treibt den Feind fort, die
Schellen stellen den Lärm des Kampfes dar. In der Not wird
eine der roten Beeren aufgemacht und gekaut. Das Ganze ist
zugleich eine Rassel zur Krankenheilung. Wenn man mit ver-
schiedenfarbigen Bohnen die Seiten einer Stute reibt, so erhält
sie entsprechend farbige Füllen. Ein schuppiger Schildkröten-
schwanz mit Federn wurde im Kampfe auf dem Kopf, auf der
Brust oder an der Seite getragen. Die Federn bewirken
Schnelligkeit, die Schuppen machen unverwundbar. Das Ganze
wird ebenfalls zum Heilen gebraucht.
Von Zeremonien beschreibt Kroeber den Sonnentanz der
nördlichen Arapaho in Wyoming, während Dorseys Beobach-
tungen sich auf die südlichen in Oklahoma beziehen. Obwohl
Kroeber die Geheimzeremonien nicht gesehen hat, so bietet
sein kurzer Biöricht doch sowohl in der Übereinstimmung
der ganzen Anlage wie in abweichenden Einzelheiten sehr
wünschenswerte Kriterien und Ergänzungen. Kroeber be-
schreibt dann einige heilige Stammesgeräte (Fetische), ohne
daß ihre Wirkungen oder ihr Gebrauch genau mitgeteilt wird:
die Tabakspfeife, das Rad, das uns schon aus dem Sonnen-
tanz bekannt ist, die Medizinsäcke usw., und teilt einige
Gebete und Reden und vereinzelte interessante Anschauungen
und Gebräuche mit. Quellen sind von Wasserungeheuern be-
wohnt, aus deren Maul zuweilen die Quellen herauskommend
gedacht werden. Trocknet eine aus, so hat der Donner das
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 251
ungeheuer fortgeholt, wie auch der Blitz ins Wasser schlägt,
um es zu trefiPen.
Einen großen Raum besonders unter den Jüngeren nehmen
heute Zeremonien ein, die modernen Ursprungs, aber doch aus
indianischem Geiste geboren sind. Es sind einerseits Spiele
und Tänze in Verbindung mit dem bekannten vor etwa
15 Jahren unter den Indianern weit und breit aufgekommenen
Geistertanz, der heute nicht mehr existiert, teils der von den
Kiowa übernommene Peyoteritus. Sicher ist wohl, daß viele
alte Elemente in den zahlreichen symbolischen Requisiten des
Geistertanzes vorhanden sind, und so ist ihre ausführliche Be-
schreibung und die Erklärung der piktographischen Elemente
darin, die Kroeber hier bietet, eine reiche Quelle der Belehrung.
Dasselbe ist mit den Spielen der Fall, die mit dem Geistertanz
aus der alten Rüstkammer indianischen Geistes hervorgeholt
wurden. Kroeber beschreibt dann den Krähentanz, der noch vor
der Zeit des Geistertanzes von den Sioux übernommen wurde
und heute mit Ideen des Geistertanzes erfüllt ist. Kroeber sah
ihn im September 1899 bei den Arapaho. Ursprünglich war er
ein Freundschaftstanz zwischen Pawnee und Osage. Es werden
bei ihm Pferde verschenkt. Das zeremonielle Essen von Peyote
hat Kroeber zweimal beobachtet. Diese Kaktusart bringt gegessen
besondere Erregung, Steigerung der geistigen und körperlichen
Fähigkeiten und eventuell Visionen hervor, ganz wie der mexi-
kanische Peyote. Er wird nur an den in unregelmäßigen Zwischen-
räumen von Wochen stattfindenden Festen gregessen, an denen
alte Leute nie teilnehmen. Der Leiter des Festes singt die ganze
Nacht, seine Gesänge beziehen sich auf den Peyote, auf die
Vögel, die seine Boten sind, und auf die lange Dauer der Xacht.
Zugleich liegt ein ausführlicher Bericht des unermüdlichen
Verfassers über einen andern Prairiestamm der Algronkin vor:
A. L. Kroeber, Ethnology of the Gros Ventre.' Da dieser
' Anthrop. Papers of the Amer. Mus. of Nat. Hist. I S. 139 — 281.
252 K. Th. Preuß
Stamm mit den Arapaho sprachlich und kulturell nahe ver-
wandt ist und die Untersuchung nach denselben Richtungen
geführt ist, so kann ich mich hier kurz fassen. Auch hier
beruhen die Angaben meist auf Nachrichten, die von alten
Indianern eingezogen sind, und weniger auf direkter Beobachtung.
Hier versuchten nicht alle, sich übernatürliche Kräfte zu ver-;
schaffen, und die es taten, erreichten nicht immer ihr Zieli
Auf Bergspitzen sowohl wie (^seltener) an Wasserläufen fasteten
und „schrien" sie, um einen Helfer zu gewinnen, der dann
entsprechend dem Orte verschieden war. Außerdem ist eine
Menge vegetabilischer Medizinen gegen Krankheiten allgemein
bekannt. Die zeremoniale Organisation nach Altersklassen ist
der der Arapaho sehr ähnlich, obwohl Abweichungen vor-
handen sind. Z. B. konnte eine siebente und älteste Genossen-
schaft nicht nachgewiesen werden. Das Aufsteigen in eine
höhere Stufe durch Abhalten der viertägigen und auch vier-
nächtigen Tänze fand statt, wenn der Betreffende, der das nötige
Alter dazu hatte, den Tanz in einer Notlage gelobte. Doch
ist es hier eigentlich falsch, von sechs Altersgenossenschaften
zu reden, da vielmehr abweichend von den Arapaho nur sechs
Alterszeremonien existierten und eine drei- bis viermal größere
Zahl von Gesellschaften, die z. T. komische Namen haben
(„Genug-essen-um-über-Nacht-auszuhalten", „Weiße Nasen"
usw.), jedenfalls ganz andere als die Tänzer der sechs Zeremonien.
Innerhalb dieser vielen Gesellschaften wurden die sechs Alters-
tänze ausgeführt, obwohl die Altersstufen in verschiedenen Gesell-
schaften verteilt waren und demnach nicht alle Altersgenossen
bei der sie betreffenden Zeremonie vereint waren. Ganz klar
erscheint das Verhältnis nicht, auch ist die Organisation schon
lange verfallen. Bei den Tänzen gebürdeten sie sich in ge-
wisser Weise wie die Tiere, nach denen sie ihren Namen haben,
und es herrschte auch z. T. die Idee, die Tänze seien von den
betreffenden Tieren gestiftet. Die Tänze und die dabei ge-
brauchten Abzeichen werden ausführlich beschrieben. Auch
Religionen der Xatiirvölker Amerikas 1906—1909 253
der Sonnentanz, der nicht zu den Altersklassen gehörte, wird
gefeiert, wie bei den Arapaho, Der Tanz hat gleichfalls
einige Abweichungen, genaue Auskunft über manche Einzelheiten
war jedoch nicht zu erlangen.
Siouxstämme. Seine Studien des Sonnentanzes hat
George A. Dorsey auch bei den Sioui fortgesetzt: The
Ponca Sun Dance.^ Der Bericht ist nach einmaligem An-
schauen der Zeremonie abgefaßt, obwohl ein geeigneter Inter-
pret sich nicht tinden ließ. Das Fest hatte auch nicht mehr
den ursprünglichen Halt in den Herzen des Volkes. Deshalb
repräsentiert sich der Bericht im Gegensatz zu den sonst so
eingehenden Feststellungen des ausgezeichneten Beobachters
als ein bloßer Beitrag. Ich führe hier nur einiges wenige an,
was zum Verständnis des Festes führen kann. Die Zeremonie
heißt „Tanz des Sonne -Sehens". Sie findet jährlich meist im
Juni oder Juli statt, nachdem die Sonnentanzpriester („Donners-
leute''j im Frühjahr den Monat bestimmt haben. Diese be-
stimmen auch die Tänzer, was für die Erwählten keine geringe
Ehre ist. Der Mittelpfahl der Sonnenhütte, der als Feind erspäht
und gefällt wird, scheint als ein Mann, ein Feind, zu gelten,
der nackt ist, damit die „Große Medizin" ihn sehen kann
Er wird auch als Brennholz aufgefaßt, da es Weidenholz ist,
das schwer zu töten und reinlich ist. In der Gabelung des
Pfahles ist das Nest des Donnervogels, ein Bündel von Weiden-
zweigen, der Regen, Donner und Blitz hervorbringt. Der AJtar
scheint Symbol eines Feuerherdes bzw. der Sonne zu sein.
Der Büffel darauf (Büffelschädel) kam aus dem Innern der
Erde und brachte die Tabakspfeife, der Salbei des Altars be-
deutet das Volk. Im Gegensatz zu den Arapaho und Cheyenne
waren hier vier Zelte für die vorbereitenden Zeremonien, und
den Tänzern wurde je ein rundes Stückchen Haut über dem
' Field Columbian Museum Publ Nr. 102. Anthrop. Ser. VIT
S. 59—88. 1905.
254 K Th. Preuß
Schulterblatt ausgeschnitten, das mit Tabak zusammen als
Opfer für die Sonne am Fuß des Mittelpfahls der Sonnenhütte
niedergelegt wurde.
Besonders interessant ist die Abhandlung von George
H. Pepper and Gilbert L. Wilson, An Hidatsa Shrine
and the Beliefs respecting it.^ Über diese Hidatsa oder Gros
Ventres, die von dem Algonkinstamm der Gros Ventres oder
Atsina unterschieden werden müssen, haben wir nur das Werk
von Washington Matthews 1877. Überhaupt sind ihre merk-
würdigen religiösen Gebräuche bisher wenig beachtet. Die
Forschungen gehen auf den Rev. Gilbert L. Wilson zurück,
der seit 1906 unter diesen Indianern weilt. Es handelt sich
hier um die Beschreibung eines heiligen Stammesschreins aus
Holz und eines daneben an einem Pfahle hängenden Medizin-
sackes, deren Inhalt beschrieben und — was die Hauptsache
ist — durch Mythen in seiner Bedeutung belegt wird. Die obere
Plattform des in einer Erdhütte stehenden Schreines enthielt
einen Parflechesack auf einer aromatischen Wasserpflanze (pennj-
royal) mit zwei Menschenschädeln und einer hölzernen Tabaks-
pfeife, die untere einen Büffelschädel mit Adlerfedern, eine
Schildkrötenschale und einen Fächer aus Adlerfedern. Außerdem
waren Opfergaben vorhanden. Die beiden Schädel gehörten
zwei Adlern an, die sich aus Liebe zu den Indianern von
zwei Mädchen aus zwei verschiedenen Stämmen, Hidatsa und
Shiwaliüwa, als Menschen zur Welt bringen ließen. Der Hidatsa
wurde ein großer Medizinmann, der mit Hilfe seiner Medizin-
pfeife die Feinde in die Flucht schlug, Büffel herbeilockte und
Regen für die vergehende Vegetation herabbrachte. Beide
aber gehörten feindlichen Stämmen an, was sie vor ihrer Ge-
burt nicht gedacht hatten, und beide faßten den Plan, den
andern im Kampfe umzubringen, den Schädel zu nehmen und
sich so wieder zu vereinigen, da angeblich jeder es bei dem
andern besser habe. Schließlich willigte der Shiwaliüwa ein, auf
' Memoirs of the Amer. Antfn: Assoc. 11 S. 275 — 328. 1908.
Religionen der Xaturrölker Amerikas 1906—1909 255
diese Weise mit seinem Freunde vereinigt zu werden. Das geschah,
und später bei seinem eigenen Tode gebot der Hidatsa seinem
Volke, auch seinen Schädel nachher abzuschneiden und beide
als Medizinen gegen die Feinde, gegen das Ausbleiben der
Büffel, gegen Verdorren der Vegetation und gegen Krankheit
zu benutzen mit Hilfe der Medizinpfeife, des Krautes penny-
rojal und heiliger Gesänge. Der Büffelschädel war ebenfalls
das Erbteil von selten des Adlermannes, den er zum Herbei-
führen der Büffel benutzt hatte. Die Schildkröte wurde von
ihm durch Besprengung mit Wasser als Hegenmedizin benutzt.
Auch der Fächer aus Adlerflügeln diente ihm zum Regenmachen,
indem er mit den Schädeln besprengt wurde.
Der Medizinsack enthielt gleichfalls eine Menge Objekte,
von denen ich nur ein Fell eines schwarzen Bären erwähne,
der der Gefährte eines Hidatsa war.
Der ausgedehnte Symbolismus in Nordamerika fuhrt bei
näherem Zusehen zu der Überzeugung, daß Tierteile oder
Darstellungen von himmlischen Erscheinungen ursprünglich
immer als magische Mittel verwendet worden sind. Genau
dasselbe ist nun auch mit Zeichnungen der Fall. Daß solche
Ideen von Tieren und Himmelsobjekten als Schutzgeister
massenhaft existieren, weiß nun heute ein jeder Ethnologe.
Aber umgekehrt ganze Gruppen von Zeichnungen und Dar-
stellungen als Zauberschutzmittel zu erklären — diese befreiende
Tat haben wir Clark Wissler zu verdanken, dessen Arbeit Some
Protective Designs of the Dakota^ schon im Titel seine
Meinung kundgibt. Wir kennen ihn ja auch bereits (s. den all-
gemeinen Bericht, Archiv XIII' S. 431) in seiner bahnbrechenden
Auffassung, daß der Indianer nicht Intelligenz und Fähigkeiten,
sondern im wesentlichen nur Entlehnung von Macht von Seiten
der machtbegabten Wesen in der Natur kennt. Wissler hat in der
Schrift eine große Anzahl von Darstellungen auf Schilden und
^ Anthr. Papers of the Amer. Mus. of Nat. Hist. I, S. 19—53.
New York 1907.
256 K. Th. Preuß
auf den Hemden des Geistertanzes nach den Angaben der
Teton- und Yankton-Dakota als magische Schutzmittel erklärt,
und zwar sind die Geistertanzhemden nach ihrem Zwecke mit
Recht den Schilden als gleichwertig an die Seite gestellt
worden. Denn die 1890 aufgekommene Bewegung des Geister-
tanzes sollte das alte indianische Leben wieder zurückführen,
und das konnte nur geschehen, wenn die weiße Rasse beseitigt
wurde. Gegen Kugeln aber nützte kein Schild, der in der
guten alten Zeit das zauberkräftige Ziel der Geschosse war
und die ganze Aufmerksamkeit des Feindes zwangsweise auf
sich lenken sollte, deshalb zog man Hemden mit Zeichnungen
an. Das geschah aus echt indianischem Geist.
Gewöhnlich sind es Tierzeichnungen. Pflanzen und leblose
Objekte sind fast ganz ausgeschlossen. Himmelserscheinungen
aber, die häufig in den Zeichnungen vorkommen, werden, wie
Wissler mit Recht bemerkt, ebenfalls oft durch die Tätigkeit
von Tieren bewirkt. Aus diesen Darstellungen kann man folgern,
welche Naturobjekte für den Indianer besondere Kräfte in sich
schließen. Es ist das, was sich bewegen, den Ort verändern kann.
Bei allen diesen Zeichnungen kommt es weniger auf direkte Ver-
nichtung des Feindes an als auf bloßen Schutz, damit der Träger
selbst in die Lage komme, den Feind zu treffen. Auf die Einzel-
heiten der Zeichnungen kann ich leider nicht eingehen. Lücken-
lose Erklärungen der indianischen Gedankengänge sind es natür-
lich nicht. Dazu gehört ein ungeheures vergleichendes Material
sowohl an Zeichnungen wie an Schutzgeistideen.
Zentrale Algonkin. Von den Fox-Indianern sei die
Beschreibung der bei einem Todesfall stattfindenden Adoptions-
riten erwähnt, die der leider jüngst ermordete William Jones
in seiner Abhandlung: Mortuary Observances and the
Adoption Rites of the Algonkin Foxes of Jowa^ gibt.
' Congres Internat, des Americanistes, XV' Session II, S. 268—277.
Quebec 1907.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 257
Bei diesen Indianern kann die Seele nur dann frei zum Reich der
Schatten wandern, wenn an die Stelle des NTerstorbenen ein
anderer adoptiert wird. Das muß innerhalb von vier Jahren nach
dem Tode geschehen, während welcher Zeit die Seele häufig
aus dem Seelenlande zum Grabe und zu den Lebenden zurück-
kehrt. Geschieht es nicht, so muß sie dauernd als Eule
umherwandem. Der Adoptierte muß von demselben Geschlecht
wie der Verstorbene und beide müssen Gefährten gewesen
sein. Der Adoptierte tritt in alle Rechte und Pflichten des
Verstorbenen ein, ohne seine bisherige Familie aufzugeben.
Es werden bei der Adoption die Lieblingsspiele des Ver-
storbenen gespielt, dann ißt man, und wenn der Adoptierte
abends vor den anderen Gästen nach Hause reitet, geleitet ihn
der Adoptierende eine Strecke nach Westen zum Zeichen, daß
nun die Seele nach dort geht. Gleichzeitig erstirbt die Musik
mehr und mehr, weil es heißt, auch sie folge der Seele zur
Geisterwelt. Ist der Verstorbene ein Krieger, der eines natür-
lichen Todes gestorben ist, dann erscheint der Adoptierte als
Krieger, und nur Krieger werden eingeladen. Diese führen
nacheinander mimische Szenen aus ihren Kriegstaten auf und
erzählen ihre Taten, einen Krähenbalg auf dem Rücken
tragend, wovon die Zeremonie der Krähentanz genannt ist
Ist der Tote im Kampfe gefallen, so muß der Adoptierte ihn
am Feinde rächen und erscheint deshalb bei der Adoption die
eine Hälfte des Gesichtes rot, die andere schwarz gefärbt.
Die rote Farbe bedeutet Krieg, die schwarze das Fasten, das
er durchmachen muß, bis sein Manitu ihm Fleisch vorsetzt, das
Fleisch des zu Erschlagenden, als Zeichen, daß nun die Zeit
der Rache gekommen ist, und ihm mitteilt, wo der Feind ist.
Irokesen. Eine besondere Überraschung bietet uns
Arthur C. Parker mit seiner Arbeit Secret Medicine
Societies of the Seneca.^ Es existieren nämlich heute
* Amer. Anthropologist XI, S. 161—185. 1909.
Archiv f. Religrionswisaenschaft XIV 17
258 K. Th. Preuß
noch wider Erwarten eine Menge Geheim gesellschaften der
heidnischen Seneca, die Parker seit 1902 emsig studiert hat unter
Aufschreiben ihrer zahlreichen Gesangestexte. Hier gibt er
nur eine vorläufige Nachricht, aus der aber doch das Wesen
der Gesellschaften hervorgeht, die gewöhnlich zur Heilung von
Krankheiten und zur Förderung des Wohlergehens im weitesten
Sinne dienen. Es sind meist Tiergesellschaften, in denen die
Mitglieder vielfach die Tiere nachahmen. Ein Mythus erzählt
gewöhnlich, wie der Stifter der betreffenden Gesellschaft Tiere
bei ihren Riten sah, von ihnen entdeckt und adoptiert wurde,
die Gesänge und Zeremonien lernte und schließlich mit An-
weisungen versehen zu seinem Volke zurückgesendet wurde,
um die Riten zu lehren. Alle Gesänge und Zeremonien sind
nach Meinung des Verf. alt, da sie von den Mitgliedern meist
gemeinsam gesungen wurden und jede Abweichung vom Alt-
hergebrachten auf Widerstand gestoßen sein würde. Parker er-
wähnt folgende Gesellschaften: 1. Die Littlewater society, die
schon früher bekannt war. Sie hatte keine öffentlichen Zere-
monien und Tänze und scheint nur soziale Gefühle der Freund-
schaft zu pflegen unter Gebeten und Riten, die angeblich
jedoch die Erhaltung der Macht ihrer Geheimmedizin little
water powder zum Zwecke haben. 2. Die Pygmäengesellschaft,
die ihre Zeremonien bei vollkommener Dunkelheit abhalten.
Die kleinen Geister, die überall dem Menschen am nächsten
stehen, und ebenso eine Anzahl Tiergeister, die als geistige
Mitglieder der Gesellschaft gelten, verlangen die Zeremonie.
Ebenso tun das die Zauberdinge, Teile von den betreffenden
Tieren, z. B. Pantherklauen usw., die guten bzw. bösen Einfluß
ausüben. 3. Die Gesellschaft der Ottern, bestehend aus Frauen.
Die Ottern und andere Wassertiere üben großen Einfluß auf
Gesundheit und Geschick aus. Mit Wasser besprengen ist der
hauptsächlichste Ritus. 4. Die Gesellschaft der mystischen
Tiere. Hierzu werden drei Masken verwendet. Die Maske des
Oberhauptes hat keine Augenlöcher, er kann aber gerade
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 259
durch sie alles Verborgene sehen. 5. Die Adlergesellschaft.
6. Die Bärengesellschaft. 7. Die Büffelgesellschaft. Nr. 5
und 7 ahmen Vogel bzw. Büffel nach, Nr. 6 ißt, wie es
scheint, die Speise (Honig usw.) der Bären. Von den übrigen
erwähne ich nur noch die Gesellschaft der Schwestern der
Dioheko, die den Geistern des Maises, der Bohnen und Kürbisse,
eben den Dioheko, ein Danksagungsfest feiern. Dadurch wird
eine gute Ernte erzielt.
Hoffentlich erhalten wir bald das gesammelte Material in
extenso vorgelegt.
Muskogee. Frank G. Speck, The Creek Indians of
Taskigi Town^ enthält größtenteils religiöses Material, das
sich inhaltlich in manchen Beziehungen an J. Mooneys Auf-
zeichnungen über die benachbarten, aber stammfremden
Cherokee anschließt. Wie diese sind sie ungemein interessant,
aber es ist eben nur ein Rest. Die Taskigi bildeten eine
Stadt der Creek, die 1836—40 nach dem Indianerterritorium
verpflanzt wurde, wo sie ihre politische und soziale Einteilung
bis heute beibehielten. Die folgenden religiösen Nachrichten
stammen aus den Jahren 1904 — 05, stützen sich aber meist
auf Erinnerungen alter Leute, da selbst das große Erntefest
in den letzten zehn Jahren aufgehört hat. Es mögen nur
noch 150 Taskigi, und zwar meist Mischlinge, existieren; die
Sprache jedoch wird in alter Reinheit beibehalten. Jede Stadt
hatte, wie die Dörfer der Coraindianer, einen nach den vier
Richtungen orientierten Platz. In der Mitte wurde das Feuer
angezündet, um das die meisten Tänze des zwei Tage dauernden
Erntefestes stattfanden. In engerem Sinne diente das Fest
dazu, den Mais, von dem bis zum Schlüsse des Festes nichts
gegessen werden durfte, in voller Reinheit in sich auf-
zunehmen oder, wie es heißt, die Maisgottheit zu gewinnen.
' Memoirs of the Amer. ÄnOirop. Assoc. Vol. II, Part 2, S. 99—164.
Lancaster Pa. 1907.
17*
260 K. Th. Preuß
Dazu wurden auch die wenigen anderen Speisen, die genossen
wurden, ohne Salz gegessen, und am zweiten Tage tranken
die Männer ein heftig wirkendes Brechmittel. Außerdem aber
sollte das Fest alle religiösen Potenzen gewinnen, günstig ge-
sinnten Tieren, wie den Clantieren, danken, und übelwollende,
wie das todbringende Käuzchen, versöhnen, und für das
kommende Jahr allen Segen sichern. Um das zu erreichen,
fanden eine Menge von Tänzen, namentlich Tiertänze mit
Nachahmung der Bewegungen der betreffenden Tiere statt, die
sonst zwar auch vereinzelt aufgeführt werden konnten, dann
aber keine allgemeine Teilnahme erforderten. Die Jagdtiere
sollten dadurch veranlaßt werden, sich nicht ihrer Tötung ab-
geneigt zu zeigen, und die Seelen der erlegten Tiere schneller
zur Wiedergeburt auf die Erde zurückkehren. Lasciv waren
der von beiden Geschlechtern getanzte Verrückten- und der
Trunkenheitstanz, die auf die Fortpflanzung Bezug haben
sollten. Bekanntlich war auch das mexikanische Erntefest die
Zeit für solche Szenen, die aber die Fortpflanzung der Vege-
tation zum Zweck hatten. Bei den Creek waren außerdem auch
geschlechtliche Zügellosigkeiten erlaubt. Zur Probe gibt Speck
die beiden dazu gesungenen Gesänge, die abwechselnd vom Vor-
sänger und von den Tänzern gesungen wurden. Der Inhalt sind
abgerissene Sätze, aus denen jedoch der sinnliche Gedanke zu
erkennen ist. Der Federtanz mit Federn des Reihers, die nur
der Schamane ungestraft zu den gebrauchten Stäben zusammen-
setzen darf, ist ein Tanz zu Ehren der weißen Feder, die der
Schutz gegen alles Übel ist. Weiß ist das Symbol des Friedens.
Die Krankheiten werden besonders von den verschiedensten
Tieren gebracht, jedes Tier hat seine bestimmte Krankheit.
Fieber wird von den Geistern der Toten verursacht, die das
Seelenland nicht erreichen können. Jedes Tier hat aber zu-
gleich sein Heilmittel in der Pflanzenwelt, das irgendwie eine
Gedankenassoziation mit dem Tier aufweist. Bei der Heilung
werden bestimmte Zaubersprüche gesungen, die wiederum sehr
Religionen der Natnrvölker Amerikas 1906—1909 261
dunkel sind. Die Medizin wird durch Hineinblasen vermittelst
eines Tubus, während der Schamane gleichzeitig die Zauber-
formel singt, allmählich stärker als die Krankheit. Der Bj-iegs-
schamane hatte den Feind durch Riten und Gesänge zu
schwächen und seine Augen mit Blindheit zu schlagen. Die
Clanuamen setzte die oberste Gottheit, der „Herr des At^ms",
dem heute alles zugeschrieben wird, dadurch fest, daß er die
„Wesen" in alter Zeit vorbeipassieren ließ und jeden nach seiner
diesem oder jenem Tiere ähnelnden Eigenart (z. B. Klettern auf
Bäume, Umherlaufen usw.) als Panther, Alligator, Waschbär, oder
auch als Wind usw. bezeichnete und gebot, daß sie nicht in-
einander heiraten sollten. Sonst würden sie sich nicht vermehren.
Gleichzeitig hat Frank G. Speck auch Studien über die
verwandten Chickasaw-Indianer gemacht: Notes on Chickasaw
Ethnology and Folk-Lore* Davon sind einige Einzelheiten
bemerkenswert. Einige ihrer Clan-Namen rühren von Ortlich-
keiten her, andere aber von Tieren, von denen sie nicht ihren
Ursprung herleiten, wie Speck meint, sondern die sie, nach der
angeführten Stelle bei Catlin zu urteilen, in ihren Stamm adop-
tierten. Wichtig ist, daß das Clan-Totemtier und seine ir-
dischen Vertreter zugleich Schutzgeister der Männer sind. Die
Clans sind in zwei Gruppen geordnet. Krankheiten kommen
von Tieren, die von der entgegengesetzten Gruppe gegen sie
beschworen sind. Der Kranke wird zunächst drei Tage lang
dem Schamanen zur Kur überlassen, der die Medizin durch
ein Rohr auf den Kopf des Patienten bläst, worauf allgemeine
Tänze um das Feuer stattfinden. Der erste Tanz wird nach
dem Tier genannt, das für die Krankheit verantwortlich ge-
macht wird. Andere richten sich an die verschiedenen Schutz-
tiere um Linderung. Das erste Einsammeln des Maises wird
aUgemein an einem bestimmten Tage durch Fasten usw. ge-
feiert. Eine private Zeremonie ist die Übertragung der schama-
^ Journ. of Atner. Folklore XX, S. 50—58. 190^
262 K. Tb. Preuß
nistischen Lehren auf den Lernenden. Dagegen kann die
wirkliche schamanistische Macht nur durch dreitägiges Fasten
im Walde von Geistern erlangt werden, die als Vorfahren im
weitesten Sinne gelten und dort im Walde leben.
Pueblo-Indianer. Eins der hervorragendsten Werke
der amerikanischen Ethnologie, das Ergebnis einer Reihe ihrer
Forschungsreisen dahin seit dem Jahre 1879, ist unter dem
Titel The Zuiii Indians, their mythology, esoteric
fraternities and ceremonies von Matilda Coxe Stevenson^
erschienen. Es schildert mit einem Male als Frucht eines
ganzen Menschenlebens, was wir bei den benachbarten Hopi
in einer großen Anzahl von Einzelpublikationen haben, und
ist insofern bei weitem übersichtlicher als diese, obwohl auch
hier die Verfasserin in dem Bestreben, alles Gesehene und Ge-
hörte mit photographischer Treue und als Erklärung nur die
wirklich geäußerten Anschauungen der Eingeborenen zu geben,
dem Leser nicht im geringsten mit dem eigenen Nachdenken
so vieler Jahre, z. B. in der Scheidung des Wichtigen vom
Unwichtigen, zu Hilfe kommt. Alle mythologisch erklärenden
Feststellungen sind dafür nach mehrfachen Bestätigungen von
Seiten der Eingeweihten zustande gekommen. Hier aber hätte
man gern noch ein Mehr gehabt und lieber eine Kontrolle in
dem genauen Wortlaut diktierter einheimischer Texte gewünscht
— je mehr Varianten, desto besser — und wenn auch das
Buch dadurch auf den doppelten Umfang angeschwollen wäre.
Ein Verständnis des Ganzen, soweit das überhaupt möglich
ist, wird nach der durchaus richtigen Ansicht der Verfasserin
erst nach Aufnahme der benachbarten bzw. verwandten Stämme
zu erwarten sein. Allein die Fülle des Vorhandenen würde
doch schon jetzt manches Ergebnis zeitigen.
Der Eindruck, den das in dem Buche geschilderte starke
religiöse Leben — die materielle Seite nimmt einen ganz ver-
S3d ann. Rep. Bureau ofFAhnology, Washington 1904, S. 1—634.
Keligionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 263
schwindenden Raum ein — auf den Leser macht, ist geradezu
überwältigend. Man hat hier wieder den Beleg dafür, wie
leicht Nahrungserwerb, Krankheit und das Streben nach Nach-
kommenschaft übernatürliche Mittel erzeugt. Hier können
nur einige wenige Einzelheiten folgen. Das relative Verständnis
hängt vorläufig zum größten Teile von den Ideen der Zuni
über ihren und der Götter mythologischen Ursprung ab.' So-
wohl die Feste, in denen eine bunte Mannigfaltigkeit von Gott-
heiten auftritt, wie die zahlreichen Geheimgesellschaften, die
an den Festen fungieren und ihrerseits wieder ihre verwickelten
Einführungszeremonien für neue Mitglieder und Zauber-
versammlungen haben, gehen auf die Zeiten unmittelbar nach
dem Herauskommen der Zuni aus der Unterwelt zurück. Einen
hervorragenden Anteil an den Festen haben die Ahnengötter,
die unten im Wasser eines Sees in dem „Tanzdorfe" (Kothlu-
waläwa) wohnen und aus den in der Urzeit darin versunkenen
und dort herangewachsenen I\ indem bestehen. Ihrer Orga-
nisation entspricht die Gliederung der Zuni-Priester. Um nach
dem Tode auch dorthin zu gelangen, werden alle kleinen
Knaben in den Orden der Kötikili aufgenommen (alle vier
Jahre im April), indem die Götter aus der Unterwelt zusammen
mit der „Federschlange*' (Köloowisi) erscheinen und ihren
Hauch, den sie auf ihre Federstäbe abgeben, auf die
Lippen der Kinder übertragen. Acht Tage vorher kommt
der Götterbote Tkäklo auf den Schultern der Köyemshi,
einer auf unnatürliche Weise zur Welt gekommenen Gruppe
der Ahnengötter, die an den Festen stets hervorragend durch
Tänze und burleske Szenen beteiligt sind, ins Dorf, um die
Ankunft der Götter zu verkünden und die mythische Geschichte
der Zuni - die hier im Urtext gegeben wird — mitzuteilen.
Und wie die Götter ins Dorf kommen, so besucht angeblich
auch der Oberpriester das „Tanzdorf" der Ahnengötter. Die
* Sehr willkommen zur Vergleichong sind hier F. H. Cushings
Outlines of Zuni creation myths, IStJ^ Bep. Bureau of Eihnöl. 1896.
264 K. Th. Preuß
Ahnengötter sorgen für den Regen — um den sich alle
Wünsche in diesen trockenen Regionen drehen — und ihnen
entsprechen auf Erden hauptsächlich die Regenpriester (äshi-
wanni). In diesen Funktionen der Ahnengötter stehen die
Zuni nicht vereinzelt da. Sowohl die Katshina -Tanzgötter der
Hopi werden mit den Toten identifiziert, wie auch die „Alten"
(Verstorbenen) der Cora Regengötter sind. Die Regengötter
der alten Mexikaner stellte man sich als kleine Kinder vor,
und bei den Cora wurden die kleinen Kinder in Watte, d. h.
in Wolken gehüllt, begraben. So haben wir die Verbindung
mit den Kinder -Ahnengöttern der Zuni. Auch die Feder-
schlange, die am Morgen der Zeremonie aus einem mit Wolken
gekrönten Brett schaut und Wasser spendet, gibt bei den Hopi
Wasser und verursacht dort eine Flut. Bei den Cora entspricht
ihr die im Westen bei der Erd- und Mondgöttin wohnende
mächtige Schlange, die ebenso wie bei den Mexicano vom
Morgenstern des Morgens erlegt werden muß, damit keine
Flut entsteht, und dann bei den Cora vom Adler, der Sonne
verspeist wird. Und endlich wohnt in den altmexikanischen
Bilderschriften der Mond in dem Rachen dieser nächtlichen
Federschlange und wird mitsamt der Schlange des Morgens
vom Adler, der Sonne, gepackt. Und auch dort ist sie, wie
bei den Maya, als Wasser bezeugt. Sie ist, wie sich bei den
Cora sicher nachweisen läßt, die als Wasser aufgefaßte, per-
sonifizierte Nacht.
Da wie gesagt die Feste und Geheimgesellschaften einmal
durch ihre Zeremonien, anderseits durch den Mythus ihres
Ursprungs und nicht ihrer natürlichen Entstehung nach ge-
kennzeichnet werden, so ist es unmöglich, hier mehr als einige
Momente aus dem reichen Material anzuführen. Genau dem
Sonnenstand entsprechend wird die Winter- und Sommer-
sonnenwende eine ganze Anzahl von Tagen gefeiert. Erstere
ist die Zeit des massenhaften Darbringen s von Gebetsfedern
(telikinawe) besonders für die Sonne. Dazu werden die
I
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 265
Zwillingskriegsgötter, die aus der Umarmung der Sonne und
des Wasserfalls entstanden, gefeiert, um als Vermittler bei den
„Regenmachern" während des Jahres zu dienen. Heiliges Feuer
wird neu gebohrt. Die Häuser werden gereinigt, und Kehricht
und Asche auf den Feldern vergraben mit den Worten, es
möge als Maiskorn und Mehl wiederkehren. Gleich nach den
Zeremonien der Wintersonnenwende beginnen die Tänze der
zeugungskräftigen Körkokshi- Ahnengötter, die aus dem ,,Tanz-
dorfe" (Kothluwaläwa) heraufkommen und bis zur zweiten
Hälfte des März tanzen, damit Mais und Wohlhabenheit in
jeder Beziehung einkehre. Bei dem Fest der Sommersonnen-
wende ist außer dem erneuerten Darbringen von Gebetsfedern
die Regenzeremonie der 10 Köyemshi bemerkenswert, die hier
Dümichimchi genannt werden. Nackt bis auf die Schambinde
gehen sie hintereinander her, beide Hände auf die Binde des
Vordermannes gelegt, und werden von den auf den Dächern
stehenden Weibern mit Wasser, in das heiliges Mehl gesprengt
ist, Übergossen. Eine von mir veröfiFentlichte antike Schale*
zeigt den Vorgang, doch tragen die Dümichimchi dort Phallen,
während die Verfasserin hier ausdrücklich angibt, daß die Köyemshi
nicht den „Samen der Zeugung" besitzen (S. 32.) Ich er-
wähne nun nur noch die großen Regenaufführungen im Herbst,
das größte Fest der Zuni überhaupt, an dem große Ausgelassen-
heit und sinnlose Betrunkenheit herrscht. Da rennen die Shaläko.
die sechs Riesenboten der „Regenmacher" von einer Weltgegend
zur andern, denn die „Regenmacher*' müssen sich durch sie mit-
einander verständigen, damit es regnen kann. Dazu kommt
dann noch eine Unmenge geringerer Festlichkeiten, die z. T.
mythische Vorgänge darstellen, z. B. der alle 4 Jahre statt-
findende Tanz der Klänakwe, eines von den Vorfahren besiegten
mythischen Volkes, durch den ihre Geister versöhnt werden
* S. Phallische Fruchtbarkeitsdämonen, Archiv für Anthropologie
N.F. I, S. 131/2.
266 K. Th. Preuß
sollen, ferner das Regen- und Wachstumsfest der Hlähewe,
ebenfalls alle vier Jahre gefeiert, das das dritte Erscheinen
der mythischen Kornmädchen vor den Vorfahren der Zuni vor
Augen führen soll, u. dgl. m. Endlich haben auch die vielen
geheimen Gesellschaften, die in den Umrissen schon früher be-
kannt waren, ihre Einführungs- und sonstigen Riten, abgesehen
davon, daß sie an den allgemeinen Festen ihre Rollen spielen, die
Götter darstellen und zur Mannigfaltigkeit des Bildes beitragen.
Pima. Die Pima sind sieben Monate lang (1901 — 1902)
von Frank Russell gründlich und allseitig untersucht worden,
so daß wir in seinem Werke The Pima Indians^ auch alles
die Religion betreffende Material vorfinden. Es ist sehr reich-
haltig und interessant, obwohl der Verfasser meist aus den
Berichten und Diktaten (?) von Mythen, offiziellen Reden und
Gesängen alter Leute des Stammes schöpft, da sich das Leben
des Stammes doch schon einigermaßen verändert hat, zumal
auch der beständige Krieg der seßhaften ackerbautreibenden
Pima mit den schweifenden Apachen aufgehört hat, der dem
ganzen Leben sein Gepräge aufdrückte.
In den abergläubischen Ideen, die mit diesen Kämpfen
verbunden sind, ist ein ungewöhnlich bezeichnendes Material
dafür vorhanden, daß trotz aller kriegerischen Fertigkeit, Ge-
wandtheit und Abhärtung doch das Hauptmoment für den Er-
folg und Mißerfolg in der Magie lag. Der Verfasser, der von
vornherein gar nicht geneigt ist, Zauberei und Religion auf
Kosten der profanen Momente in den Vordergrund zu schieben,
sagt selbst: „Nicht die Stärke oder Klugheit der Apachen
fürchteten sie, noch den scharfen Pfeil, sondern ihre Magie",
und diese muß durch Zeremonien überwunden werden. Die
deshalb vor dem Auszug vorgenommenen ausgedehnten Zere-
monien erwähnt Russell nur summarisch. Dafür hat er uns eine
' Report of the Bureau of Amer. Ethnol. 1904/05. Washington
1908. S. 1 — 389.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 267
Anzahl wichtiger Kriegsreden in Text und Übersetzung mitgeteilt,
die teils vor dem Auszug, teils in jeder Nacht des Kriegszuges
von einem Berufsredner gehalten wurden. Darin wird in Gestalt
von Träumen und Visionen und von feststehenden Tatsachen aus-
führlich mitgeteilt, daß er den für den Erfolg notwendigen Zauber
von einer Menge von Dämonen und Tieren aller Art erlangt
habe, während die Waffen und Kräfte des Feindes harmlos und
weich gemacht werden würden. Die Grundlage für diese R^den
bilden die Reden der Götter in der mythischen Zeit. Auch
die Erzählung siegreicher Taten hatte darin offenbar einen
Zauberzweck.^ Darauf wurde der (nicht mitgeteilte) Kriegs-
gesang gesungen, während ein Schamane eine Feder der Eule,
des helfenden Tieres, über ihnen schwang, und dann verkündete
er die Anzahl der Feinde, die erschlagen werden würden. Ein
allgemeiner Kriegstanz feierte den Sieg. Im Kampfe rotierte
er schnell seinen mit Sonnensymbolen geschmückten Schild,
um dadurch ihre Zauberkraft zur Wirkung zu bringen, und
sprang in steter Bewegung seitlich hin und her. Wie Raub-
tiere und Raubvögel sollten sie nach dem Ausdruck der
Zeremonialreden vorgehen — offenbar wiederum eine zauberische
Methode, ebenso wie der ganze phantastische Kriegsschmuck.
Unmittelbar nach dem Kampfe aber mußte sich der siegreiche
Krieger, der einen Feind erschlagen hatte, 16 Tage lang in der
Zurückgezogenheit unter Fasten reinigen. Nur einmal kam er
in der Zwischenzeit heim, um einen Fetisch aus dem Haar des
Erschlagenen zu machen, das er in Adlerdaunen hüllte. Würde
er sich der Reinigung entziehen, so würden seine Glieder steif
werden.
Außer einigen nach einem Kriegszug gesungenen und den
später zu erwähnenden Festliedern hat Russell eine Menge von
Heilgesängen in Text und Übersetzung gegeben, die die Haupt-
sache bei der Heilung von Krankheiten bilden. Ein Gesang sucht
* Vgl. Preuss Ursprung der Religion und Kunst, Globus Bd. 87 S. 396.
268 K. Th. Preuß
die Diagnose, die darin bestellt, daß ein bestimmtes Tier, sel-
tener ein Medizinmann oder ein Objekt dia Krankheit verursacht
habe, und zwar hat jede Krankheit ein bestimmtes Tier usw.
Dieses wird in einer Nachbildung oder in Gestalt eines Teiles
über die betreffende Stelle gehalten, und schließlich saugt der
Schamane das Übel aus dem Körper. Eine andere weniger
geachtete Klasse von Medizinmännern heilt jedoch durch An-
wendung natürlicher Heilmittel.
Was bei andern Stämmen an den Festen vor sich ging,
nämlich die Herbeizauberung des Regens und des Wachstums
der Saaten, wird hier durch gesonderte Tricks einer dritten
Klasse von Schamanen (makai) ersetzt, die auf das überraschende
Erscheinen einiger Weizenkörner oder von Wasser hinauslaufen.
So schüttelte man Weizenkörner aus dem Haar und zauberte
plötzlich eine Reihe von Weizenhalmen in verschiedener
Größe des Wachstums hervor. Ein Regen- und ein Maisgesang
werden mitgeteilt. Unter den Festen kommt besonders das
Erntefest der Früchte des Riesenkaktus im Juni in Betracht,
wo auch andere Früchte reif sind. Bei den Cora fand ich auch
eine besondere Feier dieser Ereignisse zusammen mit den
Zeremonien für die dann beginnende Regenzeit und die Aus-
saat des Maises. Eine Anzahl Zeremonien und tiefsinniger
Gesänge geben dort von der religiösen Auffassung des Festes
deutlich Kunde. Bei den Pima jedoch erscheint die Feier nur
noch als eine heitere Festzeit voll sinnloser Trunkenheit, deren
Bedeutung als „heilige Zeremonie" der Verfasser nur noch zu
ahnen vermag. Gesänge dazu scheint es nicht zu geben. Das
Getränk, das die Cora übrigens nicht kannten, wird aus den
Früchten des Riesenkaktus durch Kochen und einen Gährungs-
prozeß hergestellt. Bemerkenswert ist ferner das Namenfest,
das eine Art Zwangsanleihe von Seiten eines Dorfes mit kärg-
licher Ernte an ein reicheres darstellt. Vermittelst eines Ge-
sanges, von dem der Verfasser leider nur 12 von den 70
Strophen mitteilt, werden gewissermaßen die Namen der Dorf-
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 269
be wohner einzeln gefangen und müssen durch Gaben eingelöst
werden. Tänze, in denen die Teilnehmer im Kreise, die Arme
um die Schultern der Nebenleute *(wie bei den Huichol) gelegt,
stehen, finden zu jeder Zeit statt, sind aber, wie aus den be-
gleitenden Gesängen zweifellos hervorgeht, durchaus religiös.
Ebenso sind die Wettrennen zauberischer Natur, da in ihnen
jeder Teilnehmer einen Ball mit dem Fuße vor sich herstößt,
von dem geglaubt wird, daß er den Läufer nach sich zieht.
Auch diese, ebenso wie manche Spiele, werden durch religiöse
Gesänge eingeleitet.
Was nun die Gottheiten bzw. Dämonen anbetrifft, so hat
Russell dafür in den Reden, Gesängen und Mythen (letztere leider
ohne einheimischen Text), in den mitgeteilten Auffassungen,
Zeremonien und Gebräuchen ein ausgezeichnetes Material ge-
sammelt. Jedoch fehlt die psychologische Erklärung, die
Charakterisierung jeder einzelnen Gestalt fast ganz. Auch beim
Lesen der Texte fehlt ein Kommentar, so daß man trotz der
Kraft und Schönheit zumal der meist naturmythischen Gesänge
vor lauter unbeantworteten Fragen nicht recht zum Genuß
kommt. Ja, manchmal weiß man nicht einmal genau, bei
welcher Gelegenheit der Gesang gesungen wird (S. 283 Middle
run song). Der Index bietet teilweisen Ersatz durch den Hin-
weis darauf, wo die zauberkräftigen Tiere und sonstigen Poten-
zen vorkommen. Die Hauptgottheit ist die Sonne, die überall
angerufen wird. Sein Weib ist der viel weniger bedeutende
Mond, beider Sohn der besonders in den Mythen vorkommende
Coyote. „Erdzauberer" und „älterer Bruder" leben im Osten
und regieren die Welt. Im Nordosten wohnt der „sinkende
Zauberer" im Südosten der „Südzauberer". Auf dem Pfad der
Sonne wohnen „Blitz-", „Donner-", „Wind-" und „Schaum-
zauberer" Der Morgenstern scheint merkwürdigerweise keine
Rolle zu spielen wie bei den mexikanischen Stämmen. Die
ausführliche Schöpfungs- und Flutsage ist sehr kraus und nicht
ohne weiteres verständlich.
270 K. Th. Preuß
Eine wichtige Ergänzung zu dem Werke von Russell bringt
Herbert Brown, A Pima-Maricopa Ceremony.^ Brown
beschreibt darin das Ernte- oder Maisfest, das aber nicht mehr
bloß bei dieser Gelegenheit, sondern bei allen wichtigen
Stammesangelegenheiten z. B. erfolgreichen Zügen gegen die
Apachen gefeiert wurde. Zwei Männer mit vorgebundenen,
horizontal stehenden Holzphallen treten auf und stellen, ein-
ander gegenüberstehend je einen Steinphallus von ca. 30 cm
Höhe auf den Boden. Sie kommen mit neun andern
Männern mit entsprechend vorgebundenen Holzphallen wieder,
die in zwei Gruppen bei den beiden Steinphallen niederkauem,
dann zu zweien, je einer von jeder Gruppe, aufspringen und
die Kohabitation miteinander durchmachen. Nach etwa einer
halben Stunde verschwinden sie, kommen ohne Phallen wieder,
bewerfen einander mit Erde, tanzen um und durch das Feuer,
um schließlich mit dem Steinphallus, froschartig hopsend, zu
verschwinden.
Wahrscheinlich ist das eine homosexuelle Übung und es
scheint fast, der Verfasser könnte noch deutlicher sein, wenn
er wollte, was höchst wünschenswert wäre, da Ahnliches sonst
nirgends festgestellt ist. Hier muß man wirklich sagen: Fort
mit der Prüderie, die das Verständnis einfach ausschließt.
Mexiko und Mittel am er ika
Die mexikanische Ethnologie und Archäologie ist wohl die
einzige innerhalb Amerikas, wo die Erweiterung und Sichtung
des religiösen Materials Hand in Hand mit systematisch
psychologischer Erforschung geht. Wenn auch das geAvonneue
Verständnis immer wieder besserer Einsicht weichen muß, so
sind es doch keineswegs kaleidoskopartige Bilder, was die auf-
einanderfolgenden Jahre bieten, sondern eine stufenweise Ent-
wicklung mitten durch erkannte und überwundene Irrtümer
» The Ämer. Anthrop. VIII 1906 S. 688—690.
I
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 271
hindurch, und die psychologischen Erkenntnisse wirken wieder
fruchtbringend auf die exakte Untersuchung des Materials zu-
rück. Das Schwierige in der altmexikanischen Religionswissen-
schaft ist die mannigfaltige Verwendung volkstümlicher Vor-
stellungen für augurische Zwecke und geheimnisvolle Systeme,
wie sie z. T. in den Bilderschriften vorliegen, die zudem meist
keine alten Kommentare aus der ersten Zeit der Conquista
haben. Daß man hier nicht mehr ohne Anfang und Ende um-
herirrt, ist sowohl dem fortschreitenden Eindringen in die
Quellen selbst zu verdanken, wie auch die bei den Cora, Huichol
und Mexicano aufgenommenen Texte und angestellten Beobach-
tungen bestimmte Richtlinien für die mexikanische Altertums-
wissenschaft angeben, die heute freilich erst andeutungsweise
vorliegen.
Das bedeutsamste Werk dieses vierjährigen Zeitraums, das
nur durch die skizzierte Vereinigung von eindringender Analyse
und von Hypothesen auf Grund psychologischen Verständnisses
zustande kommen konnte, ist der zweite Band von Eduard
Seiers „Erläuterung zum Codex Borgia"^, der Blatt 29 — 76
umfaßt und deren erstem Band schon im vorigen Bericht
(IX S. 133) einige Worte gewidmet sind. Ein ungemein aus-
führlicher Index schließt als Band III von 152 Quartseiten
Umfang das große Werk, in dem eigentlich eine ganze Enzy-
klopädie steckt, weil der Verfasser auch alle früher behandelten
Stellen ausführlich von neuem bearbeitet und zur Erklärung
außer den Parallelstellen der andern Bilderschriften das ge-
samte einschlägige Material heranzieht. Einem solchen Werk
kann man nur gerecht werden, wenn man es als Ausgangs*
punkt für alle entsprechenden Arbeiten benutzt. Man wird da-
durch vor manchem Fehler bewahrt und in richtige Bahnen
gelenkt werden, selbst wenn man anderer Ansicht ist, denn die
Erwägungen finden in dem Buch stets auf Grund des Tatsäch-
Berlin 1906 310 S. 4«.
272 K. Th. Preuß
liehen statt. Viele Partien werden freilich vorläufig nur sehr wenig
zum Verständnis der darin vorkommenden Gottheiten und der
religiösen Ideen überhaupt dienen, eben weil sie komplizierte
Werke der Priestergelehrsamkeit sind und alles, was darüber
gesagt werden kann, daher auf Hypothese beruht. Ich rechne
dazu z. B. die umfangreiche ungemein verworrene Serie Blatt
29 — 46, an die sich der Verfasser ebenfalls mit frischem Mute
herangewagt hat, und die er unter dem Titel „Die Höllenfahrt
der Venus" erklärt (S. 1 — 75) und vieles andere. Aber auch
diese Teile durchweht eine gegen früher und noch gegenüber
Band I des Werkes sehr gefestigte Gesamtauffassung, die sich
darauf gründet, vieles aus einer Wurzel zu erklären, während
früher viel mehr heterogene Gedankengänge die Ausgänge des
Labyrinths weisen sollten. Kurz gesagt, ist es die Herrschaft
des Mondes, auf die sich viele Gottheiten, bildliche Dar-
stellungen, Nachrichten und Zeremonien beziehen sollen, während
früher nicht der Ursprung der Gottheiten, sondern größten-
teils nur die Zusammenstellung ihrer widerspruchsvollen,
irdischen Tätigkeit die höchst unbefriedigende und im Grunde
unverstandene Charakterisierung abgab. Schade nur, daß nicht
schon Band I unter diesem Gesichtspunkte geschrieben ist und
noch viele Folgerungen dieser Mond-Lehre zu ziehen bleiben.
Statt nun das Werk selbst durchzugehen — soviel es mir
auch bereits genützt hat — , muß ich mich begnügen, im Fol-
genden nur einige Einzelheiten daraus anzuführen, indem ich
zugleich auf zwei kleinere Arbeiten von Sei er eingehe, die
den Kern des gebotenen Neuen enthalten, nämlich „Einiges
über die natürlichen Grundlagen mexikanischer Mythen"^
und „Die Sage von Quetzalcouatl und den Tolteken in
den in neuerer Zeit bekannt gewordenen Quellen".* In
1 Zeitschr. für Ethnologie. XXXVII. 1907. S. 1 — 41. Neu ab-
f^edruckt in Seier, Gesammelte Abhandlungen III. S. 806—351.
* Verhandl. des XVI. Internat. Amerikanisten - Kongresses. 1908.
Wien 1909. S. 129—150.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 273
der ersten Arbeit wendet er sich besonders gegen meine Aus-
führungen in einer schon früher in diesem Archiv IX (S. 106)
erwähnten Arbeit, „der Einfluß der Natur auf die Religion in
Mexiko und den Vereinigten Staaten"^ indem er für dieselben
Probleme seine Mondtheorien als Erklärung bietet. Obwohl in
der Tat im einzelnen Abweichungen zwischen uns beiden Tor-
handen sind, so erscheint mir doch unsere gemeinsame Rich-
tung, den Xachthimmel als Ausgangspunkt für die Gottheiten
anzusehen, also die Religion als eine astrale aufzufassen, zu
überwiegen. Diesem Standpunkt habe ich besonders in meiner
Arbeit: „Der dämonische Ursprung des griechischen Dramas
erläutert durch mexikanische Parallelen"'* und in „Natur-
beobachtungen in den Religionen des mexikanischen Kultur-
kreises"^ Ausdruck gegeben, wovon das letztere bereits einige
Punkte des ersten die Texte der Cora behandelnden Bandes
meines im Druck befindlichen Reisewerkes in einer kurzen
Skizze bringt. Auf die während und nach meiner Reise darüber
erschienenen religiösen Aufsätze ganz verschiedenartigen Inhalts
brauche ich dagegen um so weniger einzugehen, als auch dieses
Archiv (IX, S. 464, XI, S. 369 f.) zwei Berichte darüber enthält.
Als gelungen muß man Seiers Beweis für die Mondnatur
vieler, wenn nicht aller altmexikanischer sogenannter Erd-
göttinnen anerkennen, der Teteoinnan oder Tla9olteotl, der
Xochiquetzal, der Itzpapalotl, der Quaxolotl - Chantico usf.
Ich selbst hatte bereits vorher Teteoinnan als einen Stern am
Nachthiramel erwiesen und bei den Cora und Huichol wurden
mir die entsprechenden Göttinnen z. T. direkt als Mondgöttinnen
bezeichnet, was auch durch die Texte zweifellos bestätigt wird.
Sei er zieht aber nicht in Betracht, was die Coratexte lehren,
daß das Wort Mondgöttin nicht das ganze Wesen der Gt)ttheit
' Zeitschr. d. Ges. f. Erdkutide. Berlin 1905. S. 361 f., 431 f.
* Xeue Jahrbücher für das Klass. Altertum. 1906. II. Abtlg.
Bd. XVIII. S. 161—193.
» Zeitschr. f. Ethnologie. 1910. S. 793—804.
Archiv f. Beligionswisseuschaft XIV lg
274 K. Th. Preuß
umfaßt, sondern eine Beziehung auf den ganzen nächtlichen
Himmel in sich birgt. Auf diese Weise gilt die Göttin als
Vertreterin der Sterne, weil sie der bedeutendste unter ihnen
ist und den Sternen dieselben Eigenschaften wie der Mond-
gottheit zugewiesen werden. Die 400 Pulquegötter werden
daher im Mexikanischen 400 Kaninchen (totochtin) ge-
nannt, weil ihnen als Sternen das Kaninchen zugeschrieben
wird, das man zugleich auch in den Flecken im Monde sah,
und ebenso stattete man sie mit dem Halbmond der Göttin als
Nasenschmuck aus. Nennt man sie nun mit Seier Mond-
wesen, statt sie nach Analogie der 400 (d. h. unzähligen)
Mimixcoua, der Sterne des Nordhimmels, und der 400
Uitznaua, der Sterne des Südhimmels, Sterne zu nennen, so ist
das sicherlich nicht falsch, erschöpft aber ihr Wesen nicht.
Ein anderer Punkt, in dem ich von Seier abweiche, ist eben-
sowenig nnausgleichbar. Es ist die wichtige Frage nach Tollan
und der Erklärung eines Mythus bei Tezozomoc, in dem der
Sonnengott Uitzilopochtli die Mexikaner auf ihrer mythischen
Wanderung nach dem Couatepec bei Tollan führt, dort eine
Stadt bauen und einen Ballspielplatz anlegen läßt, aus dessen
mit Wasser erfülltem Loche sich ringsum eine Wasserland-
schaft ausbreitet. Uitzilopochtli ergreift dann plötzlich seine
Schwester Coyolxauh, den Mond, schneidet ihr den Kopf ab und
reißt ihr das Herz heraus, und ebenso finden sich morgens die
Mexikaner, die auf einmal mit den 400 Uitznaua identifiziert
werden, ohne Herzen. Er durchbohrt das Wasser, und dieses
samt der ganzen Stadt verschwindet in Nichts. Seier hebt nun
mit Recht hervor, daß hier wie in dem bekannten Sonnenauf-
gangsmythus, — wo Uitzilopochtli in Wehr und Waffen von
seiner Mutter Couatlicue auf demselben Couatepec geboren Avird
und sofort die Coyolxauhqui, den Mond, enthauptet und zerstückt,
die 400 Uitznaua aber verjagt — die Vernichtung des Mondes den
längeren Zeitraum seines Abnehmens und Verschwindens be-
deutet. Anderseits freilich ist es völlig vergebliche Mühe, die
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 275
Grundlage des Sonnenaufganges hinwegdisputieren zu wollen, wie
es Sei er versucht. Darauf beruht auch Seiers Erklärung der
im Wasser gelegenen Ansiedelung des Mythus. Indem er die
Ansiedelung mit dem Vollmonde identifiziert, ist ihm das Wasser
im Loche des Ballspielplatzes dasselbe Wasser, das immer in
der Hieroglyphe des Mondes innerhalb eines knöchernen Halb-
mondes gezeichnet ist, und die Wasserlandschaft ist ihm identisch
mit dem See, in dem die historische Stadt Mexiko liegt. Das Fressen
der Herzen der Mexikaner alias 400 üitznaua sei ein Portentum ,
was doch überhaupt keine Erklärung ist. Seier sollte hier wirk-
lich nicht die selbstverständliche Unterlage des Sonnenaufgangs
verlassen. Es ergibt sich dann von selbst, daß die Ansiedelung, die
er bei Sonnenaufgang vernichtet, die Nacht mit der Niederlassung
der Sterne und des Mondes ist. Die Cora fassen den Nachthimmel
als Wasser auf. Er ist tikantse ,,das Haus der Nacht", womit
sie zugleich die Tiefe des Wassers und einen Ort der Nässe
bezeichnen. Auch ist er bei ihnen eine Wasserschlange, die
des Morgens vom Morgenstern erlegt und vom Lichthimmel,
dem Adler, verzehrt wird. Früher hielt ich diese Wasserland-
schaft des Mythus für die Morgenröte, da der Sonnengott sie^
nachdem er aufgegangen ist, zum Abfließen bringt, was aber
für die Nacht ebenso paßt.
Im weiteren Verfolg ist nun Sei er auch das mythische
Tollan „die Binsenstadt" die wässerige Scheibe des Mondes
also identisch mit der Ansiedelung unseres Mythus und ihr
Herrscher Quetzalcouatl ebenfalls der Mond. Er wandert nach
Verlust seiner Herrschaft nach Osten, verbrennt sich in Tlapallan,
„dem Rotlande", auf dem Scheiterhaufen, worauf sein Herz als
Morgenstern zum Himmel emporsteigt. Dieser Zug ist für
Sei er gerade mit ein Beweis, daß Quetzalcouatl vorher etwas
anderes als der Morgenstern, nämlich der Mond, gewesen sein
muß. Meines Erachtens ist aber gerade das ein gewöhnlicher
Zug in Mythen, daß jemand in menschlicher Gestalt allerhand
Taten verrichtet, die seinem wahren Wesen als Stern, Tier u. dgl.
18*
276 K. Th. Preuß
entsprießen, und sich zum Schluß in seine wahre Gestalt ver-
wandelt. Von solchen habe ich sehr viele aufgeschrieben. Nach
einem Huicholmythus z. B. raubte jemand die gesäten Mais-
körner aus der Erde. Man lauerte ihm auf und sah, es war
ein alter Mann. Nun verfolgte man ihn, er flüchtete zwischen
die Steine und wurde zu einem Dachse, die dadurch zu existieren
begannen. Der Mann tat also das, was die Dachse zu tun
pflegen. Daß Tollan das Reich der von Wasser erfüllten Nacht
ist, die der Morgenstern beherrscht, kann meines Erachtens
keinem Zweifel mehr unterliegen, nachdem auch bei den Cora
der Morgenstern ganz ebenso wie Quetzalcouatl durch geschlecht-
liches Vergehen seine Herrschaft verliert.^ Quetzalcouatl nähert
sich eben, indem er nach Osten fliehen muß, wie der Morgen-
stern immer mehr der Sonne, in deren Strahlen er verbrennt.
Daß Tollan zugleich auch ciudad del sol genannt wird, ist eben-
falls nicht zu verwerfen, denn Tollan als Nachthimmel kann
ebenso im Westen wie im Osten angenommen werden, wo die
Sonne aufgeht. Seier ist ja auch bereits dazu gekommen, in
einem von der kürzlich herausgegebenen Historia de Colhuacan
y Mexico gebrachten Mythus Quetzalcouatl als den Morgen-
stern, den Vorläufer und Vorkämpfer der Sonne, der die Sterne
besiegt, anerkennen zu müssen.
Aus alledem geht aber, wie ich schon hervorhob, hervor,
daß Seier mit der Verfolgung der Mondidee durchaus auf dem
richtigen Wege ist, sobald er die Mondgottheit gleich mir
zugleich als den Nachthimmel betrachtet und Eigenschaften
des Mondes zugleich auf die Sterne überträgt. Auch Xipe und
Tezcatlipoca wird er dann ebensowenig wie Quetzalcouatl schlecht-
hin als Monde einsetzen; die Cora- und Huicholtexte zeigen
deutlich, daß der Morgen- und Abendstern — sie werden als
zwei Personen aufgefaßt — diese Gestalten absorbiert. Mao kann
sich über die unzweideutigen Angaben in den ausführlichen
» Vgl. auch Archiv XI. S. 387 f.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 277
Texten dieser Stämme nicht hinwegsetzen. Ich konnte nur an
einem Beispiel etwas eingehender das Gemeinsame und das Ab-
weichende der beiderseitigen Schriften zeigen. Nicht Kritiken
können hier im Grunde fruchten, sondern eingehende alle
Quellen umfassende Arbeiten und Ergebnisse, die von vorn-
herein einleuchten, weil die Tatsachen keine anderen Schlüsse
erlauben. Es muß doch bedenklich stimmen, wenn Seier in
Band I des Codex Borgia Tezcatlipoca als untergehende Sonne
und in Band II auf Grund derselben Tatsachen als Mond er-
klärt, ohne einen festen Ausgangspunkt zu haben. Vollends
sind Deutungen wie einen Schädel und einen Wasserstrom als
Elemente des Mondbildes undiskutabel, da der Mond ein fest-
stehender knöcherner Halbmond mit Wasser erfüllt ist. Aber
ich möchte schließlich doch darauf hinweisen, wie eine ganze
Reihe von grundlegenden Ergebnissen schon jetzt sicheres
Gemeingut geworden ist. So fällt es heute vor allem nie-
mandem mehr ein, die Menschenopfer an die Götter als etwas
anderes denn als Opfer von Gottheiten zu betrachten. Auch
die Erneuerung der Sonne durch das Opfer Tezcatlipocas am
Toxcatl-Fest ist zweifellos und jetzt gibt Seier sogar schon
zu, daß die geopferten Krieger zugleich Sterne sind, während
ich freilich — und darin geben mir ebenfalls die Cora Recht —
die Toten überhaupt als Sterne ansehe, die als solche zugleich
Krieger sind. Auch Seiers Identifikation des Morgensterns mit
dem Gott der Kälte ist im Cora etwas Alltägliches.
Ein ungemein wichtiges Hilfsmittel für die religiöse
Forschung hat uns Seier in seiner ausführlichen Abhandlung
„Die Tierbilder der mexikanischen und May ahandschriften " *
geliefert, wozu die Anregung der Zoologe W. Stempel durch
seine Schrift „Die Tierbüder der Mayahandschriften" - gegeben
hatte. Da alle diese Tiere nachweislich mit Zauberkräften
* Zeitschrift für Ethnologie 1909. S. 209—257 381—457. 1910.
S. 29-97, 24-2—287.
* Zeitschrift für Ethnologie. 1908. S. 704—743.
278 K. Th. Preuß
begabt und z. T. Verkleidungen von Göttern sind, d. b. diese
selbst vorstellen, so gewinnen wir durch diese zoologische Be-
handlung eine feste Grundlage für die Deutuug der Szenen,
in denen die Tiere vorkommen, und für die Angaben der
Autoren, die sich auf die Eigenschaften der betreflPenden Tiere
beziehen. Von den Säugetieren bis zu den Insekten herab ist
da bei Seier in 45 Gruppen alles Vorkommende behandelt
worden, was einen deutlichen Begriff von der Wichtigkeit der
Tiere in den religiösen Bilderschriften gibt. Der Zoologe und
der Archäologe stimmen freilich nicht immer miteinander über-
ein; ersterer sucht mehr die Arten, letzterer — wie es für
seine Zwecke genügend ist — die Gattung zu umschreiben, und
dieser bleibt durch seine genaue Kenntnis der zeichnerischen
Eigentümlichkeiten und der Angaben der Alten dem Zoologen
überlegen.
Sei er verdanken wir auch die Bearbeitung des einzigen
alten Berichts über die mexikanische Landschaft Mechuacan,
die auch religiös wichtig ist, und die er unter dem Titel „Die
alten Bewohner der Landschaft Michuacan"^ veröffentlicht hat.
Von diesem Bericht, der Eelacion de las ceremonias y ritos,
pohlacion y göhernacion de los Indios äe la provincia de Mechuacan^,
fehlt aber leider der erste, die Götter und Feste behandelnde
Teil, und nur der zweite über die Eroberung des Landes durch
die herrschende Dynastie und der dritte mit seiner Schilderung
der Herrschaft bis zur Eroberung des Landes durch die Spanier
ist vorhanden. Der Nationalgott des regierenden Geschlechts
ist Curicaveri, der wahrscheinlich wie Uitzilopochtli, der Staram-
gott der Mexikaner, ein Sonnengott war. Er erscheint als
Adler, seine Verkörperung ist der König, und die Mitglieder
' Zum erstenmal gedruckt in Seier, Gesammelte Abhandlungen III
S. 38—156. Vgl. meine Besprechung im Globus Bd. 95, 1909, S. 96 f.
' In Coleccion de documentos ineditos para la historia de Espaha
Bd. 63, 1869. Wieder abgedruckt (mit Autotypien der farbigen Illustra-
tionen) Morelia 1904.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 279
der königlichen Familie nannten sich vaciisecha „Adler''. Wie
die Mexikanei hatten auch die Michuaque einen Festkalender
von 18 zwanzigtägigen Zeiträumen und 5 überzähligen Tagen,
und die 18 Feste scheinen den mexikanischen zu entsprechen.
Am auffallendsten ist das Fest cuingo, an dem, wie am Fest
Üaca xipeiializtli (Menschenschinder) der Mexikaner, mit den
menschlichen Opfern gekämpft wurde. Ihnen riß man dann
das Herz heraus und häutete sie ab, and andere führten, be-
kleidet mit der Haut, Tänze aus. Die an diesem Feste gefeierte
Gottheit ist ein „Gott des Meeres", was allerdings nicht leicht
mit dem mexikanischen Xipe in Einklang zu bringen ist, es
sei denn auf dem mythischen Umwege des nächtlichen Wassers
am Himmel, in dem Xipe als Morgenstern lebt. Ebenso könnte
das Fest der Göttermutter Cueravahperi, da es „wo die Haut
abgezogen wird" heißt, mit dem Erntefest in Mexiko korre-
spondieren. Neben der Sonne wurde die Mond- und Frucht-
barkeitsgöttin Xaratanga verehrt, die ihr Schwitzbad und ihren
Ballspielplatz hat, und der Morgenstern. Eine Art Pulque-
gott erinnert wegen seines lahmen Beines an Tezcatlipoca,
dem ein Bein fehlt, der aber freilich mit dem Pulque nichts zu
tun hat. Leider hören die Nachrichten immer gerade da auf, wo
es anfängt, interessant zu werden. Die Leiche des Fürsten
wurde verbrannt, aus den Resten machte man ein Mumien-
bündel mit künstlichem Kopfe und setzte es am Fuße der
Pyramide Curicaveris in einem großen Topfe bei. Sklaven und
Sklavinnen wurden ihm zur Begleitung mitgegeben, indem man
sie mit Keulen erschlug.
Neben alten Berichten, die man aufzuspüren sucht, sind
auch, abgesehen von meinen Studien unter den Indianern der
Sierra de Nayarit, einige deffieutigen Stämme auf ihre Zere-
monien und Traditionen untersucht worden, in einem Falle,
dem der Mava sprechenden Lacandone, mit ausgezeicknetem
Erfolge. Aber es sollte darin noch viel mehr geschehen. Selbst
die Beschreibung der Aufführungen an christlichen Festen, wie
280 K. Tb. Preuß
sie Nicolas Leon in seinem Werke: Los Tarascos, tercera
parte^, etnografia post-cortesiana y adual versucht hat, ergibt
manche Ausbeute. Ich erwähne z. B. das Allerseelenfest {todos
los santos) am 1. November, wo in der Nacht die Toten in die
Häuser kommend gedacht werden, um von den aufgestellten
Speisen zu essen. Bei den Cora kamen wirklich Männer, die
die Toten darstellten und fortwährend den Schrei der Eule
hören ließen, in die Häuser, um Gaben zu empfangen. Der Tanz
der Weber (tejedores), der am Corpus -Christi -Tage (14. Juni)
aufgeführt wurde, hatte davon seinen Namen, daß man um eine
Stange tanzte, von der farbige Stricke herunterhingen, und die
Tänzer die Stange mit den Stricken einflochten und sie wieder
entwirrten. Ahnliches fand auch bei den Cora und Huichol
statt. An der Prozession dieses Festes nahmen bei den Tarasca
auch die Christusfiguren teil, behängt mit allerhand Gebäck
und mit lebenden Eichhörnchen, Kaninchen, Enten, Reihern,
Wasserschlangen usw. Augenscheinlich bezog sich das alles
auf den nun einsetzenden Regen und die kommende Ernte.
In den Straßen trieb die „Tarasca" ihr Unwesen, ein riesiges
Tier wie eine Eidechse und Schildkröte, aus Rohr und Stoff-
überzug mit einem Ungeheuern auf- und zuklappenden Rachen,
das drei bis vier Männer trugen. Der vorderste hatte einen
Haken an langer Stange, mit dem er alles Eßbare, auch Kopf-
tücher und anderes an sich raffte. Diese „Tarasca" ist nun
— worauf mich R. Wünsch gütigst aufmerksam machte —
interessanterweise wahrscheinlich mit der „Tarasque" identisch,
dem fabelhaften Tier, nach dem die Stadt Tarascon in Daudet
Port Tarascon, S. 73 der gewöhnlichen Pariser Ausgaben, ihren
Namen hat. Es heißt dort (S. 74): les Tarasconais celebrent
tous les dix ans une fete, oü l'on promene ä travers les rues
un raonstre en bois et carton peint, tenant de la tortue, du
serpent et du crocodile, grossiere et burlesque effigie de la
• Mexiko 1906. S. 187 f.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 281
Tarasque d'autrefois . . Ja, selbst der Name Tarasca für die
Bewohner von Michuacan. der erst aus spanischer Zeit stammt,
scheint von dort ihren Ursprung zu haben. Merkwürdig, aber
nicht ganz aus christlicher Zeit stammend, ist die Zeremonie des
Schwimmens des heiligen Petrus. Am 24. Juni bei Aufgang
der Sonne wird die Statue des Heiligen am See von Patzcuaro
ins Wasser geworfen, und die Fischerei gerechtsame für die an-
liegenden Dörfer werden von dem Weg abhängig gemacht, den die
Statue zum Ufer zurücklegt. Doch sucht man Abweichungen
vom regulären Wege durch Erregung von Wellen vorzubeugen.
Auch bei den Cora wurde die Virgen de los Dolores und der
heilige Joaquin am Ostersonntag in der Nacht vor Sonnenauf-
gang im Bach gebadet, während alle zugleich ein Bad nahmen;
in ihre Hände wurde Schilfrohr gesteckt, und man brachte sie
bei den ersten Strahlen der Sonne zurück.^
Über die Gegend von Zacatlän hinab bis zum Staate Vera-
cruz, wo mexikanische und totonakische Bevölkerung aneinander-
stößt, enthält der Vortrag von Adela C. Breton, Survivals of
Ceremonial Dances among Mexican Indians^ manches Bemerkens-
werte. Aus ihm erwähne ich nur die Zeremonie der voladores,
die von ihr am 17, und 18. Januar beobachtet wurde. Auf
einen mehr als 20 m hohen Mastbaum kletterten fünf Männer
hinauf und setzten sich zu vieren nach den vier Richtungen
auf ein viereckiges Gestell, während der fünfte in der Mitte
oben auf dem Baum einen kurzen Tanz ausführte. Plötzlich
warfen sich die vier mit ausgestreckten Armen rücklings über
und schwebten kopfabwärts rund um die Stange, immer tiefer
und tiefer herabgelassen, indem der oben gebliebene das Aus-
laufen der an einer Kurbel befestigten Stricke regulierte. Auf
dem Boden tanzten inzwischen zehn oder elf Männer in hohen
' Vgl. Preuß, Weiteres über die religiösen Gebräuche der Cora-
indianer. Reisebericht 11. Globus Bd. 90. 1906. S. 168.
* Verhandlungen des XVI. Internationalen Amerikanisten-Kongresses
zu Wien 1908 S. 513—520.
282 K. Th. Preuß
Mützen um den PfaM herum. Wer denkt hierbei nicht an die
Abbildung und Beschreibung bei Clavigero^, wo vier Jünglinge
als Vögel verkleidet, die volatori, an Stricken rund um einen
hohen Pfahl schwingen?
Sehr wichtig sind die Nachrichten, die Wilhelm Bauer
unter den Ma9ateca- Indianern im nordöstlichen Oaxaca ein-
gezogen und unter dem Titel: „Heidentum und Aberglaube
unter den Ma9ateca-Indianern" veröffentlicht hat.^ Jeder
Kazike hatte ein heiliges Tier, z. B. Schlange, Tiger, Adler und
Kaiman, dem im Gemeindehause oder in der Kirche ein Ehren-
platz eingerichtet wurde, und das göttliche Ehren erhielt. Die
nächtliche Verwandlung in ein Tier {naJmal) wird teils als
Vorzug, teils als göttliche Strafe angesehen. Der Tote schwimmt
wie im alten Mexiko mit Hilfe eines Hundes über einen großen
Strom. Der Hund muß aber schwarz sein. Deshalb wird ihm
ein solcher mit ins Grab gegeben. Er kommt ferner auf seiner
Wanderung durch ein Reich der Hunde, der Stiere, der Schlangen
und der Vögel, die ihn geleiten, aber eventuell auch beißen,
wenn er sie im Leben schlecht behandelt hat. Angerufen werden
in allen Fällen die ,, Herren der Berge": bei Krankheit, bei Ab-
wendung von Übel, zur Schädigung eines Feindes, zum Gedeihen
des Ackers, bei Dürre usw. In der Opfergabe spielt teils die
Sieben, teils die Zehn bzw. die Fünf eine Rolle. Ein Ei,
7 Stückchen weißer (Hemden) und 7 Stückchen brauner Rinden-
faser (Obergewänder), 7 Federn des Guacamayo (Schmuck),
7 Kakaobohnen (Geld) und 7 Kopalkömer werden vom Zauberer
unter Gebeten in Mais- oder Bananenblätter gehüllt und an der
passenden Stelle vergraben. Besondere Widerstandsfähigkeit
und Unverwundbarkeit machen einen zum Zauberer. Der erste
geerntete Maiskolben wird als Opfer mit Truthahnblut besprengt
und verbrannt. Vorher darf niemand von dem jungen Mais
• Storia antica del Messico II 1780 S. 182.
* Zeitschri/t für Ethnologie 1908 S. 867—866.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 283
genießen. Interessant als altmexikanische Parallele ist das
Schwitzhaus in den Hütten der Ma9ateca, wo Dampf zu Heil-
zwecken durch Aufgießen auf heiße Steine entwickelt wird, das
Werfen von 33 Maiskörnern, um aus der Lage der Spitze nach
Sonnenaufgang oder nach einem mittleren Korn zu sehen, ob
der Kranke genesen oder sterben wird, und die Anwendung
eines aus 13 Monaten von je 20 angeblich nach Tieren be-
nannten Tagen bestehenden Kalenders, den die Zauberer noch
gebrauchen sollen. Leider erfahren wir über diesen nichts
Näheres.
Angesichts unserer geringen Kenntnisse über die Götter-
welt und die Religion der Maya sind die genauen Nachrichten,
die uns Alfred Tozzer von seinen langjährigen Studien (1902—5)
unter den Lacandone von Chiapas und den Indianern Yuka-
tans heimbrachte. Sein Werk darüber heißt: Ä Comparative
Study of the Maxjas and the Lacandones} Der Schwerpunkt
des Buches liegt in der Darstellung der bei den Lacandone
beobachteten Zeremonien nebst der Aufzeichnung und Über-
setzung ihrer eigenartigen religiösen Gesänge, der einzigen, die
bisher aus dem Mayagebiet bekannt sind. Durch zahlreiche
Fußnoten macht der Yerf. auf die übereinstimmenden Stellen
aus den alten Autoren über die Maya aufmerksam, und man
muß gestehen, daß es deren eine ganze Menge gibt. Sogar
manche Darstellungen aus den Bilderschriften versucht er mit
Erfolg aus den Zeremonien zu erklären. Auch unter den
Götternamen gibt es einige, die mit den Namen alter Maya-
götter übereinstimmen. Aber ihr Wesen enstpricht nicht ohne
weiteres den gleichnamigen Gestalten. Die Götter der Lacan-
done sind überhaupt in ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung
keineswegs durch Tozzers Forschungen klargelegt, so sorgfaltig
auch alles, was über sie bei den Lacandone vorhanden ist, von
ihm erkundet wurde.
* New York 1907 XX und 195 S. 8 •.
284 K. Th. Preuß
Der oberste Gott der Lacandone ist Nohotsakyum „der
große Vater", der dritte von vier Brüdern, die wahrscheinlich
die vier Himmelsrichtungen vorstellen, und von denen Noho-
tsakyum der Osten ist. Die Sonne ist sein Bote, und die Dä-
monen des Ostens sowie viele Sternbilder und der Donner sind
seine Diener. Die vier Brüder entsprechen vielleicht den Regen-
göttern und Liebhabern des Tabakrauchens der heutigen Yuka-
teken mit Namen Nukutsumtsakob oder einfach Yumtsakob,
von denen einer Nohotsyumtsak , also ähnlich dem obersten
Gott der Lacandone heißt. Bei den alten Maya hießen die
Regengötter Chac (tsak). Akna „Mutter" scheint neben Noho-
tsakyum zu stehen. Wenn nun auch Quin, die Sonne, als ein
untergeordneter Gott genannt wird und dessen Gemahlin Akna,
der Mond, nichts mit der genannten Akna zu tun haben soll,
so ist die Identität der beiden mit den oben genannten obersten
zwei Gottheiten m. E. selbstverständlich, zumal bei einer Sonnen-
finsternis gesagt wird: Nohotsakyum ist krank. Akna heißt
als Göttin der Geburt Istsei wie die entsprechende Göttin der
Alten und hat als solche zum Gemahl Aqantsob „der laut rufende
Schieläugige" oder Tsitsaktsob, ein Name, der bei Landa als
ein Dämon genannt ist, von dem in den Cauac-Jahren zur
Abwendung von Unheil ein Bildnis aufgestellt wurde. Der
berühmte Kukulkan der Alten ist auch bei den Lacandone eine
Schlange mit vielen Köpfen, die bei großen allgemeinen Gefahren
wie besonders bei Sonnenfinsternis getötet und gegessen wird.
Hierin scheint mir das nächtliche Dunkel, wie die Wasser-
schlange der Cora, klar hervorzutreten. Bei den heutigen
Yukateken heißt diese mythische Schlange Quqikan, hat viele
Köpfe und lebt im Himmel. Außer diesen gibt es noch eine
ganze Menge von geringen Göttern.
Durch Opfer und Gebete verehrt werden in den Ansied-
lungen aber nur diejenigen Götter, zu deren Aufenthaltsorten
in den alten Ruinen, besonders in Yaxchilan oder an besondern
geographischen Orten eine Wallfahrt unternommen ist, von der
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 285
ein den Gott darstellender geschnitzter oder unbearbeiteter Stein
zurückorebracht ist. Doch darf eine solche Wallfahrt nur mit
dem Willen des Gottes stattfinden, was durch besondere Proben
festgestellt wird, die man auch anwendet, wenn man dem in
der Ansiedelung befindlichen Gott besondere Zeremonien, z. B.
die Erneuerung der Räuchergeftiße widmen will. Außerdem er-
hält man die Götter durch Vererbung. Das Familienhaupt ist
zugleich Priester. Die Zeremonien bestehen stets in Gesängen
und Gebeten, die sich auf alle Vorkommnisse von der Geburt
bis zum Tode erstrecken, in dem Verbrennen von Eopal inner-
halb der Räuchergefäße und in der Darreichung von Speise
und Trank auf die ausgestreckte Zunge des die Räuchergefaße
an einer Seite schmückenden Gesichts. Dieses ist der Geist des
Gefäßes und hat die Aufgabe, das Opfer dem im Innern des
Rauch ergefäßes unter dem Kopal liegenden Steinidol zu ver-
mitteln. Dieser Stein ist der Gott, der außerdem noch gebeten
wird, in Person zu erscheinen, während das Gesicht sein Diener
ist. Außerdem werden bei der offiziell jährlich stattfindenden
Zeremonie der Erneuerung der Gefäße eine Menge kleiner ebenso
gestalteter Räucherschalen angefertigt, die ebenfalls Dämonen
sind und teils das Opfer den einzelnen Göttern, t^ils dem obersten
Gott Nohotsakyum zuführen soHen. Auch die Gefäßchen heißen
Sil (Gabe), ebenso wie die auf einem Brett aufgereihten Kopal-
klümpchen für die Haupträuchergefäße. Zugleich sind sie aber
männlich oder weiblich gestaltete Diener, die die Aufträge des
Festgebers an die Götter mit ausführen helfen. Die männlichen
Kopalstückchen sollen z. B. in die Wälder gehen und Wild für
die Götter erlegen, die weiblichen Mais mahlen u. dgl. m. Je
nach der Größe der Götter stehen ihnen mehr oder weniger
davon zur Verfügung. Mit dem Feuerbohrer wird das Feuer
zum Anzünden des Kopals erzeugt.
Von den alten Autoren bezeugte Zeremonien sind dann
das jetzt weniger vorkommende Durchbohren des Ohres mit
einer Steinpfeilspitze, wobei man das Blut in die Räuchergefäße
286 K. Th. Preuß
fallen läßt, und das Neigen des Körpers über den brennenden
Kopal während des Singens. Auch die ganze Zeremonie des
Erneuerns der Zeremonialgeräte, die sich bei den Lacandone
auf die Räuchergefäße beschränkt, ist von Landa als ein Fest
im Monat Chen oder Yax, Dezember oder Januar, für die Regen-
götter Chacs, die Herren des Feldes, bezeugt. Die Lacandone
feierten die Erneuerung in den von Tozzer beobachteten
beiden Fällen mehr als einen ganzen Monat lang von Mitte
Februar bis Ende März, und zwar wird die Anlage eines neuen
Feldes bis zur Vollendung des Festes verschoben. Auch sagt
der Verf., daß das Fest von der Reife der Feldfrucht abhängt,
die den Göttern dargereicht werden muß, bevor sie von den
Menschen genossen werden dürfen. — Das ist freilich nicht
recht verständlich, da die neue Ernte schon im Oktober reif
ist. — Die jährliche Erneuerung der Räuchergefäße, die ja eben-
falls Götter sind, statt der eigentlichen Gottheiten entspricht
m. E. der Idee der Erneuerung der Götter im alten Mexiko.
Die Wendung der Gesichter der „lebenden" Gefäße nach Osten,
der alten „abgestorbenen" nach Westen entspricht dem Zu-
sammenhange des menschlichen Lebens bei den Cora und
Mexicano mit dem Osten und umgekehrt, und auch sonst dürfte
eine genaue Vergleichung der Indianer der Sierra de Nayarit
mit den Lacandone von Nutzen sein. Die Gesänge lehnen sich
enge an die Zeremonien an, die sie ähnlich wie bei den Cora,
wenn auch nicht so ausführlich, schildern. Dem Verf ist die
genaue Zugehörigkeit der Gesänge zu den Riten festzustellen
gelungen. Leider fehlt darin alles Mythologische, wie über-
haupt der Verf keine Mythen gesammelt hat Daraus erklärt
sich die geringe Einsicht in die Entstehung der Götterwelt.
Kürzer als die Religion der Lacandone ist die Religion
der heutigen Yukateken ausgefallen (S. 151 — 167). Doch muß
der Ausschnitt genügen, um die hohe Bedeutung des Buches
zu würdigen, das auch für die innige Verknüpfung der Religion
mit den täglichen Vorkommnissen des Lebens viele lehrreiche
, Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 287
Belege bietet. Mögen ähnliche intensive Studien auch von
anderer Seite nachfolgen.
West-Indien. In diesem Berichte ist ausnahmsweise
eine Arbeit aus dem Gebiete der Westindischen Inseln zu
erwähnen, nämlich von Jesse Walter Fewkes, The Äborigines
of Porto Rico and Neigliboring Islands^, die zwar archäologischen
Inhalts ist, aber auf S. 53 — 76 der Einleitung einiges gering-
fügige Material über die alte Religion der Bewohner der
Insel zusammenstellt Es fußt besonders darauf, daß die
Borinquenos den Bewohnern der andern Großen Antillen Cuba
und Haiti nahe verwandt waren und deshalb auch die auf diese
bezüglichen Nachrichten für sie zu verwerten sind, während
anderseits auch Beimengungen von Caraiben wahrscheinlich
sind und deshalb hie und da auch auf ihre auf dem Festland
beobachteten Sitten bezug genommen ist.
Südamerika
Wie immer sind auch in diesem Zeitraum die religiösen Ergeb-
nisse der Forschung im Verhältnis zu Nordamerika gering, da
noch viele wenig oder gar nicht bekannte Gebiete vorhanden sind,
die eine extensive Forschung auf weitem Räume herausfordern.
Dabei zersetzt sich aber gerade in Südamerika der ursprüngliche
geistige Zustand auffallend schnell, sobald die weiße Kultur mit
ihren Kautschukgelüsten und ihrem oft schonungslosen Vorgehen
über den Indianer kommt. Es ist daher höchste Zeit, daß
auch hier der Forscher neben die traditionellen Reisen von
Stamm zu Stamm möglichst das ruhige Monate und vielleicht
ein ganzes Jahr währende Studium bei einem Stamme setzt,
zumal auch dort schon sehr häufig Dolmetscher unter den
Indianern der betreffenden Stämme zu finden sind.
' 25tb Annual Report ofihe Bureau of American Ethnology 1903/Oi,
Washington 1907 S. 1—220.
288 K. Th. Preuß
Von der die südamerikanischen Forschungen bisher be-
herrschenden Tradition aus muß man es daher auch verstehen,
daß selbst eine so erfolgreiche Expedition wie die von Theodor
Koch-Grüuberg in das Quellgebiet des Rio Negro nicht so
tief in die Religion der zahlreichen von ihm besuchten Stämme
eindringen konnte, wie es möglich gewesen wäre, weil trotz
der Länge der zur Verfügung stehenden Zeit auf den einzelnen
zu wenig kam. Trotzdem haben wir eine sehr erhebliche, ja
für die Beurteilung der südamerikanischen Maskentänze als
Tänze von Dämonen gar nicht hoch genug zu bewertende För-
derung unseres religiösen Wissens erfahren. Leider haben jetzt,
nur fünf Jahre später, die Kautschukhändler das Heim dieser
Indianer vernichtet und sie selbst vergewaltigt. Doch beabsichtigt
Koch in nächster Zeit auf einer neuen Expedition in benach-
barte Gebiete wenigstens der Religion eines Stammes lange
Zeit zu widmen, so daß wir hoffen dürfen, den Tjpus der
religiösen Erscheinungen jener Gegend erschöpfend kennen zu
lernen.
Das Werk, das allein von den Veröffentlichungen über
diese Expedition in Betracht kommt, führt den Titel: „Zwei
Jahre unter den Indianern"^ und ist nach der zeitlichen Folge
der Ereignisse angeordnet, in die einige rein ethnographische
Kapitel eingestreut sind, darunter eins über die Maskentänze
der Kobeua, eines Stammes der Betoyagruppe am Rio Caiary
(Rio Uaupes, Rio Negro). Weitere Maskentänze sind besonders
von den Kaua, einem benachbarten Aruakstamm am Rio
Aiary (Rio l9ana, Rio Negro) beschrieben. Beide Stämme
haben viele Masken und Maskentänze gemeinsam, und über-
haupt sollen nach Traditionen die Anwohner des Rio Aiary
die Tänze von denen des Rio Caiary gelernt haben. Umgekehrt
macht es aber der Verfasser wahrscheinlich, daß die Kobeua
die Maskentänze von den Aruakstämmen übernommen liaben.
Berlin 1909/10. 2 Bände, IV u. 365 bzw. 413 S.
i
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 289
Koch hat von ihnen über 100 verschiedene Masken aus Rinden-
stoff mitgebracht, die fast den ganzen Körper verhüllen und
deren Bemalung und sonstige Abzeichen zusammen mit den
Bewegungen und den Geräten der Tänzer den betreffenden
Dämon kennzeichnen. Mehrfach ist er in der glücklichen Lage
gewesen, Maskenfesten beizuwohnen, während er sich in bezug
aut andere Masken die Bewegungen der Tänzer hat vorführen
lassen. Danach werden die Maskentänze von diesen beiden
Stämmen nur zur Totenfeier, bei den Kobena neun Tage nach
dem Begräbnis, in einem Falle bei den Kaua z. B. wenige
Wochen nach dem Tode eines jungen Mannes vorgeführt.
Am verständlichsten und auch am interessantesten, weil ähn-
liches noch nirgends klar beobachtet worden ist, ist der Phallus-
tanz, an dem sich alle Masken beteiligen konnten. Die Tänzer
tragen große Phallen aus Bast, machen heftige Coitusbewegungen,
streichen dann mit der rechten Hand über die Phallen und
machen mit der ausgestreckten Hand wehende Bewegungen,
wie wenn sie etwas in die Lüfte zerstreuten. Der ausströmende
Samen wird überallhin verbreitet, in jedem Winkel des Hauses,
am Rande des Waldes, in der anstoßenden Pflanzung und
zwischen den Weibern. Überall soll, wie der Verfasser mit
Recht feststellt, von diesen Dämonen Fruchtbarkeit verbreitet
werden. Daß solches aber nach einem Todesfall ffeschieht,
ist wohl, wie ich schon an anderer SteUe zur Deutung ahn-
lieber phallischer Begehungen bei Todesfällen hervorgehoben
habe^, der Furcht vor der vernichtenden Zauberwirkung zu-
zuschreiben, die von dem Toten oder den dämonischen Ursachen
des Todes ausgeht.
Den übrigen Maskentänzen gibt der Verfasser die folgende all-
gemeine Beziehung zum Totenfest. Der Geist des Toten soll da-
durch versöhnt werden, damit er niemand nachholt. Die bösen
Dämonen, die man darstellt, und die vielleicht den Tod des Yer-
' Ursprung der Religion und Knnst, Globus Bd. 86 S. 361.
Archiv f. Religrionswissensohaft XTV 19
290 K. Th. Preuß
wandten verscliuldet haben, sollen von weiterem Unheil ab-
gehalten werden. Die Feinde des Jägers, z. B. der Dämon
Mäkukö, der die Leute mit Giftpfeilchen aus seinem Blasrohr
erschießt, und der Jaguar; die Schädlinge des Feldes, Raupen,
Käferlarven und anderes Ungeziefer sollen durch mimische
Nachahmung ihrer Handlungen und ihres Gebahrens magisch
beeinflußt und den Menschen günstig gestimmt werden, in
gleicher Weise auch die Jagdtiere selbst, so daß reiche Jagd
und reiche Ernte werde.
Die Voraussetzung dafür ist, daß alle diese Dämonen
in gleicher Weise für die Jagd, Gedeihen und Wachstum
einerseits und für den Tod anderseits verantwortlich sind.
Leider sind wir darüber im einzelnen nicht hinreichend unter-
richtet. Aus den Angaben der Indianer über die einzelnen
Gestalten geht vorläufig nur die Beziehung zur Vernichtung
von Menschen und Tieren hervor nicht zu ihrer Förderung
und ebensowenig zur Schädigung oder Förderung des Wachs-
tums der Felder, während von einer andern Gruppe nur gesagt
wurde, sie seien gut oder wenigstens harmlos, z. B. der Papagei,
die Hausspinne, der Mistkäfer, der Aracüfisch usw. So gibt es
unter den Masken eine Reihe von riesigen Wald- und Baum-
dämonen, die z. B. die Menschen durch Umbrechen der Bäume
oder mit Knütteln töten. Ein großer azurblauer Schmetterling
braut in einem großen Topf die Malaria, eine kleine Blatt-
wanze stößt gerösteten Pfeffer und streut ihn in die Luft, wo-
durch die Augen der Arbeiter in den Pflanzungen triefäugig
werden, die giftige Vogelspinne sammelt „Krankheitsgift" in
fünf Blattdütchen, das sie im Wald über den Köpfen der Leute
ausschüttet, der Jaguardämon frißt Menschen und Tiere, ein
Tauchervogel, der nur von Fischen lebt, frißt alle Fische u. dgl. ra.
Immerhin ist die Gesamtanschauung des Verfassers, namentlich
auch unter Berücksichtigung des von allen Masken getanzten
Phallustanzes und des Umstandes, daß die Kobeua außer den
genannten Waldgeistern andere die Menschen tötende Dämonen
/ Religionen der Xaturrölker Amerikas 1906 — 1909 291
mit gewaltiorem Penis haben — sehr wahrscheinlich. Denn es
lassen sich auch genug Beispiele aus andern Gebieten anführen,
wo die Krankheitsdämonen zugleich durch Darstellung zur Be-
seitigung der Krankheit angehalten werden wie bei den Iro-
kesen. Und so könnten auch die Dämonen, die Menschen und
Jagdtiere vernichten, auf dieselbe Weise dazu gebracht werden,
sie zu verschonen.
Am frühen Morgen nach dem Fest werden die Masken
verbrannt, und die Dämonen begeben sich nach Täku, dem
Maskenjenseits, oder in ihre, auf einem andern Gebirge oder
in einer Stromschnelle gelegene Wohnung.
Masken aus Affenhaar werden von den Tariana üanana
und andern Anwohnern des Caiary-Uaupes auch bei großen
Yuruparyfesten (dabukuri) getragen, an denen Koch ebenfalls
öfters, z. B bei den Tuyuka und den Tnkano des Rio Tiquie
(üaupes) teilgenommen und über die er neues Material heim-
gebracht hat. Die Feste werden beim Einernten gewisser
Palmfrüchte gefeiert, wobei zugleich Jünglinge als neue Mit-
glieder in den Yurupary-Bund aufgenommen werden, indem sie
heftige Schläge mit einer Peitsche oder Gerte über Waden
und Bauch empfangen, wodurch klaffende Wunden entstehen.
Auch die schon Aufgenommenen scheinen sich bis zu einem
gewissen Alter solchen Schlägen zu unterwerfen. Die dabei
geblasenen großen Flöten sind die Dämonen. Weiber dürfen
sie nicht sehen, nehmen aber an den andern Tänzen des Festes
teil. Der Yurupary -Tanz soll zugleich alle Krankheiten ver-
treiben. Die Dämonen aber sind solche der Fruchtbarkeit,
und nach einem von Koch aufgenommenen Mythus der Yahuna
nahe dem Yapura stammt die Paxiuba-Palme , aus deren Holz
die Flöten gemacht werden, von der Asche eines kleinen
Knaben, der Sonne, den die Menschen verbrannten. Yurupary-
Tänze kommen bei den Kobeua auch am Totenfest vor.
Das Buch enthält noch eine Menge anderer Tänze, die bei
den genannten Gelegenheiten aufgeführt werden, und die nach
19*
292 K. Th. Preuß
ihrer Beschreibung interessant sind, deren Natur aber nicht
klar wird, und ferner Nachrichten über Sitten und Gebräuche
namentlich der Kobeua, die erfreulicherweise in einem Kapitel
vereinigt sind, z. B. über Zauberarzt -Kandidaten, in deren
Kopf weiße Steinchen hineingezaubert werden, über den Ge-
nuß der nach 15 Jahren verbrannten Totenknochen im Ka-
schiri-Festtrank, über die Steigerung der Gesichtsschärfe, indem
man einem bestimmten kleinen Falken, der durch die Schärfe
seiner Augen bekannt ist, diese aussticht und die Flüssigkeit
in die eigenen Augen träufelt, über die Seele u. dgl. m. Im
letzteren Fall vermißt man schmerzlich die einheimischen Be-
zeichnungen, da die Anwendung des Wortes „Seele" häufig
Irrtümer veranlaßt. Sehr viele Stämme haben etwas derartiges
gar nicht, sondern sagen statt dessen „der Tote" wie die Cora
(muitsi), was natürlich ein großer Unterschied ist. Leider
muß ich mich hier bescheiden, aber so viel ist auf Grund dieses
Buches sicher, daß wir von dem Forscher noch eingehendere
Studien über die so äußerst wenig bekannte Religion der Süd-
amerikaner erwarten dürfen.
Über die livaro an den drei linken Nebenflüssen des
Maraüon: Santiago, Morona und Pastaza haben wir neuer-
dings eine recht zuverlässige ethnographische Beschreibung auf
Grund aller literarischen Quellen und eigener Untersuchungen
von Rivet: Les Indiens libaros, etude geogrophique, Mstoriquc
et ethnograpltique^, der als Arzt der französischen geodätischen
Kommission sich fünf Jahre in Ecuador aufhielt und dabei
auch Gelegenheit hatte, die Leute zu beobachten und Nach-
richten über sie einzuziehen. Freilich bringt auch seine Studie
nur zum Bewußtsein, wie wenig wir über die Leute und zumal
über ihr religiöses Leben wissen, dem ein kurzer Abschnitt
(XIX S. 235 — 251) gewidmet ist. Auch sind die persönlichen
' L'anthropologie XVIII 1907 S. 333-368, 583—618. XIX 1908
S. 69—87, 236—259.
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906 — 1909 293
Ermittelungen Rivets nur einige Ergänzungen seiner Quellen
bzw. befähigen ihn, an ihnen Kritik zu üben.
Ihre einzige Gottheit, au die sie sich in allen Fällen
wenden, ist Iguanchi, der ihnen öfters als feuerspeiender Affe
oder als ein gehörntes Tier erscheint und in einer Gegend in
den Wirbeln des Amazonas, in Macas z. B. auf einer Anhöhe
lebt, von der man den tätigen Vulkan Sangay umfassen kann.
Dorthin wallfahrtet mau, und während die übrigen tanzen, trinkt
derjenige, der mit Iguanchi in Verbindung treten will, das
narkotische natema, den Saft einer im Wasser gekochten Liane,
der zuerst Halluzinationen, dann Gefühlslosigkeit hervorruft.
Die andern ziehen sich zurück. Sobald er wieder zu sich kommt,
steigt er zu seinen Gefährten herab und verkündet etwa den
Namen dessen, derNden Tod jemandes veranlaßt hat, oder den
Ausgang eines Kriegszuges u. dgl. m. Die Zauberer, die durch
Kneten, Beißen und Aussaugen von Gegenständen, auch durch
Medikamente heilen, haben eine große Bedeutung. Sie nennen
zugleich den Namen des Übeltäters, der die Krankheit ver-
ursacht hat. Dieser wird dann verfolgt. Einige Stämme glauben
an Seelenwanderung der Abgeschiedenen in Tiere, der tapferen
in reißende, der feigen in unscheinbare und ekelhafte.
Von den Festen ist nur das der tsantsa, der bekannten
nach Herausnahme der Schädelknochen durch heiße Steine ge-
dörrten Mumienköpfe, ein wenig näher geschildert, obwohl auch
hier der Sinn des Festes nicht vollkommen feststeht. Hat jemand
einen Feind getötet, so muß er das Fest feiern, sonst läßt ihm
der Tote keine Ruhe, nichts würde ihm mehr geraten, ja er
würde samt seiner Familie sterben. Das erinnert sehr an
nordamerikanische Feste nach der Tötung eines Feindes, z. B.
der Pima, worüber vorher berichtet ist. Auch der livaro muß
sich nach vorhergehendem Trinken von Tabakabsud und nach
mehrtägigen Trinkgelagen strengem Fasten unterwerfen und
sich des Beischlafs enthalten. Das ist für den livaro über-
haupt ein Mittel, seine Wünsche erfüllt zu sehen: daß sein
294 K. Th. Preuß
Sohn gesund und kräftig wird, daß sein Hund gut jagt usw.
Das Fasten dauert bis zwei Jahre und länger, während welcher
Zeit die Vorbereitungen zum Fest getroffen, das Feld bestellt
und geerntet, Chicha (bis 300 Töpfe) hergestellt, Wild und
Fische herbeigeschafft wird. Beim Beginn des sechs Tage
dauernden Festes endet das Fasten. Die Hauptzeremonie ist
der Tanz um die auf einen geschmückten Pfahl oder an einen
Hauspfeiler gehängte tsantsa, in der der Feind verspottet wird,
während man den Sieger feiert. Doch hat Rivet die Nach-
richt nicht bestätigt gefunden, daß ein Alter für die tsantsa
auf Schmähungen von Seiten des Siegers antwortet, bis dem
Kopf schließlich die Lippen vernäht werden. Das Zunähen
der Lippen soll vielmehr lediglich zum Ausdörrungsprozeß ge-
hören, damit die Lippen nicht auseinander klaffen. Außer der
Versöhnung des toten Feindes bedeutet das Fest der tsantsa
die Gewinnung eines für alle Lebenslagen wirksamen Fetisches.
Es wird auch ein Frauenbittfest in Gegenwart des Mumien-
kopfes erwähnt, wenn die Ernte dürftig ausfällt oder die Haus-
tiere unfruchtbar sind. Ist es ergebnislos, so wirft man den
Kopf nach Scheren der Haare in den Wald. Anderseits wird
von jährlichen Siegesfesten berichtet, an denen die Köpfe ge-
braucht werden, bis sie nach Jahren in den Fluß geworfen
werden. Bei einigen Stämmen scheint der Besitz einer tsantsa
zum Eintritt in die Kriegerkaste notwendig gewesen zu sein.
Endlich kommen auch Frauen- und Faultierköpfe, in derselben
Weise präpariert, als Ersatz der Männertsantsa vor, wenn dem
getöteten Feind nicht der Kopf genommen werden konnte.
Von einem solchen Faultierkopf, der jüngst in den Besitz des
Berliner Museums gekommen ist, heißt es jedoch, daß er
präpariert worden und Anlaß eines solchen Festes gewesen sei,
weil diese Tiere als verzauberte Feinde gelten, die zu vertilgen
ein verdienstliches Werk ist.
Der Verfasser zählt dann noch eine ganze Reihe von aber-
gläubischen Handlungen auf und meint mit Recht, daß diese
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 295
und die religiösen Ideen ihr tägliches Leben Tollkommen beein-
flussen. So führen sie aus, was sie Erfolgreiches träumen und
lassen sich anderseits durch Träume von ihren Absichten
abbringen. Gegen Wind und Unwetter ziehen sie mit Geschrei
und Lanzen aus und glauben, die in der Richtung des Un-
wetters wohnenden Feinde rückten an. Der Genuß von Tabaks-
absud gilt als Allheilmittel, wie auch das „Fest des Tabaks"
zur Erzielung der Fruchtbarkeit der Felder und der Schweine-
herde von dem übermäßigen Genuß dieses Mittels seinen
Namen hat
Die wertvollen ethnographischen Arbeiten von C. H. de
Goeje, die auf seinen Expeditionen ins Innere von Surinam
beruhen, bringen nur in den „Beiträgen zur Völkerkunde von
Surinam"* ein kurzes Kapitel über religiöse Verhältnisse, das
sich durch strenge Wiedergabe von Einzelbeobachtungen aus-
zeichnet. Es handelt von den Kaliha (Galibi). Ojana (Kukujana)
und Trio. Von den Ojana sind besonders die Geräte zur
Vespenprobe und diese selbst bemerkenswert, die ziemlich aus-
führlich geschildert wird.
Ein ergiebiges Feld für das Studium von mvstischen
Medizinen und Zaubermitteln ist das Gebiet der unter europä-
ischen Kultureinflüssen stehenden Bewohner von Peru und
Bolivia, der Quichua und Aymarä und der Cholos. Durch die
höchst dankenswerte Arbeit von Erland Nordenskiöld, Be-
ceties magiques et mcdicales du Perou et de la Bdivie^, für die
er das Material — abgesehen von den Belegen aus den Schriften
anderer Beobachter — auf seiner Reise 1904/5 gesammelt hat,
erhalten wir darüber zum erstenmal einen etwas genaueren
Einblick, der die Fülle des noch Vorhandenen und die Wichtig-
keit der heutigen Bevölkerung auch für die Kenntnis des Alter-
tums ahnen läßt. Es ist wie in Mexiko und Zentralamerika,
' Int. Arch. für Ethnographie XE S. 1—34.
' Journal de la societe des americanistes de Paris N. S. IV 1907
S. 154—174.
296 K. Th. Preuß
wo neben den Altertümern auch die heutige Bevölkerung noch
sehr wichtige Aufschlüsse geben könnte. Die Leute, die sich
mit dem Verkauf solcher magischen Mittel dort abgeben
(callahuaya), machen kolossale Wanderungen, wie es heißt
von Quito und Bogota im Norden bis zu den äußersten Grenzen
Argentiniens im Süden. So werden beim Hausbau ein Lama-
fötus, beladen mit verschiedenen Getränken und Coca, die ver-
schiedensten Arten von Zinnfiguren und vieles andere beerdigt.
Metallobjekte scheinen von den alten Peruanern in Gebäude
eingemauert worden zu sein, wie aus den Funden hervorgeht.
Ausräucherungen der Häuser, kranker Körperteile und der
Felder, letzteres um eine gute Ernte zu erlangen, kommen mit
den verschiedensten merkwürdigen Substanzen vor. Holz- und
Blechkreuze, z. T. mit sonderbaren Zugaben, z. B. Sonne, Mond,
Sterne, Hahn, Leiter dienen in den Häusern gegen den Blitz.
Kleine runde Brote werden gegen Hagel und Donner in die
Luft geworfen. Auch frische Blätter einer Bromeliacee, die
sich ein Jahr lang und länger ohne Wasser frisch erhält,
werden im Hause gegen den Blitz aufgehängt. Ausgrabungen
in alten Gräbern verhindern den Regen. Deshalb gräbt man
auch Schädel aus modernen Gräbern aus, um Regen zu ver-
meiden. Umgekehrt bringt man Regen hervor, indem man
Frösche und andere Wassertiere auf die Gipfel der Berge legt.
Auf dem peruanischen Hochplateau vergräbt man Menschenblut
zur Erzielung reicher Ernte. Weibliche Lasttiere erhalten
kräftigen Nachwuchs, wenn sie schwere Steine schleppen. Die
vielfarbigen Pompons an den Ohren der Haustiere scheinen
Amulette zu sein. Pulverisierte Schildkrötenschaleu verbrennt
man neben würmerkranken Tieren, um sie zu heilen. Krank-
heiten werden vermieden, indem man an den Zugängen Lebens-
mittel als Opfergabe für den Krankheitsdämon hinlegt. Krank-
heiten kommen auch von den Toten, und wenn man sie stört,
wird man krank. Vergräbt man in einem Grabe ein wenig voa
den Nägeln oder Haaren eines Menschen, so bemächtigt sich
\
/ Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 297
der Tote des Betreffenden. Nordenskiöld zählt nun eine Menge
äußerer und innerer Mittel, die er meistens hat bestimmen
lassen, gegen bestimmte Krankheiten auf, die zum Teil recht
mystisch sind. Gegen Beinschmerzen hilft z. B. Einreiben mit
dem Fett eines Jaguars, der früher ein Mensch war (d'un
Jaguar, devenu td par metempsycose apres avoir ete un komme).
Koitierende Paare als Liebeszauber und andere Amulette
werden erwähnt, endlich Opfergaben an Coca und Branntwein
an beliebigen Stellen, um Verlorenes oder Gesuchtes zu finden.
Gewissermaßen eine Fortsetzung dieser Arbeit für Argen-
tinien sind die schönen folkloristischen Abschnitte in dem aus-
gezeichneten archäologischen Werke Eric Bomans Ajdiquifes
de la region andine de la republique argetitine et du desert
d'Atacama} In der Tat findet sich hier manches Gleichartige,
wie auch die Händler mit Medizinen, die sogenannten caUakuaga,
hier wie dort verkehren. Aber Boman hat sich auch tou den
noch sehr unberührten Bewohnern des Dorfes Susques in der
Puna de Atacama und von anderen eine Reihe von Anrufungen
in Quichua diktieren lassen, die sich besonders an die altperu-
anische Pachamama, die Erde, richten und erwähnt zu denselben
Zwecken unternommene Anrufungen an die nämliche Göttin,
die von Ambrösetti aus dem Calchaqui-Tal aufgenommen sind.
Dabei werden Opfergaben an Coca, Chicha, roter Wolle usw.
dargebracht. Neben Pachamama wird auch Pachatata zuweilen
angerufen, worunter Boman den Christengott versteht. Solche
Anrufungen und Opfergaben geschehen bei Reisen ins Gebirge,
um Ausdauer und wohlbehaltene Heimkehr zu erzielen. Den-
selben Zweck haben die Gaben und Gebete an Vater Apacheta,
die Votivhügelchen von Gaben auf den Höhen der Pässe. Sie sind
zugleich die Altäre für Pachamama. Vor dem Trinken von Chicha
und Branntwein werden einige Tropfen für die Göttin auf die
Erde gegossen. Beim Wollespinnen ruft man die Göttin an,
> 2 Bde., fortlaufend numeriert, 948 S., 8* {Mission scientifique G. de
'^f'qui Moni fort et E. Senechal de La Grangt).
298 K. Th. Preuß
daß der Faden nicht reißt und die Arbeit schnell von der Hand
geht. Jährlich findet ein feierliches Fest der Beschneidung
der Ohren der in dem Jahre geborenen Haustiere als Marke
statt, wobei für die Vermehrung der Herde gebetet wird und die
Ohrenteile zusammen mit den Opfergaben auf dem steinernen
Altar in der Nähe des Hauses vergraben und der Göttin über-
geben werden. Man tanzt unter anderem um den Altar. Das
Behängen der Ohren, seltener anderer Körperteile mancher
Lieblings- und Leittiere namentlich unter den Lamas mit rot-
gefärbten Wolltroddeln ist ebenfalls als ein Opfer an Pacha-
mama aufzufassen. Ackerbauriten berichtet er aus La Quiaca
an der argentinisch -bolivianischen Grenze bei Gelegenheit der
jährlichen Eröffnung der zu den Nebenkanälen führenden
Schleusen am 1. August, wo Pachamama um Segen angefleht
wird, und zur Zeit der Aussaat. Im letzteren Fall wird Pacha-
mama durch eine alte Frau dargestellt. Der auszusäende Mais
wird durch Besprengen mit Chicha geweiht, Pachamama ver-
teilt an jeden Mais, der sofort gesät werden muß. Sie legt
dann Erdklumpen in ein Taschentuch, das sie einem Knaben
umbindet. Dieser wälzt sich auf der Erde, wo der Mais gesät
ist, und schreit ihr ins Ohr: „Pachamama!" Dann beerdigt
man die Erdklumpen, schüttet Chicha und Cocablätter darauf
und spricht: „Pachamama, ich habe dich beerdigt. Sei es zu
glücklicher Stunde geschehen. Ich werde mich freuen, wenn
du reif wirst."
Ein Gott der Vicunas und Huanacos ist der bald männlich
bald weiblich gedachte Coquena, der in der Nacht erscheint
und mit Silber und Gold beladene Lasttiere mit sich führt.
Ihm opfern die Jäger und fürchten ihn sehr. In den Wasser-
löchern wohnt der Pujio, der Krankheiten verursacht, indem
er den Geist des Menschen zurückbehält. Darin ähnelt er dem
Wassergott Tsakan der Cora. Dem Pujio wird dann am Wasser
unter Anrufung ein kompliziertes Opfer dargebracht, indem
man unter anderem ein trächtiges Schaf sehlachtet, den Herz-
' Religionen der Natarvölker Amerika« 1906—1909 299
beutel mit Coca füllt und mit roter Wolle schmückt, den
Fötus mit Körbchen, in denen Coca ist, beladet und Fötus
samt Herzbeutel am Wasser begräbt. Nun wird der Geist
zurückgerufen. Auch wenn jemand sich maßlos erschreckt,
ruft man den Geist zurück. Dazu kommen noch eine Reihe
anderer Gebräuche.
Von besonderem Interesse ist eine Arbeit \on R. E. Lat-
cham, Ethndogy of the Araucanos^, die trotz der nun weit fort-
geschrittenen Christianisierung und Veränderung der Lebens weise
dieser tapferen Indianer verhältnismäßig reichliche Nachrichten be-
sonders über ihr religiöses Leben bringt auf Grund eines drei-
jährigen Studiums der Stämme des Cautintales und an einigen
Stellen der Provinz Malleco. In einzelnen Fällen sind auch ältere
Nachrichten, jedoch meist ohne Quellenangabe, herangezogen.
Ihre Dämonen sind Naturwesen von konkreter Form, die
teils in ein und denselben Naturerscheinungen wirken, teils
alle möglichen Objekte zu zeitweiligem Aufenthalt haben können
und nach Belieben sichtbar oder unsichtbar sind. Auch der
Menschen eigenes Selbst (piUi), das im Traume sich loslöst,
ist körperlich, aber den Menschen unsichtbar. Die Pilli selbst
können einander sehen und sehen auch die zur Erde zurück-
kehrenden Toten {am), die von den Pilli unterschieden, aber
ebenso körperlich aufgefaßt werden. Als oberster Gott gilt
Pillan, der Donnergott, der zugleich als Feuerbringer in den
Vulkanen haust und die Erdbeben hervorbringt. Jetzt ist er
durch Ngunemapun, den Herrn der Erde, ersetzt, der nach
Latchams Meinung mit ihm identisch ist, aber in alten Quellen
nie erwähnt wird. Sehr wichtig ist, daß er als einer und viele
aufgefaßt wird. Die gefallenen Krieger gehen in ihm auf und
kämpfen als Wolken im Gewitter, über das man sich freut,
wenn es sich nach Norden zieht, denn dann werden die Geister
der Spanier von denen der Araucaner zurückgedrängt. Andere
' Journal of the Änthrop. Institute of Great Britain XXXIX 1909,
S. 334—370.
300 K. Th. Preuß
Dämonen sind der Wirbelwind, der als Eidechse erscheint, der
Mond, die Frau der Sonne, die als gute Göttin mit ihrem Licht
die üblen Geister verscheucht, während die Sonne merkwürdiger-
weise keine Bedeutung hat; ferner der Wassergott in Gestalt'
einer Wildkatze mit einem in eine Klaue endigenden Schwanz,
dem alles Übel zugeschrieben wird, das dem Indianer im Wasser
zustößt. Der Dämon des Nebels erscheint als Schaf mit dem
Kopf eines Kalbes und hinten als Seehund, Chonchonyi, ein
böser Dämon in Gestalt eines menschlichen Kopfes, dessen
Ohren als Flügel dienen, schwebt um die Wohnungen der
Kranken und saugt wie eine Art Vampyr ihr Blut, der Basilisk
Terursacht Fieber und Tod, indem er Speichel aus seinem Opfer
herauszieht, und Pihuechenyi, die „geflügelte Schlange", saugt
das Blut nächtlicher Schläfer im Walde. Zusammen mit übel-
wollenden Dienern Pillans, den Huecavus, die in jeder Gestalt
auftreten können, und den Cherruve, die als Schlangen mit
Menschenhäuptern erscheinen und die Kometen und Stern-
schnuppen mit ihrer schrecklichen Vorbedeutung von Tod und
Unglück verursachen, ergibt sich so eine unendliche Menge
von Dämonen, denen jedwedes Ungemach des täglichen Lebens
zugeschrieben wird. Deshalb gilt auch der Ruf und das Ge-
baren vieler Tiere als unheilverkündend und ist z. B. imstande,
die Teilnehmer eines Kriegszugs zu sofortiger Umkehr ins
Lager zu veranlassen. — Die Toten gehen nach Westen und
treten von der Insel Mocha ihren Zug an, wohin sie durch
gewisse Dämonen, die sich in Walfische bzw. Kanus verwandeln,
übergesetzt werden.
Über einen den Gottheiten gewidmeten Kult wird nichts
gesagt, nur daß man in den Zeiten großen Unglücks, von
Krankheit, Dürre und Hungersnot Opfer darbrachte. Auch
wird nichts darüber berichtet, daß sie dargestellt wurden. Die
niederen Dämonen, die Krankheiten verursachen, werden von
den Zauberern, die zu ihnen, besonders den Huecavus, in Be-
ziehung stehen, verjagt, oft unter Anrufung der höheren Gott-
Religionen der Naturvölker Amerikas 1906—1909 301
heiten. Diese Naturobjekte können dem Menschen in mystischer
Weise nützlich sein, besonders indem man Fell und Kopf
wilder Tiere trägt: das des Puma verleiht Stärke, das des
Fuchses Schlauheit, das der Schlange ungesehenes Beschleichen
der Feinde. Adlerfedern machen schnell und furchtlos beim
Angriff usw. Das Amt des Zauberers, von denen es drei
Klassen gibt, wird genauer geschildert, namentlich die Art, wie
das den Tod verursachende Gift durch Herausnahme der Gallen-
blase festgestellt und zugleich der betreffende Dämon oder die
Person zur Strecke gebracht wird, was vor dem Begräbnis
geschehen muß. Sowohl Latcham in bezug auf die Araucano
wie auch Rivet für die livaro wollen durchaus Spuren von
Totem ismus aufdecken, m. E. ohne Erfolg. Es sieht fast so
aus, als ob die Anwendung des Wortes Totemismus, wenn
auch dadurch nichts zur Erklärung beigetragen wird, eine ge-
wisse Befriedigung erweckt. Es ist schon zu einer Art Fetisch
geworden. Latcham hätte sich besondere Verdienste erworben,
wenn es ihm gelungen wäre, die Beschwönmgen und Gesänge
der Zauberer in der Ursprache festzuhalten. Gegenwärtig wird
wohl derartiges kaum noch möglich sein.
Neger. Es ist ein glücklicher Gedanke, auch die Neger
von Brasilien in den Bereich der religiösen Betrachtung zu
ziehen, wie es der Abbe Etienne Ignace in der Arbeit Le
feiichisme des negres du Bresü^ getan hat Er beschäftigt sich
besonders mit den Negern der Staaten Rio Janeiro und Bahia.
In der Tat erkennt man auf den ersten Blick das im Verhältnis
zur Indianerbevölkerung Fremdartige in der vorgeführten Reli-
gion. Da der Verf. weder Spuren indianischer Ideen darin auf-
führt, noch auf Beeinflussung der Indianer dadurch eingeht, so
sei mit diesem Hinweise der Berichterstattung Genüge geschehen.
* Anthropos ITI 1908 S. 881—904.
III Mitteilungen und Hinweise
Moderuer Totenkult
Meinem Freunde, Dr. Edgar von Pickardt-Riga, verdanke ich
den Hinweis auf eine interessante Stiftung des verstorbenen Provisors
Julius Friedrich Stoppenhagen - Riga vom 13. August 1886. Nach
den Statuten werden die Einkünfte der Stiftung unter die nächsten
Verwandten verteilt, bis auf einen Rest, der für eine jährliche
Erinnerungsmahlzeit verwendet werden soll. Paragraph 11 der
Statuten bestimmt darüber folgendes: „Zur Erfüllung testamen-
tarischer Vorschrift des Testators ist jährlich am 22. Juli als an
seinem Geburtstage eine Erinnerungsfeier an ihn zu veranstalten,
an welcher seine Verwandten und näheren Bekannten, jedoch nicht
über 40 an der Zahl, teilnehmen dürfen. Zu den Kosten einer
solchen Feier sind nach dem Willen des Testators von den
Stiftungsrevenüen, ehe dieselben zur Verteilung gelangen, zehn
Prozent vorweg abzunehmen und dem Ausrichter des Festes . . .
zu behändigen." Der Testator soll nach weiteren Mitteilungen
Pickardts den Wunsch geäußert haben, daß es bei der Erinnerungs-
feier so fröhlich wie möglich hergehe und bei Anwesenheit von
Jugend auch getanzt werde. Die Feier selbst vollzieht sich in der
Weise, daß die beteiligten Personen an einem Tisch Platz nehmen,
auf dem die Photogi-aphie des Testators aufgestellt ist. Darauf
hält einer der älteren Herren eine kleine Ansprache, in der er
auf den Zweck des Zusammenkommens hinweist und die An-
wesenden auffordert, sich zu Ehren des Verstorbenen von ihren
Plätzen zu erheben. Die Anregung zu den an antike Testamente
erinnernden Bestimmungen erhielt der Testator durch eine Zeitungs-
notiz, derzufolge ein englischer oder amerikanischer Arzt dieselben
Bestimmungen getroffen haben sollte.
Dazu vergleiche man folgendes: Nach einer Londoner Korre-
spondenz des Berliner Tageblatt vom 17. April 1910, auf die ich
durch Alexander Graf zu Dohna aufmerksam gemacht werde, ver-
machte der Farbenhändler W. D. Barnett der Londoner Maler-
Mitteilungen und Hinweise 303
gesellschaft sein ganzes Vermögen im Werte von einer Million
Mark mit der Bedingung, „die Gesellschaft solle auf ewige Zeiten
an seinem Geburtstag ein Festessen veranstalten und seinen Grab-
stein gleichfalls auf ewige Zeiten erhalten." Diese Bedingung ver-
anlaßte die Testamentsbehörde, das Testament für ungültig zu er-
klären; die Malergesellschaft ging der Erbschaft verlustig, gelangte
aber schließlich auf Umwegen doch noch in den Besitz des Geldes
und wird nun das Geburtstagsessen auf ewige Zeiten veranstalten.
Durch die Freundlichkeit des Herrn Dr. M. Stübel in Dresden
besitze ich ferner Mitteilungen über eine ähnliche testamentarische
Bestimmung aus den 1880er Jahren, erlassen von einem Herrn
Schreiber, der vormals dem Korps Saxonia zu Leipzig angehörte.
Der betr. Satz lautet folgendermaßen: „Ich mochte mein Andenken
bei den Mitgliedern (des Korps) wahren und setze deshalb dem
NX. (ebenfalls einem Sachsen) eine jährliche Rente von 350 M.
mit der Verpflichtung aus, diese Rente, welche sich überdies jedes
Jahr um 3 Mark erhöhen soll, zugunsten der Saxonia zu ver-
wenden, und zwar indem alljährlich mindestens ein dem Betrag
des Vermächtnisses entsprechendes Mahl bzw. Nachtmahl samt
Zubehör zu meinem Andenken ausgerichtet und von dem Be-
trag des Vermächtnisses bezahlt werden soll." Dazu erhielt ich
folgende weitere Angaben : ,, Dieses . . . Mahl findet alljährlich im Mai
statt. Während der Suppe klopft der Älteste ans Glas, mit ihm
erheben sich alle übrigen. Er fordert auf, zum Gedächtnis des
Korpsbruders Schreiber das Glas zu leeren ; das geschieht unter
tiefem Stillschweigen, man setzt sich wieder und nun beginnt ein
fideles Diner, das sich in keiner Weise von andern unterscheidet.
Die Bestimmung des Tages ist willkürlich, da Sehr, nichts darüber
bestimmt hat. Zur Teilnahme an dem Mahl sind alle diejenigen
Mitglieder der Saxonia berechtigt, die am Sachsenstammtisch in
der Au regelmäßig teilnehmen. Sehr, war ein regelmäßiger Be-
sucher desselben." —
Ich benutze die Gelegenheit, zu dem Buche von Wilhelm
Schmidt, Geburtstag im Altertum (Relgesch. Vers. u. Vorarb. VII 1 ,
Gießen 1908), das die antiken Parallelen der vorstehend ge-
schilderten Bräuche zuletzt ausfühi-lich behandelt, eine Einzelheit
nachzutragen. S. 58 bemerkt Schmidt, daß wir seines Wissens von
einer öffentlichen Geburtstagsfeier lebender Angehöriger eines Für-
sten, nirgends etwas erführen. Da möchte ich auf das Psephisma
von Notion hinweisen, in dem nach Brückners einleuchtender Er-
klärung und Ergänzung eine Geburtstagsfeier des Athenaios, eines
Bruders des Königs Eumenes II. von Pergamon, erwähnt wird
(Österr. Jahresh. IX 1906, Beibl. S. 57fF.). L. Deubner
304 Mitteilungen und Hinweise
Volkskundliches
Ein sehr schätzenswertes bibliographisches Hilfsmittel bietet
die zum zweiten Mal erscheinende Bibliography of Anthropo-
logy and Folklore (1907), compiled by N. W. Thomas, London
1908. Sie umfaßt ausschließlich Erscheinungen innerhalb des
britischen Reiches und verarbeitet nicht weniger als 197 Zeit-
schriften. Der Stoff ist geographisch angeordnet. Beigegeben
ist ein reichhaltiger Sachindex, sowie unter dem Titel Analysis
eine Zusammenfassung der Hauptwoi-te des Index unter eine Reihe
von Oberbegriffen, wie Religion, Sociology, Folklore, wodurch die Über-
sicht über das Vorhandene erleichtert wird. Karl Knortz ver-
einigt in seinem Buch: Der menschliche Körper in Sage,
Brauch und Sprichwort, Würzburg 1909, sehr disparates, lose
aneinandergereihtes Material für die Bedeutung von Kopf, Haar,
Gesicht, Auge, Ohr, Nase, Mund, Zunge, Zähne, Arm, Hand,
Finger, Rücken, Bauch, Fuß, Blut, Aussatz und Knochen im
Volksglauben. Die Brauchbarkeit des Büchleins leidet darunter,
daß literarische Nachweise und Register fehlen. Der um die
Erforschung der südslawischen Volkskunde verdiente Friedrich
S. Krauß veröffentlicht einen starken Band: Slawische Volks -
forschungen, Leipzig 1908. Nach einem einführenden Kapitel,
das die Haupttatsachen der politischen und kulturellen Vergangen-
heit der Südslawen, insbesondere die Türkisierung ihrer Sprache
und Literatur behandelt, folgen zwei umfangreiche Abteilungen
mit reichem volkskundlichen Material. Die erste enthält Abhand-
lungen über Hexen, Waldfrauen, rückkehrende Seelen, Vampir, m
Werwolf, Mar, Menschenfleischessen und Liebeszauber, die zweite ^
eine beträchtliche Anzahl der folkloristisch und für die Geschichte
der epischen Volksdichtung wichtigen Guslarenlieder mit metrischen
Übersetzungen. Jedem Liede ist eine Einleitung vorausgeschickt,
die den Leser mit dem historischen, seltener mythischen Hinter-
grunde bekannt macht; erkläi*ende Noten folgen nach. Ein sehr
ausführliches Sachregister macht den Beschluß. Die russischej
Heldensage behandelt Rudolf Abicht in einer Breslauer Habi-
litationsschrift ( 1 907). Er beginnt mit allgemeinen Ausführungen übel
die Entwickelung der phantastischen epischen Bylinendichtung unc
betont die Bedeutung von Novgorod für die Bewahrung dei
Bylinentradition und die Ausprägung der Form, in der jen<
Dichtungen auf uns gekommen sind. Wichtig, von allgemeinei
Gesichtspunkten aus, ist die Bemerkung, die Bylinen seien nichi
Teile eines Ganzen, sondern eine 'im Fluß befindliche Masse, die
im Begriff ist, sich um die Person des Fürsten Vladimir von
Novgorod zu kristallisieren'. S. 21 findet man ein Verzeichnis
von Bylinensammlungen. Es folgt eine kuijs skizzierte Analyse
Mitteilungen und Hinweise 305
der Svetogor-Samson-Sage nebst Abdruck aller dazu gehörigen
Texte. Eine sorgfältigere Begründung der vorgetragenen Auf-
fassungen wird meistens vermißt. Eine neue Folge russischer
Volksmärchen aus der Sammlung A. N. Afanassjews bietet in
geschickter Übersetzung Anna Meyer, Wien 1910. Eine kleine
Broschüre von F. W. Brepohl, Die Zigeuner nach Geschichte,
Religion und Sitte, Göttingen 1909, verfolgt den Zweck, zu
kultureller Erziehung der Zigeuner anzuregen, und gibt in dieser
Absicht einen kurzen Überblick über die Sckicksale und Eigen-
tümlichkeiten dieses Volkes. Derselbe Verfasser bespricht in seiner
Schrift Aus dem Winterleben der Wanderzigeuner, Seege-
feld 1910, Leben und Sitten der Zigeuner, wobei ein paar interessante
Bräuche erwähnt werden. Auch hier läuft die Schilderung in
einige programmatische Zeilen aus. Bemerkungen über die Ver-
wendung von Würfeln zum Zwecke des Orakels findet man in
der sorgfältigen Königsberger Dissertation von Franz Semrau,
Würfel und Würfelspiel im alten Frankreich, Halle 1909,
S. 20 f. Die vollständige Arbeit erscheint in den Beiheften zur
Zeitschr. f. roman. Philol., Heft 23.
Maraunenbof Ii. Deubner
Berichtigung. Herr Salomon Reinach macht mich darauf
aufmerksam, daß ich in meinem Aufsatze über die Lupercalia
(Archiv f. Rel. XIII) S. 482,2 das Wort louis-cerviers falsch ver-
standen habe. Es bezeichne vielmehr 'die großen Wölfe, die auch
Hirsche angreifen'. Ähnlich seien die luperci (= lup-hircij als
wackre Wölfe aufzufassen, die nicht nur Schafe, sondern auch den
Bock angriffen. Ich vermag diese Ansicht nicht zu teilen, zumal
lateinische Analoga fehlen.
Sodann war ebd. S. 501 für die Beziehung des Spruches
k'Qicpog usw. auf eine Milchtaufe Reinach zu zitieren (jetzt Cultes,
mythes et religions LI 129 f.), der diese Deutung zuerst ausgesprochen,
jedoch zugunsten der Beziehung auf einen Milchtrank verworfen hat.
Endlich stellt Herr Reinach einen Aufsatz über rituelles
Lachen = Wiedergeburt (vgl. Archiv S. 501) in nahe Aussicht.
L. Deubner
Zum Argeer-Opfer. Die neue Ausgabe von Varro, De lingua
latina (rec. G. Goetz et Fr. Schoell, Lipsiae 1910) ist auch für
den Religionsforscher von größtem Werte: nicht nur wegen der
neuen textlichen Grundlage, die dieser für die römische Religion
wichtigen Quellenschrift zuteil geworden ist, sondern auch wegen
der reichen, häufig auf religionsgeschichtliche Abhandlungen hin-
Arehiv f. Beligioniwissenschsft XIV 20
306 Mitteilungen und Hinweise
weisenden Adnotationes. Unter diesen findet sich auf S. 250
in Bezug auf die sacraria der Argei (zu S. 15,20) die Bemer-
kung: Quod recentioris aetaiis colorem prae se ferunt formae longe
plurimae, cum Wissowa et aliis ita interpretamur, ut sacra Argeorum
non tarn vetusta esse quam multis videbantur statuamus. So wert-
voll die sprachliche Beobachtung ist, ich benutze die Gelegenheit
wiederum (vgl. Neue Jahrb. 1904, S. 669^) zu fragen, warum
nicht aus der Beteiligung der Pontifices und der Trauer der
Flaminica auf ein zugrunde liegendes altrömisches Fest geschlossen
werden darf, über das sich später ein 'griechischer' Brauch setzte.
Es wird hier wie so oft richtiger sein, ein Nebeneinander von
Altem und Neuem anzunehmen, als einander widerstrebende Tat-
sachen von einem Gesichtspunkte aus zu erklären. L. D.
Anthropophyteia
Nützlich scheint mir ein kurzer Hinweis auf den vierten
Band der Zeitschrift, die unter diesem Titel erscheint (Anthropo-
phyteia. Jahrbücher für Folkloristische Erhebungen und Forschungen
zur Entwickelungsgeschichte der geschlechtlichen Moral, heraus-
gegeben von Dr. Friedrich S. Krauß, Leipzig 1907). Krauß gibt
hier gerade auch für den Religionsforscher außerordentlich wert-
volle reichhaltige Materialien zur Entwicklungsgeschichte der
sexuellen Moral. So sei auf die interessanten Artikel von Nitrovic
über seinen Besuch bei einer Zauberfrau in Norddalmatien sowie
über Zeitehen ^ in Norddalmatien und den Aufsatz von Krauß
über die Zuchtwahlehe in Bosnien hingewiesen. Ganz besonders
wertvoll ist der ausgezeichnete Artikel des Herausgebers über
Erotik und Skatologie im Zauberbann und Bannspruch (S. 160/226).j
Mit Recht glaubt Krauß mit diesem Aufsatz einen wichtiger
Beitrag zur Erforschung „ursprünglichster religiöser Grundvorstel-j
lungen der Menschheit" zu liefern. Zweifellos bestehen innige Be^
Ziehungen zwischen Erotik und der Religion, wenngleich man den-
jenigen Forschern nicht beistimmen kann, welche das religiös«
Fühlen einzig und allein auf die sexuelle Grundlage zurückführet
wollen. Wir erhalten hier die verschiedenartigsten interessanter
Materialien aus dem südslavischen Volksglauben. Die Zauberfrav
welche einen Segensspruch gegen Beschreien sagt, vollbringt ein<
Kulthandlung, für die sie Bezahlung nicht fordert, wonngleich sifl
' Über Stundenehen s. desselben Verfassers Buch „Das Geschlecht
leben in Glauben, Sitte und Brauch der Japaner", Leipzig 1907, ds
auch bedeutsame Auskunft über japanischen Phalluskult enthält und de«
japanischen Fuchskult zu europäischem Glauben bezüglich der Katze^
in Parallele stellt.
Mitteilungen und Hinweise 307
Geschenke nicht ausschlägt, gerade so wie unsere Sympathie-
doktoren. Die Feuerstätte bildet das Heiligtum des Hauses. Daher
gilt der Schwur bei ihr als unverbrüchlich, auch gilt sie als un-
verletzliches Asyl. Sodomie gilt beim Volk nicht als Sünde oder
gar Verbrechen. Die den Hagelschlag verursachenden bösen Geister
sucht man durch Entblößung zu vertreiben, ebenso zu verhindern,
daß böse Augen ein junges Fohlen oder Kalb beschreien. Schon
diese kargen Angaben zeigen, wie mannigfach die über primitiven
religiösen Zauberglauben beigebrachten Materialien sind. Die
Anthropophyteia wird bald eine unentbehrliche Quelle für religions-
geschichtliche Forschungen bilden.
Berbn Albert Hellwig
Christi Himmelfahrt
Die Münchener Neuesten Nachrichten vom 21. Mai 1909
(Nr. 235) bringen folgende interessante Mitteilung: „Vor etwas
über hundert Jahren pflog man in München zu Christi Himmelfahrt
einen uralten und gar seltsamen Brauch. Da wurde am Vor-
abend des Festes ein als Teufel maskierter öffentlicher Spaßmacher
•von anderen als Druden vermummten und mit Krücken, Besen
und Ofengabeln bewaffneten Witzbolden durch die damals noch
winkeligen und schmutzigen Stadtgassen gejagt, unter argem
Gejohle in Pfützen und Misthaufen gehetzt, bis der so Gepeinigte
vor der Hofburg angekommen war. In derselben wurde er, wie
dies ja ganz gerecht war, sehr reichlich bewirtet und seiner Teufels-
hülle entledigt. Die Hülle wurde alsdann mit Heu und Stroh
ausgestopft und zur Frauenkirche verbracht, woselbst man diese
Teufelspuppe über Nacht an einem Stricke aus einem Turmfenster
hängen ließ. Am Himmelfahrtsnachmittag selbst zog man in der
Frauenkirche vor der Vesper ein Bild, das den Heiland darstellte,
in das Gewölbe hinauf. War dies geschehen, so wurde das Volk
mit brennendem Werg und Oblaten beworfen. Alsdann schleuderte
man auch den gehörnten, schwarzbemalten Teufel, dem eine rote
Zunge heraushing, vom Frauenturm auf die gaffende Menschen-
menge herab, um welchen sich dieselbe sogleich arg balgte. Später
trug man dann diese Teufelsmaske zum Isartor hinaus und ver-
brannte die höllische Puppe auf der Höhe des Gasteiges, damit
der böse Feind der Stadt nichts Übles zufügen könne. Gegen das
Ende des 18. Jahrhunderts verschwand dieser von Hans Sachs in
ulkigen Versen besungene Alt-Münchner Volksgebrauch. In einigen
oberbayerischen Dörfern kann man diese Sitte noch heutzutage in
ähnlicher Weise beobachten."
Erlangen L. Curtius
20*
308 Mitteilungen und Hinweise
Magische Steine
In der Revue des Traditions populaires XXVI (1910) 234
stellt L. Jacquot einige Beispiele zusammen von dem an gewisse
Steine sich knüpfenden Aberglauben, daß unfruchtbare Frauen, die
über dieselben gleiten, dadurch die Fähigkeit des Kindersegens er-
werben. Als Daten werden solche Orte in Bordj-Meuaiel (Arrond.
Tizi-Uzu im Algerischen), an der tunesischen Küste und in Anthy
(Haute - Savoie) angeführt. Wir fügen diesen Beispielen noch
solche aus Arabien hinzu. Zunächst eines aus der Prophetenstadt
Medina. Ostlich vom Friedhof Bekl 'al gharkad befindet sich eine
Moschee, die den Namen masdschid al-hagMa (Maultier -Moschee)
daher führt, weil in ihr außer dem Abdruck vom Arm des Pro-
pheten auch ein solcher vom Huf des Maultiers Duldul gezeigt
wird, das Mohammed vom Mukaukis, dem ägyptischen Machthaber,
zusammen mit der Koptin Maria als Geschenk erhielt. Der mek-
kanische Autor 'Abdalkädir al-Fäkihl (1513 — 1574) berichtet
in seiner Schrift über die Pilgerfahrt nach Medina {Husn al-
tawassul fi zijärat afädäl al-rusul, gedruckt in der Eegierungs-
druckerei zu Mekka 1316 d. H. a. ß. der Medina- Monographie von
al-Samhüdi) 183: „In derselben Moschee ist ein Stein, auf dem
der Prophet gesessen habe; wenn sich eine (unfruchtbare) Frau'
auf diesen Stein setzt, so wird sie zur Empfängnis fähig durch
die Segnung des Sitzens auf demselben." Richard Burton, der
in seiner Beschreibung der Prophetenstadt auch diese Moschee er-
wähnt (als masdjid hanu Zafar oder Tifr) berichtet auch über,
jene abergläubische Tradition mit der Bemerkimg: / cannot sayX
whether tliis valuable stone he still at tlie mosque und fügt die]
Mitteilung hinzu, daß ein ihm befreundeter Herr Lorking in seinem]
Garten in Alexandrien eine verstümmelte Sphinx besessen habe,]
„der dieselbe Wirkung zugeeignet wurde" [A Pilgr Image fo Mecca]
and Medina, Tauchnitz edition vol. 1401, 1874, II 187).
Die Professoren der Dominikanerschule St. Etienne in Je-j
rusalem, J aussen und Savignac, berichten in ihrem vor kurzem]
erschienenen Werke Mission archeologique en Arabie (Paris 1909)1
p. 470 aus Ma%n von einem als Heiligenort verehrten Felsei
Umm Dschedei'^ah, daß unfruchtbare Frauen durch diesen Felsei
Empfängnisfähigkeit zu erlangen glauben. Pour cela il leur suffi
de se frotter contre la pierre oii de se passer sur le corps an pt
de terre prise au pied de la rocke; elles concevront ensuitc in-
faiUihlement. Die Verfasser verweisen in der Anmerkung für ähn-
lichen Volksaberglauben auf P. Sebillot Le Folk-lore de France\
I p. 338 ff. Aus der neueren Literatur gehört wohl dazu noch]
der Abschnitt Les pierres fccondantes et le cuUe des pierres in
P. Saintyves' Les vierges ■ mores et les naissances miracfidemesi
Mitteilungen und Hinweise 309
(Paris, Nourrj, 1908), das mir nur dem Titel nach aus biblio-
graphischen Übersichten bekannt ist.
Budapest I. O-oldziher.
Zu Archiv XIII S. 153: Verbot des Knochenzerbrechens.
Als weitere Daten für das Vorkommen desselben Brauches in Völker-
kreisen, die ethnographisch voneinander weit abstehen, können
folgende angeführt werden:
Lubbock, Origin of Civilization^ 271 »» Die Entstehung der
Civilisation usw. (Jena 1875) 304 (aus Tanner's Xarraüve of a
capüvity among the North American Indians), vom Jajjdfestopfer
der Algonkin: Another rule at the same feast is that not a bone
r; /■ fhe victim must te hroken.
Dieselbe Regel gilt beim Totenmahle der Tigre, worüber wir
dem neuen Werk von E. Littmann {PubUcations of the Princeton
Exiiedition to Abyssinia; Vol. II: Tales, Customs, Names and Dirges
of the Tigre tribes, Leiden 1910, p. 262) folgende Mitteilung
entnehmen: Of the cowes that are killed they da not break the
bones that are generaUy broken in order that the bones of the dead
be not broken i. e. they fear that the relatives of the dead might die.
Budapest I. Qoldsiher
Zu Archiv 12, 147 (Schwimmendes Kruzifix). An der
angeführten Stelle wies ich auf die Sage von einem schwimmenden
Kruzifix in Norwegen und auf einige andere ähnliche Erzählungen
hin. Das ursprünglich Gemeinsame aller dieser ist, daß da, wo
das Heiligtum angetrieben ist, ein Kultus entsteht. Inzwischen
ist mir ein weiterer solcher Fall bekannt geworden, auf den ich,
da er an einer wohl den meisten Lesern dieser Zeitschrift nicht
zugänglichen Stelle sich findet, kurz hinweisen möchte. In einem
Aufsatz: ^En fest für Mare della neve' in der norwegischen Zeit-
schrift Samtiden 21, 41 5 ff. (1910) erzählt Am und Heiland von
der wunderbaren Errettung des am Fuße des Vesuv gelegenen
Städtchens Torre Annunziata vor dem Lavastrom, der sich am
8. April 1906 aus dem Vesuv ergoß. Sie geschah, indem man
das Bild der Maria della neve dem Strom entgegenhielt. Über
die Herkunft dieses Bildes berichtet er folgendes: Im 14. Jahr-
hundert sahen einige Fischer der Stadt in der Nähe der Insel
Revigliano eine Kiste schwimmen, die sich allmählich dem Strande
der Bucht von Torre Annunziata näherte. Wo der Fluß Sarno
ins Meer fällt, trieb sie an. Als man die Kiste öffnete, fand man
ein Bild der Mutter Gottes mit dem Jesukind auf dem linken
Arm. Einige Fischer von Castellamare . die Augenzeugen des
310 Mitteilungen und Hinweise
Vorfalls gewesen waren, wünschten den kostbaren Schatz um jeden
Preis von den Fischern von Torre Annunziata zu erwerben. Es
entstand ein Streit, der aber zugunsten der Fischer von Torre
entschieden wurde. Seinen Namen erhielt das Bild, weil es am
5. August gefunden worden war, und dieser Tag war der Maria
ad nives geheiligt, weil an ihm jenes bekannte Schneewunder in
Rom im Jahre 352 stattgefunden haben soll, dem zu Ehren die
Kirche der Maria auf dem Esquilin gebaut wurde, da, wo der
Schnee gefallen war. Die Maria della neve wurde zur Schutz-
patronin der Stadt, und jetzt wird auch der 8. April, der Tag der
Errettung, jährlich durch ein großes Fest begangen. Die Ähnlich-
keit dieser italienischen Legende mit der norwegischen ist Heiland
aufgefallen und er weist ausführlicher auf diese hin. Weitere
Parallelen wären erwünscht.
Heidelberg B. Kahle
Zum Nerthuskült
In seiner bekannten Schilderung des Umzuges der Göttin
Nerthus berichtet Tacitus (Germania cap. 40), wie nach be-
endetem Umzug der Wagen nebst den Tüchern, die ihn bedeckt
hatten, sowie die Göttin selbst, d. h. wohl ihr Bildnis im See
gebadet werden. Die Sklaven, die den Dienst versehen haben,
werden im See ertränkt. Man vergleicht jetzt ziemlich allgemein
den Umzug selbst mit deutschen Frtihlingsumzügen zur Erlangung
der Fruchtbarkeit und sieht in der erwähnten Prozedur des Badens
und Ertränkens einen Regenzauber.^ Gegen die Erklärung der
Schlußhandlung als eines Regenzaubers wendet sich nun neuerdings
R. M. Meyer ^, wenngleich seine Begründung, daß der Regenzauber
überall einen fröhlichen Charakter zu haben und durchaus weder
Priester- noch Menschenopfer zu fordern scheine, vielleicht doch
nicht ganz stichhaltig ist. Man wird den Gedanken nicht ganz
abweisen können, daß dem heut lustigen Scherz des Bespritzens,
Untertauchens des Pfingstbutzen, der Pfingstlümmel usw. doch
ursprünglich ein altes Opfer zugrunde lag. So mag vielleicht im
Ertränken der Sklaven ein Regenzauber vorliegen, aber damit ist
das Waschen des Wagens, der Tücher, der Gottheit resp. ihres
Bildes noch nicht erklärt. R. M. Meyer spricht als Vermutung aus,
daß die ganze Feier durch eine Reinigungszeremonie beendet worden
sei. Und ich glaube, wenn wir einmal das Ertränken der Sklaven
» Mogk, Germ. Myth - S. 188 ff. (Pauls Grdr.), Germ. Myth. S, 17 ff.
(Samml. Göschen); E. H. Meyer, Myth. d. Germ. S. 420 ff.; P. Herrmann,
Deutsche Myth.* S. 279 ff., Golther, Handb. d. germ. Myth. S. 456 ff.; v. d.
Leyen, Deutsch. Sagenb. I, 204 ff * Altgerm. Religionsgesch. S. 206.
* Mitteilungen und Hinweise 311
beiseite lassen wollen, daß er recht hat. Auch in der Vermutting,
daß ein legog ydfiog vorausgegangen sei, stimme ich ihm zu.
Nach ihm habe ein Sklave diesen vollzogen, der an Stelle des
Priesters getreten sei; ursprünglich habe man den Priester getötet.
Aber Tacitus spricht von Sklaven in der Mehrheit, aber nur von
einem Priester. Nun könnte man annehmen, daß der Bericht
ungenau sei. Wenn wir aber sehen, daß nach dem über ein Jahr-
tausend späteren Bericht (Flateyjarbok 1,337 ff.) vom Umzug des
Gottes Frey in Schweden, der als Sohn der mit der Nerthus
identischen Njord, auch ihr selbst der Hauptsache nach ursprünglich
wesensgleich gewesen sein wird, eine Priesterin den Gott begleitet,
und wenn diese, freilich nicht vom Gott, sondern von dem vom
Volk für diesen angesehenen Norweger Gunnar, schwanger wird,
was die Leute als glückliches Zeichen der Herablassung des Gottes
ansehen, so werden wir nur schwer annehmen, daß so früh schon
im Kultus der Göttin ein Sklave als Ersatzmann die heilige
Handlung vorgenommen habe. Tacitus nennt die Nerthus terra
niatcr, und wir haben, wie R. M. Meyer a. a. 0. S. 205 richtig
bemerkt, gar keinen Grund an der Deutung dieses Namens zu
zweifeln, wenngleich mir seine Einschränkung, sie sei ^Göttin der
Saatfelder' etwas gekünstelt erscheint. Mit Recht hat man auch
dafür, daß man im Kult der germanischen Erdgöttin den tc^ög
yü^ioq kannte, auf den bekannten altenglischen Segensspruch hin-
gewiesen, z. B. P. Herrmann a. a. 0. S. 27»5, 285:
Heil dir Erde, Menschenmutter,
Werde du fruchtbar in Gottes Umarmung,
Fülle mit Frucht dich, den Menschen zum Nutzen!
Mit dem Umzug der Nerthus hat man femer den der Kybele, der
in Rom am 27. März stattfand, verglichen.^ Wie der Wagen der
Nerthus wurde der ihre von Priestern gezogen, und es wurde die
Göttin nach beendetem Umzug mitsamt dem Wagen nach der
Mündung des Flusses Almo in den Tiber gefahren und dort ge-
waschen. Nach der anfänglichen Trauer über den Tod des ent-
mannten Attis war Freude eingetreten, denn der Jüngling, der
Geliebte der magna maier, war zu neuem Leben erwacht und hatte
die heilige Hochzeit mit der Göttin vollzogen.
Man hat auch dieses Bad als einen Regenzauber ansehen
wollen. Auf das Verfehlte dieser Erklärung hat bereits H. Hepding
in seinem Buch 'Attis, seine Mythen und sein Kult'* S. 216 hin-
gewiesen. Auch die sonst übliche Deutung dieser Zeremonie 'als
Reinigun,' der Göttermutter nach der Todesfeier in ihrem HeiligtTim'
> Vgl. E. M. Meyer a. a 0. S. 208, P. Herrmann a. a. 0. S. 286.
* Religionsgesch. Versuche u. Vorarb. I.
312 Mitteilungen und Hinweise *
verwirft er und hält den Hergang für 'einen Lustrationsritus, wie
wir ihn auch in anderen Kulten und Mythen nach dem heiligen
Beilager des Götterpaares finden'.
Diese Erklärung nun erscheint mir nach dem eben heraus-
gekommenen Buch von E. Fehrle, 'Die kultische Keuschheit im
Altertum'^ als keinem Zweifel mehr zu unterliegen. Auf Grund
eines reichhaltigen Materials zeigt Verf., daß die Auffassung, die
geschlechtliche Beiwohnung verunreinige die Beteiligten, weithin —
nicht nur bei den Völkern des klassischen Altertums — verbreitet
war. Von der so ei-worbenen Unreinheit müssen sowohl Menschen
wie Gottheiten sich reinigen. In einer Anzahl von Kulten,
besonders bei Fruchtbarkeitsriten, spielt die heilige Hochzeit eine
Rolle. Göttern werden Priesterinnen, Göttinnen Priester beigegeben,
mit denen man glaubte, daß die Gottheit das Beilager vollziehe.
Dann aber mußte die Gottheit wieder rein werden. So wurde 'das
alte Bild der Göttin, des Herabildes am Feste der Tonaia auf
Samos, jedes Jahr zum tSQog yaiiog ans Meer gebracht. Zum
Schluß der Feier wird die Göttin, d. h. ihr Bild, im Meere ge-
reinigt und wieder in ihr Heiligtum zurückgebracht' (S. 173, vgl.
142 f.). 'Mit der Waschung', fährt Verf. fort, 'wird die Befleckung
durch das Beilager von der Göttin genommen'. Hierher gehört
aber auch, wie schon Hepding wollte, die Waschung der Kybele,
deren Pest man, wie wir gesehen, mit dem der Nerthus in Parallele
gesetzt hat. Man findet noch weiteres Material bei Fehrle, der
die Hauptpunkte dieser Riten, wie folgt, zusammenfaßt (S. 176):
'Das Bild einer Göttin wurde ohne die übliche Gewandung
in feierlicher Prozession ans Meer oder an einen Fluß gebracht,
dort bereitete man ihm ein Brautlager, setzte ihm ein Mahl vor,
sang und tanzte, ganz wie bei Hochzeiten, ließ es auf einige Zeit
allein, „während man den Besuch des Gatten annahm" (Nilsson,
Gr. F. 48), dann wurde es gebadet und heimgeführt. Nur durch
einen iSQog ydfiog erklären sich ungezwungen alle Vorgänge und
der mysteriöse Charakter dieser Feste'.
Wenn wir es auch bei den antiken, von Fehrle behandelten,
Begehungen und Umzügen durchweg mit lokalen Kulten zu tun
haben, während nach Angabe des Tacitus die Prozession der
Nerthus sich über eine ganze Landschaft erstreckt, so dürfte dies
doch von minderer Wichtigkeit sein. In den Hauptzügen stellt
sich das Fest der Nerthus durchaus zu diesen griechischen. So
dürfte wohl also die Vermutung, daß es sich auch bei ihm um
einen tsQog ydfiog und die dadurch bedingte Reinigung handelt, zur
Gewißheit geworden sein, soweit man in diesen Dingen von
» RGW Bd VI.
Mitteilungen und Hinweise 313
Gewißheit sprechen darf. Freilich ist damit noch nicht die Er-
tränkung der Sklaven erklärt. Doch wäre es ja immerhin möglich,
daß sich mit der Haupthandlung auch ein Regenzauber verbunden
hätte, solche Verknüpfungen verschiedener Riten zu einem Ganzen,
sind ja nichts Ungewöhnliches (vgl. z. B. den Aufsatz von L. Deubner
Lupercalia, in diesem Archiv XIII, 481 ff.). Man braucht nicht alles
aus einem Gesichtspunkt heraus zu erklären.
Heidelberg B. Kahle '
Exsuperatorins
In seiner Untersuchung über den luppiter summus exsupe-
rantissimus hat Cumont* auch die Titel des Commodus Exsupe-
ratorius und Invictus als religiöse Ehrennamen verstanden. Der
Kaiser hätte sich in dem Wahnsinn seiner letzten Tage auch diese
Eigenschaften des syrischen Bei und des syrischen Sol beigelegt.
Aber die Stellung dieser Titel in der Reihenfolge der Monats-
namen, die Commodus damals ersonnen hat', fühlt auf einen
ganz anderen Gedankenkreis. Sie heißen: Hercules, Romanus, Ex-
superatorius , Amazonius, Invictus, Felix, Pius. Aus dem Hercules
früherer Jahre war Commodus völlig zum Gladiator geworden und
gedachte am I. Januar des Jahres 19:^ das Konsulat als Gladiator
anzutreten. Auf diese beiden Phasen seines Wahnsinnes gehen die
Titel. Invictus ist ein altherkömmlicher Ehrenname des Herkules
und der durch sein Relief so bekannte Gladiator aus der Zeit des
Trajan heißt (Dessau 5088) : Marcus Antonius Exochus. Erst Caracalla,
der sich selbst zum Sonnengott gemacht hat, heißt in dem Sinne, wie
Cumont will, Invictus. Die Orientalisierung der Religion auch im
Westen des Reiches ist eben die politische Tat der Severe gewesen.^
Heidelberg A. v. Domasze'w^ski
Zur Chadhirlegende. In den Aufsätzen über die Chadhir-
legende in diesem Archiv XIII S. 92 ff., 161 ff. polemisiert Herr Israel
Friedländer an verschiedenen Stellen gegen zwei Arbeiten von mir
über dasselbe Thema in der Zeitschr. f. Assyriologie VII (1892),
S. 104ff., VIII (1893), S. 263ff. Es sind beide Studentenarbeiten,
und ich würde eine Ablehnung ihrer Schlüsse nicht tragisch nehmen.
Aber Herr Friedländer gibt sie unrichtig wieder und bekämpft
Dinge, die in ihnen nicht stehen.
* pOiese MiszeUe ist wohl das letzte, was der treue Mitarbeiter des
Archivs, dessen frühen Tod auch wir beklagen, geschrieben hat. R. Wünsch]
* In dieser Zeitschrift 9, 322. » Heer Philologus Suppl. 9, 166.
' Religion des römischen Heeres S. 59.
314 Mitteilungen und Hinweise
Zu S. 96. — Zk. VII, S. lOö wird von mir nicht der Zu-
sammenhang der Chadhirlegende mit der Eliassage, sondern die
Identität ihrer Träger verneint
Zu S. 110. — Die Fassung des letzten Absatzes ZA. VII,
S. 116 schließt die Annahme aus, daß in ihm der Name Hasver
direkt auf Chasisatra zurückgeführt werde. Es ist da ausdrücklich
von der späteren Form der Chadhirlegende die Rede und als
Mittelglied zwischen Chadhir und Hasver wird die Aussprache von
Chadhir mit gezischtem d angenommen.
Zu S. 206. — Es ist unrichtig, daß die Erzählung im Tal-
mudtraktat Tamid von mir als Original der Lebensquell sage im
Pseudokallisthenes hingestellt wird. ZA. VII, S. 111 unten sage
ich ausdrücklich: „Natürlich kann die [babylonische] Sage in den
Pseudokallisthenes unabhängig vom Talmud hineingekommen sein".
S. 232, x\nm. 4 ist es Herrn Friedländer „unbegreiflich, wie
Lidzbarski (Zeitschrift für Assyriologie VIII, 264 unten) den
Propheten für diese Namenserklärung verantwortlich machen kann."
An der angeführten Stelle wird niemand für die Erklärung des
Namens Chadhir verantwortlich gemacht. Weder in ihr noch in der
angeführten Tradition (Bokhäri ed. Krehl, IT, S. 355) ist von einer
Erklärung des Namens die Rede.
Greifswald M. Lidzbarski
Berülirungszauber
In dem Dialog Theages, der unter den Schriften Piatons steht,
aber sicher unecht und erheblich jünger ist, findet sich eine merk-
würdige Notiz über die sokratische Lehrmethode (130 d). Man
lernte ganz von selbst, wenn man sich nur in demselben Hause
wie der Meister aufhielt, noch besser im selben Zimmer, noXv 8e
fiaXcöra Kai tcXeiöxov ineötöovv, OTtore naQ avrbv ae iia&oifii]v
ixo^evog Gov %al amofievog. Die Weisheit des Sokrates ging also
durch unmittelbare Berührung am besten auf die Schüler über.
So sehr die Nachricht den wii-klichen Tatsachen widerspricht, so
verdient sie doch Beachtung als Zeugnis füi- antiken Aberglauben.
Sie tritt in unmittelbare Beziehung zu einer Erzählung im Mar-
tyrium des hl. Polykarpus, das Pionius im 2. Jahrb. n. Chr. schrieb:
0T£ ÖE ij TtvQcc TjTot^dö&t] ^ wird da gesagt, ccTto&tfiEvog iavxm
Ttdvxa rcc ifidna xal kvaag rrjv ^covr}v ETteiQccro Kai vtioXveiv iav-
Tov, fir} nQOTEQOv rovro notcöv öid t6 cceI ekuötov x&v niOx&Vx
Citovddi^Eiv^ ü6xt.g xdfiov xov ^^corog avxov aipt]xai. Der hl. Poly-
karp hat also jede Entblößung seines Körpers bei Lebzeiten ver-
mieden, weil er nicht wollte, daß die Frommen ihn leiblich be-
rührten; sie suchten (wie schon Eduard Schwartz gelegentlich
Mitteilungen und Hinweise 315
bemerkte) die unmittelbare Berührung zweifellos, weil sie so der Heilig-
keit des Bischofs teilhaftig zu werden hofften. Die Sache hat auch des-
halb ein Interesse, weil dieser Glaube noch heute im Orient lebendig
ist. Wellhausen „Reste arabischen Heidentums" S. 105 gibt Belege.
Wien I<- Hadermacher
Yolkskundliches aus Rußland
I. So lange der Leichnam noch im Hause ist, stellt man auf das
Fensterbrett eine Tasse mit Wasser zur Reinigung der Seele des
Verstorbenen (Dahl, Russische Sprichwörter I, 275, cfr. S. Eitrem.
Hermes und die Toten, p. 43).
II. Die Großmssen glauben, daß die Seele eines „gewöhn-
lichen" Menschen durch das Fenster hinausgeht. Man öffnet da-
her, wenn jemand im Sterben liegt, die Fenster (cfr. Zeitschr. d.
Vereins f. Volkskunde 1 909, p. 400). Die Seele eines Zauberers
oder einer Hexe tragen die bösen Geister durch eine Öffnung in
der Zimmerdecke hinaus (Ethnographische Übersicht, Moskau, 1896.
2 — 3, p. 178).
in. Beim Heraustragen einer Leiche wird Wasser nach-
gegossen, und das Zimmer, wo die Leiche ausgestellt war, gekehrt
(aus Gouvem. Olonjetzk bei P. Schein, Der Großrusse in seinen
Liedern, Bräuchen, Sitten etc., S. Petersb., 1900, p. 778, cfr. den-
selben Brauch in Nordthüringen, bei R. Reichardt i. d. Zeitschr. d.
Vereins f. Volkskunde, XIII. H. 4 u. S. Eitrem a. a. 0., p. 43*).
Starodub Or. Janiewitsch
Volksknndliches ans der Ukraine
In seinem Schriftchen „Ukrainisches Geheim wissen und
Zauber", Charkow 1909 (das als Sonderabdruck aus der Fest-
schrift zu Ehren des Prof Sumzow erschienen ist), schildert der
durch seine Arbeiten über die ukrainische Volkskunde (in der Zeit-
schrift ,.Kiewskaja Stariua") wohlbekannte W. Miloradowitsch inter-
essante Beobachtungen des Volkslebens im Bezirk Lubni (Gouvem.
PoltavaX Es wird vielleicht nicht ohne Interesse sein, hier einige
Proben aus dem vom Verfasser gesammelten Stoffe zu geben.
a) Es herrscht noch bis jetzt unter den Bauern der weit-
verbreitete Wahn, daß gewisse Einwohner des Dorfes mit Hilfe
bestimmter Gebete oder der Heiligenbilder (besonders der Mutter
Gottes), die Flammen der Feuersbrunst „abführen" können. Als
solche erscheinen in jedem Dorfe die nach dem Glauben des
Volkes ,.von magischen Kräften erfüllten" Bauern (oder Bauers-
frauen, die als Pügerinnen die Höhlenklöster in Kiew besuchten),
316 Mitteilungen und Hinweise
der Dorfpriester, der Soldat. Sogar einmal wurde ein Offizier von
den Bauern als Zauberer betrachtet. Der mit magischer Kraft
begabte Bauer erscheint während der Feuersbrunst mit dem Bilde
(ikona) der Mutter Gottes, geht dreimal um das brennende Haus
herum, und die Flammen (oder, wie das Volk sagt, das Feuer-
wetter), werden „auf das Wasser abgeführt". (Die Flammen der
Feuersbrunst erlöschen, wenn man Vaterunser vom Ende bis zum
Anfang sagt.) Ein bloßes Erscheinen des Dorfpriesters stillt die
Feuersbrunst, da die Bauern fest überzeugt sind, daß der „ba-
tüschka" (so nennen die Kleiarussen den Dorfpriester) ein dazu
bestimmtes Gebet kennt.
Der Soldat (moskälj), der schon in den Volksmärchen als
Diener des Teufels oder des Drako erscheint (Afanasiew, Russische
Volksmärchen, Band II, 120a, 157), gilt auch jetzt in jedem klein-
russischen Dorfe für einen Hexenmeister. „Als das Feuer beim
Gordij (Eigenname) ausbrach (lesen wir bei Miloradowitseh, p. 4),
so kam der „moskalj" herbeigelaufen, winkte nur mit der Hand,
und die Flammen zogen ans Ufer."
b) Um günstige Entscheidung des Richters herbeizulühren,
fängt die Bauersfrau einen Frosch, näht ihm das Maul mit roter
Wolle zu und spricht: das Maul näh ich gut zu, damit mir alles
günstig ist, damit ich mich nicht fürchte, damit der Firstenbalken,
Bänke und das ganze Gericht auf meiner Seite sind. Den Frosch
hält die Bäuerin 9 Tage in einem neuen Kruge, bis der Frosch
krepiert, dann zerschlägt sie den Krug, nimmt den Frosch heraus
steckt ihn in den Busen und sagt: Ins Gericht gehe ich, und mit
der rechten Hand drücke ich. Meine rechte Hand ist unter mir,
und das ganze Gericht ist auf meiner Seite.
Man spricht diese Beschwörungsformel in den Fällen, wenn
man sich wirklich schuldig fühlt, und das Froschmaul wird mit
roter Wolle zum Binden der inimica ora der Zeugen zugenäht
(gleich wie bei Ovid F. II, 578 das Maul der Maena, cfr. R. Wünsch
in der Berl. phil Woch. 05, Sp. 1079, auch A. Abt, Die Apologie
d. Apuleius v. Madaura u. d. antike Zauberei, p. 69, 3).
c) Wenn ein Bauenamädchen den Geliebten sich herbeizaubern <
will, so schneidet sie ihren Zopf ab, verbrennt das Haar undj
beräuchert damit den Geliebten. Auch wird der Liebeszauber mit
den Haaren noch auf folgende Weise getrieben: das Mädchen reißt'
dem Geliebten einige Haare aus, verbrennt sie mit den ihrigen
auf einer Karwochkerze, nimmt die Asche zusammen, und trägt
sie im Busen. Die Liebe wird auch mit Hilfe des Schweißes er-
zwungen: man gibt z B. ein Konfekt oder einen Apfel, den man
unter der Achsel getragen, zu essen, oder man schneidet einen
Apfel auf und gießt einige Tropfen Blutes vom Daumen hinein,
Mitteilungen und Hinweise 317
dann gibt man den Apfel dem Geliebten zu essen (cfr. E. Kuhnert,
Zauberwesen im Altertum und Gegenwart, Nord und Süd 92,
H. 276, p. 330). Auch einigen Speisen wird eine zauberkräftige
Wirksamkeit zugeschrieben. So z. B.: man nimmt Hirsenmehl aus
9 Mühlen und Wasser aus 9 Brunnen und kocht eine Grütze
(kub'sch), die man dem Geliebten zu essen gibt Als „Mittel zum
Liebeszauber" verwertet man die Erde von der rechten Fußspur,
^lan beschüttet mit dieser Erde die Person, deren Liebe man er-
zwingen will. Mit den Knochen der Fledermaus wird der Liebes-
zauber auf folgende Weise getrieben: man vergräbt eine lebendige
Fledermaus in einem Ameisenhaufen. Dabei soll man den Pfiff
der Fledermaus nicht hören (ihr Pfiff betäubt den Menschen), das
Umdrehen ist auch verboten (denn wer sich umdreht, der wird
gleich auf der Stelle hilind). Wenn die Ameisen die Fledermaus
aufgegessen haben, so nimmt man die Knochen und sucht da eine
„Gabel" und eine „Harke" aus. Wenn man den Geliebten mit
der .,Harke" berührt, so wird er sein Leben lang lieben, von der
Berührung des Geliebten mit der „Gabel" hört die Liebe auf.*
Starodub Or. Jauiewitsch
Zu den Mysterienbräuchen*
In den Katechesen, welche der Taufe vorangingen, wurde von
den- Bischöfen und Geistlichen der alten Kirche gewissenhaftes
Schweigen über die Sakramente der Taufe und Eucharistie beobachtet.
An dem feierlichen Tauftage sollten die Täuflinge durch das Er-
lebnis überrascht werden, und erst nach Taufe und erstem Abend-
mahl wurde dann in den Unterweisungen der Weißen Woche die
Erklärung der Sakramente nachgeholt- So hat es Kyrillos in
Jenisalem, so Ambrosius in Mailand und Maximus in Turin gehalten.
Sehr lehrreich finde ich die Äußerung des Ambrosius darüber, de
mysieriis 1,2 p. 408 f. ed. Maurin.: Nunc de mysteriis dicere
tempus admonet aiqtie ipsam sacranientorum rationem edere: quam
ante baptismum si putassemus insiniiandam nondum inUiaiis, pro-
didisse iiotius (vgl. Kyrillos Prokatech. 12) quam edidisse jaesüma-
* Über den Zauber mit der vvxnQig cfr. A. Dieterich Pap.
Magica Mu^ei Lugd. Bat., p. 785 **. Man vgl. auch bei G. F. Abbott,
Macedonian Folklore, p. 110: , But of all animals the luckiest is the bat,
and happy is he who keeps a bat's bone about bis person. So much
80, that people remarkable for their luck are figuratively said to carry
such a talisman (f;u£t to xoxxaXo ttjs wx^sgidag).
- [Diese Miszelle fand sich in A. Dieterichs Nachlaß (auch die Über-
schrift stammt von Usener her). Ich drucke sie ab, weil ich meine, daß
sie für die wichtige Frage imd Ähnlichkeit und Unähnlichkeit heidnischer
und christlicher Mysterien von Bedeutung sein kann. R. Wünsch]
318 Mitteilungen und Hinweise
remur, deinde quod inopinantihus melius se ipsa lux mysteri-
orum infuderit quam si eam sermo aliquis praecucurrisset.
H. Usener f
Krähen als Dämonen bei den Römern
In der Mnemosyne XXXVII 1909 S. 322f. hat J. Vürtheim
die verdorbene Stelle bei CatuU XXV 4 f. behandelt. Er liest:
Idemque Thalle turbida rapacior procella
cum diva mulier alites ostendit oscitantes.
Zur Erklärung wird auf Horaz Carm, III 27, 11 (oscinem
corvum prece suscitabo) verwiesen, wo die Krähe als Regenprophet
erscheint. Die diva midier wird in Verbindung gebracht mit . den
Divae Corniscae, die zu Rom in der Nähe von S. Pietro in Montorio
ihren Kultort hatten (Fest p. 64 M; CIL I 814): eine „Krähenfrau",
die an diesem Ort^ der urspininglich Krähengöttinnen gehört hatte,
ihre Vögel Regen und Sturm vorausverkünden ließ.
Königsberg Pr. R. Wünsch
Moderner Flnchzanber
Paul Perdrizet in Nancy übersendet in liebenswürdiger Weisfr
der Redaktion des Archivs eine Nummer des Temps vom 19. März
1910, in der das unten folgende Zaubergebet einer modernen Frau
wiedergegeben ist. Das Dokument veranlaßte den Ehemann, die
Scheidungsklage einzureichen. Es sei hier als interessantes Ana-
logen zu ähnlichen Fluchgebeten wiedergegeben, die aus den ver-
schiedensten Ländern und Zeiten bekannt sind.
„Grand saint Exterminus, je te conjure d'aller tourmenter
Farne et Tesprit de Mme Fernande X . . ., demeurant a Paris , par
les cinq sens de la nature; qu'elle soit tourmentee, obsedee par
le besoin de quitter son mari... Ainsi soit-il! — Grand saint
Exterminus, je te conjure d'aller tourmenter l'esprit du mari de
Mme X . . . par les cinq sens de la nature. — Qu'il ne puisse
vivre sajis moi. — S'il dort, qu'il ne songe qu'a moi; qu'il n'aime
que moi affectueusement . . . Que sa femme le quitte! Reunis-nous,
grand saint Extei-minus . . . Ainsi soit-il! — Grand saint Exterminus J
je te conjure d'aller tourmenter l'esprit de mon mari par les cinqf
sens de la nature. Qu'il n'ait qu'une idee: me donner de l'argenttj
— Grand saint Exterminus, toi dont le pouvoir est si grand,!
reunis-moi a Thomme que j'aime, je t'en conjure. Ainsi soit-il!"
Eine Parallele aus deutschem Volksglauben brachte die
Hartungsche Zeitung 1911 No 62, Abendblatt, 1. Beilage. Zu
Anfang dieses Jahres wurde in Königsberg Pr. polizeilich gegen
MitteiluDgen und Hinweise 319
eine gewerbsmäßige Wahrsagerin vorgegangen, die mit Hilfe des
sechsten und siebenten Buches Mosis allerhand Zauberei trieb.
Wenn es sich* darum handelte , den Geliebten zur Rückkehr zu seinem
Mädchen zu veranlassen, so gebrauchte sie folgende Formel: ^ch
lege Dir dies alles auf die Glut, vür Dein Sund und Übermut, ich
lege Dir auf Lung, Leber und Herzen, es sollen Dich ankommen
große Schmerzen, und sollen Dich alle Adern krachen, Todes-
schmerzen will ich Dir machen, bis Du reumütig zu mir zurück-
kehrst und meine Liebe erwiderst, wie Du von mir gegangen.
Dieses alles schwöre ich beim Fürst der Nacht und Grauen.' Das
ist im Kern nicht verschieden von den Formeln, die bei Theokrit
Simaitha gegen den ungetreuen Delphis spricht.
Königsberg Pr. K. Wünsch
Der Zauberer Dardanns
Die antike Literatur über diesen Magus hat E. Wellmann
in der Real-Encyclopädie von Pauly-Wissowa Band IV S. 2180
zusammengestellt. Hinzugefügt werden muß, daß A. Dieterich
Papyrus magica musei Lugdunensis Batavi, Jahrb. f. klass. Philol.
Suppl. BdXVI S. 750, 754 (in den demnächst erscheinenden Kleinen
Schriften S. 3, 6) über denselben Archegeten der Zauberei gehandelt
und darauf aufmerksam gemacht hat, daß in dem Pariser Zauber-
papyrus noch ein Rezept unter seinem Namen erhalten ist (V. 1716
^Lcpog JaqSdvov). Eine der wichtigsten, aber wie es scheint, noch
nicht völlig geklärten Stellen über ihn ist Plinius, Nat. hist. XXX 9 :
Democritits ApoUohecJien Coptiten et Dardanum e Phoenice inlustravit
toJutninibus Dardani in sepulchrum eins petitis. unklar sind hier
die letzten Worte. J. A. Fabricius (Bibliotheca Graeca I* S. 20)
las qttaesüis und interpretierte: quaesiiis tarn anxie, ut et ipsum
sepulchrum eius adire non diihitaverit. Dieterich paraphrasiert :
Dardani magi volmnina ex eins septdcro petiisse fertur, und sagt
in der Anmerkung dazu: Jiic sensus Sit oportet loci . . quamqaum
libri plcrljue tradunt '. . in sepulcrum . .', unus tantum codex 'a
sepulcrd* . Wellmann scheint dieselbe Änderung des Textes vor-
zunehmen, da er sagt, Demokritos habe den Dardanus 'aus seinem
Grabe aufgestöbert'. Ebenso liest R. Reitzenstein Poimandres
S. 163 sepulcro. Aber ehe man ändert, versuche man, mit dem
Überlieferten auszukommen. Die Stelle besagt, daß Demokrit die
Schriften des Dardanus kommentiert habe, nachdem sie in dessen
Grab geholt worden seien. Das ist eine jener kurzen Notizen,
wie sie so zahlreich bei Plinius stehen, eiu kurzes Exzerpt aus
einer längeren Erzählung. Sie kann nur so gelautet haben, daß
Demokrit die Schriften des Dardanus sammelt, sie mit sich in das
320 Mitteilungen und Hinweise
Grabmal ihres Autors nimmt und dort kommentiert. Was er
damit bezweckt, ist klar: der Geist des Magus lebt in seinem
Heroon weiter und vermag dort am besten dem Adepten den ge-
heimen Sinn der eigenen Bücher zu offenbaren. Das ist derselbe
Glaube, der auch meint, daß die Heroen aus ihren Gräbern heraiis
prophezeien. Strabo VI p. 284 sagt beim Heroon, also beim Grabe
des Kalchas ivayl^ovßi S^avra fielccva ngtov ot (lavxevo^svoi;
mehr Literatur gibt Deneke in Roschers Mythologischem Lexikon
I 2485. Pythagoras verweilt dreimal neun Tage in der Idäischen
Höhle beim Grabe des Zeus (Porph. Vit. Pyth. 17): doch wohl, um
Offenbarungen vom Geiste des hier begrabenen Gottes zu empfangen.
Dieser Zug ist auf Demokritos, als ihn die spätere Philosophen-
legende zum Wundermann stempelte, sinngemäß übertragen worden.
Wir besitzen sogar noch die Vorläufer der Erzählung, die Plinius
voraussetzt. Antisthenes hatte von Demokrit berichtet (Diog. Laert.
TX 38) -jjöxßt . . Ttomlkcog Soki^cc^slv rag cpavzaöLag, £Qrjfid^cov iviore
Kai xotg XDccpOLg ivöiarQißcov: er hielt sich an den Orten auf, die
der Volksglaube mit Dämonen und Gespenstern bevölkert, um sich
die Furcht vor diesen unsaubern Geistern abzugewöhnen. Dies
Motiv findet sich bei Lukian weiter ausgebildet: weil Demokritos
nicht an Gespenster glaubt, verlegt er seine Studierstube in ein
Grabmal vor den Toren von Abdera, wohl um ungestört zu sein
(Philops. 32 Ka&eLQ^ag iavrbv slg iivrj^a £%(o TtuAcöv kvravd-a öuriXsi
yQatpcov). Eine ähnliche Erzählung mag dem Vorgänger des Plinius
den Gedanken eingegeben haben, das namenlose Grab bei Abdera
durch den Tumulus des Dardanus in Phönizien zu ersetzen und denj
Demokrit dort Schriftstellern zu lassen voluminibus in sepulcnmi petitis.
Königsberg Fr. R. Wünsch
Zu Useners Weihnachtsfest, das uns die sorgende Haudj
Hans Lietzmanns jetzt eben in zweiter Auflage bescheert hat, be-j
merke ich, daß die ursprüngliche Fassung des bei der Jordantaufe
vernommenen göttlichen Wortes (S. 40 ff.) auch in die byzantinische]
Schule gedrungen ist. Wiederholt liest man in den Scholien zu]
Dionysios Thrax (z. B. Gram. gr. III p. 190 f.) als Musterbeispiel :|
KvQiog tlnt nqög fie vtog (lov el ßv. lym arjfisgov y^yivtjKcc 6s.
Königsberg Pr. R. Wünsch
[Abg08chlo88eii am 35. März 1911]
,o.
I Abhandlimgeu
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum
Von I. Scheftelowita in Cöln a. Rh.
[Schluß] »
8 Ursprung der jüdischen Vorstellung, daß die Seligen
in dem messianischen Reich Fische genießen.
Die Idee von dem einen Fische, dem Leviatan, der zu
gleicher Zeit mit dem Messias auftritt, ist eine durch die
Astrologie beeinflußte jüngere Weiterbildung der alttestament-
lichen Vorstellung, die im Ezechiel zum Ausdruck gelangt,
daß nämlich im messianischen Weltreiche die bevorzugte Speise
der Seligen in Fischen bestehen wird.* Auch der Midras
Jalqüt zu Jerem. 9 sieht in dem Fischgenuß ein charak-
teristisches Merkmal der Heilszeit: „Seitdem die Israeliten aus
dem Heiligen Lande verbannt sind, sind auch unzählige Arten
von Fischen verschwunden, die erst nach der Erlösung Israels
in der messianischen Zeit wieder zurückkehren werden." Also
bestimmte Arten von Fischen bilden die Speise des Heils.
Darum sind Fische auch auf den im Abschnitt 6 (oben S.21ff.) er-
wähnten alten jüdischen Grabsteinen abgebildet.
Worauf beruht nun die Vorstellung, daß die Seligen im
messianischen Reiche Fische genießen?
^ Siehe oben S. Iff.
' Gemäß einem späten Midras wird in der messianischen Zeit
eine Wasserquelle vom Hause des Ewigen ausgehen, „um für das Volk
Israel die Fische zu mehren" (vgl. Jellinek Bet-Bammidrasch, übers, von
A. Wünsche Aus Israels Lehrhallen III, Leipzig 1908 p. 138).
Archiv f. Beligionswigaenschaft XIV 21
322 I- Scheftelowitz
Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die
Vorstellung über das Leben der Einzelseele nach dem Tode
ist älter als der Glaube an die Wiederauferstehung in der
messianischen Zeit. Manche Vorgänge, die sich ursprünglich
auf das Schicksal der Einzelseele nach dem Tode bezogen
hatten, sind sekundär auf die messianische Zeit der Wieder-
auferstehung übertragen worden. Ursprünglich wurde ange-
nommen, daß das Geschick der Seele gleich nach dem Tode ent-
schieden würde, aber durch die sekundäre messianische Idee ent-
stand die Vorstellung, daß sie erst bei der Wiederauferstehung
den wahren Lohn oder die gerechte Strafe erhalte. Zu-
weilen sind aber noch vereinzelte ältere Anschauungen neben
den entsprechenden jüngeren bestehen geblieben. So findet
gemäß dem Judentum und dem Parsismus nicht nur nach dem
Tode eines jeden Menschen, sondern auch in der messianischen
Zeit ein göttliches Gericht statt. Also Vorgänge, die ur-
sprünglich gleich nach dem Tode eintraten, werden auf das
Weltenende verlegt. Folgendes Beispiel soll dieses besonders
klar machen. In der alten Zarathustra- Religion und im
späteren Parsismus ist die Cinvat- Brücke das charakteristische
Merkmal des göttlichen Gerichts nach dem Tode der
Einzelseele. Diese Richterbrücke, welche über die Hölle
ausgespannt ist, muß jede Seele überschreiten. Der Seele des
Frommen erscheint sie breit und bequem, da seine guten
Werke im vergangenen Leben ihm helfen^, dagegen ist sie
für den Gottlosen so eng und haarscharf wie „die Schneide
eines Rasiermessers", so daß er unrettbar in den Schlund der
Hölle hinabstürzt.''' Diesen altpersischen Gedanken von der
Richterbrücke hat nun das spättalmud Ische Judentum aus dem
Parsismus entlehnt, ihn jedoch mit dem messianischen
Weltgericht verknüpft. So heißt es im Midras^: „In der
' Dädistän ^ Dinlk, cap. 34. » Vgl. Grdr. Iran. Fhil. II, 684 f
•'' Jdlqut zu Jes. c. 60. Aus dem Judentum hat dann der Islam diese
VoiBtellung von der Höllenbrücke übernommen. In der mohammedanischen
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 323
messianisclien Zeit versammelt Gott alle Nationen, und deren
Götzen erhalten auf Befehl Gottes Bewegung und Leben, um
alsdann gegen ihre Anbeter zu zeucren. Darauf müssen alle
Nationen über eine lange Brücke schreiten, die über die Hölle
gespannt ist und nach dem Paradiese führt. Für die Gott-
losen, die den Fuß darauf setzen, wird die Brücke so schmal
wie ein dünner Faden, so daß sie alle in die Tiefe der Hölle
hinabstürzen. Dagegen führt Gott selbst die frommen Isra-
eliten hinüber."
Diese Vorstellung von dem Schicksal der Einzelseele
nach dem Tode ist im Judentum etwa im 3. oder 4. Jahr-
Eschatologie wird sie folgendermaßen geschildert: „Die Höllenbrücke ist
schmal wie die Schärfe des Eisens oder Schwertes, glatt und schlüpfrig,
an ihren Seiten stehen Engel mit Hakenstangen und rufen: Bei Gott
Heil, Heil! Dann ziehen die Menschen hinüber, schnell wie der Blitz,
der Vogel, der Wind. Und manche werden heil gerettet, manche ver-
wundet, aber doch gerettet, die andern jedoch fallen hinabgeworfen in
die Hölle" (vgl. R. Leszynsky Mohammedanische Traditionen über das
jüngste Gericht 1909 p 41). Die Vorstellung von der Seelenbrücke
ist bei mehreren primitiven Religionen nachweisbar. Nach dem Glauben
der Eingeborenen der malaiischen Halbinsel muß die Seele nach dem
Tode auf ihrer Wanderung nach dem Paradiese einen gewaltigen See
passieren, über den eine große, hölzerne Brücke geschlagen ist. Ein
Riese von schrecklichem Aussehn bewacht diese Brücke. Die Seelen
der Frommen gelangen unbehindert hinüber, dagegen stürzen die Seelen
der Bösen, durch den schrecklichen Blick des Riesen entsetzt, in den
kochenden See. Daher begraben die Eingeborenen ihren Toten häufig
auf Balken, vermittels deren seine Seele den See glücklich passieren
möge (vgl. W. W. Skeat und Ch. 0. Bladgen Pagan races of the Malay
Peninsula II 1906 p. 208 und 217). Auch nach der Snorri Edda {Gyl-
faginning cap. 49, übers, von H. Gering p. 345) ist die Unterwelt von
der Erde durch einen Strom getrennt, über den eine Brücke geschlagen
ist, die von einer göttlichen Kriegerin bewacht ist. Auf den Andamanen
besteht die Seelenbrücke aus einer Rohrbriicke, bei den Tcheremissen
aus einer Seilbrücke, auf Xyas aus einer Katzenbrücke, in Mikronesien
aus einer Tanzbrücke (vgl. A. Bastian Ethnol. Xotizblatt, Berlin 1901
p. 94 f.). Die Chinesen, die ebenfalls an einen Totenstrom glauben,
opfern dem Toten ein papierenes SchifiF und zwei papierene Brücken
(W. Grube Zur Pekinger Volkskunde, Berlin, Museum für Völkerkunde
1901 p. 45; E. Diguet Les Annamites, Paris 1906 p. 200 .
21*
324 I- Scheftelowitz
hundert n. Chr. sekundär mit der Idee vom Weltgericht der
messianischen Zeit verschmolzen. Ebenso wird wohl auch der
Fischgenuß im messianischen Reiche auf das ursprüngliche
Fischmahl der Seligen nach ihrem Tode zurückgehen.
Der Fisch kommt im Seligenmahl mancher Religionen
vor. Die südamerikanischen Indianer, die ebenfalls die Vor-
stellung von einem Leben im Jenseits haben, kennen die
Seligenmahlzeiten, die aus Fischen und Fleischspeisen be-
stehen. „Wie auf Erden gute und böse Menschen nebenein-
ander leben, so auch im Jenseits. Eine moralische Vergeltung
gibt es nach dieser älteren Auffassung nicht." „Sie glauben,
daß alle Menschen ohne Unterschied ewige Vergnügungen
nach dem Tode genießen werden, und daß die hienieden be-
gangenen Handlungen auf den zukünftigen Zustand nicht den
mindesten Einfluß haben". Zu den Lieblingen der Götter
gehören sowohl die Zauberer als auch die Häuptlinge und
tapferen Helden. Sie weilen in einem paradiesischen Gefilde,
das von klaren Bächen bewässert wird; köstliche Feigenbäume
wachsen dort in Fülle, und viel Wild, Fische und Honig
stehen jedem zu Gebote. Alle Verstorbenen befinden sich dort
bei ihren Vorfahren, und als Speise werden ihnen Fische
und Wildbret sehr reichlich vorgesetzt.^
Nach den Vorstellungen der Giljaken (Sibirien) ernähren
sich die Abgeschiedenen im Jenseits hauptsächlich von Fischen
und Bären. Dem Toten werden sogar Fische und Tabak ins
Grab mitgegeben.^
' Vgl. Th. Koch Zum Änimismus d. südamerik. Indianer, Leiden
1900 S. 122 f. und 130. Man könnte zwar vermuten, daß hier der Fiscb
keine bevorzugte Speise wäre, sondern ebenso wie bei den irdischen
Mahlzeiten zu den gewöhnlichen Gerichten gehöre. Allein bei Lebzeiten
vermeidet der Indianer ängstlich Fische zu genießen (siehe unten Ab-
schnitt 10).
* V. Schrenck lieisen und Forschungen im Amurlunde, Petersburg
ISe.") Bd III 763, 767, 769. Auch die Insulaner der Torresstraße (Austra-
lien) nehmen an, daß die Seelen der Toten rohe Fische essen, Reports
of the Cambridge Anthrop. Exped. to Torres Straits, Vol. V, p. 89 und 357.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 325
Auch der thrakisch-phrygische Sabazioskidt kannte ein
Seligenmahl im himmlischen Paradies. In der Gruft des
heidnischen Sabazios- Priesters Vincentius und seiner Gattin
Vibia sind zwei solche Mahlbilder aufgedeckt worden.
Wilpert^ setzt sie in das 4. Jahrhundert. Vincentius ist
darin als Mitglied des Kollegiums der sieben frommen Priester
(septem pii sacerdotes) bei einem Opfermahle im Ornate
dargestellt. Letztere lagern am Boden. Vorn im Halbkreis
liegen acht Brötchen um vier auch auf dem Boden stehende,
mit Speisen gefüllte Schüsseln. Eine von diesen vier Schüsseln
enthält einen Fisch, dagegen sind in zwei anderen verschiedene
Braten. Die Männer halten Weinbecher in der Hand,^ Das
andere Bild der Vincent iusgruft, das sich dem Eingang gegen-
über an der Fondwand befindet, zeigt die Verstorbene in der
Seligkeit. Links ist die Einführung der Vibia durch das Tor
zum Seligenmahle , rechts das Gelage der Seligen und Vibia
mitten unter den Gästen zu erblicken. „Im Halbrund stehen
zwei Schüsseln im Rasen, die eine mit etwas wie einem hohen
Kuchen, die andere mit einem Fische. Im Vordergrund kommt
ein Aufwärter eilfertig von links her und trägt auf den vor-
gestreckten Händen eine Schüssel mit Geflügel herbei. Ganz
rechts steht eine schlanke Amphora,"' Th. Eisele folgert aus
diesen Darstellungen, „daß der auch in der altchristlichen
Kommunion übliche Genuß von Brot, Wein und Fisch den
Mysten mit der zuversichtlichen Hoffnung eines unvergäng-
lichen Lebens erfüllt hat".^
^ Wilpert B. Malerei d. Katakomben Roms. 1903.
* Dieses Bild findet sich auch bei P. Wendland D. hellen.-römische
Kultur S. 186.
' L. V. Sybel Christi. Antikel S. 201 f. Über den Sabazioskult vgl.
6. Wissowa Religion und Kultus der Römer, München 1902, S. 314 f.
* Neue Jahrb. f. klass. Alt. 1909, S. 636. Auch die alten Etrusker
glaubten an ein SeUgenmahl, vgl. Müller -Wieseler Denkmäler antiker
Kmst I S. LXIV Nr. 334-335. Auch in den Abbildungen hettitischer
Seligenmahle haben der weingefiillte Kelch und Brote eine hohe Be-
deutung. Aus den Darstellungen dieser Seligenmahle, die A. H. Sayce
326 I- Scheftelowitz
Das Seligenmahl ist ein Überrest jenes uralten Aberglaubens,
sieb durch die Verzebrung eines göttlichen Wesens in Gestalt
von Tieren zu heiligen und unvergängliche Kratt zu gewinnen.
Zwecks der eigenen Heiligung aßen es erst die Priester, wobei
sie ein strenges Zeremoniell einhielten. „Man verzehrt das
Proceedings of the Society of Bibl. Archaeology XXXII (1<.)10) p. 253—254
gegeben hat, will ich einzelne Beispiele anführen: On one of the most
interesting Hittite monuments founcl at Marash is a representation of a
goddess seated opposite her priest uho wears the same dress as the deity
and is drinking out of a cup, white a communion table Stands beticeen
them with three wafers of hread and a chalice of wine upon it. — On
another Marash monument the goddess with the young god in her Jap
appears alone on the left side of the table, which has the usual six wafer-
hreads arranged on either side of a chalice. — On a broken monument
discovered on the side of the ancient Malatia tve again have the commu-
nion-table with ivafer-bread and cup, the goddess being seated on one side
of it and the worshipper in the same dress as the goddess seated on the
other, in the act of drinking the wine. Im Mithraskult genossen die
Mysten ebenfalls geweihtes Brot und Wein (vgl. D. Grill Die persische
Mysterienreligion im römischen Reiche., Tübingen 1903 p. 50 f). Doch
der junge Mithraskult, der wegen seines monotheistischen Zuges wohl
vom Judentum beeinflußt ist, kann diesen Brauch vom Judentum ent-
lehnt haben. Bereits in vorchristlicher Zeit hat das Judentum einen
starken Einfluß auf Kleinasien ausgeübt, was schon daraus hervorgeht,
daß das Fürstenhaus des am Tigris gelegenen parthischen Vasallen-
staates Adiabene um 20 n. Chr. zum Judentum übertrat (vgl. H. Graetz
Gesch. d. Juden III 4. p. 403 flF.). Die in dieser Fiirstenfamilie vorkommen-
den Namen wie Izates, Monobazus sind persischen Ursprungs.
Jüdischer Volksglaube hat sich schon in vorchristlicher Zeit sogar bis
nach dem Kaukasus hin verbreitet (vgl. A. v. Löwis of Menar, Archiv f.
Rel.-Wiss. Xn, 520); F. Cumont Die orientalischen Religionen, Leipzig
1910 p. 76 f.). „Die mithrische Religion entstand im wesentlichen aus
einer Kombination der römischen Glaubensvorstellungen mit der semi-
tischen Theologie und in zweiter Linie mit gewissen Elementen, die den
einheimischen Kulten Kleinasiens entlehnt waren" (Cumont p. 173 f.).
Auch in der Eschatologie der buddhistischen Chinesen spielen Kelch
und kleine runde Brote eine wichtige Rolle. Buddha vermag die in
der Hölle schmachtenden Seelen zu erlösen, wenn er ihnen einen ge-
füllten Becher und einen Korb mit kleinen runden Broten zum Genüsse
darreicht (vgl. W. Grube Zur Pekinger Volkskunde in Veröff. d. Kgl. Mus.
f. Völkerk. Berlin 1901 p. 79).
Das Fischsymbol im Judentum und Cbristentnm 327
Fleisch eines als göttlich angesehenen Tieres und glaubt sich
so mit dem Gotte selbst zu identifizieren und an seinem Wesen
und seinen Charaktereigenschaften teilzunehmen" (F. Cumont,
Die orientalischen Religionen, Leipzig 1910 p. 83).
Der Fisch als Speise der Seligen findet nun in folgendem seine
Erklärung. Einzelne Naturreligionen erblickten in den Fischen
Verkörperungen göttlicher Kräfte, weshalb man sie auch nicht
essen durfte. Höchstens war im diesseitigen Leben den
Priestern, den „reinen" Menschen, der Fischgenuß gestattet;
das profane Volk durfte allenfalls zur Opfermahlzeit den Fisch
gebrauchen. Denn die Naturvölker glaubten, daß sie, wenn
sie ein solches göttliches Tier verzehrten, hierdurch mit gött-
lichen Kräften erfüllt würden*, die aber durch den profanen
Menschen entweiht würden. Infolge solcher den Fischen inne-
wohnenden geheimnisvollen Eigenschaften behaupten die Ur-
einwohner von Zentral -Borneo, daß die Menschen erst, nach-
dem sie Fische gegessen hatten, zu sprechen begannen.'
Gemäß dem altindischen Glauben haben sich manche Fische
als Verkörperungen hilfreicher, rettender Gottheiten den
Menschen offenbart. Den Brahmanen ist der Genuß der
meisten Fischarten verboten. Außer den Schuppenfischen sind
ihnen nur vier andere Fischspezies erlaubt, nämlich der Sim-
hatunda, Rohita, Päthina und Räjiva.^ In manchen
Gegenden Indiens gibt es Teiche mit heiligen Fischen. Der
König Bhartari von Benares hatte sogar einen Fisch, der
ihn über alles, was in den „drei Welten" vorging, in Kenntnis
setzte. Die Fische sind nach der indischen Sage aus der Ehe
der Nvmphe Adrikä mit dem Könige üparichara hervor-
gegangen.* Auch in einer Gegend Burmas werden Fische für
' Vgl. J. G. Frazer The golden Bough, London 1900, Vol. II,
S. 365 f. * JuynboU Archiv f. ReUgionsic. IX p. 269.
' Vgl. Manu Dhartnas. 5, 16; Yäjnavalkya 1, 177—178.
* W. Crooke Populär Religion and Folk-lore of Northern India II
(Westminster 1896) p 253.
328 I- Scheftelowitz
heilig gehalten, weshalb sogar der Fischfang dort strengstens
untersagt ist.^
Bei den verschiedensten Völkern genossen daher die
Fische ursprünglich eine gewisse göttliche Verehrung. Die
alten Perser verehrten eine bestimmte Fischart, nämlich den
Arzuvä, dessen Oberhaupt, wie die Parsi- Überlieferungen be-
richten, von dem göttlichen Vohumanö in die Ahuramazda-
Religion eingeweiht ist, damit er alle übrigen Fische derselben
Art belehre. Dafür ist aber dem Zarathustra vorgeschrieben
worden, alle Anhänger eindringlich zu mahnen, diese Fische zu
schützen und ihnen nicht nachzustellen und sie nicht zu töten.^
Den Britanniern waren alle Fische heilig. Im südwest-
lichen Teile Britanniens, am nördlichen Ufer des Flusses
Sabrina, zu Lydney Park ist ein Tempel des keltischen Gottes
Nodon aufgedeckt worden, auf dessen Mosaikfußboden neben
^ Vgl. John Anderson Ä report on tJie expeditions to Western Yunan,
Calcutta 1871 p. 201 f., ferner in seinem Werke Mandalay to Momien,
London 1876 p. 24 (worauf mich Dr. W. Foy aufmerksam machte).
^ Zädsparam c. 22, 3—6, Binlcard c. 24, 7, Bundehis 14, 26. Eine
andere mittelpersische Überlieferung berichtet, daß Ahuramazda zwei
gewaltige Fische erschaffen habe, nämlich den Fisch Ariz, welcher „das
größte unter den Geschöpfen Ahuramazdas" ist (Bundehis 18, 5) und
den Fisch Väs Pancäsadvarän , unter dessen Schutz besonders alle Ge-
schöpfe des Wassers stehen (Bundehis 18, 7 — 8). — Das Verbot, Fische
zu genießen, kann auf verschiedene Gründe zurückgehen: 1. weil sie
für Verkörperungen göttlicher Kräfte gehalten werden; 2. weil sie teils
Darstellungen von Ahnengeistern sind (s. u. Abschnitt 10) und 3. weil sie
teils als Totem gelten Der Totemismus herrschte besonders bei den
amerikanischen Stämmen vor. Unter den Yuchis gibt es einen Clan,
der nach seinem Totemtier ,, Fisch" heißt und den Fisch auch verehrt
(vgl. J. G. Frazer Toteniism, London 1910, Vol. IV, 312). Aus diesem
Grunde vermieden die Navahoes ängstlich jede Berührung mit den
Fischen (vgl. J. G. Frazer Totemism III, 245 f.). Die Delawaren opferten
ihrem Totem-Fisch auch kleine Brotstücke in Gestalt von Fischen
(vgl. Frazer Totemism Vol. I, 14). Über den Fisch-Totemismus in Neu-
Guinea vgl. Frazer Vol. IV, 277—283, ferner bei den Insulanern der
Torresstraße, vgl. Bepoi'ts of the Cambridge Anthrop. Exped. to Torres
Straits Vol. V 1904, 164 f., 192 und PI. V— VI.
J
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 329
einer kleinen Inschrift Darstellungen von allerlei großen und
kleinen Fischen zu sehen sind. Dieser Gott Xodon (Nudd)
ist als der Beherrscher der Gewässer angebetet worden*;
darum hat auch ein römischer Flottenführer, der in Britannien
stationiert war, den Fußboden jenes Tempelraums dem Nodon
dediziert. Auf einer dort gefundenen halbmondförmigen, dünnen
Erzplatte, die fünf Zacken an der Außenseite hat und für ein
Diadem des Gottes oder des Nodon -Priesters angesehen wird,
ist nun die auf einem Viergespann stehende Gestalt eines bart-
losen Gottes mit vierzackiger Krone dargestellt. Die vier
Seerosse* sprengen nach rechts und links. In den äußersten
Ecken sieht man zwei fischschwänzige Götter mit den Vorder-
füßen von Rossen, von denen der rechts befindliche in jeder
Hand ein Ruder, der links stehende in der Rechten einen
Anker, in der Linken eine ^Juschel hält. Ein zweites, kleineres
Stück eines ähnlichen Zierrats, das gleichfalls dort gefunden
ist, zeigt einen fischschwänzigen Gott mit Keule und Anker
und einen Fischer mit spitzer Mütze, welcher mit der Angel
einen Lachs aus dem Wasser zieht.' Dio Cassius* berichtet
nun von den Britanniem: „Sie genießen keine Fische, obgleich
diese in jener Gegend außerordentlich zahlreich sind." In den
keltischen Sagen erscheint der Lachs als der Träger der
Weisheit.^ Im alten Irland wurden heilige Fische wie Forellen,
Lachse, Aale in besonderen Quellen verehrt. Noch in neuester
Zeit wurden Forellen in manchen Gegenden Irlands nicht ge-
' Wood-Martin Traces of the eider faiths of Irdand, London 1902,
Vol. I, 347.
' Über göttliche Seerosse in der irischen Mythologie vgl. Wood-
Martin, Yol. II, 377 f.
* Vgl. E. Hübner Das Heiligtum des Nodon in Bonner Jahrb. 1879,
S. 29-46. * Epitome XXVI, 12.
= John Rhys Lectures an the Oriffin and Grotcth of Seligion, London
1888, S. 553; Wood-Martin Traces II, 108 f. Die gefleckten Forellen sind
in manchen Gegenden Irlands für heilig gehalten, vgl. Lady Wilde Ancient
Legends of Ireland, London 1888 S. 238 f.
330 I- Scheftelowitz
gessen,^ Da die keltischen Ureinwohner noch zur Zeit, als
die Angelsachsen nach England kamen, keine Fische genossen,
so bezeichneten sie die fremden Eindringlinge mit dem ver-
ächtlichen Ausdruck „Fischesser". Als die größte Erniedrigung
empfand ein besiegter irischer Volksstamm, wenn sein über-
legener Gegner ungestraft die dem irischen Stamme heiligen
Fische fangen ließ und sie verzehrte.^ Wasserdämonen in Ge-
stalt von Aalen kommen in den irischen Sagen häufig vor.^
Auch die Germanen haben gewisse Fische göttlich ver-
ehrt. Der altnordische Gott Vali stand im Zeichen der Fische.
Der sächsische Gott Hruodo befindet sich auf einem Fische.*
Der germanischen Göttin Berchta (Perchta) waren Fische, be-
sonders Heringe, heilig, die ihr geopfert wurden.'' Gemäß dem
altdeutschen Volksglauben ziehen am Vorabend des St. Nikolaus-
tages die Geister Berchta und Wodan, Spenden verteilend und
Opfergaben heischend, durchs Land. Da nun der Perchta Fische,
dem Wodan aber Pferd und Eber geweiht waren, so erinnern
die aus Lebkuchen hergestellten Fische, Pferde und Schweine,
die als Nikolaus-Gebäck in Deutschland vorkommen, an die
altgermanischen Opfergaben. In manchen Gegenden der Schweiz
wird am Nikolaustage von einem kostümierten Burschen ein
Lebkuchen- Fisch in jedes Haus am Wege hineingetragen.^
Wegen seiner Heiligkeit ist der Fisch neben dem Pferde und
dem Eber häufig auf altgermanischen Kunstgegen ständen zur
Darstellung gebracht, so auf altnordischen Messern der Bronze-
' Wood -Martin Traces of the eider faiths of Ireland, London 190-2,
II, 108 f. .
* Wood-Martin Traces 11, 113. Nach Plutarch (De Is. 72) hatte ein
ägyptischer Gau seine Feindschaft gegen einen Nachbarstamm , der den
Hund verehrte, dadurch bekundet, daß er dem Hunde verehrenden
Feinde zum Ärger ein paar Hunde schlachtete und verzehrte.
» Wood-Martin Traces I, 379.
* Verh. Beil Ges. f. Änthrop. 1884 p 37
» J. Grimm Deutsche Mijthol* III (1878) p. 29; I (1876) p. 226.
« M. Höfler Ztschr. d. Ver. f. Volksk. Bd. 12, 82 und 199.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 331
zeit und auf altnordischen goldenen Trinkhörnern. ^ Auch auf
einer heidnisch -germanischen Graburne, die in Holstein auf-
gedeckt ist, sind neben einer menschlichen Figur ein Pferd,
zwei Eber und ein Fisch zu sehen.^ Der Nickelmann erscheint
in der deutschen Sage als halb Fisch und halb Mensch, und
seine Nahrung bilden die Fische.^
Die Griechen hatten ebenfalls ursprünglich eine religiöse
Scheu vor gewissen Fischen. In den heroischen Zeiten hat man
keine Fische gegessen (Lobeck Aglaophamus p. 248 ff.). Die
homerischen Helden haben Fische nur im äußersten Notfalle ge-
nossen (Stengel Hermes XXU p. 98). Diodoros, der Sizilier, be-
richtet*: Die Nymphen schufen der Artemis zu Gefallen in Sizilien
die große Quelle Arethusa, die stets fischreich war; diese Fische
waren aber noch zu der Zeit Diodoros' heilig, und wenn ein
Mensch es wagte, einen derselben zu essen, ward er schwer
von der Göttin heimgesucht. Auf Münzen von Syrakus ist
der Kopf der Nymphe Arethusa dargestellt, der von vier
Fischen umgeben ist.^ Nur den Priestern war es gestattet,
die heiligen Fische zu genießen. Eine ähnliche Quelle Are-
* Sophus Müller Nord. Altertumskunde I (1897), 465 Fig. 245;
n, 154—155. * Verh. Berl. Ges. f. Anthrop. 1877 p. 31 f.
' Kuhn-Schwarz NorddeutscJie Sagen Nr. 197,1.
* Diodoros BijSlioO-Tjxrj 'Iötoqixt] Vc. 3,5 (ed. F. Vogel, Lipsiae 1890,
Vol. II p. 7): 'Ofioiwg dh xal %arci ttjv vf^eov ravxr^v ävelvat, rag Xvftxpag
tavras X'^Q'^^ofiivag ty 'A^i(ii8i \isyi6xr\v jtTiyriV Tr}v övo^atouivriv
'Agi^ovaav. Tavrr,v S' ov uövov xcctoc rovg ocQxcciovg xQÖvovg Ijueiv (isydXovg
xal noXXovg ixQ'vag, aXlä xai xaxa zrjv Tj^srSQav TjXixiav dutufvsir
eviißaivsi, rovTOvg, isgovg ovtag xal ä9ixT0vg äv^gaTioig' i^ av itolXäxig
ztvöp xata rag TtoXBiiixug Tisgiöräeiig (fayövrav, TtugaSo^ag ijrfffjjfiTjra ro
9'tlov xal iisydXaig ßvucpogatg TisgisßaXB rovg roXfiriaavrag ngoasviyxaed'ai.
^ Vgl. Müller -Wieseler Denkmäler antiker Kunst I Taf. 16 Xr. 78;
Taf. 12 Nr. 197. Nymphen mit Fischen kommen auf Münzen häufig
vor, Tgl. Imhoof-Blumer, Tier- und Pflanzenbilder auf Münzen und
Gemmen, Taf. VIT, 5; XIII, 2—3. Auf den Münzen von Kyzikos ist
gewöhnlich ein Thunfisch abgebildet, vgl. Imhoof-Blumer Taf. VIT, 7—10;
XIII 10, 28, 37. Heilige Fische werden inschriftlich erwähnt, vgl.
Dittenberger Syll. inscr.ll. 501 Nr. 364: P. Stengel D. griech. Kultusalter-
tümer - p. 20, 35, 85.
I
332 I- Scheftelowitz
thusa gab es auch bei Chalkis, deren Fische nur von den
Priestern gegessen werden durften.' Die heiligen Fische in
den Seen bei Eleusis waren den Griechen verboten. Die
Priester des Meergottes Poseidon aßen überhaupt keine Fische.^
Auf griechischen Silbermünzen ist Poseidon dargestellt, der
gewöhnlich in seiner Hand einen Fisch hat.^ Die Etrusker
scheinen gleichfalls gewissen Fischen göttliche Verehrung ge-
zollt zu haben; denn unter den vorhandenen etruskischen
^ Vgl. H. Hepding Attis, RGW I, 1903, S. 189. Der Delphin galt in
gewissen Gegenden Griechenlands als heilig. Nach Plutarchs Schilderung
wurde er, wenn er zufällig in ein Fischernetz geraten war, wieder frei-
gelassen. Oppian aus Kilikien (um 175 n. Chr.) berichtet sogar, daß es
eine Sünde wäre, einen Delphin zu fangen. „Wer vollends einen töte,
der sei so schlimm, wie einer, der Menschen mordet, er dürfe sich keinem
Altare mehr nahen und die bösen Folgen seines Verbrechens treffen so-
gar noch seine Angehörigen." Der Delphin wird noch heutzutage in der
Türkei und in Italien nicht gefangen, sondern ebenso wie der Storch
geschont (vgl. Otto Keller Tiere des klassischen Altertums, Innsbruck 1887
p. 234 und 429 Anm. 273),
* Vgl. Dölger Eöm. Quartalschr. 23, 158 f.
''CO. Müller - Oesterley Denkmäler der alten Kunst II Taf. VII
Nr. 77 — 79. Auf antiken Denkmälern wird Poseidon zuweilen durch den
Fisch bezeichnet, wenn er sein Element verläßt, teils um den Versamm-
lungen der Götter beizuwohnen, teils um sich Sterblichen liebevoll zu
nahen (vgl. L. Urlichs, Jahrb. d. Vereins v. Altertumsfreunden Rheinl. VI
1842, I S. 59). Also scheinen die Priester Poseidons die Fische nicht
deshalb verehrt zu haben, weil sie unter Poseidons Schutz sind, sondern
weil sich durch sie die Gottheit offenbart. Poseidon war der Thunfisch
geweiht (Athen. VII, 66, Aelian N. A. XV, 6). Poseidon selbst bringt
Thunfische dem Zeus dar (Athen. VIII, 36). II. 16, 407: IsQog l%Q'vs scheint
demnach nicht „der schnelle", sondern „heilige Fisch" zu bedeuten.
Neben dem Delphin waren in Griechenland noch andere Arten Fische
heilig. Als uqos l%Q'vs wird vor allem der Pompilus bezeichnet (Athe-
naeus VII, 18—21; Aelian N. A. VIII, 28, XV, 23; Plutarch Symp. VIII, 8,
Suidas unter lbqov lx%-vv\ ferner der Fisch Kobios (.Athen. VII, 18),
Leucus (Athen. VII, 20), Anthias (Athen. VII, 17). Der Fisch Boax war
dem Hermes (Athen. VII, 27; 12(5), der Citharus dem Apollo (Athen. VII,
27; 126), der Phalaris und Chrysophrys der Aphrodite geweiht (Athen. VII,
126; 136). Die Fische SmariB, Maenis und Triglis bildeten die Opfer-
speise der Hekate ('ExaTrjs ß^äniaxa Athen. VII, 92; 126; VIII, 57).
Das Fiachsymbol im Judentum und Christentum 333
Münzen findet sich ein Quadrans von Hatria, in Picenum: die
Typen sind zwei verschiedene Arten von Seefischen.^ Da bei
den Indern, Persern, Kelten, Germanen und Griechen Fische heilig
waren, so scheint dieses auf eine indogermanische Sitte hin-
zuweisen, daß man aus abergläubischer Scheu sich des Genusses
des Fisches bzw. mancher Fischarten enthielt. Ebenso ver-
abscheuen die Siahposch in Kafiristan den Genuß der Fische,
obwohl ihre Flüsse reich an denselben sind. Auf der uralten
Anschauung, daß Fische eine Götterspeise seien, beruht der
Brauch der Katschinzen Südsibiriens, keinen Fisch zu essen,
denn sie glauben, daß das böse Prinzip im Wasser wohnt und
Fische verzehrt (R. Andree, Ethnograph. Parallelen, Stuttgart
1878, p. 125). Der Giljake dagegen verehrt die Schwertwale,
die ihm alle möglichen Tiere des Meeres zujagen, als seine
Wohltäter; er betrachtet sie als „die Untergebenen wirklicher
Gottheiten." Daher tötet der Giljake nie einen solchen Fisch,
„vielmehr beerdigt er sogar dessen ans Ufer gespülten toten Körper
in feierlicher Weise" (L. Sternberg, Arch. f. Rel.-Wiss. VIII, 251 f.).«
Dieser Brauch herrschte also bei den Völkern der verschiedenen Erd-
teile, so auch bei den Negern Afrikas und den Indianern Amerikas.
„Eine der Gottheiten, deren Kulte in den religiösen Gepflogen-
' C. 0. MüUer-Oesterley a. a 0. I Taf. LXIII Nr. 329. Die etrus-
kiscben Töpfe und Trinkschalen sind an ihren Füßen gewöhnlich mit
Fischen, die einen Menschenkopf haben, verziert (F. Jännicke Grundn'ss
der Keramik, Stuttgart 1879 p. 184). Ebenso sind auf einem etruskischen
Halsbande vier fischartige Wesen mit menschlichen Köpfen zu sehen
(P. A. Kuhn Gesch. d. Plastik I. Halbband 1909) p. 105 und Fig. Nr. 142).
' Gemäß der polynesischen Mythologie ist der Gott Tinirau König
der Fische. Sein Lieblingstier ist der Walfisch, von dessen lebendigem
Kör^ier er, so oft er ein herrliches Mahl bereitet, einige Fleischstücke
ausschneidet, da sie sehr schmackhaft sind. Der Zauberer Kae, der mit
List den Wal tötet, wird von Tinirau mit dem Tode bestraft (vgl. George
Grey Polynesian Mythology, London 1855 p. 90; W. W. Gill Mt/ths and
Sotigs from the South Pacific, London 1876 p. 91: E. Shortland Traditions
and Superstitions of the New Zealanders*, London 1856 p. 64 fF.). Das
Fleisch des Walfisches ist hier also eine beliebte Götterspeise
1
334 I- Scheftelowitz
heiten des Jevhe- Ordens in Togo vereinigt sind, ist ein Meer-
gott, dessen Abzeichen der Hai ist'^, weshalb auch der Haifisch
dort verehrt wird.^ Ehemals stand auf die Erlegung eines
solchen Fisches die Todesstrafe. Der Fisch ist ihnen als
Nahrung verboten. Viele würden eher verhungern, als daß
sie davon kosten würden. „An der Goldküste ist das Fisch-
essen einzelnen Personen an bestimmten Tagen oder überhaupt
verboten. Die Mitglieder des Jevhe- Ordens haben sich des
Fisches Adepe zu enthalten. Die Wadschaggas verschmähen
den Fisch als Nahrungsmittel." Das typische Fischvolk, d. h.
„die Leute, die sämtlich Fische verehren, sind die Batlapi, ein
Betschuanen- Stamm in der Gegend von Kuruman". „Die Ver-
ehrung des Schwertfisches beschränkt sich auf die Guineaküste."
Der Guinea-Neger fängt ihn deshalb aus heiliger Scheu vor
diesem Fisch nie absichtlich. Wenn sie aber doch zufällig
in seinen Besitz geraten, verzehren sie ihn erst dann, nachdem
sie sein Schwert herausgeschnitten haben, das sie trocknen
und als Fetisch betrachten. „Außer der eigentlichen Makrele
verehrt man an der Guineaküste einen Fisch, namens Bonito,
Bonite", der mit dem Thunfisch verwandt ist.^
Bei den Baele (Afrika) darf der Mann gleich nach seiner
Geschlechtsreife weder Fische noch Geflügel essen. Auch in
den benachbarten Ländern des Sudan sind diese Nahrungsmittel
den Männern untersagt (L. Frobenius, Masken und Geheimbüude
Afrikas p. 2l7). Dem Quimbe-Orden in Kongo sind viele Arten
von Fischen verboten (Frobenius, Masken p. 50). Die Neusee-
länder glauben, daß die Fische Abkömmlinge von Göttern
seien.^ Bei jedem Fischfang bringen sie den ersten Fisch den
' Der Hai ist auch der Fetisch der Neu-Kalabaresen (Westküste
Afrikas), vgl. R. Karutz Afrikanische Hörner masken, Lübeck 1901 p. 82.
* Vgl. J. Weißenborn Ticrkult in Afrika in Internat. Arch. f. Ethno-
graphie 1905, S. 128 — 129. Auch die Zulus essen keine Fische, vgl.
J. 6. Frazer Totemism, Vol. IV, London 1910, 304.
* E. Shoi-tland Traditions of the Neu- Zealanders- 1856 p. 59; John
White Ancient history of the Maori, Wellington 1887, Vol. I, 59 ff.
Das Fischsymbol im Jadeatam und Christentum 335
Göttern dar. Ihr Hauptgott Mawe ernährt sich hauptsächlich
von Fischen und Menschenfleisch.' Haifische halten die Neu-
seeländer für göttliche Wesen. Gemäß einer Sage haben manche
Priester vom Haifisch überirdisches Wissen erlangt.' In Neu-
Guinea glaubt man an Wassergeister in Gestalt von Fischen.'
Es werden Haifische und andere Fische den Göttern als Opfer
dargebracht* Auf den Karolinen wurde der Gott Maui in
einer Fischgestalt verehrt.^ Auf Kusaie und den Marianen
hält man Aale für heilig.'"' Die Eingeborenen von Hawai
glaubten an einen Fischgott mit Namen Kuula, der sich nur
von Fischen ernährte. So oft er Fische fing, opferte er zunächst
den ersten Fisch dem obersten Gott. Gewisse Arten von Fischen,
welche als die Untertanen des Fischgottes betrachtet wurden,
wurden ursprunglich von den Eingeborenen göttlich verehrt.^
Erst in neuerer Zeit haben diese Ureinwohner allmählich den
Aberglauben überwunden, aber noch heute weihen sie nach
jedem Fischfang den ersten Fisch dem Gott Kuula.** Der ehe-
malige Lieblingsfisch dieses Gottes, eine Art Meeräsche, wird
noch heute vielfach ängstlich gemieden. Schwangeren Frauen
ist es strengstens verboten, ihn zu berühren, da man glaubt.
' J. S. Polack Manners and customs of the New Zedlanders, London
1840 Vol. I 17 und 277.
* Polack Manners I, 243 f.; 272. Auf den Sunda-Inseln wurde dem
Haifische jährlich eine Jungfer geopfert (J. A. Robertson Magellan's
voyage 11, Cleveland 1906) p. 226.
' C. G. Seligmann Jlelanesians of British Xeic-Guinea , Cambridge
1910, 183 u. 307. Daher kommt der Haifisch in der melanesischen
Ornamentik häufig vor {^Globus 82,154).
^ G. A. J. Vandersande Nova Guinea, Leiden 1907 Vol. IH. 291.
Bei den Tubetubes und Koita (Britisch Neu-Guinea) sind gewisse Fische
den Frauen (besonders den schwangeren) und den Kindern verboten,
Seligmann Melanesians of British New Guinea p. 84. 139. 491. 580. Bei
den südöstlichen Stämmen Neu-Guineas dürfen nur alte Männer gewisse
Fische essen, Seligmann p. 681 Anm.
" Schirren Die Wandersageyi der Xeuseeländer, Riga 1S56 p. 7<'.
^5 Dumont d'Crville Voyage de VÄstroIabe, Paris 1830 T. V, 121.
' Th. G. Thrum Hawaiian Folk-tales, Chicago 1907 p. 215 f., 269.
® Thrum Hawaiian Folk-tahs 227 und 270.
336 I- Scheftelowitz
daß es die schlimmsten Folgen für das Kind samt der Mutter
haben könnte. Auch die Kinder dürfen diesen Fisch nicht
essen, solange sie noch nicht gehen können.^ Ein König, der
sich einst gegen den Fischgott vergangen hatte, wurde der
Sage nach von einem Fische, den er essen wollte, erwürgt.^
Haifische werden noch heute in Hawai als göttliche Wesen
angesehen.^ Auch bei den Eingeborenen Borneos waren ehe-
mals gewisse Fische heilig. Während der in jeder Saatzeit
stattfindenden drei neuntägigen Festperioden dürfen menstruie-
rende Frauen gewisse Arten Fische nicht genießen.'^
Ahnlich wie die Perser glaubten die Indianer von Peru,
daß eine bestimmte Art Fische vom himmlischen Fisch ab-
stammte, der für die Erhaltung seiner Nachkommen eifrig
Sorge trägt. Daher halten dort manche Stämme die Sardine
für heilig, manche den Glattrochen, manche den Wal- und Haifisch,
manche den Groldfisch.^ „In short, they had whatever fish was
most serviceable to them as their gods."" Die erhaltenen alt-
peruanischen Gefäße sind darum häufig mit Reliefdarstellungen
von Fischen versehen. Außerdem sind dort Fische aus Gold,
Silber, Kupfer und Bronze gefunden worden (vgl. Globus 1910,
p. 276). Fischgötter fanden sich auch im peruanischen Tempel
des Pachacamac.^ Bei den Maya -Völkern (Amerika) waren
gewisse Fische den Gottheiten heilig. Fische sind ihnen auch
als Opfer dargebracht worden."*
1 Thrum p. 271 f. * Thrum p. 228 f. =' Thrum p. 255 f.
* A. W. Nieuwenhuis Quer durch Borneo 1904 Bd I p. 324.
° In deutschen Märchen verleiht der Goldfisch dem Fischer und
allen, die von diesem Fische ein Stück erhalten, eine Fülle Gold (vgl.
W. Grimm Gesamrn. Märehen Nr. 85). Allerdings kann in den deutscheu
Märchen der Goldfisch, wie Wundt Völkerpsychologie (Leipzig 1909) Bd II
Teil 3 p. 111 annimmt, vermöge seiner Goldfarbe die Zauberkraft ausüben.
» J. G. Frazer The golden Bough, London 1900, Vol. II, S. 410; .T.
G. Müller Gesch. der amerik. ürreligionen'', Basel 1867 p. 366.
' J. G. Müller Gesch. der amerik. Urrelig. j). 366.
** Vgl. Tozzer und Allen Animal figurea in the Maya Codices, in Papers
of Fedbody Museum, Cambridge Mass. Vol. IV (1910) p. 308 und PI. 5—6.
Das Fischsjmbol im Jadentam und Christentum 337
Das bisher angeführte Material belehrt uns, daß bei den
rerschiedensten Völkern Fische ursprünglich heilig waren und
höchstens gottgeweihte Personen wie Priester sie im diesseitigen
Leben essen durften. In den Mysterienkulten wurde darum der
Fisch die heilbringende Speise. Während sich sonst die Anhänger
der phrygischen Götter vollständig aller Fischnahrung enthielten^,
gebrauchten die Mysten des phrygischen Mysterienkultes den
Fisch bei ihren geweihten Mahlen als eine Heilsspeise. Auf
einem römischen Mysterienrelief sieht man „den Fisch nicht
nur auf dem Tisch, sondern auch als Speise beim mystischen
Mahle auf einer Schüssel in der Mitte des Speisesofas". „Ein
der Tracht der dargestellten Personen nach dem phrygischen
Kulturkreis angehöriges Relief" zeigt uns eine brennende
Lampe, einen Widder, einen Stier, einen Raben und einen
großen Fisch.- Auf einer der phrygischen Mater magna
geweihten Inschrift finden sich neben anderen Sümbildem ein
Fisch und ein Becher,^ Heilige Mahle, bei denen man
Fische verzehrte, gibt es auch in den syrischen Kulten (vgL
F, Cumont, Die orientalischen Religionen übers, v. Gehrich,
Leipzig 1910, 284). „Indem der Gott zu seiner Tafel zu-
läßt, gewäErt er ihm Zutritt zu seiner Freundschaft."* Daher
ist der Fisch nicht nur im phrygischen Sabazioskult, sondern
auch in manchen alten Religionen zur Speise der Seligen im
Jenseits geworden, dessen Genuß göttliche Kräfte verleiht;
• Vgl. H. Hepding Attis, RGW I 1903, S. 156.
- H. Hepding Atiis, S. 180, Anm.
Vgl. A. Harnack Texte u. Unters. XU, 4b, 1895, S. 27.
* W. Robertson Smith D. Beligion d. Semiten, übers, v. Stube, S. 204.
Auch bei den Hettitem herrschte die Vorstellung, daß man durch das
Opfermahl in Gemeinschaft trete mit der Gottheit, vgl. Sayce Proceed.
of the Soc. of Bibl. Archaeol. 1906 p. 95. Bei den Hettitem schienen
ebenfalls gewisse Fische verehrt zu sein. Auf einem Zylinder ist die
Huldigungsszene eines geflügelten Gottes mit menschlichem Körper und
dem Kopfe eines Stieres dargestellt, der zu seiner Rechten einen Fisch
trägt, vgl. Perrot und Chipiez Histoire de Vart dam l'antiquite IV (Paris
1884) p. 773 Fig. 386.
Archiv f ReligionswisseDScbaft XIV " 22
338 I- Scheftelowitz
denn die Seligen sind ja die ständigen Freunde der Götter.
Nun haben auch die Semiten ursprünglich gewisse Fische gött-
lich verehrt. Überreste davon hat besonders der syrische Derketo-
Atargatis-Kult aufbewahrt.' Den Syrern war der Fisch heiligt,
weshalb sie ängstlich jeden Fischgenuß mieden.^ Nur den
Priestern war es gestattet, Fische zu essen. Der Göttin
Derketo wurden aber täglich Fische auf dem heiligen Opfer-
tische vorgesetzt, die später von den Priestern verzehrt wurden."*
^ Gegen den syrischen Kult, in welchem besonders zwei Tiere,
der Fisch und die Taube göttlich verehrt wurden (vgl. Cumont Die
oriental. Religionen, Leipzig 1910, 137 f.), wendet sich Michas Tanhümä,
Paresä Söfetim: An jedem Tage kränkt ihr Gott, ihr verehrt teils die
Taube, teils den Fisch, teils die Steine. Über den syrischen Kult der
Steine siehe Cumont p. 137 und 282 Nr. 29. Der Name der syrischen
Göttin, der von den Griechen als Derketö und Atargatis überliefert ist,
wird von Rob. Eisler, Philologus 68, 192 mit aram.-talm. tir'atä 'Riß,
Einsturz' (s. G. H. Dalmann ^ram. Wth. 1901, S. 428) zusammengebracht,
was mir nicht einleuchtet. Über die Etymologie von Atargatis s. Bau-
dissin in Herzogs Bealencycl. d. prot. Tkeol. IP p. 173 f.
* Vgl. Diodoros II c. 4, 3 : Sio Kai rovg lyvgovg (lixQ'- '^^^ *'^*' <ijr6';u6e'9'at
Tovxov xov ^dov (rov /;^'9'i5os) Kai riiiäv rovg ix^'vg d>g d'eovg. „Von Smyrna
bis an den Euphrat haben wir Nachrichten über heilige Fische, die in
besonderen Teichen gehegt wurden, dem Volke untersagt und nur der
Gottheit als heilige Opfer dargeboten, von den Priestern als Opferspeise
verzehrt werden durften" (Dölger Böm. Quartalschr. 23, 171); vgl. auch
F. Cumont Die oriental. Religionen, Leipzig 1910, 138. Noch heute
gibt es in Kleinasien Orte, in denen es verboten ist, „die als heilig
geltenden Fische zu fangen; und man glaubt, daß der, welcher von
ihnen essen würde, dem Tode verfallen sei" (F. Cumont, ebenda
S. 283 — 284.) In Smyrna sind heilige Fische inschriftlich bezeugt
(Dittenberger Sylloge 11* Nr. 584).
' Vgl. Ficker S. B. Preuß. Ale. Wiss. 1894, S. 101 f.; Athenäns VI I,
37; W. Robertson Smith D. Religion der Semiten, Freiburg 1899
p. 133—136.
* Ficker a. a. 0. S. 107; A. Dieterich Eine Mithrasliturgie S. 40 ff —
Einige in den Balkanländern gefundene Votivtäfelchen, die den ersten
christlichen Jahrhunderten entstammen und auf den samothrakischen
Mysterienkult zurückgehen, kennen ebenfalls den Fisch. „Hier ist der
Fisch immer und immer wieder allzudeutlich als die heilige Speise eiiu
Mysterienkultes hervorgehoben" (Dölger Böm. Quartalschr. 23, 170.
Das Fischsymbol im Jndentnm und Christentnm 339
Daß die Israeliten, bevor sie sich zum Monotheismus empor-
gerungen hatten, den Fischkult gekannt hatten, beweist das
Verbot (5. Mos. 4, 15): „die Form irgendeines Fisches, der
im Wasser ist, zu verehren". Auch das biblische Verbot, alle
Fische, die keine Schuppen und Flossen haben, zu genießen
(3. Mos. 11, 9 — 10), da sie „unrein" wären, scheint aus Opposition
gegen die heidnischen Kulte der verwandten Nachbarvölker
hervorgegangen zu sein, die solche Fische für heilig hielten
und bei gewissen Götterfesten aßen.^ „Man verbot den Genuß
Dölger sucht eingehend nachzuweisen, daß die Mahlszenen auf diesen
Täfelchen aus dem syrischen Kult entlehnt sind (Böm. Qitartalschr
23, 180 f.). Fischopfer wurden auch dem römischen Gott Volcanus
dargebracht (G. Wissowa Religion u. Kultus d. Sömer, München 1902,
S. 185). Ebenso sind in China Fischopfer gewöhnlich (K. Faulmann
Kuhurgesch., Leipzig 1881, S. 258). Über Fischopfer bei den Griechen
vgl. die Zeitschrift Hermes XXII, 97 ff. Auch auf einem assyrischen
Zylinder ist ein Fischopfer, das man zu Ehren einer Gottheit dar-
bringt, veranschaulicht (s. British Museum Nr. 89,470). Er ist ab-
gebildet in Tramactions of the Oxford Intern. Congr. history of Eelig.
Toi. U, S. 184. Über babylonische Fischopfer siehe Dölger in
seinem IX0YC I.
' Der Alexandriner Philo, der bestrebt ist, den Wortsinn der bib-
lischen Gesetze allegorisch zu deuten, hält nun die mit Flossen und
Schuppen versehenen Fische für ein Symbol der Selbstbeherrschung:
„Auch diese (reinen Wassertiere) kennzeichnet Mose durch zwei Merk-
male, Flossen und Schuppen: Tiere ohne diese beiden oder eines davon
verbietet er. Der Grund dafür soll recht genau angegeben werden. Die
Tiere ohne diese beiden Merkmale oder eines von ihnen werden von der
Strömung mitgerissen und vermögen der Gewalt des Strudels keinen
Widerstand zu leisten; die dagegen, die beide (Merkmale) besitzen,
weichen aus, stemmen sich mit der Kopfseite entgegen und führen den
Kampf gegen ihren Widerpart mit unbezwinglichem Eifer und Wagemut,
80 daß sie den Stoß mit einem Gegenstoß -und die Verfolgung mit einem
Angriff erwidern und an unwegsamen Stellen breite Wege zur bequemen
Flucht zu bahnen wissen. Auch diese Tiere sind Symbole. Die zuerst
erwähnten (Fische ohne Flossen und Schuppen) sind Symbole einer ge-
nußsüchtigen Seele, die andern aber Symbole einer Seele, welche Selbst-
beherrschung und Selbstzucht liebt. Denn der Weg zum Genüsse ist
abschüssig und sehr bequem und bewirkt eher ein Gleiten als ein
22*
,
340 I- Scheftelowitz
des Fleisches von Tieren, die bei anderen semitischen Stämmen
für heilig galten, und deren Fleisch beim Kultus von ihren
Gottheiten verzehrt wurde. Ähnliche Bestimmungen, die direkt
gegen heidnische Kultusgebräuche gerichtet waren, sind in
christlicher Zeit den aus dem Heidentum hervorgegangenen
Gläubigen eingeschärft worden, um sie von der Teilnahme an
den Götzenopfermahlzeiten abzuhalten. So verbot Simeon Stylites
seinen bekehrten Sarazenen, Kamelfleisch zu essen, weil dies
den Hauptbestandteil der Opfermahlzeiten der Araber bildete,
und der Genuß von Pferdefleisch wurde den Germauen zu einer
Zeit verboten, wo das Essen desselben noch ein Akt des Odin-
kultus war."^ Dem wohl ursemitischen Glauben gemäß durften
also nur gottgeweihte Personen gewisse Fische essen.^ Die bei den
Schreiten; steil dagegen ist der Weg zur Selbstbeherrschung und wohl
mühselig, aber höchst lohnend" (vgl. PJiilos Werke in deutsch. Übers.,
hrsg. V. Leopold Cohn, Breslau 1910 Bd II, p. 278—279).
' A. Dillraann Exodus u. Leviticus', Leipzig 1897, S. 529. Aber das
biblische Verbot kann auch davon herrühren, weil die Fische ohne
Schuppen und Flossen die meiste Ähnlichkeit mit den Schlangen haben
und deshalb für eine Art Schlangen gehalten wurden. So essen auch
die Eingebornen Tasmaniens keinen Fisch mit Schuppen, ja sie be-
rühren dieselben nicht einmal (H. Ling Roth Ahorigines of Tasmania,
Halifax 1899 p. 62). In der 'Ixd-voficcvreia der Ehsten bedeuten die
schuppenlosen Fische Unheil (J. Grimm Deutsche Mythol. * IT, 933). Es
gibt sogar Naturvölker, die sämtliche Fische wegen ihrer Glätte als
Schlangen auffassen und sie deshalb überhaupt nicht genießen, wofür
sich unten in Abschnitt 10 Belege finden. Die Schlange wurde bei den
verschiedensten semitischen Völkern für heilig gehalten, so bei den
Babyloniern, Arabern, Äthiopiern und Phöniziern (vgl. W. Baudissin in
Herzogs Real-Enc. f. prot. Theol.* V, 7). Sie war auch bei den Griechen
heilig (M. W. de Visser Die nicht vienschengestaltigen Götter der Griechen,
Leiden 1903 p. 164flF.; 170fiF.). Über den Schlangenkult vgl C. St. Wake
Serpent-Worship , London 1888; C. F. Oldham The sun and the serpentp'l
London 1905.
* Auch in Phönizien sind gewisse Fische verehrt worden.!
Auf einer phönizischen Münze hält der Gott Dagon in jeder Handj
einen Fisch (vgl. Imhoof-Blumer Tier- und Pflanzenbilder auf Münzer
und Gemmen, Taf. XHI, 33—34). Selbst auf punischen Münzen siehtj
man den Fisch (besonders den Thunfisch); vgl. Imhoof-Blumer Taf. VI,|
Das Fischsymbol im Judentnm und Christentum 341
Indianern und im phrygischen Kult sich findende Vorstellung,
daß im Jenseits alle Seligen au dieser Götterspeise teilhaben,
wird auch bei den Semiten bestanden haben. Dieser Gedanke
hat sich noch in den ünterströmungen des israelitischen Glaubens
erhalten, nach welchem der Fisch die Speise der Seligen ist
und auch an den religiösen Festen die bevorzugte Speise bildet.
Die auch bei den Persern und Indianern sich findende uralte
Vorstellung von dem Oberhaupt der Fische, dem niemand nach-
stellen kann, hat sich wohl noch von ursemitischer Zeit her in den
Unterströmungen des altisraelitischen Glaubens in der Gestalt des
Leviatan erhalten, den Gott dazu geschafi'en hat, daß er lustig im
Meere tummele (Ps. 104, 2{j)} Sein Genuß ist den Menschen im
diesseitigen Leben versagt. Kein Sterblicher kann ihn töten.
48, VII, 4 und VIII, 32). Über die Verehrung des Ziegenfisches in phö-
nizischen Städten vgl. W. Schultz Memtion II, 58. HeiHge Fischteiche
gab es bereits bei den Sumerern, vgl. L. \V. King History of Sumer and
Akhad, London 1910 p. 268. Dem sumerischen Gott des Wassers, Enki,
wurden gewisse Fische dargebracht (L. W. King History p. 128 f.). Den
Assyrern war es verboten, an gewissen Tagen Fische zu genießen. Wer
aber dagegen handelte, wurde von den Göttern mit Krankheit bestraft
(E. C. Thompson Semitic Magic, London 1908 p. 141).
' Die im Talmud Bäbä Baträ 73 b erwähnte Anschauung, daß es
zwei Leviatan gebe (siehe oben p. 49), geht auf Jes. 27, 1 zurück, wo
„Leviatan die flüchtige Schlange" und „Leviatan die gekrümmte Schlange"
erwähnt werden. Die Auffassung vieler primitiver Völker, daß Fische
eine Art Schlangen seien, scheinen auch ursprünglich die Hebräer gehabt
zn haben. Wegen seines fischartigen Wesens kann Leviatan mit einer Angel
gefangen werden (Hiob 40, 25). In der jüdischen Überlieferung gilt er
als ein Dag 'Fisch' {l^d^vg, vgl. oben p. 6 Anm ). Nach einem späten
Midras ruht „das große Meer Okeanos, welches die Welt umgabt, auf
den Floßfedem des Leviatan" (Midras Konen übers, v. Aug. Wünsche,
Aus Israels Lehrhallen III, Leipzig 1909 p. 187). Dieser gewaltige Fisch,
dessen Grösse 400 Parasangen beträgt, würde alle übrigen Fische ver-
schlingen, wenn Gott es nicht so eingerichtet hätte, daß er im Monat
Tebet sein Haupt schüttelt, wodurch die Fische von Schrecken ergriffen,
davoneilen (Midras Konen, übers, v. A.Wünsche a. a. 0. III, 198). Die
japanische Mythologie kennt auch einen ungeheuren Fisch, der, so oft
er sich bewegt, Erdbeben verursacht (B. H. Chamberlain Things Japanese,
London 1902 p. 127).
342 I- Scheftelowitz
Erst am Ende der Welt wird er von Gott geschlachtet werden
und den Seligen zur Speise vorgesetzt. Sekundär ist er dann
mit dem Messias in Verbindung gesetzt worden.
Dölger nimmt an, daß der christliche 'J;f^'Uff- Heiland
seinen Ursprung im syrischen Kulte habe. Ihm erscheint
dieses christliche Sinnbild „als eine auch im Interesse
der Missionstätigkeit außerordentlich nahe gelegene Opposition
gegen heidnische Bräuche, speziell des Atargatiskultes . . .
Dieses scheint die richtige Lösung zu sein. Vom Standpunkt
der Missionierung jener Gegenden könnte es manchem vielleicht
sogar verständlich erscheinen, daß man Jesus den eigentlichen
sehr großen 'Ix^vg nannte, um die Erinnerung an den in einer
Legende genannten Sohn der Atargatis aus dem Volksbewußt-
sein zu verdrängen, — trug doch dieser Sohn der Atargatis selbst
den Namen 'Ix&vg (Athenaeus VIII, 37)."^ Diese Hypothese
Dölgers ist unhaltbar. Gerade die Aberkios- Inschrift und die
Grabschrift von Autun, welche am ausführlichsten Kunde
von der urchristlichen Idee des 'I%9vg geben, enthalten, wie
ich bereits nachgewiesen habe, jüdische Vorstellungen über
den messianischen Fisch. Außerdem bietet nicht einmal der
bloße Name 'Ix&vs einen Anhaltspunkt, denn die Überlieferung
des Athenaeus, daß der Sohn der syrischen Derketo- Atargatis
7%'9'vs hieß, liefert nicht die geringste Gewähr dafür, daß dieser
Gott in der Tat diesen griechischen Namen geführt habe. Die
Syrer sind Semiten, und auch ihr Kult ist semitisch. Ebenso
wie nun der Name seiner Mutter Derketo(-Atargatis) nicht
griechisch ist, so wird auch ihr Sohn einen rein semitischen
Namen geführt haben, der wohl von Athenaeus ins Griechische
* H, Dölger Rom. Quartalschr. 23, 173. Bereits Bergh van Eysinga
Z. D. M. 6. 60, 210—212 will 'Ixd'vs mit Derketo in Verbindung bringen.
Derketo gebiert den 'IxQ'vs\ „die befruchtende und belebende Kraft der
alten Meeresgottheit, wie sie im Fische symbolisiert war, konnte leicht
auf das Wiedergeburt und Auferstehung wirkende Christentum übertragen
werden". Auch nach S. Reinach Cultes, Mythes III (1908) p. 43 if. soll
der syrische Fischkult das Ichthys- Symbol erzeugt haben.
Das I'ischsymbol im Judentum und Christentum 343
durch ^x^^S übersetzt ist. Die Derketo ist nach Diodoros*
eine Fischgöttin, die das Gesicht eines Weibes, aber den Körper
eines Fisches hat. Folglich wird auch ihr Sohn eine Fisch-
gestalt gehabt haben. Dieser wird sicherlich rerwandt sein
mit den übrigen semitischen Fischgottem. So wurde der
babylonische Gott Ea von alters her in halber Fischgestalt
dargestellt, und noch Sanherib warf als Opfer für ihn einen
goldenen Fisch und ein goldenes Schiff in die See.* Die Ver-
ehrung des Ziegenfisches ist für phönizische Städte nach-
gewiesen worden. „Den Gott, welchen die Phöniker und Libyer
als Ziegenfisch darstellten und verehrten, nannten die Hellenen,
nur eine Seite seines Wesens erfassend, Poseidon (Herodot II,
50; IV, 188)« (Wolfgang Schnitz im Memnon II [1908] p. 58).
Der Name des Hauptgottes der Philister, Dägön ist von däg
„Fisch" abgeleitet.
9 Der Fisch als Symbol des Schutzes gegen Dämonen
und als glückbringendes Zeichen
Auf der weit verbreiteten Vorstellung, daß den Fischen
göttliche Kräfte innewohnen, beruht auch der uralte Aberglaube,
daß schon der bloße Anblick der Fische heilsam wirke. Der
Fisch ist bei den verschiedensten Völkern das Sinnbild des
Schutzes gegen böse Geister; er ist zugleich ein Abwehrzauber
und auch ein glückverheißendes Zeichen. Diese Anschauung
ist wohl auch in Babylonien zu belegen. Ein babylonisches
Relief aus Bronze veranschauKcht eine Beschwörungsszene.
Zwei Priester, die ebenso wie der Fischgott Ea in eine Fisch-
haut gehüllt sind, stehen an dem Bette eines Kranken, um die
Dämonen, welche nach babylonischer Auffassung als Krank-
heitserreger gelten, auszutreiben.^
' Diodoros II, 4, 2: i]v ovouä^ovaiv ot Zvqoi Jsqxstovv. avrri 6h zb
Hhv TtQoecoTCOv ?;i;£i yvvaixog, ro d' aXXo ccöfia Ttäv Ix^^vog.
* Vgl. C. P. Tide Gesch. d. BeJigioti im Altert, Gotha 1896 p. 152.
* Siehe K. Frank Babylon. Beschwörungsrelief, Leipzig 1908 {Leipz.
setnit. Stud. III, 3); Perrot und Chipiez Eistoire de Vart dans l'antiquite II,
344 I- Scheftelowitz
Gemäß dem ägyptischen Totenbuclie (cap. 15 Zeile 24) ist
es für die Seele des Verstorbenen von hoher Wichtigkeit den
Fisch Ant anzublicken.^ Auf einer ägyptischen Gemme ist ein
Priester in langem, faltigem Gewände abgebildet, der ebenso
wie der Gott Horus auf einem Krokodile steht und mit der
linken Hand einen Fisch über seinem Haupte hält. Mit der
rechten Hand macht er eine Geberde, als ob er irgend eine
Beschwörung vornehme (vgl. Imhoof- Blumer, Tier- u. Pflanzen-
bilder auf Münzen und Gemmen Taf. XXII, 48). Fischfiguren
aus Elfenbein und Bronze wurden im alten Ägypten vielfach
als Amulette verwendet, weshalb sie auch am Munde entweder
ein Loch haben oder mit einem Ring versehen sind, um sie
anhängen zu können.^ Im alten Reiche wurden daher auch
Wände mit Fischbildern verziert." Altägyptische Geföße sind
mit Fischen, daneben mit den heiligen Vögeln, Krokodilen
oder Skorpionen versehend Das Berliner Kgl. Museum besitzt
ein Steingefäß in Form eines Fisches (s. Ausführl. Verz. d.
Paris 1884 p. 364 Fig. 162, — Diese Darstellung erinnert an eine Gemme, in
welche ein mit einer Fischhaut bekleideter Mann eingraviert Ist, der
in seiner Linken ein Lustrationsgefäß hält und seine Rechte zu irgend-
einem Gestus erhebt. Dölger {Böm. Quartalschr. 23, 151) glaubt, daß
hier ein babylonischer Priester dargestellt sei, der am Kraukenbett
Beschwörungen vornehme; allein diese Darstellung erinnert vielmehr an
das Ea-Oannes Relief aus Kujundschik (siehe die Abbildung bei A. Jeremias
Das A. T im Lichte des alten Orient p. 29, andere Ea- Abbildungen in
Fischhaut bei Perrot und Chipiez Histoire de l'art II p. 65 Fig. 9; 501
Fig. 224). Über babylonische Priester im Fischgewand vgl. auch Dölger
Der Fisch in den semitii'chen Eeligionen des Morgenlandes 1910. Über
die weitverbreitete Anschauung, daß Krankheiten durch Dämonen her-
vorgerufen werden, die in eine Person hineingefahren sind, vgl. M. Bartels
Ztschr d. Ver. f. Volkskunde V, Iff.; B. Kahle, ebenda p. 194 if; F. J. Dölger
Der Exorzismus im altchristlichen Taufritual, Paderborn 1909.
1 Vgl. E. A. W. Budge The Book of the Dead, London 1909
* Vgl. J. Capart Primitive Art in Egypt (transl. hy A. S. Griffith)
London 1905 p. 191—193; 85 u. 87 Fig. 57. Wilkinson und S Birch
Manners and customs of the ancient Egyptians III, 341 — 42, London 1878.
^ J. Capart Primitive Art in Egypt p. 143.
* J. Capart p, 111 — 112
Das Fischsymbol im Judentum und Chriatentam 345
ägypt. Altert, des Kgl. Mus. Berlin 2. Aufl. 1899 Nr. 16025).
Zahlreiche Vasen in Fischform sind auch sonst erhalten.* Selbst
altägyptische Kästchen und Körbe haben oft die Fischgestalt
oder sind mit Fischen geschmückt.-
Von den Ägyptern scheinen die Juden diesen Brauch
sehr spät übernommen zu haben, denn erst im 3. Jahrhundert
n. Chr. taucht dieser Aberglaube in der jüdischen Literatur
auf, der im Talmud durch Rabbi Jöhanan Ben-Napehe (3. Jhdt.),
Rabbi Haninä (3. Jhdt ) und dessen Sohn Jose Bar-Haninä
eine jüdische Färbung erhielt.
Xach diesen Männern hat Jakob in seinem Segen, den
er seinen beiden Enkeln erteilt hat (1. Mos. 48, IG: „Sie mögen
wie Fische zahlreich sein'*), deshalb einen Vergleich mit den
Fischen gebraucht, um hierdurch anzudeuten, daß, ebenso wie
Fische durch das Wasser bedeckt und infolgedessen vor jedem
„bösen Blick" sicher sind, so auch die Nachkommen Josefs,
nämlich die Israeliten, vor jedem „bösen Blick' geschützt" sind.*
Auf Grund dieser Anschauung hielt sich der wegen seiner
außergewöhnlichen Schönheit berühmte Rabbi Johanan gefeit
gegen das „böse Auge".^ Im Talmud heißt es: „Wer in eine
Stadt kommt und fürchtet, daß ein „böser Blick" ihm schaden
könnte, der nehme den Daumen der Rechten in die linke
Hand und den Daumen der Linken in die rechte Hand und
1 J. Capart p. 129.
* Wilkinson und S. Birch Manners and customs of the ancient Egyp-
tians II, 13—16; J. Capart Primitive Art in Egypt p. 191.
^ Dieser Glaube, daß gewisse Menschen oder Dämonen die Kraft
besitzen, durch bloßes Anblicken von Personen und Tieren Schaden zu-
fügen zu können, findet sich bei zahlreichen Völkern, bei den Babyloniem,
Indern, Persem, Ägyptern, Juden, Germanen, Griechen, Römern, Chi-
nesen, Tibetanern, Indianern, Negern und Südseeinsulanem, darunter
also bei Völkern, die niemals in Verbindung mit den alten Kulturen
standen; vgl. S. Seligmann Der böse Blick, Berlin 1910.
* Talm. Beräköt 20 a; 55 b; Bäbä Baträ 118b, Babä MesCä 84 a;
Sota 36b, Midr. Jalqfit zu 1 M. 48; Pesiqtä zutartä 1 M. 48, 16; Rasi
zu 1 M. 48, 16, 3Iidr. Agadä ed. Buber 1894 p. 108. '"" Beräköt 20 a.
346 I- Scheftelowitz
spreche: Ich X, der Sohn X's, bin ein Nachkomme Josefs,
über den kein böser Blick Macht hat, denn ein Nachkomme
Josefs gleicht den Fischen und ebenso wie die Seefische vom
Wasser bedeckt, vor dem „bösen Blick" geschützt sind, so
sind auch die Nachkommen Josefs gegen den „bösen Blick"
gefeit."^ Im Zöhär (Paresa Debärim) und in Sebi Hirs Jerabmiels
Nahelat Sebi (Paresa Debärim) wird erzählt, daß ein sehr
gelehrtes Kind die höchste Bewunderung mehrerer Rabbiner
erregte. Die verwitwete Mutter dieses Kindes, die dieses bemerkt,
bittet sie daher, mit einem guten Auge auf es zu blicken. Da
sagte das Kind: „Ich fürchte mich vor keinem bösen Blick,
denn ich bin der Sohn eines mächtigen Fisches, und die Fische
fürchten sich vor keinem bösen Blick. Israel wird ja gemäß
dem Segensspruch Jakobs, den er seinen Enkeln erteilt hatte,
mit Fischen verglichen." Auch das Tierkreisbild „der Fische"
soll andeuten, daß kein böser Blick und kein Gestirn über
die Israeliten Gewalt habe.^ Teile eines Fisches (Herz und
Leber) wehren nach Tobit 6, 18 und 8, 1 — 3 die Dämonen ab.^
Ebenso wird in Macedonien derjenige, der von Dämonen be-
sessen ist, durch die Drüsen eines Fischkopfes geheilt, indem
er damit ausgeräuchert wird, wodurch die Dämonen heraus-
getrieben werden (C. R. Thompson Semitic Mogic, London 1908
p. LVII).
Als ein magisches Heilmittel gegen den bösen Blick dient
der Fisch bei vielen Völkern. „Im Vogtland läßt man am
Weihnachtsabend die beschrienen Tiere Heringsköpfe essen;
in Pommern legt man einen Hering unter das Futter eines
beschrienen Pferdes. Isaac, der Araber, empfiehlt die Galle
und die Eingeweide eines Fisches, namens Zagami."^ Der Fisch
gilt besonders als ein Abwehrmittel gegen dämonische Kräfte
' Berakot 55 b. * Pesiqtu Rabbati, Pisqä 20.
' Über die hebr. Version der Tobit -Legende vgl. M. Gaster
Proc. of the Soc. of Bibl. Arch. Vol. XIX, 37.
* S. Seligmann D. böse Blick, Berlin 1910, Bd. I p. 292.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 347
„In Otranto schützen die Zähne von Haifischen, in Silber gefaßt,
vor dem bösen Blick." In Italien ist noch heute ein krummer
Fischzahn ein sehr häufiges Amulett, das man auch an Ohr- und
Fingerringen sieht.^ Bei den Arabern in Tunis dient eine
Fischfigur über dem Ladeneingang als Schutz- oder Glücks-
zeichen. Dort herrscht auch die Sitte, „am 1. April alle
Glückwunschkarten mit dem Glückszeichen des Fisches zu ver-
senden/' Daher sind auch in Syrien Türen häufig mit der
Überschrift IXQYE versehen.-
Hier ist also der Fisch ein Schutzmittel gegen dämonische
Gewalten. Hierauf könnte wohl die talmudische Anschauung
beruhen, daß der Genuß von Fischen sehr heilsam sei, weshalb
er besonders den Kranken angeraten wurde. „Der Fisch ist ein
Heilmittel für das kranke Auge."^ „Durch den Genuß kleiner
Fische gedeiht und nimmt schnell zu die Körperkraft des
Menschen.''^
Dieser Glaube, daß der Fisch den Schutz versinnbildliche,
ist weit verbreitet. Nach indischer Auffassung ist es für den
Kranken ein günstiges Zeichen, wenn sein Bote, der zum Arzt
gesandt ist, unterwegs Fische sieht.^ In Indien gehört der
Fisch zu den glückbringenden Vorzeichen. Der plötzliche
' S. Seligmann D. böse Blick Bd. II p. 117 und 136; Journ. of the
Antrop. Inst. 39, 402.
* Vgl. Dölger in seinem IXQYC I Excurs p. 425. Ebenso ist in Xord-
indien über den Türen von Mohammedanern und Hindus häufig ein Fisch ge-
malt. Auch das Wappen des ehemaligen Königshauses Üd bildete ein
Fisch, Tgl. Crooke Populär religi&n and folk-lore of Xarthem India 1, 47.
Herr Dr. Foy macht mich aufmerksam, daß auch in Brüssel zum 1. April
Karten mit Fischbildern versandt werden.
' Nedärim 54 b. Nach Tobit cap. 11 heilt die Gralle des Fisches
das Augenleiden.
^ 'Abödü zärä 29a, Beräköt 40a; 44b; 57b; vgl. auch Testam. d.
12 Patriarchen VI: „Wenn aber ein Kranker da war oder ein Greis, so
kochte ich Fische und bereitete es gut zu und brachte allen denen, die
es nötig hatten." ^ Vgl. Zachariae Wiener Z. K. M. 18, 306
348 I- Scheftelowitz
Anblick eines Fisches bedeutet stets etwas Günstiges. „Wer
am Morgen einen Rohita -Fisch sieht oder berührt, für den ist
dies ein unübertreffliches Glückszeichen. Wer eine Reise an-
tritt und dabei Fische sieht, wird glücklich heimkehren. Auch
wer im Traume Fische sieht, wird Glück haben. Wer sie im
Traume ißt, erlangt Wohlstand und Gesundheit."^ Zum
Schutze gegen böse Dämonen werden in Indien noch heute
Fische an die Wände der Häuser gemalt.^ Die Kolhs bringen
1 Pischel S. B. Fr. Äk. W. 1905, .527.
^ Vgl; Crooke Populär religion and folk-lore of Northern India II,
254. In China unrl Japan ist der Fisch das verbreitete Symbol der Er-
lösung aus Not und Schuld. Besonders wird hierzu die Figur des
Karpfens genommen (vgl. W. Anderson Catalogue of a Collection of
Japanese and Chinese Paintings, London 1886 p. 164 und Plate 2—3:
W. V. Seidlitz Gesch. d. Japan. Farbenholzschnitte , Dresden 1910 p. 201 .
Daher sieht man dort gewöhnlich Abbildungen von Karpfen, wie sie gegen
einen Wasserfall anspringen, was mir Herr und Frau Museumsdirektor
Professor Adolf Fischer, Cöln, die sich mehrere Jahre in China auf-
gehalten haben, mitgeteilt haben. Die Japaner haben besonders bei
dem am 5. Mai stattfindenden „Knabenfest" alle Häuser und Straßen
mit derartigen Karpfenbildern geschmückt, die den Knaben Schutz und
Ausdauer verleihen sollen (vgl. B. H. Chamberlain Things Japanese,
London 1902 p. 91 und 160). Japanische Gefäße sind häufig mit
Fischen, besonders mit Brassen oder Karj^fen bemalt (vgl. Aug. W. Franks
Japanese Pottery, London., South Kensington Museum p. 17). In der alt-
chinesischen Ornamentik sieht man oft eine Fratze, deren Hörner in
fisch artige Geschöpfe verwandelt sind (vgl. W. v. Hoerscheimann Ent-
wicklung altchinesischer Ornamentik, Leipzig 1907 p. 21). „Wir haben
es ursprünglich wohl mit demselben Motiv zu tun, welches bei den ver-
schiedensten Völkern auf früher Kulturstufe eine so große Rolle spielt
bei religiösen Kulten und hauptsächlich als Schreckmittel im Kampf:
ein Dämon schreckt die Feinde vom Schilde des Kämpfenden her"
(Hoerscheimann, ebenda p. 19). Ebenso wie auf den chinesischen und
japanischen Darstellungen die Fische gegen den Strom schwimmen, so
sind auch auf dem Fragment eines sumerischen Reliefs zwei Fische
dargestellt, die zur rechten und zur linken Seite eines in zwei Strömen
sich ergießenden Springbrunnens gegen den Strom anspringen (vgl. King
History of Sumer and Äkkad p. 69 Fig. 21). Da derartige Springbrunnen
ein heiliges Symbol des sumerischen Gottes Gudea und des babylonischen
Heros Gilgamesch bilden (King p. 48 und p. 75 f. nebst Fig. p. 72 b), so
haben auch die Fische eine sinnbildliche Bedeutung.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 349
auf ihrem Hause das Abbild eines Fisches an, um sich vor
dem „bösen Blick" zu schützen.
Auch im alten Persien scheint die Vorstellung verbreitet
gewesen zu sein, daß die Fische vor bösen Dämonen schützen.
Die älteren Pehlevi- Schriften berichten, daß Ahuramazda deo
Baum Gökam, aus dessen Saft der göttliche Trank Höm
gewonnen wird, der bei der Totenauferstehung die Seligen
beleben werde, in dem See Varkas gepflanzt habe. Ahriman
aber, der besondere Feind dieses Höm, setzte eine dämonische
Eidechse in den See, um die Pflanze zu verderben. Doch zur
Abwehr dieser Kröte schuf Ahuramazda 10 Fische, durch
welche der Höm beständig umkreist wird. Gern wünscht die
Kröte diese himmlischen Fische zu verschlingen, aber sie kann
es nicht, obgleich sie bis zur Auferstehung stets danach
Gelüste hat.^
Von einer alten heiligen Quelle in Irland herrschte die
Sage, daß Kranke, welche das Glück hatten, in derselben
einen Lachs oder Aal zu erblicken, genesen würden.*
Man hielt es für ein günstiges Omen, wenn zu einem,
der am Wasser stand, Fische heranschwammen.
Der ältere Plinius Secundus^ bestätigt dieses. Er erzählt:
„Als Augustus im Sizilischen Kriege am Strande wandelte,
^ Bundehis c. 18; Meni xard c. 30. Die Kröte galt nicht nur bei
den Persem, sondern auch bei den Germanen, Südslaven und Giljaken
als ein dämonisches Tier; J. Grimm Deutsche Myth.* III, 199; F. S. Kraus
Slav Volksforsch. 1908, 59; v. Schrenck Beisen iiwl Forsch, im Amur-
lande III, 75.S.
' W. G.Wood -Martin Traces of the eider faiths of Ireland (1902)
n p. 92. Hier könnte auch die Vorstellung zugnmde liegen, daß der
Fisch gleichsam das Übel des Menschen verschlingt und damit in der
Tiefe verschwindet. So heißt es in einem assyrischen Gebete: „daß der
Fisch meinen Schmerz wegtragen möge, daß der Fluß ihn fortbringe"
(R. C. Thompson Semitic Magic, London 1908 p. 186).
' Historia naturalis IX, 55. Ähnlich berichtet Athenaeus Till, 9,
daß der König Antigonus in den Fischen, die ihm der Feldherr des
""' 'omaeus als Geschenk zusandte, eine Andeutung erbb'ckte, daß er
» das Meer herrschen werde.
350 I- Scheftelowitz
sprang ein Fisch aus dem Meere ihm vor die Füße, was die
Wahrsager, obwohl sich gerade damals Pompeius für einen
Sohn des Neptunus erklärt hatte, so auslegten: Es würden
diejenigen, Welche jetzt das Meer beherrschten, dem Kaiser
bald zu Füßen liegen." Bei verschiedenen Völkern wurden
Fische als Augurium verwendet. So war nach Plinius (Hist.
nat. XXXT, 22) zu Limyra in Lycien eine fischreiche Quelle,
bei der sich die dortigen Bewohner Rat holten. Fraßen die
Fische die Speisen, die man ihnen bei dieser Gelegenheit zu-
warf, auf, so war dieses ein glückverheißendes Vorzeichen. „Ver-
sprechen die Fische aber keinen günstigen Ausgang, so werfen
sie die Speisen mit den Schwänzen zurück." „In der Quelle
des Apollo, den man den Syrer nennt, bei Myra in Lykien werden
die Fische durch dreimaliges Flöten zum Abgeben einer Vor-
bedeutung herbeigelockt. Nehmen sie das ihnen zugeworfene
Fleisch begierig an, so ist dieses ein günstiges Zeichen für die
um Rat fragenden Leute, schlagen sie es mit dem Schwänze
zurück, ein schlimmes" (Plinius, Hist. nat. XXXII, 17). Diese
lykischen Fischorakel werden von Aelianus (VII, 5; XII, 1)
und Athenaeus (VIII, 8) noch ausführlicher behandelt. Dieser
Brauch herrschte auch in Indien. So gibt Kausika Sütra (47,
37 — 38) an, daß man, wenn man einen Feind vernichten will,
dessen Speiseüberreste in einen fischreichen Teich werfen soll.
„Wenn die Fische in Menge darauf zuschwimmen, so ist
der Feind vernichtet."' Nach dem Glauben der Nuforesen
(Neu -Guinea) wird der Schiffer durch einen in die Höhe
springenden Fisch rechtzeitig vor Gefahr gewarnt und kehrt
schleunigst um (Ztschr. f. Ethnol. VIII, 187). Die Ehsten
stellen zum Zwecke der Weissagung drei aneinandergereihte
Körbe in ein fischreiches Gewässer. Kommen in den mittelsten
' Vgl. die Übersetzung bei Caland Altindisches Zauberrittial,
Amsterdam 1900 p. 164. In der germanischen Mythologie besitzen die
Wassergeister, die halb Mensch, halb Fisch sind, die Gabe der Weis-
sagung, vgl. Golther Handbuch d. german. Mythologie 1895 p. 146 u. 149.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 351
Korb schuppige Fische, so bedeutet dieses für sie etwas Glück-
liches (J. Grimm, Deutsche Mythol.^ II 933).
Deshalb ist es ganz erklärlich, daß der Altar der Rettung
und Schutz verleihenden Siegesgöttin (Dea Victoria) im
Bonner Museum Fischbilder und Delphine aufweist.^ Der
' Vgl. C. J. Rhen. 380; Katal. d. Kgl. Museums vaterl Altert.
Bonn 1876, S. 28, 77. Dieser Altar der Victoria ist zu Alteburg bei
Cöln, wo einst eine römische Flottenstation war, gefunden und etwa
um 200 n. Chr. errichtet worden. Tgl. H. Lehner ProvinziaJmuseum in
Bann 1905, I, Taf. 32, 1—2, Joseph Klinkenberg Das römische Cöln
(= Kunstdenkmäler der Rheinprorinz hrsg. von P. Giemen Bd. VI,
Abteil. 2, Düsseldorf 1906) Taf. XIV nebst Beschreibung p. 369: „Der
Altar der 'Viktoria, 1,97 m hoch, 0,82 m breit und 0,60 m tief, der
größte römische Altar Kölns. Das Gesims, aus flacher Hohlkehle und
starker Plinthe bestehend, ist ringsherum mit einem aus sich durch-
schneidenden Kreisen gebildeten Ornament geschmückt; darüber befindet
sich auf der Schauseite ein Bukranion zwischen zwei Delphinen, die in
der Schnauze eine kleine Scheibe halten und je eine Rosette an den
Ecken, auf der Rückseite in der Mitte ein Fisch, in der rechten Ecke
ein Eberkopf, in der linken wahrscheinlich wieder ein Fisch. Das
Hauptfeld der Vorderseite, das mit einem Spiralomament umgeben ist,
trägt in mageren Lettern die ehemals rot gefärbte Inschrift: Deae
jVictoriae Sacrum. Die drei übrigen Seiten sind in ein oberes und
ein unteres Feld geteilt. Das obere Feld der Rückseite zeigt zwei
mit dem Kopfe nach unten gerichtete, bei der ersten Schwanzflosse
durch einen Querstab verbundene Delphine, zwischen denen sich ein
dritter kleinerer Fisch befindet; das untere Feld einen nach links pro-
filierten Stier mit schief stehendem Lorbeerbaum hinter sich. Das obere
Feld der beiden Seitenflächen enthält Opfergeräte, rechts Opferwasser
und Opferbeil, links Opferbecken und Opferschale, das untere nach der
Schauseite hin profilierte Opferdiener mit den über ihnen dargestellten
Geräten in der Hand." Prof. H. Lehner in Bonn nimmt an, daß die
römische Flottenstation, die wohl dieses Denkmal der Viktoria gesetzt
habe, in ihrem Fahnenzeichen vielleicht Delphine gehabt hätte und sie
daher statt ihres Namens nur ihr Abzeichen auf diesem Stein angebracht
hätte. Allein dann hätte man erwartet, daß diese Zeichen der Dedikanten
auf der Vorderseite gleich unter der Inschrift ständen. Die Delphine
und Fische scheinen hier vielmehr Symbole des Schutzes zu sein. Del-
phine, die sich einem Schiffe zeigten, wurden von den Schiffern als ein
günstiges Vorzeichen angesehen (vgl. Find. Pyth. 4, 29; Eurip. Hei. 1467,
El 433). Auch die Schutz verleihende Göttin Athene erscheint häufig
in Verbindung mit Fischen (vgl. Imhoof-Blumer Tier- und Pflanzen-
352 I- Scheftelowitz
Fisch ist ja das Symbol des Schutzes; dagegen war der Delphin
bei den klassischen Völkern das Sinnbild der Rettung. Die
Fische und Delphine im Gefolge der Dea Victoria sollen an-
deuten, daß diese Göttin Schutz und Rettung verleiht. Die
hilder auf Münzen und Gemmen, Taf. III, 29 — 30, VI, 46) oder mit
Delphinen (Imboof-BIumer, Taf. I, 7, VII, 11), wie gewöhnlich Apollo
mit dem Delphin dargestellt wird (vgl. Imhoof-Blumer Taf. XIIl, 1).
Die Delphinfigur wurde als Amulett verwendet (0. Keller Tiere d. Mass.
Altert. 1887 p. 217). Der Delphin ist häufig auf Gemmen von Siegel-
ringen abgebildet (vgl. Imhoof-Blumer, Taf. XX, 15— 34, XXI, 8, XXIV, 19,
femer Bonn. Jahrb. 9, 26; 17, 132). Auch die Sammlung Niessen, Cöln,
besitzt solchen Ring. Sie dienten dem Träger gleichsam als Amulett.
Darum wurden mit Delphinfiguren Gürtelschnallen (Bonn. Provinzial-
museum Nr. 2352), Helme (Imhoof-Blumer p. 27), Schilde (0. Keller Tiere
p. 217) und auch Messergrifi'e (Sammlung Niessen, Cüln) verziert. Sie
kommen häufig auf Münzen vor (Imhoof-Blumer z. B. IV, 25 — 27, V,
11 — 12, 26; VIII, 44). Daher wurden auch bronzene oder steinerne
Delphinfiguren dem Toten ins Grab mitgegeben, um sie hierdurch wohl
vor den Leichendämonen zu schützen (vgl. Bonn. Provinzialmuseum Nr. 4842
und 6071, J. Klein Bonn. Jahrb. Bd. 101 p. 104 Fig. 4, ferner Bonn.
Jahrb. 57, 226. Einen Tondelphin besitzt die Sammlung Niessen, Cöln).
Ein bei Waldfischbach aufgedeckter spätrömischer Sarkophag, worin die
Asche aufbewahrt war, ist mit einem Relief verziert, welches zwei
einander zugekehrte Delphine darstellt {Bonn. Jahrb. 77, 78 f.). Dieses
Tier ist auch auf heidnisch -römischen Grabsteinen häufig abgebildet
(0 Keller, Tiere p. 231). Selbst in den christlichen Katakomben sind
zuweilen Epitaphien mit Delphinen verziert (De Rossi De christianis
monumentis I X@YN exhibentibus in Spicilegium Solesmense III (1855) Fig.
Nr 45, 72, 79, 80; V. Schnitze D. Katakomben 1877 p. 330). Auf Toten-
lampen sind ebenfalls häufig Delphine abgebildet (Sammlung Niessen,
Cöln). Selbst die Fläschchen und Kästchen, die man dem Toten beilegte,
sind mit Delphinen geschmückt. Derartige Glasfiaschen besitzt das
Walraf-Richartz-Museum, Cöln (z. B. Nr. 186—187; 303—304). Gewöhnlich
sind die HandgrifTe solcher Kästchen aus zwei Bronzedelphinen gebildet
(z. B. Walraf-Richartz-Museum, Cöln Nr. 629 und 940, Bonn. Provinzial-
museum Nr. 6001 und 6513). Auch im Stadtmuseum zu Remagen und
in der Sammlung Niessen, Cöln, findet sich derartiges. Zur Disch'schen
Sammlung gehörte ein kleines Glastrinkhorn mit zwei aufgeschmolzenen
kleinen Delphinen (Aus 'm Weerth Bonn. Jahrb. 71, 125). Römische
Gläser in Form von Delphinen sind häufig {Ärch. Ztg. 1876 Fig. 203).
Sicherlich sind auch Delphinfiguren zuweilen rein dekorativ verwendet
worden. Die Sammlung Niessen, Cöln, besitzt auch einen gallischen
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 353
Wotjaken (Rußland) opfern dem Glücksgotte Vorsud zwei
Hechte, damit er das Glück der Familie und der Kinder yer-
mehre (J. Wasiljev, Heidnische Gebräuche der Wotjaken, Hel-
singfors 1 902 p. 7 l f.).
Daher wurden im Altertum Fisch figuren als Amulette benutzt.*
Im alten Griechenland wurde sehr häufig der Fisch als Schild-
Eimer mit Delphinhenkel (aus dem 1. oder 2. Jahrhundert), über
römische Eimer mit „Delphinattachen" aus dem 2. Jhdt vgl. H. Willers
yene Untersuchungen über die römische Bronzeindustrie, Hannover 1907.
Unter den bei Dieuze (Lothringen) aufgedeckten römischen Steintrümmem
gibt es auch Steine mit Delphinen im Relief (Anz. d. germ. Xational-
museums 1893 p. 102). Diese Tiere sind schon auf den ältesten grie-
chischen Gefäßen abgebildet (Jännicke Gesch. d. Keramik 1900 p. 136).
Auch auf den Vasen der Chinesen findet man häufig Delphine (Coenen
Bonn. Jahrb. 57, 226). Auf einer mykenischen Gemma sind zwei Delphine
(Perrot und Chipiez Histoire de Vart T. VI p. 854 nebst p. ><47 Fig.431,2i.
Ein in Dellis (Algerien) ausgegrabener heidnisch -römischer Sarkophag
weist auf der rechten und linken Seite des Deckels je drei Delphine
auf {Anndles Archeol. T. 18 Paris 1858 p. 166). Heidnisch - römische
Totenlampen, die zu Karthago aufgedeckt sind, sind häufig mit
Delphinen versehen (vgl. Revue Arch. 3. Ser. T. XXXÜl 1898 p. 232).
Eine von diesen Lampen weist sogar sieben Delphine auf (J?et*tt€ Arch.
3. Ser. T. XXXVllI p. 24—26). In römischen Brandgräbem der Rhein-
provinz sind häufig Glasflaschen gefunden , deren Halsansatz oder Henkel
mit einem Delphin verziert sind (vgl. Bonn. Jahrb. Bd. 110 p. 60 Nr. 40;
p. 61 Nr. 46; Bd. 114/115 p. 4U6 Nr. 35c; p. 416 Nr. 57k; Bd. 116 p. 155
Nr. 84). Auch auf der etruskischen Hängelampe von Cortona ist ein
WeUenmotiv mit Delphinen, während in der Mitte der Lampe sich ein
Gorgonenhaupt befindet (P. A. Kuhn Gesch. d. Plastik I. Halbbd 1909
p. 105 nebst Fig. Nr. 142). Wenn in der älteren nordischen Eisenzeit
„auf einer mit Bildern bedeckten Schmuckplatte aus dem Thorsberg-
funde und auf dem Silberbecher von Nordrup Delphine zu sehen
sind . . so sind diese Bilder unzweifelhaft entlehnt" (S. Müller Nord.
Altertumskunde 1898 Bd II, 94).
' Auf einem kleinen Amulett aus undurchsichtigem Glase, das in
einem altgriechischen Grabe der mykenischen Periode gefunden wurde,
ist ein Fisch zu sehen, vgl. Perrot und Chipiez Histoire de Vart dam
l'antiquite T. VI (Paris 1894) p. 557 Fig. 243 und p. 945. Auch alt-
griechische Dolche der mykenischen Periode sind zuweilen mit Fisch-
zeichnungen versehen, vgl. Perrot und Chipiez, Histoire T. VI p. 782 und
PI. XVII.
Archiv f. Religionawissenscbaft XIV 23
354 I- Scheftelowitz
zeichen angebracht.^ Fischfiguren trugen Griechen^ und Römer zu-
weilen als Gewandnadel (fibula). Eine solche römische Fibel
aus Erz, die die Form des Fisches hat, ist auch zu Bretzen-
heim bei Mainz gefunden worden.^ In Japan wird der Fisch-
kopf als Talisman verwendet.* Japanische Helme, die teils
Fischbilder aufweisen, teils eine fischförmige Gestalt haben,
sind schon im 8. Jhdt. n. Chr. nachweisbar.^ In Surinam, dem
holländischen Guayana (Südamerika), wird der obere Teil eines
Fischkopfes als Amulett verehrt. Man trägt ihn gern als
Manschettenknöpfe, Anhängsel an der Uhrkette u. dgl. Sie
legen dem pulverisierten Gehörorgan der Fische heilbringende
Kräfte bei."
Hölzerne Fischfiguren, die besonders den Karpfen darstellen,
dienen bei den Giljaken (Sibirien) als Amulett.' Die Ostjaken
(Sibirien) glauben, daß solche Fischfiguren besonders beim Fisch-
fang hervorragendes Glück bringen.''
Plinius Secundus" berichtet, daß man in seiner Zeit als
Talisman „Götter an den Fingern trägt". Daher hat man,
wie Clemens Alexandrinus überliefert, Siegelringe getragen.
' Vgl. SchaafFhausen in Bonn. Jahrb. 1884, S. 168.
* Vgl. Revue Ärch. Serie 4 T. XIV (1909) p. 103.
* Vgl. L. Lindenschmit Die Altertümer unserer heidn. Vorzeit II
(Mainz 1870), Heft 7 Taf. IV, 14. Fränkische Gewandnadeln aus der
Merowingerzeit haben häufig die Gestalt von Fischen, vgl. Lindenschmit
Handbuch d. deutschen Altert. 1889 Taf. XXIII zu p. 4.51—455.
■* Deguchi in Journ. Anthr.Soc. Tokyo XXIY, 227. Ebenso kommen
Fischamulette in Burma vor (Journ. of the Anthrop. Inst. 39, 402). Auf
dj^se beiden letzten Zeitschriften bin ich durch Herrn Museumsdirektor
Dr. W. Foy aufmerksam gemacht worden.
^ Vgl. Histoire de l'Art du Japon, Paris 1900 p. 30 u. p. 165
« Z. f. Ethn. 25, 158.
' L. V. Schrenck Reisen und Forschungen im Amurlande, Peters-
burg 1895 Bd III, 747.
" F. R. Martin Sibirica, Stockholm 1897 Taf. 21 Fig. 7.
° Historia naturalis II, 21. Auch die Misnä 'Abödä zärä 1, 8 be-
richtet von dem heidnischen Brauch, auf Schmuckgegenständen, wie auf
Halsketten, Nasenringen, Fingerringen Götzenbilder darzustellen.
Das Fischsymbol im Judentum und Omstentum 355
auf deren Steinen auch der Fisch als glückbringendes Symbol
abcrebildet vrar} Selbst die ältesten Christen wandten das
Fischamulett zum Schutz gegen Dämonen an. Ein alter
Fischtalisman aus Bronze trägt die Inschrift Z^ZAIZ („du
mögest schützen").' Demselben Zweck hat auch folgende
Gemme' gedient, auf der man zwischen zwei Fischfiguren
lesen kann:
* Vgl. Clemens Alexandrinus Paedagogus III, 1; Hans Schmidt
Jona (Göttingen 1907, S. 160); Dölger Eöm. Quartalschr. 23, 16. Über
einen Siegelring mit dem Bilde eines Karpfen vgl. Imhoof-Blumer,
Tier- und Pflanzenbüder auf Münzen und Gemmen, Leipzig 1889,
Taf. XXIII, 12. Auch die Sammlung Niessen, Cöln, besitzt einen aus
dem 4. Jahrhundert stammenden eisernen Siegelring mit Speckstein,
worauf ein Karpfen abgebildet ist. Über dem Fisch steht der Name
TITU(8), unter demselben LIB(ertu8). Ebenso hat die römische Sammlung
der Utrechter Universität eine Gemme mit einem Fisch (Jahrb. d. Vereins
V. Altertumsfreunden im Eheini. 9, 26) Bereits auf mykenischen Gem-
men erscheint der Fisch (vgl E. Babelon La gravure en Pierres fines
Paris 1894 p. 85 Fig. 54). Eine Bronzemünze, die das Brustbild des
Kaisers Commodns zeigt, hat auf der Rückseite einen Fisch mit offenem
Rachen. Darüber steht C(ae8ar) I(mperator) C(ommodus) A(ntoninus).
Der Fisch soll hier wahrscheinlich jeden bösen Zauber vom Kaiser ab-
wehren (vgl. Imhoof-Blumer, Taf. M, 45). Besonders waren Gemmen
mit FischbiJdem im Altertum ein sehr beliebtes und daher weitverbreitetes
Amulett. Eine zu Rhodos gefundene Gemme zeigt einen Fisch (Berliner
Antiquarium, Gemmen, Inventar 4462). A. Milchhöfer Anfänge d. Kunst
in Griechenland, Leipzig 1883 p. 84 erwähnt solche mit Fischen oder
Delphinen, die aus vorchristlicher Zeit stammen. Im Kopenhagener
Museum ist eine uralte, auf Kreta ausgegrabene Gemme, die auf der
einen Seite einen Fisch, auf der andern Seite zwei Fische zeigt {Yerh.
d. Berliner Ges. f. Anthropol. 1887 p. 702) Die Fischfigur dieser
kretischen Gemme hat nun große Ähnlichkeit mit einzelnen auf germa-
nischem Boden gefundenen Fischdarstellungen 'auf Fingerringen, die in
der Nieder-Lausitz und in Landsberg a. Warthe ausgegraben sind und
wohl aus vorchristlicher Zeit stammen (vgl. Verh. d. Berliner Ges. f.
Anthrop. 1884 p. 42 und 205; 1887 p. 702).
* F. X. Kraus Beal-Enc. I, 518; F. Becker Die Darstellung Jesu
Christi unter dem Bilde des Fisches, Breslau 1866 S. 96.
' Vgl. F. X. Kraus Beal-Enc. I, 517 und 519. Unter den antiken
Funden, die man in den Katakomben gemacht hat, gibt es auch eine
tiefe Schale, auf deren Rand ein schwimmender Fisch gemalt ist, vgl.
23*
356 I- Scheftelowitz
IX
2JSITHP
&Y
Bisher hat man den Fisch in diesen altchristlichen Fisch-
amuletten fälschlich mit Christus in Beziehung gebracht.
Der Fisch als dämonenabwehrendes Zaubermittel und als
Symbol des Glückes war also bei den verschiedensten Völkern
ursprünglich. Die Juden haben diesen Glauben von den Ägyp-
tern erst sehr spät entlehnt^ und umgestaltet; ebenso haben
die ältesten Christen an dieser heidnischen Anschauung noch
festgehalten. Dieser Glaube, daß der Fisch Glück bringe, hat
sich aus uralten religiösen Vorstellungen entwickelt. Man hielt
die Fische teils für Verkörperungen göttlicher Kräfte, teils für
Darstellungen der Ahnengeister, die ihren geliebten Nach-
kommen Schutz verleihen. Der Fisch war aber auch seit
uralter Zeit das Sinnbild der Fruchtbarkeit. Daraus konnte
sich nun sekundär ebenfalls das Symbol des Glückes ent-
wickeln, denn reicher Kindersegen galt bei den ältesten Kultur-
völkern als ein Zeichen des göttlichen Segens, also als ein
Glück, Der Fisch nun, der den Kindersegen versinnbildlichte,
wurde daher auch für ein glückverheißendes Vorzeichen angesehen.
Ebendieselben primitiven Vorstellungen werden es auch
hauptsächlich bedingt haben, daß unter allen heiligen Tieren,
die in den altertümlichen Religionen göttliche Kräfte ver-
körperten, gerade der Fisch die Seligenspeise in den orientalischen
Kulten wurde. Der messianische Fisch hat sich dann aus
derartigen primitiven Ideen in besonderer Weise entwickelt.
De Waal, Rom. Quart. 18, 311 und 314. Dieses scheint nur anzudeuten,
daß diese Schale nur für Fische bestimmt ist, denn Plinius, Hist. nat.
XXXV, 1C2 berichtet, daß man bei Gastmählern ganz besondere Schüsseln
für Fische hatte.
* Über die Kulturbeziehungen Altägyptens zum Auslande vgl.
A. Wiedemann Bonn. Jahrb. 91,1 ff.; A. Furtwängler Bonn. Jahrb. 107,37 ff.;
108/109 p. 239 ff.; R. Wünsch Antikes Zaubergerät awi Pergamon, Berlin
190.Ö p. .30 f.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 357
10 Die Fische als Darstellungen von Ahnengeistern.
Viele alten Völker glaubten, daß die Seele eines ver-
storbenen Menschen in den Körper eines Fisches eingeht, wes-
halb man den Geuuß der Fische ängstlich mied. Nur an den
Totenfesten war es gestattet, Fische zu essen, da man auf
diese Weise glaubte, mit den Seelen der geliebten Verstorbenen
in Beziehung zu treten. So konnte nach dem Glauben der
alten Ägypter die menschliche Seele eine ganze Reihe von
Gestalten annehmen. Sie konnte nicht nur als Vogel, Schlange,
Krokodil und Blume erscheinen, sondern in der jüngeren
ägyptischen Zeit auch als Fisch auftreten. Auf einen ägyp-
tischen Sarkophag der hellenistischen Zeit, wahrscheinlich der
römischen Kaiserzeit, ist folgendes Bild gemalt: Auf der
löwengestaltigen Bahre liegt die Mumie. Während sonst über
der Mumie die Seele des Toten gewöhnlich in Gestalt des
Seelenvogels erscheint, ist „an dessen Stelle nun hier ein Fisch
dargestellt, und zwar, wie die Ümrißlüiie des Maules zeigt,
der Oxyrrhynchos". Ein ebenfalls aus Ägypten stammender
hölzerner Oxyrrhynchos- Fisch, auf dem u. a. das Totengericht
dargestellt ist, findet sich im Berliner Museum. In der Spät-
zeit Ägyptens sind oft rechteckige Plättchen, auf denen ein
Fisch abgebüdet ist, gefunden.^ Den Ägyptern war der Genuß
von Fischen verboten^, aber am Totenfeste, an welchem mau
mit den Seelen der Verstorbenen in Verbindung zu treten
suchte, pflegte man beim religiösen Mahle Fische zu verspeisen.
Nach einem Berichte des Plutarch^ verzehrten alle Ägypter
am neunten des ersten Monats vor ihrer Haustüre einen ge-
* Vgl. W. Spiegelberg Ärch. f. Beligionstc. 12, 575; vgl. auch Nash
in Proceed. Soc. Bibl. Ärch. 25 S. 112. *
* Vgl. Herodot 2, 37 ; A. Erman Aegypten S. 327. In dem Toten-
buche heißt es : „Nicht fing ich Fische in ihren Weihern" (A.Wiedemann
D. JReligion d. alten Ägypter, Münster 1890 p. 133).
' De Iside et Osiride c. 7; vgl. auch S. Birch Manners and customs
of the ancient Egyptians London 1878 Vol. 11, 118—120; III, 340flF.
358 I- Scheftelowitz
bratenen Fisch, während die Priester, die keine Fische essen
durften, am selbigen Tage Fische vor der Haustür als Opfer
verbrannten. Auch Clemens von Alexandrien (Protrept. II
39, 5) erwähnt, daß in manchen Gegenden Ägyptens der Fisch
verehrt werde: „Die Syeniten verehren den Fisch Phagros, die
Bewohner von Elephantine aber den Fisch Maiotes, in ähn-
licher Weise die Einwohner von Oxyrrhynchos den Fisch, der
nach ihrem Lande den Namen trägt." ^ Das ohen beschriebene
Bild auf dem ägyptischen Sarkophag beweist, daß der Oxyr-
rhynchos als Seelenfisch verehrt wurde. Die gleiche Rolle
werden auch die anderen von Clemens aufgezählten Fische ge-
spielt haben. „Daß manche Ägypter Fische mit göttlichen
Ehren bedachten" berichtet auch der um 140 n. Chr. lebende
christliche Apologet Aristides.^ Ägyptische, dem Totenkult
dienende Gefäße aus der Zeit der Ptolemäer, die teils auf dem
Boden der Totengruft aufgestellt, teils mit Schnüren an den
Wänden aufgehängt sind, sind besonders mit Fischen auf
Lotosblumen bemalt.^ Auch Darstellungen von Männern, die
mit ihren beiden Händen einen großen Fisch tragen, sieht
man häufig in solcher Totengruft (vgl. S. Birch Manners and
customs of the ancient Egyptians Vol. IH p. 11 9. Fig. 374).
Die afrikanischen Völker Wanika, Wakamba, Galla, Somali,
nach deren Glauben die Seele nach dem Tode die Gestalt einer
Schlange annimmt^, essen keine Fische, denn sie halten sie
' Vgl. F. J. Dölger Rom. Quartalschr. 23, 156. Derartige Fische aus
Bronze sind auch gefunden worden, vgl. Wilkinson und S. Birch Manners
and customs lU, 341 f.
* Vgl. Dölger a. a. 0. — Diese ägyptische Sitte soll nach Dölger
{Rom. Quartalschr. 23, 158) „eine Art Wegebereitung für das christlich
euchariatische Fischsymbol gewesen sein, so daß sie dessen leichteren
Eingang wenigstens in der ägyptischen Provinz ermöglichte".
" Vgl. Ft Jaennicke Geschichte der Keramik, Leipzig 1900, p. 73 u,
p. 74 Fig 6.
" Vgl. J. Lippert Seelenkult, Berlin 1881 p. 38, und Wundt Völkei-
Psychologie II, Teil 2 p 61 f. „An die Schlange reiht sich schließlich noch
der Fisch an, der vermöge seiner Schuppenhaut für eine naive Auf-
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 359
für Schlangen. „Der Gallaknabe Djilo, welchen Richard Bremer
nach Deutschland mitbrachte, war selbst hier nicht dazu zu
bewegen, Fische zu essen. Dieser Widerwillen gegen den Fisch
ist bei den meisten schwarzen Stämmen Südafrikas (nicht aber
bei den Hottentotten) vorhanden, und als Grund fuhren sie an, daß
die Fische Schlangen seien. Die Leute gehen darin so weit,
daß sie sich sogar scheuen, Fische anzufassen, und häufig kommt
es vor, daß schwarze Dienstboten lieber ihre Herrschaften auf-
geben, als sich zwingen lassen, diese Tiere zuzubereiten"
(R. Andree, Ethnograph. Parallelen p. 125).^ Die Nupi (Nufi)
verehren die Geister der Verstorbenen in Gestalt von Fischen,
Schlangen oder AflFen.^
Die Anschauung, daß die Menschen nach ihrem Tode
Fische werden, herrscht in Australien* und Ozeanien. Daher
hausen nach der Ansicht der Australier in den Gewässern zahl-
reiche Wasserdämonen.^ Gemäß einer Sage der Insulaner der
Torresstraße wurde der Mann Amdua, der Erfinder der Fisch-
angel, nachdem er viele Fische gefangen hatte, unmittelbar
nach der Fischmahlzeit selbst in einen Fisch verwandelt.^
fassung mit jener wiederum zusammenfließen kann, während er sich
überdies durch seine rasche Beweglichkeit zum Seelenträger eignet"
(Wundt a. a. 0. p. 62). Die Seelenschlange ist im Germanischen (vgl.
E. H. Meyer Mythol. d. Germanen 1903 p. 79), und im Griechischen
(E. Rohde Psyche*!, 136, 142, 196; M.W. deVisser Die nicht menschengestaU.
Götter der Griechen, 1903 p. 169 f.; Wide Archiv XTI, 221 ff.) vorhanden.
^ Vgl. auch Th. Paulitschke Eihnographie Nordost- Afrikas, Berlin
1895 p. 211. Auch nach dem Glauben der Bantuvölker ist es verboten,
Fische zu essen oder sie anzurühren, da sie Seelenschlangen seien, vgl.
J. G. Frazer Totemism, London 1910, Vol. II, 382. Die Akiküyu (Britisch-
Ostafrika) enthalten sich gänzlich des Fischgenusses, da sie hierdurch
rituell unrein würden (Routledge Aliiiiyu, London 1910 p. 50).
* F. Bastian Die deutsche Loango-Exped. I p. 113.
' Vgl. Westgarth Australia felix, Edinburg 1848, S. 93. Auf diese
Stelle hat mich Dr. W. Foy aufmerksam gemacht.
* E. B. Tylor Primitive Ctdture II (London 1903) p. 209.
'• Reports of the Cambridge Anthropol Exped. to Torres Straits Vol.V
Cambridge 1904) p. 104—106.
360 I- Scheftelowitz
Wenn diese Insulaner den Fisch Dugong fangen, so geben sie
gewisse Teile von dem Fisch einem zauberkundigen Priester,
da sie sonst sterben würden.^ Deshalb scheinen die Ozeanier
ursprünglich keine Fische gegessen zu haben. Denn nach
einem alten melanesischen Mythos hat der Geist Togaro
die Fische beschützt und den Menschen, der Fische zu
fangen wagte, getötet.^ Der Haifisch und der Wal werden in
Polynesien noch heute für heilig gehalten.^ Folgende uralte Sitte
beruht auf diesem Glauben, daß die Ahnengeister Fischgestalten
annehmen. Der Melanesier legt seinen Toten, den er besonders
lieb hatte, in die hohle Figur eines Bonito- Fisches oder eines
Bootes, die dann wasserdicht verschlossen wird. Diesen fisch-
förmigen Sarg hängt er dann an den Wänden seines Hauses
auf. Jahrelang bleibt dieser wohlverschlossene Sarkophag auf
diese Weise in dem Hause, bis er endlich an einem großen
Leichenfest begraben wird. Zuvor wird noch der Fischsarg
geöffnet und der Schädel nebst dem Kinnbacken des Toten
abgeschnitten, in die hölzerne Form eines Fisches gelegt and
an den Wänden des Hauses angebracht, da dann der mächtige
Geist des Verstorbenen, der in diesen Überresten weilt, die
Hütte schützt.* Solche hölzerne Fischfiguren, die einen Schädel
in sich bergen und auf den Salomo- Inseln im Hause auf-
gehängt werden, enthält das British Museum (vgl. British
Museum, Handbook to the Ethnographical Cöllection 1910 p. 133
^ Reports of the Cambridge Anthrop. Exped. V, 389. Auf der Insel
Nagir (Torresstraße) darf der Knabe, der nach seiner Pubertät in den
Stamna aufgenommen wird, zwei Monate lang bestimmte Fische nicht
genießen (Reports V, 212).
^ Vgl. R. H. Codrington The Melanesians, Oxford 1891, S. 371 f.
' Vgl. E. B. Tylor Primitive Culture II, London 1903 p. 232.
* Vgl. R. H. Codrington 'Hie Melanesians S. 261— 262. In manchen
Orten der Neu - Hebriden , Salomo -Inseln, Admiralsinseln und Neu-
Britanniens werden die Leichname in den See versenkt (vgl. British
Museum, Handhook to the Ethnograph. Cöllection 1910 p. 184), ebenso
im Süden von Neumecklenburg (A. Kraemer in seinem am 3. April 1911
gehaltenen Vortrag zu Cöln) und auf den Tobi-Inseln (Seidel (rZofcus 88,15).
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 361
Fig 112). Hölzerne Fische, die sonst im Tempel oder bei
den Totenfesten aufgestellt werden, sind besonders in Nord-
Neamecklenburg und auf den Salomo- Inseln häufig.^
In Neu- Guinea wurden Ahnenfiguren in Formen von aus-
gestopften Fischen als schutzverleihende Heiligenbilder an den
Wänden der Häuser aufgehängt. Hölzerne Fische und Kroko-
dile befinden sich auch in Tempeln.^ Ursprünglich hatten die
Särge der Eingeborenen der Marquesas- Inseln die Gestalt eines
makrelenartigen Fisches, des Utu. Die Schnüre des Sarges
hießen schlechthin „Gräten". Ein anderer Teil an den Enden
des Sarges führte den Namen „Kiemen des Utu -Fisches". Der
Utu-Fisch ist ein Verwandter des Bonito- Fisches und gilt noch
heute bei den Eingeborenen als taba und wird selbst von den
Priestern nicht gegessen, sondern wird nur den Göttern ge-
opfert.^ Nach dem Mythus der Insulaner der Torresstraße
kamen einst die beiden Heroen Waiat und Naga aus einem
Flusse und lehrten die Menschen den Totentanz mit Fisch-
masken.^ Es herrschte nämlich bei vielen primitiven Völkern
die Anschauung, daß die Maskierten von Ahnengeistern be-
sessen seien.^
Die Malaien glauben, daß Flüsse und Seen von Geistern
bewohnt seien. Manche Fische werden von ihnen änsrstlich
gemieden, da sie Dämonen verkörpern.® Bei den Achehnes
(Sumatra) werden gewisse Fische für heilig gehalten. So ent-
' Derartige Formen besitzt das Rautenstrauch-Joest-Museum zu Cöln.
* Gr. A. J. Vandersande, Nova Guinea Vol. III (Leiden 1907) p. 148
und 303, ferner PI XXI U Fig. 1 und 2.
' K. V. Steinen EthnoL Xotizblatt, 1899 p. 22— 24, wo sich auch zwei
Bilder befinden; F.W.Christian Eastem Pacific Land^, London 191U, 206.
* Reports of the Cambridge Änthrop. Exped. to Torres Straits V,
54 und 343 f., wo auch .Abbildungen von Fischmasken sind.
* L. Frobenius Masken und Geheimbiinde Afrikas, Halle 1898 p. 214f.
Die Vorstellung, daß die Seelen der Verstorbenen in Tiere übergehen,
ist besonders für die Herkunftsgebiete der Tiermasken erwiesen Tgl.
R. Karutz Afrikan. Hörnermasken, Lübeck 1901 p. 86).
« W. W. Skeat Malay Ma^ic, London 1900 p. 279 und 306 f.
362 I- Scheftelowitz
hält sich mancher Stamm des Genusses des Fisches Alu-alu.
Diese heiligen Fische werden in Beziehung zu verstorbenen
Heiligen gesetzt. Die meisten Heiligen sind in der Nähe eines
Flusses oder des Meeres beigesetzt und deren Gräber sind von
heiligen Wal- und Haifischen beschützt. Es herrscht die Sage,
daß diejenigen Schiffer, welche den beigesetzten Heiligen keine
Verehrung zollen, von einem riesenhaften Glattrochen in Ge-
fahr gebracht werden.^ Bei den Jakunern (auf der malaiischen
Halbinsel) ist es den Eltern verboten, gewisse Fische zu essen,
solange ihre Kinder noch nicht gehen können. Sie meinen,
daß bei Nichtbeachtung dieses Verbotes die Kinder von ge-
wissen Krankheiten heimgesucht würden.^
In der oben S. 50 f. erwähnten indischen Erzählung von
der Wiedergeburt des Königs Padmaka als Rohita-Pisch
könnte noch ein Rest der uralten Anschauung liegen, daß die
Seele in den Körper eines Fisches übergeht. Auch folgender
indischer Brauch scheint damit in Zusammenhang zu stehen.
In dem Särasvata- Teich am Himalaja befinden sich die heiligen
Fische, namens Mrikunda, bei deren Fütterung man den
Manen verstorbener Verwandten Spenden darbringt.^ Auch bei
den Giljaken (Sibirien) herrschte ursprünglich die Vorstellung
vom Seelenfisch. Sie meinen, daß die Ertrunkenen in Fische
oder Wassertiere verwandelt werden.^ Jeder Leichnam wird
* C. S. Hurgronje Äehehnese (Vol. I, 51, II, 301 f.). Ebenso gibt es
in der Nähe von Tripolis (Afrika) einen Teich mit heiligen Fischen, die
von den Mohammedanern verehrt und sorgfältig gefüttert werden, indem
sie glauben, daß in den Fischen verstorbene Heilige verkörpert sind (Wood-
Martin Traces of the Eider faiths of Ireland Vol. II, London 1902 p. 111).
* W. W. Skeat und Ch. 0. Bladgen Pagan races of the Malay
Peninsula Vol I 1906 p. 21.
» E T, Atkinson Himulayan Gazetteer (Allahabad 1883) II, 880, 775.
Im Anfang der Kausitaki Brahm.Upan. heißt es betreffs der Wiedergeburt der
Seelen: „der wird hier als Wurm oder Schmetterling oder Fisch oder Vogel
oder Löwe oder Eber oder Schlange oder Tiger oder Mensch wiedergeboren".
* L. V. Schrenck Reisen und Forschungen im Amurlande III (Peters-
burg 1895) p. 762 und 764.
Das Fischeymbol im Judentum und Christentum 363
mit dem Meere oder dem Strome in Beziehung gebracht, in-
dem er mit dem Kopfe zum Meer oder zum Flusse gerichtet,
beigesetzt wird.^ Die Giljaken glauben an Geister mit Fisch-
köpfen und menschlichen Armen und Beinen, welche sich von
rohen Fischen ernähren. Ein Ermordeter nimmt eine solche
Geistergestalt an.^
Dieser Glaube findet sich auch bei den Indianern x\merikas.
Die Seelen der Medizinmänner werden nach dem Tode in
Fische verwandelt. Daher muß man sich hüten, Fische zu
töten, da diese sich rächen, indem sie „den Lebenden holen".'
,,Um dieser Gefahr vorzubeugen, muß der Medizinmann des
Dorfes stets dabei sein, wenn die Tiere getötet werden, und
muß sie einsegnen; dann erst kann jeder unbeschadet von
dem Fische essen." Bei einigen Indianerhorden des Gran-Chaco
besteht die Trauer um den Toten darin, daß sie sich des
Fischgenusses vollständig enthalten/
Auch in der Religion der bereits ausgestorbenen Maya-
Völker in Amerika kommt der Seelenfisch vor. In manchen
Bildern der Maya- Handschriften sind verschiedene Fische „auf
die Nase und auf andere Körperteile sitzender Menschen zu-
strebend dargestellt". „Vermutlich beziehen sich diese Bilder auf
die Lehre von der Seelenwanderung."^
Die Collas Peru) betrachteten die Fische eines Flusses
als ihre Brüder, weil ihre Vorfahren ursprünglich aus dem-
selben Flusse entstanden wären.® Nach der Mythologie der
Indianer Neu -Englands hat der allmächtige Gott Glooskap
' L. V. Schrenck Reisen III, 776.
* L. V. Scbrenck Reisen III, 751 f.
^ Th. Koch Zum Animismus der südamerikanischen Inditmer,
Leiden 1900, S. 14.
* Th. Koch a. a. 0. S. 75, Dagegen nährten sich die Imos wäh-
rend der Trauerzeit „nur von Fisch und einer Art Kuchen"; wohl des-
halb, um durch den Fischgenuß mit dem Toten in Verbindung zu bleiben.
^ W. Stempell Ztschr. f. Ethnol. 1908, S. 735.
" J. Gr. Müller Gesch. d.amerih. Urreligionen, 2. Aufl. Basel 1867 p. 366.
364 I- Scheftelowitz
aus Menschen die Fische entstehen lassen. Mächtige Zauberer
hat dieser Gott in eine Art große Fische verwandelt.^ Daher
findet man in den prähistorischen Gräbern Neu-Englands häufig
Walfischfiguren aus Stein.^ Die vorgeschichtlichen Grabhügel
der Ureinwohner Wisconsins (Nordamerika) weisen häufig die
Form eines Fisches auf. ^ Die Schuswap-Indianer (Britisch-
Columbia) essen keine Schellfische.^
Von dem ursprünglichen Seelenfisch bei den Germanen
scheinen noch manche Sagen Zeugnis abzulegen. Gemäß einer
thüringischen Sage hatte ein Bauer aus einer Quelle einen
großen einäugigen Fisch gefangen und in seine Tasche gesteckt.
Zu seinem großen Entsetzen rief auf dem Wege nach dem
Dorfe der Fisch: „Nimm den Einäugigen nicht mit, sonst
kostet's dich das Leben". Da kehrte der Bauer um und über-
gab den unheimlichen Fisch wieder seinem Elemente.^ Gemäß
den deutschen Sagen hausen in Flüssen und Seen Wassergeister,
welche gewöhnlich die Gestalt eines Fisches haben. ^ Darauf
könnte auch die primitive Glaubensvorstellung vieler Völker
wie auch der Germanen begründet sein, daß die Menschen aus
dem Wasser stammen und ihre Seelen nach dem Tode wieder
ins Wasser zurückkehren.' In der germanischen Mythologie
^ Ch. G. Leland Algoquin legends of New England, London 1884
p. 119 und 126.
^ W. K. Moorehead Prehistoric Implements, Cincinnati 1900 p. 120 f.
' J. A. Lapham Antiquities of Wisconsin, Washington 1885 p. 67.
* Memoir of the American Museum of natural history, New York,
Vol. II p. 513.
» Reichhardt Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde Bd 12, 68.
® Grimm Deutsche Sagen Nr. 54; ders. Kinder- u. Hau^närchen
Nr. 19; Schambach- Müller Niedersächsische Sagen Nr. 86tf., Gander
Niederlausitzer Volkssagen (Berlin 1894) Nr. 151 f., Kuhn Märkische Sagen
u. Märchen p. '270 und 274; Weinhold Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde
Bd 6, 123; Drechsler ebenda Bd 11, 203 f.; Gomme Ethnology in folklore
92 f., 101.
^ Vgl. Mogk in Grdr. d. Germ. Phil III, 296; Drechsler Ztschr. d.
Ver. f Volkskunde Bd 11 (1901) p. 201 f.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 365
nimmt der zauberkundige Mensch zuweilen die Gestalt eines
Walfisches an.^
Mit diesem uralten Glauben, daß die Seele, wenn sie den
Körper verläßt, die Gestalt eines Fisches annimmt, scheint
auch der babylonische Brauch zusammenzuhängen, daß der
Arzt im Fischgewand einem Kranken den bösen Dämon aus-
zutreiben sucht. Die primitiven Völker nahmen nämlich an, daß
Krankheiten dadurch entstehen, daß die Seele vorübergehend
den Körper verläßt und ein böser Dämon in den Körper
gefahren ist. Zur Genesung des Kranken muß man daher
bestrebt sein, die eigene Se^le in den Körper wieder zurück-
zubringen und den bösen Dämon auszutreiben.* Durch die
fischartige Gestalt des Arztes wird nun der Krankheitsdämon
verscheucht. Selbst in der jüdischen Kabbalistik findet sich
der Gedanke, daß die Seelen der Frommen nach ihrem Tode
die Hülle eines Fisches annehmen (vgl. Michel Epstein, Sefer
qisur sene lühöt habberit, Fürth 5492 [1732] Bl. 56 a). Doch
hier ist er sicherlich sekundär aus den im Abschnitt 1 er-
örterten Vorstellungen hervorgegangen.
Diese uralte Vorstellung von dem Seelenfisch hat sich
wohl aus der bei vielen Naturreligionen sich findenden Idee
entwickelt, daß die Seele des Verstorbenen, um in das Land
der Seligen zu gelangen, einen gewaltigen Ozean passieren
müsse.^ Darauf geht auch die Sitte mancher Völker zurück,
' E. H. Meyer Mythologie der Germaneti, Straßburg 1903 p. 3iO.
* Vgl. Juynboll Arch. f. Beligionsw. IX, 272, R. Andrea Ethn. Par.
X. F. 1 ff.
' Bereits die alten Babvlonier hatten die Vorstellung, daß „die
Wasser des Todes" die Seele vom Jenseits trennen. ..Nicht gab es, o Gil-
games, je eine Überfahrt, und keiner, der seit Alters anlangt, geht über
das Meer. Über das Meer ging Samas. der Gewaltige, außer Samas wer
geht hinüber? Schwierig ist die Überfahrt, beschwerlich sein Weg und
tief sind die Wasser des Todes, die ihm vorgelagert sind", Zimmern
Keilinschr. tt. AU. Test.' p. 575 f. 637 Anmerk. 5. Ein Eesiduum vom
ursemitischen Totenfluß ist im A. T. Hiob 26, ö; II. Sam. 22.5 enthalten, vgl.
auch Ps. 18, 5. In talmudischer Zeit wurde er Uqinös (griech. 'SlxBavög)
genannt, vgl. Midr. Tanchumd, Abscbn. Hajje Särä: .,Der Uqinös ist
366 I Scheftelowitz
den Leichaam iü einem Boote oder in einer hohlen Fischfigur
fest einzuschließen oder ihn auf brückenartigen Balken zu
begraben, oder den Leichnam in die See zu versenken. Die
Seele des Verstorbenen kann also in der Gestalt eines
Fisches ins Lichtland hinübergelangen. Auf dieser Anschauung
beruht auch der uralte, weitverbreitete Brauch, dem Toten
eine Fischfigur ins Grab beizulegen. Daneben werden wohl
auch die in Gräbern gefundenen Fische dazu gedient haben,
die Leichendämonen, die sich auf den Begräbnisplätzen auf-
halten, vom Grabe fern zuhalten. Daher findet man in römischen
Brandgräbern häufig Amulette (vgl. E. Schmidt Bonn. Jahrb. 47,
89; Kropatscheck Rom.- Germ. Korrespondenzblatt 1909, S. 246^.).
Selbst in den christlichen Katakomben liegen oft Amulette
das Totenmeer." Auch nach dem Glauben der Indianer muß die Seele
auf ihrem beschwerlichen Wege ins Jenseits über einen gewaltigen Strom
setzen, der sehr schwer passierbar ist, Th. Koch Zum Änitnismus d.
südamerik. Indianer, Leiden 1900 p. 10; 119. Die Vorstellung vom
Totenstrom war bei den primitiven Völkern der ganzen Welt verbreitet,
vgl. Schoolcraft Indian tribes I, 321; III, 229; D. Shortland Traditions
and Swperstitions of the New Zealanders^, London 1856 p. 151 f. ; W.W. Skeat.
und Ch. 0. Bladgen Pagan races of ihe Malay Peninsula II (1906) p. 208;
L. Frobenius Weltanschauung der Naturvölker (1898) p. 13 f.; 46; Snorri-
Edda Gylfaginning cap. 49; E. Rohde Psyche'*^ I, 305 f.; A. Wiedemann
Die Religion der alten Ägypter p. 50 ; W. Grube Zur Pekinger Volksktinde
(1901) p. 45; E. Diguet Les Annamites, Paris 1906 p. 200. Deshalb wird
bei den Nordstämmen Zentralaustraliens der Holzsarg in unmittelbarer
Nähe des Wassers beigesetzt (vgl. B. Spencer und F. J. Gillen The northern
tribes of Central Australia, London 1904 p. 553 f.). Infolge der Vorstellung,
daß die Seele auf einem Boote über den Strom gelangt, werden die
Toten entweder in Booten begraben oder es wird ihnen die Figur eines
Bootes beigelegt (vgl. 0. Gruppe Griech. Mythol. II, 1906 p. 1651 An-
merk. 1; Schoolcraft Indian tribes I, 321; III, 229). Ebenso wie die
Wikinger ihre Toten in Booten begraben (vgl. Zentralbl. f. Änthropol.
Bd 16, 45), haben auch die Indonesier das „mit der Seele befrachtete
Canoe" ins Meer geschoben (A. Bastian Ethnol. Notizblatt l'JOl Bd. II, 94".
Dieses geschieht auch in Tahiti (Wilson Missionsreise i>. Sil), &u{ Amhrjm,
auf den Anachoreten, Neu- Britannien, den Nikobaren, auf Aaru. Auf
Timor-Laut, Süd-Nias und den Barbar-Inseln hat der Sargkasten zum
Teil die Form eines Bootes, während auf das Grab die Figur eines Bootes
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 367
neben den Toten (vgl. Aus 'm Weerth Bonn. JaJirb. Bd. 76,
1883 S. 74), ebenso auch in fränkischen Gräbern {Anz. d.
germ. Nationalmuseums 1895, S. 65). Erst in jüngerer Zeit
wurde ein den Toten beigelegter Fisch das Symbol der
Seligenspeise.
Schon F. X. Kraus ^ weist darauf hin, daß solche Fisch-
formen, wie sie häufig in den Katakombengräbem vorkommen,
auch in heidnisch -römischen Gräbern gefunden worden sind,
„wie 1829 in einem Capuanischen und in einem Falle zu
Girgenti". Ein römisches Brandgrab, das zu Cöln aufgedeckt
ist, enthielt eine Glasflasche in Form eines Fisches, „an der
Schnauze zugeschmolzen". Die Augen dieses Glasfisches sind
„durch Tropfen aus azurblauem Glase markiert; vorn am
Bauche sind zwei kleine farblose Vorderflossen; hinten ist die
durch den Flaschenhals geteilte Schwanzflosse; die Vorder-
gesetzt wird (L. Frobenius Weltanschauung der Naturvölker p. 13 f.). An
der Ostküst« Neu - Britanniens pflegt man die Leiche eines Häuptlings
in ein Boot zu legen, welches mit Steinen beschwert eine Strecke weit
ins Meer hinausgetrieben wird und dann mit seinem Inhalt in die Wasser-
tiefe versenkt wird. Die Hinterlassenen stehen am Strande und begleiten
das Eanoe mit ihren betäubenden Klagen, bis es in der Meerestiefe ver-
schwindet (R. Parkinson Im Bismarck -Archipel , Leipzig 1887 p. 102).
Ebenso gleiten die Seelen der Dajak im Totenschiff ins Jenseits Frobenius
Weltanschauung der Naturvölker p. 136'. Die Chinesen und Annamiten
opfern dem Toten ein papiernes Schiff und zwei papieme Brücken
(W. Grube Zur Pekinger Volkskunde, Berlin, Museum f.Völkerk. 1901 p.45;
E. Diguet Les Annamites p. 200). Die Vorstellung von der Seelenbrücke
ist bereits im Anfange des Abschnitts 8 behandelt. Eine Verschmelzung
des Seelenbootes mit dem Seelenfisch liegt in folgendem vor: Viele in
Gräbern zu Syros (einer Insel der Zykladen) gefundenen Vasen enthalten
das Bild eines Bootes, auf dessen Bug ein Fisch ruht {Revue Arch. Ser. 4
T. XIII, 1909 p. 326f.). Ähnlich kommt zuweilen in Ozeanien und Afrika
das Seelenboot in Verbindung mit dem Seelenvogel vor (vgl. L. Frobenius
Weltanschauung der Naturvölker, Weimar 1898\ Aus dem primitiven
Glauben vom Totenstrom hat sich somit die Vorstellung vom Seelenboot,
Seelenfisch und von der Seelenbrücke entwickelt.
" Borna sotter.-, Freibnrg 1879, S. 492; vgl. auch Kraus Real-
encycl. I, 518.
368 I- Scheftelowitz
flössen und die beiden Teile der Schwanzflosse sind aus
gepreßten Glasstücken angesetzt". Dieses Grab stammt aus
der Zeit des Kaisers Alexander Severus.^ In Römergräbern zu
Cöln sind häufig Glasfische gefunden, so z. B. ein Glasfisch,
dem Augen und Flossen augefügt sind (vgl. Dalton Catalogue
of Early Christ. Äntiq. of tJie British Museum Nr. 6ö3), oder
ein Glasgefäß in Form eines Delphins, dessen Schwanzflosse
gleichzeitig einen mit Glasfäden umsponnenen Korb bildet
(Sammlung Niessen zu Cöln). Das Wallraf-Richartz- Museum
zu Cöln besitzt einen vom Deckel einer römischen Graburne
abgebrochenen Glasknopf, auf welchem Fische dargestellt
sind. Dieser Glasknopf diente als Deckelgriff und gehört zu
den Cölner Funden. Einen ebenfalls von einem Aschenurnen-
rdeckel herrührenden knopfartigen Glasgriff besitzt die Sammlung
Niessen, Cöln. Auf dem Knopfe sind zwei Fische und ein
Skorpion dargestellt. Aus 'm Weerth Bonn. Jahrh. 76 S. 76 — 78
berichtet über drei in Römergräbern der Rheinprovinz ge-
fundene Glas - Phiolen , „die sich dadurch auszeichnen, daß
auf ihrem Mantel ein Skorpion und zwei horizontal überein-
ander schwimmende Fische angebracht sind". Diese Fläschchen
scheinen wohl zur Aufbewahrung von Medizin gedient zu
haben, die vermittels dieser äußeren heilbringenden Symbole
den Krankheitsdämon verscheuchen soll. Der Skorpion findet
sich häufig auf heidnisch -römischen Totenlampen (s. Bmm.
Jahrh. 63, 94} und auf Amuletten (s. Imhoof- Blumer Ticr-
und Pflanzenbilder auf Münzen und Gemmen, Taf. XV, 18;
XXII, 44; XXIV, 14). Schon ein altkananitisches Amulett
(wohl aus 1500 v. Chr.) ist mit dem Skorpion versehen (vgl.
E. Sellin Teil Tdanek, in Denkschr. d. Wiener Akad. 1904
Nr. 3 S. 42 und 111). Auf ägyptischen Amuletten sind Skor-
' Vgl. Poppelreuter und Hagen in Bonner Jahrb. 1906, Taf. XXIV,
43 und p. 414 Nr. 481. Dieser Glasfisch befindet sich im Wallraf-Richartz-
Museum, Cöln.
Das Fisch svmbol im Judentum und Christentum 369
pione sehr häufig (vgl. J. Capart Primitive art in Egypt,
London, 1905 S. 192).^
Viele in Kreta bloßgelegten altgriechischen Sarkophage der
mykenischen Periode sind mit Fischbildern verziert.' Ebenso ist in
einem altgriechischen Grabe zu Vaphio ein goldner Fisch gefunden '
Unter den Geräten, die man zu Vettersfelde in der Nieder-
lausitz gefunden hat und die aus dem funftea vorchristlichen
Jahrhundert stammen, befindet sich ebenfalls ein Fisch, aus
starkem Goldblech getrieben.^ Diese Geräte sind einst einem
Toten mit in die Grabume gelegt worden und sind altgriechische
Arbeiten. Der Fisch „war, wie es scheint, an eine ebene
Unterlage von Holz und Leder befestigt. Das Ganze hat durch
Feuer mehrfach gelitten. Der Fisch gleicht dem Thunfisch,
doch ist er als Ornament frei behandelt. Auf dem oberen
Teile des Fischleibes sind ein Panther, ein Eber, ein Löwe, ein
Hirsch und ein Hase dargestellt, auf dem unteren Teil Fische
und voran ein Triton, der in der Rechten einen Delphin hält". '
Ursprünglich ist also auch den klassischen Völkern der
Seelenfisch nicht fremd gewesen. Die von Plutarch Symp. VUI,
8, 7 (s. Diels, Fragm. der Vorsokr. I - p. 14 Z. 15) überlieferte
Ansicht des altgriechischen Philosophen Anaximander, daß
die Menschen ursprünglich aus den Fischen entsprungen wären,
könnte ebenfalls auf der uralten Vorstellung beruhen, daß die
Fische die Seelen der Ahnen verkörpern.®
* Auf der Sinai -Halbinael läßt der Araber seinen Sohn einen an-
gebrannten Skorpion verschlingen in dem Glauben, daß dieses ihn un-
verwundbar mache gegen giftige Kriechtiere (^V. E. Jennings-Bramley
Palestine Exploration Fund 1906 p. 197).
* Perrot und Chipiez Histoire de l'art dans l'antiquite T. VI (1894)
p. 456 Fig. 171; 930 Fig. 490.
* Perrot und Chipiez Histoirr- de l'art T. VI, 1024 nebst Fig. p. 106.
* Vgl A. Furtwängler Der Goldfund von Vettersfelde, Berlin 1883.
Dieser Fisch ist im Kgl. Museum zu Berlin
• * Vgl. Schaaffhausen in Bonner Jahrb. 1884, .^. 167.
* Vgl. auch Rob. Eisler Weltenmantel und Himmelszelt , München
1910 p. 673 Anm. 5. Nach Arrian, ludic. 31, 6 war bei Gedrosien eine
Archiv f. BeligioDswissenschaft Xr\" 24
370 I- Scheftelowitz
Die ältesten etruskischen Aschengefäße, die frühestens aus
dem 9. Jhdt. v. Chr. stammen, sind teils mit Fischen, Vögeln
oder Löwen bemalt.^
Da Einflüsse der ägyptischen Kultur an allen Gestaden
und Inseln des Mittelmeeres nachgewiesen sind, nimmt es nicht
wunder, daß in den verschiedensten Ländern des Mittelländi-
schen Meeres häufig Fische auf den besonders für den Toten-
kult bestimmten Vasen und Bechern dargestellt sind. Ebenso
wie das ägyptische Skorpionamulett dahin gewandert ist, könnte
auch der Seelenfisch der klassischen Völker von Ägypten be-
einflußt sein. Derartige Fische sind zahlreich in Mykene^, in
der vorisraelitischen Periode Kanaans^ und im phönizischen
Cypern^ ausgegraben worden.
Selbst unter der vorgeschichtlichen Bevölkerung von Malta,
welche dort noch vor der Niederlassung der Phönizier gewohnt
hatte, hat der Fisch die gleiche Rolle gespielt. In den vor
einigen Jahren entdeckten Begräbnisstätten hat man einen
tönernen Fisch ffefunden.^ Auch im Grabe des Buddha zu
Insel, auf der eine Nereide wohnte, die jeden, welcher dahin verschlagen
wurde, in einen Fisch verwandelte und dann ins Meer warf.
^ Vgl. F. Jaennicke, Geschichte der Keramik, Leipzig 1900 p. 168.
Vom 9. Jhdt bis zum 4. Jhdt v. Chr. besteht der Reliefschmuck dieser
Gefäße „in Friesen und Medaillons mit Vögeln, Löwen, Panthern,
Sphinxen, Hirschen, Fischen, Kentauren, Fratzen, zähnefletschenden
Masken . . . Genien und Göttern" (F. Jaennicke p. 169).
* Vgl. Jaennicke Gesch. d. Keramik p. 139; C. Schuchhardt Schlie-
manns Ausgrabungen, Leipzig 1891 p. 242 u. 305 f. Besonders goldene
Vasen und Becher sind mit Fischen verziert, Perrot und Chipiez Histoire
de l'art dans Vantiquite T. Vr p. 920, Fig. 474; 924; 930 Fig. 491; 960
P^ig. 628; Ed. Baumann AUgem Gesch. d. bildend. Künste P p. 47. Fisch
auf einem böotischen Tongefäß vgl. Baumann Allgevi. Gesch. P p. 52.
» Vgl. G. Sellin^Tei/- Taanek in Denkschr. d. Wiener Akad. 52 (1905),
J. Benzinger Hebr. Archaeol.^ (1907) p. 235, P. Thomsen Palästina und
seine Kultur, Leipzig 1909 p. 54.
* Perrot und Chipiez Histoire de l'art dons Vantiquite T. 111 Paris
1886 p. 701.
* Vgl. A. Mayr Ztscfn: f. Ethnol. 1908, 638.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 371
Piprävä in Indien wurde eine Kristallbüchse gefunden, die etwa
aus dem Jahre 480 v. Chr. stammt. Der Griff des Deckels dieser
Büchse hat nun die Gestalt eines Fisches.^
In China weisen die Innenwände der alten Steinsarkophage,
die aus der Hau- Dynastie stammen und besonders in der Pro-
vinz Schantung bloßgelegt sind, eine Fischfigur auf. Zur Zeit
dieser Han-Dynastie (um 206 v.Chr. bis 221 n.Chr.) war China
noch nicht vom Buddhismus beeinflußt.* Gewisse Fische, wie
der Fisch Shang, werden in China ängstlich gemieden, da sie
Dämonen verkörpern sollen. Nach einer alt€h inesischen Sage
wurde derjenige, der einst einen großen Fisch gefangen hatte,
von nächtlichen Traumerscheinungen geängstigt und von Un-
gemach heimgesucht. Erst als er den Fisch wieder ins Wasser
warf, hörte dieses auf.^ Hier liegen Überreste von der primi-
tiven Vorstellung des Seelenfisches vor.^
Gemäß dem Zauberritual vieler primitiver Völker kann
man die Seele seines Feindes in einem Fische verkörpern
und sie so fangen und vernichten. Der Malaie, der seinen
fern weilenden Feind vernichten wollte, stach mit einer Xadel
einem Fische die Augen aus, indem er dabei eine Zauber-
" Vgl. Pischel in Sitz Ber. Fr. Äk. Wiss. 1905, S. 526 f. Abbildung
bei R. Pischel Lehen und Lehre Buddhas, Leipzig 1906 p. 45 und
Niemojewski Gott Jesus, München 1910, p. 239, Fig. 56.
- Dieses teilte mir Herr Prof. Adolf Fischer, Direktor der ost-
asiatischen Abteilung des Kunstmuseums, Cöln, und seine Frau Ge-
mahlin mit, die sich jahrelang in China aufgehalten hatt«n und solche
Steinsarkophage in Augenschein genommen hatten.
' Vgl. J. J, M. de Groot The religious System of China, Leiden 1907,
Vol. V p. 646 — 647.
^ Gemäß dem primitiven Seelenglauben verwandelt sich zuweilen
die Seele des Verstorbenen in einen Dämon, der dann die Überlebenden
in nächtlichen Erscheinungen quält oder Krankheit und anderes Un-
gemach über sie bringt, vgl. Wundt, Völkerpsychologie II. Teil 2 p. 68.
Auf den Philippinen herrscht der Aberglaube, daß verstorbene Kinder
als Dämonen in Gestalt von Fischen fortleben können (vgl Journal of
American Folk-lore vol. 19 (1906) p. 200).
24*
372 I- Scheftelowitz
formel hersagt.^ Wenn der Neuseeländer einen Raubvogel
(z. B. Habicht) erblickt, der einen Fisch fest gepackt hat
und ihn nicht mehr fallen läßt, so sieht er hierin ein
gutes Omen, daß er etwas Feindliches besiegen werde."
In altgermanischen Grräbern von Schleswig und Mecklenburg
sind Amulette gefunden, die einen Vogel darstellen, der in
seinen Krallen einen Fisch hat." Auch auf altgriechischen
Gemmen, die als Amulette benutzt sind, ist ein gleiches Motiv
verwendet. So erblickt man auf einer Gemme einen mit Bein-
kleidern verseheuen Mann, der einen großen Fisch, den er mit
der Angel gefangen hat, in die Höhe zieht. ^ Auf einer
andern antiken Gemme ist ein Mann dargestellt, der mit seiner
Angel einen Fisch gefangen hat und ihn nun in kniender
Stellung in sein Gefäß legt.^ Nur infolge der älteren Vor-
stellung, daß die menschliche Seele sich in einem Fische ver-
körpert, konnte diese Idee aufkommen, in dem Fische die
Seele seines Feindes zu sehen. So erklärt sich auch, daß bei
den Römern einem Fisch der Mund zugenäht wurde, wenn man
den Mund des Feindes zum Schweigen bringen wollte (Ov. Fast.
II 578). Der Seelenfisch begegnet uns hauptsächlich im Toten-
kult. Sehr häufi.g sind gerade die Lämpchen, die man gemäß
dem heidnischen Brauch der klassischen Völker dem Toten mit-
gab, mit P^ischbildern verziert. In einem heidnisch -römischen
Steinsarkophag zu Calcar am Niederrhein wurden die Asche
des Verstorbenen, eine Tonschale und eine Bronzelampe vor-
gefunden. Die Lampe stellt einen Fisch dar, unter dessen
erhobener Schwanzflosse ein kleiner delphinartiger Fisch in
» W. W. Skeat Malay Magic, London 1900 p. 310.
* Polack Manners and customs of the Neiv Zealanders, li^ndou
1840 Vol I, 267.
' S. Müller Nord. Altertumskunde II (1898) p. 94 und 159.
* Imhoof- Blumer Tier- u. Pflanzenbilder auf Münzen u. Oemmen
1889 Taf. XXIII Nr. 14; Perrot u. Chipiez Histoire de l'art T. VI (Paris
1894) p. 8Ö1 Fig. 432,4.
* Imhoof-Blumer Tier- u. Pflanzenbilder Taf. XXIII Nr. 16.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 373
bogenförmiger Krümmung so angebracht ist, daß dadurch ein
Öhr zum Durchstecken des Fingers beim Tragen gebildet ist
(vgl. Jahrb. d. Ver. v. Altert, i. Eheini. Bd 29/30 p. 142—144 u.
Taf. II). Eine fischgeformte Totenlampe aus Bronze besitzt
auch das Bonner Provinzialmuseum (Nr. ü 1317). Auf Toten-
lampen sieht man zuweilen Delphine abgebildet (Sammlung
Nieasen, Cöln). Unter den antiken Denkmälern der Cölner
Privatsammlungen findet sich eine römische Hängelampe in
Fischform ^au8 Bronze), zugleich zum Hinstellen eingerichtet.
Sie soll in Meckenheim bei Bonn in einem Grabe gefunden
sein.^ Eine ebenfalls römische Lampe besitzt die Hamburger
Altertümersammlung. In der Mitte dieser Lampe ist ein Fisch.
Dem klassischen Stil gemäß ist der umlaufende Rand mit
konzentrischen Kreisen und Blättern versehen.* Ein heidnisch-
römisches Brandgrab, das zu Cöln ausgegraben ist, enthielt
eine gehenkelte Lampe, auf deren Zierplatte „zwei einander
zugekehrte Delphine" wie beim Funde in Novaesium' dargestellt
sind.^ Daß der ursprüngliche Sinn dieses uralten heidnischen
Seelenfisches den Römern noch bekannt war, ist kaum an-
zunehmen. Dieser Brauch hatte sich gleichsam wie ein Fossil
erhalten.
Trotzdem die jüdischen und urchristlichen Fischsymbole
sich im Laufe der Jahrhunderte aus solchen primitiven Vor-
stellungen entwickelt hatten, haben die Fischbilder, die in alt-
jüdischen und urchristlichen Sarkophagen gefunden werden, eine
* Bonner Jahrb. 1877, S. 113.
- Vgl. Banner Jahrb. 1878, S. 96. Zwei andere römische Tonlampen
in Fischform, die das Walkaf-Richartz Museum, Cöln, besitzt, beschreibt
A. Kisa in Bonn. J. Bd. 93, 48 Nr. 66 und p. 49, Xr. 73. Kisas Be-
hauptung, „die Fischform sei altchristlichen Lampen eigentümlich mit
Beziehung auf die symbolische Bedeutung des Namens 'Ixd'vg'' ist durch
meine Untersuchung hinfällig geworden.
' Vgl. Bonner Jahrb. 1904, S. 364, 5.
* Vgl. Poppelreuter und Hagen in Bonner Jahrb. 1906, Taf. XXI, 6.
L ber eine andere Totenlampe mit zwei Delphinen siehe Bonn. Jahrb
61, 104.
374 I- Scheftelowitz
vollständig veränderte Bedeutung erlangt. In einem Skelettgrab aus
der Zeit des römischen Kaisers Constantius, das zu Cöln aufgedeckt
und wohl christlich ist, fand man einen doppelhenkligen Pokal mit
aufgelegten Fischen. Dem Glaskörper sind „hohl gebildete Fische
vermittels Glases aufgelötet; jeder einzelne ist für sich allein
geblasen; die Augen sind aufgesetzt, die Flossen gepreßt und
angesetzt."^ Es handelt sich wohl um ein Erzeugnis der
gleichen Fabrik, von welcher ein ähnliches] Exemplar 1870
in einer altchristlichen Begräbnisstätte des 4. Jahrhunderts
zu Pallien in Trier ausgegraben ist.^ Ein derartiger Becher
mit aufgelegten Fischen ist in den Katakomben von S. Callisto
aufgedeckt und ist in der Glassammlung des Vatikans zu
sehen.^ jjEin Becher mit einem aufgelegten Fisch befindet
sich im Berliner Antiquarium, ein Bruchstück mit zwei
Fischen und der Inschrift Bibe zeses wurde in Ostia gefunden."
Die Inschrift dieses Glases erinnert an die bereits oben S. 26 — 27
beschriebenen jüdischen Weinbecher. „Im römischen Kunst-
handel sollen noch andere ähnliche Stücke aufgetaucht sein."^
Ein weiteres Fragment, das zu Cöln gefunden ist, besitzt die
Sammlung vom Rath zu Cöln.
' Vgl. Poppelreuter und Hagen in Bonner Jahrb. 1906, Taf. XXV, 60.
Ein Skelettgrab braucht nicht auf christlichen Ursprung hinzuweisen,
denn in der Rheinprovinz sind häufig Römerleichen in einfachen Holz-
särgen bestattet gefunden, vgl. Bonner Jahrb. Bd. 99, 22. Übrigens war
seit dem dritten Jhdt des römischen Kaiserreiches die Beerdigung die
vorwiegende Begräbnisform der Römer (vgl. S. Reinach Orpheus, Leipzig
1910 p. 98j. Über ein anderes altchristliches Glas aus dem Anfang des
4. Jahrhunderts, das in Cöln gefunden ist, vgl. Poppelreuter Ztschr.
f. Christi. Kumt 1908, S. 67-76.
* Vgl. Hettner Illustrierter Führer durch d. Provinzialmuseuni in
Trier 1903 S. 111. Es ist ein „Becher aus weißem Glas, an welchem
hohle Fische angeschweißt sind". Die Altertumssammlung der St. Marcus-
Kathedrale zu Venedig besitzt eine antike, wohl aus urchristlicher Zeit
herrührende Kristallvase in Fischform, deren ursprüngliche Verwendung
unbekannt ist {Amiales Archeol, Paris 1861 T. XXI, 341 Nr. 87).
» Vgl. F. X. Kraus Realencycl. T, S. 617.
* Vgl. A. Kisa Die müihcn Gläser, Bonn 1899, S. 69.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 375
Solche Becher mit den aufgelegten Fischen sind jüdisch-
christlichen Ursprungs.
Die Juden der hellenistischen Zeit hahen dem Toten häufig
nicht nur seinen „Becher des Segens", durch dessen richtigen
Gebrauch er sich nach dem Ausspruch des Talmud schon bei
Lebzeiten das ewige Leben erwirbt, mit ins Grab gelegt,
sondern auch eine Lampe, weshalb man zuweilen in jüdischen
Katakomben Lampen und Becher findet. Dieses hat sich aus
einem uralten Brauch entwickelt, der bei allen antiken Völkern
vorherrschte. „Als Regel von der altkananitischen bis zur
spät-israelitischen Zeit haben die Funde gezeigt, daß man den
Toten Tongefäße mit ins Grab gab: Lampen, Schalen, Krüge,
Amphoren".* Der Talmud ist daher bestrebt, diese uralte Sitte,
dem Toten Gefäße beizulegen, einzuschränken. In Sanhedrin
48a und Semähöt P. 9 heißt es, daß man die Leidtragenden
möglichst davon zurückhalten soU, dieses zu tun. Die Misnä
Beräköt 8, 6 (Talmud Beräköt 53 a) erwähnt, daß man zu Ehren
des Toten Lampen anzündete und zur Beseitigung des Leichen-
geruchs wohlriechende Gewürze neben den Toten legte. Der
Becher sollte wohl dem Toten gleichsam als „Becher der Tröstung"
dienen, den man einer altjüdischen Sitte entsprechend einem
Trauernden darreichte (vgl. Pesiqtä Rabbäti ed. Friedmann^
Wien 1880, Bl. I38b). Der jüdische „Becher des Segens" ist
zuweilen auch mit Fischbildern verziert gewesen, da man ja in
den Fischen die Speise der Seligen im Jenseits sah. Die Ur-
christen, die auch den „Becher des Segens" (tcoxi^qiov t^j
svXoyCas)- von den Juden übernommen hatten, gaben ihn dem
Toten ebenfalls ins Grab. Selbst ihre Seelenlampen ließen sie
• J. Benzinger Hebr. Archäologie 2. Aufl. Tübingen 1907, S. 128.
* Vgl. 1. Kor. 10, 17. Siehe oben p. 25 f. Ein weiterer Beleg aus
dem X. T., daß die Urchristen den Sabbat- und Teättag-Qiddus noch
ausübten, ist Apostelgesch. 20, 7: 'Ev dk rfi fiiä z&v eaßßdztov 6vvr]yfuv<av
rivLwv xlaöcci aprov; vgl. ferner Luc. 22, 19. 20; Matth. 26. 26. 27; Marc.
14, 22. -23.
376 I- Scheftelowitz
mit Fischfiguren versehen. So sind im Schnütgen-Museum zu
Cöln zwei altchristliche Tonlämpchen, die mit einer Fischfigur
verziert sind und aus dem 4. Jahrhundert stammen. Eins ist
in Rom, das andere in Nordafrika gefunden. Eine bei Brühl
gefundene fischgeformte Lampe aus Ton, auf deren Bauch ein
Kreuz ist, aus dem 4. Jahrhundert stammend, ist im Bonner
Provinzialmuseum (Nr. 15911). Die jüdisch -populäre An-
schauung von dem gewaltigen, reinen Fisch, dem Leviatan, der
beim Anbruch der messianischen Zeit der einzige Fisch sein
wird (vgl. oben p. 40 Anmerk.), ist also auch ins Urchristentum
übergegangen. Daher übersetzt Theodotion (um 160 n Chr.)
Psalm 74,14 der jüdischen Auslegung gemäß: „Du gibst ihn
(denLeviatan) zur Speise dem messianischen Volke (Aaö tö iöxärtp).
11 Fische als Symbol der Fruchtbarkeit
Da sich Fische schnell vermehren, so versinnbildlichen
sie bei den verschiedensten Völkern Fruchtbarkeit, Überfluß
und Kindersegen. So segnet Jakob seine beiden Enkel, die
Söhne Josefs, mit den Worten: „Sie mögen wie Fische zahl-
reich sein in der Mitte des Landes."' Auf Grund dieser An-
schauung lehrte Rabbi Bar Kappärä im Talmud^: „Man möge
eine Frau am fünften Tage in der Woche ehelichen, da Gott
an diesem Tage bei der Weltschöpfung die Fische mit den
Worten segnete: Seid fruchtbar und mehret euch." Auf diesem
Fischsyrabol beruht auch folgender alter Hochzeitsbrauch der
Juden Großpolens, der aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts
belegt ist: die Juden Großpolens pflegen unmittelbar nach be-
endigter Hochzeitszeremonie ein Fischessen zu geben, welches
den speziellen Namen Se'üdat dägim „Fischmahlzeit" führt.*
Schon aus dem Talmud Semähöt (Pereq 8 und 14) ist ersichtlich,
daß beim Hochzeitsmahl der Fisch eine Hauptspeise bildete.
■ 1. Mos. 48,16. * Ketaböt 6a; Jalqüt zu 1. Mos. 1, Abschn. 16.
* S. Moses Isseries in seinem Kommentar zum Sulhan 'Aruk: Jöre
de'ä, Abschn. 391; Abraham Danzig Hohnat ädäm, Abschn. 161,2.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 377
Ein altindisches Ritualbuch* erwähnt eine ähnliche Hoch-
zeitssitte Das neuvermählte Brautpaar steigt bis zum Knie
ins Wasser und fängt mit einem neuen Gewände, dessen Saum
nach Osten gerichtet ist, Fische, wobei es einen Brahmanen-
Schüler fragt: „Was siehst du?" Der Gefragte antwortet dann:
„Söhne und Vieh". Hier versinnbildlichen offenbar die Fische
den Kindersegen und die zahlreiche Vermehrung des Viehes.
Zur Brautaussteuer der Chinesen gehört ein Glasbehälter
mit Goldfischen, denn die Fische bedeuten in China Überfluß.
Mit der größten Vorsicht werden diese Fische in das neue
Heim getragen, damit sie durch das Schütteln nicht leiden,
denn stirbt ein Fisch, so gilt dieses für ein böses Omen.^ Bei
den Mandschu werden dem Brautpaare Fische als Speise gereicht
mit dem Wunsche: „In Hülle und Fülle möge euch Glück
sein.'"'^ Auf den Hervey Inseln (Ozeanien) wird bei einer Hoch-
zeit ein roher Fisch zum Bräutigam herangebracht; dann wird
der Fisch auf einem menschlichen Körper in würfelförmige
Stücke zerlegt und vom Bräutigam vollständig roh gegessen.''
„In seiner Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten in Fez
erzählt Leo der Afrikaner (Africae descriptio, Lejden 1632,
S. 326), daß der Ehemann gewöhnlich am siebenten Tag nach
der Hochzeit eine große Menge Fische kauft und sie durch
seine Mutter oder irgendeine andere Frau auf die Füße seiner
Gattin werfen läßt."'' Dieses soll den Wunsch ausdrücken,
daß ebenso, wie die Fische sich schnell und stark vermehren,
auch das neuvermählte Ehepaar viele Kinder erhalten möge.
Die Symbolik des Fisches in geschlechtlichen Dingen ist
sogar dem klassischen Altertum bekannt. Sie ist auch in
' Baudhäyana Grhyasütra 1. 13.
* W. Grube Zur Pekinger Volkskunde (Berlin, Museum für Volks-
kunde 1901) p. 36.
' W. Grube Zur Pekinger Volkskunde p. 2'. Über den Fisch als
Symbol des Überflusses in China vgl. Grube, ebenda p. 1.39—141; 147.
* W. W. Gill Life in the Southern Isles, London 1876 p. 60.
* Zachariae in Wiener Z. K. M. 18, 306.
378 I- Scheftelowitz
pompejanisclien Gemälden z. B. in der Casa del Centenario zur
Darstellung gebracht.^
Fische, besonders die sich schnell vermehrenden Heringe,
waren der germanischen Göttin Berchta (Percht), der Beschützerin
des Ackerbaus, heilig und wurden ihr an ihren Festen geopfert.
Sie hat den Bauern „auf ewige Zeiten ein Gericht Fische und
Habergriitze verordnet, sie zürnt, wenn es einmal unterbleibt",
indem sie demjenigen, der andere Speisen an ihrem Festtage
zu sich genommen hat, den Leib aufschneidet (J. Grimm,
Deutsche Mythol.'^ I, 226; lU, 29).. Bei den nordischen Völkern
war der Fisch der Freyja, der Göttin der Fruchtbarkeit und
der Liebe, geweiht. Ihr haben die Skandinavier am sechsten
Tage der Woche Fische geopfert (R. M. Lawrence Magic of
the horse-shoe, Boston 1899 p. 259).
Die keltisch -germanischen Muttergottheiten scheinen in
ihrer Eigenschaft als Spenderinnen der Fruchtbarkeit durch
Fische versinnbildlicht zu sein. Viele Funde aus dem 3. Jahr-
hundert n. Chr. haben klargelegt, daß im Jülicher Land, in
der Eifelgegend und am Rhein zwischen Cöln und Bonn diese
keltisch -germanischen Muttergottheiten (Matres bzw. Matronae)
^ Vgl. Dölger Eö7n. Quartalschr. 28, 109. Nach einem lettischen
Märchen bewirkt der Genuß von Fischen bei weiblichen Wesen Schwanger-
schaft (vgl. V. V. Andrejanoff Lettische Märchen 21 f.). „Die Fischmahlzeit
bei der Hochzeit ist auch für die Griechen durch die Fragmente Epicharms
and einschlägige Vasenbilder (Lenormant- Witte Elite mon. ceram. IIF,
pl. XIV cf. S. 45) und durch ein Fragment aus dem Ps. Hesiodeischon
Kriv-nog yä^iog bezeugt" (Brief!. Mitteilung von Rob. Eislei"). Eine hoch-
archaische böotische Vase weist das Bild einer Göttin mit einem Fische
im Mutterleibe auf (Rob. Eisler, Philologus Bd. 68, 203). Eine ähnliche
Darstellung findet sich auf einem syrischen Achatsiegel, siehe Abbildung
im Corp. 1. Sem. P. 11. Tom. 1 Paris 1889 Tab. VI, 78 u. Textband S. 83 Nr. 78.
Der Fisch ist gleichsam das Symbol der weiblichen, gebärenden Natur-
kraft, wenn sich nach Ovid Metamorph. III, 331 und IV, 44 f. Aphrodite
und die große syrische Göttin in einen Fisch verwandeln. Mehrere Fische
waren der Aphrodite geweiht (Athen. VII, 126, 136). Auch der Geburts-
göttin Hekate waren gewisse Fische heilig, die man ihr als Üpferspeise
vorsetzte ('Exoctt]? ßgäiiaroc, vgl. Athen. VII, 92; 126; VIII, ö7).
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 379
verehrt wurden^, die in den Inschriften verschiedene echt
germanische Beinamen haben. In Boun ist ein ziemlich gut
erhaltener Votivaltar der göttlichen Mütter Aufaniae aufgefunden
' Deae matres wurden auch in Sizilien verehrt, vgl. Diodoros
Bibliotheca histor. IV c. 80. Zum Matronenkult vgl. M. Siebourg West-
deutsche Ztschr. 1888 p. 99fiF.; Ihm, Bonn. Jahrb. Bd 83, 1—200. Über die
germanischen Muttergöttinnen vgl. besonders F. EaufFmann Ztschr. d. Ter.
f. Volkskunde 1892 p. 24 f. Auch die Etymologie ihrer Namen deutet
vielfach darauf hin, daß sie Schutzgottheiten der ländlichen Fluren und
Spenderinnen der Fruchtbarkeit seien. So bedeutet Autania 'die Überfluß
Habende': got. uQö 'Überfluß' (vgl. Much Ztschr. f. Deutsch. Alt. 35, 317 f.).
Daß die Matrona Atufrafineha nicht keltisch sein kann, geht aus dem
Laute f hervor, der dem Urkeltischen mangelt. Das Wort geht auf alt-
germ. *Atu-fräfineia 'Saaten fördernd' zurück. Zu atu- vgl. got. at-i?k8
'Saat', ahd. a^zisk 'Saatfeld', as. ät 'Speise', ags. set. Altgerm. *fräfineia:
altgerm. fra-aQan, ags. seQan 'wirken, tun', vgl. ahd. afalon 'rührig sein',
aisl. afla 'rührig sein', lit. apstus 'reichlich'. Von demselben Verb ist
auch die german. Matrona Aflia abgeleitet .vgl. Much Ztschr. f. Deutsch.
Alt. 35, 316). Das Suffix -neha neben -hena kommt in den germanischen
Matronennamen häufig vor (vgl. Ihm B.J. 83, 31 — 32). Schon F. Kaufi"-
mann hat Ztschr. d. V. f. Volkskunde 2. 38 dargelegt, daß in diesen Suffixen
„das h- Zeichen epigraphisch als Trennungszeichen der Vokale ohne
selbständigen Lautwert verwendet ist", so daß eigentlich die german.
Endung -neia, -iena vorliegt. So sind auch verständlich Schreibungen
wie Vallabneihiabus {B.J.93, 251 — 252) neben Vallabneiabus (.B. /. 93,
252), femer Fahineihae {B.J. 102, 180 f.) neben Fachinehae {B. J. 96 97
p. 157 f. : got. fahe{)S 'Freude', faginön 'sich freuen' vgl. zur Etymol. auch
.B.J 103, 108). Andere Matronennamen sind Udravarinehae (pl.), B.J.
105, 86 f., Westdeutsche Z. Korr. Bl. Bd U (1895) Nr. 1. Die Bedeutung
ist „Euter schützend": ags. üder, ahd. ütar 'Euter', femer got. warjan,
ahd. wei^jan 'schützen', ags. warian 'wahren'. Daneben ist die Form
Cdrovarinebae belegt {Westdeutsche Z. Korr. Bl. Bd 25, 102). Die
Matrona Garmangaba soll nach v. Grienberger Ztschr. f. Deutsch. Alt.
38, 189 f. grata donatrix bedeuten, indem er Garman mit deutsch
gern, gr. jjjäpts zusammenstellt. Allein Garman wird eher zu isl. gormr
'Schlamm, Dünger", ags. gor 'Mist, Dünger', ahd. gor 'Mist, Dünger' ge-
hören, so daß diese Göttin die 'Düngergeberin' heißt. Auc'n die alt-
indische Glücksgöttin Sri, die vom Landmann angefleht wird, heißt
Karisini 'die Düngerreiche' (vgl. Scheftelowitz Apokryphen des Bgveda
1906 p. 73 Vers 9). Matrona Gavadia {B. J. 83, 33) bedeutet 'schön gekleidet':
ahd. gawätjan, giwätan 'kleiden, bekleiden', ags. weet 'Gewand. Kleid'.
Dasselbe bedeutet auch die Matrona Gavasia ( Westdeutsche Z. Korr. BL Bd -25,
380 I- Scheftelowitz
worden. „Die über dem Sims angebrachte Bekrönung der
Ära läuft an ihren beiden äußeren Enden in Schneckenrollen
aus, welche an der Vorderseite mit Rosetten geschmückt sind.
In der Mitte erhebt sich von vorn und hinten eine Giebelspitze,
deren Verzierung höchst einfach gehalten ist. Ganz in der
Mitte ruht auf der Bedachung eine oblonge, wahrscheinlich
einen Opfertisch bezeichnende Platte, auf der ein Fisch mit
weitgeöffnetem Munde liegt." Da nun diese Muttergöttinnen
auf den bisher bekannten Votivdenkmälern als Spenderinnen
der Fruchtbarkeit und als weibliche Schutzgottheiten der länd-
lichen Fluren bezeichnet werden, so ist es sehr wahrscheinlich,
daß der Fisch die Fruchtbarkeit symbolisieren soll.^
Im ehemaligen Ceylon glaubt der Bauer, dessen Acker es
an genügender Bewässerung mangelt, durch das Bild eines in
einer Zisterne ruhenden Fisches eine gute Ernte zu erzielen
(H. Parker Ancient Ceylon, London 1909 p. 514).
101): got. gawasjan, ahd. gawerian 'bekleiden'. Matronae Berhuia-henae
[Westdeutsche Z. Korr. Bl. Bd. 25, 161): altgerm. *berhuiä- 'glänzend',
was ebenso gebildet ist wie der germanische Matronenname Vatnia
(got. watö, an. vatu 'Wasser', vgl. Much Ztschr. f. Deutsch. Alt. 35, 317).
*berhuiä got. bairhts 'hell, strahlend', mhd. breheii 'plötzlich und stark
leuchten' ai. bhräs 'glänzen'. Das Suffix -hena steht, wie bereits oben
ausgeführt ist, für germ. *jenä. Zu dieser von den Römern gebrauchten
Schreibweise vgl. auch die bei Tacitus Ann. 4, 73 erwähnte germ. Göttin
Baduhenna (badu 'Kampf'). Über die l'-tymologie anderer Matronen-
namen vgl. F. KaufFmann Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde 2, 24-46, Much
Ztschr. f. Deutsch. Alt. 31, 354f.; 35, 315 flf. und ;^74f.; v. Grienberger da-
selbst 35, 388f.; 36, 314 f.). Über die Aufaniae vgl. Lehner 5. J. 119. 300ff.
1 Vgl. J. Klein Bonner Jahrb. 1879, Bd 67, 66 f; Ihm B. J. 83, 186.
Auf einem anderen Matronendenkmal, das im Mannheimer Museum auf-
bewahrt ist, ist ein Sessel, auf dem die Matronen sitzen, mit Delphinen
geschmückt. Durch die Delphine sollen wohl diese Göttinnen als
Beschützerinnen charakterisiert werden; vgl. F. Hang Archaeol.
Ztg XXXIV, 1876, S. 61. Delphine sieht man zuweilen auch auf den
Seiten von Matronensteinen (vgl. M. Ihm Bonn. Jahrb. 83, 50). Die
germanische Göttin Nehalennia ist mit einem Delphin dargestellt, Corp.
Inscr. Rhen. 28. Zur Etyniol. von Nehalennia vgl. I^uch Ztschr. f.
Deutsch. Alt. 35, 324 ff.; Datter Ztschr. /'. Deutsch. Alt. 31, 208.
Das Fischsymbol im Jadentiun und Christentum 381
Auf einer zu Tiryns gefundenen Scherbe (frühestens aus
dem 8. Jhdt. vor Chr.) ist ein Fisch zwischen den Beinen eines
Pferdes in der Richtungr nach der Schamgegend gemalt Da
auf diesem Bilde auch das Hakenkreuz ^^Svastika\ das Symbol
einer alten Gottheit, sichtbar ist, so wollte man wohl durch'
ein derartiges Bild die Fruchtbarkeit der Herde erwirken.^
Bereits auf Zeichnungen der prähistorischen Renntierzeit
scheinen Fische als Symbol der Fruchtbarkeit abgebildet zu sein.
So z. B. auf einem Geweihfragment aus der Grotte von Lortet,
wo sechs vorzüglich gezeichnete Fische zwischen den Beinen
von drei Renntieren gezeichnet sind, welche wahrscheinlich deutlich
auf den symbolischen Sinn der Fruchtbarkeit der Herde hinweisen
sollen.^ Solche Fisch bilder werden wohl als ein magisches
' Vgl. C Schuchhardt Schliemanns Ausgrabungen, Leipzig 1891 p. 163.
Das Hakenkreuz ist auch in Troja und Mykenä aufgedeckt, vgl. C. Schuch-
hardt a. a. 0. p. 89 u. 275; K. v. d. Steinen Prähistorische Zeichen und
Ornamente in Festgruß an Bastian 1896 p. 250 ff. ; S. Reinach Revue Arch.
Ser. 3 T. XL (l'.<02) p. 373—386. Es ist nicht nur in Indien, sondern auch
im alten Gallien ein religiöses Zeichen (vgl J. L. Courcelle-Seneuil Les
dieux gnulois d' apres les tnonuments figures, Paris 1910 p. 70 f. Fig. 23;
p. 86 Fig. 31— 3->; p. 118 Fig. 57). Über das Hakenkreuz als Grund-
zeichen des westsemitischen Alphabets vgl. W. Schultz in Memnon
Bd III, 2. Hakenkreuze existieren auch bei den amerikanischen Urein-
wohnern, vgl. A. K. Hein Kreuze, Haienkreuze in Amerika, Wien 1891:
Berue d'Ethnol. T. IV, Paris 1885 p. 14 ff. Femer ist das Svastika als
heilbringendes Zeichen aufgedeckt in den prähistorischen Funden Böotiens
{Bevue Arch. 4. Ser. T XIV 1909 p. 103), der iberischen Halbinsel
{Bevue Arch. 4. Ser. T. Xlü 1909 p 30 und 32; T XIV p. 120f.^„ Ungarns
(S. V. Torma Ethnograph. Analogien, Jena 1894 p. 37). Das Hakenkreuz
kommt auch bei den Germanen der jüngeren Eisenzeit vor. .,In den
meisten Fällen muß das Hakenkreuz nach der Art, wie es angebracht
ist, als ein heiUges glückbringendes und schützendes Zeichen aufgefaßt
werden'- (S. Müller Nord. Altertumskunde H, 196). Ein heidnischer, in
der Altmark gefundener Speer war mit dem Hakenkreuz versehen
(L. Lindenschmit Handbuch d. deutschen Altertumskunde, Braunschweig 1889
p. 167. Fig. 58). Über das Svastika vgl. auch M Hoernes Urgeschichte
der bildenden Kun.st 1898 p 337-341.
- Vgl. M Hoernes Urgesch. d. bildenden Kunst, Wien 1898, S. 15.
Hier könnten die Fischfiguren auch ein glückverleihendes Symbol sein.
In der prähistorischen Zeit hat man auch Fetische in Fischform verehrt.
382 1- Scheftelowitz
Mittel für schnelle Vermehrunoj der Herde oregolten haben.
Also bei den verschiedensten Völkern können ähnliche Sitten
und Anschauungen ganz unabhängig voneinander entstehen.
„Es gibt Fälle, wo eine verführerische Ähnlichkeit . . . den
Gedanken an Abhängigkeit nahelegt, während es doch ganz
natürlich ist, daß unter ähnlichen Voraussetzungen der religiösen
Vorstellungswelt und unter ähnlichen Bedingungen des Zeit-
bewußtseins verwandte Gedankengänge erzeugt werden.''^
12. Jüngere Vergleiche mit Fischen im Judentum
a) Der Vergleich bei Habakük 1, 14: „Und du machst
den Menschen gleich den Fischen des Meeres" bedeutet nach
Rabbi Semüel^, der im Anfang des 3. Jahrhunderts lebte,
So hat ein in Archangelsk (Rußland) gefundener Flintstein die Gestalt
eines Fisches (vgl. Jean Capart Trimitive Art in Egypt, London 1905
p. 154). Aus der prähistorischen Zeit sind uns auch sonst noch Fisch-
dai Stellungen erhalten. Diverses ceuvres d'art de Vepoque magdcdenienne
representent des poissons graves ou en faible relief, parfois admirahhinent
reproduits. Parmi ces representations , nous pouvons euer de la localite
typique de la Madeleine: un poisson de la famille de cyprins, probable-
ment une carpe, grave sur un fragment de pointe de sagaie en corne de
renne (British Museum), et un poisson ouvert ou decharne laissant voir
la colonne vertebraJe et les aretes, grave sur plaque de schiste (Museum
de Paris). Laugarie- Basse a donne plusieurs figurcs de poissons, entre
autres un brocket sur corne de renne et une t'ruite (collection Massenat),
un poisson qui semble etre un squalius, grave sur une müchoire de renne
(Museum de Paris). Su/r une des canines d'ours retirees de la grotte
Duruthy (Landes), on voit un poisson qui paratt bien etre un brächet
(Musee du Mans). Knfm sur le remarquable bdton de commandement de
la grotte de Montgaudier (Charentc), nous trouvons d'un cöte une truite,
ou saumon, parfaitement caracterisee non seulement par sa forme generale,
mais encore par les points dont eile est tachetee ä la partie superieure de
son Corps, et du cote oppose deux anguilles ayant les faces ventrale et
dorsale bordees de nageovns continues. Gabriel und Adrien de Mortillet
Le Prehistorique, origine et antiquite de l'homme, Paris 1900 p. 425. Auf
einem Granitblock zu Smolensk (Rußland) ist ein aus prähistorischer
Zeit stammendes Bild eines Fisches dargestellt, Verhandl d. Berl. (res.
f. Anthrop. 1877 p. 16.
' H. Holtzmann Arch. f. Eeligionsw. XII, 386 f.
* Talmud 'Ahödä zärä 8 b u. 4 a.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 383
folgendes: „Wie bei den Fischen im Meere der größere den
kleineren verschlingt, so ist es auch bei den Menschen;
wenn nicht die Furcht vor der Regierung wäre, so würde
der Größere den Kleineren verschlingen." Einen ähnlichen
Gedanken spricht auch der Kirchenvater Cyrill von Alexandrien
aus. Der Satz Hosea 4, 3: „Selbst die Fische des Meeres ver-
gehen" bezieht sich nach Cyrill ^ auf die Menschen, die sich
nach Art der Fische gegenseitig zu verschlingen trachten.
b) In einem unter kabbalistischem Einflüsse entstandenen,
mittelalterlichen hebräischen Werke über altjüdische Gebräuche
heißt es': „Man pflegt am Neujahrsfeste Fische zu essen; dieses
soll andeuten, daß sich unsere guten Handlungen mehren mögen,
wie die Fische, welche fruchtbar und zahlreich sind; ferner
weil die Fische keine Augenlider haben und ihre Augen stets
oö'en sind, um so die ofi'enen Augen des Himmels, d. i. die
große Barmherzigkeit Gottes zu erwecken, denn siehe nicht
schläft, noch schlummert der Hüter Israels (Ps. 121,4). Aus
demselben Grunde pflegt man am Xeujahrstage auch an einen
Fluß zu gehen, worin sich Fische befinden, um die ofi'enen
1 Cyrillus in Oseam 4, 3 (In XII Prophetas) Ingolstadii 1607, S. 126:
„Eos qui imbecilliores velut deglutiunt: mutua enim devoratione pisces
imprimis gaudent". Die ältesten Kirchenväter haben bekanntlich häufig
jüdische Quellenschriften eingehend studiert und daraus Gedanken ent-
nommen, so auch Tertullianus, der um 200 n. Chr. lebte. Letzterer wendet
sich {Libellus de spectaculis reo. Klussmann, Kudolstadt 1876) in der
Peroratio cap. 30 an diejenigen, welche an heidnischen Schauspielen Ge-
fallen hatten, und sagt, daß dagegen den Frommen ein überwältigendes
Schauspiel am Tage des letzten Gerichtes dargeboten würde. Ähnlich
heißt es auch in Midras Rabba zu 3. Mos. 13, 3. Eine andere ron Ter-
tullian dem Judentum entlehnte Vorstellung ist bereits in Abschnitt 1
behandelt.
- Michel Epstein Sef'er qisür sene lühöt hdb-berit, Fürth 5492
[1732] Bl. 73 a. Ähnlich in dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden,
ebenfalls kabbalistischen Werke Hemdat haj-jümim, Abschn. Seder
miqeräöt belel Bös haxsänöh; ferner Mahzör fiel Bös hassänäh, Amster-
dam 5541 Bl. 85 b Komm. In Thüringen ist es Sitte, am Xeujahrstage
Fische, besonders Karpfen, zu essen (Mitteilung des Herrn Museums-
direktors Dr. W. Foy).
384 I- Scheftelowitz
Augen des Himmels zu erwecken, ferner weil wir mit lebenden
Fischen zu vergleichen sind, welche plötzlich in ein Netz ge-
fangen werden.^ Daher beeile man sich Buße zu tun." Auch
Isaak Lurja (16. Jahrhundert) sagt: Man soll Fische am Sabbat
genießen, weil sie keine Augenlider haben und dadurch die
göttliche Vorsehung veranschaulichen.^
Diese kabbalistische Auffassung, daß das offene Auge des
Fisches uns mahnen solle, Buße zu tun, erinnert an einen
ähnlichen buddhistischen Brauch in China. In den Vorhallen
der dortigen buddhistischen Tempel und Klöster hängt ein
langer, hölzerner Fisch in gewöhnlicher Größe. Nun wird in
einem chinesisch -buddhistischen Werke auf die Frage, warum
in den Buddhaklöstern ein hölzerner Fisch aufgehängt wäre,
folgende Antwort gegeben: „Der Fisch schließt niemals, weder
bei Tage noch bei Nacht, die Augen. So werden auch die-
jenigen, die ihren Lebenswandel zu erneuern wünschen, bei
Tage und bei Nacht ihres Lagers vergessen, bis sie den Pfad
der Vollkommenheit erreichen."^ Sowohl in dem jüdisch-
^ Vgl. Kölielet 9, 11. Ähnlich Talmud Sanhedrin 81b: „Ebenso wie
die Fiscbe, welche durch die Angel plötzlich gefangen werden, kennt
der Mensch nicht seine Stunde [des Todes]." Auch bei Homer werden
die von unerwarteten Feinden plötzlich getöteten Menschen mit Fischen
verglichen, die unvermutet durch die Harpune, Angel oder das Netz
ihren Tod finden (Od. X, 124; XU, 251 ff.; XXII, 384 ff,; 11. XVI, 406 ff.).
* Lurjas Tikkünim, cap. über Sabbat, vgl. H. Graetz Gesch. d.Jud.^
Bd 9 S. 421. Lurjas Ausdruck „göttliche Vorsehung" bedeutet dasselbe
wie die Phrase ,,das offene Auge des Himmels" im obigen Zitat, denn
„das offene Auge Gottes ruht vermittels der Vorsehung über Israel"
heißt es bei Michel Epstein S'efer qisur scne lühöt hab-herit Bl. 73a
Dieses geht auf Jerem. 32, 19 zurück: „Dessen Augen offen sind über
alle Wege der Menschen, jedem nach seinem Wandel nach der Frucht
seiner Handlungen zu lohnen." Vgl. auch Hiob 14, 3.
' Vgl. 0. Frauke bei Pischel Sitz. B. Fr. Ak. Miss. 19wö, S. 528.
Im Reichsmuseum zu Leiden ist ein aus Japan stammender hölzerner
Fisch, der angeblich beim buddhistischen Gebet verwendet wird, worauf
mich Herr Dr. W. Foy aufmerksam macht. Auch in Korea hängen in
buddhistischen Klöstern hölzerne Fische (The National Geographical
Magazine 1908 Vol XIX p. 501).
I
Das Fiscbaymbol im Judentum and Christentum 385
kabbalistischen als auch in dem chinesischen Werke sind für
alte Bräuche, deren ursprünglicher Sinn in Vergessenheit ge-
raten ist, neue Erklärungen gegeben. Daß die gleichen Illu-
sionen sich bei den verschiedensten, weit voneinander lebenden
Rassen wiederholen können, liegt in der Gleichartigkeit des
psychologischen Vorganges aller Menschen begründet.
Nachträge und Berichtigungen
S. 4 f. Herr J. J. Kahan, em. Lehrer am Institutum DeUtzschianum,
macht mich freundlichst aufmerksam, daß in Talmud Qiddusin 25a
Gelehrte verschiedener Beanlagung mit heißen und kalten Fischen
verglichen werden. Allein diese Deutung ist zweifelhaft. Die
Rabbinen sagen in Qiddusin 25 a zu Rabbi Hsmenünä, als er
keinen großen Scharfsinn an den Tag legte: „Du solltest nicht
Hamenünä heißen, sondern Qamünä'^ Ein Kommentator i^Tösafist)
des 12. Jhdts meint nun. Hamenünä stehe hier für ham-nünä
('warmer Fisch'), während Qamunä in qar-nünä f kalter Fisch')
zu zerlegen sei. Allein der im 11. Jhdt lebende ältere Kommen-
tator Rasi kennt diese Auslegung nicht.
Zu S. 9. Im Lalitavistara (ed. Lefmann S. 92,18) sagt Buddha von sich:
„Der Yemichter von Alter und Tod, der beste der Ärzte werde
ich sein, das höchste Wesen".
Zu S. 10 Z. 12 ff. Bereits im Midras Jona wird das Grab mit dem Fisch,
der den Jona verschlungen hatte, verglichen: „Der Bauch des
Fisches ist die Unterwelt, weil es heißt (Jona 2, 3): 'Aus dem
Bauche der Unterwelt habe ich gefleht'. Jona befand sich im Bauche
des Fisches, der von der hl. Schrift als Bauch der Unterwelt bezeichnet
wird , drei Tage und drei Nächte. Das sind die drei Tage , die die
Seele im Grabe zubringt . . . Nach Verlauf von drei Tagen richtet
Gott die Seele . . . Ebenso wie auf Gottes Geheiß der Fisch den
Jona ans Land spie, so werden in der messianischen Zeit, wenn
die im Staube Ruhenden erwachen, alle Gräber die Toten, die in
ihnen sind, ausspeien" (vgl. Jellinek Bet Ham-midrasch I p. 104f.).
S. 15 Z. 25 statt 'Identifizierung* lies 'Verbindung'.
S. 20 Z. 17 ff. Das Schwanzstück des Thunfisches galt im Altertum als
ein Leckerbissen (vgl. L. Lewysohn Zoologie des Talmuds, Frank-
furt a. M. 1858 p. 254).
S. 22. Anmerk. 3: lies n^üTr.
S. 23. Anmerk. 2. Die Anschauung, daß bei der Wiederauferstehung die
Posaune ertönen wird, findet sich auch im N. T., vgl. Matth. 24, 31 ;
1. Kor. 15. 52; 1. Thess. 4, 16. Auch in der german. Mythologie
ertönt yor Beginn des Weltuntergangs Heimdalls Hörn (vgl.
A. Olrik, Altnord. Geistesleben 1909 p. 267 f.; 468).
Archiv f. Beligiouswissenschaft XXV 26
386 I- Scheftelowitz
S. 27 Z. 4—5 lies: lim üiob •^'^m NiTon.
Zu S. 35 letzte Zeile vgl. auch Talm. Beräköt 18 a: „Die Frommen
werden nach ihrem Tode die Lebenden genannt".
Zu S. 39 f. Der S. 39 f. geschilderte Kampf des Behemct mit dem Fisch-
ungeheuer Leviatan hat nichts zu tun mit dem im babylonischen
Gilgamesch-Epos erwähnten Zweikampf des Marduk mit dem
Drachen Tiamat. Drachenkämpfe, die an die babylonische Dar-
stellung erinnern, finden sich in den Mythologien der ver-
schiedensten Völker; s. E. Siecke, Drachenkämpfe, Myth. Bibl. I 1.
So kämpft der altindische Gott Indra mit dem Wasserdrachen
Vrtra (z. B. Rgveda I 33, 13; 51, 4; 52, 8; 61, 10; 63,4; 80, 2—13;
II 11, 8, 18) und im altenglischen Epos Beowulf mit dem Wasser-
ungeheuer Grendel. In der altgermanischen Mythologie kämpft
Siegfried mit dem Drachen, ferner Dietrich von Bern mit dem
Meerriesen Ecke (vgl. K. Müllenhoff in Haupts Ztschr. f. D. Alt.
Bd. VII 423 flf.). In der nordischen Mythologie bekämpft der Gott
Freyr den Meerriesen Beli. Man vergleiche ferner Thors Kämpfe
mit der Midgardschlange. Sowohl Beowulf als auch Thor sterben,
nachdem sie den Drachen besiegt haben, an den Wunden, die
ihnen der besiegte Drache geschlagen hat (vgl. K. Simrock, Hdbch.
d. Deutsch. Myth. 5. Aufl. p. 192 f.). Diesen Zug haben sie ztilallig
mit dem messianischen Kampf des Behemöt und Leviatan
gemeinsam. Auch in der deutschen Sage besiegt Winkelried den
Lindwurm, stirbt aber selbst, vom Drachenblut vergiftet (Gebrüder
Grimm, Deutsche Sagen Nr. 217). Im Griechischen besiegt Herakles
die lernäische Hydra. Über weitere Drachenbesieger vgl. E. Sidney
Hartland, Legend of Perseus Vol. III.
S. 41. Auch nach dem ägyptischen Glauben bestimmten die Gestirne
das Schicksal der Menschen. Vermittels der Astrologie konnte man
das Geschick vorausbestimmen. ,, Hierauf beruht der Gedanke, Horos-
kope aufzustellen, öfters wird derartiger Berechnungen in Ägypten
gedacht und späte Papyri enthalten Sphären, d. h. Tabellen, mittels
deren man die Schicksale der Menschen aus gegebenen Größen,
dem Geburtstage und Ähnlichem berechnen konnte" (A. Wiede-
mann, Die Religion der allen Ägypter, Münster 1890 S. 140 f.).
Zu S. 43. Nach Jätaka I, 51, 3 f. war in dem Momente, als Buddha in
den Mutterleib eintrat, ein unermeßlicher Glanz in der Welt
sichtbar (vgl. auch Lalitavistara ed. Lefmann 51, 7). Bei der Ge-
burt Buddhas ,, erglänzte die Sonne in ungewöhnlicher Weise,
mit lieber Fhimme leuchtete unbewegt das Feuer" (A^vaghosa,
Buddhacarita I, 41). — Mit der Geburt Abrahams ging gemäß
einem Midras ein gewaltiger f-tern auf, der vier andere Sterne
am Himmel verschlang. Die Sterndeuter brachten diesen ge-
waltigen Stern mit Abraham in Verbindung {Sammlung kleiner
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 387
Midraschim You Ch. M. Horowitz, Berlin 1881 T. 1 S. 43f.). Antike
und christliche Analogien gibt A. Dieterich (in seinen demnächst
erscheinenden Kleinen Schriften S. 277).
S. 46. Die 12 Tierkreisbilder werden in Verbindung mit den 12 Monaten
auch in Pirqr- Rabbi Eli'ezer cap. 6 aufgezählt.
S. 47. Gemäß einem späten Midrds erscheint der Messias im zwölften
Monat, nämlich am 20. Adar {Apolal. des Elias in Jellinek,
Bet Hamviidrasch III, 6«).
^. 49. Nach Professor F. Peiser ist das Wort "jir in der Psalmstelle 72, 17,
auf welcher die talmudische Auslegung beruht, verderbt.
S. 50. Im Jalqut hameqiri I (zu den Psalmen) ed. Buber, ßerditschew
1899 Abschn. 86 werden 7 Namen für Messias aufgezählt, worunter
ebenfalls Jinon erwähnt wird.
S. 323 Anm. Der Badaga in den Nilgiribergen (Ostindien) glaubt an
eine „Fadenbrücke", die ins Jenseits führt (R. Andree Ethno-
graphische Parallelen N. F. 27). Auch die Ureinwohner Amerikas
nahmen einen breiten Totenstrom an, der die diesseitige Welt
vom Jenseits trennte. Nach der Anschauung der nordamerikanischen
Indianer wurde er durch einen langen Balken überbrückt, über
den jede Seele schreiten muß. Während die Seelen der Tapferen
und Guten ungehindert hinübergelangen, fallen die Seelen der
Feiglinge und Schlechten in den Strom hinab (Peter Jones History
ofthe Ojebicay Indians, London 1861 p. 102f.). Nach dem Glauben
der südamerikanischen Indianer erreicht man entweder mittels
einer Brücke oder eines Bootes oder eines Flosses aus Spinngeweben
die Unterwelt. An der Grenze des Jenseits stellt sich der Seele des
Araukaners (Südamerika) ein böses altes Weib feindselig entgegen,
um ihr, wenn sie unterliegt, ein Auge auszustechen (Th. Koch
Änimismiis der südamerikanischen Indianer, Leiden 1900 p. 129).
S. 330. Heringe und Haberbrot ist die herkömmlichste Speise des Thor
(K. Simrock, Handbuch d. deutschen Mythol.® Bonn 1887, 270).
Karpfen und süßer Brei war die Lieblingsspeise der Berchta
(K. Simrock a. a. 0. p. 395).
S. 336. Auch die Cherokees (Amerika) glaubten an Fischgottheiten
(7"' Ännual Report of the Bureau of Americ. Ethnol. 1885/86
Washington 1891 p. 340). Nach der Anschauung der Ojebway
Indianer hausten in den Fischen göttliche Geister (Peter Jones
History ofthe Ojebtcay Indians p. 104).
S. 347. Das Bild des Hechtes schützt das Haus in Oldenburg vor Schaden
(S. Seligmann D. böse Blick 1910 11, 122). Bei Krankheiten der
Kinder und des Viehes binden die Kirgisen Fischzähne um dieselben
(R. Karutz Unter Kirgisen und Turkmenen, Leipzig 1911 p. 133).
In der Mark herrscht der Glaube, daß derjenige, der das ganze
Jahr hindurch Glück haben will, am Neujahr Heringe essen muß.
25*
388 I- Scheftelowitz
Zu diesem Zwecke genießt man im Wittenbergischen Heringssalat,
in der Lausitz und in Steiermark Karpten am Neujabr (K. Simrock
Handbuch der deutschen Mythol.'' p. 549 f.). Auch in Thüringen
pflegt man an diesem Tage Karpfen zu essen (Mitteilung des
Herrn Dr. W, Foy). Nach dem altdeutschen Kaleader begann das
Jahr mit d em Winteranfange, nämlich dem Martinstage (11. November).
An diesem sogenannten Jahresanfänge wurden von den Kindern
gebackene Fische nebst Kuchen eingesammelt (K. Simrock, Hdbch
d. deutsch. Mythol.** p. 564 und 551). Der Aprilfisch als Glücks-
zeichen ist französisch. Fische werden zum 1. April in Belgien
auch aus Schokolade oder als Bonbonniere zugestellt (Mitteilung
des Herrn Dr. W. Foy) Diese französische Sitte hat sich auch
in Tunis eingebürgert. Was im Sternzeichen der Fische gepflanzt
wird, gedeiht nach dem mecklenbui-gischen Volksglauben. Im
Erzgebirge hält man die im Zeichen der Fische geborenen Kinder
für glücklich (A. Wuttke Deutscher Volksaberglaube \ p. 88). Gemäß
dem Talmud Ketüböt 61a erhält ein Kind ein schönes Äußere, wenn
die Mutter während ihrer Schwangerschaft große Fische ißt.
S. 349 f. Der Talmud Sanhedrin 66a bestätigt, daß Fische als Augurium
benützt wurden: In den Bewegungen der Fische sahen die Cherokees
(Amerika) ein Omen (7''« Annual Beport of the Bureau of Amerika
Ethnol. 1885/86 Washington 1891 p. 336). Auf einer zu religiösen
Festen verwendeten Maske derHopi-lndiauerist ein Fisch auf dem Ge-
sichte gemalt. Dieses Fischbild soll die göttliche Kralt besitzen, den
erwünschten Regen zu bringen (^i'A Annual Beport of the Bureau
ofAmeric. Ethnol. 1899/1900 Washington 1903 p. 113 f und PI. LXU).
Zu S. 352 Anmerk. Das römisch - germanische Zentralmuseum Mainz
besitzt eine römische Gewandnadel, die aus zwei aneinandergefügten
Delphinen besteht (Nr 0 5560). Fundort Donapentele, Ungarn.
Über römische Vasen mit Delphinbildern, die in Frankreich ge-
funden sind, vgl Joseph Dechelette Les vases ceramiques omes de
la Gaule Bomaine, Paris 1904 T. II p. 150 f. Auf einer antiken
Lampe sind zwei gegeneinander herabstürzende Delphine dar-
gestellt (Bonn. Jahrb. 61, 1877, 104).
S. 354. Römische Gewandnadeln in Fischgestalt sind in Mainz und im
Litnea-Castell ürspring gefunden worden (Römisch-Germ. Zentral-
museum, Mainz Nr. 1385 und 20727, vgl. 0. v. Sarwey und
K. Fabricius, D. obergerm.-raetische Limes des Bömerreiches, Heidel-
berg 1905 Lief. XXIV Taf IV Nr. 23). Ein fränkisches Schwert
aus dem 6. Jhrt n. Chr., gelunden zu Andernach, ist mit zwei
Fischbildern versehen (Proviuzialmuseum Bonn, Kopie im Römisch-
Germ, Zentralmuseum, Mainz). Die Mirmillonen, eine Art römischer
Gladiatoren, trugen Helme, auf deren Spitxe ein Fisch zu sehen
war (Schol. Juvenal 8,200). Da Fische gegen böse Einflüsse schützen.
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 389
wurde der Fisch hänfig bei den Römern als Töpfermaake genommen
(vgl. W. Ludovici Stempelnamen römischer Töpfer von meinen
Aiisgrabu/ngen in Rheinzabem 1904 p. 88; ders. Stempelbilder
römischer Töpfer aus meinen Ausgrabungen in Rheinzabern 1905
p 93, 199, 208, 229: ders Römische Töpfer in Rheinzabem 1908
p. 81—83). Deshalb sind auch Fische auf antiken Vasen abgebildet,
vgl. Joseph Dechelett« Les vases ceramiques ornes df la Gaule
Romaine T. II p 151). — Die mykenische Keramik weist „den vor
Bämtlichem andern Zierrat beliebtesten Tintenfisch mit seinen
funkelnden Glotzaugen und den riesig sich anschlängelnden Fang-
armen" auf (F. Höber Griech. Vasen, München 1909 p. 11). J. de
Mot, TJie decU-fish in ancient art {Rec. ofPast, Washington l'.nO IX,
:i76 — 278) notes devil-fish in Mycenean art. This creature . . . fur-
nished to the art of the Egean Archipelago some characteristic images
(Translat. by H. M. Wright from the original article in Bull, du
Mus Roy. d. Arts Decor. et Industr. Bruxelles i:>07), vgl. American
Anthropologist Vol. XII p. 645. Der Eskimo glaubt, daß kleine
Walfischfiguren aus Holz oder Elfenbein ihm Glück gewähren
{18"> AnnuMl Report of the Bureau of Americ. Ethnöl. 1896'97
Washington 1899 p. 439 f ). Bei den Sinhalesen schützt ein Fisch-
bild vor Mißerfolgen; es kommt häufig auf alten sinhalesischen
Vasen vor (A. K. Coomaraswamy Mediaeval Sinhalese Art 1908,
p. 88. 226, Fig. 69 u. 137; PI. I u. XXV, 2).
S. 358. In Ägypten hat man daher manchen Fisch wie A>"iijMtes mumifiziert
(vgl. Lortet und Gaillard Archives du Museum de Lyon T. VIII — IX).
S. 359. Auch die Angoni (Britisch Zentralafrika) rühren keine Fische
an (A. Werner The natives of British Central Africa, London
1906 p. 95 f.).
S. 360. Über den fischförmigen Sarg auf den Salomo-Inseln vgl. auch
Globus Bd. 86 (1904) p 368.
S. 364. Die Cherokees (Ameriki) essen nur mit Widerstreben Fische,
da sie glauben, daß der Geist des toten Fisches sich an ihnen
rächt und sie mit Krankheiten heimsucht. Daher rührt der Kranke
überhaupt keinen Fisch an (7'* Annual Rep. of the Bureau of
Americ. Ethnol. p. 330 ; lO'fi Ann. Rep. of the Bureau of Americ.
Ethnöl., Washington 1900 p. 307). Auf der Wand eines in Hon-
duras bloßgelegten vorhistorischen Grabgewölbes ist ein Fisch
gemalt. Ein anderes vorhistorisches Indianergrab in Honduras
enthielt in der Totenurne eine kleine Fischfigur neben 13 anderen
kleinen Tierfiguren und vier menschlichen Figuren. Da jede
Figur ein Loch zum Anhängen hat, so scheinen sie als Amulette
gedient zu haben {19f' Annual Report of the Bureau of Americ.
Ethnol. Washington 1900 P II p, 667 und 683 f.). Ebenso sind
in den vorhistorischen Gräbern der Florida -Halbinsel und auch
390 I- Scheftelowitz
sonst in den östlichen Gegenden der Vereinigten Staaten fisch-
geformte Tontöpfe gefunden worden (5ö"« Ann. Eeport of the
Bureau of Americ. Ethnol., Washington 1903 p. 85.88.95 und
PI. XXIII; 124 nebst PI. XCVII). Eine frappante Parallele zu
diesen Erscheinungen finden wir in den griechischen und römischen
Gräbern. In der Oberpfalz glaubt man, daß die armen Seelen
als kleine schwarze Fische fortleben, die nicht gefangen werden
können (A. Wuttke, Deutscher Volksaberglaube ^ 479).
S. 365. Diese weitverbreitete Vorstellung von dem Seelenfisch hat in
manchen Gegenden die Juden beeinflußt. Gemäß einer jüdischen
Sage des 16. Jhrts, die im Ma'ase Hasem berichtet wird, sprang
aus dem Kopfe eines Fisches, den die Tochter des Rabbi Lurja
für den Sabbat zubereiten wollte, ein Geist heraus und fuhr in
das Mädchen ein, so daß sie betäubt niederfiel (vgl. Mitteil. d. Ges.
f. jüd. Volkskunde, 1898 Heft II, 56). Eine andere jüdische Sage
aus Rawitsch berichtet, daß einst ein Köchin im Hause des dortigen
Rabbi Fische, die sie soeben in den Topf gelegt hatte, klagen
hörte. Der Rabbi ließ daraufhin den Fisch auf dem Friedhofe
begraben {Mitteil. d. Ges. f. jüd. Volksk. 1898 Heft 1 p. 69).
Zu S. 366 Anmerk. Auch nach der Auffassung südamerikanischer Stämme
konnte die Seele mittels eines Nachens über den Totenstrom über-
gesetzt werden (Th. Koch Animismus der südamerik. Indianer p. 129).
Die Neger im Togogebiet kennen gleichfalls das Totenschiff und
den Totenfährmann, der die Seelen über den breiten Totenfluß
bringt, weshalb man dem Toten Scheidemünzen als Fährgeld ins
Grab mitgibt {Globus 1902 p. 187). Die Malaien legen Figuren
von Booten auf das Grab (Ratzel Völkerkunde 2,483). Aus dem-
selben Grunde wird in manchen bergischen Orten der uralten
Sitte entsprechend, den Grabhügeln die Form von Schiffen ge-
geben (Schell Arch. f. Religionstv. IV, 317). In Indien legte man
auf das Grab Rohr hin mit den Worten: „Dieses Rohr besteige
als Fahrzeug; auf dem Rohre gehe den Weg; mit dem Rohr-
fahrzeug fahre hin, fahre vorwärts, fahre hinauf" (H. Oldenberg,
Bei. d. Veda 545 Anm. 2). Nach Atharvaveda XVIII, 8 halten sich
die Abgeschiedenen in der See auf, vgl. R V. X, 16,3; 56,7;
58, 7. Auch die Buddhisten glauben an den Totenfluß, über
den die Seele mittels eines Bootes hiniibergelangt (R. Andree,
Ethn. Farall. N. F. 28). Bei den Katschin, die an der chine-
sisch-birmanischen Grenze wohnen, existiert ebenfalls das Seelen-
boot (Andree E. P. N. F. 27). Die Shans nehmen dasselbe an,
daß die Seele mittels eines Bootes vom Seelenfährmann über
den Strom gesetzt wird. Deshalb wird dem Toten ein Geldstück
als Fährgeld beigegeben (Leslie Milne Shans at home 1910, 59; 90).
Die Japaner legen den Seelen ihrer Verstorbenen, die sie einmal
Das Fischsymbol im Judentum und Christentum 391
im Jahre am Latemenfeste auf kurze Zeit zu sich ins Haus zu
laden pflegen, am dritten Tage Speise und Zehrgeld in ein stroh-
geflochtenes Schiffchen und setzen es mit papierenen Segeln aufs
Wasser, daß es hinaus in die See treibe (F. Rock Globus, Bd 95,
239). Da man auch als Vogel über den Strom gelangen kann, so
scheint sich auch die Idee des Seelenvogels gebildet zu haben.
In den deutschen Märchen trägt der Vogel Greif über den Strom
(K. Simrock, Handb. d. deutschen Mythol. * p. 255). Über den
Seelenvogel vgl. v. Xegelein Globus Bd. 79, 357 f., G. Weicker Der
Seelenvogel in d. alten Literatur u. Kunst 1903 ; J. Goldziher, Globus 83
p. 301 ff. Auf Nuguria wird die Seele zum Seevogel (G. Thilenius
Ethnogr. Erg. atis Melanesien I, 67).
S. 369. Der Skorpion war ein Schutzmittel gegen dämonische Einflüsse.
Daher findet er sich auf antiken, in Italien, Sizilien und Afrika
gefundenen Zaubemägeln, Lampen, Amuletten und Gemmen.
Eine byzantinische Medaille aus versilbertem Kupfer ist ebenfalls
mit einem Skorpion verziert (S. Seligmann D. böse Blick II 132,
151 f., 206, 313f.; Bonn. Jahrb. 61, 110; 63, 94). Ein mykenisches
Amulett aus Gold in Gestalt eines menschlichen Herzens zeigt in
Relief einen Skorpion, eine Schlange, Spinne, Hand, Spirale und
einen Stern (F. v. Duhn ^rcA. /'. J?e/.Vn, 273). In den aufgedeckten
Favissae eines altgriechischen Heiligtums zu Knosos sind Abdrücke
von Gemmen zahlreich vertreten, welche Skorpionen, Fische,
Löwen und Vögel darstellen (vjjl. G. Karo Arch. f. Bei. VÜI, 147).
Ebenso befinden sich auf einem zu Gezer (Palästina) gefundenen
Siegel Skorpione, Fische neben Antilopen, Vügeln usw. (Gress-
mann Ältorientalische Texte und Bilder 11 1909 p. 107 Abbild. 217).
S. 372. Zwei spätrömische Bronze-Amulette, die in Ungarn gefunden
sind, haben die Form eines Raubvogels, der mit seinen Krallen
einen Fisch festhält und mit seinem Schnabel darauf beißt (im
Besitze des Rom -Germ. Zentralmuseums, Mainz Nr. 0 4292). Eine
altdeutsche wohl aus dem 8. Jbdt stammende Türverzierung aus
Pfaffenhofen zeigt uns dasselbe Motiv: Zwei Vögel, die im Schnabel
je einen Fisch haben (Rom. -Germ. Zentralmuseum, Mainz). Auf
mehreren römischen Vasen ist ein Mann abgebildet, der mit der
Angel einen Fisch fängt (J. Dechelette Les vases ceramiques,
Paris 1904 T. II, 152). Schon bei Homer (II. 16, 406 ff.) wird der
unterliegende Feind mit einem Fische verglichen, den man
mittels der Schnur und der ehernen Angel aufwärts aus den
Fluten gezogen hat und der nun seinen Geist aufgeben muß.
Da der Fisch die Seele eines Menschen in sich bergen kann, so wird
er im Zauber als Ebenbild des Feindes gedacht. Indem nun der
Zaubernde dieses Ebenbild seines Feindes unschädlich macht, glaubt
er hierdurch den Feind selbst zu treffen. Auf einem altbabylonischen
392 I. Scheftelowitz
Siegel trägt eine Person in der Linken zwei Fißche an einer Schlinge,
während die Rechte einen Stab, woran eine Schildkröte hängt,
über der Schulter hält (Gros Nouvelles fouilles de Tello 32 ff.)-
S. 376. Bei den sephardischen Juden in Serajevo ist es Brauch, daß die
Verwandten eines neuvermählten Paares dessen neues Heim auf-
suchen und jeder von ihnen nacheinander Fische zu den Füßen
der Braut niederlegt, über welche dann die Braut hinüberhüpfen
muß {Globus 1891 p. 128).
S. 378. In einer buddhistischen Sekte wird die Yoni („der Mutterleib")
versinnbildlicht durch zwei an ihren Schwänzen fest zusammen-
gefügte Fische, die derart einander zugebogen sind, daß sie eine
Herzform bilden, die aber an den beiden Köpfen eine schmale
Öffnung zum Innern bat {Journal of the Royal Asiatic Society
Vol. XVIII, p. 392 T. II). Der Liebesgott heißt bei den Indem
auch „der den Fisch als Symbol hat" {minaketu, tmnadhvaja,
mlnalänchana, mlnänka (Böhtlingk Sskr. Wtb. V, 81 f., Vaijanyanti
ed. Oppert p. 5 V. 54, Benfey Pancatantra II, 184). Der Fisch
versinnbildlicht hier die Fruchtbarkeit. Nach einer indischen
Legende wurde ein Fisch gekocht. l'ie Kuh, die die Fisch-
suppe trank, die Dienerin, die von dem Fische naschte und
die Königin, die den Fisch aß, gebaren sämtlich nach neun
Monaten ein Kind (De Gubernatis Tiere in der indogerma-
nischen Mythologie 1 cap. 3). Eine genaue Parallele hierzu bietet
das in der Anmerkung mitgeteilte lettische Märchen. — Im
Mittelalter glaubte man, daß der Genuß von Fischen die Zeu-
gungskraft fördere. Der im 11. Jhdt lebende Bischof Burchard
von Worms, der eine Sammlung kanonischer Verordnungen über
Bußen zusammenstellte, erwähnte den Brauch, daß die Ehefrauen,
wenn sie die Zeugungspotenz ihres Mannes und seine Libido
erhöhen wollten, ihm Fische zu essen gaben (Burchard io« communes,
Cöln 1560 p. 200V Die Suaheli vergleichen die Braut in der Hoch-
zeitshymne mit einem Fischnetz. „Jeder Fisch pflegt darin hinein-
zugehen" (C. Veiten Sitten u. Gebräuche d. Suaheli 1908, 126). Der
altbabylonischen Göttin der Fruchtbarkeit, Istar, pflegte man 7 Fische
zu opfern (H. Zimmern Babylon. Hymnen 2. Ausw. 1911 p. 16).
S. 379. Über den Matronenkult vgl. auch Ihm in Roschers Lex. d. Gr.
und Köm. Mythol. Bd. II Sp. 2464-2479.
S. 381 Anmerk. Gefäße mit Hakenkreuzen verziert sind ferner gefunden
worden zu Canosa (M. Mayer Keramik d. vorgeschichtl. Apuliens,
Mm. Mitt. XIX, 1904 p. 291), zu Thera (E. Pfuhl Ath. Mitt. XXVIII,
190S p. 120 Beil. XI Fig. 5 a), zu Kurgan in Transkaukasien, Verh.
d. Berl. Ges. /. Anthrop., Ethnol. 1902 p. 174f. und 184 f Svastika
auf Götter darstellenden Masken der Hopi- Indianer {21*'> Rep. of
tht Bureau of Americ. Ethn. Washington 1908 p 114 PI L).
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods
Von Konrat Ziegler in Breslau
Moveai JJuQi^d^iv, aotörjßtv xkeiovöcci
devxe, JT ivvinexE^ 6<pixsQov ncaio' vfivtiovöai'
ov re Sicc ßgorol av(Jp£g ouäig a(paxoi xe <paxoi rf,
gifcol t' ccqqtjxoC xe Jibg (lEyaXoio EKrjXi.
6 QEa (H£v yccQ ßgiccEt^ ^ia Se ßgidovxa x'^XinxEi^
oEia ö' aQitriXov (iivv&Ei xal aSrjXov äi^Ei.
QEia ÖE r' id'vvEi öKoXibv xal ayrfVOQU KaqtpEi
ZiEvg vipißQEHExrjg^ og vniqxcaa Scofiaxa vaiEi.
vtXv^L iSav ai(ov t£, Sinri d' i^vvE ^iiiiaxag
10 xvvr\' iyio Se xf, Uigar}^ ix'jqxv^ia fjiv&rjaaifirjv.
OvK ciga fiovvov iriv ^EgiScav yivog . . .
Bis vor 17 Jahren Leo seine 'Hesiodea'^ veröflfentlichte,
haben ziemlich allgemein diese Verse für unecht, d. h. für
einen der jüngeren Teile des Lehrgedichts gegolten. Leos
glänzende Darlegungen haben, wie es scheint ebenfalls ziem-
lich allgemein, einen Umschwung zugunsten des Proömiums
herbeigeführt-; ob mit Recht, soll im folgenden zunächst
untersucht werden.
Der Zweifel an der Authentizität des Proömiums ist be-
kanntlich sehr alt. Praxiphanes, der Theophrastschüler, war
der erste, der es tilgte, und zwar neben anderen Gründen'
* Göttinger Index scholarum, Sommersemester 1894.
* So' halten es für echt Rzach in beiden Ausgaben, v. Wilamo-
witz in der Einleitung zu Aischylos' Agamemnon und neuestens Ed. Meyer
im Genethliakon für Robert, Berlin 1910, S. 159 f.; vor Leo a. a. 0. auch
Kirch hoff Hesiods Mahnlieder an Perses, Berlin 1889, S. 38.
' Denn auf noch andere Gründe als den genannten äußeren ist
man nach dem Wortlaut ovrog (seil. Praxiphanes) ^dvToi xai ivtvxfiv
(pr}6iv ä-XQooiyiiä6x(p rä ßißXioo xal ccQxoiiiva . . . (Proklos praef. II 3
Gaisford) doch wohl zu schließen berechtigt?
394 Konrat Ziegler
deswegen, weil er ein Exemplar der '^ Werke' in die Hand
bekommen hatte, in dem das Gedicht ohne die Musenanrufung
sogleich mit dem Vers o-öx uqu ^ovvov erjv . . . begann. Dem
Verdikt des Praxiphanes haben Aristarch und das übrige Alter-
tum — siehe die Belege in Rzachs großer Ausgabe (1902)
— zugestimmt, auch Hesiods Landsmann Plutarch, wie Leo
scharfsinnig aus seinen Worten quaest. conviv. 736 E aöavrog
dh tä TCQcbxa xcbv "E^ycov 'ovk äga ^ovvov srjv . . .' erschlossen
hat. Als vierter Zeuge von Bedeutung figuriert Tansanias,
der bei Beschreibung des Helikons in einem Exkurs über
Hesiod berichtet (IX 31, 4), die Anwohner des Helikon wollten
nur die 'Werke und Tage' als echtes Werk des Dichters an-
erkennen, und auch diese nur ohne das Proömium, das sie
für einen späteren Zusatz erklärten unter Berufung auf eine
am Musenquell verwahrte, dem staunenden Besucher vor-
gezeigte uralte Bleitafel, auf der, so ergänzt man selbst-
verständlich, nur die Erga, und ohne das Proömium standen.
Leo sucht diese vier Zeugnisse — um von den anderen,
minder gewichtigen zu schweigen — auf das eine des Praxi-
phanes zu beschränken, indem er Aristarch auf dem Zeugnis
des Praxiphanes, auf Aristarch die folgenden fußen läßt und
in dem Bericht des Pausanias von der alten Bleitafel nur eine
ausführlichere Version der Praxiphanesnotiz erkennt als die
uns in verblaßtem Zustande bei Proklos erhaltene.
Dies alles zugegeben — man vergesse freilich nicht, daß
es nur eine Hypothese, eine Möglichkeit neben anderen ist;
wenn das Proömium jung ist, kann sehr wohl mehr als ein
altes, nicht interpoliertes Exemplar in diesem und jenem ver-
gessenen Winkel noch aufgetaucht sein — , so bleibt doch
immer die Hauptsache bestehen: das Zeugnis des Praxiphanes
über das Vorhandensein einer alten Überlieferung der Erga,
die das Proömium nicht kennt, und ich vermag keinen Grund
zu finden, weshalb wir der Versicherung des Praxiphanes miß-
trauen sollten. Leo tut es auch gar nicht oder äußert sich
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods 395
wenigstens nicht darüber. Damit ist die Sache fast schon
entschieden: wenn das Proömium echt war, wie hätte es vor
Praxiphanes wegfallen sollen? Wer hätte vor Praiiphanes
jene Verse athetieren und — um von der Bleitafel und ihrer
nur hypothetischen Zurückprojizierung in die Zeit des Praxi-
phanes abzusehen — eine Ausgabe ohne sie machen soUen,
die dann Praxiphanes zu Gesicht bekam? Denn von einer
äußerlichen Verstümmelung jenes ßißlCov wird ja nicht ge-
redet. Ich meine, wer das Proömium für echt hält, muß
notwendigerweise das ccTCQooi^uCaörov ßißkCov des Praxiphanes
für eine Fiktion dieses Gelehrten erklären. Und wenn wir
das annehmen wollten, wie wäre er dazu gekommen, so etwas
zu fingieren? Doch nur, wenn er aus inneren Gründen das
Proömium für unecht hielt und ein handfestes äußeres Argu-
ment für seine Meinung schaffen wollte. Unsere Sache wäre
es auch dann noch, erst nach diesen inneren Gründen des
alten Kritikers zu forschen, ehe wir über ihn zur Tages-
ordnung übergehen dürften. — Doch ich glaube nicht, daß
diese Hypothese, der einzige gangbare Ausweg für die Ver-
teidiger des Proömiums, Liebhaber finden wird.
So sprechen allein schon die äußeren Momente bei ge-
nauerer Erwägung zum mindesten stark belastend gegen unsere
Verse. Doch den Ausschlag geben Überlegungen anderer Art,
wie sie gewiß (vgl. S. 393 Anm. 3) auch für Praxiphanes und
Aristarch mitbestimmend wirkten: bedenken wir auch, daß
insbesondere der Pergamener Krates nicht ohne starke Gründe
dem Urteil seines verhaßten Gegners in Alexandreia beigetreten
wäre.
Ich sehe zunächst vom Inhalt ab. Er ist es ja, den Leo
zur Verteidigung seiner These verwendet hat, und zweifellos
ist ihm der Nachweis geglückt, daß das Proömium aufs beste
zu dem folgenden Gedicht paßt, und daß es also seinem Ge-
dankeninhalt nach sehr wohl von dem Dichter der Erga her-
rühren könnte. Man lese das Nähere bei ihm selbst a. a. 0.
396 Konrat Ziegler
S. 15f. nach. Aber daß es deswegen, weil ein feiner innerer
Zusammenliang existiert, von dem Autor des Gedichts herrühren
müsse, ist kein bindender Schluß. Daß das Schöne und
Passende^ "^echf sein müsse, ist eine Meinung, die wir wohl
nicht minder ungern aufgeben als der alte Goethe den Glauben
an Lucretia und Mucius Scaevola, aber daß wir es müssen,
lehrt ja beispielsweise die Homerkritik auf jeder Seite. Warum
sollte nicht ein Rhapsode oder antiker Editor die Situation
ebenso feinsinnig begriffen und so sinnreich interpoliert haben,
wie es uns der moderne Erklärer verstehen gelehrt hat? Muß
jeder Tälscher' ein Klotz sein? Sicherlich kann ein passender
Sinn nicht eine Stelle schützen, die wir durch zwingende
Gründe anderer Art für interpoliert zu halten genötigt werden.
Und es existieren Gründe, die es erweisen, daß das Prooemium
der Erga nicht eher als in der zweiten Hälfte des
fünften Jahrhunderts entstanden sein kann. Es sind dies
Gründe formeller Natur.
Betrachten wir nämlich einmal den stilistischen Bau der
fraglichen Verse, so gewahren wir in ihnen eine Kunst oder
vielmehr eine Künstelei, geradezu ein Raffinement im voll-
bewußten Gebrauch rhetorischer Mittel und Mittelcheu, wie es
in diesem Umfange und in dieser Ausbildung vor der Zeit,
da die griechische Kunstrede sich zu entwickeln begann, un-
erhört und undenkbar ist. Jedem, der mit dem Augenmerk
auf diese Dinge die Verse durchliest, müssen sie in die Augen
springen. Da steht gleich in den ersten beiden Versen der
über drei lange Silben sich erstreckende Reim nXslovöav -^
v[^v£Cov6ai^, dessen Absichtlichkeit aus der durch ihn herbei-
' Von diesem Lobe ausnehmen muß icli doch den (von verschie
denen Editoren allein fj[etilgten) Vers 10. üen Sprung, mit dem hier
zum Thema übergeleitet wird, muß trotz Leos Interpretation (vgl jetzt
auch Ed. Meyer a. a 0. S. 393 Anm. 2) jeder unbefangene Leser oder
Hörer als höchst abrupt empfinden.
* In mancher Ausgabe freilich kann man lesen xXfTovoai r^ vfivei-
oveai !
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods 397
geführten höchst gequälten, bombastischen Konstruktion
äoLdfjöiv yjMovöai . . swinaxe . . v^ivsCovöai erhellt, die durch
das billige Auskunftsmittel eines Epithetons zu ^Ca — ... xal
£1 xC 6B aXXoL OL iußQÖvxTqxoi Tcoirjxai xaXovöi, y.al (idXiöxa
öxuv a%0QG)6i Ttfjb^ rä (isxqw xöxa yccg «utoü JtoXvävvuog
yivöuevog vmoiCdsig xb nl:txov xov nsxgov xccl ävuTcXrjQoi^ x6
xsxw^S "^ov Qv&^ov spricht Lukians Timon zu Zeus - oder
auf tausend andere Weisen ohne Mühe zu erleichtern war.
Unter den sowieso im ganzen verschwindend wenigen Reimen
im Homer und Hesiod^ findet sich nicht ein so auffallendes
Beispiel wie hier in den Einleitungsversen; um derartigem zu
begegnen, müssen wir uns schon zum Platonischen Agathon,
dem Gorgiasjünger (Conviv. 197 DE), und seinen stilistischen
Nachfolgern begeben, aus denen das Markanteste bei Xorden,
Kunstprosa 832 ff. beisammensteht. Dort findet man auch zu
den sogleich im folgenden besprochenen stilistischen Eigen-
tümlichkeiten des Proömiums reichlichstes Vergleichsmaterial
und bewegt sich überhaupt in verwandten Sphären. Nach dem
Reim x).sIov6ul '^ vfivsCovöcci ist man wohl auch — ohne daß
ich dies bestimmt behaupten möchte — in den Versen 5/6
Xakmxu ~ aei,£i und 7/8 otccQtpsi, '^ vaUi beabsichtigte Par-
echesen zu erkennen berechtigt; ßgidsi ~ ynvv^ti -^ Idijvu
im Versinnern (p/6/1) drängen sich mit ihrem Gleichklang
auf, wenn man die Verse laut deklamiert, worum ich jeden
Leser bitten möchte.
Mit vorläufiger Übergehung von Vs. 3/4 sehen wir nun
die Verse 5 — 8 an, deren wohlberechnetes Schema leicht durch-
sichtig ist:
Qea fiev yccQ ßQidet^ oiu de ßQiäovta j(^akiTtX£i,
QEta d' ccqI^ijXov ^tvv&eL -/.al dörjXov ai^ei,
Ö£La di X id'vvai. ay.oki6v Kai ccyi]vOQa ■Ko.qcpu
Zfvg vrl^ißQEfiixrjg, ög vneQvcaa datfiara vaUt.
' Das Einzelmaterial bei Otto Dingeldein Der Reim bei den
Griechen und Bömern Leipzig 1892, S. 16 ff.; im übrigen natürlich
Nordens Kunstprosa U 810ff.
398 Konrat Ziegler
Wir haben zwei Halbverse, jeder eingeleitet durch die
Kurzform Qsa, und zwei Ganzverse, jeder eingeleitet durch die
Vollform Qsla; und die Ganzverse sind vollkommene iööxcoXa
mit denselben Haupt- und Nebenzäsuren:
Den metrischen Einschnitten entsprechen die Sinnes-
einschnitte (nach der vierten Hebung), und die einander ent-
sprechenden zweiten Hälften der beiden Verse haben in sechs
von ihren sieben Silben die gleichen Vokale:
Kai ccörjXov cc i ^ ai
Kcci äyrjvoQ a KaQcp sl.
Kann das Zufall sein? Ist es nicht subtilste Berechnung
und Klügelei? Kann ^Hesiod' so gedichtet haben? Er kann
ebensowenig dieser Künstler sein, wie der folgende, nach
dem oben angeführten Lukianischen Rezept aus abgedroschenen
Homerfloskeln elend zusammengestoppelte Flickvers
Zevg vilM-ßQSfiirrjg, dg viti^raxa öto^ara valet
vom Dichter der Erga stammen kann.^ Nein, sondern die
Geistesverwandten dieses Dichters waren die Männer, die die
Verse , , , „ <, , ^
xo fisv TtaQSQyov tqyov cog Ttoiovfie^a,
rb d' eQyov wg nccQEQyov iKTiovovfi£9a
Nvficpai fA£v iuLqovGlv^ ors ÖQvag 6(ißQ0g cci^si'
Nv^cpai ö' av KkaiovGiv, ors ÖqvgIv ovTiixt (pvXXcc
machten, und die hießen Agathon und Kallimachos.
Wer sich von der bewußten Kunst des Proömiumdichters
in diesen Versen überzeugt hat, wird auch meiner Auffassung
* Wie Norden in seinem Hesiodseminar (Sommer 1904) bemerkte,
der darum diesen Vers für sich athetierte. Aber man darf ihn ebenso-
wenig tilgen wie Vs. 10, wenn man nicht die bewußte Komposition
2 -|- (2 -f 2 X 2) -)- 2 = 10 zerstören will Der Flickvers mußte hinein, um
(offenbar im Anschluß an das Proömium der Odyssee wie bei Nonnos)
die Zehnzahl voll zu macheu, und weil die drei Verse 6 — 7, um in das
sonst durchgeführte Zweiersystem zu passen, noch eine Ergänzungszeile
brauchten.
Das Proömium der Werke und Tage Heaiods 399
der Verse 3/4 Glauben schenken. Um nicht erst von dem
höchst kunstvoll durchgeführten epanaphorischen Chiasmus,
mit dem die Verse gebaut sind, zu sprechen — 'durch Zeus
die sterblichen Menschen, ungenannte und genannte, namhafte
und namenlose durch den großen Zeus'^ — , so glaube ich in
diesen Versen die bekannte etymologische Deutung des Namens
Zeus wiedergegeben zu finden, welche den Akkusativ ^Cu mit
der Präposition öüc identifiziert. Sie ist alt, denn sie steht
schon im Piaton, Kratylos 396 AB: äxsxväi ydg iöriv olov
Xöyog TÖ Tov zlibg bvona' duX6vT££ dh avxb dixfi ol (liv rä
ixtQG) iiiQSL^ ol dh TÖ irsQG) 'iQ(oyLt&a' ol ^lev yuQ Zijva, ol
dh Aiu xuXov6iv övvti&e^isva d' tlg sv drjXol Trjv (pvöiv tov
"ö-fotj, o Öii jtgoörjxeiv cpa^hv övo^ccri Oic> xs tlvai änegycctB-
6&ca' ov yuQ söxiv ijiilv xal xoig c'ckXoig näöiv öötLg iöxiv
ai'xLog iiäXXov tov ^f^v ij 6 agxav t« •/.al ßaöiXavg xäv
xccvtav. GvußttCvsi ovv ÖQ&äg övo^id^sö^aL ovxos 6 ^sbs slvaij
dl' bv ^Tjv äsl TcäGL tolg täöLV vxc'coyei. ditCXrjXtai dh dija^
ci67ceQ Xsyco, dv öv xb bvoiia, xq) zlii x(cl tö ZrjvC. Dieselbe
Etymologie tragen Aristoteles, Zenon, Comutus, der Rhetor
Aristides^ vor. Nicht umsonst decken sich in dem Proömium
die Versanfänge
2 6s vre /iia iwinexs . . .
3 ÖV T£ öiä ßQOxol uvdQsg . . .,
und damit kein gebildeter Leser diese 'Feinheit' übersehe,
wird bedeutungsvoll hinweisend in der das öv xe diä noch
einmal aufnehmenden Epanapher der Name des Gottes in
* Wo fände man bei einem alten Dichter zwei solche Antithesen
wie acparol xe (paxoi re QTjxoi x' aggrtxoi rs nebeneinander? Auch daß
alle vier Worte in der hier gebrauchten Bedeutung a:ra| sipTifit »'« sind,
nur für die Antithese geprägt und nur durch sie verständlich, verdient
angemessene Beachtung.
* Bei diesem die scharfe und klare Fassung (1 9 Dind. = II 345
Keil): . . . xaö-ö ciixtm(isvol xivag övo/iafoftfv, xaxä tavxriv xriv xQ^^tiv
(Jebb; x^gav codd.) rf/g cpavfjg ö^cort'uov avxbv iTtoii^Causv xät rfis
aixiug örd/iaTi, ^ia TtQOCuyoQEveavTag, insidriTCSQ di' avxbv u-xavxa.
yi'/vsxai . . .
400 Eonrat Ziegler
einer dem fraglichen Akkusativ stammverwandten Form
wiederholt: ov xb dtä ~> z/tög ^sydloio s'xrjti. Damit emp-
fängt diese übrigens sehr entbehrliche Anapher doch noch
eine andere Bedeutung als die einer bloßen, wenn auch wirk-
samen rhetorischen Spielerei. — Als wesentliche Stütze meiner
Auffassung kann ich nicht unterlassen zu erwähnen, daß ein
anderes ehemaliges Mitglied von Nordens Hesiodseminar (vgl.
S. 398 Anm. 1), Dr. Paul Linde, damals ebenfalls, gänzlich un-
abhängig von mir, die Beziehung der Verse auf jene Etymo-
logie erkannt hat.
Ich bin mit der stilistischen Betrachtung des Proömiums
zu Ende. Wenn irgendwo stilistische Momente allein ein
Erzeugnis des Schrifttums zu datieren gestatten, so sind wir
hier berechtigt zu behaupten, daß diese rhetorische Filigran-
arbeit nicht eher als in den Tagen der Gorgias und Thrasy-
machos möglich war, und zwar sind es ja vorzugsweise die
bekannten gorgianischen Figuren, in deren überreichlichem
Gebrauch unser Proömiumdichter sich gefällt. Ich meine,
die stilistischen Argumente allein müßten genügen, um meine
Datierung zu stützen. Allein mit ihnen vereinigen sich ja die
anfangs aufgeführten äußeren Gründe, das Zeugnis des Praxi-
phanes über das djCQOOLiiCaöTov ßißXiov, die helikonische Blei-
tafel und das verwerfende Urteil Aristarchs und der anderen^,
und endlich tritt noch ein gewichtiges Indiz hinzu, das uns
die Sprachstatistik in die Hand gibt: Witte (Singular und
Plural, Leipzig 1907, S. 151 f.) hat gezeigt, daß der Plural
doidfiöLv bei einem frühen Epiker undenkbar ist, und zwar
ist hier die Statistik völlig lückenlos und ein wandsfrei.* Zum
' Das. meine ich nun doch, nicht allein auf jenes Zeugnis de»
Praxiphanes sich gestützt, sondern auch ähnlichen Erwägungen wie di«
meinigen Raum gegeben haben wird.
* Ich wiederhole Wittes Statistik:
Homer: Singular 2.'jmal, Plural —
Hesiod: „ H „ , „ Krga 1
Hörn. Hymnen: „ 83 „ , „ Imal
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods 401
Schluß noch die Bemerkung, daß auch V. 2 öcpatSQOs mit Be-
ziehung auf die zweite Person wie hier dem homerischen und
überhaupt dem epischen Sprachgebrauch bis auf die Alexan-
driner (Apollonios und Theokrit) fremd ist, weshalb die Stelle
von den Grammatikern besonders glossiert wird mit Hinweis
auf die vorhandenen Zweifel an der Echtheit (s. Rzachs
Apparat).
So schließen sich Überlieferung, Stil und Sprachform zu
dem Beweis des jungen Ursprungs der Verse zusammen. Ihr
Verfasser ist ein Zögling der gorgianischen Rednerschule, der
sich auch den sprachphilosophischen Bestrebungen seiner Zeit
nicht verschlossen hat und mit diesem Rüstzeug daran ge-
gangen ist, das Hesiodeische Gedicht um ein Proömium zu
bereichem. Warum? Das liegt auf der Hand: weil ihm der
Vers ovx ccqu fiovvov srjv ebensowenig als geeigneter Anfang
eines Epos erschien wie uns. Denn mit gleichem Maß wie
Tig dh ßCog, tC öh xsQnvbv äzeQ iQvOfig ^AtpQodCTTjg oder
'Ergo sollicitae tu causa, pecunia, vitae' läßt sich das Epos
freilich nicht messen.
Die oben gegebene Datierung 'zweite Hälfte des fünften
Jahrhunderts' bezeichnet natürlich nur den frühesten terminus;
wahrscheinlich tut man besser, noch um mehrere Jahrzehnte
herunterzugehen, allerdings nicht zu weit, denn zu Praxi-
phanes' Zeit ist das Proömium in der Vulgärüberlieferung ja
schon fest geworden.
Vielleicht wundert sich mancher Leser dieser Zeitschrift
schon, was eine solche rein philologische Erörterung im Archiv
für Religionswissenschaft zu suchen habe. Sie hat in ihm
[in dem zweifellos jungen Stück vom Xio^ äoidög, h. Apoll. 173,. 'Außer-
dem finden wir den Singular bei Theognis 251. 791; Stesichoros fr.
44, 1; Alkaios 39, 4 und Simonides 31, 2. 40, 3; Erinna 6, 7. Der
Plural ist zuerst bei Xenophanes fr. 6,4, öfter bei Bakchylides
(6, 14. 12, 230. fr. 4, 2) und Pindar belegt.'
ArchiT f. Relisrions Wissenschaft XIV 26
402 Konrat Ziegler
Heimatsrecht wegen der religionswissenschaftlichen FolgeruTuren,
die man aus der Echtheit oder Unechtheit des Proömiums,
das ja eine Musenanrufung und einen kurzen Hymnus auf
Zeus als höchsten Richter darstellt, zu ziehen berechtigt ist.
Es handelt sich um Folgerungen von zweierlei Art, um
sachlich -kulturhistorische und um formell -literarische. Was
erstlich den Gedankeninhalt des Proömiums angeht, so ist
nur der negative Schluß gegeben, daß man es nicht zur
Charakterisierung der religiösen Stimmung im griechischen
Mutterlande während der archaischen Zeit benutzen darf
Etwas eingehender will ich mich mit den Schlüssen be-
fassen, die wir für die Stilgeschichte der Musenanrufungen
aus der erkannten Unechtheit des Proömiums gewinnen.
Durch die Ausmerzung dieser Verse werden wir nämlich von
der Notwendigkeit entbunden, sie als eine höchst lästige Aus-
nahme innerhalb dieser Stilgeschichte zu registrieren und nur
nolens volens aus dem besonderen Charakter des frommen
Sängers zu erklären: was sehr bedenklich blieb für jeden, der
weiß, was ^Stil' in der religiösen Poesie, mehr noch als sonst
in der griechisch-römischen Literatur, bedeutet, und wie wenig
der scheinbar freieste Künstler sich seinen Gesetzen zu ent-
ziehen vermag, noch auch beabsichtigt.
Die typische Form der Musenanrufung im Epos ist die
einfache Bitte an die Muse, sie solle dies oder das singen^
oder die Frage, ^sage mir, wie das geschah': (ifjvLv aside dsci
— ccvÖQa iioL evvsjts Mov6a — sötcbte vvv ^ol Movöai usw.,
und wie Homer haben es mit unwesentlichen Abweichungen
alle gehalten. Es ist festes Stilgesetz.^ Die Bitte, daß die
Muse selbst oder gar der ganze Chor sich zu dem Dichter
hinbemühen solle, ist dem frühen epischen Stil fremd, wie
überhaupt in der älteren Zeit der betende Mensch an den
^ Das umfangreiche Einzelbelegmaterial hierfür wie für die fol-
genden Aufstellungen hotte ich später in einem umfassenderen Rahmen
vorzulegen. Hier begnüge ich mich mit Andeutungen.
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods 403
Gott nicht das Ansinnen stellt, er solle auf seinen Ruf er-
scheinen, wie sehr er auch von der Vorstellung beherrscht
ist, daß der Gott nur, wenn er nah ist, helfend oder Schaden
bringend wirkt. Herbeigerufen wird der Gott nur zum Fest
von der ganzen Gemeinde oder ihren Vertretern. Das gilt
auch für die Musenanrufungen. Zur Siegesfeier, zum heiligen
Fest werden sie selbst zu erscheinen geladen, sei es nur zu
ihrer eigenen Ehre als hochgehaltene Gäste, sei es als Fest-
chor zu.ai Preise des Gottes, dem die Feier gilt. Letzteres
insbesondere ist ein rö^o^ des offiziellen Festhymnus, wie er
sich am deutlichsten — um von anderen Beispielen hier zu
schweigen — in den delphischen Hymnen ausspricht. Ich
zitiere nach der Ausgabe von Crusius im Philologus LHI
Suppl. :
h. Delph. IIB, 2 xf'x/lv^' 'EXtxöJva ßa^vöevögov cu Aa[x£W Jibg]
i[^Qt]ßQ6fiov &vyarQ£g £V(oXs\voi], (i6Xs\x]s avvofiaifiov Tva
Oolßov (oöaiai (lik'iiJtjxe iQvßeoKÖfiav . . .
h. Delph. III, '2 Tr' knl zrjXiöKOTiov xav^ös IlaQvaöaiav^ öixÖQvcpov
'/.ketxl'v vfi\ii> cpiXciv^ lo (piXai\ Tluqiöiq^ dt vicpoßöXovq
n\a.yovg KaxiXccyiixi\ (liXnsxs öe üv&ioi' «[rajtra . . .
fg. 8 (p. 83 Cr.) ^EX]iKiovi6[£g ^ATtoXXatva] xbv £vXvQctv\. . .
Man erkennt sogleich zwei bedeutsame Übereinstimmungen
gerade dieser delphischen Hymnen mit unserm Proömium.
Die Musen werden (wie zwar in andern Hymnen auch) zur
Verherrlichung eines anderen Gottes herbeizitiert und, wird
begründend hinzugefügt, eines verwandten Gottes: ^öXsrs
övvo^ui^ov Iva oolßov aöalöi jueA^/^Tf ^^ äoidf}6iv
xXsLovßai, dsvta. /iC swinexB. öcpirsgov ^areo' vnvuovöai.
Die Ähnlichkeit ist überraschend.^ Aber um so verschiedener
ist, was folgt: auf den delphischen Steinen wirkliche aus-
' Aber hoffentlich konstruiert deswegen niemand einen direkten
Zusammenhang. Angesichts des gänzlich unzureichenden Materials
— unseru Besitz an wirklichen Kulthymnen kann man ja leicht an den
Fingern herzählen — hat man sich solcher Gedanken von vornherein
zu entschlagen.
26*
404 Konrat Ziegler
geführte Hymnen auf den Gott, welche die Musen gewährend
den frommen Sänger lehrten, im Pseudo-Hesiod wird mit ein
paar Versen ein Anlauf dazu gemacht, aber sogleich folgt,
kurz abbrechend — denn die Dekas ist voll — der Über-
gang zum Epos. Waren zu diesen acht Versen die Musen
nötig? Denn die 'Werke und Tage' zu singen sind sie ja
nicht gerufen worden! Das ist kein Scherz; man muß hier so naiv
fragen. Für die Frühzeit hat man nicht mit verwaschenen
Übertragungen und psychologischen Schleichwegen zu rechnen.
Wir sehen jetzt klar. Unser Proömium ist ein im echten
lyrischen Kulthymnenstil begonnenes Preislied auf den Zsvg
GsiiCöTLOs. Selbst wenn kein anderer Grund uns dazu nötigte,
könnten wir nach dem eben skizzierten Sachverhalt ein solches
schwerlich an der Spitze des Epos stehen lassen und für das
S. Jahrhundert, oder wie wir sonst sagen wollen, einen solchen
Synkretismus der poetischen Stile hinnehmen. Religiöse
Lyrik und Epos sind für damals und noch lange getrennte
Gebiete, das zeigen am einleuchtendsten die sogenannten
homerischen Hymnen, die, so sehr hier ein Hinneigen zu
jenem Gebiet durch den Stoff' nahegelegt wurde, doch durchaus
den epischen Stil gewahrt haben. Streicht man die paar
stereotypen Einleitungs- und Schlußfloskeln, so bleibt nichts
außer den göttlichen Trägern der Handlung, was die 'Hymnen'
von den xXda avögav unterscheidet.
Das Stilgesetz, das einen Hesiod binden mußte, hat dem
rhetorisierenden Versifikator des ausgehenden 5. oder an-
gehenden A. Jahrhunderts natürlich keine Kopfschmerzen mehr
gemacht. Er hat den feierlichen Stil des Kirchenliedes, das,
längst aus seinem engen Kreis herausgetreten, alljährlich über
die Bühne des Euripides und noch mehr des Aristophanes
wandelte, ohne ästhetische Skrupeln auf das Proömium des
Epos übertragen.
Man könnte einwenden, daß in dieser Rechnung nicht
genügend auf den subjektiven Charakter des Hesiodeischen
Das Proömium der Werke und Tage Hesiods 405
Gedichtes, auf die dadurch bedingten Unterschiede vom Home-
rischen Epos und auf die offene Möglichkeit einer größeren
Annäherung an den lyrischen Stil Rücksicht genommen sei,
wie sie z. B. in der vielfältigen Berührung Hesiods mit der
Elegie des Solon oder Theognis zum Ausdruck komme. Das
wäre partiell zuzugestehen, und so könnte, wollte man nur
auf dem Boden der hymnischen Stilgeschichte den Beweis
gegen die Echtheit des Proömiums führen, hier vielleicht
eine Lücke bleiben. Um so ersprießlicher ist es für die Sache,
daß durch die einwandfreien rein philologischen Beweismittel
auch nach dieser Seite hin völlige Klarheit geschaffen wird.
Nachtrag.
Durch einen freundlichen Hinweis Gerckes komme ich noch recht-
zeitig zur Kenntnis des Würzburger Programms (zugleich Münchener
Dissertation) von Stephan Martin, Das Proömium zu den Erga des
Hesiodos, 1898, um auf diese hochwichtige Ergänzung meiner Aus-
f hrungen nach der Seite der einzelsprachlichen Forschung aufmerksam
machen zu können. Diese gründliche Arbeit, die mit Unrecht völlig
unbeachtet und unbesprochen geblieben ist — bis auf eine Registrierung
Bzachs iBursians Jahresbericht usw. Bd. 100, S. 139 f.), der sie mit ein
paar unzulänglichen Argumenten abtun zu können meint — . untersucht
Wort für Wort den sprachlichen Bestand des Proömiums und führt den
Kachweis, daß in diesen wenigen Versen eine ganz unerhörte Zahl
unhesiodischer, unepischer, unbedingt junger Erscheinungen nach Wort-
wahl und Wortgebrauch vorliegt. Mag Martin einige Male im Übereifer
zu weit gegangen, mögen einige seiner Beanstandungen zu streichen
sein, es bleibt eine so kompakte Menge schon im einzelnen bedeutsamer,
in ihrer Vereinigung unanfechtbarer sprachlicher Argumente gegen die
frühe Entstehung des Proömiums, daß Martins Datierung „frühestens
nach Pindar" das mindestens Zuzugestehende, sein Versuch, es bis in
den Anfang der Alexandrinerzeit hinabzurücken, allerdings doch wohl mit
Rücksicht auf Praxiphanes zu weit gegangen ist. Mit Sicherheit darf
man aber das 4. Jahrhundert nennen. Ich bitte jeden Leser, den meine
Ausführungen noch nicht völlig überzeugt haben sollten, Martins Schrift
zur Hand zu nehmen.
Noch nicht zugänglich ist mir die Gießener Dissertation von
W. Fuß, Versuch einer Analyse von Hesiods "Egya xal H^Uqui, 1910.
Aber das Proömium kann keine Analyse mehr retten.
Religio und Snperstitio
Von W. F. Otto in München
Die Wichtigkeit des Gegenstandes gibt mir wohl die Be-
rechtigung, im Anschluß an meine Ausführungen in dieser
Zeitschrift XII 533 ff. einige wenige ergänzende Bemerkungen
zu machen. Einige Arbeiten, die seit der Veröffentlichung meines
Aufsatzes erschienen, oder mir erst nachträglich bekannt ge-
worden sind, haben mir Veranlassung gegeben, meine Beweis-
führung von neuem zu prüfen, mich da und dort schärfer zu
fassen. Vor allem aber wurde mir bewußt, daß ich an meh-
reren Stellen statt kurzer Andeutungen ausführliche Begrün-
dungen hätte geben sollen, um durchaus verstanden zu werden,
oder na,heliegende Einwände, die, ich gestehe es, mir heute
noch ebenso geringwertig erscheinen wie damals, von vorn-
herein zu entkräften.
Mein Aufsatz, dessen Manuskript bereits längere Zeit vor
dem traurigen Hinscheiden Albrecht Dieterichs eingesandt
worden ist, war völlig druckfertig, als die Transadions of the
third international congress for the history of religions er-
schienen, deren zweiter Band (Oxford 1908) S. ]69ff. eine
Abhandlung von W. Warde Fowler enthielt: The latin
history of the word '^Religio'. Leider habe ich erst lange nach
dem Erscheinen meiner eigenen Untersuchung von dieser
Arbeit Kenntnis erhalten. Ich freue mich, konstatieren zu
können, daß Fowler, dessen Aufsatz sich durch Klarheit der
Beobachtung und Feinheit der Bemerkungen auszeichnet, in
allem Wesentlichen derselben Meinung ist wie ich, nur daß er
es ablehnt, zu der Frage der Etymologie Stellung zu nehmen,
mit der Bemerkung jedoch, daß sein eigenes Gefühl ebenso
wie das Conways dazu neige, Ciceros Etymologie von relegcre
Religio und Superstitio 407
ZU billigen. Er unterscheidet zwei Bedeutungsgruppen, von
denen die erste die bei weitem ältere, ja die ursprüngliche sei,
die nämlich, in der sich das natürliche Gefühl des Römers
angesichts des Ungewöhnlichen und Übernatürlichen ausspreche;
diesen Sinn habe das Wort empfangen zu einer Zeit, in der
es noch keine staatlichen Priesterschaften und Religions-
ordnungen gab, um jenes Gefühl zu beschwichtigen. In zweiter
Linie und später werde mit religio die Haltung des Staats-
bürgers gegenüber dem Übernatürlichen gemeint, das nunmehr
ohne Furcht oder Zweifel in der Gestalt der anerkannten
Staatsgötter vorgestellt und richtig verehrt werden kann.
Religio ist also ursprünglich und in erster Linie ein Gefühl,
genauer das Gefühl von heiliger Scheu, Ängstlichkeit, Zweifel
oder Furcht, das angesichts von etwas Außergewöhnlichem,
Unerklärlichem im menschlichen Gemüte hervorgerufen wird.
Daß diese Bedeutung die ursprüngliche ist, geht daraus hervor,
daß sie nicht bloß in der ältesten Literatur die allein vor-
kommende ist, sondern für die ganze Dauer der römischen
Literatur neben der zweiten bestehen geblieben ist. Indem ich
es dem Leser selbst überlasse, von der kurzen Geschichte des
Wortes, wie sie Fowler gezeichnet hat, Kenntnis zu nehmen,
möchte ich nur darauf aufmerksam machen, daß dieser kaum
den Versuch macht, den Bedeutungsübergang vom Gefühl des
Menschen zur Kulthandlung usw. zu erläutern. Seltsam bleibt
es für mich, daß sich Fowler trotz der richtigen Einsicht in
die Grundbedeutung nicht entschließen konnte, aus den gram-
matisch möglichen Etymologien die dieser Bedeutung am
meisten entsprechende auszuwählen.
Ganz im Gegensatz nun zu meinen Ausführungen und den
auch ihm unbekannt gebliebenen Fowlers bestreitet M. Kobbert
De verborufn 'religio' atque 'religiosus' usu apud Romanos
quaestiones seledae (Königsberger Dissert. 1910), daß mit
religio ursprünglich ein Gefühl gemeint gewesen sei und von
dieser Grundbedeutung alle anderen abgeleitet werden müßten.
408 W F. Otto
Diese fleißige Untersuchung kommt zu einem Resultat,
das der früher herrschenden Meinung nahesteht, in einem
wichtigen Punkte aber von ihr abweicht. Sie ist mir ein
willkommener Anlaß, mich noch einmal über das Problem der
religio zu äußern; sehe ich doch deutlich, welche Überlegungen
dem Verfasser, und vielleicht vielen anderen mit ihm, verwehren,
sich meiner Auffassungsweise anzuschließen.
Gerade wie ich (a. a. 0. S. .'>44) erkennt er in der religio^
die beispielsweise einem Orte eigen ist, ein Tabu. Scheinbar
gegen mich, bemerkt er sehr richtig, daß diese religio eine
Eigenschaft des Ortes selbst bedeute. Dann aber, meint er,
dürfen wir nicht von einem Hegriffe ausgehen, dessen ur-
sprünglicher Sinn eine menschliche Gemütsbewegung ist, son-
dern müssen nach einer Erklärung suchen, die den in Frage
stehenden Begriff von Dingen oder Beschaffenheiten der Außen-
welt seinen Ausgangspunkt nehmen läßt. Nun aber besitzen
wir nur zwei etymologische Möglichkeiten; verwirft man die
ciceronische Erklärung, so bleibt nur die des Lactanz übrig:
religio von reUgare. Auf diese Etymologie führt uns denn der
Verfasser wieder zurück. Was nun aber, fragt er, ist bei der
religio — d. h. Gefährlichkeit, Tabu — eines Ortes oder Tages
das Bindende, und was das Gebundene? Ort und Tag können
natürlich nicht das Gebundene sein, wohl aber das Gemüt des
Menschen. Nun bezeichne religare bei näherem Zusehen vor-
nehmlich dasjenige Binden, durch das der gebundene Gegen-
stand zurückgehalten werde, und so sei mit religio nichts
anderes gemeint, als das Tabu, das gewissen Orten, Tagen,
Handlungen anhafte und durch das der Mensch zurückgehalten,
gehemmt werde sacris scilicet vincidis eins menti iniectis.
Späterhin sei dieser Begriff, der also ursprünglich auf den
Menschen allein Bezug gehabt, mit der Vorstellung von dem
Orte selbst enger verwachsen, so daß man nicht mehr an eine
Wirkung dachte, die von dem Orte auf das menschliche Gemüt
ausgeht, sondern nur noch an eine dem Orte selbst anhaftende
Religio und Superstitio 409
Eigensctaft (S. 60 f). An einer früheren Stelle (S. 37) drückt
er sich so aus: religio ist ursprünglich eine lex sacra, die den
Menschen zurückhält, etwas zu tun; aus diesem Begriff ist
dann nachträglich, wenn auch schon in alten Zeiten, der einer
lex Sacra, die etwas zu tun gebietet, hervorgegangen. 1
Also religio soll die Hemmung oder Abwehr sein, die von
etwas, das Tabu ist, ausgeht oder ausgeübt wird; sie soll das
Tabu selbst sein quo homo ipse religatur. Bleiben wir einmal
hier stehen. Ein Tabu verbindet nicht, sondern es trennt,
stößt ab. Der ^ erfasser weiß das sehr wohl. Er setzt des-
halb hinter religatur: aiqve impedifur. Ich muß diesen Zusatz
als unerlaubt bezeichnen, ebenso wie die kurz vorhergehende
Erklärung (S. 60): continet enim vox religare notionem revin-
ciendi, impediendi , arcendi. Kobbert selbst hat auf derselben
Seite eine Übersicht der Gebrauchsweisen von religare gegeben,
aus der jeder sehen kann, daß dies Verbum fast immer be-
deutet „etwas an etwas anbinden, festbinden" (was natürlich
den Erfolg hat, daß es nicht davon loskommt), zuweilen „ein
Vielfältiges zusammenbinden" (z. B. Haare in einen Knoten),
„etwas Offenes zubinden" (z. B. eine Blase). Andere Neben-
bedeutungen kommen gar nicht in Betracht. Nun soll natür-
lich nicht geleugnet werden, daß ein Wort, das ursprünglich
„an etwas festbinden'' bedeutete, im Verlaufe der Entwicklung
in der Sprache die Bedeutung des Hemmens, Zurückhaltens
bekommen konnte. Aber das ist tatsächlich bei religare
nicht geschehen, weder früh noch spät. Wo findet sich denn
die Bedeutung impedire, arcere, die Kobbert seiner Definition
hinten anfügt? Nirgends kommen wir über die Bedeutung
des Anbindens, Festbindens hinaus. Jede naive Auffassung
mußte die religio loci, wenn das Wort mit religare in Zu-
sammenhang gebracht wurde, so auffassen, als ob der Ort an
sich bände, fesselte — das Gegenteil des Tabu. Lactanz hatt«
Sprachgefühl genug, um zu schreiben: hoc vinculo pietatis
ohstricti deo et religati sutmis (inst. div. IV 28). So richtig
410 W. F. Otto
also Kobbert den ursprünglichen Sinn der religio loci, diei,
actionis entwickelt hat als den eines Tabu, das dem Menschen
verwehrt, diese Dinge in Gebrauch zu nehmen, so wenig ist
es ihm gelungen, diesen Sinn mit der Herleitung des Wortes
von religare zu verbinden ^
Aber selbst wenn er recht hätte, wenn das Wort etymo-
logisch betrachtet „Hemmung", „Abwehr", „Verbot" bedeutet
haben könnte, läßt sich daraus die tatsächliche Gebrauchsweise
wirklich so leicht ableiten, wie er glaubt?
Es ist doch nicht gleichgültig, daß bei aller Verschieden-
heit der Bedeutungen, die das Wort im Verlauf der Zeiten
angenommen hat, eine Bedeutung durch die ganze Latinität
hindurch geblieben ist — eben die, die ich für die ursprüng-
liche halte — : die Bedeutung der „Gewissensbedenken" oder
der „Gewissenhaftigkeit". So wird religio gerade an den
ältesten Stellen der Literatur, bei Plautus und Terenz (ohne
notwendigen Bezug auf „religiöse" Dinge) gebraucht. Die
kurzen Erklärungen, die ich (S. 533 f. des angeführten Auf-
satzes) diesen Stellen beigefügt habe, sprechen wohl für sich,
und ich darf es mir (und dem Leser) ersparen, auf die ge-
wundenen Umdeutungen Kobberts (S. 42 ff.) näher einzugehen,
zumal Fowler in dem oben angeführten Aufsatz gerade diese
Seite der Bedeutung ausführlich besprochen hat. Man kennt
doch den iudex religiosus, den gewissenhaften, der achthat,
nach bestem Wissen und Gewissen urteilt, man kennt die
aures teretes et religiosae ÄUicorum (Cic. orat. 27). Dieselbe
religio verlangt man auch von dem Arzte, zu dem man Ver-
trauen haben soll (Plin. nat. bist. XIX 128). Genau so ist es
bei superstitio, das nach meiner Meinung ursprünglich „Auf-
regung", eventuell „Angsterregung" bedeutet. Auch hier ist
* Bei Marcell. Emp. 15, 11 liegt gewiß nicht, wie Kobbert meint,
irgendeine Urbedeutung von religio, die uns veranlassen könnte, das
Wort mit religare in Zusammenhang zu bringen, vor, sondern religio
bedeutet hier „Behexung", „Zauber '.
Religio und Saperstitio 411
die Bedeutung der „Ängstlichkeit" immer geblieben. In „reli-
giösen" Dingen ist eine nimia religio', siiperstitio. Aber auch
der Arzt kann nimia religio haben (Plin. a. a. 0.). So kann
auch der Redner superstitiose handeln, der sich mit allzu
großer Gewissenhaftigkeit und Ängstlichkeit an den von ihm
selbst einstudierten Wortlaut hält (Quintil. inst. X 6, 5). Selbst
ein Grammatiker kann im Definieren eines Begriflfes super-
stitiostis: allzu ängstlich auf Vollständigkeit und absolute
Unterscheidung bedacht sein (Gell. I 25, 10). Weiter, wie
unzählige Male ist religio direkt synonym mit den Worten,
die „Angst" bedeuten! Hat Kobbert wirklich etwas getan, um
verständlich zu machen, wie diese verbreitete Bedeutung aus
der eines Verbotes sich entwickeln konnte? Aber er be-
anstandet bei mir, es sei nicht einleuchtend, daß die Begriflfs-
entwicklung den umgekehrten Weg gegangen, von der Emp-
findung, vom Abstrakten zum Konkreten, von der Furcht
zum gefürchteten Gegenstand einer- und zu der aus ihr ent-
springenden Handlung anderseits. Das bringt mich auf den
Hauptpunkt.
Eine Ausdrucksweise wie religio loci, womit eine Qualität
des Ortes gemeint ist, kann allerdings einer Erklärung be-
dürftig scheinen, wenn religio ursprünglich nichts anderes war
als ein psychischer Zustand des Menschen. Ich will auch
gleich Stellen anführen, aus denen nach Kobberts Ansicht
optime apparet, daß die religio dem Orte anhaftet. Verg. Aen.
Vin 349 iayyi tum religio pavidos ierrebat agrestis dira loci.
Sen. epist. 12, 3 (specus) animum tuum quadam religionis sit-
spicione percutiet. Wenn religio „Scheu", „Furcht", „Bedenk-
lichkeit" eines Menschen bedeutet, wie kann man dann sagen
religio terret oder religionis snspicio?
Formido und metus bedeuten doch gewiß menschliche
Gemütszustände, und doch bezeichnen beide auch eine Vor-
richtung, mit der man die Tiere erschreckt. Dafür könnten
viele Analogien gebracht werden. Ich beschränke mich auf
ll
412 W. F. Otto
etwas unserer Frage Naheliegendes. S. 537 habe ich zum
Vergleich mit religio die Worte öißsiv, 6sßs6d-ai {öoßdo})
herangezogen. Der Zustand dessen, der ösßsi, öeßercci, wird
mit ösßas bezeichnet. Dies Wort verdient tatsächlich in mehr
als emer Hinsicht mit religio verglichen zu werden. Es be-
deutet „Scheu": ösßag ^' 6%si siöoQÖavra. Aber gleichzeitig
wird auch der Gegenstand, angesichts dessen der Mensch
Scheu empfindet, mit Gsßag bezeichnet. Iß 6sßag i(iol (idyv-
örov, 'Ayd^s^vov avai, redet Klytaimestra ihren Gatten an
(Eur. Iph. Aul. 633). Der furchtsame Mädchenchor in Aisch.
Hiket. 755: ov ^ij rgiaCvccg tccöÖs xal &Eä)v ösßr} dsCöavxsg
-^/xöv X^LQ^ ccTCÖöxavTai. Ebenda 82: söTt 8a tccctc tioXbiiov
xeiQOiiivoig ßcofibg ccQijg (pvydöiv Qv^a, daiiiövcov ösßag. Hier
ist also ösßccg ;,die Scheu" ganz deutlich objektiviert, und wie
es oben hieß: religio terrebat, so hier ösßrj deCßavreg. Ja noch
weiter läßt sich der Gebrauch von ösßag mit dem von religio
vergleichen. Ich habe S. 535 aus einer verlorenen Rede des
alten Cato den Satz zitiert: miror andere atque religio7iem non
teuere, statuas deorum . . . signa domi pro sitppellectile statuere^
Cato ist indigniert, daß man Keckheit genug besitze und die
religio einen nicht zurückhalte, so frevelhaft mit den Götter-
bildern umzugehen.^ Damit vergleiche man Aesch. Eum. 690 tf.,
wo es vom Areopag heißt: iv öe rq) ösßag äöräv (poßog xs
Gvyysvrig xb fii) cidixstv 6xri6Bi. — Nach Kobbert S. 37 und
47 ist die Formel religio est (aliquid facere) gleichbedeutend
mit nefds est. Das ist an sich wenig wahrscheinlich. Die
' Kobbert tadelt mich, S. 45, 1, daß ich mit Jordan 80 geschrieben,
während doch nirgends gesagt werde religionem tenere, sondern immer
nur religione teneri, und deshalb sei aus M, der gegen die anderen codd.
religione bietet, mit Änderung des tenere in tenerei zu lesen: religione
non tenerei, wie Hertz vorgeschlagen. Seltsam! Vier Seiten später
zitiert er selbst Liv 27, 25, 7 MurceUafm aliae atque aliae obiectae animo
religiones tnebant.
* Wie Kobbert in der religio dieser Stelle eine ler sacra sehen
kann (S. 45, 1), ist mir völlig unbegreiflich.
Religio und Superstitio 413
Stellen, die datür angeführt werden, ergeben für jede vor-
urteilslose Auffassung den Sinn: „es ist bedenklich". Kobberts
erstes Beispiel zwingt sogar zu dieser Auffassung: Liv. VI i^T, 4
religio erat, an Stelle eines verstorbenen Zensors einen anderen
zu wählen; deshalb dankt auch der überlebende ab; allein
auch eine zweite Zensorenwahl erweist sich als ungültig; nun
sieht man von einer dritten Neuwahl ab, denn sie zu ver-
anstalten war religiosum, weil die Götter eine Zensur für dies
Jahr offenbar nicht wünschten. Wer wollte hier an Stelle
von religiosum: nefas setzen? Das Nächstliegende dürfte doch
wohl sein, die Ausdrücke religio est und religioni est für gleich-
bedeutend zu halten.^ In dem letzteren erkennt natürlich auch
Kobbert die Gemütsbewegung. Sie werden auch tatsächlich
völlig parallel verwendet: z. B. Fest. p. 285 religioni est quibits-
dam porta Carmetüali egredi und Sueton Aug. 6 huc introire
nisi necessario et caste religio est. Gerade der letzte Satz be-
weist nach Kobbert p. 4."^, daß sein religio est nicht einen
menschlichen Affekt, sondern eine lex quae letat bedeute. Hätte
er gelesen, wie Sueton in der zweiten Hälfte des Satzes fort-
fährt, so wäre ihm klar geworden, daß er für das Gegenteil
spricht. Der ganze Satz lautet nämlich: huc introire . . . religio
est concepta opinione veteri. quasi temere adeuntibus Iwrror
quidam et metus obiciatur, sed et mox confirmata (durch eine
nächtliche Spukgeschichte). Eine religio, die opinione conci-
pitur und durch ein Ereignis confirniatur, ist doch wohl ein
„Bedenken" und kein „Gesetz". Aber noch weiter: die oben
angeführte Liviusstelle sagt, daß es religio erat, einen Zensor
an Stelle eines gestorbenen zu wählen. Im vorhergehenden
Buch {V 31, G) hatte Livius den Grund dafür angegeben:
C. luliiis censor decessit. in eins locum M. Cornelius suff'ectus.
quae res postea religioni fuit, quia eo lustro Borna est capta:
nee deinde unquam in demortiii locum censor sufßcitur. Man
' Vgl z. B. pwhr est >eferre und pudori est narrare, beides von
Ovid (met. XIV 18 und VII 687) in ganz gleicher Bedeutung gebraucht.
414 W. F. Otto
sieht, daß zwischen religio est und religioni est kein wesent-
licher Unterschied des Gedankens ist. Auch mit diesem Aus-
druck vergleichen wir ösßag: Ilias XVIII 178 fordert Iris den
Achill auf, zum Schlachtfeld zu gehen, damit der Leichnam
des Patroklos nicht in die Hände der Feinde falle: aAX' äva,
[ir]d' sxi xslöo' Geßccg da 6s d^v^bv IrJöd^co, licet Qozkov Tgafißi
xvölv iiilmqO'Qa ysveö&ai. Ahnlich wird alS&g iöxi gebraucht:
Aesch. Agam. 948 sagt Agamemnon, es sei bedenklich, über
so prächtige Teppiche hinzuschreiten, wie Klytaimestra sie für
ihn auf den Boden gebreitet: 'nal tot6de /t' eiißaivovd-'' äXovQ-
ysöLv d'S&v fir] tls TtQoöco&sv 'ö^^arog ßdloi (pd^ovog. TCoXXii
yaQ aldcog sliiarocpQ'OQHV (überliefert öcoiiatocpQ^OQslv) %o6lv
GrsCßovra nXovxov ccQyvQcavi^xovg v(pdg.
Oben habe ich von dem Übergang abstrakter Worte in
konkrete Bedeutung gesprochen. Wie fern dem Verfasser —
und leider vielen Philologen — das Verständnis dieser Sprach-
erscheinung ist, zeigen seine Ausführungen S. 41. Nach
meiner Erklärung geht die Bedeutung omen, prodigium, die
religio bisweilen annimmt, natürlich aus von der Grundbedeu-
tung „Scheu", „Bedenklichkeit". Sed qua ratione id ftat, non
satis explicatur wirft Kobbert ein. Schon oben ist auf formido
und metus hingewiesen worden, die, obgleich sie doch ur-
sprünglich und immer Affekte des Menschen bezeichnet haben,
dennoch zugleich einen Gegenstand bedeuten, der Schrecken
einjagt. Bedeutet dsl^a nicht auch das, was in Schrecken
setzt? Aesch. Cho. 524: Klytaimestra fährt auf ex t' övsiQoi-
xö)v xal vvxxLJild'yxxov ÖEi^dxcov. Ist nicht, um ein Beispiel
aus anderer Sphäre zu gebrauchen, ö^rg das Sehen und zu-
gleich der Anblick und das „Gesicht?" o^ftg eWvjjo/ kommen
in das Schlafgemach der lo und reden zu ihr (Aesch. Prom.
645). Doch das sind ein paar Beispiele für eine Sprach-
erscheinung, die geradezu die Regel ist. Wenn Icgio von
altersher nicht mehr „das Auswählen", sondern „das Aus-
gewählte" (vgl. optio den Chargierten, sogar maskulinisch ge-
Religio und Superstitio 415
worden, wie der podestä) bedeutet, wie sollte es aufßLllig
sein, daß das nach meiner Meinung etymologisch damit ver-
wandte (*relegio) religio neben der immer gebliebenen Grund-
bedeutung „Bedenken", „Scheu" auch dasjenige bezeichnet, auf
das sich Bedenken und Scheu beziehen? Nach Kobberts
Meinung dagegen bedeutet religio, wenn es gleich omen ist,
auch wieder interdidum vd praeceptum. Dies interdictum wird
durch das omen gegeben; allmählich aber ist es zur Bezeichnung
des Omens selbst gebraucht worden. Ob der Begriff des Be-
denkens, des Scheuerregenden oder der des Verbotes dem
Omen näher kommt, möge der Leser selbst entscheiden.
Es hieße eine starke Geduldsprobe vom Leser erwarten,
wollte ich alle Einzelheiten, mit denen Kobbert seine These
zu erweisen sucht, vornehmen. Sie sind meist der Art, wie
die S. 43 aufgestellte Behauptung, das Verbum obicere bei
Plaut. Merc. 881 (religionem illic <jni^ obiecit) beweise, daß
rdigionem extrinsecus in hominem invadere, also kein Affekt
mit dem Worte gemeint sein könne. Schade, daß nach
römischer Ausdrucksweise furor, libido, terror, metus usw.
homines invadunt, und daß nicht bloß religio, sondern auch,
wie jedes Lexikon lehrt, metus, terror, spes, dolor usw. alicui
öbiciuntur. Häufig braucht man nur an unser „Gewissen" zu
denken, um sofort zu sehen, wie wenig die Argumentation
Kobberts wirklich beweist. S. 46 macht er im Anschluß an
den vorhin besprochenen Ausdruck rdigio est, der eine Warnung
enthält, auf Fälle aufmerksam, wo diese oder ähnliche Aus-
drucksarten im Gegenteil ein Gebot enthalten (Plin. n. h. XXXV 3
scrobem repleri vario genere friigum rdigio est ac terrae piamen-
tum), und meint, es sei völlig klar, daß hier der Begriff der
Scheu den syntaktischen Zusammenhang sowohl, wie den Sinn
zerstöre; es handle sich um eine Weisung, die von außen an
den Menschen herantrete, nicht aus ihm selbst entstanden sein
könne. Zum Beweis führt er Stellen wie Cicero, Cluent. 159
und pro Font. 3 an, wo es heißt: rdigio cogit. In der ersten
416 W. F. Otto
Stelle wird das Ideal eines guten Richters gezeichnet; dazu
gehört, daß er nie an seine Privatwünsche denkt, sondern nur
daran quid lex et religio cogat. Die Stelle ist von Kobbert
schon S. 39 besprochen worden; es heißt dort, daß religio hier
nur als lex aufgefaßt werden könne, und das gehe unwider-
sprechlich schon allein aus dem Verbum cogere hervor. Nun,
ich denke doch, daß das „Gewissen" manchen Menschen
„zwingt", etwas zu tun oder zu lassen. Oder ist es etwa un-
lateinisch, von conscientia, verecundia, pudor, metus, timor usw.
zu sagen, daß sie cogunt? Was soll aber außerdem neben lex
religio an unserer Stelle anderes bedeuten als „Gewissen-
haftigkeit*'? Gerade vom Richter wird ja doch immer aus-
drücklich fides und religio verlangt, und man spricht lobend
von einem iudex religiosus, wie auch von einem testis. Was
da gemeint ist, zeigt Ciceros Aufforderung an die Richter ein
paar Zeilen vorher: religioni potius vestrae quam odio pareatis.
Ist das nicht deutlich genug? Und doch beweist nach Kobbert
S. 39 das bei religio auch sonst vorkommende Verbum parere,
daß es sich da immer um leges handle. So heißt es in der-
selben Rede 121 suae potius religioni quam censorum opinioni
paruerunt. Und damit ja kein Zweifel bleibe, was mit religio
gemeint ist, steht direkt vorher (121) iudiciis eorum, qui
iurati statuere maiore cum religione et diligentia dehuerunt.
Auf dasselbe führt für unsere Frage pro Font. 3: difficile est
eum, qui magistratui pecimiam dederit, non aut induci odio ut
dicat, aut cogi reKlig^ione. Wenn endlich Kobbert noch
Statius silv. V praef. anführt, so möge der Leser selbst über
den Satz urteilen: uxorcm enim vivam amare voluptas est,
defunctam religio. Alle die hier besprochenen Stellen sollen
nach Kobbert beweisen, daß der Begriff religio nicht von einem
Gemütszustande ausgegangen, sondern etwas einer lex ähnliches
sei. Um nun wieder zu der Pliniusstelle zurückzukehren, so
zeigt sie allerdings, daß religio est auch einmal einen Antrieb,
nicht wie sonst eine Warnung, enthalten kann. Wir haben
Religio und Superstitio 417
es hier natürlich mit derjenigen Bedeutung von religio zu tun,
die sie dem ciiltus und ritus naherückt. Wenn, wie Kobbert
annimmt, eine Art von lex gemeint wäre, so bliebe völlig un-
faßbar, wie derselbe Ausdruck, der sonst nach Kobberts Defi-
nition den Sinn von nefas est hat, plötzlich das gerade Gegen-
teil bedeuten könnte. Gehe ich dagegen von relegere^ „acht
geben", „beachten", „bedenken" iivn Gegensatz zu neg-legere)
aus, so erklärt sich alles von selbst. Wie viel kann uns schon
allein unsere eigene Sprache lehren I Wenn ich mich „be-
denke" angesichts irgendeiner Sache oder Handlungsweise, so
kann das dazu führen, daß die Sache selbst ein „Bedenken"
zu enthalten scheint, ich mich also vor ihr in acht nehme;
oder aber, ich komme dazu, sie zu „beachten" observare, und
diese „Beachtung" observatio wird selbst eine Handlungs-
weise (vgl. Val. Max. I 1, 8 quo minus religionibus suus ienor
simqiie observatio redderetur). Ich „bedenke" eine Sache, und
der Erfolg ist, daß in mir ein „Bedenken" aufsteigt: oder
aber, der Erfolg ist der, den sich Papageno wünscht: „wenn
die Götter uns bedenken, unsrer Liebe Kinder schenken",
den sich so mancher wünscht, wenn er gern im Testamente
„bedacht" sein möchte; „es ist unser treuer Rat, väterliches
Bedenken und Verordnung, daß . . ." sagt der Landes vater
(Grimms Wörterbuch). Wir sehen also, wie leicht die Be-
deutung des Ritus und des Kultus aus dem Grundbegriff des
1 Es ist gewiß nicht angängig, das von Gell. IV 9, 1 aus einem
alten Vers angeführte religens als dichterische bzw. etymologische Fiktion
abzutun. Charakteristisch ist die Ausdrucksweise Jordans in Prellers
Rom Myth. P 128 Anm. : „wohl jedenfalls eine etymologische Er-
findung". Aus Ciceros "Worten d. nat. deor. 11 72 geht hervor, daß für
ihn ein Wort relegere jedenfalls nichts Unwahrscheinliches enthielt, und
wenn es bei dem alten Dichter wirklich „Augenblicksschöpfung" ge-
wesen sein sollte (Solmsen bei Kobbert p. 58, 1), warum sollte sein
Sprachgefühl nicht gerade das geschaffen haben, was zu seiner Zeit
schon außer Gebrauch gekommen, ehemals aber gebräuchlich gewesen?
Doch wozu der ganze Skeptizismus bei einem Worte, das doch schon
Nigidius Figulus ex antiquo carmine zitiert hat?
Archiv f. ReUgionswissensehftft XTV 27
418 W. F. Otto
relegere erklärt werden kann, und wie verständlich der Gebrauch
in der Pliniusstelle oben ist.^ Dies zur Erläuterung meiner
im ersten Aufsatz S. 537 gemachten Bemerkungen, die Kobbert
künstlich und gezwungen erschienen sind.
Wie einfach von demselben Grundbegriffe aus solche Aus-
drucksweisen wie sepulcrum religione tenetur, populus religione obli-
gatur, religio aliquem impedit usw. verstanden werden können, wird
jeder selbst erkennen. Kobbert dagegen hat, soviel ich sehe, nichts
getan, um zu erklären oder Analoga dafür beizubringen, daß ein
Begriff, der ursprünglich etwa nefas oder lex bedeutet hat, zur Be-
zeichnung eines Gemütszustandes verwandt worden sein könnte.
Worte für „Scheu", „Ehrfurcht", „Sorge" usw. werden in den alten
Sprachen ganz allgemein auch zur Bezeichnung der Gegenstände
dieser Affekte verwandt; wo aber solche, die ein Verbot oder ein
Gesetz bezeichneten, in die Bedeutung der Gemütsbewegungen
der Furcht, des Bedenkens, des Zweifels übergegangen wären,
wüßte ich wenigstens nicht zu sagen.
Aber der Verfasser sagt uns ja glücklicherweise ganz
offen, von welcher vorgefaßten Meinung ausgehend er zu seinen
Aufstellungen gelangt ist. Er sagt S. 53: iam per se verisi-
milius est religionem primiim externis rebus adhaesisse, posiea
demum in hominum animis esse collocatam. Coniectare enim
licet in sermone Jiominum eas notiones, quibus hominum natura
exprimitur, omnino tunc demum ortas esse, cum lingwi iam
magis esset exculta. Wenn damit eine unerforschliche barba-
rische Urzeit gemeint ist, so mag es sich hören lassen. Für
unsere Forschung sollte es, denke ich, genügen, daß die Kate-
gorie des Abstraktums zum indogermanischen Gemeinbesitz
gehört. Natürlich stützt sich Kobbert auf Useners Abstrakten-
theorie. In den Götternamen S. 364 ff. erkennt Usener mit
vollem Rechte gegen Frühere das Alter und die Bedeutung
der abstrakten Gottesbegriffe an. Aber er meint (S. 370),
* Übrigens ebenso Liv. X 37, 16 ut aedem etiam ßeri senatiis iu-
beret . . . in religionem venit.
Religio und Superstitio 419
sie seien in Wahrheit als Adjektiva zu verstehen, und S. 371
wirlt er die Frage auf, „ob die Sprache überhaupt ursprüng-
liche Abstrakta besitzt, d. h ob die Wortbildungen, welche zur
Bezeichnung abstrakter Begriffe dienen, zu diesem Zweck ge-
schaffen sind oder ihre Wertung erst nachträglich erhalten
haben". Seiner Meinung nach ist das letztere der Fall. Was
Üsener des weiteren ausführt, gehört zu den Irrtümern, gegen
die man trotz aller Verehrung des großen Mannes nicht blind
sein darf. Es mag genügen, auf die Abhandlung über das
indogermanische Abstraktum bei Brugmann, Grundriß IP 1, 628
zu verweisen, wo natürlich auch die Bemerkung über die
„Leichtigkeit" nicht fehlt, „mit der die Abstrakta überall in
Sachbedeutung hinüberschwanken". Ganz unbegreiflich aber
ist es, wie Kobbert üsener die Worte nachsprechen kann, daß
in Ausdrücken wie cpoßog siefiXd^sv noch die alte Bedeutung
durchschimmere, noch eine letzte Erinnerung daran vorliege, daß
q)6ßog zuerst ein Gott („der Scheucher") gewesen und dann erst die
Gemütsbewegung (vorher die Handlung des Fliehens) geworden.
Es ist überflüssig, an das lateinische invadere (oben S.415) zu er-
innern. Soll dasselbe gelten für 11. XVII 157 olöv t' {(isvog noXv&aQ-
6sg, atQOnov) ävdgag iöSQXsrai oln:£gi JcdtQTjg ävÖgaöi dvd^svseOöi
xövov xal drjoiv sd'svto? Auch für ycod'og, si-eog, ixi^vfiCa, die
siöegxovrai? Ebenso bei sie^tCmco. Wer wollte aus Ilias IX 436
inel xoXog äfiTießs &vfip auf einen alten Gott schließen? Oder
aus dem lateinischen timor incessit animos? ^Vir wissen ja,
daß 06ßog wirklich ein entsetzlicher alter Gott gewesen ist.
Aber das hindert nicht, zu glauben, wie die Sprachwissen-
schaft verlangt, daß er eben von der Flucht und dem für sie
charakteristischen Affekt seinen Namen erhalten hat, als ihr
Erreger, gerade wie der doch gewiß auch alte "Egcog von der
Liebesleidenschaft benannt ist, und nicht umgekehrt. Daß die
Alten dem Wesen, von dem sie glaubten, daß es die entsetz-
liche Krankheit des Davonlaufens errege, richtiger, das sie
eben im entsetzten Davonlaufen, dann im Schreck überhaupt
27*
420 W. F. Otto
erlebten, keinen anderen Namen gegeben haben, als eben den
der „Flucht", des „Schreckens", ist ebensowenig zu yerwundern,
als daß sie die Gröttin der Fieberkrankheit nach diesem Körper-
zustand JEehris genannt haben. Der Zustand des Menschen,
den die Sprache abstrakt bezeichnen muß, ist nach alter An-
schauung etwas Reales, das von außen her als Ganzes über
ihn kommt und ihn überwältigt.
Wir befinden uns hier wirklich an der Schwelle der
Religion. Ich stimme Marett völlig zu, wenn er sagt (Pre-
animistic religion, in The Threshold of Religion, London 1909,
S. 13): Of all English words Awe is, I think, the one that
expresses the fundamental Beligious Feeling most nearly. Aive
is not the same thing as "pure funk". "Primus in orhe deos
fecit timor" is onlij true of we admit Wonder, Admiration,
Interest, Respect, ever Love perhaps, to he, no less than Fear,
essential constituents of this elemental mood. Wer nil admiratur,
ist nicht mehr religiös. Sollte nicht schon allein unser Wort
„Wunder" lehren, wie wenig der Vorwurf des Gekünstelten,
den Kobbert meiner Ableitung des Begriffes religio im Sinne von
omen, prodigium macht, zutrifft? Das „Wunder", das des Glaubens
liebstes Kind ist, was ist es anderes, als unsere „Verwun-
derung"? „Das nimmt mich wunder" sagen wir, und ähnlich
schon das Mittelhochdeutsche. Wir brauchen diesem „Wunder"
nur eine kleine Nuance von Ängstlichkeit zu geben, so sind
wir bei dem römischen in religionem venit. Genau ebenso ist
es natürlich mit dem griechischen &avfia: &av^a idiöd-ui,
d-ccvficc /x£ £%£t, -d-av/ia noiEl6%-al tivog usw.; was der Zauberer
vollbringt, sind %-aviiaxa. Der nächsthöhere Grad dieses
„Wunders" ist im lateinischen superstitio, und so haben es die
Römer selbst beurteilt. Dem entspricht, daß ich das Wort auf
eine Stufe mit ^xtfratftg gesetzt habe.
Es wäre ungemein lohnend, einmal eine große Anzahl
verwandter und unverwandter Sprachen danach zu befragen,
wie in ihnen die Begriffe der Achtung, Ehri'urcht, Scheu
Religio und Snperstitio 421
schließlich Frömmigkeit bezeichnet worden sind Ich hin über-
zeugt, daß meine Meinung von religio dadurch nur in helleres
Licht gesetzt werden würde. Gerade die Doppelseitigkeit, die
die religio nach meiner Auffassung hat, ist für eine Reihe
ähnlicher Begriffe in anderen Sprachen charakteristisch. Oben
ist auf 6sßE6d-ai, ösßag, uldslöd-cci, uiöäg hingewiesen worden.
Der uralte Begriff' der alÖäg ist mit dem der religio in mancher
Beziehung verwandt. Er enthält etwas Negatives und zugleich
etwas Positives, genau wie religio. Dias XXIV 90 aldeo[iai
öt alöytö^ ad aväxoiöLV. Aesch. Cho. 899 nvXdörj, xC dgaöcj;
juijTf'p' uidsöd-ä xtsvsiv; dann: Öei Q^sovs (liv ösßaöd'ai^ yoveag
de Tt/iÄj/, :iQ£Gßvr£QOvs aidtte&ai und vieles andere. Das sind
alles Nuancen von relegere. Man vergleiche die verwandten
Sprachen (Walde, Latein, etymol. Wörterbuch* S. 18). Ver-
wandt scheint gotisch aistan, ga-aistan: Luk. 18, 4 jdbai . .
mamian ni aista [al . . . ovdh avd'gaxot' ivroano^ai — wenn
ich nach keinem Menschen etwas frage i. Mark. 12, 6 qißands
ßatei gariistand sunu nieinana (ivrgaxi^öovTai xbv vlov [tov —
sie werden meinen Sohn scheuen). Hier haben wir das ovx
ccXeysLv, non rdegere, neglegere (vgl. auch das ähnliche respi-
cere: Cornelius Severus bei Sen. suas. 6, 2 6 nee lubrica fata
deosque respexit). Wenn mit diesen Worten wirklich ahd. erüj
marrucinisch aisos (den Göttern), oskisch aisusis (sacrißciis) usw.
zusammenhängen, so paßt das wiederum vortrefflich. Mit
aidonai wird endlich auch altind. ide „verehre, preise, flehe
an" verglichen. Man sieht, wie gut alles zusammenstimmt.
Überall haben wir Analoga zu relegere und religio.
Zum Schluß seien noch ein paar Worte im Anschluß an
meine Ausführungen über super st itio a. a. 0. S. 548 ff. ge-
stattet. Ich gehe hier von dem Begriff der Aufregung aus,
setze superstitio der sxözaöig gleich, mache aber insofern einen
Unterschied, als ich in superstitio denjenigen geringeren Grad
von Erregung erblicke, bei welchem die Seele nicht den Körper
geradezu verläßt, sondern nur in die Höhe dringt, so daß der
422 W. F. Otto Religio und Superstitio
Aufgeregte etwa das Klopfen des Herzens in der Kehle zu
spüren glaubt und nachher von seiner Seele aussagt, sie habe
auf den Lippen geschwebt und wäre beinahe entflohen. Die
Aufregung ist für den Propheten wie für den Abergläubigen
bezeichnend. In ersterem Sinne wird superstitio von den
ältesten Schriftstellern gebraucht, im letzteren von den meisten
übrigen. Daß es richtig ist, von dem Begriff der Erregung
auszugehen, lehrt dieselbe Erwägung, wie bei religio: auch
superstitio bezeichnet die Ängstlichkeit überhaupt, ohne not-
wendigen Bezug auf das Übernatürliche; ein gewissenhafter
Mensch ist religiosus und wird als solcher gelobt, wer aber
die Grewissenhaftigkeit bis zur ängstlichen Kleinlichkeit be-
treibt, ist superstitiosus und wird getadelt (s. oben S. 411).
Als ich meinen ersten Aufsatz niederschrieb, war mir die
Schrift von A. Hahn De superstitionis natura ex sententia
vrterum, imprimis Bomanorum (Breslauer Universitätsprogramm
1840) unbekannt. Den Hinweis darauf verdanke ich R. Wünsch.
Hahn gibt eine recht nützliche Zusammenstellung der für die
Geschichte von superstitio charakteristischen Schriftsteller-
zeugnisse, verfehlt aber das Verständnis der Herkunft und
Entwicklung des Wortes völlig. Nach ihm sollen super stitionss
zuerst res coelestes et divinae, velut prodigia v c. . . . quae coe-
litus divinitusque dbieda vel obstita putarentur gewesen sein,
benannt de rebus super stantibus. Vgl. dazu Progr. 1854, wo
Hahn S. 4, 4 die nach seiner Meinung ursprüngliche Bedeu-
tung von superstitio deutsch wiedergibt mit: „Üb er Stellung =
das Setzen eines Höheren über sich und die Natur". Darum
sei bei Plautus der superstitiosus der divinus oder vateSj der
die Himmelszeichen zu deuten wisse. Nachdem aber einmal
der Staat aus der Menge der durch dieses „Überstellen"
„Setzen eines Höheren über sich" entstandenen Götter einen
bestimmt umgrenzten Kreis ausgewählt und den gesamten
Gottesdienst gesetzlich geregelt hatte, wurde superstitio zu
etwas Tadelnswertem und bezeichnete ein ITbermaß von religio.
Die älteste griecMsche Zeitreclmung
Apollo und der Orient
Von Martin P. NÜBSon in Lund
Zu den Problemen, die nie eine volle Lösnng erhalten
können, weil die Überlieferung der ausschlaggebenden Faktoren
zu sehr fragmentarisch ist, gehört die Frage von der Schuld,
in welcher die ältere griechische Kultur gegenüber dem Orient
steht. Die Frage ist aber von einem solchen grundlegenden
Gewicht, daß sie immer wieder zum Gegenstand der Erörterung
und der Forschung gemacht werden muß, damit sie so allseitig
wie möglich beleuchtet werden kann; nur so ist zu hoflfen, daß
sie vorwärtsgebracht werde.
Der neuhumanistischen Auffassung, nach der die Griechen
die unvergänglichen Früchte ihrer geistigen und künstlerischen
Arbeit auf völlig eigenem und selbständigem Boden geschaffen
haben, steht in dem sog. Panbanylonismus das andere Extrem
gegenüber. Die argen Übertreibungen dieser Richtung dürfen
uns nicht den Blick dafür verdunkeln, daß auch die ältere
entgegengesetzte Auffassung die Selbständigkeit der griechischen
Kultur zu hoch eingeschätzt haben kann. Niemand hat z. B.
bezweifelt, daß Thaies seine astronomischen und mathematischen
Kenntnisse aus dem Orient geholt hat, mehr wurde aber nicht
zugestanden; die ionische Naturphilosophie und der orphische
Mystizismus sollten trotz aller Anklänge autochthon griechisch
sein. Schon Gomperz hat demgegenüber in seinen griechischen
Denkern auf den wahrscheinlichen Einfluß orientalischer Spe-
kulationen auf das Denken der Griechen hingewiesen, und
jetzt hat Robert Eisler in seinem Buch über Weltenmantel
und Himmelszelt neben vielem Verfehlten mit der Gewißheit,
die auf diesem Gebiet möglich ist, wie es mir scheint, nach-
424 Martin P. Nilsson
gewiesen, daß der Orphizismus und die ionisclae Naturphilosophie
der persisch -babylonischen Spekulation viel verdanken. Die
Bedeutung des Nachweises liegt vor allem darin, daß er uns
zeigt, daß der orientalische Einfluß nicht nur die Forscher und
die Weitgefahrenen getroffen hat, wie man früher meinte,
sondern auch in den breiten Schichten des Volkes mächtig
gewesen ist. Das hätte doch längst, wer den Monumenten
nicht völlig fremd gegenüber steht, beherzigen sollen. Die
korinthische Vasengattung wird in der Mitte des 7. Jahrhunderts
herrschend und verdrängt die sog. protokorinthische Gattung,
die in ihrer nüchternen Zierlichkeit und Akkuratesse das
Zeugnis von ihrer Entstehung aus rein griechischem Geist
trägt und in ihrer Art solche Meisterstücke wie die kleine
Kanne aus der Sammlung Chigi geschaffen hat.^ Jene Sphinxe,
Greifen, Panther, Löwen usw., die die korinthischen Vasen
schmücken, stammen aus dem Orient, und die ganze Manier,
die ermüdende Einförmigkeit der aneinander gereihten Tiere
und die fast völlige Bedeckung des Grundes mit Füllornamenten»
deuten auf die Erzeugnisse der orientalischen Teppichweberei
als ihre Vorbilder hin. Jene Vasen zeigen uns eine orien-
talische Modeströmung, die um diese Zeit Griechenland über-
schwemmt und auch hinab zu den breiten Schichten des Volkes
drängt; denn die korinthischen Vasen sind ein Massenartikel.
Die Frage, ob Griechenland in noch älterer Zeit Einflüsse
von den großen Kulturländern des Ostens empfangen hat,
drängt sich mit Notwendigkeit hervor, und ist mehrfach bejaht
worden. Schon in prähistorischer Zeit, sogar in der Steinzeit
hat man die Spuren der orientalischen Einwirkung wahr-
zunehmen geglaubt. Es steht aber hiermit eigentümlich, nicht
nur in Griechenland. Während in griechischer Erde ägyptische
Gegenstände des zweiten vorchristlichen Jahrtausends und in
Ägypten zahlreiche mykenische Vasen gefunden worden sind.
* Ant. Denkm.II. Tf 44/6
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 425
können wir solche handgreifliche Zeugen von der Verbindung
mit dem babylonischen Kulturkreise nicht aufzeigen. Es
scheint, als ob Babylonien mehr Ideen exportiert hat, und
diese tragen nicht das made in Babylonia so deutlich auf-
geprägt, daß es von der Nachwelt, die erst aus zersplitterten
und dürftigen Fragmenten sich ein Bild von der Gedanken-
welt und geistigen Kultur der verschiedenen Völker zusammen-
suchen muß, unmittelbar erkannt wird.
Um so wichtiger ist es, daß abgesehen von den Fällen,
wo ein Einfluß Babyloniens nur vermutet wird, ein solcher in
einem Falle in der kretisch - mykenischen Periode konstatiert
werden kann. Jene Bronzebarren, die in nicht geringer Zahl
an mehreren Stellen, z. B. in H. Triada, gefunden worden sind,
haben ein durchschnittliches Gewicht von einem babylonischen
Talent; daß dieses Gewicht absichtlich gewählt ist, erhellt
daraus, daß auch Barren, welche die Hälfte oder das Viertel
eines Talentes wiegen, gefunden worden sind. Die Übernahme
des babylonischen Gewichtes von den Griechen ist also schon
in der Bronzezeit erfolgt.^
Es ist längst vermutet worden, daß die Fristen von sieben
Tagen usw. und die damit zusammenhängende große Rolle der
Siebenzahl in der Religion und sonst auf den Orient zurück-
gehe, obgleich die Übernahme von den Griechen in sehr früher
Zeit geschehen sein müßte.* Zur Zeit ist man aber von dieser
Annahme zurückgekommen und nimmt am liebsten einen
selbständigen griechischen Ursprung an. Dieser Standpunkt
• Es ist das Verdienst Svoronos' die Bedeutung dieser Funde in
seinem für die Entstehung des Geldes grundlegenden Aufsatz im Journ.
d'arch. tiumism. 9 (1906) 153 S. geschildert zu haben.
* F. V. Andrian Die Siebenzahl im Geistesleben der Völk^ (Mitt. der
anthropol. Ges. in Wien XXXI 1901 S. 225 ff.) kommt nach, einer Musterung
der Beispiele aus allen Erdteilen zu dem Resultat, daß eine besondere
Bedeutung der Siebenzahl im größten Teil von Afrika. Amerika und
Australien, ja sogar bei einigen europäischen Völkern fehlt, und daß
sie sich von Mesopotamien nach verschiedenen Richtungen ausgebreitet hat.
426 Martin P. Nilsson
wird vor allem von Röscher in seiner ausführlichen Unter-
suchung von der Rolle der Sieben- und der Neunzahl in
Kultus, Mythologie, Zeitrechnung und Philosophie vertreten;^
um so größer ist meine Pflicht, die Schuld anzuerkennen,
in der ich für die folgenden Bemerkungen bei dem von
Röscher mit unermüdlichem Fleiße und Sorgfalt gesammelten
Material stehe.
Die hebdomadischen Fristen dürfen aber nicht in ge-
künstelter Isolierung betrachtet werden, sondern müssen auf
ihren Platz in dem Zusammenhang eingestellt werden; daher
müssen sie nicht nur mit den mit ihnen zunächst kon-
kurrierenden enneadischen Fristen, sondern auch mit den
anderen Weisen der Zeitrechnung in dem ältesten Griechenland
verglichen werden.
Der griechische Monat ist ein von dem Mond abhängiger
wirklicher Mondmonat, welcher durch die Einschaltung eines drei-^
zehnten Monats in gewissen Jahren, oft auf willkürliche WeiseJ
mit dem Sonnenjahr ausgeglichen wird. Ein Monat in dieser
zwölf- bzw. dreizehnmonatigen Jahr ist in verschiedenen Jahrei
im Verhältnis zu den natürlichen Jahreszeiten einem Wechselt
unterworfen, der recht beträchtlich ist und bis zu einem vollen
Monat betragen kann. Der griechische Monat war daher im Gegen-
satz zu unsrem rein konventionellen Monat sehr wenig geeignet,
einen Zeitpunkt zu bestimmen, der von den natürlichen Jahres-
zeiten abhängig war. Hierzu hat man ihn auch ursprünglich
nicht und später nur in beschränktem Maß gebraucht. Schon
vor vielen Jahren habe ich die Bedeutung des Umstands her-
vorgehoben, daß im ältesten Griechenland die Zeit auf zwei
verschiedene Weisen bestimmt wird, teils nach den Monaten,
teils nach den Auf- und Untergängen der Gestirne.* Die erst-
erwähnte Art ist hieratisch und offiziell. Selten werden die
• Röscher Abh. der sdchs. Ges. der Wiss., phil.-hist. Kl. XXI Nr.
IV, XXIV Nr. I und VI.
* Stud. de IHonysüs atticis, Dias. Lund 1900. S. 1 ff.
Die älteste griechische Zeitrechmmg, Apollo und der Orient 427
Monate nur beziffert, sonst sind fast alle — einige behaupten
alle — nach irgendeinem Fest benannt. Daß die Monatsrechnung
auch im offiziellen Gebrauch, z. B. in der Verwaltung und in der
Ansetzung der Volksversammlungen, vorkommt, beruht darauf,
daß jede offizielle Handlung eine religiöse Weihe hat.
Die Zeitbestimmung nach den Auf- und Untergängen
der Gestirne scheint zunächst poetisch zu sein, da sie uns
vornehmlich aus Hesiod und Vergil bekannt ist. Das ist aber
ein Irrtum; sie ist die praktische Rechnung derjenigen Leute,
deren Beschäftigungen sich nach den natürlichen Jahreszeiten
richten müssen, der Bauern und der Schiffer. Da Hesiod für
Ackerbau und Seefahrt praktische Ratschläge geben will,
bezeichnet er die Zeit nach den Auf- und Untergängen der
Gestirne — für ihn ist es kein poetisches Stilmittel; dazu wird
es erst durch seine Autorität bei den Späteren. Es war das
einzige Mittel, die von den natürlichen Jahreszeiten bedingten
Zeitpunkte zu bezeichnen, da die heliakischen Auf- und Unter-
gänge der Gestirne sich so unmerklich verschieben — um einen
Monat in zweitausend Jahren — , daß die Verschiebung erst
von einer sehr ausgebildeten Beobachtungsmethode bemerkt
werden kann. Hiermit verbindet sich natürlich die Beobachtung
der Zugvögel und anderer Naturerscheinungen, wie die Bauern
bis in die späteste Zeit sie gehandhabt haben. Bei Hesiod
finden sich zahlreiche Zeitbestimmungen dieser Art. Op. v. 448
*VT otv ysQÜvov (pcovifV ixaxov6T}g vpö&ev ix vscfscov iviavöia
xsxXrfyvCrjg, 486 ^/xog xöxxvt xoxxv^ti dgvbg sv :iixä).oi6i xh arpörov,
568 TÖv ÖB /teV {^Aqxxovqov) OQ^oydi] Ilavdiovlg cagto x^^^^^i
571 dXV otcöt av (psgsoixog aarö ;i;d^ovöj ä[i tpvra ßccCvT},
582 i}nog ds ffxoAv/itdg t' avQ^si xal rjxsxa xixxit dsvögtcj
ig)B^6^£vog Xi,yvQi]v xaxafivhx' aoidi]v, 679 ^.uog öi] xb ng&xov,
o6ov X ijcißäea xogavr] i'jjvog iTCoCijSsv, x666ov %ixaX'' ävögl
(pavtjTj iv xQccdi^ dxQoxdxrj.
In späterer Zeit kehrt dasselbe wieder: Zeugen sind die
Kaiendarien, welche für jeden Tag des Jahres die heliakischen
428 Martin P. Nilsson
Auf- und Untergänge der Gestirne, gewöhnlich , auch wie der
schwedische Almanach noch im Anfang des vorigen Jahr-
hunderts die Witterung und dazu, wenn auch selten, die An-
kunft der Zugvögel verzeichnen. Ein solches Kalendarium muß
auf das reine Sonnenjahr eingestellt sein, weil die Tage der
Mondmonate in jedem Jahr des Schaltzyklus verschieden fallen.
Die in Handschrift auf uns gekommenen bezeichnen daher die
Tage nach dem ägyptischen oder julianischen Kalender oder
gar nach den Tierkreiszeichen, worin sich die Sonne befindet.^
Anders waren die zu öffentlichem Gebrauch in der älteren
Zeit ausgestellten sog. Parapegmata eingerichtet, wovon sich
die Reste zweier Exemplare in Milet gefunden haben.^ Die
Tage sind nicht angegeben; anstatt dessen sind in den Stein
Löcher gemacht, in denen Täfelchen eingelassen werden konnten,
die den Tag des Mondmonates in dem laufenden bürgerlichen
Jahre nach dem Bedarf bezeichneten. Daher erklärt sich das
griechische Wort für Kalender naQOinriyn,a. Die milesischen
Kalender stammen aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert,
aber schon in der Kalenderreform des Meton war es der
springende Punkt einen Zyklus zu schaffen, nach dem das
Verhältnis zwischen dem bürgerlichen lunisolaren Jahr und
den Auf- und Untergängen der Gestirne sich regelte. Das
berühmte von Meton im Jahr 432 in Athen aufgestellte
Parapegma enthielt sowohl die Auf- und Untergänge der
Gestirne wie Wetterprognosen und hat viele Nachfolger
gefunden.^
' Herausgegeben von C. Wachsmuth, Lydns liher de ostentis et
calendaria graeca omnia, 2. Aufl. 1897.
* Die milesischen Parapegmenfragmente sind herausgegeben und
besprochen von Kehm Sitz.-Ber. der Berliner Äk. 1904, S. 92fiF. u. 752 JSF.
■' Diod. XII 36 iv Si rote elgritisvois ?r«ci xä aavga tr]v ütco-
xaxäßtaaiv ytoistrai xal xaO'ctTrep iviavTOV rivog (isyäXov tov &vcixvxlia(ibv
Xatißdvsi .... doxst dk ö «ivjjp ovros iv ry nQOQQi'jSsi xal ngoyQatpy
TuvTTf) 9av(ia<ftätg inirsrsvx^vai. rä yccQ cißtQU ti}* ts xlvriaiv xal rag
ini6r](ia6iag noielrai evncfävag ry ygatpfj. Lber die Nachfolger Metona
i^chol. zu Arat. v. 752 oi Sh iiträ Mirwva &ctqov6^oi xai Ttivaxag iv tatg
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 429
Nachdem also diese Art den Zeitpunkt zu bestimmen in
ihrer richtigen Bedeutung für das praktische Leben gewürdigt
worden ist — es mußte geschehen, da man sich einseitig dem
lunisolaren Kalender zuzuwenden pflegt — muß auch eine
Frage gestellt werden, die vielen vielleicht absurd vorkommt:
welche Art der Zeitbestimmung ist die älteste und ursprüng-
lichste in Griechenland? Die Bestimmung nach dem heli-
akischen Aufgang findet sich schon in der llias X 25 flP.
TOI' 6' ö ^'f'^wv ügiafiog JtQcbzog Tdiv otp^akuoiöiv
7ca(i(paivov9^ mg x aßrig. inieav^ivov neöioio.
og QU t" OTCcoQtjg sloiv, ccQttfi^oi di oi avyai
(paivovxai noXXoißiv ,u£t' ccötquöi vtrKxbg ä(iokym.
Ol' xs xvv' ^Slagicavog tTcixlrjöiv xakiovaiv'
XauTtQOXcaog usv o y iGxi^ ■mly.ov öi xs öf^ua xsxxrKxai
'Aui xs ipsQSt TtoXXbv :tvqsxov ösiXoiöi ßQOxoiaii'.
Ein moderner Leser, der nur an den Glanz des an dem
nächtlichen Himmel strahlenden Sternes denkt, verkennt die
düstere und unheilschwangere Stimmung des Bildes gründlich.
Erst wenn man sich die kniärmaöCa des Siriusaufganges, die
die Zeit der größten Hitze und des Siechtums, die sein Früh-
aufgang am Anfang der Fruchtlese heraufführt, vergegen-
wärtigt, wird man dem treffenden Bilde gerecht. Wie Sirius
in der Morgendämmerung des Hochsommers auf dem Himmel,
so tritt nun Achill auf dem Schlachtfeld hervor, alle andern
verdunkelnd und das Verderben heraufführepd.' — Als Odys-
7i6Xb6iv Id'Tixav Ttsgl xä>v xov T,liov negttpoQ&v tmv ivvsaxaidBxasxTiQtScav,
8x1 xad'' ixaSxov iviavxov zoiööSs Iötki ;|^£tf(di}v xal xoiövSs fap xal xoiovde
Q'dQOg xal xotövds (fd-ivöncagov xal roioids cvEftoi xal nollu ngog ßico-
tpsliels jrpstaj xcbv avd'gäTtav.
' Es ist kaum verständlich, daß dies hat verkannt werden können,
ganz besonders, da Homer selbst durch die Worte og qä x d-xatgrig
slaiv andeutet, daß er den heliakischen Frühaufgang, der die Zeit
der Fruchtlese einleitet, im Sinn hat, und die unheilvolle Bedeutung des
Siriusaufganges stark hervorhebt. Es kann nur dadurch erklärt werden,
daß der moderne Mensch von den Sternen nur einen allgemeinen Begriff
wie von Dekorationen des Nachthimmels sich macht und ihre genaue
Beobachtung zum Zweck der Zeitbestimmung, wie sie allen primitiven
430 Martin P. Nilsson
seus von der Insel der Kalypso heimwärts segelt, steuert er
nach den Pleiaden, dem „spät untergehenden Bootes", dem großen
Bären und Orion. Daß diese Art der Zeitbestimmung erst bei
Hesiod in geläufigem Gebrauch vorkommt, liegt klärlich nur
an dem Stofi" des Epos, das sich in anderen Kreisen bewegt.
Was nun die Monate betriffb, wird ein Monatsname von
Hesiod erwähnt, Lenaion op v. 504. Schon diese vereinzelte
Erwähnung ist an und für sich befremdlich, dazu kommt, daß
der Name ein ionischer ist; man versteht, daß viele Kritiker
den Vers oder die ganze Partie, worin dieser Name vorkommt,
als eine Interpolation oder eine Zudichtung haben ausscheiden
wollen Dem sei, wie es mag; sicher sind die Monatsnamen
ziemlich jungen Ursprungs. Sie wechseln in den verschiedenen
Städten sehr, und wo es bei stammverwandten und benach-
barten eine Übereinstimmung gibt, ist diese immer nur partiell;
einige Namen sind gegen andere vertauscht, und nicht selten
bezeichnet derselbe Name verschiedene Monate.^ Aus dem
Verhältnissen eigen ist, verlernt hat. Unter den Philologen hat die
Diskussion über die Bedeutung des Wortes vv^rbg aiioXyä) beigetragen
den Blick für das Sachverhältnis zu verschleiern. Unbeschadet der
Etymologie muß das Wort sich der von dem Zusammenhang geforderten
Bedeutung fügen, und die ist hier 'in der (Morgen)dämmerung'. Die Be-
deutung Dämmerung ist ferner notwendig X 317 f., wo das Wort die
Zeit, in welcher der Abendstern erscheint, bezeichnet, und 8 841, wo
Penelope träumt, während die Freier in See stechen, um Telemachos
aufzulauern (d 786 {livov S' inl iejisgov iX9sLv). An den beiden übrigen
Stellen Ä 17'2ff. und O 324 tf. handelt es sich um den Überfall der Raub-
tiere auf eine Herde; die Tiere gehen bald nach dem Sonnenuntergang auf
Raub aus. Auch diese Stellen können sich der als notwendig erschlossenen
Bedeutung fügen, sagen aber weder für noch gegen sie etwas aus. Wie
alle er.starrten Formeln wird auch diese bald verblaßt sein; Hymn.
Hom. III 7 ist die anschauliche Bedeutung geschwunden.
' Wir wissen in Wirklichkeit viel weniger Sicheres über die Ent-
sprechungen der verschiedenen Kalender als die Zusammenstellung der
Fasti an die Hand zu geben scheinen. Denn wenn derselbe Monats-
name in den Kalendern zweier Städte begegnet, wird er ohne weiteres
auf dieselbe Stelle des Jahres verlegt. Diese Voraussetzung ist aber
trügerisch; besonders in den dorischen Fasti führt die Namensgleichheit
(
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo and der Orient 431
Zustand der Kalender kann man den Schluß ziehen, daß die
Monatsnamen frühestens erst, nachdem die Inseln des Agäischen
Meeres und die Küste Kleinasiens von den Griechen kolonisiert
worden sind, entstanden sind. Die Übereinstimmungen zwischen
den verschiedenen Kalendern beruht hauptsächlich darauf, daß
bei stammverwandten Völkern die Feste, nach denen die Monate
benannt wurden, die gleichen waren, zum Teil vermutlich auch
auf einer Ausgleichung zwischen Städten, die miteinander in
lebhaftem Verkehr standen.^ Es fehlen also die Monatsnamen
nicht zufällig bei Homer; zu seiner Zeit bestanden sie noch nicht.
Es gibt aber bei ihm eine Monatszählung ohne Namen, die
an mehreren Stellen gebraucht wird; daneben werden oft neun-
und sieben(sechsHägige Fristen erwähnt. Hieraus hat man
geschlossen, daß Homer und mit ihm die griechische Urzeit
einen Monat kannte, der in drei Dekaden oder in vier Wochen
eingeteilt werde. Ehe wir das Bindende dieses Schlusses an-
erkennen, muß doch der Grund der Monatsrechnung untersucht
werden; es besteht nämlich für uns sehr leicht die Gefahr,
daß das Kalenderschema und die Aufteilung der größeren
Zeitperioden in kleinere, die sich in jene zahlenmäßig ein-
fugen, den Blick von dem physischen und sichtbaren Grund
abzieht, von welchem die Monatsrechnung ausgeht, nämlich
der wechselnden Gestalt des Mondes. Wenn man verstehen will,
wie die Zeit in der Urzeit berechnet wurde, muß man nach
dem Himmel und den Himmelskörpern, nicht nach den Ziffern
und auf das Papier schauen. Der abstrakten Vorstellungs weise von
dem Kalenderwesen, die unsere völlig konventionelle und papierne
sehr oft in die Irre; vgl. meine Untersuchnngen zu einigen dorischen
Kalendern Btdl. de V acad. des sciences de Danemark 1909 S 121 flF. Aber
auch in den ionischen Fasten kommen Diskrepanzen vor, z. B. entspricht
dem Apaturion bald Pyanopsion, bald Maimakterion, dem Artemision
bald Elaphebolion, bald Munychion.
* Ein deutlicher Fall ist die Aufnahme des dorischen Monat»
Panamoa in einige ionische Kalender (Delos nnd Priene), in Böotien und
Thessalien: dabei wechselt der Platz sehr.
432 Martin P. Nilsson
Zeitrechnung bei uns hervorruft, hat die Linguistik einen Vor-
schub geleistet, indem die Wörter für Mond auf die Wurzel
ma messen zurückgeführt werden ; schon für das indogermanische
Urvolk sollte so der Mond „der goldene Zeiger auf dem Ziffer-
blatt des Himmels" gewesen sein
Zugrunde liegen die wechselnden Gestalten des Mondes,
wie er auf dem Himmel erscheint. Diesen Ursprung zeigen
noch die griechischen Ausdrücke y.riv a£^6iisvog Hes. op.
V. 773 (lörcc^svog) und /ii)v (pd'ivcov „der zunehmende (hervor-
tretende)"* und „der abnehmende Mond", wie iiriv etymologisch .j
Mond entspricht. Diese Zweiteilung des Mondumlaufes ist die,
zunächstliegende und natürliche;^ sie hat sich bis in die hesio-*!
deische Zeit und wohl länger bewahrt. Hesiod folgt ihr anl
einer Stelle, die schon von Hermann angemerkt, nachher aber
vergessen zu sein scheint.'"' Der Vollmond aber, der in seinem
vollen strahlenden Glanz fast die ganze Nacht durch am
Himmel steht, muß dem Menschen einen sehr starken Eindruck
machen und sich kräftig von der schwachen Sichel des ver-
schwindenden oder des erst hervortretenden Mondes unterscheiden;
der Vollmond tritt so zwischen dem zu- und dem abnehmenden
Monde als charakteristische Erscheinung ein. So entsteht die
Dreiteilung des Monats von selbst, wie jede Erscheinung ganz
^ (t^v leväyiBvos ist in demselben realen Sinn zu verstehen. TU?
6 S' ißdo^os ^CTTjusi (islg (war hervorgetreten) ist dasselbe, was in einer
für unseren gerade auf diesem Gebiete durch viele Abstraktionen
abgestumpften Sinn vernehmlicheren Weise Hymn. Hom. III 11 heißt
8iv.axog \lsIs oigavä i6xrjQiv,to, der Mond stand am Himmel. Es be-
deutet also den auf dem Himmel hervortretenden Mond.
* Vgl. die schwedischen Ausdrücke tür die beiden Hälften des
Mondumlaufes: ny, wörtlich die Zeit des neuen, d. h. des zunehmenden
Mondes, und nedan, die des schwindenden Mondes.
* 0. Schrader ürgesch. u. Sprachvergl.^ II S. 229 ff., Röscher
a. a. 0. XXI S. 7. Die Hauptzeugnisse sind bei Homer der Formelvers
TO* (ihv (pQ'ivovtos iir}vos rov i' iatafiivoto, für Hesiod op. v. 780
Urivog d' ietaiiivov TpKJxatJexarrjv, der eine fortlaufende Rechnung der
Tage des zunehmenden Mondes voraussetzt.
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 433
natürlich in Zunahme, Kulmination und Abnahme zerfällt
Die Dreiteilung muß sehr alt sein, obgleich der sprachliche
Ausdruck für das zweite Drittel erst geprägt worden ist, nach-
dem das Wort /irjv zu der Bedeutung Monat übergegangen ist : es
heißt fii^v n£6(5v, iiiööog, nicht :tkri^c3v. Da sich aber sehr
früh das Bedürfnis fühlbar machen mußte die Zeit nicht nur
auf ein Ungefähr, sondern auf den Tag zu bestimmen, mußte
der Monat in drei gleiche Teile zerfallen, also die 27 Tage,
während deren der Mond gewöhnlich sichtbar ist, in drei
Perioden von je 9 Tagen, oder wenn die Tage, während deren
der Mond nicht sichtbar ist, mitgerechnet werden wie in Griechen-
land, in drei Dekaden. Die Neunzahl spielt bekanntlich bei
Homer und in der griechischen Religion wie bei den meisten
indogermanischen Völkern eine bedeutende Rolle.*
* Röscher hat a a. 0. XXI S. 47 die Aufmerksamkeit auf einen
tiefgreifenden Unterschied in der Zählung der hebdomadischen und der
enneadischen Fristen gelenkt. Während es bei diesen heißt .,neun Tage durch,
aber an dem zehnten geschah es", heißt es bei jenen „sechs Tage durch, aber
an dem siebenten geschah es". Man muß Röscher beistimmen, wenn er der
genauen Analogie zu folgen und sechstägige Fristen anzuerkennen ab-
lehnt; denn die typischen Zahlen sind eben sieben und neun. Es ist
also ein Unterschied in der Zählung zu konstatieren: bei der Neunzahl
wird der Wendetag der typischen Zahl zugerechnet (9-|-l), bei der
Siebenzahl wird er in ihr mit eingerechnet; es kommt also auf den
bekannten Unterschied zwischen der antiken und der modernen Zählxmgs-
weise heraus. Welche Art die ursprünglich griechische, sogar indoger-
manische ist, ist nicht zweifelhaft, wenn man sich z. B. nur der allgemeinen
Ansetzung der Schwangerschaft zu zehn Monaten erinnert. Neun voUe
Monate wird das Kind getragen, wenn der zehnte eintritt, wird es geboren,
also im zehnten Monat: es heißt zehnmonatig (vgl. z. B. Hymn. Hom. HI
11 oben S. 432 Anm. 1). In Babylonien wird der Wendetag mit ein-
berechnet: es heißt z. B. ,. sechs Tage und sieben Nächte", s. Hehn a.
a. 0. S. 41. Man kann sich keinen besseren Beweis für den fremden
Ursprung der Siebenzahl wünschen. Die beiden Zählungsweisen
können unmöglich ursprünglich nebeneinander bestanden haben,
da dies nur zu heilloser Verwirrung hätte führen können und sie eigent-
lich einander ausschließen.
Es stellt sich aber eine weitere Frage ein: wie sollen diese
Perioden von einer typischen Zahl -j- 1 aneinandergereiht werden? Soll
Archir f. Religionswissenachaft XIV 28
434 Martin P. Nilsson
Die Viertelung ist dagegen keine so natürliche Einteilung
wie die Dreiteilung. Die typische bildliclie Darstellung des
Mondes ist entweder die Sichel des zu- oder abnehmenden
Mondes oder das Rund des Vollmondes; typische Bilder der
Viertelphasen des Mondes existieren nicht; in unsrem modernen
Kalender sind solche nur als graphische Übersetzungen der
Wocheneinteilung geschaffen worden Es liegt in der Natur
der Sache, daß die siebentägige Woche nicht auf der unmittel-
baren Beobachtung des Himmels beruht, sondern eine zahlen-
mäßige Einteilung einer Zeitperiode von bestimmter Länge ist.
Nun gibt es bei Homer siebentägige Fristen; sie treten
in der Monatsrechnung früh auf, indem der siebente Tag des
Monats dem Apollo geheiligt ist; die Siebenzahl breitet sich
immer mehr aus und beherrscht schließlich die Spekulation
vollständig, wie die von Röscher gesammelten Stellen zur
Genüge beweisen. Auch in dem Orient hat die Siebenzahl
eine alles überragende Bedeutung — ~auch dafür hat Röscher
eine Menge Beispiele beigebracht — und hat sich der Monats-
rechnung bemächtigt. Hierbei ist es natürlich unzulässig, die
fortrollende Woche, deren Tage nach den Planetengöttern
benannt sind, heranzuziehen, wohl aber den assyrisch-baby-
der Wendetag usw. in die neue Periode mit einberechnet werden und
zugleich den Anfangstag dieser darstellen? Wenn die Periode in ein
bereits feststehendes Schema eingefügt werden soll, tritt dieser Fall ein,
wie das dritte Jahr der Trieteris zugleich der Anfang der nächsten ist,
d. h. daß die Periode in Wirklichkeit zwei Jahre umfaßt. Es läßt sich
aber auch denken, daß der Wendetag außerhalb der Reihe für sich
stehen bleibt und also in die neue Periode nicht einbegriffen wird. So
ist der Wendetag des Monats, die ivr] Kai via, der letzte Tag des
Monats, nicht der erste, wenn auch die Auffassung geschwankt hat;
denn sonst ist Hes. op. v. 770 kaum zu verstehen. Dies Verhältnis gibt
wohl einen Fingerzeig, wie aus der typischen Neunzahl die Dekadenein-
teilung des griechischen Monats entstanden ist. Der Wendetag ist zu-
gerechnet worden. Begünstigt wurde dies dadurch, daß nur so eine
gleichmäßige Einteilung des Monats sich schafiTen ließ; denn die An-
setzung eines besonderen Interluniums durchbrach die erwünschte
Gleichm äßigkeit.
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo xind der Orient 435
Ionischen Monat, in welchen das siebentägige Schema fest
eingefügt worden ist, so daß jeder siebente Tag, der 7., 14.,
21. und 28. ein besonderen religiösen Geboten und noch mehr
Verboten unterstehender Tag, ein Sühnetag, Schabattu, ist,
gleichwie auf den siebenten Tag des griechischen Monats die
Sühnungs- und Reinigungsfeste, deren sich Apollo angenommen
hatte, verlegt wurden.'
Vielleicht i.st jemand geneigt zu behaupten, daß da, wo
zwei typische Zahlen, die kein einfaches Verhältnis zueinander
haben, konkurrieren, die eine doch am wahrscheinlichsten von
außen eingeführt worden sei. Das wäre aber nur eine vage
Vermutung, und die Last des Beweises fällt hier dem zu, der
einen fremden Ursprung behauptet. Die Sache liegt auch
nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte.
Denn obgleich beide Zahlen Ruhepunkte in der Zählung der
Monatstage sind, waltet der Unterschied ob, daß die enneadische
Frist eine Zeiteinteilung ohne andere Bedeutung ist, während
der siebente Tag vorwiegend einen religiösen, lustralen Charakter
hat. Vor der Zeit, die für die eventuelle Entlehnung der
siebentägigen Fristen in Frage kommen kann, ist das babylonische
Gewicht nach Griechenland gekommen, und nach dieser Zeit
haben die Griechen von Babylonien die Einteilung des Tages
in zwölf Stunden und wenigstens einige der Zeichen des
Zodiakus übernommen.* Es kommen also noch andere Momente
hinzu, und die Frage kann so gestellt werden: Ist es wahr-
scheinlicher, daß in Griechenland zwei typische Zahlen selb-
ständig entstanden und miteinander konkurrierend auf die
Zählung der Monatstage verwendet worden sind, oder daß die
Siebenzahl von Babylonien entliehen ist, wo diese Zahl auch
für die Zählung der Monatstage verwendet wird und vor allem
religiöse und superstitiöse Bedeutung hat, besonders da die
' S. besonders J. Hehn Siebenzahl und Sabatt bei den Babyloniern
und im alten Testament (Leij.ziger semit. Studien II 5).
* Boll Sphaera S. 181 ff.
28»
436 Martin P. Nilsson
Grriechen sowohl vor wie nach der für diese Entlehnung in
Frage kommenden Zeit gerade von demselben Lande Zahlen-
systeme und Einteilungen von Gewicht und Zeit entliehen
haben? Es scheint mir, daß die Antwort nicht zweifelhaft
sein kann.
Es gibt aber noch einen Grund, der für den babylonischen
Ursprung der lunisolaren Zeitrechnung im allgemeinen spricht.
Die älteste Monatsrechnung, die auf der unmittelbaren Beob-
achtung des Mondes beruhte, mußte notwendig eine fort-
rollende sein, die in keinem gebundenen Verhältnis zu dem
Sonnenjahre stand; es diente dazu, durch die Zahl der Monate
und die Phasen des Mondes kürzere Fristen anzugeben. Zu
der Bestimmung solcher Zeitpunkte, die von dem natürlichen
Jahr abhängig waren, Jahreszeiten u. dgl., diente die Beob-
achtung gewisser Naturerscheinungen besonders der heliakischen
Auf- und Untergänge der Gestirne, welches das vollkommenste
Mittel hierzu ist. Später ist der Mondmonat mit Not und
Mühe in Verbindung mit dem Sonnenjahr gebracht worden und
verdrängt allmählich die Berechnung nach den Gestirnen trotz
des Übelstandes, daß die Entsprechung mit dem natürlichen
Gange des Jahres sehr mangelhaft ist: jene andere Rechnung
hat sich daher immer, besonders bei den Bauern und den See-
fahrern gehalten. Der lunisolare Kalender ist seinem Ursprung
nach religiös: erst nachdem er auf dem religiösen Gebiet die
volle Herrschaft gewonnen hat, ist er in das bürgerliche Leben
eingeführt worden. Dies ist verhältnismäßig spät geschehen';
' Die Verse
&XX' oTs TStQcctov ijJ^sv ho^ Kocl iltl'jXvQ'OV ^QUl
^ir]väv cp&ivövrav, tcsqI 6' i'jfiata itöXX' izeXiC^T]
kehren wieder r 152 f. und <a 142f.; x 469f. ist der erste Vers etwas
anders, x 469 f. und üj 142 f. fehlt der zweite Vers in vielen Hss. und
wird auch von den meisten Editoren eingeklammert. Im r fehlt er
zwar nur in einer Hs. (cod. Augustanus); da aber die Erzählung von
dem Gewebe der Penelope in od eine wörtliche Übertragung aus r ist,
ist es nicht ersichtlich, warum er in u fehlen sollte, wenn er ursprüng-
lich in T gestanden hätte. Der Vers wird ursprünglich auch in x gefehlt
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 437
in Athen hat es Solon durchgeführt^. Erst dadurch, daß
die Monatsrechnung mit dem Sonnenjahr ausgeglichen wird,
wird sie zu einer wirklichen Zeitrechnung, und nun erst
können die Monate Eigennamen erhalten. Das Mittel, wo-
durch dies bewirkt wird, die Ansetzung von Jahren mit
verschiedener Zahl von Monaten, d. h. die Einschaltung eines
dreizehnten Monats in gewissen Jahren, ist aber gar nicht so
einfach und selbstverständlich, auch wenn man annimmt,
daß die Schaltung anfangs willkürlich ohne irgendein System
vorgenommen wurde; man braucht dazu, wenn ein praktischer
Erfolg möglich sein soll, eine bestimmende und weitreichende
Autorität. Die Entdeckung ist schon früh in Babylonien
gemacht worden, wo wenigstens die jüngeren Monatsnamen auf
die Beschäftigungen der Jahreszeit hindeuten. Es ist kaum
glaubhaft, daß die Griechen von selbst auf dieses System ver-
haben, aber hier zuerst eingefügt worden sein und seinen Weg auch zu
den anderen Stellen gefunden haben. Das iTiiilv^ov agai, ist die ältere
Weise nach den Jahreszeiten zu rechnen; das {irjväv (f^ivovzav ist von
irgendeinem Jüngeren hinzugefügt worden, der die lunisolare Rechnung
nicht vermissen wollte.
* Diog. Laert. 12,11 rj^iaös ts rovs 'A^rivuiovq ras ■fniigug xccra
«clijVTjv ccyBiv. Plut. Solon 25 Iviot di tpaaiv Idicag, iv ols hga xal ^vaiai
nsgiixovxai^ xvgßsig, a^ovag dh tovs aXXovg divofi.äed'ai,. Bekk. An. 1
p. 86 s. V. Fsvieia wird I^öXav iv zolg ä^oet durch die Vermittlung
Philochoros' zitiert. Es ist also dadurch geschehen, daß Solon Opfer-
fasti der wohlbekannten Art, von der wir viele Beispiele in den In-
schriften besitzen, aufgestellt hat. Da er durch diese jede Unsicherheit
in der Zählung beseitigte, konnte die Monatsrechnung auch zum all-
gemeinen bürgerlichen Kalender werden. Seine Gesetzgebung auf dem
religiösen Gebiet ist aber noch umfassender gewesen, vgl. Plut. Solon 23
tig (liv ys tu Ti/tTj/tara rä>v 9v6i,&v Xoyi^STUt itgoßccrov xal dQaxiiijv dvrl
ficdijtvov und ccg yäg iv rm ixxaLdsxaTtp xäv &^6v(ov ögi^si Ti(icig zmv
ixxgizav legBicov xtX. Diese muß unter dem Beistand des delphischen
Orakels zustande gekommen sein ; auch wenn die beiden Orakel in Kap. 9
u. 14 spätere Erfindungen sind, spricht für enge Beziehungen Solons zu
Delphi die von Aristoteles verbürgte Nachricht, daß er den Beschluß
eingebracht hat, wodurch die Amphiktyonen den Krieg gegen Kirrha
ankündigten (a. a. 0. Kap. 11).
438 Martin P. Nilsson
fallen sind, besonders da sie schon ein für das praktische
Leben viel geeigneteres System, die Zeiten des Sonnenjahres
zu bestimmen, besaßen.
Wie schon gesagt ist der lunisolare Kalender hieratiscb.
Dies wird dadurch bewiesen, daß fast alle Monate nach den
Pesten und nicht wie in Babylonien wenigstens zum Teil nach
den Beschäftigungen der Jahreszeit benannt sind, und ferner
dadurch, daß die Feste ihrer Lage nach an einen bestimmten
Tag des Monats gebunden sind. Dies ist für viele Feste sehr
wenig bequem, nämlich für alle diejenigen, die wegen des
Ackerbaues gefeiert werden und also von der Jahreszeit ab-
hängig sind. Wegen der wechselnden Lage des Monats im
Sonnenjahr kann es vorkommen, daß z. B. ein Vorerntefest wie
die Thargelien erst während oder nach der Ernte gefeiert wird.
Der hieratische Kalender hat jedoch die natürliche Affinität
der Feste mit den Beschäftigungen, denen sie gewidmet sind,
zu besiegen vermocht.
Die Bindung der Ackerbaufeste an einen bestimmten Tag
des Mondmonats widerspricht schnurstracks der Bestimmung
der verschiedenen Beschäftigungen des Ackerbaus nach den
Auf- und Untergängen der Gestirne und kann nicht ursprünglich
sein. Sie ist von dem religiösen Charakter der Monatsrechnung
bedingt, das heißt, daß erst mit der Monatsrechnung die Lehre
von der Bedeutung der Tage des Monats aufgekommen ist.
Ein Anhang zu den "^Werken' des Hesiod sind die 'Tage', eine
Liste dessen, was an den verschiedenen Tagen des Monats
getan und vermieden werden soll. Es schwebt über diesem
Teil der Geist eines ängstlichen, bigotten Aberglaubens, dessen
letztes Wort ist vnsQßaöias dXeeCvav v. 828. Die Forderungen
des praktischen Lebens, welche die ' Werke' nüchtern und sach-
gemäß darlegen, wiegen dagegen federleicht. Während die
'Werke' die Ernte bei dem Frühaufgange der Plejaden vorzu-
nehmen empfehlen (den 19. Mai julianisch), schreiben die 'Tage'
vor, sie an dem elften und zwölften Tag des beweglichen
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 439
Monats vorzunehmen I Das Anhängsel wird daher allgemein
dem Hesiod aberkannt, es ist aber gar nicht jung.^
Der Glaube an die besondere Bedeutung der verschiedenen
Monatstage hat auch die Götter in sein Bereich gezogen, und
zwar so, daß einem Gott ein bestimmter Tag zu eigen gemacht
wird. Dieser Tag sollte eigentlich allmonatlich wiederkehren,
und Spuren davon finden sich auch. Die ältesten Zeugnisse
über die Göttergeburtstage reden nur von dem Tag im Monat, nicht
von dem Jahrestag.* In der Regelung des Tempeldienstes, d. h. in
dem engsten Gebiet des Kultus, haben die allmonatlich wieder-
kehrenden Handlungen eine große Rolle gespielt, wie noch er-
sichtlich ist, obgleich wir gerade über diese Einzelheiten sehr
schlecht unterrichtet sind.' Auch hier hat die Zählung der
' Die Tage' v. 765 — 828 sind kein einheitliches Stück, wie schon
der doppelte Anfang und der doppelte Schluß, in den dazu zwei Sprich-
wörter eingelegt worden sind, zeigen. Die Annahme einer gewollten
Kegelmäßigkeit in der Tagefolge ist das einzige Hilfsmittel der Analyse.
V. 770 — 784 enthalten Tage von dem 1. bis zum 16. der Reihe nach auf-
gezählt. V. 785—804 erwähnen folgende Tage in dieser Ordnung 6. 8
20. 10. 14 4. 5 : darauf folgen v. 805—818 mit dem 17., 19., 29. Tag,
wobei jedoch v. 809, der den 4. erwähnt, entfernt werden muß. Es
besteht also eine richtige Reihe, die durch eine Zwischenpartie unter-
brochen wird, und daß diese Partie eine Einlage ist, wird durch ihren
besonderen Charakter bestätigt. Während sonst allerlei Beschäftigungen
erwähnt werden, bezieht sich die Einlage fast nur auf das Geschlechts-
leben, schreibt den Tag für die Eheschließung vor, bestimmt die Be-
deutung der Geburtstage der Menschenkinder, nennt ferner die Tage,
an welchen die Haustiere kastriert werden sollen, womit eine andere
Vorschrift über die Zähmung der Tiere verbunden wird. Es scheint
also dies eine von den gleichartigen Versen 782 ff. veranlaßte Einlage
zu sein, die die Tagewählerei unter einen bestimmten Gesichtspunkt
gestellt hat. In dem Folgenden sind wie gesagt v. 809 und femer
v. 819—821 auszuscheiden; die letzteren sprechen von dem 4. Tag und
sind sprachlich nicht in Ordnung zu bringen. Ks bleibt dann eine der
Reihe nach geordnete Liste übrig; ob die Einlage viel jünger ist, läßt
sich nicht sagen. Sehr groß wird der Unterschied nicht sein; beide
sind wie desselben Geistes so wohl auch derselben Zeit Kinder
* W. Schmidt Geburtstag im Altertum (RGW VE 1) S. 12 f
' Belege für allmonatliche Kulthandlungen sind an und für sich
spärlich. Solche sind die bekannten ini^iivia der Exechtheusschlange
440 Martin P. Nilsson
Monatstage die genaue Observanz in den Kultus eingeführt.
Bezeichnend sind die heortologischen Gesetze Piatons, de leg.
VIII p. 828 ; die Monate werden auf die zwölf Hauptgötter
verteilt, denen allmonatliche Opfer gebracht und Feste gefeiert
werden sollen. Das ist eine Schematisierung der vorhandenen
Tendenzen. Die Gesetzgebung über die Feste soll nach Piaton
im Einverständnis mit dem delphischen Orakel geschehen.
Auch das ist bezeichnend; denn da wir wissen, welche Rolle
Delphi später in der Regelung des Kultus gespielt hat, kann
es nicht zweifelhaft sein, daß der delphische Gott in der vollen
Jugendkraft seines Einflusses, als er sich zu der ausschlag-
gebenden religiösen Autorität in Griechenland aufgeschwungen
hat, in dieser Beziehung eine noch größere Bedeutung gehabt
hat. Von dieser Regelung ist die Bestimmung der Kultuszeiten,
auf der Akropolis, Hdt. VIII 41 ; die Opfervorschrift für Herakles im
Kynosarges rcc 8h ini^'^via Q-vsTca 6 iBQSvg ^etcc rmv Ttagccdixav, Athen. VI
234 E (BGH VIII 1884 S, 378 Nr. 8 gehört einem kleinasiatischen Kultus an).
An dem Todestag des Agamemnon feiert Klytämestra mit Chören und
Opfern d'solöiv ^(ifiriv' Iequ rotg 6(oxriQioig, Soph. Elektra v. 281; das
zeugt nicht nur für Totenopfer, sondern auch für andere allmonatliche
Begehungen. Bezeichnend ist, daß nach dem Ausweis der delischen
Rechnungsurkunden das Heiligtum jeden Monat gereinigt wurde. Hierzu
kommen die Vereine, die sich zu einer allmonatlichen Feier zusammen-
schlössen (Poland Gesch. des gr. Vereinswesens S. 252f.) und die Geburts-
tagsfeier in dem späteren Herrscherkultus, die sehr oft jeden Monat
begangen wurde (Schmidt a. a. 0 S 14), gerade wie die Geburtstage der
Götter ursprünglich auf den Monatstag, nicht auf den Jahrestag bestimmt
sind. Von einem Freigelassenen wird festgesetzt 6xs(pavovta Sh xarcc (liiva
vov^r}VLa xal kßdo^ia) tccv ^iXovoe sinova (die apollinischen Tage!),
Wescher - Foucart Inscr. de Delphes Nr. 142. Die Kultusbeamten, die
die allmonatlichen Handlungen besorgen, hießen int(n]vioi. Der Name
entspricht zwar mitunter den attischen Isgonotoi (Hesych s. v.) undi
bezeichnet manchmal später Beamte, die eine jährliche Feier besorgeaj
{Gr. Feste S. 78 A. 3), und natürlich auch nichtreligiöse Beamte (Prytaneaj
OGl^ 229 Z. 30 mitNote, andere Belege im Index zu SIG * und in Herwerdenftj
Lex.Suppl.^; hinzuzufügen ist Arch. Am. 1906 S. 16, Milet, aus dem 5. Jahr-J
hundert). Der Name kann doch nicht mißverstanden werden und zeugt!
für die monatliche Regelung des Kultus. Dem entspricht, daß häufigJ
ini,iir']viot, unter den Beamten der Vereine vorkommen, s Poland a. a. 0.1
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 441
d. h. ihre Bindung an den lunisolaren Monat, der ein großer Teil
von Solons Gesetzgebung gewidmet war, ein Hauptstück.
Neben den monatlichen Opferhandlungen mußten aber die
alten großen Jahresfeste ihre überragende Stellung behaupten,
weil die allmonatliche Wiederkehr einer Feier allzuhäufig
war, um sie zu einem großen Fest zu machen. Sie haben
ihren Einfluß so geltend gemacht, daß der Tag eines bestimmten
Monats, natürlich desjenigen, in den das Hauptfest des Gottes
fiel, besonders geheiligt wurde. ^ Die Bestimmung des Tages
in dem betreffenden Monat war aber von dem dem Gotte
heiligen Monatstag abhängig. Auf diesen Tag wurden die
Feste des Gottes verlegt, an dem Fest geschah die Epiphanie
des Gottes, und der Tag der Epiphanie wurde von selbst zum
Geburtstag des Gottes, gerade wie die älteste Kirche den
Geburtstag des Heilands am Epiphanientag feierte.
Leider ist unsere Kenntnis des griechischen Festkalenders
sehr mangelhaft, jedoch sind die bekannten Data sehr belehrend.
Die Feste sammeln sich mit einer auffallenden Dichtigkeit um
zwei kurze Perioden, den 6., 7. und den 10. — 14. (16), besonders
aber um den 1 2.- Auf diesen Tag fallen mit vereinzelten Aus-
* Vgl. A. Mommsen Feste der Stadt Athen S. Iff., Gruppe Gr. Myth.
S. 938 A. 4. Es ist eine Verkennung des Sachverhalts, wenn behauptet
wird, daß alle Feste ursprünglich monatlich gewesen sind; man über-
sieht die Tatsache, daß viele der großen Feste, vor allem die Ackerbau-
feste, ihrem Zweck nach nur einmal im Jahr gefeiert werden können.
* Ich gebe eine Liste der dem Datum nach bekannten Feste, wobei
Unbedeutenderes und Vereinzeltes ausgelassen ist. 5 Genesia. — S.Opfer
an Artemis Agrotera (das Marathonfest), Eisiteria der Artemis in Mag-
nesia a. M., Opfer an Agathos Daimon in Böotien, an Poseidon Phyt-
almios auf Rhodos. — 7. die ApoUonfeste, s. o. — 8. Theseia. — 10. Opfer
an Demeter, Köre, Zeus Buleus auf Mykonos, an Dionysos Baccheus da-
selbst, an Hera auf Kos. — 11. Fest des ZeusSoterin Telmessos. —
12. Lenäen, Anthesterien, die großen Dionysien (?), Dionysia auf Deloe,
Opfer an Dionysos Leneus, Zeus Chthonios und Ge Chthonia auf Mykonos,
Thesmophoria, Skirophoria, Fest des Zeus Machaneus auf Kos, des ZeusSoter
in Magnesia a. M , Kronia, Charitesia, zwei Poseidonfeste in Sinope. - 1 4. oder
16. Dipolia. — 16. Synoikia, Munychia. — 20. Fest des Zeus Batromios auf
Kos. — 23. Diasia. — 25. Plynteria. — 28. Panathenaia. — 30. Chal-
442 Martin P. Mlsson
naiimen die dem Tag nach bekainnten Feste für Dionysos, für
die Thesmophoriengötter und Poseidon; die Zeusfeste sind
dagegen mehr zerstreut. Es sind also besonders die Tage vor
dem Vollmond mit Festen besetzt, und es ist zu bemerken,
daß die meisten dieser Feste dem Wachstum und dem Acker-
bau gelten. Zugrunde liegt die weit verbreitete Vorstellung, daß
alles, was gedeihen und zunehmen soll, während des zunehmenden
Mondes vorgenommen werden soll; daher wird der zwölfte Tag des
Monats von Hesiod als der allerbeste Tag füralle Geschäfte, be-
sonders für das Einheimsen der Ernte genannt. Er ist auch ganz be-
sonders mit Festen besetzt; der Zusammenhang ist unverkennbar.
Die andere Periode umfaßt den 6. und 7. Tag; von diesen
beiden ist aber der 6. weniger bedeutend; für diesen Tag
kennen wir nur zwei Artemisfeste und ein paar unbedeutende
Opfer. Um vieles wichtiger ist der siebente, auf welchen alle
Apollonfeste, deren Tag überliefert ist, verlegt sind : Thargelien,
Pyanopsien und Delphinien in Athen, Kameen in Kyrene und
Sparta; die Epiphanie und die Geburt des Apollo wurden au]
diesem Tag in Delphi und auf Delos begangen; die Hebdomaial
in Milet waren sicher ein Fest des Apollo, und der Name
lehrt, daß der staatliche Teil des Festes auf den 7. verlegt sein
mußte ^; noch zu erwähnen sind ein Opfer an Apollon
Hekatombeus auf Mykonos und die Delien auf Kos. Die Opfer,
die aus Gründen, die unten dargelegt werden sollen, an anderen
Tagen des Monats dem Apollo dargebracht werden, sind derart,
daß sie die Regel, daß der 7. der besondere Kulttag des
Apollo ist, gar nicht umstoßen, und dieser Tag hat für ihn
keia. — Wo ein Fest sich über mehrere Tage erstreckt, ist der Hochtag.
wo dieser bekannt, sonst der Anfangstag angesetzt. Für die Belege sind
Mommsens Feste der IStadt Athen und meine Griech. Feste, Index I
einzusehen; nachzutragen ist für das Datum der delischen Dionysien
Bull, de corr. hell. XXXIV 1910 S. 177.
' Die Hebdomaia sind uns nur aus den Satzungen der milesischen
Molpoi bekannt (Sitz.-Ber. der Berliner Ak. 1904 S. 622), die den 8.,
9. und 10. feiern; der 7. fällt bei der Gilde aus, weil an diesem Tag
die staatliche Feier stattfand. Vgl. meine Griech, Feste S. 170f.
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 443
eine ganz andere ausschließliche Gültigkeit als die Tage der
anderen Götter für sie: denn diesen kann ein Fest auch an
einem anderem Tag gefeiert werden, dem Apollo eigentlicli nur
an dem 7. Hieraus folgt, daß die Verbindung zwischen einem
Gott und einem Monatstag von Apollo ausgegangen und auf
dem Weg der Analogie auf die anderen Götter ausgedehnt worden
ist; daß also die Tagewahl und Apollo eng verbunden sind. Es ist
bemerkenswert, daß die Feste des Apollo nicht wie die anderen
Feste eine Vorliebe für die Zeit kurz vor dem Vollmond zeigen.
Dies besagt mit anderen Worten, daß Apollo und die
siebentägige Frist eng verbunden sind. Dies bestätigt bekannt-
lich Hesiod, der ihn an dem 7. geboren werden läßt, das
beweisen Beinamen wie ißdöfniog, ißdofiaytTag^iemer seinGeburts-
tag, der in seinen beiden Kultcentra auf den 7. verlegt wird —
die Geburtstage der anderen Götter spielen in der Überlieferung
eine untergeordnete Rolle und sind z. T. aus sehr durchsichtigen
Gründen erfunden, z. B. ist Artemis an dem Tag vor dem
Zwillingsbruder, am 6., Athena, die XQiro'yeveia, am o. geboren.
Röscher hat mit zahlreichen Beispielen nachgewiesen, wie die
Siebenzahl die größte Rolle in der Mythologie und dem Kultus
des Apollo und in allen Sühnzeremonien spielt. Die grund-
legende Tatsache ist die Verbindung ApoUos mit dem 7.
Monatstag: von hier ausgehend ist die Siebenzahl zu ihrer
herrschenden Bedeutung gelangt: daß sie, wie Röscher nach-
gewiesen hat, in der Heilkunst eine so große Bedeutung hat,
beruht darauf, daß Apollo ursprünglich der große Heilgott ist.
Apollo hat aber noch andere Verbindungen mit der Monats-
rechnung. Der erste Tag des Monats war ihm heilig; er heißt
deswegen vov^r^viog. An einem Apollonfest am Neumonds-
tage überwältigt Odysseus die Freier^; am ersten wie am
siebenten Tag jeden Monats werden in Sparta dem Apollo
Opfer dargebracht, und Apollon Numenios erhält auf Delos
* V. Wilamowitz Born. UnUrs. S. 54, Ed. Meyer Hermes 27 (1892)
377, W. Schmidt Geburtstag S. 88.
444 Martin P. Nilsson
ein Opfer am ersten Lenaion. ^ Auch der 20. war dem Apollo
heilig-, es wurde ihm ein Fest gefeiert und er sollte an diesem
Tag geboren sein und trug den Namen shdSLog. Es zeigt
dies, wie eng das Band zwischen dem Gott und der Monats-
rechnung geknüpft ist. Er führte mit sich den 7. als seinen
heiligen Tag; da aber die Teilung des Monats in vier sieben-
tägige Wochen nicht durchdringen konnte, weil sie einer
älteren Dekadenrechnung von praktischer Art begegnete, sind
dennoch die Anfangstage der Hauptabschnitte des Monats dem
Schutz des Apollo unterstellt worden mit Ausnahme, soweit
wir wissen, des Anfangstages der zweiten Dekade, der dem
eigensten Tag des Apoll zu nahe kam.
Es besteht ein tiefer und enger Zusammenhang zwischen
dem Reinheits- und Sühnverlangen, das den Kern und die Trieb-
kraft der apollinischen Religion bildet, und der ängstlichen
Beobachtung der günstigen und ungünstigen Tage. Die Tabu-
vorschriften bei Hesiod v. 724 — 764 sind eine vollständige
äußere und innere Parallele zu der Tagewahl v. 765 — 828.
In Griechenland hat es wie bei allen Völkern seit unvordenk-
lichen Zeiten Tabus und Regeln gegeben, und solche sind wie
in die hesiodeische so in die pythagoreische Sammlung auf-
genommen worden. An diese hat sich die apollinische Religion
angeschlossen, obgleich sie nicht direkt zu ihr gerechnet werden;
die 'Tage' bei Hesiod sind von Zeus, nicht von Apollo. Wir
> Vgl. Usener Rhein. Mus. XXXIV (1879) 421, welcher ein inake-
donisclies Grabepigramm, Kaibel Nr. 518, Philochoros und die Zahlen-
mystik der pythagoreischen Schule, die nicht die VII sondern die I
als apollinisch behandelt, anführt. Usener hat wohl im Sinn Philoch.
fr. 181 ^i,X6xoQog dh iv t& Jtepi ijfisQäv ^HXlov x«i 'Ajt6XX<javog X^yst
wbrrjv (ttjv tvrjv). Die fVrj muß aber zu Philochoros' Zeit der letzte Tag
des Monats gewesen sein, und gewöhnlich schließt man aus der Stelle,
daß auch dieser dem Apollo heilig gewesen ist. Weniger Gewähr hat
es, daß auch der Vollmondtag dem Apollo gefeiert sei. Plut. Üion c. 23
berichtet von einem dem Apollo an einem Vollmondtag begangenen
Fest; dieses war aber von ^Äufälliger Art und beweist keinesfalls, daß
dieser Tag dem Apollo geweiht war.
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 445
kennen die apollinische Religion fast nur in ihrer späteren
geläuterten Form. Für ihren ursprünglichen Charakter ist es
belehrend sich zu vergegenwärtigen, mit welch engen Banden
man Apollo mit dem Stifter der Schule, die die Zahlenspeku-
lation und die Regelung des menschlichen Lebens in allen
Einzelheiten nach superstitiösen Maximen am weitesten getrieben
hat, zu vereinigen versucht hat. Schon Aristoxenos sagt, daß
Pythagoras die meisten seiner ethischenLehrsätzevonThemistokleia
in Delphi erhalten hat' — es ist dies ein typischer Name für
eine Orakelpriesterin. Sein eigener Name ist ein redender, der ihn
als das Sprachrohr des delphischen Gottes hinstellt.* Seine
Mutter wird Pythais genannt, und obgleich man sogar aus
einer Äußerung des Heraklit seinen Vater Mnesarchos kannte,
dichtete man, daß er in Wirklichkeit von Apollo gezeugt sein
sollte.^ üsener hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß
die Pythagoreer Gottesnamen mit Zahlen gleichzusetzen pflegten,
und daß die Gleichung auf das Hauptfest des Gottes ge-
gründet war.* Das ist die konsequente Weiterentwicklung
von dem apollinischen Siebenten.
Das spezifisch Apollinische wurde aber von einer etwas
anderen Seite gefaßt. Wer jene alten Regeln übertrat, setzt«
sich der Gefahr aus, die die Übertretung eines Tabu immer
mit sich führt. In jeder primitiven Religion wird dieser Zu-
stand als ansteckend gefaßt und kann durch gewisse Handlungen
getilgt werden. Indem nun die Anschauung von dem Miasma
und der Befleckung stärker wird und die Notwendigkeit der
Sühnung betont wird, entsteht jener der apollinischen Religion
eigentümliche Geisteszug. Wenn Stengel die Kathartik der
urgriechischen Zeit abspricht, so ist dies an und für sich unrichtig,
insofern Sühnehandlungen (z. B. die Thargelien) immer vor-
gekommen sind; aber es ist dem richtigen Gefühl entsprungen,
' Aristoxenos bei Diog. Laert. VUI, 8.
* R. Eisler Weltenmantel inid Himmelszelt S. 6«2 ; er vergleicht tretfend
Ttvlayögai. » Porphyr, vita Pyth. 2. * Bhein. Mus. LVIII (1903) S. 356.
446 Martin P. Nilsson
daß die Kathartik erst durch den Siegeszug Apollos in System
gebracht und zu einer Macht geworden ist. Apollo ist zu dem
Gotte aller Sühne in der griechischen Religion geworden, nicht
nur der Mordsühne, sondern auch der Sühne im kleinen. Wer
dies erkennt, versteht die Macht, die die apollinische Bewegung
über die. Gemüter ausgeübt hat. Das Sühnebedürfnis wirkte
auf die Beobachtung der Übertretungen, diese auf die Wahr-
nehmung der superstitiösen Regeln zurück. Was früher los-
gerissene Stücke des Volksglaubens gewesen waren, wurde
durch die Notwendigkeit der Sühne zu einem System, das
noch durch neue Elemente wie die Tagewahl erweitert
wurde. So regelte es das Leben der Menschen bis in Einzel-
heiten hinein und machte sich durch formalistische Scheu und
Angst die Gemüter Untertan. So hat jene Bewegung, die mit Recht
als die apollinische Religion bezeichnet werden kann, obgleich sie
mehr als das dem Apollo spezifisch Gehörige umfaßt, ihren
mächtigen Griff nach den Menschen im Anfang der griechischen
Geschichte getan. Sie schafft berühmte Zentra, von welchen
aus sie sich missionierend verbreitet, was in der griechischen
Religion sehr selten, aber für die apollinische bezeichnend ist.
Die Läuterung und Hebung der apollinischen Religion
von diesem stark primitiven Standpunkte zu der Höhe, auf
der wir sie z. B. bei Aischylos finden, ist eine der glänzendsten
Taten des griechischen Geistes; die Schlacke ist dem Orphi-
zismus und anderen Sekten zugeworfen worden. Das Glück
Griechenlands ist es gewesen, daß die Verbindung der ver-
wandten Elemente wieder in die ursprünglichen Teile zerfiel;
die Tabus und superstitiösen Regeln setzten sich in dem niederen
Aberglauben fort, denn die Griechen waren nicht superstitiÖB
genug, um in allen Kleinigkeiten formelle Sühne zu erheischen;
daher ist der Sühnegott von jenen Quisquilien freigeworden.
Dagegen hat er den anderen Teil, die Sühnezeremonien in
wirklich bedeutenden Fällen wie bei der Mordsühne, der
Reinigung der Städte, dem Abwenden schädlicher Einflüsse
Die älteste griechische Zeitrechnung, Apollo und der Orient 447
von den Äckern behalten. Indem die Griechen so die ihnen
angeborene- Abneigung gegen die Deisidaimonie auch hier
betätigt haben, haben sie Apollo zu dem machen können,
was er dem späteren Griechentum ist. Vor uns st^ht er
in dieser verklärten Gestalt, der alten Zeit müssen wir aber nicht
diesen, sondern ihren eigenen weit primitiveren Maßstab anlegen.
Apollo ist der Patronus der Monats rechnung, er ist wie
kein zweiter mit einem besonderen Monatstag, dem siebenten,
verbunden; hiervon ist die Tagewahl nur eine Weiter-
entwicklung; die Beobachtung der besonderen Bedeutung der
Monatstage stimmt vortrefflich zu dem eben geschilderten
Charakter der apollinischen Bewegung. Wie stimmt aber dieser
Zusammenhang mit dem orientalischen Ursprung von der
Bedeutung der Siebenzahl, den ich wahrscheinlich zu machen
gesucht habe? Nun ist es eine Annahme, die, seitdem v. Wila-
mowitz dafür eingetreten ist, immer mehr an Boden gewonnen
hat. daß Apollo kein einheimisch griechischer Gott ist, sondern
aus Kleinasien eingewandert ist; zu den von ihm dargelegten
Gründen habe ich in meinen Griechischen Festen einen neuen
zu fügen gesucht, indem ich auf einige heortologische Tat-
sachen hingewiesen habe, die nur auf diese Weise eine Er-
klärung finden. Der Regel nach kommen die großen religiösen
Bewegungen von auswärt« nach Griechenland, und die apol-
linische macht keine Ausnahme. Von ihrem Heimatslande
muß sie die treibenden Kräfte, die Sühneforderung und die
Beobachtung gewisser Regeln und Tage mit sich geführt haben;
in Griechenland ist sie mit einheimischen verwandten Elementen
verschmolzen und hat so die Gemüter sich Untertan gemacht.
Kleinasien ist aber eine Etappe auf dem Wege nach Babylonien.
Ich denke, die beiden Hypothesen stützen einander gegenseitig.
Es läßt sich so aus den Fragmenten der Überlieferung
von den Bewegungen der Frühzeit ein Bild erschließen, das
auf bestimmtem Gebiet eine Schuld der griechischen Kultur an
448 Martin P. Nilsson
die babylonische wahrscheinlich macht. Die Griechen kannten
seit altersher das Sonnenjahr, dessen Zeiten durch gewisse
Naturerscheinungen und recht früh durch die wegen ihrer
Genauigkeit hierfür besonders geeigneten heliaki sehen Auf- und
Untergänge der Gestirne bezeichnet wurden, und einen an
das Sonnenjahr nicht gebundenen Mondmonat, der nach den
typischen Phasen des Mondes in zwei, später drei Teile zerlegt
wurde, wobei als typische Zahl die Neun im Spiel war. Die anders
geartete und berechnete typische Zahl, die Sieben, die in Baby-
lonien religiös bedeutsam ist, und die siebenten zu tabuierten Tagen
gemacht hat, verbreitete sich von dort zugleich mit dem ge-
bundenen Monat (dem lunisolaren Kalender), in den sie als
Schabattu^ fest eingefügt war, westwärts und hat sich in Klein-
asien an einen Gott geheftet, der sich der religiösen Regelung
des menschlichen Lebens besonders durch Reinigungen hingab,
den Apollo. Vermöge seines Charakters hat dieser Gott sich
auch Griechenlands bemächtigt, indem er an verwandte ein-
heimische Glaubenssätze anknüpfte. Diese a potior! apollinisch
genannte Bewegung, deren werbende Kraft in der Forderung
von skrupulöser Genauigkeit in dem Betragen der Menschen
gegen die Götter liegt, hat zuerst die Beobachtung auf den
heiligen Tag des Gottes, den siebenten, und ferner auf die
Bedeutung anderer Monatstage gerichtet, und dai-um wurden
die Feste auf bestimmte Monatstage festgelegt. So hat der
lunisolare Kalender zuerst auf dem religiösen Gebiet gesiegt,
und von dort ist er in bürgerlichen Gebrauch eingedrungen.
^ Gegen die Annahme, daß der lunisolare Kalender babylonischen
Ursprungs ist und daß die Heiligung des Siebenten dem babylonischen
Schabattu entspricht, könnte jemand einwenden, warum nur der 7. und
nicht auch die übrigen Schabattus, der 14., 21., 28. übernommen worden
sind. Die Antwort ist die, daß die religiöse Viertelung die ältere
praktische Dreiteilung nicht zu verdrängen vermochte, und daß die
Grundzahl leichter durchdringt als die Multipeln , die ihre Bedeutung
aus der Grundzahl herleiten.
AAIBAKTEi:
Von O. Inunlsoh in Gießen
1
Das rätselliafte Wort, mit dem wir uns beschäftigen wollen,
war eine Bezeichnung für die Toten, so viel kann aus der zu
entwirrenden Überlieferung gleich' vorweggenommen werden.
Eine Schwierigkeit, die schon die Mehrzahl der Alten
vom richtigen Wege fortgelockt hat, ist zunächst dadurch ent-
standen, daß gleich beim ältesten der offenbar nur sehr spär-
lichen Zeugnisse, über die man verfügte, bei Hipponax (fr.
102 B), eine andere Bedeutung vorlag. Da hieß das Wort
Essig. Orion 30, 14: äXißa^ 6 vsxQog, zagä tö lißdöa xal
vyQÖTfjta firi sxiiv. %6xi xagä 'IxxavaxxL xal ixi tov otovg.^
Dem Hipponax verdankte das glossematische Wort
Callimachus in dem Hinkiambus fr. 88 Sehn., aus dem
Artikel äXCßag im Etym. Genuinum, den de Stefani (Et. Gud.
p. 87) unter Nach Weisung der Parallelüberlieferung so dar-
bietet: alCßag' 6 vexgbg 6 ^rjgög, (lij %x(ov voxCda xal Xißdda
xvvd- oi yäg t,ävxsg vygoL aXCßag dh xal tö 5tog xivdg <pa0i.
KaklCfiaxog -^ß^^^y olov aUßavxu xCvovxsg
xagd TÖ /ti^ XeCßs6&aL xal Gnivöse^ai.
Obwohl man hier nicht mit Bentley olvov äXlßavxa^
schreiben darf, so hat der große Philologe doch sicherlich das
* Die Bedeutung Essig kennt u. a. auch Herodian 2, 656, 5 und
30 L. (er sichert die Betonung als Paroxytonon). Irrtümlich behauptet
Enstath zu i 201, daß hinsichtlich der Betonung älißag und aXixgag
(richtig äXtXQÜs) zusammengehörten; vgl. Schwabe zu Ael. Dion. et
Paus. fr. 32.
* Es ist wohl olov oi äXißavra zu schreiben, mit scriptura plena statt
mlLßuvra oder ulißavra (nicht mit Bergk und andern nlißavra; vgl.
«»v^^ca^rot bei Herodas 4, 33, wozu jetzt aus den nach Einreichung des
Archiv f. KeUgiosawiaaanschaft XTV 29
450 0. Immisch
Richtige getroffen, wenn er, die Grammatikererklärung bei-
seite schiebend, die ursprüngliche Bedeutung vsxqos auch in
dem Gebrauche des Wortes für 'Essig' fordert. Der Essig ist
ein vinum mortuum. Diese Auffassung blickt gelegentlich
auch noch aus den Notizen der Alten selbst durch, sie hat
aber vor der anderen, wonach der Essig aXCßag heißt, weil er
zu keiner 'Spende' dienen kann, den Kürzeren gezogen. So
ist bei Suidas unter äUßag sicher zu schreiben: 7} dXCßag xal
TÖ 8|og, ocTcb tov ^rj XsCßsöd-uL, <^> ort vBvsxQcaiiivog
otvög söTiv. Denn obwohl r) auch in der von Gaisford be-
seitigten Wiederholung der Worte, hinter öi,£Cdiov, fehlt, so
lesen wir doch unter Kt^q richtig: xal t6 ö^og ds aXCßavtcc
g)tt6iv, ort vEvsxQca^Bvog olvög s6ti. Übrigens knüpft auch
diese Deutung an Xißdg an^, nur nicht im Sinne von Spende.
Das lehrt Eustath zu X 202: ort xal 6 öi,vg olvog äXCßag
xal avxog ixaXetto, Xöyco dQL^vtrjtog (i. e. acute, ingeniöse),
ov naQa 6tsQrj6iv Xißädog ro6ovrov (om vsvsxQCOfisvog), äXXä
scagä ro /ii^ XsCßeöd^ai iv 67Cov8alg. Bei Photius (p. 74, 25
Reitzenstein) ist bezeichnenderweise die Möglichkeit der ersten
der zwei Auffassungen ganz ausgeschaltet.
Aufsatzes veröffentlicliten Jamben des Callimachus selbst zahlreiche
Krasenbeispiele zu fügen wären, aber neben scriptura plena; vergl.
oi ixitai 275. Die Aspiration wie bei Herodas schwankend). Es
brauchte nur olov, welche Lesung gegen das von Bentley bevorzugte
olvov jetzt als authentisch gelten kann, mit abgekürzter Endung ge-
schrieben zu werden, so war haplographischer Ausfall des Artikels oi
ungemein naheliegend (in der Korruptel ißr\iavol cz liegt das zutage).
Die Länge der ersten Silbe in aXißavra, an die außer Bentley auch
Lobeck glaubte (path. proll. 289), wird dadurch ausgeschlossen, daß die
Grammatiker zur Erklärung a privativum verwenden. Wäre dabei, was
Lentz (Herod. II 666) für möglich hielt, an Fälle wie u9dvatog gedacht,
80 hätte Herodian ScUßag schwerlich mit 'A(psidas und 'Axä^ag zusammen-
gestellt.
* Der tatsächliche Ursprung der Bezeichnung oivog äXißag oder
vsvsxQa}[iivog wird ein ganz anderer sein. Den Alten war nicht un-
bekannt, daß im Essig trotz seines derptrov die 'Essigälchen' auftreten,
oxwArjxsg, Ol yiyvovtai ix zfjg tibqI to S^og IXvog (Aristot. «. ^mov iar. 562 b 4).
AXißavxig 451
Stand äXCßag 'Toter Wein', 'Essig", wie nach Callimachus'
Nachahmung und nach dem Orionartikel doch wohl mit
Sicherheit anzunehmen ist, schon bei Hipponax ohne den
Zusatz olvog, so war das Wort schon damals, in lonien we-
nigstens, seiner eigentlichen Bedeutung entfremdet. Dazu
stimmt gut, daß die Toten weder in den erhaltenen Resten
der epischen Poesie cüCßavrsg heißen^, trotz des schönen hexa-
metrischen Tonfalls, noch in den Resten der archaischen
Lyrik. Man darf das betonen, da die Grammatiker offenbar
nach Belegen auf der Suche gewesen sind Die einzigen
zwei Belege aus älterer Literatur, die es noch gibt, finden
ich in Attica, bei Sophocles und Plato. Der erste der beiden
bedarf aber einer genaueren Feststellung.
In fr. 903 (2. Aufl.) hat Nauck, wie seine Vorgänger
auch, dem Dichter mit Unrecht das Wort zugeschrieben.
Weil der Hesychartikel äUßag, worin Sophocles gar nicht
genannt wird, unter anderen Bedeutungen auch von einem
Berge des Namens spricht*, darf man noch lange nicht einen
zweiten Hesychartikel damit verbinden, wonach bei Sophocles
ein Berg ^AXvßag vorkam. Man soll in dunkler Überlieferung,
solange es geht, Getrenntes getrennt halten. Hier fordern es
sowohl die sicheren homerischen Namen 'AXvßij und ^AXvßag,
wie Herodians Nebeneinanderstellung von ccXißag und ^^iv/Saj
(1, bo, 14 L.). — Ganz anders steht es dagegen mit Soph.
fr. 722 (2. Aufl.). Hier hat Nauck umgekehrt dem Dichter
zu wenig gegeben und ihn um das entscheidende Wort bringen
wollen. Eustath erläutert zu 0 284, wie Achill mit Mut er-
füllt wird. Der Held fühlt es selber, wie er ÖLsgä nodl
xad-' "O^rjQov (t 43) ^ x^^P^r yövv xarä Ssöxqlxov (14, 70)
^ Auch aus den später zu behandehiden Worten Piatos (Eep. Hl
387 B) folgt nicht notwendig, daß Plato eine bestimmte oder gar eine
'homerische' Dichterstelle im Auge hatte, an der das Wort vorkam.
* Wobei obendrein zweifelhaft ist, ob ögog nicht für ö^og ver-
schrieben ist.
29*
452 0- Immisch
€xov ßaivEi, xal ovnco dsog elg ccXCßavta xaransöelv uvtbv
l&vTi no8l xQfoiievov, äg q)if}6i 2Joq)oxXf}g. Nauck will nur
^&vtL Ttodl %QG}yisvog als sophocleiscli gelten lassen (warum
dann nicht t,Givxi %o8C allein?). Daß dies nicht richtig ist,
lehrt die nähere Betrachtung eines viel genannten Stückes
aristarchischer Homerinterpretation, seiner Auffassung des
Wortes di8Q6g (vgl. Lehrs, Arist^ 47 ff.). Es heißt nach ihm
■^lebendig', und zwar ist dabei das Leben als das (Warm)-
feuchte im Gegensatz zum (Kalt)trockenen genommen. Schon
für Aristarch waren deshalb duQog und ccUßag eng verbundene
Kontrast Wörter; vgl. Scholl, g 201 (wo Aristarchs Name für
die Gleichung diSQog = ^&v genannt ist): 6 ^av, cog ix tov
svuvtCov ccXCßavrsg ol vsxqoC (H). ^(3v iQQa^isvcag xal Ixficc-
dog ^srsj(,G}V. ri^v iisv yccQ ^coriv vygotrjg xal d^SQ^aßCa 6vv-
s^st, tov ÖS d-dvatov tl^vxQotifjg xal ^rjQaeCa. od^Bv xal dXi~
/3avT5g ol vsxQOi, Xißdöog (itj (istsxovtsg (PQV). Diese Lehre
ist, wie wir noch sehen werden, die herrschende. Auch Eustath,
dem dadurch das Wort dXlßag so vertraut wurde, daß er es
in seiner eigenen Kunstprosa verwandte^, hat sie mehrfach:
außer an der Stelle mit dem Sophocleszitat auch zu ^201,
X 202, H 239.
Wie kam aber Aristarch zu dieser Verkoppelung des
homerischen mit einem, wie wir sahen, durchaus unhomerischen
Worte? Die 'i,riQa6la alles Toten hätte doch auch an anderen
Ausdrücken, etwa an ß(ov d^aXetjv, oder wenn's nicht Homer
sein mußte, an dem Avaivov XCd-og der 'Frösche' erläutert
werden können (vgl. Didymus, Schol. ran. 186. 194 nebst
Eust. zu ^ 201). Aristarchs Verhalten erklärt sich aber sofort,
wenn er seine Interpretation auf irgendeine alte Autorität
stützte, und eben diese hat uns Eustaths Sophocleum wirklich
erhalten. Betrachtet man daraufhin die Worte genauer, so ist
doch klar, daß Sophocles mit ^(ovtl nodl Homers dtsQö aadl
' In der Lobrede auf den Märtyrer Demetrius c. 28 (p. 172 Tafel):
rovtov mg sinatv &XlßavTa, to roi» ftägtvgog y^lror, x.tl.
AhßavTfg 453
geradezu parapkrasiert, ganz nach Aristarchs Sinne, und die
so merkwürdige Gegenüberstellung mit dem Worte aXißa^
findet sich desgleichen vor, wenn wir nur alle Worte Eustaths
für den Tragiker in Anspruch nehmen. Auf die Herstellung
der Verse selbst wird man verzichten müssen, um so mehr, als es
vielleicht gar nicht Trimeter waren. Die oben (S. 449, Anm. 2)
schon erwähnte falsche Messung der Anfangssilbe ist nicht
der einzige Grund, weshalb die im Pariser Thesaurus 1, 1, 1467
vorgeschlagene Fassung unannehmbar ist (ovaro dios ig
äXCßavra xaxaaeöHv avrbv xodi ^ävti . . . x9<^P^^vov). Im
Prinzip hat aber der Urheber dieses Versuches die Ausdehnung
des Zitates gegen Nauck sicher richtig beurteilt.' Das dürfen
wir zuversichtlich behaupten, da sich unsere Ansicht noch von
ner anderen Seite her auf das erwünschteste bestätigen läßt.
In den von Eustath mitgeteilten Worten ist nämlich der
Ausdruck elg aXCßavra xarcczsOslv an sich höchst auffällig,
sowohl das Verbum, wie namentlich auch der Singular des
Substantivs. Hätte man das rein für sich zu erklären, so
läge es nicht fem, ja es wäre eigentlich das Natürliche, in
dem dunklen Worte vielmehr einen roxog iv "Aidov zu sehen.
Und in der Tat, eben diese Möglichkeit taucht, wie wir gleich
sehen werden, in der Grammatikerüberlieferung öfter auf.
Bald ist unbestimmt von einem ronog die Rede, einmal von
einem Berg, öfter von einem Fluß, wohl einer Art Feuerfluß,
denn die Vorstellung der lebensfeindlichen %r^Qa6la, der Mangel
an Xißäg, beherrscht auch diese Ausdeutung. Ihr Entstehen
ist, wenn auch ihre Richtigkeit zweifelhaft bleiben muß, nach
der SophoclessteUe jedenfalls völlig verständlich, die dann
natürlich den fraglichen Ausdruck slg ciXCßcana xccraxeöelv
notwendig mitumfassen mußte. Die lokale Deutunsr von
aXCßas kann dagegen nicht entstanden sein aus dem anderen
' Richtig auch Wagner fr. 797 und Dindorf fr. 751. Hören läßt
es sich, wenn man mit Brunck ovnca dt'os auf Eustaths Rechnung setzen
will; vgl. Ellendt-Genthe, Lex. Soph. 27.
454 0. Immisch
Zeugnis, das den Alten, wie uns, aus der älteren Literatur
allein noch zur Verfügung gestanden zu haben scheint (vgl,
unten S. 455, Anm. 2). Bei Plato^(Rep. III 387B/C) ist kein
Anlaß, dXCßavTsg anders als vsxqoC zu deuten. Er zählt ver-
werfliche övofiata dsLvu r£ xal (poßsgd auf: Kwxvtovg te xal
UTvyag xul ivEQOvg xal dXißavxag xal alla, o6a rovxov xov
TVÄOv övoiia^ofisva (pgCttsiv dii noui Sag oXitai ndvrag xovg
dxovovtag} Wie immer man über evsqol denkt, mag man es
von svsQ&siv) her als inferi fassen oder es mit den Alten an
SQa ^Erde' anknüpfen, so viel ist klar, die vier Beispiele
ordnen sich zu zwei Paaren, zwei Bezeichnungen von lokalem
Charakter und zwei für die Toten selbst. Wie zwingend das
ist, lehrt am besten die Scholienüberlieferung, aus der hervor-
geht, daß man den Versuch, dXCßavxag auch bei Plato lokal
zu erklären, wohl oder übel aufgeben mußte. Parisinus A hat
das Scholion^: ivsQovg xovg vsxQOvg^ dxb xov ev xfi SQa, o
iöxiv yfi, xsiöQ-ai. dXißavxag 8e xonovg iv "AlSov slvai
fivd'svovxaL, diä xijv T^g Xißadog dfisd'sh,Cav xäv vExgmv
(ebenso natürlich Venetus t, der nur noch xal vor ^vdsvovxai
einschiebt). Die anderen Quellen haben dagegen den zweiten
* Ficinus übersetzte aXißavtag mit nihil gustantes (die nichts libiert
bekommen). Nicht wenige Platohss. verdeutlichen die Etymologie durch
die Orthographie äXsißavras, selbst Allt haben so von erster. Hand.
Doch steht die Kürze der zweiten Silbe durch das Callimacheum fest.
— Das vielbesprochene und schon in jungen Hss. mit Konjekturen be-
dachte mg oi'srat kann hier unerörtert bleiben.
* Es ist wohl ohne weiteres einleuchtend, daß diese Fassung sich
erklärt aus der Abhängigkeit von Cornutus ^tciSq. 34 p. 235 G.: ivTuv^sv
vnovor]riov xal rohg aXißccvrag (iBfivd-sva&ai <!JT6novg'^ iv "Jiäov Fivai
{sloi codd.), diä ri}v rfjg XißdSog aiLsO-s^iav t&v vexQwv. Die Verbesserung
wird durch den Vergleich mit dem Platoscholion gefordert. Lang tilgt
die ganze Stelle mit Unrecht. Beachtenswert ist übrigens, daß Proclus
(1, 118, 13 Kroll) sich über &Xißavrag ausschweigt. Desgleichen meidet
das Wort die Vorlage Plutarchs (der es selber ganz gut kennt) in der
von Plato abhängigen Erörterung in der Schrift nmg öei rbv vbov noir]-
fiuT(av ccKo-vsiv 17Bff. Das Timaeusglossar in seinem jetzigen Zustande
versagt auch.
AXißavTSS 455
Satz so: äUßavrug ds ronovg kv "AiÖov ri xal avrov^ rovg
vsxQOvg voTjtsov, diä xiiv tfig hßddog dpLS&stCuv. Die
lokale Auffassung war eben bei der Platostelle gar zu un-
natürlich. Entstanden ist sie, das wird man zugpben müssen,
sicherlich nicht durch Plato, sie stammt demnach höchst-
wahrscheinlich aus der offenbar als sehr wichtig erachteten
Sophoclesstelle.'
Mag nun auch zweifelhaft bleiben, in welchem Sinne der
Tragiker dXCßag als nomen ordnum verwandte, der bei ihm
vorhandene Gegensatz zu ^cai^t (d. h. disgä) noSC zeigt jeden-
falls, daß die Deutung „ohne hßdg" bis auf Sophocles zurück-
seht.-
' Man beachte, daß auch in der lexikographischen Überlieferung
ein Doppelartikel umläuft: uXißavrsg oder aXLßavxag (zu Plato) und
uXißas (zu Sophocles).
* Eb genügt, die Zeugnisse dafür in der Anmerkung zusammen-
zustellen, so daß das schon Angeführte ergänzt wird. Zu Didymus (fr.
248 Schm.) und Comutus inidg. 34, beide schon erwähnt, tritt der
Arzt Athenaeus Ton Attalia und seine Schule bei Galen ■x. xgäßBap
1, 3 (I, 522 K.). Es folgt Plutarch 3«. conv. 8, 10, 736 A (zitiert von
Eustath zu ^ 201) und aqua an ignis utiiior 2, 956 A. Erwähnt sei
auch der Scherz Lucians, der einen infernalischen Demagogen Kgaviav
Hixslsriavos Nfxvßisvg qpi?Ä^^ 'AXißavTiöoi nennt (Xecyom. 20). Die
Scholien und Lexika sind meist schon angeführt. Bei Hesych imter
aXißag erscheint neben einem rätselhaften vsxQÖg j] ßgov^og auch Ttora-
(t,6g und oQog (falls das letztere nicht o|os ist). Das Gewöhnliche hat
er unter aXißavteg und diagöv. Alle drei Bedeutungen (vsxQÖg, noray^bg
iv "AiSov. ö|os) stehen bei Suidas unter äXißag und in Bekkers Aneed.
376, 21, sowie in Reitzensteins Photius 74, 25. Ein Unterweltsfluß, der
80 heißt ano zov a-narra ^r^gcclvtiv xal .UTjdf lißäda i/«tr (also wohl ein
Feuerstrom) im Et. M. unter Kaxvrög und (neben dem Essig) bei Suidas
unter Kj]q, auch in Rabes Lucianscholien 43, 3flF. Die Tradition der
Etymologika und Zugehöriges im übrigen geordnet von de Stefani an
der oben S. 449 genannten Stelle. Die Sache gehörte nicht nur in den
Artikel cdißag selbst; vgl. Et. Gud.: älißag Ttaocc rö Xißäda xal v'/qö-
Tr\ra ui] ixsiv. xal sig tö 'A^a xal Zawvoi xal 'TyiTig und demnach
unter afta bei Orion und i'/itj? bei Orion, Et. Gud. und Magn. —
Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch angeführt, daß der Aus-
druck auch ins Lateinische übergegangen ist: abantes mortui (mg.
recentissima manu alibantes et alia quaedam quae legi non potuerunt.
456 0. Immisch
2 1
Ist nun diese antike Deutung möglicli? Tovg vsxQovg
avaCvsöd-ai xal aXCßavtag slvai^ wie Didymus sagt, stimmt an
sich gut zu den Vorstellungen, daß die Toten die Trockenen,
Dorrenden, Durstigen sind; vgl. Gruppe, Gr. Myth. II 831.
Die Wortbildung — privatives a und Suffix ani am Stamme
von Xslßa — , diese zunächst außerordentlich befremdliche
Bildung würde man hinnehmen müssen. Denn angeknüpft an
Muster wie ddä^ag äxä^iag, wo aöaiiutog äxtt[iarog vermitteln
konnten^, haben wir ein ziemlich genaues Analogen in zweij
homerischen Namen, in ^sCdag {N 691) und dem schon von
Herodian mit ccXCßag zusammengestellten ^Afpsiöag (o 305).
Die Differenz zwischen st und dem durch Callimachus füi
ttXCßag gesicherten t fällt kaum ins Gewicht. Die durch-
gefühlte Bedeutung schloß in dem einen Falle (ganz ab-Tj
zusehen von der Menge andrer Namen mit Osid-) die Namens-
bildung an (psCdoiiai, cpsudd), (peidcolTJ an, in dem anderen
Falle konnte verständlicherweise der Zusammenhang weniger]
mit XeCßß) selbst als mit Xißdg, XCßog, Xißgög usw. naheliegend]
sein. Denn 'ohne Spende' war ja bei der Sitte der Toten-j
spenden sinnlos", erfordert war 'ohne (Lebens)saft'. Man kann
schließlich auch das nicht gegen die Analogie von 'Aq)eLdag\
einwenden, daß dies Wort insofern andersartig sei, als es eine]
ausgesprochen aktive Bedeutung habe, der 'Nichtsparer' oder
'Verschwender'. Diese Interpretation, das sei nebenher be-
merkt, ist schon deshalb höchst unwahrscheinlich, weil sie fast]
cod. Sang. 912; quos (qd Vat.) greci elibantes appellant, codd. Casain.!
218 et Vat. 1469, saec. X) C Gl L IV 201. Ferner in den Exzerpten aus]
Glossarien des IX. und X. Jahrh. abantes mortui quos greci alibantesl
(vi aliuantes, aliquantes) appellant ibid. V486. Des Lucilius abzet (absens^
Marx 681) hat nichts mit der Glosse zu tun (Goetz C Gl L VI 1, 11).
* Vgl. Brugmann Griech. Gramm.' § 214.
* Vermutlich deshalb lesen wir im Et. M. unter üXißavTug den]
ganz vereinzelten Einfall: aiXoi <^rovf>- diä nsviav cctd(pove (wohlj
nachlässig für ScenovSovg).
AXißavTBg 45*T
mit Notwendigkeit zur Textänderung führt Odysseus fingiert
ein Personale: vibs ^AtpsCöavtog noXvni]y.ovC8ao avaxrog, av-
räo ifioC "/ övo/i' iGTiv 'EjtTJQitos- Wer hier unter ^Atpsldus
den 'Verschwender' versteht, kann freilich den 'Leidenreich'
als Vater nicht gebrauchen, sondern wünscht einen 'Güter-
reich' zu haben und wird deshalb im Anschluß an Cobet
UoXvTia^fiovCdao ändern (ygl, Cauer, Grundfragen' 148). War-
um aber soll 'Acpsidag nicht 'ün verschont' heißen, passiv und
zuständlich wie^ASd^ag,'j4xä(iag? Auf 'Un verschont' führt auch
'E:ti]Qirog, das doch wohl der 'Bestrittene', 'Bekämpfte' be-
deutet. Also auch semasiologisch steht der Name 'AcpsCdag
für ein ccXCßag, im antiken Sinne aufgefaßt, mit hinreichender
Analogie ein. Die Bildung selbst, so au^llig sie sein mag,
wir müßten sie hinnehmen. Dennoch wird jeder das Gefühl
haben, daß etwas Künstliches und Unbefriedigendes in dieser
antiken Lehre steckt. Das liegt einmal daran, daß mit keißa,
Xißdg nicht der richtige Ausdruck für die Sache gewählt wäre.
In der Bedeutung 'Spende' ist es völlig unmöglich, und 'Naß',
* Feuchtigkeit' kann darin nicht in jenem gleichsam vitalisti-
schen Sinne stecken, der doch vorausgesetzt wird. Denn
*tropfen', 'träufeln' ist hier die primäre Vorstellung.^ Man
erwartet zu solcher Bildung vielmehr ein Wort verwendet zu
fiinden, wie etwa Ixiidg, ganz abzusehen davon, daß als das
beseelende Element nach ältester Auffassung, wenn es nicht
als 'Hauch' erscheint, das Blut betrachtet wird, wozu XsCßa
Xißäg usw. gewiß keine ursprünglichen Beziehungen haben.'
Und dazu kommt noch, daß wenigstens Plato von den dXC-
ßavTsg denn doch eine ganz andere Vorstellung gehabt zu
' Dies wird besonders auch deutlich aus Hesychs Äiii-- Ttirga, a<f'
TIS vd(OQ ffrajsi, wonach auch das bei Richtigkeit der antiken Deutung
mit äXißas unmittelbar zu vergleichende aXtil)- ithga zu erklären ist,
offenbar jittQa Irjpa, aqp' rig vSwg (li} crajfi.
* Wenn ich nicht irre, ist die Beziehung zwischen 'Wasser' und
'Leben' ursprünglich eher semitisch als griechisch: vgl. R. Smith Die
Religion der Semiten (deutsch von Stube, Freiburg 1899) S. 95. 132.
458 0. Immisch
haben scheint. Er zählt den Ausdruck zu denen, a (pgCrtsiv
TtoLSi Tcävtag tovg ccxovovtag. Und vbqteqol ^die Unter-
irdischen' hat auch diese Wirkung. Aber die 'Saftlosen', die
'Dürren', oder richtiger die 'Tropfenleeren', war darin das J
(pQLxädsg wirklich so außerordentlich groß, daß das Wort als
ein besonders schauerliches aus der Zahl der übrigen hervor-
gehoben zu werden verdiente? Vielleicht hat solche Erwägungen,
ganz alleinstehend, schon der antike Gelehrte angestellt, dessen
Meinung wir bis jetzt beiseite gelassen haben und dem wir
uns nunmehr zuwenden wollen.
3
Das Wort war bei Hipponax belegt, und zwar in einem
von dem ursprünglichen bereits entfremdeten Sinne, welcher
Sinn aber allerdings die Anknüpfung an [lij XsißaeQ^ai (= /x-^
öjtsvdsö&ai) nahelegen konnte. Es war mithin keinesfalls
ausgeschlossen, daß ein äußerer Zufall des Wortes ursprüng-
liche Bedeutung verdunkelt hatte. Einen Anlaß dazu konnte
die ionische Psilose geboten haben. Die Späteren, und
zwar schon Sophocles, waren vielleicht nur hierdurch, weil
das Wort undurchsichtig geworden war, zu ihrer irrigen Auf-
fassung gelangt. Wie? Wenn die Toten, soweit der fragliche
Ausdruck sie bezeichnete, ursprünglich die auf dem Meere
Wandernden oder Schweifenden, wenn sie Halibanten
waren? Das wäre eine formal wie sachlich tadellose grie-
chische Bezeichnung, passend namentlich für solche, die auf
dem Meere umgekommen waren und deren Seelen nun ge-
heimnisvoll über dem Wasser wandeln. In wohlverständlichem
Gegensatz hätte gerade diese Totengeister Plato neben die
evBQOi gestellt, die andere Art Totengeister, die in der Erden-
tiefe hausen. Schauerlich, wie es die Platostelle erfordert,
wären diese Halibanten auch, sie würden sich ja nahe genug
den fürchterlichen Harpyien zugesellen, Seelen wesen, die zu-
gleich Sturmgeister und Menschen hinraffende Todesdämonen
AXißavxBS 459
sind. Man könnte in der Tat ganz selbständig auf diese
Lösung des Rätsels verfallen. Sie ist aber bereits antik. Der
um seines letzten Teiles willen bereits S. 455, Anm. 1 an-
geführte und wohl sicher auf die Platostelle bezügliche Artikel
aus Et. M. unter a/.ißccvrag (verschieden von dem Artikel
äXißag) lautet: xovg iv d^aXdäörj raXsvrjjöavTag. ^ tov^
^)iQO-vg. aX'/.oi <.xovg> Öiä asviav cerdcfovs-^ Ich meine, die
alte und zugleich neue Deutung ist schlagend richtig.
Auf das Meer als Totenreich in größerem, religions-
geschichtlichem Zusammenhange hier einzugehen muß ich mir
versagen, schon weil mich solcher Versuch auf mir nicht aas
erster Hand vertraute Gebiete führen würde. Noti onmia
possiimus omnes. Kenntnisreichere und Mutigere werden diese
Lücke überreich auszufüllen wissen -. Für das Dämonische an
der Fähigkeit des Wasserwandeins finden sich Belege ge-
sammelt bei de Jong, Das antike Mysterienwesen (Leiden 1909)
S. 294 ff. Natürlich fehlen dabei auch die Stellen nicht, wo
der Heiland seinen Jüngern über dem Seespiegel wandelnd
erscheint. Matth. 14, 25fiF.: xai 186vxb<s ccötov oi fiad'rjxai ixi
lijv d-ccXa66av nsQmaxovvTCi iragccx^rjCav Xsyovrsg, ort
tpaönard 86ti. xal anb tov <p6ßov sxgatav; vgl. Marc. 6,
48 ff., Joh. 6, 19. Die Angst vor den ^Seewandlem' zeigt sich
auch in der Wundererzählung Phylarchs von den pontischen
Thibiem (fr. 68 FHG 1, 354). Sie besitzen die geheimnisvolle
Gabe der Seegespenster, non posse mergi, ne veste quiäeyn
degraratos. aber sie sind zugleich bXi^Qioi; sie haben den
bösen Blick, ja mehr noch: t6 ßXenpoc xal Tir)i/ ävaTCvoriv xai
xi]v diäXsxxov avx&v xagaöaxo^svovg x'^xeö^ul y.al voötlv.
* Sylburg und Gaisford drucken im Lemma at.ißdvTas. Wenn das Ge-
währ hat, so ist es doch hinsichtlich des Akzentes unerheblich ; vgl. ivxäßag,
xüXißag, oicgißag. — Ob übrigens Hesychs a/.ißccTst' ccqiavi^si in diesen Zu-
sammenhang gehört, möge unentschieden bleiben; Tgl. ä/.ißdvsn\ — Noch
sei bemerkt, daß Ellendt für i] robs ^riQovg. was doch die verbreitete Lehre
andeuten soU, ^ tovg StcI ler/js woUte (Lex. Soph. von EUendt-Genthe 27).
* Vgl. Radermacher, das Jenseits im Myth. d. Hell. (Bonn 1903) 73ff.
460 0- Immisch
Immerhin erscheinen die Zeugnisse für den Glauben an die
'Seewandler' sehr sparsam.^ Man darf wohl annehmen, daß
Ausdruck wie Vorstellung schon früh in die niedrigsten
Schichten herabsanken und dort ihr Dasein weiter fristeten,
dort natürlich in ungebrochener Kraft, wenigstens insofern als
die Erhaltung des Hauchlautes das Wort durchsichtig erhielt.
Das scheint, trotz Sophocles, im attischen Volke der Fall ge-
wesen zu sein, so wird die Platostelle verständlich. Dagegen
in lonien hat zunächst der Geist des höfischen Epos, in seiner
Aufgeklärtheit den trüben Spukgestalten des Volksglaubens
abgeneigt, Wort und Vorstellung sich ferngehalten. Wohl
beklagt man den Armen, der auf dem Meere ertrinken muß,
ov d^ 7C0V Xs-Oic' botsa nvd'stai ofißgat || xsC^sv' ha' '^tisCqov,
^' slv ccXi xvfia xvXCvdsi (a 161 f.), aber keine Spur davon,
daß die Seele des Mannes, tbv G)XE6t ndvtog avaidiqg, als See-
gespenst ruhelos umgehen und über dem Meere wandeln muß.
Er bekommt eben sein Kenotaph, wie der wackere Korinthier
Dveinias, und der Sänger versichert klagend ^latQiGiTSQOv av
rijv GviKpoqäv ivsyxstv, sl xsCvov XE(paXi]v xal xaQLSvxa (is-
Xsa II "H(pai6Tog Had-uQolGiv iv SLiiaöiv cc^cpsTtov^d'i] (Archil.
fr. 12 B; über solche Motive in der hellenistischen und römi-
schen Dichtung vgl. Nordens Komm, zur Aeneis VI S. 225 f.).
Die Literaturunfähigkeit der Halibanten hat sich wohl fi-ül
entschieden ^ In lonien ward das Wort obendrein durch dii
* Ich darf dazu wohl auch Lukians als 'Phellopoden' maskiei
'Seewandler' rechnen. Ver. hist. II 4: xß'S'opüjftsr ccv9Qm7iovs JtoXlovs
§id xov -ntXäyovg öiad-eovrag ktX. Mit dem Erwerb ihrer rationellei
Korkfüße Bind sie auch im übrigen rationell geworden, haben alles Unr
heimliche abgestreift und verabschieden sich zuletzt mit freundlicher
Seemannsgruß, evtcXoiccv insv^cciiBvoi. — Stellen, wo es sich um Wasser
wandeln infolge von Zauberei handelt, lasse ich hier beiseite.
' Immerhin mag ein Schauer des alten Glaubens noch die Vera
des Arimaspenepos umwehen, die vom Elend der Schiffer handeln^
9uv(i' i)(ilv xai TOvro fiiya <pQE6lv '^(ist^qjjöiv ccvSgtg vätOQ vaiovöiv &ni
X^-ovos iv TtBXäysaei xtX. Daß der Verfasser itegl vil>ovg (10,4) darin
mehr (ivd-og als diog empfindet, ist begreiflich.
Mtßavreg 461
Psilose undurchsichtig. Als ein konventioneller Ausdruck für
vsxQog lebte es weiter, und das Volk dort, das kein Grauen
mehr bei dem Ausdruck fühlte, benannte damit den 'toten
Wein', den Essig. Hierdurch bahnte sich eine neue etymolo-
gische Auffassung an, die vielleicht zunächst wirklich volks-
etymologisch im engeren Sinne war, axb tov fiij öxsvdiö&ai.
Ihre Weiterführung im naturphilosophischen Sinne, als Gegen-
satz zu disgög, wird dann wohl dem eigentlichen Auf klärungs-
zeitalter, vor allen den xaluLol 'OfiijQixoC zu danken sein, und
es ist nicht wunderbar, daß wir in deren Banne wohl Sophocles
finden, durch den sich wieder Aristarch und die Späteren
imponieren ließen, Plato dagegen nicht. Ich meine, so legen
sieh die verwickelten Tatsachen gut auseinander. Eine inner-
liche und wertvolle Bestätigung würden wir indessen gewinnen,
wenn auch in diesem Falle, wie es bei anderen ähnlichen
Dingen geschehen ist, von der zurückgedrängten und schon
früh verschollenen Vorstellung doch auch in der aufgeklärten
homerischen Welt noch ein Rudiment stehen geblieben wäre,
das. scheinbar erstarrt und abgestorben, sein eigentliches, inneres
und geheimes Leben erst wiedergewönne, wenn man den alten Ge-
dankeninhalt darin von neuem aufweckte. Dieser Fall liegt, glaube
ich, wirklich vor. und damit gelangen wir (unerwartet genug)
zuletzt noch zu einem zwar bescheidenen, aber vielleicht doch
nicht ganz unwichtigen Beitrag — zur Leukas-lthakafrage.
4
Bei Dörpfeld und seinen Anhängern spielt eine nicht un-
bedeutende Rolle der Formelvers
ov luv ydg rC 6s :t6^bv öCo^ai iv&dd' ixiö^ai}
Man findet, er bestätige vortrefflich eine Lage von Ithaka, bei
der es nicht ausgeschlossen war. daß der Fremde auch auf
' a 173 Telemach zu Athena-Mentes ; § 190 Eumäua zu Odysseus;
« 59 (mit I statt et) Telemach zu Eumäus, den Odysseus betreffend;
ebd. 224 Telemach zu Odysseus.
462 0. Immisch
dem Landwege eintraf (mit oder ohne Fähre); vgl. jetzt be-
sonders Cauer, Grundfragen^ 247 f. Zuzugeben ist auf jeden
Fall, daß die frühere Erklärung, wonach ein Scherz vorläge,
unhaltbar ist. Nicht weil der Scherz sehr fade und dürftig
ist — an stereotype Wendungen dieser Art darf man nur
bescheidene Anforderungen stellen — , sondern einfach, weil
mindestens die Stelle n 224 diese Erklärung schlechthin aus-
schließt. Wie sollte Telemach, der sich soeben erst aus der
langen, tränenvollen Umarmung des wiedergefundenen Vaters'
gelöst hat, nun wo er endlich Worte findet, zu einem der- ■
artigen Scherze aufgelegt sein? Man hat denn auch eine
andere Erklärung ersonnen, bei der nun freilich, sehr im
Gegensatz zu Dörpfelds realistischer Deutung, gerade das
advvatov, das der Formelvers ausspricht, als ddvvurov zur
eigentlichen Hauptsache wird, zur Pointe der Redensart (vgl.
VoUgraff, Ilbergs Jahrb. 19, 1907, 624f.). Es handelt sich
stets um eine unerwartete oder überraschende Begegnung.
Da ist es eine ganz natürliche Regung nicht nur der antiken
Religiosität, daß ein Zweifel wach wird, ob bei dem Zusammen-
treffen auch alles mit rechten Dingen zugeht. Auch sonst ist,
es namentlich für die ältesten Zeiten, wo der Verkehr be-
schränkt ist und die Verhältnisse jene bekannte Anschauung
veranlaßten, nach der bei den Römern hostis den Fremdlinj
und den Feind zugleich bedeutet, durchaus verständlich, dj
man den unerwartet auftauchenden Fremden nicht ohne arg-j
wöhnische Scheu betrachtet. Diese Scheu wird bei religiösei
Stimmung sich leicht in den Zweifel umsetzen, ob es wohl
ein Geschöpf von Fleisch und Blut ist, nicht etwa ein WesenJ
aus der Zahl der TcgsCrtoveg, das der Überraschte vor sich sieht
üt in hodierntim inopinato visos caelo missos . . . nominami
sagt noch von seiner Zeit Minucius Felix, Oct. 21, 7. Dt
römische Sprichwort bestätigt das; vgl. die Erklärer zu Tibi
I 3, 90 und luvenal 2, 40, sowie Otto, Sprichwörter der Römer^j
62. 344.
AUßamBs 463
Nicht« ist gewöhnlicher, als daß ursprünglich religiös
empfundene Wendungen dieser Art zu konventionellen Aus-
drücken der Überraschung überhaupt werden, die man nicht
nur vor Unbekannten, sondern auch vor überraschend be-
gegnenden Bekannten leichthin verwendet. TC 6v d^sbg xgbg
dvd-Q(D:covg; mit dieser Frage begrüßt bei Herodas 1, 9 die
überraschte Frau einen zwar wohlbekannten, aber unerwarteten
Besuch. Was insonderheit die Odyssee anlangt, so hat man
mit Recht auf Penelopes Verhalten dem fremden Bettler gegen-
über hingewiesen. Sie hat ein rätselhaftes Zutrauen zu dem
fremden Manne. Das kommt darin zum Ausdruck*, daß sie
von vornherein ganz unbefangen und gleichsam ungehemmt
durch den sonst üblichen Zweifel ohne jeden Zusatz ihre
Frage nach seiner Herkunft ausspricht (105). Aber der
wunderbare Fremde weicht der Antwort aus (115 ff.). Da ist
es begreiflich, daß sein seltsames Wesen sie nachdenklich
macht, und in der Wiederholung lautet nun ihre Frage anders:
äXXtt Tcai ag fioi, slxh tsbv ydvog, otcxö^sv iööC.
ov yuQ dab Sgvög e66i aaXaiwÜTOv ovd' oacb aetQtjg.
„Du bist ja doch hoffentlich ein Menschenkind, wie wir andern
auch", das etwa will sie damit sagen. Wieder kleidet sich
die zweifelnde Gedankenregung in eine sprichwörtliche Formel,
und wieder ist es gerade ein ädvvarov, worin die Pointe der
Redensart besteht, einer Redensart überdies, die genau wie der
uns beschäftigende Formelvers unmittelbar an die stehende
Frage nach dem wer? und woher? sich anschließt. Es kann
wohl nicht zweifelhaft sein, daß hiermit das Wesen unseres
Formelverses richtig erfaßt ist. Man wird nun einräumen:
' Diese feine, indirekte Ethopoiie ist dem Dichter wohl zuztitranen.
Etwas Yergleichbares ist die Art, wie in der Nekyia die Mutter des
Odysseas vorzeitig und noch ehe sie durch den Bluttrunk Bewußtsein
erlangt hat, zu dem Sohne sich hindrängt (84flF.). Das Geheimnis ver-
wandtschaftlicher Zuneigungsgefühle wird in seiner Wirkung kundgetan.
Sie überspringen die natürlichen wie die herkömmlichen Hemmungen.
464 0. Immisch Akißavrsg
gab es eine Zeit, wo unheimliche Seegespenster über das Meer
wandelten, wirklich und wunderbar als Tte^oC, als ccXCßavtss im
eigentlichen Sinne, dann wird die in unserer Odyssee natürlich
schon verblaßte und erstarrte Redewendung erst wieder recht
lebendig. Ein Ausdruck scheuen Zweifels, enthält sie zugleich
etwas das Bangen Wegwischendes und damit etwas Apotro-
päisches. Es liegt etwas wie ein verstohlenes Sichbekreuzen
darin. Auch bei Telemachs Frage an den Vater ist's noch
eine letzte Regung abklingenden Angstgefühles; denn nicht
umsonst hat er noch kurz vorher (n 194f.) bangend sich ge-
wehrt: ov 6v y' 'Odv60£vg eööi narijQ i^o'g, dXXd ^is daCficav
Q-slysi. Da haben wir deutlich jene Sorge vor dem Über-
natürlichen, die uns beschäftigt. Erst bei dieser Annahme
eines religiösen Ursprunges der Redensart erklärt sich nach
meiner Meinung überhaupt der Umstand ganz ungezwungen,
daß eine Formel, eine stehende Wendung in derartigen
Situationen einer überraschenden Begegnung sich entwickelt
hat. Diese Formel steht nun da, so erhaben auch über den niedren
Geisterspuk das Epos sich fühlt, als ein Rudiment des ver-
schollenen Halibantenglaubens, nur noch halb verstanden, viel-
leicht auch schon völlig unverstanden, wie so vieles Ab-j
gestorbene durch den Stilzwang der epischen Dichtgattunj
erhalten. Heimisch sein konnte die Redensart, wenn anderd
sie gerade aus ihrem ädvvarov ihre eigentliche Daseins
berechtigung gewann, nur dort, wo der Landweg schlecht«!
hin ausgeschlossen ist und deshalb die Ankunft zu Fui
nur auf übernatürliche Weise erfolgen kann. Mithin ist der'
berühmte Formelvers ein Zeugnis nicht für, sondern gegen
Leukas.
n Berichte
Die Bericht« erstreben durchaus nicht bibliographische Voll-
ständigkeit und wollen die Bibliographien und Literaturberichte
nicht ersetzen, die für • verschiedene der in Betracht kommenden
Gebiete bestehen. Hauptsächliche Erscheinungen- und wesentliche
Fortschritte der einzelnen Gebiete sollen kurz nach ihrer Wichtigkeit
für religionsgeschichtliche Forschung herausgehoben und beurteilt
werden (s. Band VII, S. 4 f.). Bei der Fülle des zu bewältigenden
Stoffes kann sich der Kreis der Berichte jedesmal erst in etwa
vier Jahrgängen schließen. Mit Band Xu (1909) beginnt die neue
Serie, und es wird nun jedesmal über die Erscheinungen der Zeit
seit Abschluß des vorigen Berichts bis zum Abschluß des betr.
neuen Berichts referiert.
2 Die afrikanischen Keligionen 1907—1910
Von Carl Meinhof in Hamburg
Das Erscheinen des dritten Teiles zum zweiten Bande der
Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt bedeutet für die
Religionsforschung in Afrika insofern einen sehr wesentlichen
Fortschritt, als Wundt sich hier sehr ausführlich mit dem
Märchen und dem Sprichwort beschäftigt. Diese wichtigen
Quellen für die Erforschung mythologischer und moralischer
Vorstellungen, wie sie im Volksmunde leben, fließen ja in
Afrika sehr reichlich, und es ist für den afrikanischen Lingu-
isten eine besondere Freude, zu sehen, daß dieser Reichtum
von berufener Stelle anerkannt wird. Die verschiedenen Arten
der Märchen lassen sich gerade in Afrika gut belegen, und die
neuere Literatur hat hier zu den alten Schätzen Wichtiges und
Wertvolles hinzugefügt. So ist zu hoffen, daß der Religions-
forscher noch weiteres Material erhält und so vielleicht im
Archiv f. Keligionswisaeu»ch»ft XTV 3Q
466 Carl Meinhof
Laufe der Zeit in den Stand kommt, die verschiedenen Märchen-
und Sagenstoffe nach ihren Wandlungen und Wanderungen zu
verfolgen und ihre ursprüngliche Heimat besser zu ermitteln,
als wir das heute können.
In der linguistischen Literatur der letzten Jahre finden sich
wieder eine große Anzahl solcher Märchen und SprichwöHer,
z, B. in Wolff, Grammatik der Kinga- Sprache, Archiv für
das Studium deutscher Kolonialsprachen. Band IIL Berlin
1905; P. J. Hendle, Die Sprache der Wapogoro, ebenda,
Band VL Berlin 1907; E. Kotz, Grammatik des Chasu (Pare),
ebenda, Band X. Berlin 1909; J, Raum, Versuch einer Gram-
matik der Dschaggasprache, ebenda, Band XL Berlin 1909;
Lademann, Tierfabeln und andere Erzählungen im Suaheli,
ebenda, Band XIL Berlin 1909; F. W. H. Migeod, The Mende
Language, London 1908. Vor allem verdient unsere Aufmerk-
samkeit E. Jacottet, The treasury of Ba-Suto Lore.
Vol. I. London, Trübner, 1908, eine Sammlung von Original-
texten mit englischer Übersetzung, die sehr viel religions-
wissenschaftlich wichtigen Stoff enthalten; Schul er. Die Sprache
der Bakwiri, Mitteilg. des Seminars f. Orient. Sprachen, 1908,
vgl. besonders die Chamäleonfabel S. 205; Hurel, La Langad'
Kikerewe, ebenda, 1909; Häflinger, Kimatengo, ebenda,
S. 133 usw. Vgl. außerdem J. Schönhärl, Volkskundliches
aus Togo. Dresden u. Leipzig 1909, mit vielen Märchen und
Sprichwörtern. Ein gutes Beispiel für die Fähigkeit des Afri-
kaners, fremde Stoffe zu assimilieren, gibt uns A. Werner,
die den Nachweis führt, daß eine ganz afrikanisch anmutende
Geschichte indisch ist (the Bantu Element in Swahili Folklore,
Folk-Lore, Dec. 1909, S. 438).
Eine sehr ausführliche Darstellung hat der Totemismus
erfahren in J. G. Frazer, Totemiem and Exogamie, London
1910 Hier ist besonders der afrikanische Totemismus aus-
führlich behandelt, und der Verfasser hat nicht nur die vor-
handene Literatur sehr sorgsam zusammengetragen, sondern
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 467
auch ?oü ungedruckten Materialien ausgedehnten Gebrauch
gemacht So sind sehr wichtige Mitteilungen von Rev. Roscoe
C. M S. über Baganda und Bateso, von HoUis über die Masai
und andere Quellen benutzt. Von der großen Fülle der wich-
tigen Darlegungen, die uns einen überraschenden Einblick in
den Reichtum des Stoffes gewähren, hebe ich besonders hervor,
daß bei den Kamba in Ostafrika etwas vorkommt, was an die
„Frau des Jenseits*' bei den Eweern (Togoj erinnert. Siehe
Band II, S. 423/24
Frazer gibt zu, daß die Verwandlung der Seelen von Toten
in Tiere in Afrika gut belegt ist, und bezieht sich mit Recht
auf Callaway*, der dafür unwiderlegliche Beispiele aus dem
Glauben der Zulu anführt. Aber er bestreitet, daß diese Vor-
stellung, die besonders von den Schlangen gilt, etwas mit dem
Totemismus zu tun hat, denn er versichert gegen Theal, daß
gerade diese Tiere nirgends in Afrika als Stammestiere vor-
kämen.^ Doch vgl. u. a. unten Rehse, der die Schlangen als
Totem der herrschenden Klasse in Kiziba nachgewiesen hat.
A. de Calonne Beaufaict, Zoolätrie et Totemisme chez les
peuplades septentrionales du Congo Beige. Revue des etudes
ethnogr. et sociolog., 1909, S. 193/5, erinnert daran, daß die
verschiedenen mythologischen Beziehungen zur Tierwelt sorg-
sam zu unterscheiden sind, da nicht jede Tierverehrung schon
Totemismus ist.
Arnold van Gennep, les rites de Passage. Paris 1909, ver-
dient besondere Beachtung deshalb, weil er mit Recht den
Unterschied der physiologischen und sozialen Mannbarkeit be-
tont. Er versteht die in Afrika so weit verbreitete Beschneidung
soziologisch, ebenso wie andere Verstümmelungen des Körpers.
Jedenfalls ist das sicher, daß sie heute eine Einrichtung von rein
sozialer Bedeutung in Afrika ist. Ich bin auch nicht zweifelhaft,
* Religious System of the Ama-Zulu. London 1870.
* Über den Zusammenhang zwischen Speiseverbot und Yerwandt-
»chaft 8. DempwolflF Deutsches Eolonialblatt, 1. Januar 1909, S. 22flf.
30»
468 Carl Meinhof
ihre Entstehung weder sanitär^ noch erotisch ist, wiewohl
zuzugeben ist, daß heute nach mannigfachem Zeugnis der
Missionare gerade die Frauen auf der Beibehaltung der Be-
schneidung bestehen, und daß dafür von ihnen gerade erotische
Gründe angeführt werden. Wie schwierig es aber auch hier
ist, den wahren Grund zu finden, mag das Beispiel beweisen,
das H. Virchow gibt (Zahnverstümmelungen der Hereros.
Zeitschr. für Ethnographie 1908, S. 930-932), wonach die
Frauen der Herero schwerer zur Aufgabe der Zahn Verstümmelung
zu bewegen sind als die Männer. Und doch erklärt sich mir
die Entstehung des Phänomens so nicht. Ich kann wohl
verstehen, daß für eine schon einigermaßen entwickelte Gesell-
schaftsordnung der Gebrauch wichtig ist. Aber das macht
nur seine Beibehaltung verständlich, nicht seine Entstehung.
Ich kann mir seine Entstehung doch nicht anders psychologisch
vermitteln, als daß er zuerst eine magische Handlung war zur
Abwehr irgendwelches Unheils, und daß er dann adoptiert
wurde als Zeichen einer sozialen Gliederung. Vgl. hierzu die;
Erklärung jenes Nondi bei Hollis, the Nandi, S. 99. Diel
Meinung von Preuß hat Gennep aber nicht getroffen in seiner]
Kritik S. 106. Preuß spricht nur von Zahnverstümmelungen,
die allerdings als mit der Beschneidung zusammengehörig von]
den Afrikanern empfunden werden. Vgl. oben den Aufsatz]
von V^irchow. Das Ausschlagen der Zähne, nicht die Be-
schneidung soll dem Hauch den Weg frei machen. Vgl. noch
unten die Begräbnissitte der Kuanjama. Wenn Preuß meint
S. 416, daß die Beschneidung nach Ansicht der Eingeborenen
zur Zeugung helfe, so ist das, wie der Zusammenhang ergibt,
magisch und nicht physiologisch zu verstehen.
Unsere Kenntnis der Mannbarkeitsfeste ist in ganz hervor-
ragender Weise gefördert durch die ebenso ausführlichen wie
' Doch vgl. Johnston George Grenfell and tht Kongo, London
1908, wo S. ö76 ein sanitärer Grund von einem Eingeborenen an-
gegeben wird.
Die afrikaniBchen Religionen 1907—1910 469
sorgsamen Studien von Weule, s. Mitteilungen aus den deutschen
Schutzgebieten, Ergänzungsheft 1. 1908.
Es ist bisher wohl niemand gelungen so viel von diesen
Geheimnissen zu erfahren. Sogar Bilder der ßuschhütten
konnte er geben und alle z. T. höchst verwerflichen Details
der Mädcheneinweihung. Die Maskentänze, auch mit Ver-
wendung von Stelzen, hat er ebenfalls bildlich dargestellt, er
fand „Teufels "masken mit Hörnern,- und Tiermasken. Beachtens-
wert scheint mir noch, daß die Makua irimu „oben" nennen,
das mit Suah. kudzimu eines Stammes ist, und das Geister-
reich bedeutet, das man sonst unten sucht. Ahnlich liegt die
Sache bei den Sotho, wo le;uodimo der Himmel bedeutet.
Makua und Sotho gehören auch sprachlich eng zusammen.
Die Literatur ist im einzelnen sehr gewachsen, so daß es
fast unmöglich ist, hier ein erschöpfendes Bild zu geben. Ich
muß mich deshalb darauf beschränken, das auszufuhren, was
mir besonders bedeutsam zu sein schien. Zur Ergänzung des
oben Gesagten verweise ich auch auf den von mir geschriebenen
Abschnitt „Aus dem Seelenleben der Eingeborenen" in Dr.
Karl Schneider, Jahrbuch über die deutschen Kolonien, Band
I — III, Essen 1908/10, sowie auf die ausführlichen Literatur-
angaben bei Frazer, a. a. 0. Ferner verweise ich auf die neu
erscheinende .,Zeitschrift für Kolonialsprachen", die ich
seit dem 1. Oktober 1910 im Verlage von D. Reimer in Berlin
und C. Boysen in Hamburg herausgebe, und die natürlich eine
Reihe religiöser Texte bringen wird. Außerdem steckt in den
Missionszeitschrifteu eine Fülle ungehobener Schätze. Ich
bin nicht imstande, das alles auszuführen. Auch im Anthropos
und im Journal of the Afric. Society sind noch kleine
Aufsätze außer den angeführten enthalten, die ich der Kürze
halber übergehe.
Im Gebiet der Baiitiispraehen sind eine Anzahl sehr wert-
voller Publikationen zu verzeichnen. E. Xigmann, Die Wahehe.
Berlin 1908, bringt auf S. 22—43 Mitteilungen über die reli-
470 Carl Meinhof
giösen Vorstellungen dieses ostafrikanischen Volksstammes. Er
selbst sieht sie keineswegs als erschöpfend an, und ich halte
es für sehr wahrscheinlich, daß außer dem Gefundenen noch
vieles andere vorhanden ist.
Der Gottesname, nguruhi', der schon so viel Kopfzerbrechen
veranlaßt hat, klingt nach dem Verf seltsam an an den Namen
des Stammlandes nguruhe. Es ist sehr wohl möglich, daß
beides zusammenhängt. Dagegen der vom Verf vermutete
Zusammenhang mit ruhe „Seele" ist abzulehnen, da ruhe
arabisch ist. Der Grund, daß Schafe vor den Ziegen als Opfer-
tiere bevorzugt werden, S. 36, ist doch wohl der, daß das
Schaf bei der Schlachtung still ist, denn auch sonst wird das
Blöken des Opfertieres als unheilvoll angesehen, S. 37. Das
Wegwerfen der Leichen in den Busch, S. 39, erinnert an die
Sitte der Masai. S. 41 gibt der Verf an, daß Aussatz nicht
unrein macht, während er S. 39 versichert, daß alle Haut-
krankheiten als „schlecht", als selbstverschuldet angesehen
werden, und S. 42 auch gerade Aussatz genannt wird als Folge
der Übertretung von Speisevorschriften. Nach S. 32 soll das
Totem ein Ehehindernis nicht darstellen, während Dempwolfif
a. a. 0. es gerade bei den Hehe in diesem Sinn gefunden hat.
Der Verfasser gibt im übrigen eine große Fülle von Material,
das besonders willkommen ist, da wir über die Religion der
Wahehe noch wenig wissen. Der hamitische Einfluß, den der
Verfasser, wenn ich ihn recht verstehe, ablehnt, ist sprachlich
ziemlich evident und in religiöser Hinsicht doch auch sehr
wahrscheinlich. James A. Chisholm gibt in seinem Aufsatz,
customs of the Winamwanga (9"— 10« nrdl. Br., 32°— 33" ö. L.
Greenwich) Journ. of the Afr. See. 1910, S. 360—387, ein
langes Gebet zu den Ahnen im Original mit Übersetzung.
M. Klamroth, Beiträge zum Verständnis der religiösen
Vorstellungen der Saramo, Zeitschrift für Kolonialspr- 1, 1,
' Vgl. auch A. Hamburger Religiöse Überliefeningen und Gebräuche
der Landschaft Mkuwe (Deutsch-Ostafrika). Anthropos 1909. S. 295 fiF.
Die afrikanischen Religionen 1907—1910 471
2. 3., gibt in mustergültiger Weise Originaltexte mit Übersetzung
und Erklärung. Besonders bemerkenswert sind die Einweihungs-
riten für die Zauberer. Yiel Neues enthält H. Rehse, Kiziba,
Land und Leute, mit einem Vorwort von Prof. Dr. von
Luschan, Stuttgart. Strecker & Schröder, 1910, 394 S. Das
Tiermärchen spielt auch hier wieder eine sehr große Rolle,
und wie so oft in Afrika, ist das Kaninchen das kluge
Tier, das den anderen, besonders dem Leoparden, allerlei
Schaden zufügt und schließlich doch in der Regel glücklich
davonkommt. Wiederholt kommen Ehen zwischen Menschen
und Tieren vor. Auch wird ein von einem Tier gefressener
Mensch wieder lebendig, wenn das Tier getötet wird, S. 343.
Die Spinne, die in westafrikanischen Märchen so häufig ist,
während sie in Ostafrika kaum vorkommt, erscheint hier
einmal, S. 367, und findet den Weg, um in den Himmel
zu gehen. Der Zug, daß zwei sich gegenseitig überbieten,
und daß der eine den Betrug des anderen nicht merkt
und dabei zu Schaden kommt, kehrt in verschiedenen
Märchen wieder, auch in der weit verbreiteten Form, daß
beide ihre Mutter schlachten wollen, S. 318. Hilfreiche Tiere
finden sich, z. B. ein Hund, der Treue hält trotz des Undanks
seines Herrn, S. 373. Wie hier ein moralischer (jedanke auf-
leuchtet, so auch in der Geschichte, wo ein Blutsfreund
den anderen, ein Mann die Frau betrügt und dafür gerechte
Strafe leidet, S. 322 u. 323. Der schönste Zug ist aber die
Geschichte von der Mutterliebe, S. 369, wo die rechte Mutter
eines Kindes daran erkannt wird, daß sie ein Boot mit Tränen
füllt. Eine merkwürdig tiefe Auffassung ehelicher Liebe ent-
hält das Märchen von dem Ehepaare, das sich vor der Geburt
schon liebte und nun nicht mehr getrennt werden konnte.
Allerdings ist der Sinn des Märchens wohl eher mjrthologisch
als moralisch. Man vergleiche z. B. die Frau des Jenseits bei
Spieth, Die Ewestämme, sowie oben die Notiz bei Frazer.
Aetiologische Züge finden sich in mehreren Märchen, z. B.
472
Carl Meinhof
wird erzählt, daß der Hund früher einen so kleinen Mund
hatte, daß er Flöte blasen konnte, aber die Biene redete ihm
ein, er würde es noch besser können, wenn sie ihm die Mund-
winkel aufschnitte. Er ließ sich betrügen, und deshalb hat er jetzt
ein so weites Maul und kann nicht mehr Musik machen, S. 365.
Das Tier spielt also eine sehr große Rolle im Denken des
Volkes. Die Pflanze tritt dagegen in der Tierfabel stark zurück,
vgl. jedoch den Geisterwald, S. 389. In das Märchen spielen
nun aber allerlei religiöse Vorstellungen hinein und zeigen
damit, wie tief sie im Volksleben wurzeln. So heiratet der
Meergott, S. 379. Der höchste Gott, Rubaga, wird mehrfach
genannt, S. 356, auch ein Gebet an ihn mitgeteilt, S. 340.
Ein Held, ähnlich dem Herakles, tut schon als Kind Außer-
ordentliches, S. 371. Ein Fetisch, dessen Aussehen nicht näher
beschrieben wird, eine Art Zaubermittel, das Tote lebendig
macht, kommt S. 383 vor. Die Geister spielen, wo die Schädel
der Menschen aufgehoben sind, S. 389. Auch im Sprichwort
erscheint das „Gotteshaus", S. 297, Nr. 19. Über das „Einhorn"
und ein anderes Fabeltier vgl. S. 293. Daß in einem Volke
von der Kulturstufe der Ziba sich primitive Zauberkulte in
großer Menge finden, die bald mit der Tätigkeit des Arztes,
bald mit der des Richters (Gottesurteil) näher verknüpft sind,
bedarf nur der Erwähnung. Der Tierkult muß einmal eine
bedeutende Rolle gespielt haben. Die Rinder sind mit dem
Menschen zugleich geschaffen, S. 125. Das Einschmieren mit
Butter gehört deshalb auch zu den gewöhnlichen Übungen.
Schlangenkultus findet sich nur in der Königsfamilie. Rehse
erinnert wohl mit Recht, daß hier fremder Einfluß vorliegt,
da sich bei Galla und Masai dieser Gebrauch findet. Das Volk
scheut sich aber, Schlangen zu töten, und wenn es aus Versehen
geschehen ist, versöhnen sie den Geist, S. 130; denn die Seelen
von Mitgliedern der Königsfamilie gehen in gewisse Schlangen. *
* Vgl. dazu Callaway Religious System of the Ama-Zulu Loudon'
1870, S. Stf.
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 473
So spielt auch das Opfer eine große Rolle. Man opfert
weiße Schafe und Ziegen, auch Hühner, S. 127. Das
ganze Volk ist in Sippen eingeteilt, die man ru-ganda pl.
Uganda nennt. Vgl. hierzu e-anda ,,Familienverband" und
onganda „Dorf" im Herero. Die Kinder, auch die Mädchen
gehören zur ruganda des Vaters. Jede ruganda hat ihr be-
sonderes Speiseverbot, z. B. die Meerkatze, eine Antilope, die
Gedärme der Tiere, Fische usw. Die ruganda, die keine Ge-
därme ißt, verehrt den Habicht, der sie auch nicht frißt und
als Zugehöriger zur ruganda verehrt wird. Man tötet ihn nicht,
bedeckt sogar seine Leiche mit Gras, wenn man ihn tot findet,
S. 4 — 7. Das ist ausgesprochener Totemismus. Die Königs-
familie hat Schlangen als Totem, die männlichen Mitglieder
eine andere Art als die weiblichen. Die Ehe innerhalb der
ruganda ist verboten, S. 94.
Der Ahnenkult hängt mit diesen Vorstellungen hand-
greiflich zusammen. Er hat sich in einem täglichen Trank-
opfer für den Vater rein erhalten, scheint aber auch den
höheren Kultformen zugrunde zu liegen, wenn auch nicht aus-
schließlich. Götter- und Heldensagen gehen hier ineinander
über wie bei Homer. Es ist nun sehr beachtenswert, daß es
hier eine Göttergeschichte gibt Das scheint mir auf hamitische
Einflüsse hinzudeuten. Der hier als Stammvater der Götter
genannte Wamara ist der Herrscher der abgeschiedenen Wesen
und genießt Verehrung in einem ihm gebauten Hause, S. 127.
Er hat seinen Priester. Andere Götter sind der Sonnenseist
Kazoba, der Erdgeist Konegu, dem man vor dem Hause kleine
Hütten baut, der Wassergeist Mugasha. Die Art, wie diese
„Götter" im Märchen auftreten, läßt sie als Dämonen erscheinen.
Daß Mugasha ein Mädchen heiratete, wurde schon gesagt, er hat
nur ein Bein — wie die Spukdämonen anderer Ostafrikaner — ,
er hat das andere verloren, als er mit dem Göttersohn Kagoro
um seine Frau kämpfte. Hangi, der Sternengeist. ist ein Sohn
des Kazoba. Riangombe, der Geist der Rinder, wird nur von
474 Carl Meinhof
den Bahima, dem Adel des Landes verehrt, der sich als
rinderhütender Hamitenstamm charakterisiert (vgl. hiermit den
obengenannten ^^^''^'^l^s" Kashaija-Kariangombe).
Wie R. der Schutzgeist der Rinder, so ist Kiziba der
Schutzgeist des Landes Kiziba. Außerdem gibt es noch Dorf-
geister, die in alten Bäumen oder Felsen verehrt werden, S. 130.
Alle diese Wesen charakterisieren sich als Schutzdämonen.
Der Seegeist, Mugasha, hat aber Beziehungen zu den Wetter-
dämonen, denn er tötet durch das Gewitter, S. 130, dessen
Erscheinungen als hervorgerufen durch eine Schar kleiner roter
Vögel erklärt werden. Der Erdgeist, Irungu, tötet durch
Steppentiere, Löwen, er gehört also zu den Dämonen der Einöde.
Wenn diese verschiedenen Dämonen, besonders Wamara,
durch schöpferische Akte auch an Himmelsgötter erinnern, so
haben sie doch nach der einen Seite soviel Menschliches, daß
sie sich im Märchen wie Helden ausnehmen, und nach der
anderen Seite handgreiflich dämonische Züge. Das gilt aber
nicht von Rubaga, „dem Gnadenspender", der sich also als
Himmelsgott charakterisiert. Man opfert ihm nicht, aber man
betet zu ihm. Die Religion der Baziba enthält noch eine
Menge einzelner Züge, die wichtig sind, wie das Menschenopfer,
S 134, die Feste, S. 142, die Vorbedeutungen im Zucken der
Augenlider, S. 294, — aber das Vorstehende wird genügen um
zu zeigen, wie überaus fesselnd diese Aufzeichnungen sind. Ich
glaube, der Einfluß hamitischer Religionsformen* auf nigritische
Vorstellungen ist hier besonders klar. Die angeführte Ähn-
lichkeit mit dem Herero ist nicht zufällig. Die Herero-
sprache steht in mancher Hinsicht dem Kiziba sehr nahe.
Ahnliche Beobachtungen machte Weiß bei den Wahima.-
Max Weiß, Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas.
* Die Götter sind hellfarbig und blond. Man erinnere sich, mit
welcher phantastischen Begeisterung ßaumann in Ruanda aufgenommen
wurde als Repräsentant dieser alten Vorstellungen.
' Vgl. hierzu J. Roscoe, the Bahima, Journal of the Anthropol.
Institute 1907, S. 93 — 118. Bei der Geburt von Zwillingen erscheint es
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 475
Berlin 1910. Die Leute küssen ihre Frauen, S. 68, was wichtig
ist für den Zusammenhang zwischen Kuß und Zahnverstüm-
melung.
P. Loupias hat im Anthropos 1909, S. 1 — 13, eine über-
aus interessante Wiedergabe von anthropogonischen Mythen
der Tutsi gebracht, wie sie in Ruanda erzählt werden. Be-
zeichnend ist, daß der Erzähler hernach bereut, diese Geheim-
nisse mitgeteilt zu haben.
Bei den Wageia' sind Zwillinge ein Gegenstand der Freude,
S. 227, was an ähnliches in Togo erinnert, vergleiche auch die
gleiche Beobachtung bei den Warega s. unten. Der Verfasser
gibt u, a. Mitteilungen über die Omina, S. 233, das Prophezeien
aus Eingeweiden, S. 234. über die zwei Götter, S. 235, das
Opfer, den magischen Gebrauch des Speichels, das Gottes-
urteil usw.
Außer den genannten Stämmen behandelt er noch die
Wanjambo, Waganda und Waheia (in Kiziba), die Bakulia, die
Masai und Wandorobbo. Ich möchte hier auch aufmerksam
machen auf X. Stam, the religious coneeptions of some tribes
of Buganda. Anthropos 1908. S. 213fif.
Routledge, W. S. und K., With a prehistoric people. London,
E. Arnold, 1910. Die Verfasser geben eine gute Schilderung
dieses Bantuvolkes, dessen Sitte stark von Masai -ähnlichen
Elementen durchsetzt ist. S. 150 — 102 finden sich auch
Schilderungen der Feste. Darunter befindet sich eine seltsame
Feier, „die zweite Geburt", S. 151 — 153, in der gewissermaßen
das Ereignis der Geburt allen Beteiligten aufs neue eingeprägt
wird. Der Sinn ist nicht klar. Die Tänze, die der Beschneidunsr
ein glücklicher Umstand, wenn die Kinder dasselbe Geschlecht haben,
ein unglücklicher, wenn sie verschiedenen Geschlechts sind. Femer
Major Meldon, notes on the Bahima of Ankole. Journal of the Afr.
Sog. 1907. 136 — 153. 234—249.
* Sonst Kavirondo genannt. Hier kommen wir auch sprachlich
in sudanisches Gebiet. — Vgl. dazu Northcote the yHotic Kavirondo.
Journal of the Anthropol. Institute. 1907. S. 58 — 66.
476 Carl Meinhof
der Knaben und Mädchen vorangehen, werden ausführlich ge-
schildert S. 154 — 167. Auch hier werden die Toten den Hyänen
überlassen, S. 168. Nur alte und reiche Leute werden begraben,
S. 170. Infolgedessen genießt die Hyäne auch hier besondere
Verehrung, S. 242. S. 188 ff. wird ein Tanz beim Erntefest ge-
schildert, bei dem eine Menschenfigur aus Ton eine Rolle
spielt, und eine gewisse Verehrung zu genießen scheint.
Der Gottesname Ngai^ ist von den Masai entlehnt, und
so ist es nicht überraschend, daß hier auch Gebete erscheinen,
die an Monotheismus erinnern. Das Gebet, das für den Ver-
fasser bei Gelegenheit eines Opfers gesprochen wird, S. 231,
ist so gut stilisiert und so lang, daß man wohl annehmen
darf, daß es in der Übersetzung, die durch Suaheli vermittelt
ist, etwas erweitert wurde.
Von dem Opfertier werden die Augen entfernt, aber ohne
sie zu verletzen, und die untere Kinnlade, S. 232. Das Opfer
wird am Fuße eines Baumes niedergelegt, und man denkt, daß
der Gott sich wie ein Affe von oben herabläßt, um das Opfer
zu genießen. Dei' alte Mann, der als Priester fungiert, horcht
dann am Stamm, ob er nicht im Rauschen des Baumes Gottes
Stimme vernimmt.
Die feierliche Fütterung einer heiligen Schlange wird S. 237
und 238 geschildert. Man nimmt an, daß sie mit dem Regen-
bogen zusammenhängt.
Daß die Seelen in Raupen erscheinen, S. 241, ist ein
gutes Beispiel für die Entwicklung der Seele vom Wurm bis
zur Schlange.
Gott wohnt auf dem Kenya wie bei den Masai, und gewisse
einfache Moralsätze, wie der Gehorsam gegen Vater und Mutter,
werden auf ihn zurückgeführt, S. 245. Das Buch von Routledge
enthält auch eine Fülle anderer für den Religionsforscher wichtiger
Notizen und ist ein gutes Beispiel für den Einfluß der Masai-
religion auf die benachbarten Bantu.
* Vgl. E. Brutzer Der Geisterglaube hei den Kamba. Leipzig 1906.
Die afrikaniachen Religionen 1907 — 1910 477
Ein Bantuvolk, das auch wie die Kikuyxi Ton den Masai
beeinflußt ist, schildert uns Gutmann, Bruno, Dichten und
Denken der Dschagganeger. Leipzig 1909. Das vortreffliche
Buch hat vielleicht einen Fehler, es ist zu gut geschrieben.
Der Verfasser weiß so anmutig darzustellen, daß der nüchterne
Forscher sich mitreißen läßt. Wenn unter den Geschichten,
die vom Anfang der Menschen erzählen, auch eine erscheint,
wo den Menschen verboten ist. daß sie von allen Früchten
essen sollen, und die Schlange verleitet dann die Frau zum
Ungehorsam, wenn die Sprache der Leute zur Strafe verwirrt
wird, S. 182, so kann ich mich nicht davon überzeugen, daß
das alt ist.^ Abgesehen davon ist das Buch eine ausgezeichnete
Lektüre auch für das breitere Publikum, um ihm die religiöse
Denkweise des Afrikaners näherzubringen. Ich möchte nur
hervorheben, daß gewisse religiöse Handlungen viermal ge-
schehen, S. 146, und daß der Gottesname Iruwa hier mit dem
Namen der Sonne identisch ist Sehr geschickt führt G. S. 30
und 179 die Beschreibung des Aussehens Gottes auf die Nach-
bilder auf der Netzhaut zurück, die bei hellen Blitzen sich
ergeben.
Sehr erwünscht ist die Ergänzung, die Raum, der Kollege
Gutmanns, in seiner schon zitierten Dschaggagrammatik gibt.
Außer den schon erwähnten Märchen bietet er hier noch einen
besonderen Abschnitt über die Religion der Wadschagga. Neben
vielem Bekannteren finde ich u. a. die Anschauung, S. 340,
daß die Ahnengeister in Bäumen wohnen. Die Schädel werden
in einem Hain von Dracänen aufgehoben*, S. 396. Der Mond
erscheint als Frau der Sonne. S. 366. Die Feste, besonders die
Erntefeiern, S. 398, verdienen Beachtung, vor allem aber die
ausführliche Beschreibung vom Gebrauch des Fluchtopfes, S. 378.
* Vgl. die Sündflutgeschichte bei A. Hamberger. a. a. 0. S. 304.
* Vgl. die Abbildung von Schädeln der Ahnen in einer Höhle bei
den Wadabida in Brit-Ostafrika , Richter I>ie evangelischen Missionen,
1910, S. 255.
478 Carl Meinhof
Paßmann hat im Anthropos 1909, S. 574 ff. Veranlassung
genommen, an der Dschaggareligion „Die Gottes Verehrung bei
den Bantunegern'' zu erörtern. Er kommt zu dem Schluß, daß
hier zwei disparate Elemente vereinigt sind, nigritischer Greister-
kult und hamitische Verehrung der Himmelsgötter. Ich glaube
auch, daß wir diese Gesichtspunkte zu beachten haben werden,
wenn die Sache auch nicht so ganz nach diesem Schema ge-
gangen ist.
J. Roscoe, Notes on the Bageshu. Journ. ol" the royal
anthrop. Journal 1909, 181 — 195 erzählt von diesem Bantuvolk
am Berg Elgon. Bei der Geburt von Zwillingen werden Eltern
und Kinder drei Tage lang in einer rasch erbauten Hütte ein-
geschlossen. Nach einer Feier, die mit ihnen vorgenommen
wird, ist dann allgemeine Freude.
Sie haben Beschneidung der Knaben und Mädchen. Man
schneidet etwas von den labia majora ab. Eine Schlange wird
angebetet, man hat ein besonderes Haus für diesen Zweck.
Man sieht Geister in Felsen und Wasserfallen. Auch die Kunst
des Regenzaubers wird geübt.
Dr. E. Pechuel-Loesche hat den zweiten Teil des dritten
Bandes seines Berichtes über die „Loango-Expedition" 1907
herausgegeben und auf S. 265 — 472 sich sehr ausführlich mit
dem Seelenleben der Eingeborenen beschäftigt. Er spricht sehr
gründlich über den Gottesnamen Nsambi, den er sicher mit
Recht für älter hält, als die Mission, da er ja mit geringen
lautlichen Abweichungen sich von Kamerun bis zu den Herero
findet.^ Er beschreibt geweihte Stätten, tempelartige Bauwerke
und die dabei fungierenden Priester. Es ist sehr gut beobachtet,
daß er versichert, man kann über das Fortleben der Seele
ebensowohl bejahende als verneinende Antworten erhalten, je
nachdem die Frage gestellt oder verstanden wird.
Der Zusammenhang der Geister mit den Seelen Verstorbener
wird erörtert. Es folgen Berichte über Spukgeister, Waldgeister
'Nyambi erscheint sogar bei denBarotse, vgl. Gabbutt , unten S. 481.
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 479
Omina, Hexen, Regenzauber usw. Als wichtiges Unterscheidungs-
mittel der Sippen, das sich vererbt, gilt das Tschina, das Ver-
bot. Vgl. dazu das damit identische Ikina bei Torday, Über
die Religion der Buschneger im südlichen Kongobecken, Globus,
Band 97, S. 84. Das Ikina darf man nicht essen, die dasselbe
Ikina haben, dürfen sich nicht heiraten. Ich halte es für wahr-
scheinlich, daß der nicht seltene Stamm kina „tanzen" damit
zusammenhängt. Vgl. dazu E. Torday und T. A. Joyce. On
the Ethnologie of the South -Western Congo Free State. Journal
of the Anthrop. Inst. 1907. S. 133 ff.
Eine sehr schöne Monographie über Märchen, Sprüchwörter
und Religion mehrerer Kongostämme haben wir durch die
Arbeit von E. Lamann und anderer schwedischer Missionare
erhalten in Etnografiska Bidrag af Svenska Missionär I Afrika.
Utgifna af Erland Nordenskiöld. Stockholm, 1907. Diese Bei-
träge sind um so wertvoller, als sie zum Teil von Eingeborenen
aufgezeichnet sind, die früher selbst Fetischpriester waren und
also sicher eine gute Kenntnis der Gebräuche besaßen. Ich
kann leider auf die interessanten Texte nicht näher eingehen,
da mir das Schwedische zu fremd ist.
Sir Harry Johnston, Geoi^e Grenfell and the Kongo,
London, 1908, gibt S. 632 ff. Mitteilungen über die Religionen
der Bewohner des Kongostaates, von denen manche sprachlich
zu den Sudanvölkern gehören, andere Bantu sind. Auch hami-
tische Einflüsse nimmt der Verfasser an. Besonders ausführlich
sind die Berichte der Begräbnisgebräuche und Mannbarkeits-
feiem. Sehr gute Illustrationen von Masken, Tänzen und Idolen
sind beigegeben.
In Band V der Collection de Monographies ethnographiques
publice par Cyr. van Overbergh, Brüssel, 1909, gibt Delhai
ausführliche Notizen über die Warega im belgischen Kongo.
Die Tänze, die zur Einweihung in die verschiedenen Grade
oder Kasten gehören, in die das Volk sich gliedert, werden in
großer Vollständigkeit beschrieben. Sehr abweichend von anderen
480 Carl Meinhof
Bantustämmen gelten Zwillinge hier als glückbringend wie bei
den Eweern. Der Vater zeigt sich stolz und unbekleidet dem
Volke, man feiert ein allgemeines Freudenfest. Kinder, die die
Oberzähne zuerst bekommen, werden nicht getötet, werden aber ]
als unheilbringend gemieden.
Ich verweise noch auf A. de Clerq, quelques legendes
des Bena Kanioka. Anthropos 1909. S. 71 flF. und P H. Trille,
les legendes des Bena Kanioka et le Polk-lore Bantou. Ebenda
S. 945 ff.
Von den noch so wenig bekannten Ovambostämmen in
Südwestafrika erzählt uns H. Tönjes, Ovamboland, Land, Leute, i
Mission. Berlin, 1911. Der Verlasser schildert sehr anschaulichl
und mit guten Illustrationen die Sitten der Kuanjama. Sehr
eigentümlich ist hier eine Puppe, die die jungen Mädchen
tragen, und die eine magische Bedeutung zu haben scheint.
Die Mannbarkeitsfeier der Mädchen wird ausführlich geschildert.
Man begräbt die Toten im Rinderkraal. Aber Häuptlinge, die
nicht beschnitten sind, werden über der Erde ausgestellt und
die Leiche mit Pfählen fest umgeben. Beim Essen von der
neuen Ernte findet ein Fest statt, ebenso beim Beziehen einer?
neuen Wohnung. Der Verfasser erzählt von dem Gott Kalunga,
dessen Name auch in den Nachbarsprachen bekannt ist, sowie
von Geistern und Dämonen. Besonders ausführlich verweilt er
bei dem Omen, das u. a. auch in Muskelzuckungen besteht.
Beim Gottesgericht wird ein glühendes Messer verwandt, bei
einem Zaubermittel gebraucht man Menschenfleisch, obwohl
Kannibalismus sonst unerhört ist. Zu den mancherlei Geboten,
die mit einzelnen Zaubermitteln verbunden sind, gehört auch;
das, daß gewisse Leute alles, auch die Speise, nur von der|
Erde aufnehmen dürfen. Für Kranke werden Opfer dargebracht.
Dannert, Zum Rechte der Herero, Berlin, 1906, spricht
S. 11/19 sehr eingehend über die eanda und oruzo der Herero,
mütterliche und väterliche Sippe, S. 22/24 über Beschneidung,
Haar- und Zahnweihe.
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 4SI
Über die Sotho in Transvaal sind neuerdings einige kleine
Schriften im Verlag der Berliner Mission erschienen.
W. Taurat, Die Zauberei der Basotho, Berlin, 1910, 20 S^
das eine Anzahl wertvoller Notizen enthält. In populärer Form
bewegen sich die Schriften von C. Hoffmann, „Der Sohn der
Wüste", „Am Hofe der Büffel", „Was der afrikanische Groß-
vater seinen Enkeln erzählt", „Afrikanische Heidengötter und
ihre Knechte", aber es stecken doch gute Beobachtungen in
den kleinen Heften.
H. W. Gabbutt, Native witchcraft and superstition in
South-Africa, Journal of the Royal Anthropol. Institute, 1909,
S. 530/558, erzählt von verschiedenen Arten der Zauberer. Er
gibt auch Abbildungen der Zauberwürfel. Nyambi ist Gottes-
name bei den Barotsi.
C. W. Willoughby, Notes on the Initiation ceremonies
of the Becwana. Journal of the Royal Anthropol. Institute,
1909, S. 228/245. Der Verfasser liefert ziemlich eingehenden
Bericht über die Gebräuche bei den Beschneidungsfeierlichkeiten
der Betschuanen. Dem Verfasser ist es gelungen, auch sehr
viele Lieder aufzuzeichnen, von denen manche uns die Ver-
mutung nahelegen, daß es sich um verhüllte Erotik handelt.
Eins, das sie ganz unverhüllt bietet, teilt er mit. Die Knaben
werden sehr geschlagen und zum Gehorsam gegen die Eltern
ermahnt. Vgl. noch C. H. Stigand, notes on the natives of
Nyassaland, N. E. Rhodesia and Portuguese Zambesia. Journal
of the Anthropol. Institute, 1907, S. 119/132. Ich mache hier
besonders auf das über Träume Gesagte aufmerksam.
G. Tessmann gibt in der Zeitschrift für Ethnologie, 1909,
S. 874/889 sehr überraschende Mitteilungen über die Religions-
formen der Pangwe in Südkamerun. Er bringt Bilder von den
Tänzen, die mit den Schädeln der Ahnen aufgeführt werden,
und von großen Lehmfiguren, die auf der Erde liegend dar-
gestellt werden. In den anthropogonischen Mythen finden sich
Anklänge an Biblisches, die auf eine alte Berührung mit dem
Archiv f. Keliffionawissenachaft XIV jj
482 Carl Meinhof
Islam oder der christlichen Mission schließen lassen. Vsl. dazu
den Bericht im Globus, Band 97, 1, 2. Ich verweise hier be-
sonders auf die magischen Vorstellungen, die mit der Schmiede-
kunst zusammenhängen, auf die Ahnenfiguren und die hier in
größerem Maßstab wiedergegebenen Lehmfiguren. Hoffentlich
gelingt es bald, Originaltexte von den Eingeborenen über ihre
Mythen zu erhalten. T. hat auch Beobachtungen über die Vor-
stellungen der Pygmäen angestellt.
Vgl. dazu Dr Karutz, Die Lübecker Mpangwe-Expedition.
Mitteil, der Geographischen Gesellschaft und des Naturhistorischen
Museums, 1908, Heft 22. Hierzu gehört noch Tessmann,
Drei Mabeamärchen. Globus, Bd. 92, S. 75/78.
An das Grenzgebiet zu den Sudansprachen führt uns Dr.
A. M an sfeld, Urwalddokumente, vier Jahre unter den Groß-
flußnegern. Berlin, D. Reimer, 1908. Unter den Märchen, diej
der Verfasser S. 223/237 mitteilt, fällt zunächst die große Zahl
der aetiologischen Märchen auf. Es wird erklärt, warum dasi
Perlhahn rote Füße hat, warum der Affe auf Bäumen lebtJ
warum das Huhn scharrt usw. Bei einigen Märchen finden.]
sich wertvolle moralische Züge. Vgl. die Strafe des Diebstahls]
in Nr. 6. Lohn einer guten Tat, Nr. 13. Totenopfer bringt!
Segen, Nr. 27. Lohn der Sparsamkeit, Nr. 28. Eine Reihe]
von Märchen berühren die kosmogonischen und anthropogo-
nisehen Vorstellungen der Leute. Die Entstehung des Donners!
S. 232 wird auf einen Kampf zwischen Himmel und Erde]
zurückgeführt. Gottes Kinder sind Sonne, Mond und Finsternis J
S. 234. Der kleine Sohn Gottes geht auf die Erde. Dort]
wohnte er, bis er starb, und kehrte dann in den Himmel zurücl
S. 237. Nach einer anderen Erzählung stammt der Tod daher^
weil die Menschen das weiße Schaf getötet haben, S. 236.J
Vgl. dazu die Erzählung vom Sonnenschaf bei den Hottentottei
Vgl. auch die Kosmogonie, S. 209.
Besonders wichtig scheinen mir die Fabeln 32 und 37 zuj
sein, die von den nahen Beziehungen des Menschen zu den.!
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 433
Tieren handeln. VgL dazu Fabel 8, wonach eine Schildkröte
getötet wird, wenn jemand krank ist, und den höchst merk-
würdigen Bericht über die 16 heiligen Nilpferde S. 220 ff.,
die so wenig scheu waren, daß Mansfeld sie photographieren
konnte.^ Der enge Zusammenhang zwischen Menschen und
Tieren wird besonders beleuchtet durch Berichte von Erfahrungen
mit Leuten, deren Totem Nilpferd, Fisch und Elephant waren.
Die nahe Beziehung zur Tierwelt macht d^ Opfer von Ziegen
und Rindern bei der Einweihung des „Gotteshauses", S. 218/19,
verständlich. Auch bei anderen Opfern spielen Stücke Fleisch
eine RoUe, S. 217 ff.
Die Ahnenverehrung nimmt einen breiten Raum ein, da
die Leute ja, wie aus den Märchen hervorgeht, über das loten-
reich viel zu sagen wissen; S. 217 wird ein Gebet an die
Toten mitgeteilt. Ihnen werden Speisopfer, und vor allem
Trankopfer dargebracht (Palmwein, Rum). Die Seele wird auch
hier mit dem Schatten identifiziert, S. 220.
Nach Aussage der Leute sollen die Masken, die bei den
Tänzen gebraucht werden, mit dem Ahnenkult zusammenhängen,
S. 212. Jedenfalls berühren sich hier die Ahnenvorstellungen
mit den Mondvorsteliungen. M. gibt einige gute Bilder dieser
„Jujuanzüge", wie man die Masken dort nennt.
Die Dämonen, von denen auch bildliche Darstellungen
erwähnt werden, S. 212, 240, spielen hier die Rolle von ünter-
göttem, wie bei den Eweleuten in Togo. Darüber hinaus ist
von dem Gott Obaschi die Rede, ein Name, den wir auch bei
den Subu am Kamerunberg als Obasi wiederfinden. Dieser
Gott offenbart sich durch Träume. Er soll über den Wolken
wohnen. Im Gebet redet man ihn mit Ewerok — babi an.
Ich finde aber auch die Anrede Obaschi, S. 243, bei dem Arzt,
der für den Patienten betet.
' Vgl. die Abbildung eines heiligen KrokodUs Journal of tfie
Anthropol. Jnstit. 1909. S. 98.
31*
484 Carl Meinhof
Besonders interessant sind die Mitteilungen über den Haus-
altar, S. 240, für Private und das Gotteshaus, S. 217/18, für
öffentliche Kulte.
Ich verweise auch auf den Bericht über die Totenfeier
S. 199 ff., vv^obei ein Zahn als Reliquie gilt, S. 203, und wobei
meist großer Aufwand getrieben wird. Auch Gottesgerichte
und ärztliche Tätigkeit werden ausführlich beschrieben.
In das Grenzgebiet der Bantustämme führt auch B. Anker-
manu mit seinem „Bericht über eine ethnographische For-
schungsreise ins Grasland von Kamerun", Zeitschrift für Ethno-
logie, 1910, S. 288/310. Danach dürfen wir ausführliche Mit-
teilungen über Märchen und Kulte und besonders Feste der Bali
erwarten. Auch er fand hier Figuren auf dem Erdboden und
auch Schlangen aus Stein im Hause des Häuptlings von Banso.
Auf das Gebiet der Sudansprachen sind wir schon wieder-
holt hinübergeführt. Vgl. oben Migeod, Schönhärl, Ankermann,
Mansfeld, Weiß, Northcote, Johnston. Zu diesen Stämmen
führen auch Desplagnes und Frobenius, deren Werke ich
aber lieber bei den Hamiten bespreche, da dorthin das Schwer-
gewicht ihrer Ausführungen neigt.
Hierher gehört auch G. Antze, Fetische und Zaubermittel
aus Togo, im Jahrbuch des städtischen Museums für Völker-
kunde zu Leipzig, Band II, 1907, S. 37/56. Ferner ist beachtens-
wert A. Tepowa, A short history of Brass and its people.
Journ. Afr. Soc. 1907, S. 32/88. Er erzählt von Schlangenkult
bei dem Brass- Volk, von männlichen und weiblichen Gottheiten,
Opfern von Ziegen, Rindern und Menschen, Kastenunterschieden,
Begräbniszereraonien, Festen, Tieranbetung usw.
Ferner Spiess, Jeoh and Se, Globus, Band 94, S. 6/7.
Über einen Schlangenkult bei den Eweleuten berichtet der-
selbe im Globus, Band 98, Nr. 21.
Westafrikanische Steinidole nach Rütimeyer und Joyce.
Globus, Band 96, S. 99. Vgl. C. H. Elgee, The Ife stone car-
vings. Journ. of the Afr. Soc. 1908, S. 338/343. Jn Yoruba
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 485
sind Nachbildungen von Menschen, Schildkröten, Krokodilen,
Fischen u. a. aus Quarz und Granit gefunden. Sie dienen
kultischen Zwecken.
P. Fr. Müller hat seine sehr lesenswert« Arbeit über die
Religionen Togos in Einzeldarstellungen fortgesetzt im Anthro-
pos, 1907. Außerdem möchte ich auf folgende Aufsätze hin-
weisen:
Fr Wille, Der „Königseid" in Kpandn und bei einigen
Ewe- Stämmen. Anthropos 1908, S. 426 ff.
M. Friedrich, Description de l'enterrement d'un chef ä
Ibruzo (Niger). Anthropos 1907, S. 100 ff. Hier wird u. a.
ein Menschenopfer beschrieben.
John Parkinson, a note on the Efik and Ekoi tribes of
the Eastem province of southern Nigeria, Journal of the Anthro-
pological Institute 1907, S. 261 ff. Hier finden sich Abbil-
dungen der Egbo -Häuser.
M. Delafosse, le peuple siena ou Senoufo (c6te d'ivoire).
Revue des etudes ethnographiques 1908.
H. France, Worship of the thunder-god among the Awuna
(Goldküste). Joum. of the Afr. Soc. 1908, S. 79/81.
A. Ffoulker, funeral customs of the Gold coast. Ebenda
1909, S. 154/164.
John Parkinson, Yoruba Folk-lore. Ebenda 1909,
S. 165/186.
Die Berührung mit hamitischen und semitischen Stammen
tritt bei manchen Bewohnern des Südens stark zutage. Vgl.
J. M Henry. Le culte des Esprits chez les Bambaras. An-
thropos 1908, S. 702 ff. An Sudanischem sind hier besonders
die Masken beachtenswert.
Ferner P. Brun, notes sur les croyances et les pratiques
religieuses des Malinkes fetichistes. Anthropos 1907, S. 722 ff.,
942 ff., sowie Fernand Daniel, etude sur les Soninkes ou Sara-
koles. Anthropos 1910, S. 27 ff. Hier ist islamischer Einfluß
unverkennbar.
486 Carl Meinhof
N. W. Thomas. The Edo speaking peoples of Nigeria.
Journ of the Afr. Soc. 1910, S. 1/15.
J F. J. Fitzpatrick. Notes on the Kwolla district
(Nord -Nigeria). S. 16/52.
Die Hamiten
Da ich mich überzeugt habe, daß die Ful linguistisch zu
den Hamiten zu rechnen sind, man sollte genauer sagen, sie
sind Prähamiten, so sehe ich keinen Grund, sie von den Hamiten
zu trennen. Was uns Frobenius neuerdings von ihrer ritter-
lichen Art berichtet, steht damit im Einklang, und wir werden
wohl nicht irre gehen, wenn wir jene Fürstengeschlechter der
Wahima, Watussi usw., von denen oben die Rede war, bei den
Bantu mit ihnen in Zusammenhang bringen, und die Entstehung
der Bantusprachen begreifen, als veranlaßt durch eine Ein-
wanderung fulähnlicher Stämme in nigritisches Sprachgebiet.
Den linguistischen Nachweis habe ich hierfür erbracht, soweit
es heute möglich ist, in meinen Hamburgischen Vorträgen:
„Die moderne Sprachforschung in Afrika", Berlin 1910, ferner
in der zweiten Auflage meiner Lautlehre der Bantusprachen,
Berlin, G. Reimer, 1910, und in dem Aufsatze „Ergebnisse der
afrikanischen Sprachforschung" im Archiv f. Anthropologie 1910,
Heft 3 und 4.
Desplagnes, Louis, Le Plateau Nigerieu, Paris 1907.
Ich befinde mich diesem Buche gegenüber in einiger Verlegen-
heit. Es enthält eine Fülle interessanter Mitteilungen über
prähistorische Steindenkmäler, Gräber und Reste alter vor-
islamitischer Kultur. Aber es ist fast unmöglich zu erkennen,
was von dem Verfasser beobachtet, und was von ihm mit vielem
Aufwand von Gelehrsamkeit und Phantasie hinzugedacht ist.
Er hat sicher das Verdienst, uns auf diese Welt, die für uns
versunken war, aufmerksam gemacht zu haben, aber ich glaube,
man wird gut tun, weitere Informationen abzuwarten, die es
einem nüchternen Berichterstatter ermöglichen, sich ein Urteil
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 487
ZU bilden. Seine Einteilung der Völker in „Fische" und „Vogel"
sind durch phantastische Etymologien der Volksnamen gestützt,
wobei nicht angegeben ist, in welcher Sprache denn diese
Namen gedacht sind. Es ist mir unmöglich, aus alledem mir
ein klares Urteil zu bilden.
Vgl. auch L. Levistre, sur quelques stations dolmeniques
de l'Algerie. Über Dolmen in Algier. Anthropos 1907, S. 135ff.
mit vielen schönen Photographien.
Ungleich klarer sind die Mitteilungen von LeoFrobenius
im Ergänzungsband zu Petermanns Mitteilungen 35, Nr. 166,
1910. Die Märchen und Sagen sind auch in dem populären
Werk des gleichen Verfassers: „Der schwarze Dekameron'' ent-
halten. Sie sind durch ihre mannhafte Ritterlichkeit interessant.
Einiges ist sicher arabisch, anderes scheint Original zu sein,
doch wird man erst, wenn die Originaltexte vorliegen, darüber
S&nz klar werden können. Dem sind nun wissenschaftliche
Darlegungen über die Altersstufen und ihre Weihen, die Toteme,
Erscheinungen, die an den Werwolf erinnern, und die Zauber-
priester beigefügt. Daß Frobenius die Etymologien von Des-
plagnes nicht gelten läßt, müssen wir ihm Dank wissen, aber
die Deutung pulo „rot", die von Barth stammt, wird auch von
Sachkundigen bestritten. Ich glaube, daß eine gute Kenntnis
der von Frobenius geschilderten Welt uns auch für das Ver-
ständnis der Sitte und Religion in den Hirtenstämmen der
Bantu von Nutzen sein wird, und kann nur dringend die Be-
schaffung von möglichst vollständigen Originaltexten wünschen.
Daß ein Reisender die kaum geben kann, liegt auf der Hand.
Dazu gehört eingehende Sprachkenntuis und jahrelanges Leben
mit dem Volk.
Zu einer andern Gruppe, deren Zugehörigkeit zu den Ha-
miten auch umstritten wird, nach Ostafrika, müssen wir nun
unsem Blick richten.
A. C. H Ollis, The Nandi, Oxford 1909, bringt eine sehr
wertvolle Ergänzung zu seiner früheren Arbeit über die Masai.
488 Carl Meinhof
Der Verfasser gibt S. 4 und 5 die Einteilung des Volkes in
Gaue und Geschlechter, wobei das Totem jedes Geschlechtes
angegeben wird. Die Scheu, das Totemtier zu töten, wird hier
illustriert durch eine Entschuldigung, die ein Jäger an einen
Elefanten richtete, den er getötet hatte, indem er sagte, er
hätte ihn für ein Rhinozeros gehalten. Überraschend ist auch
der Bericht von dem Bienenschwarm, den ein Nandi, dessen
Totem die Biene ist, zu besänftigen weiß.
Die Hyäne wird allgemein gescheut, da man ihr die Toten
zum Praß hinwirft, vgl. S. 70. Man darf ihren Schrei nicht
nachahmen, S. 91. Man traut ihr Verkehr mit der Geisterwelt
zu und erbittet ihre Gunst für das Leben eines Kindes, wenn
viele seiner Geschwister gestorben sind. Die mancherlei Gebote,
die die verschiedenen Geschlechter haben, sind sehr merkwürdig,
einige dürfen kein schwangeres Mädchen heiraten. Aber es ist
unmöglich, alle die wichtigen Bemerkungen des Buches auszu-
schreiben. Vgl. z. B. das Gebet bei der Einweihung eines Hauses,
S. 15, das Gebet beim Topfmachen, S. 35, das Gebet des
Schmiedes, S. 37, das Gebet zu Gott und den Ahnen um Schutz,
S. 42, das Gebet im Kriege, S. 42/46, bei der Ernte, S. 47, bei
Hungersnot, S. 48, bei der Geburt, S. 65, die Benutzung des
Kuhhames zum Waschen der Hände und Milchgefäße, S. 21,
das Trankopfer, das von Milch und Blut für Gott und die Ahnen
jedesmal beim Genuß gespendet wird, S. 22. Die Ahnen er-
halten auch Opfer an Bier und Speise, S. 41. Der erste Medizin-
mann, der nicht zu Gott, sondern zu den Ahnen betet und
heilige Schlangen hält, S. 51. Besondere Aufmerksamkeit möchte
ich auf die Beschneidungsfeiern der Knaben und Mädchen richten,
die hier ausführlich beschrieben werden. Die praeputia der
Knaben werden in ein Rinderhorn gesammelt, dann Gott ge-
opfert und schließlich in Rinderdung unter einem Feigenbaum
begraben. Die jungen Männer tragen vor der Beschneidung
Mädchenkleider, die Mädchen Männerkleider, S 58. — Zur
Brautwerbung machen sich die Eltern bei zunehmendem Mond
Die afirikanischen Religionen 1907 — 1910 489
auf, S. 60. Die Hauptfrage ist, zu welchem Stamm ein Mädchen
gehört, da bestimmte Geschlechter kein Konubium haben,
S. 60/61. Den Namen eines Toten darf man nicht nennen, S. 71.
Gras ist ein Schutz- und Friedenszeichen, S. 78. Es wird auch
beim Eid benutzt, S. 85. Speichel wird viel gebraucht, am
Unheil abzuwehren und Segen zu bringen, S. 78. Man nimmt
an, daß die Seele im Schlaf aus dem Körper geht, und man
darf niemand schnell aufwecken, damit sie sich zurückfindet.
Sie benutzt hierzu das Loch, das durch das Ausschlagen der
Schneidezähne entsteht, S. 82. „Das böse Auge" ist hier sicher
nachgewiesen, S. 90. — Es gibt allerlei Dinge, die unrein
machen, besonders jede sexueUe Funktion, die Berührung eines
durch Blitz getöteten Tieres, eines Leichnams usw. Die Rei-
nigung geschieht durch Waschung, S. 92. — Die Menschen
entstanden so, daß das Bein des Dorobo, der zuerst da war,
anschwoll, und daß ein Knabe und ein Mädchen herauskam,
S. 98. Vgl. unten die Hottentotten. Auch hier wird das Sterben
des Menschen in Gegensatz zum Mond gebracht, der wieder
lebendig wird, wie bei den Nama, S. 98." Der Regenbogen wird
als ein Zeichen angesehen, daß der Regen bald aufhört, S. 100.
Auf die Rätsel und Märchen kann ich nur kurz hinweisen-
Merkwürdig ist die große Zahl der Gebete zu Gott (der Sonne),
die der Verfasser anführt.
An dem nahen Zusammenhang der Nandi mit den Masai
ist nach Sprache und Sitte kein Zweifel. Merkwürdig ist, daß
das Hauptgebet beim Kriegstanz in Masaisprache gesungen wird.
Von Merkers bekanntem Buch über die Masai ist eine
zweite Auflage erschienen, die von Hommel bearbeitet ist.
Hommel vertritt die Ansicht, daß die religiösen Überlieferungen
der Masai, die so merkwürdig an die mosaischen Berichte an-
klingen, alt sind. Ich kann mich demgegenüber auf meine
früheren Ausführungen in der Zeitschrift für Ethnologie 1904,
S. 735/744 beziehen. Vgl. auch das oben über Gutmann
Gesagte.
490 Carl Meinhof
Claus, Die Wangomwia, Zeitschrift f. Ethnologie 3/4, 1910,
S. 491, gibt einige Mitteilungen über religiöse Grebräuche dieses
versprengten Hamitenstammes in Deutsch-Ostafrika. Sie haben
Beschneidung bei beiden Geschlechtem.
F. Bieber, Die geistige Kultur des Kaffitscho, Revue des
etudes ethnograph. et sociologiques 1909, S. 37 ff. In diesem
von semitischen Einflüssen stark durchsetzten Hamitenstamm,
der jetzt Abessinien angegliedert ist, hat sich neben abessinischem
Christentum und Islam noch alter Volksglaube erhalten. Man
nennt ihn hekketino nach dem „Grott" hekko. Es gibt keine
Bilder oder Idole. Die Priester essen nur Rindfleisch, vor
allem kein Schaffleisch. Der „Kaiser" Kaje Scherotschi,
1854 — 1870, trat vom Christentum zum hekketino über, und
die Kirche in seiner Burg wurde hekko -Tempel. Das Essen
unreiner Tiere ist verboten, als: Pferd, Esel, Wildschwein,
Flußpferd, Affe. Man opfert nur Stiere. Den Seelen der Toten
wird Honigbier gespendet. Auch die Dämonen des Waldes,
der Wiesen, der Wege, Flüsse und Berge werden verehrt. Man
kennt auch Hyänen, die die Rolle des Werwolfs spielen, und
ein sagenhaftes Raubtier, das viele Menschen verschlingen soll.
In manchen Gebräuchen scheint mir ein Einfluß der mächtigen
asiatischen Religionen, die hier die Volksreligion bedrängen,
vorzuliegen.
Zu den Hottentotten führt uns Dr. Leonhard Schnitze,
Aus Namaland und Kalahari. Jena 1907, 752 S. (60 M.). Das
vortreffliche Buch, das ich in meinem letzten Bericht kurz er-
wähnte und inzwischen an anderer Stelle angezeigt habe, hat
unsere Kenntnis der hottentottischen Phantasie wesentlich be-
reichert. Die hier gebrachten Märchen sind nicht, wie die bis-
her bekannten, salonfähig gemacht, sondern sie zeigen den
Hottentotten in einer Ursprünglichkeit, wie man sie bei einem
Volk, das so lange unter europäischem Einfluß steht, nicht er-
warten sollte. Nur gelegentlich läßt Mission und Kultur sich
an einem kleinen Zug erkennen. So arbeiten einmal der
J
Die afrikanischen Religionen 1907 — 1910 491
Schakal und das Stachelschwein beim Lehrer. Ein andermal
ist vom Wagen die Rede, mit dem sich der Schakal von
Buren bezahlen läßt. Wieder ein andermal sprechen Räuber
in frömmelnder Weise davon, was ihnen ,,der Herr^' beschert
hat. Von solchen kleinen Zügen abgesehen, enthält das Märchen
echt afrikanische Züge. Da ist die redende Hütte, die sich bei
den Suaheli, den Duala und sonst findet, S. 476. Die Geschichte,
wie man sich verabredet, die Kinder zu töten, wobei der eine
betrogen wird, S. 507, und die ähnliche Geschichte, wie man
die Mütter töten will, S. 463. Auffallend oft kommen hier die
Verwandlungen von Menschen in Tiere und umgekehrt vor,
auch in der Form, daß das vom Löwen gefressene Mädchen
ein Löwe wird, S. 409, und daß es nach Tötung des Löwen,
der erst in Menschengestalt kam, wieder lebendig erscheint.
Besonders häufig sind hier auch die Ehen zwischen Tier und
Mensch und zwischen verschiedenen höchst unähnlichen Tieren.
So zieht ein Froschweib sich Menschenkleider an und weiß sich
an Stelle der rechtmäßigen Frau zu setzen, S. 432. Eine mensch-
liche Frau heiratet einen Elefanten, eine andere eine Schlange,
S. 446, Strauß und Löwe, S. 501, Giraffe und Fliege heiraten
sich. — Allerlei mythologische Vorstellungen spielen hinein in
die Märchen. Ein Stein wird als Vater angeredet und um
Schutz gebeten — ein Zug, der sich oft wiederholt.^ Der
Mond, S. 448, die Sonne, S. 496, Gespenster, S. 450, und andere
Geisteswesen treten in einer Reihe von Fabeln auf. Wir
kommen darauf noch zurück. Allerlei moralische Züge finden
sich neben der unverkennbaren Freude an Spitzbubenstreichen
des Schakals — das ist hier das kluge Tier. So wird der
Übermut bestraft, S. 435, das Mitleid der Brüder mit der hart
bestraften Schwester rettet sie, S. 436, während Eltern und
Schwestern teilnahmslos bleiben. Der Geiz wird bestraft, S. 438.
^ So im Mende-Märchen Nr. 17 bei Migeod a. a. 0. anrf dem
Sud ansprachge biet; bei den Bantu finde ich es im Herero -Märchen.
Brincker Wörterinteh des Otji- Herero. Leipzig 1886, S. 350.
492 Carl Meinhof
Das Erdmännchen (ein Tier) straft den Schakal wiederholt
Lügen, S. 479 ff. Eine Kuh beweist eine besondere Aufrichtig-
keit, S. 441.
Eine Reihe von Märchen hat aetiologischen Charakter.
So die Geschichte vom Pavian, die erklärt, woher er seine Ge-
säßschwielen hat, S. 469, und woher er den wie geknickt aus-
sehenden Schwanz hat, S. 536, und warum der Rücken des
Schakals wie verbrannt aussieht, S. 496.
Die in den Geschichten und Märchen vorkommenden Reste
alter mythologischer Vorstellungen sind reichhaltiger, als man
denkt. Seltsame Spukdämonen, die die Augen auf der Ober-
seite der Füße haben und Menschen fressen, kommen hier vor,
S. 392 und 402. Eine Art Felddämonen sind die Buschspringer,
S. 404. Die S. 443 beschriebene, dem Eulenspiegel ähnliche
Figur erinnert an den Huveane der Basutho, der in anthro-
pogonischen Mythen dort erscheint. Einen breiten Raum
nehmen die Sagen von einem Helden Heitsi-Eibeb ein, von dem
wir schon aus "den Mitteilungen von Theophil Hahn wußten.
Es scheint sich um einen Heroen zu handeln, mit dem Stein-
haufen in Verbindung gebracht werden, die man im Lande
noch findet, und die man Heitsi-Eibeb-Gräber nennt. Ein Zu-
sammenhang mit diesem Heros und dem Mond ist schon von
Hahn behauptet. Daß die Sonne auch kultische Bedeutung
gehabt hat, geht daraus hervor, daß ein Schaf ihr besonders
geweiht ist. Vgl. das Opfer weißer Schafe bei den Baziba,
Rehse, a. a. 0., S. 127, den Ewe und sonst. Das Töten
dieses Schafes zieht seltsame Strafen nach sich, die sich nur
durch die völlige Erstattung des Schafes aufheben lassen, S. 497 ff.
Als höchste Figur ragt Tsui-//goab über die anderen Vor-
stellungen hinaus. Er hat zwar noch manche heroische Züge,
aber scheint doch schon vor der Einführung des Christentums
Eigenschaften eines Himmelsgottes gehabt zu haben. Das ist
um so wahrscheinlicher, als die Mission den Gebrauch dieses
Namens für den christlichen Kultus nicht angenommen hat.
Die afrikaoischen Religionen 1907 — 1910 493
Dagegen ist der Name in kaffrisierter Form als Utixo in die
Kirchensprache der Amaxosa aufgenommen. Dies Utixo scheint
aber auch zu bestätigen, daß die alte Form des Wortes eben
T8ui-//goab ist und nicht Tsu-//goab lautete. Danach würde die
Übersetzung „Wundknie" doch die rechte sein, und ich habe schon
darauf hingewiesen, wie sehr das an die Masaierzählung erinnert
von dem alten Mann, aus dessen Knie zwei Kinder hervor-
kamen bei HoUis, S. 153. In noch stärker mythologischer
Form findet sich die Geschichte bei den Nandi, siehe oben.*
Diesem guten Gott, den man in Verlegenheit, Not, Schrecken
anruft, auch christliche Hottentotten tun dieses unwillkürlich,
steht ein böser Gott („der Herabstürzer'') gegenüber, S. 448,
dessen Name beim Fluch genannt wird. Soviel ich sehe, ist
das alles eine Bestätigung meiner auf linguistische Forschungen
gegründeten Ansicht, daß die Hottentotten einen erheblichen
Rest von Hamitenblut bis nach Südafrika mitgebracht haben.
Noch möchte ich darauf hinweisen, daß mythologisches
Gut auch zwischen Feinden sich austauscht. Die alten Feinde,
Hottentotten und Herero, haben u. a. die Fabel vom Schakal
und der Hyäne gemeinsam, die bei Schultz^, S. 457, in ver-
stümmelter Form steht. Vollständig finde ich sie im Herero
bei Büttner, Zeitschrift f. afrikan. Sprachen, I, S. 998 ff.
Zu meinem Lehrbuch der Namasprache, Berlin 1909,
G. Keimer, hat Missionar Wandres eine Reihe von Fabeln
und Sagen der Nama mitgeteilt, die z. T. neu sind, z T sind
sie Varianten zu der Fassung bei Schnitze. Vgl. besonders die
Geschichte von der Frau, die den Elefanten heiratet, S. 155.
Hier erscheint auch der hilfreiche Fels wieder, der „meiner
Voreltern Fels" angeredet wird. Auch die Geschichte vom
* VgL dazu die noch auffallendere Geschichte bei A. Ham-
burger, a. a. 0. Dort entsteht ,Das Kind der Weisheit', eine Art
Helfer und Heiland, aus dem Bjiie einer Frau, ehe sonst ein Mensch
geboren war, und lehrt das erste Menschenpaar Kinder zu erzeugen.
S. 298, 303. Hier findet sich die Geschichte also auch im Bantugebiet.
494 Carl Meinhof
Sonnenschaf ist hier sehr ausführlich mitgeteilt, S. 169. Aus
Theophil Hahns „Sprache der Nama" sind besonders Fabeln
vom Heitsi-Eibeb abgedruckt. Über die seltsame Geschichte
vom „Einzigen" und vom „Geehrten" wüßte man gerne mehr.
Sie sieht aus wie ein Stück aus einer größeren Sage, die sich
mit diesen Helden beschäftigte.
Unsere Kenntnis der religiösen Vorstellungen der Bu sch-
iente ist bereichert durch einen Aufsatz vom Missionar
Vedder, der in der Zeitschrift für Kolonialsprachen, Berlin,
G. Reimer, erschienen ist.
Die Gräber der Angehörigen werden gemieden. Nach
Vedder kennen die Buschleute ein höheres Wesen, daß sie Huwe
oder Hue nennen. Man redet es mit Ba „Vater" an und zwar
jährlich einmal, wenn die Feldzwiebelchen reifen. Ehe man
davon ißt, findet eine Zeremonie statt, in der der Alteste als
Priester und Vorbeter des einfachen Gebetes fungiert. Ein anderes
Gebet, das man in Krankheitsfällen gebraucht, kann von jeder-
mann gesprochen werden. Man spricht es am Grabe eines Ahnen.
Vgl. dazu die Mitteilungen von Passarge über die Be-
gräbnissitten der Buschleute „Die Buschmänner der Kalahari",
Berlin 1907, und ihren Glauben an ein Fortleben nach dem
Tode. Vgl. dazu auch Passarge, Südafrika, Leipzig 1908, S. 258.
Außer den Malereien, die man den Buschleuten zuschreibt, sind
jetzt auch Steinreliefs in Südafrika aufgefunden, deren Ursprung
und Bedeutung nicht bekannt ist. S. Globus Bd. 96, S. 99.
Eine kurze Notiz über die Religion der Pyginäeu findet
sich bei A. B. Lloyd, In dwarf land and cannibal country,
London 1907, S. 279. Er fand kleine Bündel von Pflanzenkost
und kleine Näpfe mit Honig am Fuß riesiger Urwaldbäume.
Auch kleine Tempel erwähnt er, vermutlich „Geisterhütten",
und allerlei Zauber, den sie an sich tragen.
Durch den Sklavenhandel sind afrikanische Kulte auch in
Amerika eingedrungen und haben dadurch eine erstaunliche
Lebenskraft bewiesen. VgL Etienne Ignace, le fetichisme
Die afrikanischen Religionen 1907 — 191U 495
des negres du Bresil. Antkropos 1908, S. 881 ff. Vgl. dazu
A. Ffoulker, the latest fetich on the Gold Coast. Joum. of
the Afr. Soc. 1909, 388/397. Hieraus geht hervor, daß noch
heute neue Kulte in Afrika entstehen.
Ob in Südafrika ein alter Einfluß asiatischer Bdigionen
vorliegt, ist noch immer umstritten. R. X. Hall, Prehistoric
Rhodesia, London, Leipzig 1909, behauptet mit großem Nach-
druck, daß die Ruinen in Rhodesia, besonders Zimbabye, vor-
historischen Ursprungs sind, während Maciver sie für jung hält.
Passarge spricht sich dafür aus. daß Südaraber die Ruinen
gebaut haben, hält aber einen späteren Ursprung für möglich, Glo-
bus, Bd. 91, S. 229 ff. Vgl. „Südafrika" dess. Verfassers, S. 262/269.
Vgl. Edward M. Andrews, The „Webster" Ruin in Sou-
thern Rhodesia, Africa. Er hält die Ruine für nicht älter als
Ende des 16. Jahrhunderts. Sie stammt von einer Xegerrasse
und hat religiöse Zwecke. Er nennt es einen Tempel. Auf-
gerichtete Monolithe stehen dabei. Eine Porzellanschale ist
gefunden. In den Gräbern lagen keine Skelette, so daß Leichen-
brand angenommen wird. J. Torrend vermutet sabäischen
Einfluß aus der Übereinstimmung gewisser Märchenstoffe mit
den Berichten von der Jugend des Moses. Mir will diese Über-
einstimmung allerdings nicht einleuchten. Vgl. Anthropos 1910,
S. 54 ff. Mehr Bedeutung scheint mir die Auffindung einer
Münze zu haben, vgl. 0. Trapp und Th. Stratmann, Fund
einer althebräischen Münze in Natal. Anthropos 1909, S. 168, 169.
J. H. Venning, notes on southem Rhodesia ruins in
Victoria district, Journ. of the Afr. Soc. 1908, 150/158 hält die
Ruinen für das Werk der Varoswe, deren Nachkommen im
Viktoriadistrikt noch leben.
Der Einfluß des Islam auf afrikanische Religionsformen
wird in der neugegründeten Zeitschrift von C. H. Becker,
Der Islam, Straßburg und Hamburg 19 10, noch besser als bis-
her untersucht werden können, da der Herausgeber durch ver-
schiedene Vorträge sein Interesse an dem Islam in. den deut-
496 ^^^^ Meinhof Die afrikanischen Religionen
sehen Kolonien besonders bekundet hat. Vgl. das oben bei den
Sudanspraehen Gesagte.
Wie stark sich vorislamitische Zauberformen innerhalb des
Islam halten, beweist das Werk von E. Douthe, Magie et
religion dans l'Afrique du Nord. Vgl. auch A. Bei, La popu-
lation musulmane de Tlemcen. Revue des etudes ethno-
graphiques 1908, p. 200 fiF. Desparmet, Mauresque et maladies
de l'enfance. Ebenda, S. 500 ff.
Henri A. Junod, the Balemba of the Zoutpansberg (Trans-
vaal). Folk-Lore. Vol. 19. Nr. 3, S. 276. Hier liegt ein gutes
Beispiel vor, mit welcher Energie ein versprengter Stamm von
oberflächlich islamisierten Afrikanern seine Riten festhält. Der
Verfasser sieht es als erwiesen an, daß die Venda die Be-
schneidung von den Lemba angenommen haben. Nach den
Sprachproben kamen die Leute sicher aus Ostafrika.
Über den Einfluß der christlichen Mission auf die Be-
griffsbildung der Afrikaner habe ich aufmerksam gemacht in
einem Aufsatz bei Warneck, Allgemeine Missionszeitsehrift 1906,
5. 205 ff., 5. und 6. Heft: Das missionarische Sprachproblem.
Vgl. „Die Mission als Sprachbildnerin" in Der alte Glaube, 1906,
6. und 7. Heft, ferner „Christus, der Heiland auch der Naturvölker",
Berlin 1907, „Christentum und Naturreligion", Missionsmagazin
1908, S.401ff. InMissionskreisen viel gelesen ist Job. Warneck:
„Die Lebenskräfte des Evangeliums", Berlin 1908, das indone-
sische Verhältnisse behandelt, aber gelegentlich auf Afrika
exemplifiziert. Beachtenswert ist auch Ralph A. D urand, Christian
influence on African Folk-Lore. Anthropos 1907, S. 976 Ö'.
Neben diesen ganz modernen christlichen Einflüssen stehen
sehr alte, von denen H. Schäfer und K. Schmidt berichten:
„Die ersten Bruchstücke christlicher Literatur in altnubischer
Sprache." „Die altnubischen christlichen Handschriften der
Königl. Bibliothek zu Berlin." Sitzungsberichte der K. Preuß.
Akademie d. Wissenschaften 1906, 43; 1907, 31.
3 Yedische Religion (1907-1910)
Von W. Caland in Utrecht
Die seit dem vorigen Berichte* verstrichenen Jahre waren
in bezug auf die Mythologie und die Religionsgeschichte
der alten Inder besonders ergiebig.
Bloom fields Religion of the Veda^ ist eine Sammlung
von sechs im Winter 1906/7 in Amerika abgehaltenen Vor-
trägen. Obschon der Fachgelehrte aus diesen Vortragen nicht
viel Neues lernen wird, sind sie auch ihm angenehm zu lesen
und als populär - wissenschaftliche Darstellung von Herzen
willkommen zu heißen, auch deshalb, weil die den Ein-
geweihten schon bekannten Ansichten des Verfassers über Art
und Wesen der indischen Götter hier zusammengefaßt gegeben
werden. Denn dies ist — anders als man es dem Titel des
Werkes nach erwarten würde — der Hauptinhalt dieser Vor-
träge, in denen eigentlich mehr über die Mythologie und die
verschiedenen Göttergestalten als über die eigentliche Vedische
Religion gehandelt wird: über die Liturgie des Veda z. B. ver-
nimmt man nur Spärliches. In seinen Betrachtungen über die
vergleichende Mythologie nimmt Bloomfield im allgemeinen,
wenn auch mit besonnener Kritik, den Standpunkt A. Kuhns
und M. Müllers ein; man sehe z. B. Bloomfields Behandlung
des Cerberus (^S. 105). Von Heranziehung der Ethnologie will
der Verfasser wenig wissen. Mir scheint er darin nicht recht
zu haben: wenn der Religionshistoriker auch die Ethnologie
in den Kreis seiner Untersuchungen hineinzieht, wird er als-
' Vgl. dieses Archiv XI S. 127.
* M. Bloomfield The Religion of the Veda: the ancient Religim of
India from Bg^veda to üpaniads, Putnam's Sons, New York and Lon-
don, the Knickerbocker Press, 1908.
ArchiT f. Beligiongwisseiiscbaft XIV 22
498 W. Caland
bald gewarnt vor voreiligen Schlußfolgerungen in bezug auf
die Rekonstruktion der indogermanisclien Göttergestalten und
der den Indogermanen zuzuschreibenden religiösen Gedanken
und Vorstellungen. In vielen Fällen wird er gezwungen an-
zuerkennen, daß man nicht wissen kann, ob man mit indo-
germanischem Erbgut zu tun hat, da übereinstimmende Vor-
stellungen bei den verschiedensten Völkern unabhängig von-
einander haben entstehen können. — Gegen die Oldenbergsche
Theorie, daß die indischen Ädityas den Amesa spentas der
avestischen Götterwelt entsprechen, führt der Verfasser (S. 133),
wie mir scheint, wichtige Gründe an, obschon vielleicht doch
die Beurteilung des ursprünglichen Charakters der Amesa
spentas (S. 114) weniger richtig sein dürfte. Dem Verfasser
ist Dyaus ein prehistoric God, Indra dagegen (obwohl erkannt
wird, daß der Name auch im Avesta auftritt) doch eigentlich
ein spezifisch indischer Gott; es heißt von ihm: there is no
real Indra -Uterature outside India (S. 176), es sei schwer zu
bestimmen, wo in der sichtbaren Natur er seinen Ursprung
hat. Ich meine aber, man darf annehmen, daß Indra seinem
Wesen nach zum Teil sich mit Zeus vergleichen läßt und daß
er sozusagen den Dyaus ersetzt hat. Beide, Indra und Zeus,
sind die Hauptgötter, jener des indischen, dieser des grie-
chischen Pantheons; beide führen den Donnerkeil; beide be-
kämpfen damit die Ungetüme; beide nehmen eventuell mensch-
liche Gestalt an, um die dummen Sterblichen zu betören.
Zwar ist allgemeiner bekannt nur die Verwandlung des Indra
in Gautama, aber in älteren Zeiten müssen mehrere derartige
Metamorphosen des Indra bekannt gewesen sein, man denke
an die Subrahmanyä- Formel (vgl. auch Orteis Aufsatz Indra
in the guise of a woman, Journ. of the Amer. Or. Soc. XXVI,
S. 176 ff.). — Bloomfields Ansicht über die Aranyakas (S. 49):
ü seems clear that thesc wo)']cs were recited by Jurmits living in
the forest, or more prccwely, those who wcnt io the forest to
live, at the time when they entered the third stage of Hindu
Vedische Religion (1907— 1910) 499
life, preparatory to final emancipation ist schwerlich aufrecht
zu halten. Vom Aranyaka der Taittiriyas und der Väjasa-
neyins z. B. macht der Pravargya einen Teil aus und es ist
bekannt genug, daß dieses Pravargya-Ritual beim Soma-Opfer
(fakultativ) auftritt. Von einer Darbringung des Pravargya
von frommen weltentsagenden Eremiten ist nicht die geringste
Spur. Nur weil sie sacri sind, müssen diese Texte im Walde,
d. h. außerhalb des Dorfes, vom Schüler erlernt werden (vgl.
z. 6. Baudh. srs. IX 19 und 20). So finden sich denn auch
die Sprüche zum Totenritual im Aranyaka der Taittiriyas ein-
verleibt. Es ist somit wahrscheinlich, daß diese von Bloom-
field abgelehnte Ansicht das Richtige trifi't. Die Meinung
Bloomfields und derjenigen Gelehrten, die ihm beistimmen,
könnte sich höchstens für die Upanisads bewahrheiten, welche
meistens Teile des Aranyaka ausmachen.
Die Religion des Veda behandelt ebenfalls Rons sei *,
aber in so wenig selbständiger Weise (das Werkchen ist seinem
eigentlichen Wesen nach weiter nichts als ein verwässerter
Extrakt von Oldenbergs Religion des Veda), daß ich eine Be-
sprechung hier für unnütz halte.*
In einer sehr umfangreichen und inhaltschweren Arbeit^
lehnt L. von Schroeder die von anderen Indologen an-
genommene Theorie Oldenbergs ab, daß man, um gewisse
Dialoglieder des Rgveda zu verstehen, anzunehmen habe, daß
die verschiedenen Strophen durch erzählende Prosa mit-
einander verknüpft gewesen sind, Prosastücke, die im Lauf
der Zeit verloren gegangen seien. Der Verfasser schließt sich
vielmehr der Hertelschen Hypothese an, daß die Dialoglieder
für dramatische Aufführung bestimmt gewesen seien. Diese
* La religion vedique par A. Boussel, prof. de Sanserit ä l'üniv. de
Fribourg (Suisse), Paris, Te'qui 1909.
* Eine ausführliche Begründung dieses abfälligen Urteils findet
man im Museum, maandblad coor philologie en geschiedenis XVIII« Jaarg.
no. 1.
' Mysterium und Mimus im Rgveda, H. Haessel, Leipzig 1908.
32*
500 W. Caland
Hypothese aber wird von dem Verfasser dahin erweitert, daß
er unter Vergleichung der religiösen Tanzdramen bei den
Naturvölkern, besonders bei den Cora-Indianem, annimmt, daß
auch jene vedischen Dialoglieder einstmals zur Begleitung
mimischer Tänze dienten, bei welchen die Götter selbst als
Tänzer vorgeführt wurden und Wechselreden führten: kultische
Dramen, Mysterien nennt er diese Aufführungen. Leider gibt
es keine Beweise für die Richtigkeit auch dieser Annahme,
denn daß die Götter, besonders Indra, das Prädikat „Tänzer"
erhalten, scheint mir nicht entscheidend zu sein. Und dann
ist es auch sehr auffallend, daß im Ritual, das doch so sehr
viel Altertümliches überliefert hat, keine Spur von diesen
mimischen Tanzaufführungen mehr bewahrt geblieben ist.
Dennoch scheint mir die Schroedersche Hypothese (denn über
eine Hypothese kommt man doch wohl nicht hinaus) sehr be-
achtenswert, da sie uns die Anwesenheit mehrerer Lieder im
Rgveda erklären würde, für die es in dem uns bekannten
Ritual keine Anwendung gibt.^ Jenen Forschern, die der
Überzeugung sind, daß auch die Rk- Sammlung nicht nur ein
literarisches Produkt der alten Inder ist, sondern der Praxis
der Religion, dem Kultus seinen Ursprung verdankt, wird
Schroeders Annahme einleuchtend erscheinen. Freilich fällt es
schwer, den Zusammenhang einiger dieser von Schroeder als
kultische Dramen angesehenen Lieder (z. B. das Lied des be-
trunkenen Indra oder das Spielerlied) mit dem Ritual zu
erfassen. Ob man dagegen auch den Ursprung dieses Lieder-
typus schon in die Zeit der indogermanischen Gemeinschaft
versetzen darf, wie es der Verfasser für möglich erachtet,
ist ein zweiter Punkt, über den ich auch nach Schroeders
' Freilich nicht alle die von Schroeder behandelten Dialoglieder
sind ohne Viniyoga: das Vrsäkapi-Lied z.B. und HS. VIII 89 werden im
Ritual mehrfach verwendet. Der Verfasser hat es unterlassen, das
Ritual daraufhin zu prüfen, was doch schon der Vollstiindigkeit halber
hätte geschehen sollen.
Vedische Religion (1907 — 1910) 501
Ausführungen sehr skeptisch gesinnt bleibe. Die Annahme
gewinnt nicht an Wahrscheinlichkeit durch die Erwägung, daß
solche kultische Mysterien auch außerhalb des indogerma-
nischen Völkerkreises vorkommen. Was der Verfasser noch
anfuhrt zur Begründung seiner Hypothese (z. B. die Versmaße,
S. 78 ff.), scheint mir ebenso hypothetisch wie die Hypothese
selbst. — Man sieht, daß die hier besprochene Arbeit mehr
ist als eine rein indisch - philologische Abhandlung über die
Dialoglieder des Rgveda. Der Besprechung jedes Liedes wer-
den ausführliche Erörterungen über vergleichende Mythologie
beigegeben, in welchen auch in erfreulicher Weise die von der
Ethnologie gelieferten Daten in Betracht kommen. In vielen
Hinsichten nimmt der Verfasser den Standpunkt Kuhns und
Benfeys ein, aber er sucht diesen Standpunkt durch eine|[über-
große Menge oft treffender Bemerkungen annehmbar zu
machen. Es ist hier nicht der Ort, seine zahlreichen Kombi-
nationen mythologischer Art zu prüfen. Die Zeit wird lehren,
ob der Verfasser nicht hier und da, wie ich fürchte, viel zu
weit gegangen ist, und sie wird zeigen, welche seiner Hypo-
thesen dauerhaften Wert haben. Daß einige darunter sehr
gewagt sind, und daß der Verfasser, eben weil er so gern be-
weisen will, was er voraussetzt, den Tatsachen nicht immer
gerecht wird, suche ich an ein paar Beispielen darzutxm. Das
Lopämudrälied (vgl. S. 157 ff.) soll ein kultisches Drama sein
und „sogar ein solches , das im Ritual nicht völlig vergessen
und verschwunden ist". Gewiß, es wäre eine tüchtige Stütze
für die Schroedersche Hypothese, wenn sich im Ritual noch
Spuren erhalten hätten. Wie steht es aber mit diesem
Lopämudrälied und mit dem Zweck, den nach dem Verfasser
' dieses Lied gehabt haben soU? Es muß, nach v. Schroeders
Ausführungen, dazu gedient haben, einen rituellen Beischlaf
einzuleiten, den der Keuschheit erstrebende Agastya und seine
alte Gemahlin Lopämudrä ausüben. Nun soll es nach
Schroeder auch am Mahävrata-Festtage vorkommen, daß eine
502 W. Caland
Dirne und ein unter dem Gelübde der Keuschheit stehender
Brahmane (ein Brahmacärin) während der festlichen Handlung
den Beischlaf vollziehen. Ich meine aber, daß diese Angabe
unrichtig ist und daß nach den Brähmana- und Sütratexten
der beim Mahävrata verordnete Beischlaf nicht vom Brahma-
cärin und von der Dirne geübt wird; die einzige Stelle, die
V. Schroeder Anlaß gibt, dies zu behaupten, ist eine Kathaka-
stelle: aus dieser kann man das aber nicht herauslesen^ und
alle rituellen Texte widersetzen sich der von Schroeder vor-
geschlagenen Deutung. Somit wird die Hauptstütze, welche
die Zusammengehörigkeit des Lopämudräliedes mit dem Ritual
des Mahävratatages annehmbar machen soll, hinfällig. Ob
man femer in diesem rituellen Beischlaf ein indogermanisches
Erbstück zu sehen hat, wird mindestens zweifelhaft, da dieser
Fruchtbarkeitszauber über der ganzen Erde verbreitet ist und
allgemeines Eigentum der Menschheit gewesen sein rauß.^ —
Eine unrichtige Übersetzung Roths (warum hat der Verfasser
die Stelle nicht selber nachgeprüft? Die Avestaforschung hat
ja seit Roth so enorme Fortschritte gemacht!) verleitet
V. Schroeder zu der Vergleichung einer Handlung des avestischen
Yima mit einem Fruchtbarkeitszauber eines australischen
Stammes. Die Instrumente jedoch, die dem Yima geschenkt
werden, faßt man heute nicht mehr als Schwinge und Stachel,
sondern als Pfeil und Geißel auf. — Wenn aus Anlaß von
Indras übernatürlicher Geburt eine russische Sage verglichen
wird, hätte es doch viel näher gelegen, an Buddhas Geburt
aus der Seite seiner Mutter (Lalitavistara 94) und vielleicht
auch an die Geburt des Dionysos aus dem Schenkel des Zeus
zu erinnern. — So ließe sich noch manches über Einzelheiten
* In der S. 161 Bern. 2 angeführten Küthaka-Stelle steht: mithunam
caranti. Hätte v. Schroeder recht, so müßte es lieißen: mtthunani
caratah. Ich brauche kaum zu sagen, daß diese meine Bemerkung
schon niedergeschrieben war, ehe ich Oldenbergs mit der meinigen zu-
sammentreffende Bemerkung (GGA 1909 S. 77) gesehen hatte.
» Vgl. Frazer The golden Bough* II S. 205.
i
Vedische Religion ^1907 — 1910) 503
bemerken; aber genug, die gediegene Arbeit Schroeders ist
mir in hohem Grade anregend vorgekommen, und vielleicht
kommt durch ihn und Bloomfield das Gute, das von der
älteren Kuhn-Müllerschen mythologischen Schule gelehrt wurde,
zu seinem Rechte.
Sehr eigentümlich ist das Verfahren eines anderen deut-
schen Forschers, Karl Schirmeisen ^, um die ursprüngliche
Natur der arischen Götter zu bestimmen. Die von ihm (S. 28 ff.)
geäußerte Hypothese, daß das Germanische eigentlich mit dem
Indogermanischen identisch sei und daß die anderen (die nicht-
germanischen) indogermanischen Sprachen durch Übertragung
des Germanischen auf asiatische Idiome entstanden sind: daß
wir also statt von einer Volkertrennung der indogermanischen
Stämme eher vop einer Auswanderung von Germanen zu reden
hätten, ist geradezu erstaunlich und wird wohl von keiner
Seite Beistimmung finden. Von dieser Voraussetzung aus-
gehend sucht der Verfasser nun zu bestimmen, welche Gött«r
des indo- arischen Pantheons ursprünglich „germanisch" sind,
und welche Götter den Mischvölkem, d. h. nach des Verfassers
Terminologie den nicht - germanischen Völkern Europas an-
gehören. Merkwürdigerweise beschränkt er sich in seinen
Untersuchungen auf die germanischen und die indo-iranischen
Göttergestalten. Seine Ergebnisse sind denn auch nicht wenig
überraschend: es stellt sich z. B. heraus, daß Soma-Haoma
ursprünglich ein Trankgott der Germanen gewesen sei, Mitra-
Mil)ra ein Frühlingsgott , usw.
Der zuletzt erwähnten Arbeit schließt sich in gewissem
Sinne Brunnhofers Schrift über die arische Urzeit an.' Im
* Die arischen Grötter gestalte», allgemeinverständliche Untersuchungen
über ihre Abstammung und Ent^ehungszeit, von Karl Schirmeisen, Brunn,
Winiker, 1909.
* Arische Urzeit. Forschungen auf dem Gebiete des ältesten Vorder-
und Zentralasiens nebst Osteuropa, von Dr. Hermann Brunnhofer, Prof.
a. d. Univ. Bern, Bern, A. Francke, 1910.
504 W. Caland
Anschluß an früher von ihm veröffentlichte Arbeiten derselben
Tendenz sucht der Verfasser klarzustellen, daß die ältesten
Teile des Rgveda nicht im Pendschab, sondern in Vorder-
asien, also in Mesopotamien oder in der Nähe des Kaspischen
Sees entstanden sind. Referent muß eingestehen, daß er durch
seine Ausführung nicht überzeugt worden ist. Es ist möglich,
daß unter den vielen von Brunnhofer besprochenen Punkten
einiges, vielleicht vieles richtig ist. Der unbefangene Leser
aber, der etwas kritisch beanlagt ist, wird sich Brunnhofers
Ergebnissen meistens ablehnend gegenüberstellen, wenn er
einsieht, wie er es bald einsehen muß, wie völlig kritiklos
Brunnhofers Verfahren in der Exegese der altindischen Texte
ist. Der Verfasser, der sich bemüht, viele Hapaxlegomena zu
deuten und manche schwierige Stelle des Rgveda zu behandeln,
zeigt sich hier und da als einen wenig vertrauenerweckenden
Interpreten. Ein Beweis für seine These, daß die Inder noch
eine Erinnerung an den (vom Verfasser postulierten) Er-
oberungszug nach Osten bewahrt haben, findet er z. B. in den
Worten: prajäpatih praja asrjata, tä asrmät srstah päräclr üyan,
welche nach Brunnhofer bedeuten: „Prajäpati emanierte die
Geschöpfe, diese, von ihm emaniert, gingen nach Osten". In
diesem einen kurzen Satze zwei Akzent- und zwei Übersetzungs-
fehler. Jeder Indologe weiß, daß der zweite Satz bedeutet:
„nachdem sie (von ihm) ins Dasein gerufen waren, gingen sie
von ihm weg". Und diese Stelle ist leider nicht die einzige
falsch verstandene. Nicht nur mit der Interpretation, sondern
auch mit den Lautgesetzen steht der Verfasser auf gespanntem
Fuß: es wimmelt in dem Buche von haarsträubenden Etymo-
logien. Wenn aus dem Avesta zitiert wird, dient die längst
veraltete Ausgabe Spiegels als Grundlage; infolgedessen wer-
den ganze Hypothesen aufgebaut auf Wörtern, die es einfach
nicht gibt.
Mit der vedischen Religion berührt sich aufs engste eine
sehr interessante Abhandlung von Schroeders, Die Wurzeln
Vedische Religion (1907 — 1910) 505
der Sage vom heiligen Gral.^ Mit anscheinend gutem Erfolg
weist der Verfasser hier nach, daß die Gralsage heidnischen
Ursprungs ist und religiöse Anschauungen und Überlieferungen
bewahrt hat, die sich aus den mvthisch-religiösen Vorstellungen
besonders der alten Inder der Rgveda-Periode erklären lassen.
Der heilige Gral selbst ist das „Mondgefäß", aus welchem die
Götter und die Seligen sich ernähren; er ist mit dem Soma
(dem Mond) und seine Hüter sind mit den himmlischen Gan-
dharyas zu vergleichen usw. Wenn auch der Verfasser seine
Anschauungen so gut wie möglich begründet hat, so kann
doch der Leser nicht über den Eindruck hinauskommen, daß
es sich auch hier nur um eine bloße Hypothese handelt, die
vielleicht von anderen künftigen Forschem, dadurch daß sie
andere Züge der Sage mehr in den Vordergrund zu rücken
wissen, über den Haufen geworfen und durch eine noch be-
friedigendere Erklärung ersetzt werden könnte.
In einem für Indologen wie Religionsforscher gleich
wichtigen Aufsatz Some modern theories of religion and (he
veda^ betrachtet A. B. Keith den Veda, oder sagen wir lieber
verschiedene aus der vedischen Literatur bekannte Tatsachen,
im Lichte der Ethnologie. Das Hauptergebnis seiner Betrach-
tungen, die freilich nicht alle auf gründlicher Nachprüfung
der benutzten Quellen beruhen^, ist, daß im vedischen Ritual
wahrscheinlich vom Totemismus nur sehr unsichere Spuren
nachzuweisen sind. Die von Keith untersuchten Fälle von
Tier opfern sind nach seiner Ansicht nicht hinreichend um zu
beweisen, daß im vedischen Zeitalter Tiere geopfert wurden,
' In den Sitz.-Ber. der Kais. Akad. der Wiss. in Wien, Phil.-hist.
Klasse, 166. Bd., 2. Abt.
* Journ. Royal Asiatic Soc. 1907 S. 929—949.
' Ganz verfehlt z. B. ist die auf Oldenberg-Hillebrandt beruhende
Erörterung (a. a. 0. 940) über den Sülagava und Ksaitrapatya des
Hiranyakesin; ihe cow and the ox . . . covceived as for the tirne heing
incarnations of the God (Budra) and the Goddess haben ihr Dasein nur
einer falschen Interpretation zu verdanken; vgl. GGA 1897 S. 286.
506 W. Caland
sei es um die Spezies zu stärken, sei es um den erschöpften
Yegetationsgeist zu töten; er nimmt vielmehr die einfache
Theorie des do ut des, dehi me dadänii te wieder auf, wobei
er freilich auch für die theriomorphische Vorstellung der Götter
Raum läßt. Das Tier brauchte nicht von Haus aus diesem
oder jenem Gotte geheiligt, eine Inkarnation dieses oder jenes
Gottes zu sein, sondern konnte im Verlauf des Opfers einen
geweihten Charakter (a sacred character) bekommen. So sucht
Keith das Roßöpfer zu erklären. Es ist aber zu bezweifeln,
ob Väj. Sarah. XXII 9 — 14 etwas für die Roßgestalt der
Sonne beweisen kann. In allen diesen Strophen wird der
Gott Savitr angerufen, ein Gott, der nicht so ohne weiteres
dem Sonnegotte gleichzustellen ist. Diese Strophen aber haben
mit dem eigentlichen Asvamedha nur sehr wenig zu tun, da
sie die Einladungs- und Opfersprüche für die einleitenden
Istis an Savitr sind, die ein ganzes Jahr vorher täglich zu
verrichten sind. Den Bemerkungen, die Keith über das
Menschenopfer der Inder (den Purusamedha) macht, wird wohl
jeder beipflichten. Obwohl mir das von Keith zu seinen Unter-
suchungen herangezogene Material noch viel zu karg zu sein
scheint, zumal da Einiges davon sich nicht bewährt, ist doch
der Aufsatz sehr anregend.
Wir berichten jetzt über den Zuwachs, den unsere Kennt-
nis der einzelnen Veden (Rk-, Yajur-, Säma-, Atharva-Veda)
in den letzten Jahren erfahren hat. Zuerst also über den
Rgveda und was dazu gehört. Durch A. B. Keith ist nicht
wenig getan, um unsere genaue Kenntnis der Aranyakas dieses
Veda zu fördern. Erstens hat er uns eine vollständige Über-
setzung des Sänkhäyana-äranyaka geboten.^ Daß diese Arbeit
für unsere Kenntnis der indischen Religion im allgemeinen
und besonders der älteren philosophischen Anschauungen der
' The Sänkhayana Ära^yaka with an appendix on the Mahävrata
by A. B. Keith, Oriental Translation fund, new aeries vol. XVII,
London 1908.
Vedische R«ligion 1907 — 1910) 507
Inder wichtig ist, braucht nicht erst dargetan zu werden. Die
ersten Abschnitte über dasMahävrata waren schon früher (1900)
von Dr. W. Friedländer herausgegeben und übersetzt. Legt
man die beiden Übersetzungen nebeneinander, so bekommt
man nicht den Eindruck, daß die letztere auch die bessere ist.
Von mancher Stelle gibt Friedländer den Sinn besser als Eeith
wieder.^ Der für die Religionswissenschaft wichtigste Teil
ist ohne Zweifel der Anhang über das Mahävrata, in welchem,
wie mir scheint, in überzeugender Weise Hillebrandts Hypo-
these zurückgewiesen wird, daß der Mahävrata-Tag, der in dem
uns bekannten Ritual an das Ende des Jahres föllt. ursprünglich
der Mitsommertag gewesen sei. Die so sehr eigentümlichen
Gebräuche, die an diesem Mahävrata-Tag bei den alten Indern
auftraten, lassen sich in ungezwungener Weise mit Eeith als
Jf/Ji</w^ (Zauber) Bräuche erklären, um die Sonne wieder
scheinen zu lassen und um Fruchtbarkeit der Äcker zu erzielen.
Die darauf folgenden Abschnitte 'die eigentlichen Kausitaki-
upanisad) sind schon mehrere Male in Text und Übersetzung
herausgegeben. Unbekannt waren bis jetzt die letzten Ab-
schnitte (adhyäya 7 — 15). deren Inhalt freilich mit dem des
Aitareya-äranyaka ziemlich genau übereinstimmt.
Demselben Gelehrten verdanken wir jetzt auch eine erste
kritisch bearbeitete Ausgabe des zu der Rgveda-Schule der
Aitareyins gehörigen Äranyaka.^ Diese Ausgabe gibt indes
mehr als der Titel besagt: sie enthält auch die bis jetzt noch
nicht veröffentlichten Teile des Sänkhäyana- oder Kausitaki-
äranyaka, adhyäya 7—15, vgl. oben. Der Text nun des
Aitareya-äranyaka war uns zwar aus der Ausgabe der Biblio-
theca Indica bekannt, aber durch Keiths unermüdliche Arbeits-
• Es ist, beiläufig bemerkt, merkwürdig' daß vielen Sanskritisten
noch immer der Sinn des Ausdrucks dcüc inottarinam upastham krtvä
(S är. I. 7) verborgen zu sein scheint.
* Aitareya Äranyaka edited by A. B. Keith in Anecdota Oxoniensia,
Anan Seri^, pari IX, Oxford, Clarendon Press 1909.
508 W. Calaaid
kraft verfügen wir jetzt erst über einen zuverlässigen Text, da
er keine Mühe gescheut hat, um ein möglichst vollständiges
Handschriftenmaterial zu kollationieren. Darunter stand ihm
auch eine sehr alte Särada-Hs. zur Verfügung; es stellt sich
aber heraus, daß die handschriftliche Uberliefenmg schon früh
eine sehr einheitliche gewesen ist, sowohl in Süd- als in Nord-
Indien. Der Text, der vorzüglich herausgegeben ist, wird durch
nur wenige Fehler entstellt. Sehr dankenswert und anregend
ist besonders die Einleitung, in welcher eingehend gehandelt
wird über den Text, die Kommentare, die Entstehungszeit des
Aranyaka in Vergleichung mit den verwandten Texten, und
die grammatischen Eigentümlichkeiten. Die schwierigste Auf-
gabe, welche Keith übernommen hat, ist wohl die vollständige
Übersetzung. Daß diese nicht fehlerfrei ist, wer wird das
dem Übersetzer eines so schwierigen Textes verargen? Dennoch
hätte sich der Übersetzer m. E. etwas mehr bemühen können,
den Sinn des Textes seinen Lesern deutlich zu machen, denn
obwohl die Sätze übersetzt sind, bleibt doch der eigentliche
Sinn mehrerer Stellen noch immer dunkel. Der Bearbeiter
besitzt ohne Zweifel die nötigen Kenntnisse um als Interpret
aufzutreten, das beweist die Menge von inhaltsschweren Be-
merkungen. Indessen ist man zuweilen darüber erstaunt, daß
er, während er doch die Regeln der vedischen Syntax so
gründlich studiert hat, einige allbekannte Tatsachen nicht zu
ihrem Rechte kommen läßt; auch entstellen einige Übersetzungs-
fehler an durchaus verständlichen Stellen die Arbeit.^
^ Da diese Zeitschrift nichteine rein philologische ist, muß ich mich,
nm das oben Geäußerte zu erhärten, auf die folgenden Bemerkungen
beschränken. Der Wert des Präsens mit sma oder ha snia scheint Eeith
unbekannt zu sein; meistens übersetzt er durch ein Präsens, als ob
kein ha sma da wäre: sarvajid dha sma . . . ädityam . . upatisthate
(Kaus. är. IV. 7): „Sarvajit . . . adores the sun"; madhu ha sma vä . . .
madhuchandäii chandate (Ait. är. I. 1. 3): „M. desires honey" und in der-
selben Weise mehrere Male ha ma . . . aha. Ref. wäre imstande eine
ganze Liste von Fehlern oder Ungenauigkeiten der Übersetzung nach-
Vedische Religion (1907 — 1910) 509
Unsere Kenntnis des Yajurveda ist in den letzten Jahren
bedeutend vermehrt worden. Die Indologen, besonders die
Vedisten müssen Herrn von Schroeder herzlich dankbar
dafür sein, daß er jetzt seine schon im Jahre 1900 begonnene
Ausgabe des Käthaka vollendet hat.' Seine Aufgabe war
keineswegs eine leichte, da, einige mehr oder weniger umfang-
reiche Stücke ausgenommen, hauptsächlich nur eine einzige
Handschrift zur Herstellung des Textes dienen konnte. .Unter
solchen Umständen darf sich der Bearbeiter nicht allzu gewissen-
haft an die Überlieferung halten, das Operationsmesser der
Kritik ist hier häufiger als sonst anzuwenden. Nach meiner
zuweisen, beschränkt sich aber hier auf die Anführung einiger besonders
groben Fehler. Mit äjya (Ait. är. I. 1. 1 und 2) ist nicht eine ghee-
offering sondern das äjvasastra gemeint; nyüna (I. 1.2) bedeutet nicht
small sondern leer; so auch in atiril'tam vai puruso nyunam striyai
(1. 4. 2). Rätselhaft ist es, woher in der Übersetzung der Stelle prthivi
tvä devatä risyati (III. 1. 4 und Sänkh. är. VII. 10): the earth, the deity,
will strike thee, die Futurbedentung kommt. Hätten wir hier ein Präsens
mit Futurbedeutung, so müßte das vom Bearbeiter, der allerlei syntak-
tische Details sonst so erschöpfend behandelt, begründet, wenigstens
erwähnt werden. Zu lesen ist aber einfach: decatärisyati; ärisycUi
Futur zum vorhergehenden Aor. ärah. Ganz mißverstanden sind die
Worte: tasmin parivrte juhoti prügdväre rodagdcäre vä prägudagdväre vä
(Ait. är. V. 1. 1), ebenso die Worte atrottare ca märjäJtye sesam antarvedi,
(V. 1. 2), die Worte tisro vamäh sal uttamäh (ib.); sadas (V. 1. 3) ist
fälschlich durch seat übersetzt. Was endlich die Adhyäyas VII — XV des
Sänkh. Ar. angeht, so ist der Herausgeber, wenn er hier statt des überlieferten
Z (für sonstiges d) l eingesetzt hat, im Unrecht; gerade dieses l statt 7
für d ist eine Eigentümlichkeit der Kausitakins. Einen etwas komischen
Eindruck macht XII. 8: a man icho desires prosperity, should fast on
flowers for three nights. Der Text lautet (Ait. är. S. 326): bhutikämah
puspena trirätropositah usw. Es leuchtet ein, daß statt puspena zu
lesen ist pusyena, „unter dem Naksatra Pusya". Falsch übersetzt sind
daselbst mämsaudana, ghrtaudana, tilaud<ina: und sthälipäka ^XI. 6)
bedeutet nicht a pot of milk. Im allgemeinen scheint mir eine gründliche
Vertrautheit mit dem vedischen Opferritual eine Bedingung zum
richtigen Verständnisse aller vedischen Texte zu sein, und hierin
kommt die Übersetzung von B. Keith zu kurz.
' Küthakam, die Samhitä der katha'säkhä heraufgegeben von L.
von Schroeder, zweites Buch, drittes Buch, Brockhaus, Leipzig 1909/10.
510 W. Caland
Ansicht ist der Herausgeber doch noch zu konservativ ge-
wesen; aber das sind Dinge, die eher in den Bereich der rein
philologischen Wissenschaft fallen. Verdanken wir also das
eigentliche Käthaka der unermüdlichen Tätigkeit von
Schroeders, so gibt es auf diesem Gebiete doch noch ein
Desideratum, da vom Käthaka noch mehrere größere Frag-
mente existieren, welche den Pravargya und sonstiges behandeln.
Schon früher hatte von Schroeder in den Sitzungsberichten der
K. Akademie der Wissenschaften in Wien diese Stücke mitgeteilt,
aber in wenig kritischer Weise. Es wäre wünschenswert
gewesen, wenn der Verfasser sich hätte entschließen können,
diese Stücke in einem Anhang nochmals, mit schärferer Kritik,
herauszugeben. Von den Veden ist uns so sehr vieles abhanden
gekommen, daß alles noch übrige gesammelt und veröffentlicht
zu werden verdient.
Auf dem Texte des Yajurveda, namentlich des Schwarzen,
beruht eine Abhandlung des Berichterstatters^, deren Inhalt
sich vielfach mit religiös-ethnologischen Problemen berührt.
Sie enthält nämlich die Materialien, auf welchen eine früher
veröffentlichte Abhandlung over de ivensdioffers^ sich stützt
und dürfte auch dem Religionshistoriker manches Interessante
bieten. Man ersieht daraus, wie es die indischen Opferpriester
machten (und wahrscheinlich noch jetzt machen), wenn sie
z. B. Regen zu machen wünschten, wenn sie den Feind irgend
jemandes behexen, wenn sie einem Klienten ein hohes Alter
sichern wollten, usw.
Die Herausgabe des Baudhäyana - srautasütra schreitet
fort, wenn leider auch nur langsam; vom zweiten Teile
sind die ersten drei Lieferungen erschienen, die vierte ist
fertig, aber noch nicht erschienen. Die zuletzt zu er-
* Altindische Zauberei, Darstellung der altindischen Wunschopfer,
in Verh. d. Kon. Ak. v. Wet. te Anist. Afd. Lett. niemve Beeks Deel X,
no. 1, Amsterdam, Müller, 1908.
* In Versl. en Meded. der Kon. Akad. va7t Wetemsch. te Amst.
IV. Beeks, deel U, S. ö— 36.
Vediflche Religion (1907 — 1910) 511
wähnende Publikation auf dem Gebiete des Schwarzen Yajur-
veda ist der in der Anandä^rama-series erschienene und Ton
Käsinäthasästri und anderen Pandits veröffentlichte Text des
Satyäsädha (Hiranyakesi) srautasütra; bis jetzt sind Buch 1 — 10
mit wertvollem Kommentar (u. a. der berühmten Vaijayanti)
erschienen. Zwar stimmt dieser Text vielfach mit dem Apa-
stambiyasütra überein, er enthält aber auch sehr viele unbe-
kannte Stücke. Auch dieser wird unsere Kenntnis der alt-
indischen Liturgie sehr vertiefen.
Über den Sämaveda im allgemeinen und seine Ent-
stehungsgeschichte handelt eine Abhandlung de wording van
den Sämaveda.^ Ferner ist das bis jetzt nur aus einer un-
kritischen und dazu schwer zu beschaffenden indischen Aus-
gabe bekannte Sadvimsabrähmana dieses Veda von dem leider
zu früh hingeschiedenen Dr. Eelsingh mit Kommentar und
Einleitung herausgegeben.- Endlich sind noch zwei Texte der
Kauthuma-Sämaveda-Schule veröffentlicht: der Arseya-kalpa^
und das Puspasütra^, zwei Texte deren Wert vorläufig mehr
rein philologischer Natur ist. Auch unsere Kenntnis einer
anderen, bis ^vor einigen Jahren nur dem Namen nach
bekannten Schule des Sämaveda ist bereichert erstens durch
die Ausgabe der Samhitä'' und zweitens durch eine neue Serie
Auszügen aus dem Brähmana.^ Was wir durch Örtels frühere
* Versl. en Meded. der Kon. Ak. van Wet. te Amsterdam, Afd.
Lett. 4. Beeks deel VIII, S. 1—15, vgl. Jaim. Samh. Einl. S. 1—10,
Oldenberg in den GGA 1908. Nr. 9, W. Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenl.
XXII S. 436— 438, Zeitschr. der D. Morg. Ges. 63, 730; 64, 347.
* Sadvimsabrähnianam vijnäpanasdhitam, Leiden, E. Brill, 1908.
' Der Äraeyakalpa des Sämaveda, Leipzig 1908 (Abh. f. die K. des
Morgenl. XU. 3).
* Das Puspasütra mit Einl. und Übers, herausgeg. von B. Simon
1909 (Abh. der K. Bayer. Akad. der W., 1. KL, XXIII. Band, UL Abt.)
* Die Jaimimya-Samhitä mit einer Einleitung über die Sämaveda-
I.iterattir, 1907 (Indische Forsch. 2. Heft), Marens, Breslau.
* Von H. örtel in Transactions of the Conn. Ac. of Arts and
Sc., vol. XY. 1909.
512 W. Caland
Mitteilungen von diesem Brähmana kennen, veranlaßt uns, dem
Wunsche Ausdruck zu geben, Ortel möge es doch unternehmen
uns den ganzen Text zu geben. Wenn auch das handschrift-
liche Material dürftig ist, da sich aus Indien kein Zuwachs
mehr erwarten läßt, wird man sich gerne begnügen mit einer
sei es denn auch in einigen Stücken unvollkommenen Ausgabe.
Auf den Atharvaveda beziehen sich mehrere Arbeiten;
zuerst die vorzügliche Abhandlung über das altindische Zauber-
wesen ^ von Henry, eine Arbeit, welche ein unveränderter Neu-
druck der in dieser Zeitschrift (VII 217) von Oldenberg be-
sprochenen ersten Ausgabe ist. Es ist zu bedauern, daß diese
nach dem zu frühen Tode des so verdienstlichen Gelehrten
erschienene zweite Ausgabe ganz unverändert ans Licht ge-
treten ist; das hätte der Verstorbene selbst wohl nicht gewünscht,
da ja immer eine zweite Ausgabe auch eine noch bessere sein
kann. Sodann hat der amerikanische Gelehrte L. C. Barret
seine mit kritischen Bemerkungen versehene Ausgabe der jetzt
nur in Faksimile vorliegenden Paippaläda- Rezension derAthar-
vasamhitä fortgesetzt.^ Diese Fortsetzung gibt uns das zweite
Buch, das manches sonst unbekannte Lied enthält. Nicht
jedermann hat die Zeit sich so in die schwierige Särada-Schrift
einzuarbeiten, daß er das Original flott liest. Barrets Arbeit
ist dem Indologen denn auch besonders willkommen und am
Ende wird auch der Religionsforscher die Früchte dieser müh-
samen Arbeit sammeln. — Das zum Atharvaveda gehörige
Vaitänasütra ist vom Verfasser dieser Übersicht aufs neue ins
Deutsche übersetzt worden.' Zwar war es schon früher (1878)
von R. Garbe verdeutscht, aber da diesem damals nicht die
nötigen Hilfsmaterialien in so großer Fülle zur Verfügung
' La magie dans V Inde antique par Victor Henry, 2de Ed.
Paris 1909. * Journal Amer. Or. Hoc. vol. XXX pari III, 1910.
• Das VaitänoMitra des Atharvaveda übersetzt von W. Caland,
Verh. d. K. Äkad. der W. te Amsterdam, Afd. Lett, nieuwe reeks, Deel XI,
no. 2, Amsterdam, Müller, 1910.
Vedische Religion (1907—1910 513
standen nnd nachher noch so sehr vieles über den Atharva-
veda und dessen Texte veröffentlicht worden ist, war diese
Übersetzung ungenügend. Aus Garbes Übersetzung selbst
geht zweifellos^ hervor, daß er unseren Text als ein Srauta-
sütra der gewöhnlichen Art und zwar als ein ädhvaryava-sütra
betrachtet hat, während es nur für den Brahman und seine
Assistenten (hauptsächlich den Brähmanäcchamsin) gilt. Das
hatte zur Folge, daß Garbes ganze Auffassung des Textes
verfehlt war und daß am Ende eine ganz neue Bearbeitung
nicht ausbleiben dürfte. Auch das Verhältnis des Gopatha-
brähmana zum Vaitänasütra wird endgültig durch die erneute
Untersuchung des Vaitänasütra klargestellt: das Brähmana ist
nicht, wie Bloomfield bewiesen zu haben meinte, jünger,
sondern älter als das Sütra. — Die letzte mit dem Atharva-
veda sich beschaffende Arbeit ist die Ausgabe der Parisistaa.
Es war eine schmerzlich empfundene Lücke in unserer Kennt-
nis des Atharvaveda und des altindischen Zauberwesens, daß
noch immer keine vollständige Ausgabe dieser Paralipomena
vorlag; zwar waren zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen
Gelehrten einzelne Kapitel herausgegeben worden, aber das
Ganze noch nicht. Die Tatsache, daß jetzt zwei Gelehrte, ein
Amerikaner und ein Deutscher, sich vereinigt haben, um diese
Lücke auszufüllen, ist mit Freude zu begrüßen.* Der Text
liegt nun ganz vor uns und man kann den beiden Gelehrten
nur herzlich dankbar dafür sein, daß sie diese mühevolle
Arbeit unternommen haben, um einen fehlerfreien Text her-
zustellen, dazu waren die handschriftlichen Materialien freilich
nicht immer hinreichend, da es aber nicht wahrscheinlich war,
daß noch mehr Handschriften aufgetrieben werden können.
^ Dies „zweifellos" bezieht sich auf die Anm. B. Keiths im J. R. A.
S. 1910, S. 934.
* Tfie paribistas of the Atharvaveda edited hy G. M. Bölling and
J. von Xegelein, vol. I: Text and critical apparatus. Leipzig, Harrasso-
witz, 1909/10.
Archiv f. Beligionswissenschaft XTV 33
514 ^- Caland
haben die beiden Gelehrten m. E. recht getan, ihr Unternehmen
deshalb nicht aufzugeben. In der Einleitung wird vieles ver-
sprochen, dem wir mit Spannung entgegensehen: der Textaus-
gabe wird eine Abhandlung folgen, dealing with tJie many
grammatical and lexicographical peculiarities whicli the text pre-
sents and containing also a numher of unpublished texts that
throw light upon the subjed matter of the Farisistas} Dann
wird auch eine Übersetzung mit exegetischem Kommentar in
Aussicht gestellt. Die Bedeutung, welche diese Arbeit auch
für die Religionsgeschichte haben wird, kann erst nach der
Übersetzung ins volle Licht kommen; daß er von großer Be-
deutung sein wird, lehrt uns schon die Inhaltsangabe. Von
hohem Interesse sind z. B. die Abschnitte, die von der Be-
hexung handeln. Hier dürfte besonders ein Abschnitt hervor-
gehoben werden, nämlich derjenige, in welchem die Art und
Weise angegeben wird, wie bei Behexung das Hauptgebet der
Inder, die Savitr-Strophe, von hinten nach vorne herzusagen
ist (der anulomakalpa, 34, der eigentlich pratilomakalpa heißen
müßte). Es dürfte bis jetzt noch wenig bekannt sein, daß
diese in Behexungszauberriten und Beschwörungen so viel
vorkommende Rezitationsweise auch dem älteren Yeda nicht
fremd ist. So lehrt uns z. B. das Ritual des Schwarzen Yajur-
veda, daß wer einen, der zum Opferpriesteramt gewählt worden
ist, davon ausschließen will, Butterspenden darbringen soll,
stehend und mit dem Angesicht nach Westen (statt nach
Osten, wie in reim faustis) gekehrt, indem er dazu gewisse
heilige Formeln von hinten nach vorne rezitiert und nach
jeder Formel eine Pause macht: dadurch wird er es erreichen,
daß ihm (dem Behexten) der Atem ausgehen wird. Wünscht
er diesen Zauber aufzuheben, so bringt er dieselben Opfer-
' Es dürfte den Bearbeitern der Pariöistas wichtig sein zu ver-
nehmen, daß die Pariöistas zum Baudb. grhs. manche Parallele bieten,
z. B. zum Dbürtakalpa; einige von den hier gegebenen Mantras finden
sich auch doii.
Vedische Religion (1907 — 1910) 515
spenden dar, aber jetzt nach Osten gekehrt, sitzend und die
Formehl in ihrer gewöhnlichen Reihenfolge flüsternd, ohne eine
Pause zu machen.^ Wichtig ist auch das freilich ebenso von
anderswoher bekannte Blicken in flüssige Butter (par. 8): ein
Zeremoniell, das dem Ausübenden ein langes Leben sichert'
Interessant ist die Beschreibung der rituellen Wiedergeburt
(hiranyagarbhavidhi, par. 13): der Fürst soll während siebzehn
„Momenten" (Zeiteinheiten) in einem goldenen Gefäß verbleiben,
beim Hinaustreten wird er mit einem goldenen Wagenrad
niedergedrückt. Über diesen Ritus und verwandte Zeremonien
hat zuletzt ausführlich und anregend Zachariae in seinem
Aufsatz „Scheingeburt" gehandelt. ^ Überzeugt von der großen
Wichtigkeit dieser Publikation wird man den Verfassern den
Mut und die Kraft wünschen, um die so schon begonnene
Arbeit in nicht allzu langer Zeit zu vollenden. *
Schließlich seien kurz einige Arbeiten erwähnt, die sich
mit den Upanisads und der philosophischen Literatur beschäftigen,
zuerst das vorzügliche Buch Oltramares'', das eine rein ob-
jektive und streng wissenschaftliche Darstellung der in den
Upanisads niedergelegten Anschauungen, des Vedänta, der
Sänkhyalehre und des Yoga enthält. Zur Einführung in die
Lehre der Upanisads dient die von P, Deussen zum zweiten
Male herausgegebene „Geheimlehre des Veda"*, eine Arbeit,
der sich die von demselben Verfasser geschriebene Outlines
' Vgl. Taitt. Br. II. 3. 2. 1—2, Äpast. srs. XIV. 15. 1 ; vgl. auch
TS. m. 4. 8. 5 und Baudh. 'srs. XIY. 18: 183. 18.
* Vgl. dazu des Verf. Altind. Zauberritual S. 32. Anm. 7, Altind.
Zauberei, S. 114.
' Zeitschr. des Ver. für Volksk. in Berlin IdlO, Heft 2.
* Eine kurze Bemerkung textkritischer Art möge hier noch Raum
finden: par. 46. 25 ist doch srucam beizubehalten, wie aus meiner
Ubers. des Yaitänasütra ersichtlich ist (S. 20).
'" L' Histoire des idees the'osophiques dans VInde par P. Oltramare,
professeur ä V Univ. de Geneve, T. I. La theosophie brahmanique. Paris,
Leroux 1907.
* Leipzig, Brockhaus, 1907.
SS*
516 "W. Caland
of Indian Phüosophy wiih an appendix on the Vedänta ^ aufs
schönste anschließt. Eine rein wissenschaftliche Arbeit ist
auch Speyers de Indische Theosophie en hare heteekenis voor
ans ^, welche eine vorzügliche Gesamtdarstellung der indischen
philosophischen Lehre von der ältesten Zeit an enthält. —
Ausschließlich die Yoga-Lehre und Yoga-Praxis beschreibt
K Schmidt in seinem „Fakire und Fakirtum im alten und
modernen Indien".^ Mit den nicht-arischen Einwohnern Indiens
endlich beschäftigt sich das Werkchen: „Einführung in die
Kolsmission"^; als besonders interessant seien daraus die Ab-
schnitte über Sitten und Gebräuche und über die Religion der
Kols hervorgehoben.
1 Berlin, Curtius, 1907. * Leiden, S. C. v. Doesburgh, 1910.
» Berlin, Barsdorf, 1908.
* von Missionar F. Hahn; Gütersloh, Bertelsmann, 1907.
4 Griechische und römische Religion 1906—1910
Von Richard Wünsch in Königsberg Pr.
Den letzten Bericht über die Forschungen zur antiken Reli-
gion hat A. Dieterich geschrieben; er umfaßt die Jahre 1903 — 05.^
Über die Bücher, die 1906 und 1907 erschienen sind, hatte sich
Dieterich Aufzeichnungen gemacht, die sich aber in seinem Nach-
laß nicht gefunden haben. So mußte für diese Jahre die Arbeit
nachgeholt werden; dadurch hat sich das Erscheinen dieses Be-
richts verzögert.
An Quantität sehr groß sind die Veröffentlichungen über
die Religionen des Altertums, die das letzte Lustrum gezeitigt
hat. Sie alle auch nur aufzuzählen ist unmöglich. Hat doch
schon 0. Gruppe 645 Seiten gebraucht, um sein Repertorium
„Die mythologische Literatur aus den Jahren 1898 — 1905"
(Jahresber. über die Fortschr. der klass. Altertumswiss. Bd 137,
Leipzig 1908) zu schaffen, und auch er hat eine Auswahl treffen
müssen. Zwar die selbständigen Publikationen habe ich ver-
sucht möglichst vollzählig aufzuführen; was fehlt, ist mir nicht
bekannt geworden oder nicht zugänglich gewesen. Aber weg-
gelassen habe ich möglichst viel solche Bücher, die sich auf
Grenzgebieten bewegen und in anderen Berichten (über all-
gemeine Religionswissenschaft, klassische Archäologie und Ur-
christentum) besprochen werden. Ferner gebe ich nur in Aus-
wahl die Aufsätze aus Zeitschriften, obwohl mir von vielen
Seiten Separata mit dem Wunsche einer Erwähnung zugegangen
sind. Der Raum verbietet mir, allen diesen Wünschen nach-
zukommen; auch wird ja über solche Aufsätze in der „Zeit-
schriftenschau" der „Hessischen Blätter für Volkskunde" aus-
führlich gesprochen. Zwar ist bis jetzt seit 1905 eine solche
^ Archiv YIII 1905 S. 474—510.
518 Richard Wünsch
Zeitschriftenscliau nicht mehr erschienen, aber es besteht die
begründete Hoffnung, daß diese dringend notwendigen Jahres-
berichte, und zwar zu einer vollständigen Bibliographie erweitert,
fortgeführt und nachgeholt werden.
Vorangestellt seien diejenigen Arbeiten, die uns das antike
Material vorlegen, über die neuen Funde, die in Griechenland
selbst und auf den Inseln gemacht worden sind, hat Gr. Karo
berichtet (Archiv XII 356 ff.). Aber auch Kleinasien hat
uns wichtige Monumente beschert: so durch die deutschen
Ausgrabungen in Pergamon, die von den Athenischen Mit-
teilungen laufend registriert werden. Davon hat der Altar mit
der Weihung d'eolg dylvaßtoLg wegen seiner Beziehung zu Acta
Apost. XVII 23 Aufsehen erregt. Leider ist die Ergänzung
nicht sicher (H. Hepding Ath. Mitt. XXXV 1910, 455).
Namentlich für Phrygien und seine Religion in der Kaiserzeit
ist eine Fundgrube der Sammelband W. M. Ramsay's, Studies
in the History and Art of the Eastern Provinces of the Boman
Empire, Aberdeen 1906. Wir lernen hier neue Götter {Zsvg
EvQvdafiTjvög S. 389) und eigenartige Kultvereine (laVot Tsxfio-
Qstoi S. 319) kennen; Grabbauten werden dem Toten und zu-
gleich einem Gotte errichtet {övfißCo) Ndva xh zJil Bqovx&vxi
S. 270): da ist der Grabstein eine Weihung an denjenigen Gott,
in welchen der Tote eingegangen ist (S. 273). Sonderbar ist
in einer Grabschrift die Beschwörung (S. 164) oQy,lt,ci ts
Mfjvas, töv t£ ovQccvLov xai tovg xaxax^ovlovg. Da scheint
mir die alte Vorstellung (Usener, Götternamen S. 288) durch-
zuschimmern, daß der Mond im letzten Viertel stirbt, um
einem neuen lebenden Monde Platz zu machen. — Für
Italien haben wir jetzt übersichtliche Jahresberichte in der
gut geleiteten und prächtig ausgestatteten Zeitschrift Ausonia
(Uivista della socictä Italiana dt archeologia e storia ddV arte
I 1906, 121 ff., III 1908 Bollettino Uhliografico Iff., IV 1910
fasc. II 17ff. — „Die Insel Malta im Altertum" von A. Mayr,
München 1 909, betrachtet die maltesischen Funde auch religions-
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 519
oreschichtKcli. Die urgeschichtlicheu elliptisclien Bauten (S.29ff.)
werden als Grabanlagen gedeutet. Die Kulte historischer Zeit
:-ind von S. 120 an zusammengestellt: Phonizisches verbindet
sich mit Ägyptischem und Griechischem zu lehrreichen Bei-
spielen von Synkretismus.* Die Geschichte der Religioneu,
derart auf ein begrenztes Gebiet beschränkt, ist besonders er-
tragreich, und man möchte mehr derartige Monographien besitzen.
Von großer Bedeutung sind die Inschriften. Die
neuen Lieferungen der Inscriptiones Graecae und des Corpus
Inscripfionum Lafinarum brauche ich nicht aufzuzählen. Von
H. Dessaus handlicher Sammlung der Inscriptiones Latinae
seledae ist 1906 ein neuer Teil erschienen (112), der u. a. die
Grabschriften enthält. Die seit 1906 erscheinenden Melanges
de la faciilte Orientale de Vuniversite S. Joseph de Berjrouih
bringen manchen epigraphischen Beitrag, so I 132, 11 265 ff.
L. Jalabert Inscriptions grecques et latines de la Syrie (von
Gräbern, aus dem Kult des Aeskulap, der Götter von Helio-
polis, des Sarapis: hier eine merkwürdige Weihung für einen
geheilten Fuß, die zu den Denkmälern bei Röscher Myth.
Lex. IV 382 gehört); III 437 ff. de Jerphauion und L. Jalabert
Inscriptions d'Asie mineure. — A. Wilhelm, Beiträge zur
griechischen Inschriftenkunde, Sonderschriften des österr. archäoL
Instituts in Wien, VII 1909, ergibt mancherlei auch für die
griechische Religion. Ich notiere als bemerkenswert die Aus-
führungen über Fluchtexte (S. 12, 98, 160): erhobene Hände
auf Gräbern von Ermordeten (S. 201, 320); phallosähnliche
^ S. 129 sagt Mayr, die These meines Buches Das Frühlingsfest der
Insel Malta, wonach sich bis ins X^^. Jahrhundert dort der Rest einer
Adonisfeier erhalten hätte, sei durch E. Lübeck Adoniskult und Christen-
tum auf Malta als nicht begründet erwiesen. Unrichtig war es von mir,
das Fest, an dem jener an die Adonisfeier mahnende Brauch geübt
wurde, auf Johannis den Täufer zu beziehen (s. meine Ausführungen
Berl. philol. Wochenschr. 1904, 1457); es war, wie Lübeck richtig gezeigt
hat, die Charwoche. Daß aber in deren Begehungen sich Reste des alten
Adoniskultes nicht gehalten haben, ist m. E. noch nicht bewiesen, sondern
bedarf einer neuen Untersuchung.
520 Richard Wünsch
Grabsteine (S. 73); Weihung einer Mondsichel an Hermes (S. 90);
Inschrift der Göttin 'Oq^itj (S. 93); Hermes Pyletes und Ge
Hemeros (S. 95); Reste, leider sehr kümmerliche, eines Paians
des Sophokles auf Asklepios (S. 103).
Von vielen Texten der antiken Literatur, die sich auf
die Religion beziehen, hat die Berichtsperiode neue Ausgaben
und Sammlungen gebracht. Die Fragmente der Vorsokratiker
von H. Di eis sind in zweiter Auflage erschienen (I 1906,
III 1907, 112 1910); neu hinzugekommen ist ein Stellenregister
und ein Wortindex, die den Wert dieses unentbehrlichen Quellen-
vrerks noch gesteigert haben. Von späteren philosophischen
Schriften erscheinen diejenigen Ciceros in neuer Auflage von
0. Piasberg (I Paradoxa Stoicorum, Äcademicorum reliqiiiae
cum Lucullo, Timaeus etc.) Teubner 1908, einiges für die Götter-
lehre Epikurs gibt Diogenes von Oenoanda aus (ed. J. William,
Teubner 1907). Die Spekulationen der Neuplatoniker werden
uns durch Ausgaben des Proklos näher gebracht (In Piatonis
Timaeum, 777 von E. Diehl, Teubner 1906; In Piatonis Crotylum
von G. Pasquali, Teubner 1908). Die Teubner -Ausgabe des
Libanios von R. Förster war bis 1910 um Band III — V fort-
geschritten: jetzt hat man die wichtige Rede tcqos ©sodoöiov
xbv ßaöiXsa vjthQ t&v Isqcov bequem zur Hand. A. Lud wich
hat uns eine neue Ausgabe des Nonnos von Panopolis und
seiner religionsgeschichtlich noch längst nicht ausgeschöpften
Dionysiaca geschenkt {1 1909 Teubner). Von Quellen in römischer
Prosa sind neu ediert M. Terentius Varro de lingua latina durch
G. Götz und Fr. Scholl (Teubner 1910; man übersehe nicht
die Ädfiotationes am Schlüsse des Buches) und Suetons
' Caesarea durch M. Ihm (C. Suetonii Tranquilli opera I
Teubner 1907). Von römischen Dichtern hat Manilius eine
erklärende Ausgabe durch Th. Breiter erhalten (I Carmina,
II Kommentar, Leipzig 1907/08): wenn man auch der Text-
behandlung nicht überall beistimmen kann, ist man doch der
Belehrung des zweiten Bandes dankbar.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 521
Wie die römische, so hat auch die griechische Astrologie
neue Textaufgaben aufzuweisen: Johannes Kamateros siöayayfi
uötQOvouCag, Teubner 1908, bearbeitet von L. Weigl. Was
das Buch enthält, sagt der Untertitel: ein Kompendium griechischer
Astronomie und Astrologie, Meteorologie und Ethnographie. Auch
der Catalogus codicum astrologorum Graecorum schreitet rüstig
vorwärts. Das Berichtslustrum hat uns folgende Bände gebracht:
Bd V Codices Bomani Teü II von W. Kroll, Brüssel 1906
(enthält im wesentlichen Exzerpte aus Yettius Valens, den
Kroll inzwischen durch seine sehr verdienstliche Editio princeps
ganz bekannt gemacht hat: Vettii Valentis Änthologiarum libri,
Berlin 1908), Teil III von Jos. Heeg, 1910; Bd VII Codices
Germanici von Fr. Boll 1908. In diesem Band ist 236 ff. ein
Abriß der Chiromantie und S. 105 eine christliche Fluch-
formel beachtenswert, welche mit denselben Formeln arbeitet
wie die antiken dgai. Es müßte einmal systematisch auf
solche mittelalterlichen Zauberformeln geachtet werden, die
vielfach als Blattfüllsel sich in griechischen und lateinischen
Codices finden: sie bilden die Brücke vom antiken zum modernen
Zauber.
Von älteren christlichen Schriften erwähne ich nur, was
sich näher mit der Antike berührt, Apologie und Polemik.
J. Geffcken legt Aristeides und Athenagoras in einer wert-
vollen kommentierten Ausgabe vor (Zwei griechische Apologeten,
Teubner 1907), die zugleich die Geschichte der christlichen
Apologetik zeichnet: sie schließt sich an die jüdische Apologetik
späterer Zeit an, die ihrerseits schon die Polemik der grie-
chischen Philosophen gegen den hellenischen Polytheismus auf-
genommen hat. Erfreulich ist auch, daß wir durch K. Ziegler
eine sorgfältige Ausgabe von Firmicus Maternus De errore
profanarum religionum (Teubner 1907) erhalten haben.
Das hagiographische Gebiet hat den Philologen
H. Usener erschlossen. Von ihm ist nach seinem Tode durch
A.Brinkmann herausgegeben worden: Sonderbare Heilige, Texte
522 Richard Wünsch
und Untersuchungen. I Der h. Tychon, Teubner 1907. Usener
will zeigen, wie der dem antiken Priapos nahestehende Frucht-
barkeitsdämon Tychon von der christlichen Kirche übernommen
und zu einem Heiligen umgebildet worden ist. Die griechischen
Texte, die vom Leben und von den Wundern des h. Tychon
berichten, werden ediert; der Ausgabe sind Untersuchungen
über Johannes Eleemon, den Verfasser des Haupttextes, über
Sprache und Stil seiner Schrift beigefügt, die für den Philo-
logen bleibenden Wert haben. Zum Nachweis, daß der christ-
liche Tychon der Nachfolger des heidnischen ist, verbindet
Usener die Nachrichten über den Dämon, der Schutzherr der
Weinberge gewesen ist, mit einem Wunder des Heiligen, der
als Bischof von Amathus auf Cypern aus einem verdorrten
Steckling frühreife Trauben erzielt. Aber Tychon ist, wenn
auch an anderem Ort (Usener S. 16), als kyprischer Bischof
historisch bezeugt; daß in weinreicher Gegend ein Bischof
Patron der Vignen wurde, ist begreiflich. Dann aber konnte
er durch ein Wunder im Weinberg seine Macht über die Rebe
beweisen, ohne daß das treibende Motiv zur Entstehung der
Legende die bewußte Anknüpfung an einen gleichnamigen
heidnischen Dämon gewesen wäre.^
Als Heft n der sonderbaren Heiligen woUte Usener die
Legenden der Pelagia, die er 1879 herausgegeben hatte, neu
erscheinen lassen. Es war ihm nicht vergönnt, diese Arbeit
zu Ende zu führen. Daß er zur Vermehrung der Texte ge-
sammelt hattej soll, wie Brinkmann in seiner Vorrede zum
Tychon verheißt, nicht ungenutzt bleiben. Vorläufig ist die
Einleitung zur Pelagia neu gedruckt worden in Useners Vor-
trägen und Aufsätzen, die A. Dieterich bei Teubner 1907 er-
scheinen ließ : acht Abhandlungen, für einen weiteren Leserkreis
ausgewählt. Religionsgeschichtliches behandeln von ihnen noch
die Abhandlungen: Mythologie S. 37 ff., Über vergleichende
' S. H. Delehaye Anal. Boll. XXVI 1907 S. 244f.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 523
Sitten- und Rechtsgeschichte S. 103 ff., Geburt und Kindheit
Christi S. 159 ff., Die Perle, aus der Geschichte eines Bildes
S. 21 7 ff. Dieser Band ist eine Abschlagszahlung auf die
Gesamtausgabe der kleinen Schriften Useners; sie wird vor-
bereitet, die religionsgeschichtlichen Abhandlungen werden im
zweiten Bande stehen.
Die griechischen Texte, die das Leben und die Wunder
der heiligen Arzte schildern, sind ediert von L. Deubner
(Kosmas und Damian, Texte und Einleitung, Teubner 1907).
Die Ausgabe legt in sauberer Textbehandlung viel neues
Material vor. In der Vorrede werden ausführlich „die Anfänge
des Kultus" behandelt. Von den verschiedenen Heiligenpaaren,
welche die Kirche unter dem Namen Kosmas und Damian ver-
ehrt, hält Deubner das Paar von Konstantinopel für das älteste
und vermutet, daß es sich dort aus dem heidnischen Götter-
paar Kastor und Pollux entwickelt habe (S. 52 ff.). Diese An-
knüpfung hat der Verfasser inzwischen aufgegeben (Berl. philol.
Wochenschr. 1910 Sp. 1286).
An die sprachlichen Denkmäler schließe ich an. was durch
Sprachwissenschaft und Sprachbeobachtung in den letzten
Jahren die Religionsgeschichte an Förderung erfahren hat. Ein
neues Organ ist hier entstanden, das wegen seines Zweckes, die
Betrachtung des Griechischen und Lateinischen durch sprach-
wissenschaftliche Methode zu befruchten, freudig willkommen zu
heißen ist: denn gute Erklärung des Wortes ist gute Erklärung
der Sache. Von dieser, durch P. Kretschmer und F. Skatsch
geleiteten Glotta erschien Band I 1909, 11 1910. Ich weise
hin auf P. Kretschmer, Remus und Romulus (I 288 ff.), der
drei Etappen der römischen Gründungslegende ansetzt: zuerst
gab es einen von den Griechen erfundenen Eponymen Rhomos,
dann wurde dieser von den Römern durch Remus ersetzt,
endlich erfand man den Romulus, der aber den Remus nicht
zu verdränger vermochte und so zu dessen Bruder wurde. —
Glotta 11 219 ff. habe ich versucht, eine neue Etymologie von
524 Richard Wünsch
amuletum zu begründen: ich fasse es als eine Weiterbildung
von amulum in der Bedeutung „Speise aus Weizenmehl"; aus
dem ursprünglichen Sinn „kräftigende Speise" hat sich später
der allgemeinere „unheilabwehrendes Mittel" entwickelt. Glotta
III 34ff. hat L. Deubner die Bedeutungsgeschichte von strena
geschrieben. — Von Dissertationen, welche die Sprachgeschichte
eines religiös bedeutsamen Wortes untersuchen, erwähne ich:
P.Stein TsQag, Marburg 1909. Ta^ag bedeutet für die Physiker
ein Ding, dessen Entstehung oder Form vom Naturgesetz abweicht.
Häufig haben solche Tigata den Auftrag, auf übernatürliche
Weise den Menschen die Zukunft zu offenbaren; bei Homer
sendet Zeus solche Zeichen, etwa einen unerwarteten Donner.
Meist kündet Derartiges ein Unglück an, und dadurch werden
die TsQara zum Gegenstand religiöser Scheu. — Mit Fragen
lateinischer Bedeutungsgeschichte befassen sich die beiden
Königsberger Dissertationen von 1910: W. Link De vocis
ySanctus" usu pagano und M. Kobbert De verhorum „religio^'
atque „religiosus'' usu apud Romanos. Beide sind als Vor-
arbeiten für eine spätere ausführliche Behandlung gedacht.
Eine neue Deutung eines Götternamens gibt 0. Ho ff mann
Poseidon, 84. Jahresber. der Schles. Ges. für vaterl. Kultur 1906,
Abt. IVb S. 8 ff.: Poseidon ist nicht von Anfang an Herr des
Meeres, sondern yaiäfoxos „der über die Erde fährt mit dem
Wagen". Also ist sein Name nicht mit dem Wasser (.toTog,
xota[i6g) zusammenzubringen; die dialektischen Formen führen
auf einen Vokativ als Grundform, :t6reL /iäfcov. der erste
Bestandteil bedeutet „Herr", der zweite ist der eigentliche un-
deutbare Gottesname. — F. Solmsen hat als eine der letzten
Proben seiner ausgezeichneten Art, wissenschaftliche Gründlich-
keit und Klarheit der Darstellung zu vereinigen, ^08v66ev(s
als den Namen eines alten Gottes „der Zürner" und IltjvsXözy]
als Femininum zu TtijvsXoil; „bunthalsige Ente" erklärt (Kuhns
Ztschr. XLII 1909, 207 ff.): das ist ein beachtenswerter Rest
theriomorpher Vorstellungen von einer entengestaltigen Göttin.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 525
Bemerkenswert ist Job. Schöne, Griechische Personennamen
als religionsgeschichtliche Quelle, Progr. Düsseldorf 1906. Er
stellt theophore Doppelnamen zusammen, die aus griechischen
und ägyptischen Göttern gebildet sind Qäxökldtvios 6 xal
' SlQvysvrjg), und schließt von ihnen auf Wesensgleichheit der
beiden Gottheiten (^Apollon und Horos). Wenn dies Prinzip sich
als durchführbar erweist, ist mit ihm ein wichtiges sprach-
liches Mittel zur Aufklärung von Synkretismen gefunden
worden. Aber auch merkwürdige Blüten treiben die Versuche,
durch Etymologien die Herkunft der antiken Religion zu er-
gründen. K- Schmidt, Das Geheimnis der griechischen
Mythologie und der Stein von Lemnos, Gleiwitz 1908, beweist
den semitischen Ursprung des griechischen Mythos durch
solche Namen, die sich leichter aus dem semitischen als aus
dem griechischen herleiten lassen. Dazu gehören Terpon Soteira
Epilysamene Epimachos. Das Buch von K. Stuhl, Das alt-
römische Arvallied ein urdeutsches Bittgebet, Würzburg 1909,
trägt seinen Inhalt schon im Titel, nevd ist deutsch „Nebel"
und so durch das ganze Lied durch.
Ich gehe zu den Hilfsmitteln lexikalischen Charakters
über. Die großen Unternehmungen dieser Art haben sämtlich
ihre Fortschritte zu verzeichnen. W. H. Roschers „Ausführ-
liches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie"
ist in der Berichtsperiode von .,Phönix" bis „Seismos" gediehen.
Dieser Abschnitt enthält folgende bedeutendere Artikel: zur
griechischen Religion Poseidon, Prometheus, Pythios, Satyros
und Silene, Priapos, Seirenen, Psyche; zur römischen Religion
Saturnus, Roma, Romulus, Quirinus; über fremde, für den
späteren Synkretismus wichtige Gottheiten: Sabazios, Sarapis,
und die Planetengötter. — Pauly's Realencyclopädie der
klassischen Altertumswissenschaft, deren neue Bearbeitung von
G. Wissowa begonnen wurde und nun von W. Kroll fort-
geführt wird, ist von „Ephoros" bis „Furtum" fortgeschritten.
Hier treten zu den rein mythologischen Stichworten (Eros,
526 Richard Wünsch
Flußgötter, Fortuna, Furiae), die man auch bei Röscher findet,
Artikel über Sakralaltertümer (Escbara, Fasti; Eumolpidai,
Fetiales, Flamines) und volkstümlichen Aberglauben, der sich
an Pflanzen (Feige) und Tiere (Esel, Eule, Fledermaus, Frosch,
Fuchs) anschließt.^ — Das Dictionnaire des antiquites grecques
et romaines von Daremberg, Saglio und Pottier hat die
Artikel „Paries" bis „Stamnos" geliefert. Außer den mytho-
logischen Stichworten, von denen man einen Teil auch neben
Röscher benutzen wird, notiere ich als beachtenswert für Kultus-
altertümer: Pontifices, Salii, Sibyllae; Saturnalia, Sepulcrum,
Securis und die ganze Wortsippe von sacer.
Eine Erwähnung verdient auch das „Reallexikon der prae-
historischen, klassischen und frühchristlichen Altertümer" von
R. Forrer, Berlin und Stuttgart 1907. Zwar in den religions-
geschichtlichen Artikeln wird es wenigen Benutzern genügen, wohl
aber ist es als erste Hilfe in prähistorischen Fragen willkommen.
Unter den Sammelwerken nenne ich zunächst die Religions-
geschichtlichen Versuche und Vorarbeiten, die von Dieter ich
und mir gegründet sind; an Dieterichs Stelle ist L. Deubner
in die Redaktion eingetreten. Seit dem letzten Bericht sind
Band III Heft 1 bis Band IX Heft 3 erschienen. A. Abt (Die
Apologie des Apuleius von Madaura und die antike Zauberei,
IV 2) gibt zugleich mit der Erklärung des Apuleius eine nütz-
liche Zusammenstellung über die wichtigste Literatur zur an-
tiken Magie. J. Tambornino {De müiqiiorum dactnonismo,
VII 3) enthält das Material zum Besessenheitsglauben im Alter-
tum und verfolgt ihn bis in die christliche Zeit. Einen wich-
tigen Abschnitt aus dem Wunderglauben hat 0. Weinreich
vorgenommen (Antike Heilungswunder, VIII 1): Handauflegung,
Traumheilung, heilende Bilder. Auf den Ritus beziehen sich
' Man beabBichtigt als Ergänzung zu Roschers Werk ein „Lexikon
der Volksreligion und der Sakralaltertümer" herauszugeben Wenn dieser
Plan ausgeführt wird, und zwar in der richtigen Weise, so wird dadurch
den Religionshistorikem ein notwendiges Hilfsmittel geschaffen.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 527
K. Kircher (Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum,
1X2), J. Heckenbach (De nuditate Sacra sacrisque vinculis, 1X3)
und Th. Wächter (Reinheitsvorschriften im griechischen Kult^
IX 1). Mit dieser Arbeit berührt sich E. Fehrle (Die kultische
Keuschheit, VI). Er sieht den Grund zum Gebote kultischer
Keuschheit nicht nur in der Befleckung, die der Geschlechts-
verkehr mit sich bringt, sondern auch in der Anschauung, daß,
wen ein Gott seiner Liebe würdigt, frei sein muß von mensch-
licher Liebe. Hieraus erklärt er die Gedankenreihen, die sich
an jungfräuliche Priesterinnen und Prophetinnen, an jungfräu-
liche Empfängnis und jungfräuliche Mütter knüpfen. Wichtig
ist auch der Abschnitt über die Entwicklung jungfräulicher
Göttinnen aus alten Muttergottheiten, obwohl ich hier manches
für unsicher halte. Von Bd V, Fr. Pfister, Der Reliquien-
kult im Altertum, ist die erste Hälfte erschienen: Das Objekt
des Reliquienkultes, d. h. Heroengräber und sonstige Erinnerungen
an die Heroenzeit. An ihrer Tradition wird das „Bodenständigkeits-
gesetz" entwickelt, d. h. die Beobachtung gemacht, daß die genealo-
gischen Heroenlisten, wie sie uns für die einzelnen griechischen
Staaten überliefert werden, keine freie Erfindung sind, sondern
zusammengesetzt aus Namen von Heroen, deren Kult an jenen
Orten bodenständig war. — Die Typik der antiken und christ-
lichen Legenden über Translation eines Gottes, eines Heiligen
hat E. Schmidt untersucht (Kultübertragungen, Vm2); für
aitiologische Legenden ist wichtig die Arbeit von E. Müller
{De Graecorum deorum partibus tragicis, Vni2) durch den
Nachweis, daß der d^ebg ä:ib firiicivfis durchweg in seinen
Reden auch die Aitiologie von Kulten, Genealogien oder Städte-
gründungen gibt. Den „Geburtstag im Altertum'' behandelt
W. Schmidt (VII 1) und zeigt, wie dessen Feier ursprünglich
eine kultische Handlung zugunsten des im Menschen wirken-
den daCuav ist, und wie die antike Feier auf das Begehen von
Jesu Geburtstag eingewirkt hat. Ein Problem der attischen
Sakralaltertümer ist von Ph. Ehr mann behandelt (De iuris
528 Richard Wünsch
sacri interpretibus Ätticis, IV 3), wertvoll durch die Verbindung
der inschriftlichen und der literarischen Tradition über die
attischen Exegeten. Zur Geschichte des Gebetes liegen hier
zwei Arbeiten vor. H. Schmidt (Veteres philosophi quofnodo
iudicaverint de precihus, IV 1) gibt eine doxographische Zu-
sammenstellung der Aussprüche der Philosophen von Heraklit
bis Simplicius über den Wert des Gebetes und die rechte Art
zu beten. G. Appel {De Romanorum precationibus , VII 2)
schickt eine nützliche Zusammenstellung der römischen Gebete
voraus, und verfolgt an Sprache und Ritus ihre Entwicklung
von der Zauberformel über den juristischen Vertrag zur wirk-
lichen Bitte. Mit römischem Sternenglauben befaßt sich W.
Gundel {De stellarum appellatione et religione JRomana, III 2);
sein Resultat ist negativ: bei den älteren Römern läßt sich ein
ausgedehnter Gestirnkult nicht nachweisen. — Etruskisches
behandelt C. Thulin (Die Götter des Martianus Capella und
die Bronzeleber von Piacenza, IUI): er findet ein an beiden
Orten zugrunde liegendes Göttersystem, das aus etruskischen
und astrologischen Elementen zusammengesetzt ist. — Einen
Beitrag zum Fortleben antiken Zauberglaubens und alter Volks-
medizin liefert F. Pradel (Griechische und süditalienische Ge-
bete, Beschwörungen und Rezepte des Mittelalters, III 3).
Eine Sammelschrift sind auch die Transactiom of tJie 3^
Internatiomd Congress for the History of Bdigions, Oxford 1908.
Auf diesem Kongreß^ war der griechisch-römischen Religion die
6. Sektion zugewiesen. Die 15 Vorträge — S. Reinachs
Begrüßungsrede mitgezählt — sind in den Transactions II
S. 11 7 ff. veröffentlicht. Deutsche haben nicht gesprochen. Zum
Teil werden nur Inhaltsangaben gedruckt, die wiederhole ich
nicht, Jevons Defixionum tabellae berührt sich nahe mit seinem
Aufsatz in der Anthropölogy (s. unten S. 531). J. Toutain übt
eine zum großen Teil berechtigte Kritik an den vagen Theorien
des Totemismus: antike Riten und Mythen dürfen nicht als
' Für den vierten Kongreß ist Leiden in Aussiebt genommen.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 529
Überbleibsel des Totemismus gedeutet werden, bis dieser als
wirklich im Altertum vorhanden nachgewiesen ist. F. C.
Conybeare The Baetul in Damascius gibt Vergleichsmaterial
zur Verehrung von Steinfetischen aus der Religion namentlich
der Semiten. J. E. Harrison spricht über Vogel- und Pfeiler-
kult. Eine Terrakotte mykenischer Zeit zeigt Tauben, die auf
Pfeilern brüten: „der Baum ist auf der Erde, der Vogel am
Himmel, das ist eine primitive Form des Ausdrucks für die
Ehe zwischen Uranos und Gaia, dem Vater Himmel und der
Mutter Erde." Zur Stütze dieses Gedankens, welcher sehr der
Prüfung bedarf, folgt eine Sammlung der Monumente, die auf
einen Kult des Himmels in Hellas hinweisen. A. B. Cook
The Cretan Axe-cuU outsidc Crete verfolgt die Doppelaxt in
Messapien, Epirus, Tenedos, Lydien. Nicht überall sind die
Spuren ganz sicher. Auch erscheint die Labrys als Münz-
zeichen der griechisch-skythischen Könige von Baktrien und
Indien, in einer allmählichen Deformation, deren letzte Stufe
das Laharum des Constantin sein könnte. Ferner soll die
Doppelaxt das Symbol der Vereinigung des Männlichen (Schneide)
und des Weiblichen (^Griff) sein: von hier gleitet ein scheuer
Blick auf die Äxte in der Freite um Penelope. L. Campbell
The Beliglous Element in Plato verfolgt die ethische und reli-
giöse Atmosphäre, welche die einzelnen Epochen von Piatos
philosophischer Entwicklung umgibt, doch unter Ausscheidung
der orphisch-pythagoreischen Einflüsse. Nach W.Warde Fowler
The Latin History of the Word „Eeliffio'^ ist die ursprüngliche
Bedeutung von religio die Angst vor etwas, was menschliche
Erfahrung nicht zu erklären vermag und das deshalb als über-
natürlich gilt. Daraus entwickelt sich die Bedeutung eines
Dienstes dieses übernatürlichen. Endlich wird religio der
Gottesdienst schlechthin.^
^ über diese auch von Kobbert (oben S. 524) behandelte Frage ver-
gleiche zuletzt W. Otto in diesem Bande des Archivs S. 406 ff. Ich ver-
mag mich Otto nicht in allem anzuschließen.
Archiv f. Religionswisäenscbaft XIV 34
530 Richard Wünsch
Anthropölogy and the Clässics. Six lectures delivered hefore
the University of Oxford (Oxford 1908)^ betitelt sich eine von
R. R. Marett herausgegebene Sammelschrift. Sie soll nach
dem Vorwort dem Zwecke dienen, der Betrachtung der ent-
wickelten antiken Kultur den Blick für die primitiven Vor-
stufen zu schärfen. Diese Absicht ist freudig zu begrüßen;
auch bei uns ist die Abneigung der historischen gegen die
„anthropologische"^ Betrachtungsweise stärker, als es auf die
Dauer der Einheitlichkeit wissenschaftlicher Auffassung gut ist.
Ihre Berechtigung leitet diese Ablehnung aus der Tatsache her,
daß die Methode der Erforschung primitiver Kulturstufen noch
nicht gefestigt, daß namentlich die Art, wie aus zufälligen
Ähnlichkeiten derselben Dinge bei verschiedenen Völkern Rück-
schlüsse auf gleiche Entstehung gezogen werden, willkürlich
und haltlos ist. Das ist sicher richtig, und legt der vergleichen-
den Volkskunde die ernste Pflicht auf, vor allem ihre Arbeits-
weise zu konsolidieren. Dieser Versuch ist in den vorliegen-
den Aufsätzen gemacht, aber, wenigstens für mein Empfinden,
nicht streng genug durchgeführt. So handelt G. G. A. Murray
(Die Anthropologie in der griechischen epischen Tradition außer
Homer) über die Rudimente alter Geheimgesellschaften und des
Gottkönigtums bei den Griechen. Manches ist da fein beob-
achtet, aber wenn z. B. das Mahl des Thyestes aus dem Auf-
nahmeritus einer modernen Wildengenossenschaft, der Leoparden-
Gesellschaft erklärt wird, nur weil in beiden Fällen Menschen-
fleisch gegessen und dem Verzehrer der Rest gezeigt wird;
oder wenn das Steineverschlingen des Kronos durch einen
Australneger illustriert wird, der die Eigenheit hatte, Steine
' Auch deutsch erschienen: Die Anthropologie und die Klassiker,
herausgegeben von R. R. Marett. Übersetzt von Joh. Hoops, Heidelberg
1910. Die Übersetzung ist nicht gut.
* Dieser Ausdruck scheint sich von England her bei uns einbürgern
zu wollen. Wir verstehen unter Anthropologie etwas anderes und
reden lieber von ethnologischer Betrachtungsweise oder vergleichender
Volkskunde.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 531
in den Mund zu nehmen und sie dann zu verkaufen, weil sie
nun zauberkräftig geworden seien, so sind gerade das Ver-
gleiche, durch welche die „Klassiker" von der „Anthropologie"
ferngehalten werden.
Von den übrigen Aufsätzen betreffen nicht alle unmittel-
bar die Fragen primitiver Religion. Doch gehört hierher noch
F. B. Je von s Die gräco-italische Magie. Daß der Gesang, der
im antiken Zauber eine große Bedeutung besitzt (ixaoidrj,
incatitare) sich zuerst stets gegen einen Feind gerichtet habe,
so daß die älteste Zauberformel der Fluch gewesen sei, läßt
sich nicht beweisen, auch nicht dadurch, daß jetzt in Zentral-
Australien und an der Torrestraße die Formeln des Schaden-
zaubers gesungen werden. Richtig und bedeutungsvoll sind
die Bemerkungen zum Defixionszauber (s. o. S. 528). Eine Reihe
der attischen Fluchtexte ist prädeistisch: der Zauberer bannt
den Gegner ganz allein aus eigener Macht; er sagt xaraöä rbv
delva. Primitivste Anschauung sieht in dem Magus ein über-
menschliches Wesen; der Glaube, daß nur die Götter über-
menschliche Kräfte besitzen, ist später, und jünger daher der-
jenige Zauber, der mit Gebeten an die Götter arbeitet (Egfifj
xäxoxs. xdrsxe tbv dslva). W. Warde Fowler „Die Lustration"
behandelt die kultische Reinigung in den italischen Religionen:
lustrare bedeute die Befreiung von dem Schaden, den
böse Geister bringen, durch die religiösen Mittel des Opfers
und Gebets mit einer Prozessionsbewegung: die Prozession um-
wandelt die Grenze und zieht dadurch einen Zauberkreis um
die zu schützenden Dinge und Wesen.
J. Toutain Etudes de MyÜiologie et <f Histoire des religions
antiques, Paris 1909 vereinigt dreizehn bereits bekannte Auf-
sätze aus den Jahren 1892 — 1908; sieben davon sind Ab-
drücke der zusammenfassenden Artikel aus Daremberg-Saglio.
S. Reinach hat dem ersten Bande der Sammlung^ seiner Auf-
* S. Archiv VIII S. 482; ebenda 483 über 11 206 ff.
34'
532 Richard "Wünsch
Sätze zwei weitere folgen lassen {Cultes, mythes et religions,
Paris, II 1906, III 1908). Eine Bemerkung verdienen die mit
glänzender Kombinationsgabe durchgeführten Versuche, die
Mythen vom zerrissenen Heros zu deuten (Orpheus II 85 ff.;
Actaeon III 24 ff.; Hippolytos III 54 ff.): sie sollen auf alte
Kommunionsriten zurückgehen, in denen totemistische Clans ihr
Totemtier zerreißen und es verzehren, um dadurch in Gemein-
schaft mit dem Gotte zu treten. Es wird nicht notwendig sein,
hier überall Totemismus anzunehmen (s. o. 528), und man wird
die Möglichkeit nicht leugnen können, daß die Erinnerung an
wirkliche Geschehnisse mitgespielt haben kann: Hunde sollen
auch den Euripides zerrissen haben. — Aus einem Ritus leitet
Reinach auch den Mythus von der Tarpeia ab, die von den
Schilden der Sabiner verschüttet wird (III 253): aus dem
Brauch, die Waffen der Feinde an geweihter Stelle aufzu-
schichten, hat sich auf der tarpeischen Burg die Vorstellung
entwickelt, daß unter diesen Waffen die Schutzgöttin Tarpeia
verschüttet liege, und daraus entstand die Sage von der Jung-
frau Tarpeia, — Hübsch ist die Deutung der Sage vom Tode
des großen Pan (III 1 ff.) : der Steuermann Thammus wird dreimal
angerufen und ihm gesagt Uäv ^syag rsd-vrjxsv — das ist heraus-
gesponnen aus einem Vers der Totenklage um Adonis-Tammuz:
&tt(i}iovg ©ciiifiovs @Kfi^ovs Ttavusyas tsd^vrjxs. — Nicht über-
zeugt hat mich die Herleitung der Sage von Büßern im Hades
aus mißverstandenen bildlichen Darstellungen (II 159 ff".). —
Nach der Mythendeutung kommen Reinachs Untersuchungen
namentlich dem Glauben der Orphiker zu gute: in Vergils
IV. Ekloge wird orphischer Einfluß festgestellt (II 66 ff.)^; die
orphische Formel £QL(pog ig yäX STtsrov wird gedeutet ,,ich
habe die Milch, das Zeichen des besseren Lebens, gefunden"
' Wenn in dem Kinde, dessen Geburt Vergil prophezeit, der vsoe
^i6vvaog der Orphiker gesehen wird, so halte ich doch noch an der
Deutung auf den erwarteten Sohn Octavians fest (Skutach A%is Vergils
Frühzeit VIII und 148 ff.).
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 533
(II 123 ff.); über die Moral (lU 272 ff.) und die Lehre vom
Sündenfall (III 343 ff.) erhalten wir Orphisches.
Daß Reinach gerade dieser Lehre große Bedeutung bei-
legt, zeigt sich auch darin, daß er nach ihrem Stifter sein
Handbüchlein der Religionsgeschichte betitelt hat {OrpheuSj
Histoire generale des rdigions 1909)*: ein hübsch ausgestattetes
und fesselnd geschriebenes Handbrevier für den Laien, für den
Forscher angenehm wegen der Literaturverzeichnisse. Voll
Temperament führt der Verfasser den Entwicklungsgedanken
vom Ursprung der Religion durch bis zum Dreifußprozeß.
Die antiken Religionen werden auf S. 111 — 160 in sroßen
Zügen behandelt; mitunter sind die Ergebnisse der gesammelten
Aufsätze übernommen worden und erregen hier dieselben Be-
denken Daß im Bacchanalienprozeß die römischen Behörden
falsche Zeugen erkauft haben (S. 153), wird sich nicht nach-
weisen lassen.
Ich schließe die übrigen Gesamtdarstellungen an.
S. Wide, Griechische und römische Religion (Einleitung in
die Altertumswissenschaft, herausgegeben von A. Gercke und
E. Norden, Band II, Teubner 1910, S. 191 ff.) gibt, dem hode-
getischen Zweck dieser Sammlung entsprechend, eine kurze Dar-
stellung der Entwicklung beider Religionen, ihrer wesentlichsten
Probleme und Betrachtungsweisen. Seine eigene Methode er-
scheint mir richtig: sie basiert auf der literarischen und monu-
mentalen Überlieferung, die uns aus dem Bereich der antiken
Religionen erhalten ist, sie versucht das wirklich Gegebene
philologisch zu interpretieren und geschichtlich zu verstehen
wo es nottut, mit vorsichtiger Zuhilfenahme ethnographischer
Parallelen. Seine besonnene Behandlung des Totemismus in
Griechenland, der orientalischen Einflüsse und der meist un-
sicheren Etymologieen, und sein Zurückhalten in der Be-
* Deutach: S. Beinach Orpheus, allgemeine Geschichte der Beligionen,
deutsche vom Verfasser durchgesehene Ausgabe von A. Mahl er, Wien
und Leipzig 1910.
534 ' Richard Wünsch
Stimmung der „Grundbedeutung" eines Gottes kann man nur
billigen. Etwas mehr hätte vielleicht über „vorhellenische"
Kulte und ihr Verhältnis zur mykenischen Zeit gesagt werden
können; auch die Schilderung der „Unterschicht", von Zauber
und Aberglauben ist etwas knapp geraten: diese ist gerade für
das verdienstliche Kapitel über griechische Religiosität von
Bedeutung. Auch hätte ich die Bedeutung der Wundermänner,
der d'sloi av%'Q(xi7toi, mehr betont: sie zeigen deutlich, welches
das Verhältnis der Begriffe Gott und Mensch gewesen ist, und
gerade sie haben zu allen Zeiten die Gemüter der Massen be-
sonders in Erregung versetzt. Schade ist es, daß Wide darauf
verzichtet hat, die römische Religion in Beziehung zur griechischen
zu setzen. Dem Leserkreis, für den diese Einleitung bestimmt
ist, wäre es sehr dienlich gewesen, durchweg auf die Ähnlich-
keiten und Verschiedenheiten dieser beiden Religionen auf-
merksam gemacht und dadurch zum vergleichenden Nach-
denken angeregt zu werden. Die Lemuralia heischen einen
Hinweis auf die Anthesteria, die Auspizien auf die Oionistik
usw. Gut wird bemerkt, daß einige der ältesten römischen
Feste erst nachträglich zu bestimmten Göttern in Beziehung
getreten sind, daß sie ursprünglich einen götterlosen Frucht-
barkeitszauber vollzogen. Da lag die Frage nach prädeistischer
Auffassungsweise, nicht nur bei den Römern, nahe.
Die römische Religion Wides baut, wie das nur billig
war, auf Wissowas Religion und Kultus der Römer ^ auf.
Ähnlich ist die in wesentlichen Dingen unter Wissowas Ein-
fluß stehende Einleitung in die römische Religion von J. B.
Carter The Beligion of Numa and other Essays on the Beligion
of Ancient Borne, London 1906: ein Abriß der Entwicklung
von der ältesten Zeit bis zur Reform des Augustus.
Das umfangreiche Werk von 0. Gruppe, Griechische
Mythologie und Religionsgeschichte (Iwan v. Müllers Hand-
* Eine zweite Auflage dieses Werkes steht ia Aussicht.
Griechische und Tömische Religion 1906 — 1910 535
buch der klassischen Altertumswissenschaft V 2, 2), ist durch
die dritte Lieferung (München 1906, S. 1153—1923) zu Ende
geführt worden. Der Schlußteil enthält Monographien der
olympischen Götter, dann eine beachtenswerte Darstellung der
Auflösung der griechischen Religion, endlich die sehr not-
wendicren und brauchbaren Register. Auch in diesem Teil be-
wundern wir die profunde Belesenheit des Verfassers, dem es
aber gerade wegen der unendlich vielen Einzelheiten nicht
überall gelungen ist, ein klares Bild zu zeichnen. Gegenüber
der Neigung des Verfassers, die Grundbedeutung der griechischen
Götter zu erschließen mit Hilfe entweder der Etymologie oder
einer einseitig meteorologischen Ausdeutung, und ihre Verehrung
aus dem Orient herzuleiten, bin ich skeptisch. Wo Athene
die „ohne Muttermilch'' ist (S. 1194) und mit der „phili-
stäischen Sturm göttin" zusammengebracht wird (S. 1202), komme
ich nicht mehr mit. Auch den großen Werdeprozeß, in dem
sich die Antike zum Christentum umschuf, denke ich mir
anders, finde dabei aber manchen Gedanken Gruppes über
Skepsis und Mystik, Volksglauben und Personenkult wohl der
Beachtung wert.
W. Kroll Griechenland, Religion (Die Religion in Geschichte
und Gegenwart II, 1666 If.) faßt die wichtigsten Epochen über-
sichtlich zusammen. — Das bekannte Werk von J. E. Harris on
Frolegomena to the Study of Greek Religion, das mit Hülfe der
Archäologie und Ethnologie die Rätsel namentlich des Ritus
zu lösen sucht, ist in zweiter Auflage erschienen (Cambridge
1908). Die Veränderungen gegen die erste Auflage^ sind nicht
sehr bedeutend: ein Band Epilegomena mit neuen Forschungen
wird in Aussicht gestellt. — Die Bücher von A. Fairbanks
The Myihology of Greece and Borne (London 1908) und A
Handhook of Greek Religion (New-York-Cincinuati-Chicago 1910)
sind hübsch ausgestattete Einführungen für ein größeres Publi-
kum, besonders das letztere nicht ohne eigene Gedanken.
* S. Archiv YIII 480 f.
536 Richard Wünsch
Ich wende micli denjenigen Schriften zu, die Probleme aus
der Werdezeit der griechischen Religion behandeln.
L. R. Farneil Inaugural Leciure of tJie Wilde Ledurer in
Natural and Comparative Religion, Oxford -London 1909 ver-
gleicht in rapidem Überblick die - Religion der Griechen mit
den übrigen alten Religionen des Mittelmeerbeckens: wohl
finden sich Verschiedenheiten, aber es sind mehr Differenzen
der Art als des Grades, in vielem ist die Struktur und damit
der Werdegang gleich. Beachtenswert ist der Gedanke, daß
die anthropomorphe Auffassung und die Verehrung menschen-
gestaltiger Bilder ihrer Natur nach der Mystik feindlich sind,
daß der 'Mystizismus sich nur im theriomorphen Kult ent-
wickelt. — R. Karsten Studies in primitive Greek religion,
Öfversigt af Finska Vetenskaps-Societetens Förhandlingar 49, 1
(Helsingfors 1907) versucht in ansprechender Weise auf ethno-
logischer Grundlage die Entstehung der einzelnen Formen
griechischer Religion völkerpsychologisch zu erklären^, die
Verehrung von Pflanzen und Steinen, Tieren und Naturkräften,
unterirdischen und himmlischen Göttern in ihrem Werdeprozeß
verständlich zu machen.
Eine ausführliche Würdigung verlangt Roh. Eisler, Welten-
mantel und Himmelszelt, Religionsgeschichtliche Untersuchungen
zur Urgeschichte des antiken Weltbildes, 2 Bände, München 19 10.
Der Verfasser geht aus von dem Mantel Kaiser Heinrichs des
Heiligen im Domschatz zu Bamberg: die eingestickten Stern-
bilder zeigen, daß der Mantel als Abbild des Himmels gedacht
ist. Die letzte Vorlage dieses Gewandstückes sieht Eisler in
der Staatstracht der römischen Kaiser, die einen solchen Mantel
getragen haben, weil er die Umhüllung des römischen Himmels-
gottes ist. Auch bei andern Göttern und andern Völkern sind
derartige Sternenmäntel nachweisbar: so erscheinen Marduk,
Mithras, Attis, Aphrodite Urania, Athene damit angetan. Zuerst
' Als ich meinen Aufsatz 'Volksglauben' (Die Volksschule 1908,
Heft 14fiF.) schrieb, waren mir Karstens Ausführungen noch unbekannt.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 537
hat man diese Götter, primitiven Vorstellungen entsprechend,
sich mit Fellen bekleidet gedacht. Unter dem Einfluß der
Gleichsetzung des bewölkten Himmels mit einem wolligen Vließ
wandelt sich die Aigis, das Fellkleid der Gottheit, zu einem
Bild des bewölkten Himmels; allmählich dringen auf dem Fell-
kleid die Bilder der Himmelszeichen ein, die zunächst als
Apotropaea gedacht sind. Zuletzt verwandelt sich das Fell,
dem Fortschritt menschlicher Kultur entsprechend, zu einem
Gewebe. So entsteht der Weltenmantel, von dessen Webe alte
orphische Schriften erzählten: Köre hatte ihn nach altem
Hochzeitsbrauch für ihre Ehe gewoben. An Stelle der Köre
ist in der sizilianischen Legende die h. Agata getreten; wenn die
Passio berichtet, daß ihr zur Marter eine Brust abgeschnitten
sei, so stammt dieser Zug aus dem Koremythus und erinnert
an die einbrüstigen Amazonen, die nichts anderes sind als die
Hierodulen der Ma von Komana. Das zeigt, daß dieser Kore-
mythus nach Sizilien von ionischen Ansiedlem aus Kleinasien
herübergebracht worden ist Grade in Kleinasien werden Götter
mit Himmelskleidern verehrt, und zwar zum Teil Götter, die
in Baumgestalt gedacht sind: in ihrem Kult erhält der heilige
Baum den Sternenmantel als Umhang. Eine zweite griechische
Überlieferung, die sich auf die Webe des Weltenmantels be-
zieht, gibt Pherekydes: bei der Hochzeit mit Chthonie schenkt
Zeus der Braut ein Gewand und iv avra noixCXXei yfiv xal
myrivov xal xä ayr/Pov KßaiLaxti}. Auch ist dort die Rede
von einer geflügelten Eiche und dem gestickten Gewand, das
darüber lag ij] v:t6:irsQog dgig xai rb B:t' avxri nE7Coixü.nivov
(p&Qog, beide Stellen bei Diels, Fragm. der Vors. I 2* S. 508).
Hier bedeutet G>yr]vov dGipt.axa ^Häuser des Himmels', d. h. die
'Häuser der Sterne', einen Begriff, der in der altbabylonischen
Astronomie daheim ist So war auch dies Gewand ein Sternen-
mantel, und seine Bilder gehen auf altorientalische Astral-
mystik zurück. Diese fand am Himmel in den Konstellationen
Abbilder alles Irdischen, Haine, Flüsse, Bauten und Wesen,
538 Richard Wünsch
und betrachtete diese Abbilder zugleich als Vorbilder der
terrestrischen Dinge: es sind Sachseelen, die sich später zu
den sWalcc des Demokrit und zu den Ideen des Piaton wandeln.
Die Erzählung, daß ein Grott den Sternenmantel wirkt, ist der
mythische Ausdruck für die Anschauung, daß Gott die Leuchten
des Himmels und zugleich damit ihre irdischen Abbilder ge-
schaffen hat; er ist entstanden aus dem Glauben, daß durch
Formung eines magischen Urbildes auf geheimnisvolle Weise
zugleich ein neues Abbild der Gattung geschaffen werde. Eine
andere Anwendung des Bildzaubers war es, wenn man die
wundertätigen Mächte der Gestirne durch ihre Bilder in mensch-
lichen Dienst zwang: wenn man sie in das Gewand einstickte,
so verlieh der kosmische Mantel dem Träger die Herrschaft
über alle Gestirne und wurde so zum Symbol der Weltherrschaft.
Im babylonischen Epos wird dem Marduk durch Kleidanlegung
die Herrschaft und die Führung im Kampf für die Götter
verliehen. Solche Vorkämpfer besitzen mitunter auch Waffen
mit kosmischen Symbolen: zu diesen gehört der sog. Druden-
fuß (Pentagramm, Heptagramm). Auch dies Zeichen ist in
seinem Ursprung babylonisch: es ist das Diagramm, mit dessen
Hilfe man für die nach der Umlaufszeit in einen Kreis an-
geordneten sieben Planeten ihre Anordnung als Herrn der
Wochentage berechnet; das Pentagramma entsteht, wenn in
dieser Zusammenstellung Sonne und Mond ausgelassen werden.
Diese Kosmogramme erklären aber die bei Pherekydes vor-
kommenden Ausdrücke eTttdfivxog und Ttsvtdfivxog: die sieben
Schlüfte als Titel des Buches, die fünf Schlüfte als Bezeich-
nung gewisser Göttergruppen. Die Namen der Götter, die
Pherekydes zu solchen Gruppen ordnet, ergeben nun eine
Unzahl Isopsephien, d. h., wenn die Buchstaben in ihrem
Zahlenwert (a 1, /3 2 bis o 24) umgesetzt und zusammen-
gerechnet werden, entsteht bei einer Reihe von Namen die
gleiche Summe. So ist z/i^v = P»;, Zsvg = ra^iog, Zrjv -\-
Xd-ovitj == XQOvog usw. Auf diese Isopsephismen ist die Schrift
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 539
des Pherekydes bewußt angelegt. Nun ist Zeus nach ihm
gleich Helios (Diels a. a. 0. S. 507, 8), nach Orpheus gleich
diexog (Abel frg. Orph. 108), das ergibt Zag (25) + diöxos (74)
= ovQuvö? (99). Es handelt sich also um einen höchsten
scheibenförmigen Himmelsgott: das ist nicht griechisch, wohl aber
orientalisch — von Assyrien aus auf den persischen Ahura-
Ma9da übertragen. Eine Ähnlichkeit dieses persischen Himmels-
gottes mit dem Zeus des Pherekydes besteht auch darin, daß
beide die Welt erschaffen und anfangslos ewig sind, was sonst
von Zeus nicht berichtet wird, femer darin, daß auch das
Persische eine kosmische Mantelwebe kennt. Pherekydes hat
also versucht, persische Dogmen in Griechenland einzuführen.
Aus derselben Religion stammt auch bei den Orphikem der
Gott Xq6vos\ er ist dem persischen Zrvan nachgebildet. Auch
in anderen Dingen stimmt orphische Lehre mit der zrvanischen
Kosmogonie überein: dem Zwitterwesen Zrvan, aus dessen kos-
mischem Ei Mithras und Angra Mainya hervorgehn, entspricht
Chronos oder Aion und die aus dem Ei geborene Triade
üranos, Phanes und Pluton. Bei den Persem erzeuget Zrvan
die drei Elemente Wind, Wasser und Feuer: dasselbe schreibt
Pherekydes dem Chronos zu (S. 506, 30 Diels). Von den Ele-
menten hat Pherekydes das Wasser für das TCQäxov ötoix^lov
gehalten, wie es Anaximander für die ocqxtI hielt. Daß die
zrvanische Religion unter dem Einfluß griechischer, etwa or-
phischer Anschauungen entstand, ist ausgeschlossen: der Zrva-
nismus ist das Vorbild, und dieses ist aus dem semitischen
Astralkult hervor o^egangen.
Auch der geflügelte Baum des Pherekydes stammt aus
dem Orient. Es ist der Weltenbaum, den Chthonie als Gegen-
gäbe für Zeus aufsprießen läßt: auf ihn wird der Stemenmantel
gebreitet. Das geht auf uralten Wetterzauber zurück: bei Un-
wetter zeigt man einem heiligen Baum durch Bilder der Sonnen-
und Mondscheibe an, daß er diese Gestirne wieder leuchten
lassen soll; einen Himmel, blau wie das Gewand, das man
540 Richard Wünsch
über seine Zweige breitet, soll er hinaufführen. Völker, die
in der Sonne noch einen strahlenden Himmelsvogel sahen, be-
festigten an seiner Spitze einen Vogelbalg oder ein Vogelbild.
Bäume mit der darüber schwebenden geflügelten Sonnenscheibe
sind auf assyrischen Siegelzylindern häufig; auf andern ist die
Überzeltung des heiligen Baumes mit dem Himmelsmantel dar-
gestellt. So wurde auch bei Pherekydes der Himmelsmantel
als Zeltdecke über den geflügelten Baum gebreitet. Daß dies
bei der Hochzeit des Götterpaares geschah, hängt mit einem
alten Eheritus zusammen, der sich namentlich im Orient findet:
der Bräutigam errichtet vor dem Beilager über der Braut ein
Zelt mit Hilfe einer Brautmaie und seines Mantels. So wird
der Himmelsmantel zur Zeltdecke, so werden die Sternbilder
zum Schmuck eines Wohnraumes. Nun bringt man auch in
den Tempeln der Götter an der Decke Sternbilder an, um zu
sagen, daß das Weltall ihr Reich ist. Davon ist dann wieder
das älteste Bild beeinflußt, das sich die Mittelmeervölker vom
Weltganzen machten: die Welt sieht so aus wie die Wohnung
Gottes. Wie die Mithrasanbeter den Sternhimmel an der
Deckenwölbung einer Höhle erblicken, konnte Pherekydes das
Weltall als Höhle bezeichnen (S. 509, 25 Diels). Die Baby-
lonier sprechen von einem Hirtenzelt der Welt, die Orphiker
denken sich den Kosmos wie den homerischen Männersaal.
Alles das sind Reste uralter Vorstellungen der Menschheit, die
sich in Kleinasien im Zrvanismus zu einem vollständigen
kosmogonischen System ausgebildet hatten: dies System ist
den Griechen durch die lonier vermittelt, liegt geschlossen
bei Pherekydes und in der rhapsodischen Theogonie der Or-
phiker vor, wirkt aber auch in einzelnen Gedanken stark auf
fast alle vorsokratischen Philosophen ein, namentlich auf die
alten ionischen Physiker.
Diese Gedanken schienen mir in der unendlichen Fülle
des Stoffs, der in diesem großen Buche von rund 800 Seiten
zusammengetragen ist, die wichtigsten. Das Werk verrät eine
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 541
staunenswerte Belesenheit und eine leicht bewegliche Kom-
bination, ihm fehlt Solidität, Kritik und sprachliche Schulung.
Ich kann und will hier nicht im einzelnen schulmeistern, aber
ich muß ein paar Stellen zur Begründung meines Urteils her-
ausheben. S. 58 f. nimmt Ion (Eur. Ion 1141 ff.) zur Decke
des Festzeltes einen Teppich, in den Stemenbilder gestickt
sind: 'ein Schaustück, dessen Kultbedeutung' — daß es diese
gehabt hat, müßte erst bewiesen werden — 'sich nach Anleitung
einer zu wenig beachteten inschriftlichen Nachricht über atti-
schen Festbrauch unschwer erraten läßt: a[i(pLevvov6Lv heißt
es (CIA I 93, 12) von den Praxiergidenpriesterinnen iv ioQtaig
xov xi:cXov /iii MoiQayirai ^AzölXavi.' Dazu eine Anmerkung,
daß ^u hier wohl appellativisch verwendet ist, und AIoLQayaTi,g
hier vielleicht die vier Jahreszeiten herraufführend bezeichnet.
Tatsächlich heißt die Inschrift ci[i](fLevvvo6iv rbv xi%Xov, da-
nach eine größere Lücke, dann MoC]QaLs z/ii Moigaydrai.
Wahrscheinlich gehören beide Teile syntaktisch gar nicht zu-
sammen; Ziehen Leges Graecorum sacrae II 1 p. 61 ergänzt rev
^sbv xal ZQod^voöiv. Keinenfalls steht läxölXavi da, und das
Umlegen eines :tixXog in Athen beweist nicht, daß eine Zelt-
decke in Delphi als Gewand des Gottes diente. — S. 725 wird
der Pvthagoreer Philolaos behandelt. Frg. 12 (S. 244, 10 Diels):
Tag öcpaCgas ömfiara Tcivxs ivrC, xä iv xä öipaCga %vq -/tu vdag xal
ya xal ar^Q, xal ö xäg öqaiQag bXxäg, :TspiTCxov. Hier zeigen m. E.
iv ra öcpaCgcc und xäg ötpalgag, daß es sich um einen Gegen-
satz handelt: der Gegensatz zum Inhalt ist der Behälter, und
die bXxdösg sind rund (vgl. Thuc U 97, 1 :t£QC:cXovg vr^t öXQoy-
yvXri mit Thuc. VI 1, 2 xsglrtXovg bXxädi). Ich würde also
nur schließen, daß Philolaos die öcpalga aus den vier Elementen
bestehen ließ und einem runden Behälter, den er mit dem
Bauch eines Lastschiffes verglich: die Elemente liegen im
Innern der öipalga wie die Waren im Innern des Schiffes.
Eisler sieht in dieser Stelle ein 'altpythagoräisches Symbol,
dessen Zugehörigkeit zur mystischen Überlieferung der Kybele-
542 Richard Wünscti
kulte sich leicht nachweisen läßt'. 'Eine Reihe von Zeugnissen^
beweisen nämlich, daß der Name der Göttin Kvßßa oder Kvfißt] —
zwei der vielen möglichen Transkriptionen von nnp — appella-
tivisch zur Bezeichnung einer Art von Frachtkähnen gebraucht
wurde. Da nun die Erde — aber auch der Mond und schließ-
lich auch die Sonne — nach altorientalischer Vorstellung
ein solches Schiff, der Himmel aber ein umgekehrtes Boot
darstellt, gilt auch Kybele, gleichgültig, ob man sie als
Erda, als Mondgöttin oder als Himmels Wölbung auffaßt
— alle drei Deutungen waren beliebt — , als ein kos-
misches Schiff; der Name oXxag (15 4- 11 -f 10 + 1 + 18 = 55)
ist natürlich wegen seines mystischen Zahlenwertes an sich,
besonders aber wegen der Isopsephie mit KvßsXrj (55) ge-
wählt worden.' Den 'besten Beweis' dafür bietet es, daß
es im späten Religionsgespräch am Hof der Sassaniden von
der Pege heißt ijtig hv ^ijtQa rag iv JisXdysi iivQiayayov
bXxdda (pegsi.
Durch diese von allen Hemmungen befreite Arbeitsweise
des Verfassers kommen Ergebnisse zustande, die ich nicht an-
zuerkennen vermag. Ich weise nur auf einige hin: die Recht-
fertigung der Verwendung von Bruchstücken der orphischen
Theogonie als alter Weisheit scheint mir nicht überall gelungen,
die Schlußfolgerung von der h. Agata auf Köre, die andere
geblendet hat, nicht nur in dem einen oben erwähnten Zug
unberechtigt. Die Worte des Pherekydes G)yi]vbv xai rä ayrjvov
danaxa interpretiere ich nach wie vor 'Okeanos und die Häuser
des Okeanos', um nicht einen harten Bedeutungswechsel des
Wortes G)yrjv6g annehmen zu müssen. Unter einer geflügel-
ten Eiche denke ich mir etwas anderes als einen Baum,
in dessen Spitze ein Vogel sitzt. Da, wo die Alten nicht aus-
drücklich sagen, daß sie mit Isopsephismen arbeiten, können
wir nicht wissen, daß sie angewendet sind. Glauben mag an
' Sie belegen die Worte xvnri xv(ißa xv^ßiov xöfißa.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 543
sie, wer will: aber er darf nicht verlangen, daß andere seine
Schlüsse teilen.^
Aus der Ablehnung der Prämissen folgt die Ablehnung
auch der auf ihnen gebauten Schlüsse. Aber es ist unrichtig,
deshalb das ganze Buch in Bausch und Bogen zu verwerfen.
Zum Nachprüfen und Weiterforschen regt es auch da an, wo
man ihm die Folcje versagt. Es zeigt deutlich, welche unend-
liehe Welt von Gedanken im Hinterland des griechischen Klein-
asien lebendig war, und es mahnt uns ernstlich, mehr als früher
mit der Möglichkeit des Einflusses orientalischer Gedanken zu
rechnen. Manche Beziehung zu iranischer Religion, die Eisler
aufstellt, scheint tatsächlich vorhanden gewesen zu sein, anderes
bedarf der Prüfung. Dazu ist das vorsichtige Zusammen-
arbeiten der klassischen Philologie mit der orientalischen und
iranischen notig. Unter den Lebenden wird kaum einer alle
Monumente kennen und alle Sprachen beherrschen, die zu
solchen Forschungen nötig sind, wenn Bleibendes geschaffen
werden soll. Über die mythischen Bilder vom Weltenmantel
und Himmelszelt abschließend reden zu wollen, ist noch zu
früh. Wir sind Eisler dankbar, daß er das Problem der Ent-
stehung und Verbreitung dieser mythologischen Bilder gestellt
hat. Im Sinne H. Useners hat er sie untersuchen wollen —
die Grundlage von Useners Arbeiten war strenge Selbstzucht
zur wissenschaftlichen Gründlichkeit auch im kleinsten.
Aus der Unterschicht religiösen Denkens haben sich als
Rudimente in späterer Zeit gehalten Mantik, Zauber und
Aberglaube. Deren Dokumente verständlich zu machen,
haben sich verschiedene Abhandlungen der oben angeführten
Sammelschriften (S. 526 ff.) zur Aufgabe gemacht: ich brauche
sie nicht noch einmal zu nennen. Über den Dämonenaber-
glauben handelt zusammenfassend Ch. Michel Les bons et
* W. Aly (Deutsche Lit.-Zeit. 1911, 327) macht darauf aufmerksam,
daß die griechischen Buchstaben zur Addition immer ntir mit der
Wertung 1 — 900, nicht 1—24 gebraucht werden.
544 Richard Wünsch
mauvais esprits dans les croyances de Vancimne Grcce, unter
Berücksichtigung auch der verschiedenen Stellung, welche die
Philosophen dazu einnahmen. Die Abhandlung steht in einer
neubegründeten französischen Zeitschrift (1910 S. 193 ff.), der
Bevue d'histoire et de la liUerature religieuse: das Archiv begrüßt
das artverwandte Unternehmen bei seinem ersten Jahrgang.
Einen Beitrag zur M antik gibt R. Meister, Ein Ostrakon
aus dem Heiligtum des Zeus Epikoinios (Abh. phil.-hist. Kl.
Kön. Sachs. Ges. derWiss. XXVIl 1909 S. 305 ff). Die Scheibe
ist im fünften Jahrhundert mit einem Orakel beschrieben worden.
Ich liebe diesen Eifer und bin ihm gnädig; die Feinde aber
schlage ich mit dem Blitz . . . ich lasse mich erbitten von dem
Zweifelnden, der bittend sucht.' Das ist eine seltene Selbstoffen-
barung des Gottes über seine eigenen Gedanken, und selten ist
es auch, daß der Grieche eine Offenbarung aufschreibt, — F. Jäger
De oraculis quid veteres philosopJii senser int, München 1910,
gibt eine Doxographie über den Wert der Mantik. Erst die
Stoiker nehmen zu der Frage, ob die Weissagekunst wirklich
die Zukunft voraus verkünde, Stellung, und zwar in bejahendem
Sinne. Die späteren Philosophen teilen sich in Anhänger und
Gegner der Stoa. Am Ausgang des Altertums steht der Neu-
platoniker Porphyrios, der trotz einiger Zweifel orakelgläubig
ist und eine letzte Blüte dieses Glaubens heraufführt. — Be-
sondere Aufmerksamkeit beginnt man der Traummantik zuzu-
wenden. 0. Hey Der Traumglaube der Antike, ein historischer
Versuch I, Progr. Kealgymn. München 1908 behandelt die Traum-
erzählungen bei Homer und bei den griechischen Autoren bis
zum Ende des fünften Jahrhunderts; die Erwähnung der In-
kubation veranlaßt einen Exkurs über 'Medizin und Traum-
deutung'. R. Dietrich Beiträge zu Artemidorus Daldianus I,
Progr. Rudolstadt 1910 beginnt mit sprachlichen Zusammen-
stellungen als einer Vorarbeit zu einem Kommentar. Eine
solche Erklärung der Oneirokritika ist ein lange vorhan-
denes Desiderat: hoffentlich wird sie auf möglichst breiter volks-
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 545
kundlicher Basis beruhen. F. X. Drexl Achmets Traum-
buch, Einleitung und Probe eines kritischen Textes, Diss.
München, Freising 1909 darf hier erwähnt werden, ein grie-
chisches Traumbuch des Mittelalters, das in 304 Kapiteln eine
Auslegung der verschiedenen Träume gibt. Die kurze Text-
probe macht uns auf das Ganze gespannt: später wird gezeigt
werden müssen, welche Fäden sich von hier aus zum Altertum
zurückspinnen lassen.
Eine andere Art volkstümlicher Mantik lehrt uns H. Di eis
verstehen: Beiträge zur Zuckungsliteratur des Okzidents und
Orients. I Die griechischen Zuckuugsbücher (Melampus zegi
:caXß(öv) 1907; II Weitere griechische und außergriechische*
Literatur und Volksüberlieferung 1908 (Abh. d. BerL Akad:).
Er behandelt den weit verbreiteten Glauben, daß Klingen im
Ohr, Jucken eines Gliedes vorbedeutend sei, ein Glaube, der
auch den Griechen und Römern geläufig war. Die Schrift-
quellen werden ediert, namentlich der Traktat des sog. Melampus
in seinen verschiedenen Versionen. Eigentümlich ist in einer
Rezension die Vorschrift, bei jedem Vorzeichen eine bestimmte
Gottheit zu versöhnen. Mit Recht schließt Diels daraus (II
S. 11 des S. A.), 'daß diese Sühngebete und Sühnriten mit den
alten animistischen Vorstellungen zusammenhängen, die in
jedem unwillkürlichen Zeichen, das sich im Körper bekundet,
die Einwirkung eines Dämons erblicken und apotropäische
Gegenmittel für nötig halten*.
Mit Ursprung und Wesen dieser Gegenmittel beschäftigen
sich mehrere Lexikonartikel der letzten Jahre. A. Abt gibt
eine Zusammenfassung des Notwendigsten unter Amulette in
'Religion in Geschichte und Gegenwart' I 447 jff., ausführlicher
sind die Charms and ämuläs in Hastings' Dictionary of Beligion
and Ethks behandelt, wo L. Deubner das Griechische, Referent
das Römische übernommen hat. — G. Kropatscheck De amu-
letonim iisu capita dm, Diss. Greifswald 1907 bespricht in Kap. I
' S. Archiv XUI 456.
Archiv f. Religionswissenaehaft XTV 35
546 Richard Wünsch
die Stellen der Zauberpapyri, die von Amuletten handeln, und
gibt Belege für die antike Verwendung der Phylakteria sowohl
in der einmaligen Zauberhandlung als auch im dauernden
Gebrauch des täglichen Lebens. Kap. II enthält ein Lexikon
der apotropäisch verwendeten Pflanzen. Nützlich wäre eine
ähnliche Zusammenstellung über Steine, Tiere, Stoffe. Vielleicht
erhalten wir sie in dem von dem Verfasser versprochenen
Corpus amuletorum. — P.Wolters Ein Apotropaion aus Baden im
Aargau, Bonner Jahrbücher 118, 1909 S. 257 ff. veröffentlicht
ein menschengestaltiges geflügeltes fratzenhaft gebildetes Wesen,
das auf einem Tiere sitzt und mit einem Phallos versehen
ist. Es wird nicht nur eine ansprechende Deutung auf den
Dämon Phobos, sondern auch eine reiche Sammlung von
Gedanken und Material zur Geschichte derartiger Schreckfiguren
gegeben.
Abwehrglauben und Schaden zaub er in gleicher Weise
behandelt das große Werk von S. Seligmann, Der böse Blick
und Verwandtes, ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens
aller Zeiten und Völker^ I. IL Berlin 1910. Wertvoll ist
die von einem Augenarzt gegebene Erklärung der Entstehung
der Vorstellungen aus dem eigentümlichen Bau des tierischen
und des menschlichen Auges. Das Material aus dem antiken
Kulturkreis ist, soweit es dem Verfasser erreichbar war, zu-
sammengetragen, aber mit Vorsicht zu benutzen, es ist weder
vollständig noch überall kritisch behandelt.
Die Zahl der Monumente, die dem antiken Zauber ihr
Dasein verdanken, ist in den letzten Jahren beträchtlich ge-
wachsen. Einige habe ich im Archiv XII S. 1 ff. zu deuten
versucht. Zu dem Bannzauber, der den Gegner mit Rache-
puppen schädigt, gibt L. Mariani neues Material: Osservazioni
intorno alle Statuette plumbec sovancsi, Ausonia IV 1910, 39 ff.
Meist arbeitet derselbe Zauber mit Bleitafeln: hierfür verweise
' S. Archiv XIII 463 und meine ausführliche Besprechung BerJ.
philol. Wochenschr. 1911, 76flF.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 547
ich auf meine 'Antiken Fluchtafeln', Lietzmanns Kleine Texte
Heft 20, 1907 ; die zweite Auflage befindet sich in Vorbereitung.
Neue Bleitafeln sind, vermischt mit silbernen Amuletten, nament-
lich bei der Aufräumung des Amphitheaters in Trier gefunden
worden; ron mir ediert Bonner Jahrbücher 119, 1910 S. 1 ff.
(Die Laminae litteratae des Trierer Amphitheaters). Auf
Papyrus bietet einen neuen Fluchzauber das Archiv für Papynis-
forschung V 1911 S. 393 Nr. 312; in meinen Bemerkungen
S. 397 ist zur Bezeichnung der Mutter als IdCa fnjxQU hinzu-
zufügen R. Heim Incantam. mag. Nr. 45 ov stsxsv V) IdCcc UTj'rpa.
Einen neuen Liebeszauber auf Papyrus gab K. Preisendanz
heraus, Philol. LXIX 1910 S. 51ff- — Fortschritte macht auch
der Versuch, die länger bekannten griechischen Papyri magicae
zu verwerten. Th. Schermann, Griechische Zauberpapyri und
das Gemeinde- und Dankgebet im 1. öemensbriefe, Leipzig 1909
(Hamack- Schmidt, Texte und Untersuchungen 34, 2B) zeigt
an einem Einzelfalle, daß sich Gleichheit von Gebetsideen in
den griechisch -christlichen Gebeten und den Anrufungen der
Zauberpapyri sowohl in Inhalt wie Form finden; das Gebet
des Klemensbriefes 'erscheint als Glied eines Typus, der die
Allmacht der Gottheit in der Schöpfung wie in der Erhaltung
alles Lebewesens zum Ausdruck brachte, um ihre Hilfe, Gnade
und Mitwirkung zu diesem oder jenem Ziele zu erflehen' (S. 51).
Als Hauptquelle der magischen und christlichen Gebete wird
die Septuaginta angesprochen. — Eine Gesamtausgabe der
griechischen Zauberpapyri wird von Preisendanz, Fahz, Abt
und mir vorbereitet. Wenn sie vorliegt, wird hoffentlich auch
die notwendige Ausbeutung des Inhalts mehr Hände bewegen.
Ebenso wie Marett (oben S. 530) halte auch ich es für eine
wichtige Aufgabe, die Volkskunde und die klassische Literatur
für einander nutzbar zumachen: durch Interpretation aus der
Literatur die Volksreligion zu gewinnen und die Erkenntnis
der Literatur durch religionsgeschichtliche Erklärung zu fördern.
In dieser Absicht habe ich die Pharmakeutriai besprochen ^^Die
35*
548 Richard Wünsch
Zauberinnen des Theokrit, Hess. Blätter für Volksk. VIII 1909
S. 111 ff.) nnd E. Penquitt veranlaßt, die Dido-Episode der
Aeneis zu erklären (De Didonis Vergilianae exitu, Diss. Königs-
berg 1910): die Komposition Vergils scheint mir nun durch
die Analyse des von ihm geschilderten Liebeszaubers klar ge-
worden zu sein. — R. Opitz, Volkskundliches zur antiken
Dichtung, besonders zum Margites, Progr. Albert-Gymn. Leipzig
1909, stellt die im Altertum für den Dümmling typischen Züge
zusammen; darunter sind die Märchenmotive von einem ge-
wissen Interesse. — C.Zipfel Quatenus Ovidius in Ihide Calli-
machum aliosque fontes imprimis defixiones secutus sit, Diss.
Leipzig 1910 spricht S. 5 — 27 eine Reihe von Formeln, die
sich mit den Wendungen der Fluchtafeln decken, als Nach-
ahmung volkstümlichen Brauches an. — Für die Apologie des
Apuleius haben wir außer von Abt (s. S. 526) auch das Werk
eines Franzosen bekommen. Während Abt es sich zur Auf-
gabe macht, zu jeder Erwähnung eines magischen Zuges mög-
lichst vollständig das Parallel material, namentlich aus dem
hellenistischen Zauber herbeizubringen, willP. Valette Uapölogie
d'Äpulee, These, Paris 1908 den persönlichen Ansichten des
Apuleius und seiner Schrift als einem Kunstwerk gerecht werden.
So ergänzen sich beide Arbeiten aufs beste. Von Vallettes
mehr allgemeinen Ausführungen hebe ich hervor die Bemer-
kungen zu Zauber und Recht (S. 34), Zauber als Gewerbe (S. 55),
Zauber und Medizin (S. 68), über Dämonen (S. 220), Orakel
(S. 272), Religion und Magie (S. 290). Die auf L Bruns
fußende Bemerkung S. 25, daß die augusteischen Dichter an
die Wirksamkeit des Zaubers, den sie schildern, wirklich
geglaubt hätten, ist nach R. Dedo De antiqu. snpe)'st. antat.,
Diss. Greifsw. 1904 S. 41ff. nicht mehr haltbar.
Von der primitiven wende ich mich zur entwickelten
Religion und beginne mit den Schriften über Kultbauten.
H. Muchau, Pfahlhausbau und Griechentempel, Jena 1909 geht
aus von der Hypothese P. Sarasins 'Über die Entwicklung des
Griechische and römische Religion 1906 — 1910 549
griechischen Tempels aus dem Pfahlhause'. Nicht das Pfahl-
bauhaus als solches, sondern ein auf Pfählen ruhender über-
dachter Bretterboden über einer den Nymphen geweihten
Quellgrotte ist das Urbild des griechischen Tempels (S. 14).
Denn die Cella muß, da das Wort von ceUar (Keller) abgeleitet
und vaög ton den Najaden nicht zu trennen ist, eigentlich
eine Brunnengrotte gewesen sein; 'spielt doch das Weihwasser
noch heute in der katholischen Kirche gleich beim Eintritt
eine überaus wichtige Rolle' (S. 99). Die weiteren Aufstellungen
über die Entwicklung des Tempels s. S. 314 ff.; mit dem zwei-
schneidigen Werkzeug der Etymologie wird bewiesen, daß der
griechische Tempelbau im letzten Grund germanisch ist. Da
steht gedruckt, daß Dardanos, der Sohn des Donnergottes Zeus,
deutlich eine Verdoppelung des Wortelements Danor zeige, da
auch im Nordischen bekanntlich Donar einsilbig Thorr genannt
werde — Dardonar kann also mit Thor Donar gleichgesetzt
werden. 'Diese Begriffe führen uns den in dem Eichbaum
(dendru) von Dodona (eigentlich Dordonar?) hausenden Gewitter-
gott Thor Donar vor.' Das Buch will nach dem Vorwort
'für Germaniens Ruhm und Größe seit den Tagen der Steinzeit
fechten'.
H.Nissen, Orientation, Studien zur Geschichte der Religion,
Heft I — HI, Berlin 1906 — 10 begründet noch einmal unter Be-
nutzung der älteren Arbeiten seine These, daß die Orientierung
der meisten antiken Tempel bedingt sei durch die Absicht, den
Grundriss zu bestimmten siderischen Erscheinungen in Beziehung
zu setzen. S. 130: Die Grundmaxime lautet, daß die Tempel-
axe im Längs- oder Querschnitt nach dem Aufgang oder Unter-
gang der Sonne oder eines hervorragenden Fixsternes gerichtet
sei. Über die Richtigkeit dieser Theorie zu urteilen, maße ich
mir nicht an. Die Ergründung der für die einzelnen Tempel
maßgebenden astralen Rücksichten gibt Gelegenheit zu einer
Menge feiner Beobachtungen, die des Nachprüfens wert sind:
über die Anschauungen vom himmlischen Licht, über den Ein-
550 Richard Wünsch
fluß der Gestirne auf den Kultus, über den Festkalender, die
Gleichsetzung von Göttern mit Gestirnen, über Herrscherkult
und Städtegründung, über die orientalischen Vorbilder der
Orientation und ihre Nachwirkung im Christentum. Besonders
ansprechend ist der S. 375 ff. abgedruckte Vortrag über die
Via Appia und ihren Gräberkult.
E. Petersen, Die Burgtempel der Athenaia, Berlin 1907
behandelt als Archäologe die Geschichte des Baues und der
Kultbilder des Erechtheions, des alten Athenatempels und des
Parthenon. Abschnitt IV (Erechtheus-Poseidon) deutet Erech-
theus als einen ursprünglichen Zeus, der im Blitze vom Himmel
fährt und das öTÖfiLOv auf der Akropolis schlägt. Als Blitz
ist er ein Zsvg xataißdtTjg, der sich mit der Erdgöttin Pan-
drosos verbindet: mit dieser wird dann später die homerische
Athena geglichen. Erechtheus selbst wird als chthonischer
Dämon schlangengestaltig in der Tiefe des Brunnens hausend
gedacht, später wird sein Kult von dem des Poseidon auf-
gesogen. In seiner Mythendeutung arbeitet Petersen mit der
in früheren Zeiten beliebten Methode, Götter unter sich und
mit elementaren Dingen gleichzusetzen; so heißt es S. 89:
Erechtheus ist das Feuer, also Hephaistos; der Mythos erzählt,
daß der Same des Hephaistos zur Erde fällt und den Eri-
chthonios erzeugt, d. h. der Himmelsgott Erechtheus befruchtet
im Wetterstrahl die Erde, die so den Menschen gebiert. Da
wir über die „Grundbedeutung" der Götter zu wenig wissen
und da viele Mythen mehrdeutig sind, kommt man auf diesem
Wege nur selten zu gesicherten Ergebnissen.^ — F. v. Duhn
Der Dioskurentempel in Neapel, Sitz. Ber. Akad. Heidelberg,
Phil. bist. Kl. 1910, S. 1 ff. notiere ich, weil hier die einzige
aus Süditalien bekannte Giebelkomposition behandelt wird, und
zwar auch mit Rücksicht auf die religiösen Gedanken, welche
die Auswahl der Giebelfiguren bestimmt hat.
' Eine andere Theorie über Erichtbonius s. u. S. 566
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 551
Für die Geschichte des Kultus der griechischen Götter
ist zunächst zu berichten, daß L. R. Farnell sein umfassendes
Werk The cults of the GreeJ: States vollendet hat. Es war zu-
erst auf drei Bände angelegt, Band I und II erschienen 1896.
In dem folgenden Dezennium wuchs dem Verfasser der Stoff
unt^r der Hand, so daß er statt des einen ausstehenden Bandes
deren drei gab (III. lY 1907, V 1909 Oxford). Die Kulte
sind nicht, wie man nach dem Titel schließen könnte, choro-
graphisch geordnet, sondern den Hauptgöttem, welche die
griechischen Poleis in historischer Zeit verehrt haben. Von
Bedeutung sind im 3. Band Ge Demeter Köre und die Götter-
mutter, im 4. Poseidon und Apollo, im 5. Hermes und Dio-
nysos. Die Darstellung verbindet planmäßig die Ausnutzung
der literarischen und archäologischen Quellen; die religiöse
Unterschicht, aus welcher die Kulte der persönlichen Götter
aufsteigen, wird beachtet, ethnographische Analogien werden
herangezogen, und zwar, was von Wert ist, mit Besonnenheit.^
Die klare Darstellung läßt die Hauptzüge gut heraustreten;
übersichtlich sind auch die Register der Zeugnisse und
Kultorte.
Ein wichtiges Buch für die griechischen Kulte ist um
einen großen Schritt weitergekommen, die Sammlung der Kult-
gesetze: Leges Graecorum sacrae e titulis cdlectae edidenoü et
explanaverunt J. de Prott et L. Ziehen. Part. II fasc. 1 Leges
Graeciae et insidarum ed. L. Ziehen, B. G. Teubner 1906. Als I 1
hatte H. v. Prott 1896 die Fasti sacri erscheinen lassen; an
der Vollendung seines Bandes, der noch die Inschriften zum
Herrscherkult bringen sollte, ist er durch seinen frühen Tod
gehindert worden. Der fehlende Teil soll nach Ziehens Vor-
rede auch nicht mehr erscheinen, da die meisten dieser TituK
inzwischen von Dittenberger in seinen Sammlungen abgedruckt
sind. Der neue Fasciculus II 1 enthält die IsqoI vofiot von
* S. dazu die gehaltreichen prinzipiellen Erörterungen in der Be-
sprechung von L. Ziehen, GöU. gel. Aiiz. 1911 S. 105 £f.
552 Richard Wünsch
Attica, dem Peloponnes, aus Nordgriechenland und vom Agä-
ischen Meer und ist wertvoll durch den sorgfältigen, auch das
Sakralwesen ausgiebig berücksichtigenden Kommentar, den Ziehen
hinzugefügt hat.
Von den einzelnen Kulten steht der des Zeus voran.
Ihm gilt der beachtenswerte Aufsatz von J. E. Harrison The
KoureUs and Zeus Kuros, Annual of the British School at Athens
XV 1908/09 S. 308 ff. Er geht aus von einem in Paläkastro
auf Kreta gefundenen Hymnus auf Zeus, der den Gott ^syißrs
jtovQS anredet. Er wird als Hjmnos der Kureten erklärt;
Kureten sind ursprünglich diejenigen Priester, die an den
Jünglingen die Riten der Männerweihe vollziehen: sie sind be-
waffnet, weil sie selbst die Mannbarkeit erreicht haben, sie sind
oiovQOtQÖqioi, weil sie eine neue Generation von Kriegern durch
die Einweihung erzielen, sie sind Tänzer, weil Tanz zu jedem
primitiven Mysterium gehört. Weil den Kureten der mit dem
Mysterium verbundene Enthusiasmus etwas Übermenschliches
verleiht, werden sie als Dämonen betrachtet. Im Kult erscheint
mit diesen Dämonen eine göttliche Persönlichkeit verbunden,
der Kuros: ein göttlicher Jüngling, der Fruchtbarkeit bringen
soll. Wie die ganz ähnliche Gilde der Salier in Rom die Auf-
gabe hat, durch rituellen Tanz das alte Jahr zu vertreiben
und das neue Jahr zu bringen, so ist es Amt der Kureten,
durch Tanzriten die Fruchtbarkeit zu fordern und durch ihren
Hymnos den Kuros zur Erzeugung von Fruchtbarkeit zu ver-
anlassen. — Bei Gelegenheit des Zeuskultes sei die Abhandlung
von P. Jacobsthal erwähnt, Der Blitz in der orientalischen
und griechischen Kunst, Berlin 1906. Obwohl sie ein rein
formgeschichtlicher Versuch sein will, muß sie hier notiert
werden, weil sie an einem Objekt religiöser Anschauungen
orientalischen Einfluß nachweist: die auf griechischem Boden
älteste Darstellung des Blitzes, das Doppelbeil, wird verdrängt
durch das aus dem Orient stammende Bild des einfachen oder
doppelten dreiteiligen Strahles.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 553
Gleichfalls mit Kreta befaßt sich W. Aly, Der kretische
ApoUonkult, Vorstudie zu einer Analyse der kretischen Götter-
kulte, Leipzig 1908. Er stellt die verschiedenen Formen dieses
Kultes, mit dem jüngsten beginnend, dar: das ist der des
Apollon Pythios, der erst von Delphi aus eingeführt ist. Alter
sind die Kulte des aus dem Peloponnes stammenden dorischen
Apollon Kameios, und der des Apollon Arayklaios, an dessen
Schöpfung wahrscheinlich Achäer beteiligt gewesen sind. Am
längsten verweilt der Verfasser beim Apollon Delphin ios, dessen
Name von einem chthonischen Gotte Delphos herkomme: dieser
Gott sei gleich der delphischen Schlange gewesen, in Delphi
sei Delphinios zum Beinamen des Apollon geworden, und
unter dem Einfluß dieser Tatsache seien auch die andern
Heiligtümer jenes Delphos allmählich dem delphischen Gotte
untergeordnet worden. Die Sage vom Apollon Tarrhaios,
dessen Kinder von einer Ziege g&säugt werden, gibt Veran-
lassung zu einem dankenswerten Exkurs über Mythen von
Tieren, die Menschenkinder säugen. An letzter Stelle werden
einige kretische Sondergötter behandelt, die später von Apollon
aufgesogen werden. Nach Aly ist unt«r diesen sämtlichen
Apollonkulten nichts, was als altkretisch gelten kann. Er
schließt: „Kam Apollon aus Lykien, so ist er jedenfalls an
Kreta völlig vorübergegangen, eine Tatsache, die den östlichen
Ursprung des Gottes als sehr zweifelhaft erscheinen läßt".
Die hier in Frage gestellte Hypothese von Apollons lykischer
Herkunft geht auf v. Wilamowitz zurück (Herm. XXX VIH
1903 S. 575 ff.). Dessen Meinung braucht nicht richtig zu
sein, aber durch Alys Arbeit, die als geordnete Material-
sammlung einen großen Wert besitzt, ist sie nicht widerlegt,
da der Kult des Apollon von Kleinasien aus seinen Weg nicht
notwendig über Kreta nehmen mußte.^
^ So L. Malten Berl. phil. Wochenschr. 1910, 332 ff. in einer ein-
gehenden Besprechung, der m. E. mit Recht auch an der alt^n Deutung
des Jslqiiviog als Delphingott festhält.
554 Richard Wünsch
Mit dem Kult des Asklepios verbinde ich die in seinem
Dienst geübte Inkubation. A. P. Arabantinos {'AöxXt^tcios
xal 'A6xkr]jtLBia, Leipzig 1907) richtet als Arzt sein Interesse
hauptsächlich auf die Wunderkuren des Gottes, von denen die
Inschriftsteine erzählen. Er sieht in ihnen historische Doku-
mente medizinischen Könnens, obwohl es vielfach Wunder-
heilungen sind, die sich im Traum vollziehen. Ahnlich ratio-
nalistisch sieht er in Asklepios keinen Gott, sondern einen
menschlichen Arzt, der wirklich gelebt hat. Beifall wird dieser
Euhemerismus kaum finden. Hübsch sind die photographischen
Aufnahmen der Ausgrabungsstätten, die dem Buch beigegeben
sind. — M. Hamilton Incubation or the eure of disease in
Pagan temples and Christian churches, St. Andrews und
London 1906 ist eine ziemlich populär gehaltene Schrift, die
das Problem nur wenig über L. Deubners Buch De incubatione
hinaus fördert. Im dritten Abschnitt sind einige Berichte über
die moderne Inkubation der Griechen beachtenswert. — Auch
Ch. Michel Le culte d^Esculape dans la religion de la Grece
ancienne ist im wesentlichen eine für weitere Kreise bestimmte
Zusammenfassung (Rev. d'Jdst. et de la litt. rel. 1 1910. S. 44ff.).
K. Jaisle, Die Dioskuren als Retter zur See bei Griechen
und Römern und ihr Fortleben in christlichen Legenden, Diss.
Tübingen 1907 enthält eine Sammlung der Stellen und Denk-
mäler, die sich auf das Thema beziehen, und vergißt auch die
Monumente göttlicher Wesen mit ähnlicher Funktion (Helena,
Achilles, die Kabiren) nicht. Die Ergebnisse für die Geschichte
des Kultus stehen S. 72 f.: die Dioskuren sind als Retter zur
See bei den Griechen seit dem sechsten Jahrhundert nachweis-
bar; so werden sie später in Rom übernommen. Gegen das
Fortleben in christlichen Legenden bin ich skeptisch: wenn
z. B. der h. Castor von Coblenz einem ungastlichen Kaufmann
das Schiff dem Untergang nahe bringt und es dann wieder flott
macht, so genügt das m. E. noch nicht, um hierin eine bewußte
Erinnerung an den heidnischen Kastor zu sehen.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 555
P. Perdrizet Cultes et myihes du Pangee, Ännales de VEst
XXIV 1910, 1 schildert die an dem Götterberg Makedoniens
bezeugten Gottesdienste, soweit es Kulte des Dionysos sind
oder mit diesem zusammenhängen (Rhesos, Lykurgos, Sabazios),
namentlich die Eigenart des thrakischen Dionysoskultes, sein
Vordringen nach Griechenland und seine Geschichte am Pangaios
bis zum Ausgang des Altertums. Das Buch ist aus Vorlesungen
zur Einführung in die Bakchen des Euripides entstanden und
schildert gut die Gedankenwelt, in die sich der attische Dichter
mit jener Tragödie zu versetzen gewußt hat.
S. Eitrem, Hermes und die Toten {Chrütiania Videnskabs-
Selskahs Forhandlingar 1909 No. 5) sucht durch bestimmte
kultische Bräuche und antike Sagen Beziehungen zwischen
Hermes und den Toten herzustellen. So sicher es solche Be-
ziehungen gegeben hat, so geht doch die These, daß man im
ganzen Charakter der Hermesverehrung direkten Einfluß des
Totenkultus sehen darf, zu weit: manche der Zeugnisse, auf
denen sie aufbaut, lassen auch andere Deutungen zu. Wertvoll
sind die Beiträge zum Totenkult primitiver Völker, so S. 4ff.
die Materialien über alte Beerdigung der Toten im Hause: daß
gerade hier die Wurzel des Bauopfers liegt (S. 6), glaube ich
nicht. Schwach bezeugt ist die Beerdigung unter der Tür-
schwelle (S. lOf), bei dem „Totenkultus" an der Tür isf ent-
weder die Tür unwesentlich, oder es sind Riten der Abwehr
böser Geister, die, wie die Menschen, in die Wohnung durch
die Türe einzudringen versuchen. — Mit dem Totenkult be-
schäftigt sich desselben Verfassers Publikation: Griechische
Reliefs und Inschriften im Kunstmuseum zu Kristiania {For-
handlingar 1909 No. 9). Unter den veröffentlichten Stücken
befinden sich auch einige sog. Totenmahlreliefs, die, wie das
meist geschieht, als Darstellung kultischer Opfer an heroisierte
Tote gedeutet werden.
Ich schließe an, was sich sonst auf die Verehrung der
Toten bezieht. E. Rohde's Psyche, Seelenkult und Unsterb-
556 Richard Wünsch
lichkeitsglaube der Grieclien, ist in vierter Auflage, Tübingen 1907,
erschienen. Den unveränderten Neudruck haben beim ersten
Band F. Scböll und A. Dieterich, beim zweiten W. Nestle über-
wacht. — Mancherlei ist für diesen Teil griechischer Religion
aus den Grabfunden geschlossen worden. AusH, Gropengießer,
Die Gräber von Attika der vormykenischen und mykenischen
Zeit, Diss. Heidelberg 1907, hebe ich als wichtige Einzelheit
S. 19 hervor: Funde von Bestattung im Hause. — J. Zehetmaier,
Leichenverbrennung und Leichenbestattung im alten Hellas,
Leipzig 1907* behandelt das Thema im wesentlichen archäo-
logisch, nach seinen Ausführungen gehen beide Arten, die
Leichen zu behandeln, nebeneinander her, soweit die Denkmäler
zurückreichen. S. 78 wird die attische Schale abgebildet, auf
welcher der tote Glaukos als kauernder Hocker in einem
Kuppelgrab dargestellt ist. S. 22 wird von Drähten berichtet,
die in Gräbern gefunden sind und ursprünglich wohl zur
Fesselung der Leiche, d. h. des Totengeistes gedient haben.
Wenn kleine Kinder nicht verbrannt werden (S. 156), so liegen
da andere Gründe vor als der, daß sie des Scheiterhaufens
nicht wert gewesen wären. Dafür verweise ich auf J. de Mot
La cremation et le sejour des morts chez les Grecs, Me'ni. de la
Soc. d'anthropologie de Bruxelles XXVII 1908 No. 6: er bringt
den Brauch, kleine Kinder nicht zu verbrennen, sondern zu be-
graben, mit dem Glauben zusammen, daß diese Wesen noch
einmal von der Erde neu geboren werden sollen (so schon
A. Dieterich, Mutter Erde S. 21). Im übrigen bestreitet de Mot
die Leichenverbrennung für die mykenische Zeit; in der Epoche
der dorischen Wanderung dagegen sei sie allgemein rezipiert.'
Den Grund für das Aufgeben des älteren Begrabens hatte schon
' Vgl. die wichtige Besprechung von E. Pfuhl Gott. gel. Am. 1907,
6G7 tf.
* Als gemeingriechiachen Besitz bezeichnet die Leichenverbrennung
C. Rouge, Bestattungssitten im alten Griechenland, Neue Jb. XXV 1910
S. 398.
Griechische und römiache Religion 1906 — 1910 557
Rohde in der Absicht gesehen, den Toten TÖllig Ton den
Lebenden zu trennen, durch die Vernichtung des Leibes das
Übergehen der Seele ins Totenreich zu erleichtem. Diese
Meinung stützt de Mot durch neue ethnographische Parallelen.
Die athenische Gräberstraße schildert anschaulich A. Brück-
ner, Der Friedhof am Eridanos zu Athen, Neue Jb. XXV 1910
S. 26 ff. — R. Leonhard, Die paphlagonischen Felsengräber
und ihre Beziehung zum griechischen Tempel, 84. Jahresber. der
Schles. Ges. für vaterl. Kultur, 1906 Abt. IV a S. 1 ff. zeigt,
daß der Grundriß dieser z. T. sehr alten Grabbauten der des
einheimischen Wohnhauses ist: auch hier also borgt das Haus
des Toten seine Form vom Hause des Lebenden. Der Grund-
riß, ein Rechteck mit einer Vorhalle, die oft durch zwei Pfeüer
gestützt ist, ist aber mit dem des my kenischen Megarons und
des griechischen Tempels identisch. Leonhard versucht nun
die griechischen Tempel aus der Anlehnung an die klein-
asiatischen Bauten herzuleiten, da das hellenische templum in
antis erst im siebenten Jahrhundert entstehe, damals aber die
mykenischen Paläste seit fünfhundert Jahren zerstört gewesen
seien, also nicht als Vorbild gedient haben könnten. Dieser
Schluß e siJentio ist gefährlich, er rechnet nicht mit der Form
.griechischer Wohnhäuser der ältesten Zeit. Auch muß abge-
wartet werden, ob das Heraion von Olympia, dessen Datierung
noch im Flusse ist, nicht doch ziemlich hoch hinauf datiert
werden muß.
W. A. Müller, Nacktheit und Entblößung in der altorien-
talischen und älteren griechischen Kunst, B. G.Teubner 1906, be-
rührt die Beziehung der Kleiderlosigkeit auch zur Magie und zum
Totenkult. Nach dieser Seite werden seine Ausführungen er-
ergänzt durch J. Heckenbach De nuditate sacra, s. oben S. 527.
Es folgen die Abhandlungen zum griechischen Ritus, die
sich natürlich von denen zum Kultus nicht scharf trennen
lassen. Die wichtigste ist das Buch von M. P. Nilsson,
Griechische Feste von religiöser Bedeutung, mit Ausschluß der
558 Richard Wünsch
attisclieii, B. G. Teubner 1906. Es füllt eine lange gefühlte Lücke
in trefflicher Weise. Die Feste sind nach den einzelnen Göttern
geordnet; die Feiern derselben Landschaft stellt man sich leicht
aus dem topographischen Index zusammen. Die Vorzüge des
Buches bestehen in der Zusammenfassung des weit zerstreuten,
namentlich epigraphischen Materials, und in dem Bestreben,
die Riten der einzelnen Feste in ihrem Wesen zu begreifen.
Im Vorwort heißt es: „In der religionsgeschichtlichen Forschung
steht die Untersuchung der Kulte jetzt mit Recht in dem
Vordergrund; denn die junge Wissenschaft muß erst festen
Boden unter den Füßen gewinnen, ehe sie die weit schwierigeren
und durch frühere Lösungsversuche fast nur mehr verwirrten
Probleme, die Mythen und Sagen stellen, in großem Stil an-
greift. Die Kultbräuche bieten die zuverlässigste Grundlage,
um die Vorstufen der griechischen Religion zu erfassen." Dieses
Erfassen geschieht unter Heranziehung zahlreicher ethno-
graphischer Parallelen, die manchen sonderbaren Ritus erst in
seiner ursprünglichen Bedeutung erkennen lassen: so wird —
im Anschluß an A. Thomsen — in der Geißelung der spar-
tanischen Epheben am Fest der Artemis Orthia der Schlag mit
der Lebensrute gesehen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die
Erkenntnis, daß solche Riten in ihrem Wesen vielfach mit
dem Zauber (Fruchtbarkeits-, Abwehr-, Wetterzauber) identisch
sind, daß sie ursprünglich für sich stehen und erst später von
den Festen der großen Götter angezogen wurden — die Eiresione,
der Maizweig z. B., findet sich an verschiedenen Orten in ver-
schiedenen Kulten — , und daß unter diesen Festen solche von
agrarischer Bedeutung stark überwiegen.
Eine Einzelheit griechischen Festbrauches schildert P. Bosch
in einer hübschen Monographie (@£(0()dg, Untersuchung zur
Epangelie griechischer Feste, Berlin 1908) über das Institut
der Festverkünder. Sakrale I>egeliungen von allgemeinerer
Bedeutung, namentlich wenn sie mit Agonen verbunden waren,
wurden in den anderen Poleis durch besondere Gesandte
Griechische nnd römische Religion 1906 — 1910 559
(j&eoQoC) verkündet, die zur Teilnahme einluden. Die Bestallung
und die Geschäftsführung dieser Theoroi Tollzog sich in festen
Formen, die hier zusammengestellt und erläutert werden. Da-
bei fallen einzelne Streiflichter auf die Entstehung und reli-
giöse Bedeutung solcher Ägone (S. 17 Zusammenhang mit der
Epiphanie eines Gottes).
P. Stengel hat in dem Buch „Opferbräuche der Griechen'',
Teubner 1910, seine seit dreißig Jahren erschienenen Aufsätze
zum Ritus der Opferhandlungen gesammelt. Die älteren sind
neu bearbeitet, xmd man wird sie mit Nutzen neben des Ver-
fassers „Griechischen Kultusaltertümern" benützen, deren letzte
Auflage aus dem Jahre 1898 stammt. Wichtig sind diese
Aufsätze namentlich für Opfersprache und Opferstoffe (Wasser,
Blut, Wein^, Gerste, Kuchen). — Die Dissertation von
Th. Szymanski Sacrificia Graecorum in beUis müitaria,
Marburg 1908 ist eine nützliche Zusammenstellung der antiken
Nachrichten über hellenische Kriegsopfer: vor dem Auszug,
auf dem Marsch, vor und nach der Schlacht Ein Anhang
S. 72 ff. behandelt den Unterschied der Ugd und ötpdyut, dazu
8. P. Stengel in diesem Archiv XIII 85 ff.
H. Schnabel, Kordax, Archäologische Studien zur Ge-
schichte eines antiken Tanzes und zum Ursprung der griechischen
Komödie, München 1910, geht uns hier nur im religions-
geschichtlichen Teile (S. 41 ff.) an. Paus. VI 22,1 bezeugt ein
Heiligtum der Artemis Kordaka in Elis, der zu Ehren Kordai
getanzt wurde. Daraus werden Schlüsse abgeleitet, die zu weit
gehen (S. 62): der Kordax habe seinen Ursprung im Peloponnes,
sei in Urzeiten als Fruchtbarkeitszauber geübt worden im Dienst
der großen Xaturgottheit Artemis; dann sei er von den Dorem
übernommen, aber zu einer profanen Belustigung geworden, als
Artemis aus der Fruchtbarkeitsgöttin zur Jungfrau wurde.
Da vielfach das Recht und seine Übungen aus der Reli-
gion und ihren Riten hervorgegangen ist, füge ich es an dieser
' Über Blut und Wein handelt auch Kircher, s. o. S 527.
560 Richard Wünsch
Stelle ein und beginne mit den Arbeiten von R. Hirzel. Sein
Buch „Themis, Dike und Verwandtes, ein Beitrag zur Gescbicbte
der Rechtsidee bei den Griechen", Leipzig 1907, ist ein wert-
voller Beitrag zur Geschichte des Denkens über Recht und
Gesetz. Die Religionsgesehichte gehen an die Bemerkungen
zur Entwicklung der abstrakten Götter Themis (S. 1 ff.) und
Dike (S. 56 ff.). Das Wort d-d^ug wird als „Rat" gedeutet
und daraus die Göttin als Beraterin des olympischen Zeus und
als Orakelgöttin entwickelt; dCxrj soll den Wurf oder Schlag
bedeuten, der die streitenden Parteien trennt und somit die
richterliche Entscheidung herbeiführt. So ist Dike zuerst die
Göttin des Schiedsgerichtes. Später wird sie als Strafe und
Rache gefaßt; sie wird zur unerbittlichen Erinys und nimmt
ihren Sitz in der Unterwelt, im Gegensatz zu der Olympierin
Themis. Von Einzelbemerkungen notiere ich die zum Stab als
Symbol des Richters (S. 7 1 ff.) und über die Vorstellung vom
Rechtsleben im Staate der Götter (S. 428 ff.). — Hirzels Auf-
satz „Die Strafe der Steinigung", Abh. Phil. hist. Kl. Sachs. Ges.
der Wiss. XXVII 1909 S. 225 ff., sieht in der Steinigung eine
Volksjustiz, die sich bei Griechen und Römern in bestimmten
Formen vollzog; sie sei ursprünglich nur ein Verfahren, um
unbeliebte Mitglieder der Gemeinde zur Flucht zu veranlassen,
um sie aus der Gemeinde auszustoßen. Erst später wird sie
zur Todesstrafe, die rechtlich und gelegentlich auch sakral als
solche sanktioniert wird. Aus der Bedeutung des Ausstoßens
entwickelt sich der Sinn der Abwehr des Übels. So kann die
Steinigung Sühnbrauch und damit Bestandteil von Götterfesten
werden. Ich kann diese Konstruktion nicht überall als sicher
ansehen; möglich wäre es jedenfalls, daß Steinigung als Ver-
jagung und Steinigung als Tötung von Anfang an neben-
einander gestanden hätten, oder daß sich die Verjagung als
Abschwächung aus der Tötung entwickelt hätte. Das Argument
(S. 244) „bezweckte man mit der Steinigung nur den Tod, so
war es nicht gerade nötig, sie außerhalb der Stadt vorzunehmen"
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 561
zieht nicht: das geschieht, um nicht das Gebiet der Stadt mit
dem äyos einer Tötung zu beflecken. — Auch Hirzels Talion,
Philol. SuppL XI S. 407 ff. bringt der Religionsgeschichte einiges :
über die Talion als Grundsatz der Priestertheologie (S. 434),
besonders der delphischen (S. 469), als Leitmotiv für das Aus-
malen der Hadesstrafen und der Arten der Seelenwanderung
(S. 472 ff.); sie wird praktisch ausgeübt selbst gegen unbelebte
Werkzeuge (S. 420), vollzogen am Ort der Tat oder am Grabe
des Ermordeten (S. 450 ff.), und als göttliche Vergeltung ge-
fürchtet von der Wiederkehr bestimmter Tage (S. 461). —
E. Leisi, Der Zeuge im attischen Recht, Frauenfeld 1908,
interessiert wegen der Stellen über Zeugeneid (dicofioöCa,
i^onaöCa), über Schwurritus und Schwurgötter (S. 57 ff, 142 f.).
— Einen weiteren Beitrag zur Geschichte des Eides gibt
R. M. E. Meister, Eideshelfer im griechischen Recht, Diss.
Leipz. 1908 (Rhein. Mus. LXIII 1908 S. 589 ff.); merkwürdig
sind diejenigen Eideshelfer, „die den Eid der Partei verstärken
ohne eigenes Wissen von dem Tatbestand, nur im Vertrauen
auf den Charakter der Partei" (S. 579). Man möchte vermuten,
daß ursprünglich jemand als Eideshelfer dieser Art nur dann
auftrat, wenn er Kultgenosse der Partei war, und darum des
Schwörenden Achtung vor der unter dem Eid angerufenen
Gottheit bescheinigen konnte und vielleicht bescheinigen mußte.
Auf dem Gebiete des Mythos^ ist eine neue Gründung
zu verzeichnen: die der „Mythologischen Bibliothek", die von
der „Gesellschaft für vergleichende Mythenforschung" heraus-
gegeben wird. Welches die Ziele dieses Unternehmens sind, sagt
uns das auf dem Umschlag abgedruckte Programm. Es sucht
die Eigenart des Mythos durch eine weitgehende Vergleichung
ohne zeitliche und örtliche Beschränkung zu erklären und die
Vorstellungen aufzufinden, welchen die Urheber der mythischen
' Nicht zagegangen sind mir C. Rühl De Graecis ventonim nomi-
ntbus et fabulis quaestiones selectae, Diss. Marburg 1909, und 0. Höfer,
Mythologisch-Epigraphisches, Progr. Dresden 1910.
Archiv f. Keligionswissenächaft XIV 3«
562 Richard Wünsch
Erzählungen in immer gleichartiger Wiederkehr Ausdruck ver-
liehen haben. Man könnte sich über das großzügige Programm
dieser Gesellschaft nur freuen, wenn es in dem Sinne durch-
geführt würde, daß alle Arten von Vorstellungen, die mythische
Gedanken und Erzählungen geschaffen haben, in gleicher Weise
berücksichtigt würden. Aber die mir zugegangenen Hefte
zeigen die einseitige Neigung, alles auf astrale Vorstellungen
zurückzuführen. Auch die Art des Vergleichens erregt vielfach
Bedenken; zufällige Ähnlichkeiten werden zu Identifizierungen
benutzt, und wichtige Unähnlichkeiten übersehen; aus unsicheren
Etymologien wird Wesensbedeutung erschlossen. Es ist eine
neue Belebung der indogermanischen Sideralmythologie, die
man wegen der Unsicherheit ihrer Ergebnisse für immer ver-
lassen glaubte. Das zeigt gleich Band I Heft 1 der „Mytho-
logischen Bibliothek": E. Siecke, Drachenkämpfe, Unter-
suchungen zur indogermanischen Sagenkunde, Leipzig 1907.
Alle mythischen Drachenkämpfe sind Mondmythen: der Mond
ist eine Schlange, also der schlangengestaltige Asklepios ein
Mondgott (S. 6) — die übliche chthonische Auffassung der
Asklepiosschlange hätte wohl eine Widerlegung verdient.
Zeus ist Mondgott (S. 28): „nur von einem Mondgott läßt sich
ohne kraftlose und kindische Allegorie sagen, daß er stirbt
und wiedergeboren wird." Dann sind also auch alle Vegeta-
tionsgötter Mondgötter. Von den Titanen sind einige Mond-
götter, Apollo ist ursprünglich Mondgott, „der siegreiche Kampf
mit der Drachin oder dem Drachen war wahrscheinlich Apollos
Hauptheldentat, ehe er sich zum Sonnengott entwickelt hatte"
(S. 42), Perseus ist Mondgott, die Chimaira hat „drei Köpfe,
eines Löwen, einer Ziege und einer Schlange: diese Bilder für
den Mond treten dem gläubigen Beschauer etwa am 3., 10.,
13. Tag nach dem Vollmond entgegen (Löwenkopf, Ziegen-
horn, Schlangenleib 1)" (S. 48). Kadmos ist Mondgott (S. 54),
Gatte einer Mondgöttin, „Vater anderer Mondheroinen, z. B.
der Semele, welche in der Konjunktion (dem Coniugium mit
Griechische and römische Religion 1906 — 1910 5G3
dem Sonnengotte) einen neuen Mondgott empfängt, oder der
Agaue, welche ihrem Sohn Pentheus (d. h. sich selbst), wie
wir das allmonatlich sehen, den Kopf abreißt; oder der Ino,
welche unter dem Namen Leukothea (weiße Göttin) zur Meeres-
göttin wird, was allen Seefahrern deutlich vor Augen tritt."
Herakles, der Drachentöter, ist naturlich auch Möndgott. Eine
Ergänzung der „Drachenkämpfe" ist Sieckes weiteres Werk
„Hermes der Mondgott. Studien zur Aufhellung der Gestalt
dieses Gottes", Mythologische Bibliothek H Heft 1 (1908), mit
besonders erschienenen „Nachträgen", S. 99 — 118. Daß Hermes
ursprünglich Mondgott war, beweist für Siecke u. a. der goldene
Stab: „Hermes hat einen solchen Gegenstand, weil er in seiner
schmälsten Form als ein solcher erscheint" (S. 62); „dem Gotte
kommt bekanntlich ein (kreisrunder) Hut als Kopfbedeckung
zu, der :csta6os, der m. E. eine Anspielung auf den Vollmond
darstellt: daneben aber hat er auch oft einen Spitzhut, eine
spitz zulaufende Kappe, den ziXos, den Odysseus, der heroisierte
Hermes tragt: man könnte dies, ohne sich lächerlich zu machen,
auf die Form des Mondes bald vor oder nach dem Vollmond
beziehen" (S. 72). Ein siderisch Ungeweihter würde zunächst
glauben, daß Hermes als Götterbote den Botenhut trägt, und
zwar in den beiden Formen, die so ein Hut zu haben pflegt.
So läßt vieles, was Siecke astral deutet, auch eine andere Er-
klärung zu. Daß aus Vorgängen am Himmel Mythen ent-
standen sind, wird kein Einsichtiger leugnen. Nur sind sie
nicht in solch weitgehendem Maße Faktoren des Mythos, wie
das hier geglaubt wird, und die Schwierigkeiten, die sich einer
gesicherten Mythendeutung entgegenstellen, sind größer, als es
diese Bücher ahnen lassen; das hat K. Helm richtig in seiner
Rezension der „Drachenkämpfe" betont, Hess. Blätter für Volks-
kunde VI 1907 S. 138 0".
In verwandter Richtung bewegt sich J. Helmbold, Der
Atlasmythus und Verwandtes, Gymn.-Progr Mühlhausen i. E.
1906: er imterscheidet den homerischen Atlas, der eine mono-
36*
564 Richard Wünsch
dämonische, und den hesperisclien Atlas, der eine dichodämo-
nisclie Ausdeutung des Zodiakalliclitpliänomens erhält. —
J. Menrad, Der Urmythus der Odyssee und seine dichterische
Erneuerung: Des Sonnengottes Erdenfahrt, München 1910
bevorzugt die solare Auffassung: 'Odv66svg hängt mit Ivx
„leuchten" zusammen, er ist apollinischer Jahres- oder Sonnen-
gott. IlrjvslöotT], zu xf^vos ,.Faden" gehörig, ist die Weberin,
d. h. die Erde, die mit Hilfe der Sonne ihre Geschöpfe webt.
Um diese beiden Hauptfiguren spinnt sich der Mythus (S. 42):
„Der Sonnengott bricht mit seinen zwölf Genossen von der
Himmelsburg auf, um zur Erde, der großen Weberin, die er
sich als Braut erkoren und um die er freien will, zu gelangen."
Und so fort.
Mit der astralen Auffassung des Odysseusmythos verbindet
sich die Theorie des babylonischen Ursprungs bei C.Fries,
Studien zur Odyssee, I Das Zagmukfest auf Scheria. Mit-
teilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft XV, Heft 2 — 4,
Leipzig 1910. Der Aufenthalt des Odysseus auf Scheria (S. 2)
„ist ein mythischer Vorgang, eine Kultlegende ... es ist der
Lichtgott, der Jahresheld, der junge Frühling, der den Sterb-
lichen erscheint, von ihnen festlich eingeholt und mit ge-
bührender Feierlichkeit in sein neues Reich eingesetzt wird. . . .
Das große Ereignis, das von Babylon bis auf die Gegenwart
überall, sei es als Zagmuk, Sakäen, Saturnalien, Lichtmeß oder
Karnevalsfest ernst oder heiter von jung und alt begangen
wurde und wird, bildet den Hintergrund unserer Dichtung".
So werden alle Züge der Erzählung religiös ausgedeutet: die
Landung des Odysseus auf Scheria ist die Epiphanie der
Jahresgottheit, Odysseus schläft auf dem Baum wie Horus im
Lotoskelch, Nausikaas Wäsche wird mit den Plynterien des
Götterbildes gleich geschaut, ihr Ballspiel ist astraler Zauber,
der das Hervortreten des Gottes bewirkt, und der einziehende
Gott kommt auf der Prozessionsstraße, zunächst heimlich, wie
auch Kultbilder heimlich zurückgebracht werden. Das Buch
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 565
enthält wertvolles Vergleichsmaterial aus Religion und Volks-
kunde vieler Stämme, so über Baden, Tanzen und Wettkämpfe
in Beziehung zum Kult. Den Ergebnissen vermag ich nicht
zu folgen, sie legen m. E. zu viel in das homerische Gedicht
hinein und z. T. Anschauungen ganz anderer Kulturkreise.
Die Berechtigung, ja Verpflichtung, Altgriechenland mit dem
alten Orient zu vergleichen, ist nicht zu bestreiten. Aber ehe
wir annehmen, daß griechischer Glaube und griechischer Ritus
aus dem Orient übernommen ist, muß uns erst bewiesen
werden, daß Verpflanzung, nicht bodenständiges Wachstum
^ vorliegt.
Mit den heiklen Problemen der Mythenwanderung und
Mythenverschiebung befaßt sich E. Neustadt De lote Crdico,
Diss. Berlin 1906. Behandelt werden die Sagen von den
Nymphen, die das Zeusknäblein ernährten. Nach einer Version
ist es von Adrastea und Ida auf Kreta genährt worden. Ida
ist die phrygische Bergnymphe, Adrastea ist Lokalgottheit der
gleichnamigen Stadt in Phrygien; später sind beide Gottheiten
durch Gleichsetzung des phrygischen und des kretischen Ida
nach Kreta übertragen worden. Auf Kreta heimisch ist eine
andere Amme, Amaltheia, ursprünglich ein Dämon der Frucht-
barkeit, der entweder in Tiergestalt als Ziege oder anthropo-
morph gedacht wurde: diesem Dämon kommt das Hom der
Amaltheia, die unerschöpfliche Wunderquelle der Fruchtbar-
keit, mit Recht zu. Im Zusammenhang damit wird Ariadne
besprochen, gleichfalls eine Göttin der Fruchtbarkeit, deren
Kult nach Kreta von Naxos gekommen ist; der Meeressprung
des Theseus wird mi£ Frühlingsfesten verglichen, bei denen der
Genius der Fruchtbarkeit ins Wasser geworfen wird. Außer
Amaltheia, die das Knäblein mit Milch nährt, wird auch eine
Melissa erwähnt, die ihm Honig einflößt; die Spuren dieser
bienengestaltigen Göttin werden bis in vorgriechische Zeit
hinein verfolgt. Da der Verfasser überall die Tatsachen des
Kultus und die Bedeutung der Riten mit beachtet, ist er zu
566 Richard Wünsch
ansprechenden Ergebnissen gekommen. Die Dissertation ist
eine Vorarbeit für ein größeres Werk über die göttliche Mutter
und den göttlichen Sohn, dem man nach den hier vorgelegten
Proben mit Spannung entgegensieht. — P. Friedländer,
Herakles, sagengeschichtliche Untersuchungen (Philologische
Untersuchungen, herausgeg. von A. Kießling und U. v. Wilamo-
witz-MöUendorff XIX 1907) sucht den Ursprung des Kultes in
Tiryns: dort war Herakles ein Heros, der gegen alles Übel zu
helfen vermochte, von dem man sich erzählte, daß er bei Leb-
zeiten selbst alles Übel niedergerungen hatte. In der Zeit der
Kolonisation kommt seine Verehrung nach Rhodos, und hier
wächst der Heros zum Gott. Von Rhodos wandert der Dienst
des Gottes Herakles nach dem Mutterland und gewinnt dort
allgemeine Verbreitung. Das Buch ist kühn und glänzend von
einem geistreichen Menschen geschrieben, aber das Neue, was
es bringen will, überzeugt nur auf kurze Zeit. Von einem
Werk, das sich unter Useners Namen stellt, erhofft man Blei-
bendes. — J. Böhm Symbolae ad Herculis historiam fahularem
ex vasculis pidis petitae, Diss. Königsberg 1909 behandelt die
Entwicklung der bildlichen Darstellungen und der literarischen
Form der Mythen von Herakles bei Pholos und im Kentauren-
kampf, vom Zuge gegen Geryoneus und die Heraufholung des
Kerberos. — B. Powell Erichthonius and the three daughters
of Cecrops, Cornell Studies in Classical Philology XVII 1906
sieht in Erichthonios ^ einen alten Schlangengott. Die Schlange
bedeutet das fruchtbare Prinzip; in ihrem Kult gab es einen
Ritus {ccQQ'r}(poQCa, iQöTjqiOQCa) , der Fruchtbarkeit bezweckte.
In eine Cista wurden Bilder von Schlangen und Phalli gelegt:
der Akt des Hineinlegens dieser Dinge in das runde Geflecht
war ein Abbild der sexuellen Vereinigung, der Nachahmungs-
zauber, der befruchtend auf den Acker wirken sollte. Ursprüng-
lich waren zwei Mädchen bei diesem Ritus beteiligt: aus ihnen
entstanden die Heroinen Aglauros und Pandrosos, später ist
* S. oben S. 650.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 567
Herse als Eponyme der Hersephorie dazu erfunden worden.
Die Deutung des Ritus erscheint mir beachtenswert, die Ent-
wicklung der Götterfiguren nicht sicher; mehrfach vermutet der
Verfasser hinter ihnen semitischen Einfluß in einer Weise, die
mich nicht überzeugt hat. — 0. Wolff, Polvneikes, ein Bei-
trag zur thebanischen Sage, Jahresber. Gymn. Chemnitz 1906
ist nur eine andere Redaktion des Artikels „Polyneikes" in
Roschers Lexikon, der von demselben Verfasser herrührt. —
J. Vürtheim De Aiacis origine cidtu patria. accedunt commen-
taiiones tres: de Amazonibus, de Cameis j de Tdegonia, Leiden
1907, hat in dem Hauptstück — die drei Commentationes sind
Abdrucke älterer Aufsätze aus der Mnemosyne — die Absicht,
an einem Beispiel zu zeigen, was einzelne lokale Kulte* und
Mythen für die Entstehung des Heldensangs beigetragen haben.
Danach sind die beiden Aias des Epos ursprünglich nur einer
gewesen, und zwar ein bei den Lokrem verehrter gigantenartiger
Dämon. Dann sei Aias zum menschlichen Heros geworden,
der sich außerhalb seiner Heimat zum großen Aias auswuchs:
im Gegensatz zu ihm blieb der alte lokrische Dämon, von dem
man wenig zu erzählen wußte, der kleine Aias. Aus diesem
lokrischen Aias hat sich dann Teukros entwickelt, der als
Bogenschütze neben den alten Lanzenkämpfer tritt Auch die
Nebenfiguren des Aiaskreises, Telamon und Oileus, werden be-
handelt und das Opfer der lokrischen Jungfrauen in Ilion er-
hält seine Deutung. Zum Beweis der alten dämonischen Natur
des Aias geht Vürtheim von der Unverwundbarkeit aus, die
ihm der Mythos beilegt. Aber daß dies ein ursprunglicher
Zug sei, wird jetzt von 0. Berthold, Die Unverwundbarkeit
in Sage und Aberglaube der Griechen, Rel. gesch. Vers. Vorarb.
XI 1 (1911) S. 6 ff. bestritten. Auch den Bedenken, die 0. Gruppe,
Berl. phil. Wochenschr. 1908, 687 f. gegen einige Folgerungen
Vürtheims hat, dessen Arbeit er mit Recht beachtenswert nennt,
kann ich mich nicjit entziehen: für solche Untersuchungen
' S. dazu Pfister, oben S. 527.
568 Richard Wünsch
ist unser mythographisclies Material meist zu lückenhaft und
zu vieldeutig. — W. A. Oldfather, Lokrika, sagengeschicht-
liche Untersuchungen, Diss. München 1908 (Philol. XL VII 1908
S. 411 ff.) behandelt einige Fragen der Stammesmythen der
Lokrer: ihr Heros Medon ist ursprünglich an vielen Orten
Mittelgriechenlands verehrt worden; der lokrische Träger dieses
Namens hatte Beziehungen zu Südthessalien, war in lokaler
Sage und Dichtung verherrlicht und wurde erst spät in die
trojanischen Sagen eingeflochten. Von den Exkursen gibt
S. 469 das Material über den Hermeskult bei den Lokrern. —
Im Philol. XLIX 1910 S. 114 ff weist derselbe Verfasser auf
neue „Funde aus Lokri" hin, namentlich auf die Votivpinakes
aus Lokroi Epizephyrioi, die auf einen Persephonekult mit
mystischem Einschlag schließen lassen; es finden sich mytho-
logische Szenen, die wohl auf die Hoffnung einer V\riedergeburt
zu deuten sind.
0. Mößner, Die Mythologie in der dorischen und alt-
attischen Komödie, Diss. Erlangen 1907 kommt hier nur als
Materialsammlung in Betracht; die Ergebnisse (S. 154 ff.) be-
treffen mehr die Technik der Komödie. — Einen Mythus, der
sich an eine historische Person angeschlossen hat, behandelt
H. Leßmann, Die Kyrossage in Europa, Jahresber. über die
Stadt. Realsch. Charlottenburg 1906. Er gibt eine Analyse
der Sage von der Jugend des Kyros (Verfolgung um einer
Weissagung willen, Verfolgung durch Aussetzung, Rettung
durch Tieramme und menschliche Pflegeeltern) und sammelt
die europäischen Sagen, die aus verwandten Zügen kombiniert
sind. — F. Bertram, Die Timonlegende, eine Entwicklungs-
geschichte des Misanthropentypus in der antiken Literatur,
Diss. Heidelberg 1906, ist instruktiv für die Legendenbildung
auch auf religiösem Gebiete: man erkennt, wie aus einem festen
historischen Kern (aus Timon, dem Hasser der ävdQsg 3tov)]QoC)
durch allmähliche Ausweitung (auf Timon, den Hasser aUer
Menschen) ein Typus geschaffen wird, an den sich dann die
Griechische und römische Religion 1906—1910 569
verschiedenen Anekdoten ankristallisieren, die schon vorher
ohne einen benannten Helden im Volk umliefen.
Die Mysterien behandelt zusammenfassend K. H.E.deJong,
Das antike Mysterienwesen in religionsgeschichtlicher, ethnolo-
gischer und psychologischer Beleuchtung, Leiden ]909. Nach
einer Schilderung des vermutlichen Gehaltes des eleusinischen
Geheimkultes, der Mysterien der Isis (hauptsächlich nach Apu-
leius) und des Mithras (hauptsächlich nach Cumont) wird ge-
zeigt, daß die Mysterien in Ritus und Absicht im wesentlichen
mit der Magie stimmen: sie fordern Enthaltsamkeit aller Art,
eine besondere Tracht für die Teilnehmer, sie arbeiten mit
Opfern und Sprüchen zur Anlockung der Götter und ver-
anlassen diese zu bestimmten, dem Menschen nützlichen Dingen :
Gewährung von Ernte- und Kindersegen, Verleihung von Heil
im Diesseits und Jenseits (dies wie in den christlichen Mysterien,
S. 181 ff.). Ursprünglich sind die Mysterien nur eine Art offi-
zieller Magie, später tritt der magische Charakter meist zurück
(S. 198). S. 203 ff. sind im wesentlichen ein Kommentar zu
Apuleius' Mystenbekenntnis, Metam. XI 23: accessi cünfintum
mortis et calcato Proserpinae limine per omnia dementa vedus
meavi: nocte media vidi solem candido coruscantem lumine, deos
nferos et deos superos accessi coram et adoravi de proximo. Die
hier geschilderten Vorgänge werden mit sehr umfangreichem
ethnographischem und psychologischem Material als Visionen
erklärt, welche die Mysten in der Ekstase zu haben glauben. Aber
es läßt sich nicht beweisen, daß diese Dinge nicht dem Mysten
durch ein dgcbnEvov leibhaftig zur Schau gestellt wurden. —
A. Jacoby, Die antiken Mysterienreligionen und das Christen-
tum, Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christ-
liche Gegenwart III 12, Tübingen 1910, gibt eine knappe Dar-
stellung des Wesens der Mysterien; S. 28 beginnt ein kleines
Textbuch, das wichtige, auf die Mysterien namentlich der Isis,
der großen Mutter, des Hermes bezügliche, z. T. entlegene Texte
in deutscher Übersetzung gibt.
570 Richard "Wünsch
Zu den Eleusinischen Mysterien notiere ich D. Philios
'EXsvöCg, MvöTiJQia, ^QaCma xai fiovöslov avxTJs, Athen 1906,
die zweite Auflage eines für weitere Kreise bestimmten
Führers. — 0. Kern, Eleusinische Beiträge, Hallenser Univer-
sitätsschrift (betr. Preisaufgaben) 1909 knüpft zunächst an
Dieterichs Gedanken an (Archiv XI 163 ff.), daß die dgafiava
von Eleusis das attische Drama beeinflußt haben: er vermutet
solchen Einfluß in des Aischylos Wv^afcayol und 'EXbv6Cvioi
und hält ihn in den KiqQVKsg für möglich. Sodann veröffent-
licht er einige Gefäße mit Darstellungen aus dem bakchischen
Kreis; der Stelle wert ist Szene a (S. 18), der Umzug des von
einem Sakralbeamten dargestellten Dionysos, und h: eine nackte
Frau, die über den Kopf eines nackten Knaben eine Schale
auszugießen scheint, vielleicht eine Art dionysischer Taufe. —
H. Di eis Arcana Cereälia (Miscdlanea di ÄrcJwologia di Storia
e di Filologia dedicata dl Prof. A. Salinas) erklärt, gestützt auf die
richtige Deutung der Erzählung von Demeter und Baubo (Clem.
Alex. Protr. II) und zweier in Priene gefundenen Statuetten
(nackte weibliche Gestalten ohne Oberkörper, deren Unterleib
als Haupt gestaltet ist) die Baubo als Personiflkation des Frucht-
barkeit spendenden und deshalb dem primitiven Menschen be-
deutsamen pudendum muliehre', ursprünglich ist es selbständig
verehrt, später in den Kult der früchtebringenden Mutter Erde
aufgenommen worden. — Eine neue Darstellung der Mysten-
weihe, speziell der Initiation des Herakles in Eleusis, bringt
G. E. Rizzo n sarcofago di Torre nova, Rom. Mitt. XXV 1910
S. 89 ff., mit Nachträgen von F. Hauser, ebenda S. 273 ff. —
Über die literarischen Schicksale des mit den Mysterien zu-
sammenhängenden Mythos vom Raub der Köre handelt L. Malten,
Ein alexandrinisches Gedicht vom Raub der Köre, Herrn. XLV
1910 S. 506 ff. Auch möchte ich an dieser Stelle den wichtigen
Aufsatz von W. Gap eile erwähnen: Altgriechische Askese,
Neue Jahrb. XXV 1910 S. 681 ff. Er zeigt richtig, daß Askese
erst von dem Augenblick an möglich ist, wo Seele und Leib,
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 571
Diesseits mid Jenseits als Gegensätze empfunden werden, wo
man den Leib im Diesseits kasteit, um die Seele für das Jen-
seits unbefleckt zu erhalten. Diese religiös-mystische Richtung
findet sich namentlich in orphisch-pythagoreischen und plato-
nischen Kreisen; zu ihr tritt später unter den Kynikem und
Stoikern eine ethisch-voluntaristische Askese.
Die mystischen Neigungen der späteren Zeit werden ana-
lysiert von R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterien-
religionen, ihre Grundgedanken und Wirkungen, Teubner 1910.
Unter hellenistischen sind die Religionen verstanden, in denen
sich orientalische und griechische Elemente mischen. Das
Orientalische daran ist der Glaube, daß die Götter als Menschen
gestorben und als Götter auferstanden sind: wenn wir sie in
uns aufnehmen, gewinnen wir damit die Gewißheit eigener
'Göttlichkeit. Das sind nicht mehr volkstümliche, das sind
persönliche Mysterien: der Myste erlebt selbst, was der Gott
erlebt hat, und wird dadurch selbst Gott. Für ihre Berechtigung
berufen sich diese Religionen teils auf eine tradierte UrofiFen-
barung, teils auf eine fortwirkende unmittelbare Oflfenbarung
des Gottes an seine Diener. Die Formen, in denen sich die
Offenbarung vollzieht, sind verschieden: eine bräutliche Ver-
einigung oder ein Sterben und Wiedergeborenwerden. Der
zum Gott Erhobene wird befreit von der Macht des Schicksals
und der Sünde. Ein starker Einfluß dieser namentlich aus
ägyptisch- griechischen Schriften belegbaren Anschauungen
findet sich besonders im Gnostizismus und dann bei Paulus,
wie sich an dessen Begriffsschatz zeigen läßt; nur aus diesen
mystischen Anschauungen heraus verständlich sind seine gegen-
sätzlichen Begriffe tj^v^rt (die Seele des gewöhnlichen Menschen)
und xvevfia (die Seele des erhöhten Menschen), Genauer auf
diese gedankenschwere Schrift einzugehen versage ich mir, da
Gnosis und paulinisches Christentum jenseits der Grenzen
meines Berichtes liegen. Nur das sei bemerkt, daß in den
wertvollen Exkursen noch vieles von allgemeinerem Interesse
572 Richard Wünsch
steht. Namentlich verstellt es Reitzenstein, aus der Geschichte
des Wortes die des Begriffes abzulesen. Ich verweise dafür
auf die Untersuchungen zu öTQariärai d-sov, xkto%oi^ de6iiioi,
xCßTLQ, dixatovö&ai reformari, yv&öLs dyvcaöCa, Xöyog vovg.
Methodologisch wichtig ist der Satz S. 83, daß man nicht an
eine Beeinflussung des Heidentums durch das Christentum da
denken darf, wo dieselbe christliche Vorstellung in mehreren
heidnischen Religionskreisen erscheint. Gut sagt P. Wendland,
Gott. Gel. Änz. 1910 S. 654: „Die Forschung wird einige Zeit
damit zu tun haben, die bedeutenden Ergebnisse des gedanken-
reichen Reitzensteinschen Buches zu verarbeiten und zu seinen
weiten Gesichtspunkten, anregenden Fragestellungen und Kom-
binationen Stellung zu nehmen."
Eine eigenartige Gattung der Mystik ist die Zahlenmystik.
In unermüdlicher Arbeit sucht W.H. Röscher das Tatsächliche,
was wir über sie wissen können, zu erarbeiten. leb nenne
nur die beiden Abhandlungen, die am meisten sich mit der
Religionsgeschichte berühren: Enneadische Studien, Versuch
einer Geschichte der Neunzahl bei den Griechen, mit beson-
derer Berücksichtigung des älteren Epos, der Philosophen und
Ärzte, Abh. phil. bist. Kl. sächs. Ges. der Wiss. XXVI 1907 S. Iff.,
und: Die Tessarakontaden und Tessarakontadenlehren der Grie-
chen und anderer Völker, ein Beitrag zur vergleichenden
Religionswissenschaft, Volkskunde und Zahlenmystik, sowie zur
Geschichte der Medizin, Ber. Phil. bist. Kl. sächs. Ges. der Wiss.
LXI 1909 S. 21 ff. Wir lernen, wie die Neunzahl in den
homerischen Gedichten eine gewisse rituelle Bedeutung erlangt,
die nach Röscher aus einer Berechnung des Monats zu drei
Wochen von neun Tagen hergeleitet ist; wir sehen weiter, wie
auch der orphischen Theologie die Neunzahl heilig wird. Die
Bedeutung der Vierzig entwickelt sich an den 40 Tagen Un-
reinheit der Wöchnerin, wird von da übertragen auf den Tod,
der gleichfalls eine Verunreinigung von 40 Tagen hervorruft,
und wird zu einer allgemeinen Frist für kultische Reinheits-
Griechische tmd römische Religion 1906 — 1910 573
Vorschriften. Dieselbe Frist findet sich bei den Semiten, braucht
aber nicht von dorther übernommen zu sein, sondern kann
sich aus gegebenen Verhältnissen in Griechenland parallel ent-
wickelt haben.
Mit Zahlenmystik rechnet auch A. Ludwich, Homerischer
Hymnenbau, Leipzig 1908, ein Buch, das kein Philologe ohne
reiche Belehrung lesen wird. Für seine Zahlentheorie, die uns
hier am meisten interessiert, geht Ludwich aus von dem Hymnos
auf Hermes, der zu Anfang erzählt, wie Maia im zehnten Monat
der Schwangerschaft am vierten Tage ihren Sohn gebiert.
'Die beiden Zahlen, die der Dichter selbst gleich im Proömium
als bedeutungsvoll für Hermes hervorhebt, hat er auch zum
formalen Aufbau seines Lobgesangs auf das Götterkind benutzt
. . die maßgebende Tradition unserer Handschriften gibt dem
Hymnus 580 Hexameter: es ist folglich sowohl in zehnzeilige
als auch in vierzeilige Perikopen teilbar' (S. 35 f.). In dieser
Weise wird auch für andere griechische Hvmnen eine heilisce
Zahl als Fundament des Aufbaus angenommen, so für den home-
rischen ApoUonhymnos 7x3 oder für des Kallimachos Apollon-
hvmnos 7x4. Doch wird man an der Gültigkeit dieses
Prinzipes für den Bau griechischer Hymnen irre, wenn man
sieht, daß in orphischen Kreisen die Zahlenspekulation beson-
ders beliebt war, und daß die orphischen Hymnen sie nicht
berücksichtigen. So war dort die Sieben dem Apollo heilig
(Lyd. de mens. p. 33, 11 W), aber der orphische Apollonhymnus
(XXXIV Abel) hat 27, nicht 28 Verse. Man wird also auch
da, wo die Zahl der Verse das Vielfache einer heiligen Zahl
ist, mit dem Zufall zu rechnen haben.
In diesen Zusammenhang sei auch W. Schultz eingegliedert,
Rätsel aus dem hellenischen Kulturkreise, I. Teil: die Rätsel-
überlieferung. Myth. Biblioth. IH 1, Leipzig 1909. Die bei den
griechischen Autoren überlieferten Rätsel werden gesammelt,
es wird, da der Begrifi" des aiviyfia sehr weit gefaßt ist, die
stattliche Zahl 373 erreicht. Darunter sind auch Zaubersprüche,
574 Richard Wünsch
deren Deutung nicht immer Beifall weckt. S. 81 ff. stehen die
bekannten Ephesia grammata Aiöia ^a^va^svsvg TsTQai, Ai^
A6ZI KaraöxL. Das soll heißen: 'Heil (fügt der) Bezwinger
(auf der) Erde (in der) Yierheit (durch) Licht (und) Schatten.'
Dabei wird S. 87 zu ziaiiva^svsvg gesagt: 'das Wort ist da(i-
vsfisvsvg zu emendieren und setzt sich zusammen aus da/i
NEMEN svs, worin NEMEN dem symmetrischen Kern der
Inschrift zugehört.' Ich halte uns nicht für berechtigt, einen
solchen Kern zu postulieren und darum von der guten Über-
lieferung abzugehn. Auch fragt es sich, ob man an jener
Formel überhaupt eine einheitliche Erklärung aus dem Grie-
chischen wagen darf: die Lösung, die Schultz gibt, ist nicht
gerade ermutigend. Überhaupt wird vielfach hinter den Texten
zu viel gesucht. So S. 108 l66v toi xvdfiovs ts (paystv xecpaXdg
re rox7]C3v: das soll auf einem Isopsephon^ xetpalal xoxiav
= 144, xvdfKOv (psCdsv = 144 beruhen. Da verlangt man doch
die gleichwertigen Worte auch im Yers zu finden. Ich glaube
immer noch, daß töov bedeutet: 'es ist ein gleich schweres
Vergehen' (Frühlingsfest der Insel Malta S. 41). Dann ist das
aber gar kein Rätsel. Gerade der Zahlenmystik — darum
stelle ich das Buch hierher — ist Schultz besonders ergeben
(s. das Verzeichnis seiner Schriften S. XIV), und auch in diesem
Heft der mythologischen Bibliothek stößt man auf Mond-
deutungen.^ Gut ist der Gedanke von Schultz, daß solche
Rätsel mitunter den Niederschlag mythologischer Vorstellungen
enthalten können. Das im einzelnen an den erhaltenen Texten
nachzuweisen hat er einem zweiten, noch nicht erschienenen
Teile, den 'Erläuterungen zur Rätselüberlieferung' vorbehalten.
Bei Gelegenheit der Mysterien wurde bereits das Verhält-
nis der griechischen zu fremden Religionen betont. Ehe
ich die Arbeiten nenne, die dies Verhältnis eingehend behandeln,
sei ein Wort über die der griechischen verwandte makedo-
1) S. oben S. 688. 2) S. oben S. 662.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 575
nische Religion gesagt, von der wir jetzt etwas mehr wissen,
dank 0. Ho ff mann, Die Makedonen, ihre Sprache und ihr
Volkstum, Göttingen 1906 S. 92ff. Große, den Makedonen
eigentümliche Kulte werden uns zwar nicht bezeugt, dagegen
einige Dämonen zweiten Ranges: Darron (gleich griech. &kq6(3v)j
ein Dämon der Genesung, der guten Mut bringt; Arantides (zu
dgci;, weibliche Fluch- und Rachegeister; Eudalagines {Evd-al-
ylvsg), die *Holdbezaubernden'.
Im Vordergrund bei der Behandlung fremder Religionen
steht immer noch das Problem der Übernahme semitischer
Kulte in die ältere griechische Religion^, dessen Lösungen
vielfach den Boden der Tatsachen verlassen und sich in luf-
tigen Hypothesen verlieren. J. Haury, Über die Herkunft der
Kabiren und über Einwanderungen aus Palästina nach Böotien,
München 1908, sucht die Wurzeln griechischer Orts- und Götter-
namen nicht nur im Semitischen, sondern auch im Ägyptischen.
Für die Kabiren wird statt der alten Bedeutung 'die Großen'
eine neue semitische^ gefunden, wonach sie *die Genossen' sind.
Sie werden im böotischen Anthedon verehrt; da dieser Name
auch in Südpalästina vorkommt, so ist er semitisch; folglich
haben ähnlich auslautende Ortsnamen wie Aspledon denselben
Ursprung. Kadmeia, Chaironeia, Athena sind semitisch; Theben,
Damatra (Hathor), Orion (Horos), Apollon Ptoos (Ptäh) sind
ägyptisch: sie kamen nach Hellas, als Philister und Kretim
dort unter dem Namen Pelasger einwanderten. Mit solchen,
durch zufällige Ähnlichkeiten des Klanges ausgelösten Ein-
fällen wird die religionsgeschichtliche Forschung nicht ge-
fördert. Schwerer wiegt schon eine andere Behandlung der
Kabirenfrage: R. Pettazzoni Le origini del Kabiri ndle isole
^ S. oben S. 525, 535, 564, 567.
* W. Wackernagel Kuhns Zeitschr. XLI 1907 S. 316 bekämpft die
Herleitnng aus dem semitischen Plural Kabintn mit sehr erwägenswerten
Gründen. Er weist darauf hin, daß es ursprünglich nur einen Eabeiros
gegeben hat, und daß im Semitischen Kabirim als Göttemame nicht
nachweisbar ist.
576 Richard Wünsch
dd mar tracio, B. Äccad. dei Lincei, Ser. 3% Classe di seiende
mordli XII 1908 S. 635 ff. Sie kommt zu folgendem Ergebnis:
In uralter Zeit ist von Thrazien aus auf die Inseln Thasos,
Samothrake, Imbros, Lemnos eine primitive Religion über-
tragen worden, deren Götter ein männliches und ein weibliches
Wesen mit entsprechendem männlichen und weiblichen Gefolge
waren (Dionysos -Sabazios und die Satyrn, Bendis-Hekate und
die Mänaden). Phönizische Schiffer brachten dann auf einige
dieser Inseln ihren Kult der Kabiren, der 'großen Götter': es
waren ihrer sieben, die einem achten, Esmun, dienten. Von den
Eingeborenen wurden die Dienenden mit jenem Gefolge, Esmun
mit Dionysos identifiziert; dabei erhielt Dionysos den Beinamen
des Esmun, Kadmilos; der Name Kabir wurde auf die ein-
heimische Göttin übertragen (KaßsLQCo). Dann bringt eine
hellenische Einwanderung nach Samothrake den eleusinischen
Kult von Demeter, Köre, Hades: dieser Dreiheit wird Kadmilos
zugesellt, und die so entstandene Kultgruppe heißt nun ent-
weder mit dem Fremdwort KdßsiQOi oder griechisch (isydloL
d^soC. Allmählich sinkt die erste Bezeichnung zum Namen der
dienenden Gottheiten hinab: das ist die letzte Etappe. — Wer
immer sich mit den hier behandelten schwierigen Pro-
blemen abgibt, muß sich mit Pettazzoni auseinandersetzen.
Schon die Grundfrage, die nach dem semitischen Ursprung
der Kabiren, ist noch strittig^; Kap. III I kahiri fenici ent-
zieht sich meiner Beurteilung, da ich von semitischer Religion
nicht genug verstehe. Darum urteile ich auch nicht abschließend
über eine zweite Arbeit desselben Verfassers: R. Pettazzoni
Philoktetes-Hephaistos, Riv. di filol. e d' istr. class. XXXVII 1909
S. 170 ff., welche in derselben Weise sich mit den Kulten von
Lemnos befaßt: Philoktet undHephaistos sind verschiedeneFormen
einer nicht griechischen Gottheit*, denn Philoktet hat zum Gott
^ S. oben S. 676 Anm. 2.
* Die Identität der beiden hatte schon Fr. Marx behauptet, Neue
Jahrb. 1904, XUl 678 ff.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 577
der Esse nahe mythologische Beziehungen: ein Sohn des Hephäst
heilt den Philoktet, Philoktet und Hephaistos hinken, beide
tragen den Pilos. Zu Grunde liegt ein prähellenischer Gott,
den die Phönizier mit Esmun-Kadmilos geglichen haben; im
Namen Kadm(il)os steckt ein semitisches Wort für Gold,
PhiJoktetes e Hephaistos ed e Kadm(il)os in realta 'amante degli
averi\ Auch hier erkennt man, wo der Verfasser mit grie-
chischen Dingen arbeitet, einen belesenen, scharfsinnigen
Menschen, der weit auseinander liegende Notizen geschickt
zu kombinieren weiß, aber auch diesen Kombinationen mit-
unter mehr Festigkeit zutraut, als sie tatsächlich besitzen.
G. Rad et Cyhe'be, Etüde sur les tratisformations plastiques
d' im type divin, Bordeaux 1909 zeigt, daß Wandlung der
Form eines Götterbildes meist auch Wandlung der Vorstellung
vom Gotte ist. Kybebe ist die große Göttin von Sardes; zu-
nächst ist sie vermutlich anikonisch, als Steinfetisch verehrt
worden. Unter den ikonischen Darstellungen ist die wich-
tigste der bekannte Typus der xoxvCa Q^rjgäv: dessen Monumente,
deren Fundorte zugleich für die Verbreitung des Kultes sprechen,
werden gesammelt. Später verschmilzt sie erst mit der Ana'itis
der Perser, dann mit der Artemis der Griechen; eine noch
spätere Zeit faßt sie als Köre und gibt ihr unter dem Ein-
fluß einer archaistischen Strömung den Typus eines uralten
Xoanons.
Nur in einzelnen Teilen berührt die antike Religion das
Buch von J. G. Frazer Adonis Ättis Osiris, Studies in the
History of Orimial Edigion, London 1906, 2. Aufl. 1907 ^ Es
soll Band IV einer neuen Ausgabe des rasch bekannt gewor-
denen Golden Bough sein, die auf fünf Bände berechnet ist.
Von der französischen Übersetzung der ersten Auflage durch
R. Stiebel und J. Toutain ist in der Berichtperiode der zweite
Band erschienen: Les meurtres rituds. Les perils d les tranS'
migraiions de Vätne, Paris 1908.
1 S. Archiv XIII 365.
Archiv f. Religionswissenschaft XIV 37
578 Richard Wünsch
Das Bekanntwerden der von Frazer behandelten orien-
talischen Vegetationsgottheiten ist im wesentlichen ein Symptom
des Hellenismus. Ich füge der Betrachtung fremder Kulte
in hellenistischer Zeit gleich zu, was über die griechische
Religion der Zeit nach Alexander gesagt worden ist.
Fr. Poland, Geschichte des griechischen Vereinswesens , Preis-
schrift der Fürstl. Jablonowskischen Gesellschaft XXXVIII,
Teubner 1909, ist eine wichtige Ergänzung zu E. Ziebarth,
Das griechische Vereinswesen (1896), namentlich für die Wirk-
samkeit dieser Vereine, die ja gerade für die hellenistische Zeit
charakteristisch sind, und ihre Stellung zum Kultus. Für eine
Reihe kultischer Ausdrücke findet man hier das epigraphische
und Papyrusmaterial (S. 33 d-iaöog, öwd-vtai, /tvörat^ ßovxöXoi)]
S. 57 ff. steht eine Liste der von Göttern abgeleiteten Vfereins-
namen (^AdoviaötaC usw.). Die in den Kultvereinen verehrten
werden in Kap. II aufgezählt; bedeutungsvoll ist das Ein-
dringen der fremden Numina (S. 214 ff.). Von S. 246 ab wird
die Art des Kultus in diesen Vereinen besprochen; zu den
eigentlichen Götterfesten treten die Gedenktage berühmter
Männer, die ysvsd-ha^. Der Kultus vollzieht sich mit Opfern,
Gebeten und Festmahl, mit Trinkgelagen^, Prozessionen, Pre-
digten und Mysteriendrama. Von Einzelheiten beachte man
das Vorkommen von Trägern der heiligen Symbole (S. 395),
die Fürsorge für die Verstorbenen (S. 503), und die Analogien
christlicher Organisationen (S. 534).
In durchdachter, feinsinniger Weise schildert J. Kaerst,
Geschichte des hellenistischen Zeitalters II 1 (Teubner 1909)
S. 202 ff. auch die Religion. Sie gilt damals nicht mehr für
die ganze Polis, sondern für das Individuum; die Götter werden
* Viele dieser Vereine sind Mystenvereine und in Kleinasien da-
heim. Daß die orphischen Hymnen manche Beziehungen zu Kleinasien
haben, wird damit zusammenhängen; s. 0. Kern im Genethliakon für
C. Robert, Halle 1910. * S.W. Schmidt Geburtstag, oben S. 627.
' Hier stehen wertvolle Ergänzungen zu Kirchers Arbeit, oben S. 627.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 579
dem Denken des einzelnen durch fortschreitende Anthropomor-
phisierung und Rationalisierung angepaßt. Der Glaube an die
Tjche kommt auf, der Herrscherkult entwickelt sich (über
dessen Grundlagen ein wichtiger Exkurs S. 374 fif.), und die
Menschenapotheose zieht den Euhemerismus nach sich: was
über ihn gesagt wird, kann man mit Nutzen auch neben
F. Jacobys guter Darstellung in Pauly-Wissowas Real-
encyclopaedie VI 952 ff. lesen. Das Vereinsleben wird in seiner
Bedeutung von Kaerst voll gewürdigt, ebenso der philoso-
phische, pantheistisch- ästhetische Einschlag in den damaligen
Gottesvorstellungen. Bei dem Hervortreten des Asklepios Soter,
der chthonischen Gottheiten, der fremden Götter und der My-
steriendienste hätte man gern etwas mehr den Grund all dieser
Erscheinungen betont gesehen: die Zunahme des Glaubens an
ein Jenseits und des individuellen Erlösungsbedürfnisses. Unter
den synkretistischen Gottesdiensten ist damals der wichtigste
der von Ptolemaeus Soter geschaffene Kult des Sarapis: Kaerst
lehnt die Etymologie aus dem ägyptischen und die Herleitung
des Kultes aus Babylon ab. Ganz anders stellt sich dazu
J. Levy Sarapis, Bevue de Vhist. des rd. LX 1909, 285 ff.,
LXI 1910, 162 ff.: er vindiziert dem Gott rein ägyptischen
Ursprung und erklärt die antiken Berichte von der Herkunft
des Gottes aus Sinope, die man meist aus der Tempellegende
des Sarapeions abzuleiten pflegt, als Schwindel des Apion.^
Der neugeschaffene Sarapis ist sehr bald an Stelle des
Osiris Gatte der Isis geworden, und dieses Götterpaar hat von
Ägypten aus seinen Zug durch die griechische Welt gehalten.
Die Inschriften, die dieses Kultus Wanderungen und Wand-
^ Über den Ursprung des Sarapis haben in der letzten Zeit außer-
dem gehandelt C. F. Lehmann-Haupt bei Röscher (s. o. S. 525),
E. Schmidt (s.o. S. 527), E. Petersen Archiv XllI 47 ff., W. Otto (s.u.
S. 580^. Nach meiner Auffassung hat Ptolemaeus den Unterweltsgott von
Sinope mit dem Osiris -Apis der Ägypter kombinieren wollen; daß der
neue Gott mit dem babylonischen Sar-apsi mehr als den Gleichklang im
Namen gemein hat, ist mir trotz Lehmann -Haupt nicht sicher.
37*
580 Richard "Wünsch
langen bezeugen, hat A. Rusch gesammelt: De Sera^ide et
Iside in Graecia cultis, Diss. Berlin 1906. Daß er zu klaren
Ergebnissen kommt, verdankt er der geschickt angelegten
Disposition, welche die Inschriften nach Orten getrennt be-
handelt, im eigentlichen Hellas, auf den Inseln, in Kleinasieu.
S. 77 ff. werden die Resultate übersichtlich zusammengestellt.
Es ist eine Vorarbeit für das dringend notwendige Werk, das
alle Urkunden des antiken Isiskultes umfaßt.
W. Otto -Greifswald hat den zweiten Band seines Werkes
^Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten' erscheinen
lassen (Teubner 1908).-^ Auch dieser Teil ist reich an
wichtigen Bemerkungen; wenn z. B. die Ausgaben für den
Gottesdienst zusammengestellt werden, so fällt dadurch Licht
auf die Art des Kultus (Kap. V). S. 213 ff. handeln von der
Beziehung der ägyptischen Priester zur religiösen Literatur:
Otto verhält sich gegen die Annahme, die von Reitzenstein
vertreten wird, daß sie au den theologischen, astrologischen
und magischen Schriften späterer Zeit und griechischer Sprache
stark beteiligt gewesen sind, ablehnend. Zusammenfassend
behandelt S. 261 ff. die Religionspolitik der Ptolemäer und der
römischen Kaiser. Auch hier wird die Erschaffung des Sarapis
behandelt (S. 268, s. S. 214): Otto tritt für die Ableitung aus
Osiris-Apis ein, der an einen griechischen Gott Sarapis an-
geglichen sei. Es folgen Bemerkungen über den Herrscher-
kult; die Politik der römischen Kaiser weicht von der ptole-
mäischen nur darin ab, daß die Juden, die früher keinerlei
Bedrängnis erfahren haben, unter Gaius, Vespasian und Hadrian
unfreundlich behandelt werden. — Zu diesem letzten Punkt
erschienen zwei Monographien. A. Bludau, Juden und Juden-
verfolgungen im alten Alexandria, Münster i. W. 1906, inter-
essiert durch die Nachrichten über die religiöse Organisation
der Juden im hellenistischen Ägypten (S. 20 ff.). Trotz des
Einflusses, den der Hellenismus auf sie gewann (S. 36ff.), ist
^ Zum ersten Bande s. Archiv VTII 496 ff.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 581
ein schroffer Gegensatz zwischen Griechen und Juden bestehen
geblieben, der sich in der jüdischen Polemik gegen allen
Götzendienst zeigt (S. 49 ff.). Diese und andere Ursachen haben
zu den fortwährenden Streitigkeiten geführt, in die selbst die
Kaiser eingriffen, wie die erhaltenen Papyri lehren. Diese
Dokumente hat neu geprüft U. Wilcken, Zum alexandri-
nischen Antisemitismus, Abh. Sachs. Ges. der Wiss. phil. bist. Kl.
XXVII 1909 Nr. 23 (über die religiösen Gründe der Abneigung
zwischen Griechen und Juden S. 784 ff.).
G. Plaumann, Ptolemais in Oberägypten, ein Beitrag zur
Geschichte des Hellenismus in Ägypten, Leipz. bist Abh. XVIII
1910 gibt ein Resume auch über die Religion, die in dieser
Stadt gepflegt wurde. Sie ist fast ganz griechisch; die wenigen
ägyptischen Götter mußten sich — wie die fremden Numina
in Rom — vor den Toren ansiedeln (S. 58). Im Vordergrund
stehen die Kulte der Ptolemaeer, namentlich des Ktistes, des
Gsbs ^syLötos 2Jc3tr]Q. Daneben sind besonders andere Heilands-
kulte beliebt, der Dreieinheit Zsvg "HXiog IkarrJQ (S. 89), und
der d-Bol I^OTfiQsg, wohl der Dioskuren (S. 94). Ein Heiland
der Menschen ist femer Asklepios (S. 91), ein auch sonst
bekannter, ihn feiernder Hymnus ist in Ptolemais gefunden.
Zu den Reinheitsvorschriften S. 54£, ist Fehrle (oben S. 527)
S. 156 f. heranzuziehen.
Wie mächtig schon damals die Heilandsidee war, zeigt
auch H. Lietzmann, Der Weltheiland, eine Jenaer Rosen-
vorlesung mit Anmerkungen, Bonn 1909. Sie beabsichtigt, die
Entwicklung der Heilandsidee innerhalb der antiken Welt dar-
zustellen. Objekt von Vergils vierter Ekloge^ soll ein Sohn
des Asinius Pollio sein — dabei bemerkt Lietzmann im folgen-
den richtig, daß sonst die selige neue Zeit durch einen König
aus göttlichem Geschlecht heraufgeführt wird, was damals
allenfalls auf einen Sohn Oktavians passen konnte. Derartige
Hoffnungen seien nach Alexander dem Großen und den Dia-
^ S. oben S. 532.
582 Eichard Wünsch
dochen entstanden, die als 2J(otf}Qsg verehrt wurden: als Ur-
sprung dieses hellenistischen Herrscherkultes wird der orien-
talische Gottkönigsgedanke bezeichnet, der in Babylon und
Ägypten nachgewiesen wird.-^ Auch den Juden war der Gedanke
des königlichen Heilands geläufig: diese Vorstellung war es,
welche die Jünger veranlaßte, in Jesus den Messias zu sehen.
Als seine Religion ins Griechentum hinaustrat, verband sich
der Messiasbegriff mit jener Soteridee.
Die Verbreitung der fremden religiösen Gedanken im
römischen Kaiserreich ist nur eine Fortsetzung dessen,
was unter den Diadochen begonnen hat, und kann daher nicht
gut von der Betrachtung der auswärtigen Kulte des Hellenis-
mus getrennt werden. Von Bedeutung sind hier vor anderen
die Arbeiten von F. Cumont. Von seinen Religions orientales
dans le paganisme romain, Paris 1907, ist eine zweite wenig
veränderte Auflage 1909 erschienen. Diese liegt jetzt auch
in deutscher Übersetzung vor: Die orientalischen Religionen
im römischen Heidentum, von F. Cumont, autorisierte deutsche
Ausgabe von G. Gehrich 1910. In klarer Darstellung faßt
Cumont, der auf diesem Gebiete Kenner ist, seine Ansichten
über das Eindringen der fremden Religionen in das römische
Weltreich zusammen: in einzelnen Abschnitten werden Kybele
und Attis, Serapis, Isis und Osiris, die Baalim und die Astarten,
endlich der Mithraskult besprochen. Ein besonderes Kapitel
ist der Astrologie^ und der Magie gewidmet, die in ihrer Art,
was man meist übersieht, auch religiöse Weltanschauungen
gewesen sind. Das wichtigste Kapitel ist wohl das letzte, das
lehrt, wie diese Religionen alle auf einen Monotheismus hin-
arbeiten, der von seinen Anhängern ein sittliches Leben fordert
und ihnen dafür die Erlösung verheißt — ein wichtiger Bei-
trag zur Entstehung des Christentums. — Ein einzelnes Pro-
* Etwas anders Kaerst a. a. 0. S. 876 f.
' Hierzu nehme man den schönen Aufsatz von F. Boll, Die Er-
forschung der antiken Astrologie, Neue Jahrb. 1908, XXI S. 103 ff.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 583
blem aus diesem Gesamtkomplex hat Cumont behandelt in
dem Aufsatz La theologie solaire du paganisme r omain j Metn.
pres. par divers savants li VAcad. des Inscr. et Beiles -Letf res
XII 2 (1909) S. 447 ff., der zeigt, daß der fast monotheistische
Sonnenkult, die letzte große religiöse Erscheinung des Alter-
tums, seinem Gedankeninhalt nach aus Babylon herrührt.
Die Chaldäer haben zuerst die Sphäre der Sonne in das Zentrum
des Planetensystems gestellt und dadurch den Helios zum
Könige gemacht, der die Bewegung seiner Trabanten, der
Wandelsterne lenkt. Da nun nach chaldäischem Glauben die
Planeten das Schicksal der Menschen bestimmen, wird Helios,
der über die Planeten waltet, zum obersten Herrn des Weltalls.
Dieser Herrscher ist zugleich die höchste Vernunft, und daher
wesenseins mit der vernünftigen Menschenseele. Die Seelen
kommen herab von der Sonne und kehren, wenn der Leib
stirbt, wieder dahin zurück. In Griechenland sind diese An-
schauungen in der Stoa des zweiten Jahrhunderts v. Chr.
gepflegt, und, wie es scheint, von Poseidonios^ zum System
ausgebildet worden. Von da ab sind sie in der Philosophie
bis zum vierten Jahrhundert n. Ch. erkennbar und üben Ein-
fluß auf den Mithraskult, die chaldäischen Orakel, den Mani-
chäismus und die vorderasiatischen Baalkulte, von denen auch
der römische Kult des Sol invictus ein Ableger ist.* — Eine
Ergänzung hierzu ist Cumonts Abhandlung Le mysticisme
astral dans Vantiquite, Bull. Ac. roy. de Bdgique, Classe des
lettres 1909 S. 256 ff.: eine Analyse der Empfindungen, mit
denen die Alten den Sternhimmel betrachtet haben: die Er-
^ Nach Cumonts Ansicht kann das auch aus Ciceros Somniutn
Scipionis erschlossen werden, das auf Poseidonios aufbaue. Volkmann,
Die Harmonie der Sphären in Ciceros Traum des Scipio, Jahresberichte
der Schles. Ges. für Vaterland. Cultur 85, Breslau 1908 kommt zu dem
Ergebnis, daß Cicero hier vielmehr verschiedene philosophische Meinungen
zusammengearbeitet habe, daß Poseidonios also nur für einzelne Teile
als Quelle in Frage komme.
* S. meine Besprechung Deutsche Lit. Zeit. 1910 Sp. 3025 £F.
584 Richard Wünsch
kenntnis der Ordnung am Himmel führt zur Annahme eines
ordnenden göttlichen Prinzips, die Bewegung der Himmels-
körper läßt sie als beseelte, vernunftbegabte Wesen erscheinen
und führt zu jenem Schluß, daß die menschliche Seele ein
Teil der göttlichen Vernunft ist. Man versucht nun bei Leb-
zeiten mit diesem göttlichen Prinzip sich zu vereinigen; das
führt zu jenem astralen Mystizismus, der uns noch in Kaiser
Julian entgegentritt. In diesem Zusammenhang nenne ich
G. Mau, Die Religionsphilosophie Kaiser Julians in seinen
Reden auf König Helios und die Göttermutter, mit einer
Übersetzung der beiden Reden, Teubner 1907. Mau will an
diesen beiden Reden das Verhältnis der beiden Elemente, aus
denen Julians Religionsphilosophie besteht, nachweisen: der
neuplatonischen Philosophie und der Mysterienreligionen. Klar
zeigt sich auch hier die Fähigkeit des Neuplatonismus, sich
mit religiösen Gedanken zu assimilieren, mit dem Mygterien-
glauben an Mithras-Helios und die große Mutter. Nicht über-
all ist das Mysteriengut sicher auszuscheiden; in der ersten
Rede am leichtesten da, wo vom Verhältnis der Gottheit zur
menschlichen Seele die Rede ist. So sagt Julian, daß die
Seelen von Helios ausgehen und zu ihm zurückkehren (S. 16)',
daß Helios sie schafft, erhält und erlöst (S. 86). In der zweiten
Rede finden sich Beziehungen zur Mysterienreligion namentlich
da, wo der Mythos von der Göttermutter und von Attis aus-
gedeutet wird (S. 101). Es wäre erfreulich, wenn einmal der
ganze Nachlaß Julians in ähnlicher Weise ausgebeutet würde.
Einige Bemerkungen dazu, namentlich von W. Asmus, finden
sich in der zweiten Auflage von A. Dieterich, Eine Mithras-
liturgie^, die ich 1910 bei Teubner besorgt habe. Ich habe
Dieterichs Schrift unverändert gelassen, nur S. 219 — 237 Nach-
' S. oben S. 583.
• Neuerdings ist unser Wissen vom Kult des Mithras dargestellt
von G. Wolff, Über Mithrasdienst und Mithreen, Abh. Kaiser Friedr.
Gymn. zu Frankfurt a. M. 1909.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 585
träge zugefügt, die das enthalten, was über die Mithrasliturgie
seit ihrem Erscheinen gedruckt und geschrieben ist^, soweit
ich es erreichen konnte und des Erwähnens wert fand. Be-
merkt sei, daß Herbst 1911 die 'Kleinen Schriften' von Diete-
rich gesammelt erscheinen sollen; neu gebe ich dort zwei
Aufsätze: zum Ritus der verhüllten Hände, und den * Unter-
gang der antiken Religion'. — Ein Stückchen Einfluß fremder
Religion auf den Kaiserkult hat endlich F. Cumont dargestellt
in der Bevue de Vhist. des rel. LXII 1910 S. 119 ff.: L'aigle
funer aire des Syriens et Vapoiheose des empereurs. Es ist ein
ursprünglich syrischer Gedanke, wenn der Adler als Sonnen-
vogel kommt, die Seele des verstorbenen Kaisers abzuholen.
— Die sehr beachtenswerten Reste des orientalischen Kultes,
die sich zu Rom im Hain der Furrina gefunden haben, und
zu denen sich noch manches sagen ließe, sind zuletzt geschildert
von G. Nicole und G. Darier Le Sanctiimre des Dieux Orien-
taux au Janicule, Rom 1909.
Als Nachtrag zähle ich einige wichtigere Schriften auf,
die von der Philosophie oder der Kunst her Beiträge zur Er-
kenntnis auch der griechischen Religion*- gegeben haben und
in anderen Berichten nicht zur Sprache kommen.
Voran stehe M. Wundt-, Geschichte der griechischen
Ethik, I Entstehung der griechischen Ethik, Leipzig 1908. Wo
gelegentlich ein systematischer Religionsphilosoph das Bemühen,
das Werden der Religionen geschichtlich zu begreifen, gänzlich
verurteilt, ist es freudig zu begrüßen, daß ein Vertreter der
geschichtlichen Philosophie, der mit historischem Blick, mit
philologischer Kritik und Belesenheit ausgerüstet ist, es unter-
nimmt, in solchen Problemen mitzuarbeiten. Gerade in diesem
* Dabei habe ich die Vorschläge ztir Textverbesserung übersehen, die
W. Crönert gemacht hat, Stud. zur Paläogr. und PajyyruskundelT 1905 S. 18.
* Aus Wundt 8 populär geschriebenem Büchlein 'Griechische Welt-
anschauung' (Atis Natur und Geisteswelt 329, Teubner 1910) gehören
hierher S. 26 £F. (Gott).
586 Richard Wünsch
ersten Band ist das besonders schwer, denn mit ihren äußer-
sten Wurzeln haftet die Ethik in der Volksreligion, in deren
Tiefe hinabzusteigen wir erst jetzt beginnen. Man versteht es
wohl, wenn Wundt mit der Betrachtung der homerischen
Religion, jener geläuterten Anschauung einer kulturell hoch-
stehenden Kaste, beginnt: eine spätere Generation ist hoffent-
lich in der Lage, die Anfänge der Ethik aus einer primitiveren
Schicht griechischen Glaubens zu entwickeln. So müßten, um
nur ein Beispiel anzuführen, die späteren Verbote des Fleisch-
genusses in Beziehung gesetzt werden zu der uralten Tier-
verehrung. Und so viel sehen wir wohl klar, daß die Religion
in dieser Unterschicht ziemlich gleichartig ist, und daß die
Menschen von dem Aberglauben sich nur langsam befreien.
So werden denn auch lonier und Athener in ihren Grund-
anschauungen nicht so verschieden gewesen sein und sich
nicht so divergent entwickelt haben, wie Wundt sie zeichnet.^
Von Bedeutung sind, Einzelheiten abgerechnet^, S. 118 ff. "Die
religiösen Bewegungen', namentlich die Bemerkungen über
chthonische Kulte, über die dionysische Religion und die
orphisch- pythagoreischen Sekten.
J. Adam The Beligious Teachers of Greece, Edinburgh
1908, vereinigt eine Reihe von Vorlesungen, die das Verhält-
nis der Dichter und Philosophen von Homer bis Plato zur
Religion schildern. Der Grundgedanke ist (S. 19): die Dichter
beharren auf dem Boden des homerischen Anthropomorphismus,
versuchen aber die gröberen Züge zurückzudrängen und zu ver-
geistigen, eine Bewegung, die in Sophokles ihren Höhepunkt
erreicht. Die Philosophen dagegen werden durch ihre physi-
kalischen Spekulationen mehr und mehr zur Ablehnung der
homerischeu Götterwelt getrieben, bis Anaxagoras den Novg
' Ich stimme darin mit P. Wendland überein, auf dessen ausführ
liehe Besprechung ich verweise, lierl. philol. Wochen^chr. 1909 Sp. 1372 ff.
* Zum Enthusiasmus (S. 181) s. Dieterich Mithraslü. S. 97flF.; die
Dämpfe der Pythia (S. 133) sind Fabel, s. Fehde (oben S. 527) S. 83.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 587
als Weltschöpfer proklamiert. In den Dramen des Enripides
treffen beide Strömungen zusammen, doch so, daß das de-
struktive Element der Aufklärung überwiegt. Von Sokrates
ab hat die Philosophie allein Einfluß auf die Entwicklung
religiöser Gedanken. — E. Schwartz hat der ersten Reihe
seiner „Charakterköpfe aus der antiken Literatur*' nun eine
zweite folgen lassen (Teubner 1910), die hier und da auch
die Religion streift. So wird fein bemerkt^ wie Epikurs Lehre
im letzten Grunde doch Religion ist (S. 43), und aufmerksam
machen möchte ich auch auf die Schilderung dessen, was
Paulus dem Griechentum — nicht der Weisheit, aber der
Kultur und Sprache^ der Griechen — verdankt (S. 119ff.).
Auch sonst sind zur antiken Literatur, die zur Religion
in Beziehung steht, Abhandlungen erschienen. A. Tresp
Scriptorum de rebus sacris Atticis fragmenta, Diss. Königs-
berg 1910, gibt eine Probe aus einem größeren Werk, das
die attischen Sakralschriftsteller sammeln und erklären will. —
C. Reinhardt De Graecorum thedogia capita duo, Diss. Berlin
1910 behandelt philologisch die griechische Literatur, welche
die homerische Götterwelt systematisiert und ausdeutet. Kap. I
bespricht das Verhältnis der allegorischen Interpretationen
Homers und die Bedeutung, die für diese Literatur Krates
von Mallos gehabt hat; Kap. U redet über Anlage und Inhalt
von Apollodoros tcsql ^säv. Derartige fundamentale Vor-
arbeiten sind dankenswert: sie müssen geschaffen sein, ehe
man beginnen kann, diese „theologische" Literatur für die
Geschichte des religiösen Denkens zu verwerten. — Wie
Reinhardt die konservative Allegorie, behandelt F. Wipprecht
den zerstörenden Rationalismus: Zur Entwicklung der ratio-
nalistischen Mythendeutung bei den Griechen II, Progr. Donau-
esehingen 1907/08, Tübingen 1908.' Er setzt mit Ephoros
ein, der in seiner Kritik schwankt; an den olympischen Göttern
^ S. Reitzenstein oben S. 571. ' I war 1902 erschienen.
588 Richard Wünsch
zweifelt er nicht, wohl aber an der Heldensage: hier und da
sucht er auch schon zu erklären, wie die nach seiner Meinung
falschen Züge entstanden sind. Theopomp ist vollständig
gläubig und erfindet selbst Mythen im Stile Piatos. Die At-
thidenschreiber schalten frei mit dem überlieferten Material und
ersetzen übernatürliche Züge, die sie zum Teil aus miß-
verstandenen Redensarten herleiten, durch glaubliche. Die
Komödie gibt, zunächst in witziger Absicht, ähnliche rationa-
listische Deutungen, die später von den Rationalisten vom Fach
ernsthaft und trocken weitergegeben werden. Als nächster Teil
wird eine Abhandlung über die Stellung der Philosophie zur
Mythendeutung verheißen.^ — P. Vallette De Oenomao Cynico
Paris 1908 gibt eine bequeme erläuternde Zusammenstellung
der aus der Foritßiv cpcoQa^ dieser rücksichtslosesten Be-
kämpfung des Mythenglaubens, erhaltenen Bruchstücke und
damit einen Beitrag zu dieser für die Zersetzung der antiken
Religion so charakteristischen Richtung. Doch hat sie den
Wunderglauben niemals ganz überwunden; in seinem Werk
„Hellenistische Wundererzählungen" (Teubner 1906) untersucht
R. Reitzenstein die Entstehung der literarischen Form, in
der die novellistische und biographische Literatur des Alter-
tums von getanen Wundern berichtet. Diese Form hat nach
Reitzenstein einen nicht geringen Einfluß auf die Fassung der
christlichen Wundererzählung ausgeübt, wie man sie in den
Evangelien und Apostelakten, später auch in den Mönchs-
geschichten findet. Als Beispiele dieses Übergangs werden
zwei Hymnen der Thomasakten erläutert. Daß der Verfasser
auch die uns anderen unbekannte ägyptische Literatur heran-
zieht, gibt dem Buche besondere Wichtigkeit.^
' A. Bates Hersmann Studies in Greek Ällegorical Interpretation,
Chicago 1906 kenne auch ich nur aus W. Nestle s Besprechung Berl.
philol. Wochenschr. 1907 Sp. 1391 f.: das kommt danach hauptsächlich
für Plutarch in Betracht.
» S. mein Referat Deutsche Lit. Zeit. 1907 Sp. 1167 ff.; W. Otto
oben S. 680.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 589
Eine hübsch zu lesende Einführung in das Wesen der
religiösen Kunst gibt E. A. Gardner Bdigion and Art in
Ancient Greece, London und New York 1910. Sie hat sich
an Holz- und Steinfetischen entwickelt, die man nach und
nach mit menschlichen Gliedern versah; der Anthropomorphis-
mus ist überhaupt die treibende Kraft, er erreicht seine höchste
Blüte in den Idealgestalten des fünften Jahrhunderts. Dann
beginnt der Individualismus auf die künstlerische Auffassung
der Götter zu wirken * ; besonders viele Abstraktionen schafft
die hellenistische Zeit. Mit dem Abnehmen des Glaubens an
die persönlichen Götter sinkt auch die Kunst: vielfach tritt an
Stelle des Götterbildes das Symbol. — Ähnliche Fragen be-
handelt E. Reisch, Entstehung und Wandel griechischer
Göttergestalten, Wien 1909. Mit Recht warnt er vor zu
großer Schematisierung in der Entwicklung der Religion, die
auch für Griechenland eine zeitliche Aufeinanderfolge von
Fetischismus, Tierkult, Anthropomorphismus postuliert. Gardners
Meinung, die auch ich teile, daß ein Teil der anthropomorphen
Götterbilder aus Fetischen entwickelt ist — ich erinnere nur
an das Bild des Dionysos Perikionios, Röscher Myth. Lex. I
Sp. 1091, wo der Holzsäule eine Menschenlarve vorgebunden
wurde — wird damit nicht umgeworfen. Werkzeuge sind
wohl nicht deshalb verehrt worden, weil sie ein Gott nach
Menschenart handhabte (S. 8), sondern weil sie ursprünglich
selbst ein Gott waren (H^ Usener, Götternamen S. 285). Wenn
Reisch S. 29 meint, die Götterbilder hätten zunächst nur den
Gott bedeutet, erst allmählich seien sie mit dem Gott gleich-
gesetzt worden, so entspricht es primitivem Denken eher,
wenn die Gleichsetzung das- Ursprüngliche, die symbolische
Bedeutung das Jüngere ist. — Einige Fragen der Interpretation
antiker Kunstwerke beantwortet J. N. Svoronos Nsai SQfir^velat
aQxaCav dvayXvcpcov, S. A. aus Tb iv läd-rjvaig 'Ed^vixbv Movöelov
S. 363 ff., Athen 1910. Nr. 1 ist von Bedeutung für die Ver-
* S. Kaerst oben S. 578.
590 Richard Wünsch
breitung des Kybelekultus, der so bereits im fünften Jahrhundert
inBöotien nachweisbar ist; Nr. 2 ist eine Darstellung chthonischer
Kulte aus Tegea; Nr. 3 Athena bewaffnet den Asklepios, aus
Epidauros, eine Weihung an den auch im Kriege hilfreichen
2Ja)TrjQ] Nr. 4 wichtig für die sakrale Topographie des Kolonos:
ein Vater stellt seinen Sohn am Altar des Herakles dar, der
neben der Hadespforte lag. Das große Werk, aus dem dieser
Auszug stammt, erscheint seit 1908 in Athen auch in einer
deutschen Ausgabe von W. Barth (Das Athener Nationalmuseum
von J. N. Svoronos): es ist eine reiche Fundgrube religions-
geschichtlichen Materials.
Ehe ich zur römischen Religion übergehe, erwähne ich
kurz ein paar Arbeiten zu anderen italischen Kulten. Die in
der Berichtszeit erschienenen Arbeiten über Etruskisches be-
schäftigen sich zum Teil mit der rätselhaften Bronzeleber von
Piacenza.-' &. Körte legt die Ergebnisse seiner Nachprüfungen
am Original in den Römischen Mitteilungen XX S. 348 ff. aus
dem Jahre 1905 vor und leitet die etruskische Haruspizin,
ebenso wie die griechische, aus Babylon her. C. 0. Thulin
hat systematisch „Die etruskische Disziplin" in Angriff ge-
nommen: „I Die Blitzlehre, H Die Haruspicin, HI Die Ritual-
bücher" (Göteborg 1906, 1909) sind von Wichtigkeit auch für
die Geschichte der römischen Haruspices; über die Bronzeleber
wird 11 30 ff. gesprochen: auch Thulin entscheidet sich für
chaldäischen Ursprung. In der ausgebildeten Leberschau aller-
dings sind die Ähnlichkeiten groß; doch muß noch einmal
untersucht werden, ob nicht Anfänge der Eingeweideschau sich
in Griechenland und Rom selbständig entwickelt hatten. —
W.V.Bartels, Die etruskische • Bronzeleber von Piacenza in
ihrer symbolischen Bedeutung, Berlin 1910, versucht eine alle-
gorische Interpretation der etruskischen Aufschriften und ver-
liert dabei den wissenschaftlichen Boden vollständig unter den
8. oben Thulin S. 628.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 591
Füßen. Das Ergebnis lautet (S. 41): „Die Leber ist ein Doku-
ment der Vorstellung vom Makrokosmos, welche einer Zeit
angehört, die noch als Begriffe dasjenige handhabt, aus dem
sich später die definitiven Gestalten der Götter der griechischen,
römischen und germanischen Mythologie entwickelten. In der
Entwicklung der jüdischen Religion zu einem reinen Mono-
theismus können wir den Versuch erkennen, die uralten Be-
griffe, wie sie die Leber enthält, wieder herzustellen." —
V. Macchioro Coniribiäi alla storia deUa religione paleo-italica,
Ausonia IV 1909 glaubt (S. 21) aus einigen Bronzefigürchen
nachweisen zu können, daß la civilti umhra conosceva l'ima-
gine egizia della divinitä suprema creatrice fecondante, und
R. Pettazzoni La religione primitiva in Sardegna, R. Äccad.
dei Lincei, Rcndic. XIX 1910 S. 88 ff., 217 ff gibt dankens-
werte Pläne und Abbildungen der Bauten und Figuren primi-
tiver Religion auf Sardinien: letztere werden, zum Teil sicher
richtig, nicht als Götterbilder, sondern als Votivgaben gedeutet.
Die Gesamtbehandlungen der römischen Religion sind
oben S. 534 besprochen worden L. Friedländers „Dar-
stellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von
August bis zum Ausgang der Antonine" ist noch einmal in
der achten Auflage erschienen (4 Bände, Leipzig 1910). Es
war eine glückliche Fügung, daß der greise Verfasser diese
Überarbeitung seines Hauptwerkes noch wenige Tage vor seinem
Tode zu Ende führen konnte. Der Abschnitt „Die religiösen
Zustände" steht IV S. 119 — 281: die wichtigste Literatur der
letzten Jahre ist noch dankbar benutzt worden, anderes, was
die Darstellung sicher in Einzelheiten modifiziert hätte, ver-
mißt man. — A v. Domaszewski vereinigt in seinen „Ab-
handlungen zur römischen Religion", B. G. Teubner 1909, 24 Auf-
sätze, die seit 1892 in verschiedenen Zeitschriften, davon sieben
in diesem Archiv, erschienen sind. Ihre Eigenart, vom monu-
mentalen Material aus die Entwicklung religiöser Vorstellungen
und ihre Bedeutung für die politische Geschichte darzutun.
592 Richard Wünsch
zeigen am besten die Abhandlungen „Silvanus" (S. 58 ff.) und
„Die politische Bedeutung des Trajansbogens in Benevent''
(S. 25 ff.).
Für die Kultorte der Römer ist wichtig W. Altmann,
Die italischen Rundbauten, eine archäologische Studie, Berlin 1906.
Der sakrale Rundbau, der uns namentlich aus dem Vestatempel
geläufig ist, geht zurück auf die prähistorische Form der ita-
lischen Wohnhütte; sie hält sich auch im Totenkult als be-
sondere Form des Grabes. Die Frage, welchen römischen
Göttern, und warum gerade ihnen man Rundtempel baute, ist
noch nicht völlig gelöst. — Auf die römischen Gräber bezieht
sich auch V. Macchioro H simboUsmo nelle figurazioni sepol-
crali romane, Mem. della B. Accad. di Ärcheologia, Lettere e
Belle Arti I, Neapel 1909. Als Symbol der vom Körper ge-
trennten Seele erscheint der Schmetterling, der Vogel, die
Zikade; als Symbol der Seelenreise Wagen, Schiff, Delphin; ein
trinkender Vogel ist das Bild der im Jenseits erquickten Seele;
auf Erotisches — wohl weil Persephone auch mit Aphrodite
gleichgesetzt wird (S. 74) — werden gedeutet Taube, Hahn
und andere Tiere, auf dionysische Lehre Schlange und Toten-
mahl, auf die Apotheose Regenbogen, Pfau und Adler. Das
sehr reiche Material läßt aber bündige Schlüsse dieser Art nur
selten zu, weil wir sehr oft kein Mittel haben, zu entscheiden,
wo diese Bilder wirklich einen religiösen Gedanken ausdrücken,
und wo sie lediglich dekorativ wirken wollen.^
Zur Geschichte der echt römischen Kulte muß genannt
werden J. Binder, Die Plebs, Studien zur römischen Rechts-
geschichte, Leipzig 1909. Der Verfasser sucht seine gewagte
These, daß die Plebs die in Rom ansässigen Latiner des
Septimontiums (S. 359), die Patrizier die Sabiner vom
Quirinal seien (S. 374), durch die Eigenart auch der Kulte
zu stützen (S. 104 ff.). Doch scheint mir der Nachweis, daß
* S. L. Deubner Berl. philol. Wochemchr. 1910 Sp. 1468 ff.
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 593
die an den Palatin anknüpfenden patrizischen Kulte erst
später Tom Quirinal dorthin übertragen sind, nicht geglückt.
Wenn die Salii Collini die älteren sein sollen, die erst später
in den Palatini ihr Gegenbild erhalten haben, so läßt sich das
eben nicht beweisen; das wahrscheinliche ist doch, daß beide
Sodalicia unabhängig voneinander entstanden sind (Wissowa,
Rel. und Kultus der Römer S. 480). — Zur Art der römischen
Gottesverehrung gibt einen nützlichen Beitrag Gu. Rowoldt
Libronim pontificiorum Eomanorum de caerimonüs sacrificiorum
rdiquiae, Diss. Halle 1906: aus den römischen Antiquaren
werden 176 Stellen zusammengebracht, die gut überschauen
lassen, was für die Römer bei den Opfern zu beobachten war.
Nun kann man die Vorstellungen zu ergründen versuchen,
welche die einzelnen Gebot« geschaffen haben. — Hübsch ist
ein altrömischer Ritus von H. Schenkl erkannt worden, Der
Hain der Anna Perenna bei Martial, Rom. Mitt. XXI 1906
S. 211 ff. Die Verse IV 64, 16 f.: d qnod virgineo cniore
gandet Ännae pomifenim nemus Perennae wird auf eine
Lustratio, einen Fruchtbarkeitsbrauch gedeutet: eine men-
struierende Jungfrau tötet durch Umschreiten alles Ungeziefer
des Hains. — Die Riten der Luperealien und ihre geschicht-
liche Entwicklung stellt überzeugend L. Deubner dar, in
diesem Archiv XIII 481 ff.
Mit den Göttern der Römer beschäftigt sich W. Otto-
München, Rhein. Mus. LXIV 1909 S. 449 ff.: einige römische
„Sondergötter" werden einleuchtend als fingierte Heroen be-
kannter Familien erklärt, Sentius gehört den Sentii, Edusa zu
den Edusii; ähnlich steht es mit Potina (Potini), Venilia
(Venilii), Xumeria (Numerii), Catius (Catii). So ist auch
Tarpea die Ahnherrin der gleichnamigen Gens, Lavema Orts-
göttin des pagus Lavernus.^ — H. L. Axtell TJie Deißcation
* Mit einem Fragezeichen stelle ich hierzu Neptunus als alten
Schutzgott der Einwohner von Xepet, Volcanus als Ahnherrn der Volcae
aus Veii (Plin. Xat. hist. XXXV 157).
Archiv f. Beligionawiasenschaft XTV og
594 Richard Wünsch
of Abstrad Ideas in Roman Literature and Inscriptions,
Chicago 1907, gibt im ersten Hauptteil das Material über die
teils ständige, teils nur gelegentliche Verehrung der einzelnen
abstrakten Begriffe im staatlichen Kult und in der volkstüm-
lichen Verehrung. Der zweite Teil behandelt die Entstehung
dieser Abstrakta als Ganzes und ihr Vorkommen in Literatur
und Epigraphik. Klar wird man hier erst sehen, wenn das
ganze Material gesammelt vorliegt; die Fülle numismatischer
Zeugnisse hat auf Anregung von L, Deubner zu sammeln be-
gonnen W. Köhler, der in seiner Dissertation „Personifika-
tionen abstrakter Begriffe auf römischen Münzen", Königsberg
1910 eine Probe gibt, welche alphabetisch geordnet die Be-
griffe Abundantia bis dementia enthält.
Die römischen Mythen untersucht W. Soltau, Die An-
fänge der römischen Geschichtschreibung, Leipzig 1909. Es
bestätigt sich von neuem, daß viele Sagen aus der Urzeit
Roms nicht alte italische Mythen sind, sondern Erfindungen
der römischen Dichter, zum großen Teil aus fremden Vorlagen
übernommen. So stammt nach des Verfassers bekannter An-
sicht^ die Romuluslegende in ihren wesentlichen Zügen aus der
Tyro des Sophokles; Egeria als Beraterin des Numa ist von
Ennius erfunden (s. die Zusammenstellung S. 128 ff.). —
J. Garrett Winter TJie Myth of Hercules at Borne, Univer-
sHy of Michigan Studies, Humanistic Series IV 1910 S. 171 ff.
ordnet zuerst das Verhältnis der Quellen (s. das Stemma auf
besonderer Tafel) und versucht, die älteste Form des Herkules-
Cacus-Mythus festzulegen: Cacus ist ursprünglich ein italischer
Dämon des Vulkanismus, dessen Überwältigung später in den
Mythenzyklus von Herakles aufgenommen wurde, als der
griechische Kult dieses Gottes nach Rom kam, sei es von
Cumae her (Wissowa a. a. 0. 220), sei es aus Etrurien.
Für die Religion der ersten Kaiserzeit ist von Bedeutung
die Ära Pacis, nach der 1903 bei Palazzo Fiano in Rom mit
' S. Archiv XII lOOU S. lOltf.
Griechische und römische ReUgion 1906 — 1910 595
Erfolg gegraben wurde; die neueren Abhandlungen beschäftigen
sich meist mit Anordnung und Deutung der gefundenen Stücke,
s. die Literatur bei F. Studniczka Zur Ära Pacis, Abh. Sachs.
Ges. der Wiss. phiL-hist. Kl. XXVII 1909 S. 901 ff Wichtig
ist die zuerst von Sieveking klar gelegte Beziehung eines
Fragments auf Aeneas und sein Opfer an die Penaten, und
das Verhältnis der hier verkörperten Gedanken zu dem Carmen
saeculare des Horaz (S. 929, 940). — A. Elter Donarem pateras,
Hör. carm. 4,8 (Programmata Bonnensia Nr. 26 — 29, 1905 — 07),
Bonn 1907 konstruiert aus jener Horazode ein Gedicht des
Ennius, in dem Scipio apotheosiert worden sei, und kommt
dadurch auf die Apotheose auch der Kaiser zu sprechen. Es
wird betont (40,51), daß die Göttlichkeit der Kaiser eine Gött-
lichkeit von der Menschen Gnade, ein Geschenk der Dankbar-
keit und Verehrung, trotz Tempel und Gottesdienst keine über-
natürliche Eigenschaft sei. Wenn Elter aus einem solchen
äußerlichen Erheben in den Himmel schließen will, daß der
allgemeine Jenseitsglaube noch keine große Kraft und E^Iarheit
besessen habe, so wage ich nicht, aus einem Beschlüsse des
römischen Senates auf allgemeinere geistige Bewegungen zu
schließen. Richtig weist Elter darauf hin, daß die einzelnen
Erscheinungen des Seelenglaubens in der Kaiserzeit ganz ver-
schiedener Art sind, und warnt davor, sie aUe als sog. römische
Volksreligionen zusammenzurühren oder sie durch die Auf-
fassung als Vorstufen christlicher Dogmen in ein schiefes Licht
zu rücken. Besonders unzufrieden ist er (S. 57) mit „unsem
heutigen Religionswissenschaftlem", „die es mehr darauf abzu-
sehen scheinen, durch ausgedehnte Vergleichung aller möglichen
Dinge eine Art „Ünterglauben" zu konstruieren, wobei das
einzelne notwendig seine Schärfe und Bestimmtheit einbüßen
muß", und die „vielfach zu sehr die klare Einsicht in die
psychologischen Grundlagen der Entstehung religiöser Vor-
stellungen vermissen lassen". Derartigen Urteilen gegenüber
muß betont werden, daß auch solche Religionshistoriker nicht
38*
596 Richard Wünsch
selten sind, denen der Vergleich der Religionen untereinander
das Mittel zum Zwecke ist, den tatsächlich vorhandenen Unter-
grund des Glaubens in seiner Entstehung gerade psychologisch
zu begreifen.
L. Hahn, Rom und Romanismus im griechisch-römischen
Osten, mit besonderer Berücksichtigung der Sprache, bis auf
die Zeit Hadrians, Leipzig 1906, berührt die römische Religion
S. 30 (Verehrung der Tvxt] ' Pa^aCav, des Flamininus), S. 102
und 167 jff. (über den Kaiserkult und sein monotheistisches
Bestreben, die anderen Religionen zurückzudrängen oder zu
beherrschen). — Ein wichtiges Dokument für die Apotheose
veröffentlicht und erklärt E. Kornemann, Klio VII 1907
S. 278 ff.: der Papyrus Gissensis 20 beginnt ccQ^ati XsvxonayXc}
ccQti TgaCava ävvavarsClccg i]XG) öot, d) ^^/i£, ovx ccyv(o6rog
Qolßog d'Eos avaxta xaivbv ^48Qiavov ä'yyslXcov — der Herold
stellte also wohl die Epiphanie des ApoUon leibhaftig dar. —
H. Blaufuß, Römische Feste und Feiertage nach den Trak-
taten über fremden Dienst (Aboda zara) in Mischna, Tosefta,
Jerusalemer und Babylonischem Talmud, Progr. Neues Gymn.
Nürnberg 1909, zeigt, welche Feste der Kaiserzeit den Juden
besonders auffielen. Der rätselhafte Festname Qrtisim wird
mit xQccrrjöts d. h. Imperium zusammengebracht und als Natalis
imperii gedeutet; an die Person des Kaisers knüpfen sich die
Feste seiner Hochzeit, Amtsantritte, Genesungen; für die konse-
krierten Imperatoren werden „Geburtstage" gefeiert (Genusia,
s. Archiv XIII 630 ff.). Merkwürdig ist S. 24: „Wenn einer
in Theater und Zirkus geht und ansieht die Beschwörer und
Zauberer, Bukkion und Mukion, Malion, Segularion, Sigillaria."
Es liegt nahe, die letzten Worte, die in mancherlei Varianten
vorkommen, nach Analogie von Sigillaria als römische Feste
auszudeuten, etwa Segularion als Saeculares (S. 29 ff.): aber
das geht nicht ohne Rest auf. Man kommt auf den Gedanken,
daß hier vielleicht nur die Parodie einer Zauberformel vorliegt;
die Beschwörer und Zauberer treten ja gar nicht bei irgend
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 597
welchen Festen im Zirkus auf, sondern haben dort nur ihre
Bud
en
Die Sammlung und systematische Ausbeutung der religiösen
Dokumente der Kaiserzeit nimmt J. To utain mit einem groß
angelegten Werke in Angriff: Les cultes paiens dans Vempire
(unain, premiere partie: Les provinces Latines, tome I: Les cidtes
officids, les cidtes romains et greco-romains {Bihliotheque de
VEcole des hautes etudes, sciences rdigieuses, vol. XX, Paris 1907).
Die Gliederung des Materials geschieht, wie der Titel andeutet,
zunächst geographisch: Italien, Griechenland nebst Orient, und
die römischen Provinzen werden getrennt behandelt. Sodann
erfolgt eine Gliederung nach Kulten: geschieden werden offi-
zielle Staatskulte (Verehrung der Roma, des Kaisers, der
kapitolinischen Götter), die Eulte der hellenisierten römischen
Religion, die orientalischen, und endlich die lokalen Gottes-
dienste, die vor der römischen Eroberung vorhanden waren.
Welchen Teil der erste Band enthält, zeigt sein Titel. Es
ergibt sich, daß die offiziellen Staatskulte in allen lateinischen
Provinzen vorhanden sind, wenn sie auch leichte Nuancen
namentlich in der Kombination mit anderen Kulten aufweisen.
Ein anderes Bild zeigt die Verehrung der Xumina aus dem
griechisch-römischen Götterkreise. Nicht überall ehren die-
selben Stände dieselben Gottheiten, eine Differenz, die nur da-
durch möglich wurde, daß die kaiserliche Regierung sich jeder
Beeinflussung dieser Seite des religiösen Lebens enthielt. Die
verschiedenen Klassen der Zuwanderer, Soldaten, Beamte und
Sklaven brachten aus der Heimat ihre Lieblingsgötter mit.
Anderseits erklärt sich die Bevorzugung einzelner Gottheiten
daraus, daß man gerade sie mit den alten, einheimischen Göttern
gleichgesetzt hatte. Ein solches Eingehen auf die Religiosität
des einzelnen Provinzialen verspricht fruchtbar zu werden: es
erlaubt uns einen Rückschluß auf die vorrömische Religion
der Eingeborenen und wird uns auch den verschiedenen
^ S. A. Dieterich Ehein. Mus. LV 1900 S. 209.
598 Richard Wünsch
Werdegang des Christentums in den einzelnen Provinzen besser
verstehen lehren: wenn wir erkennen, was am tiefsten im
Herzen der Eingeborenen saß, wissen wir auch, was am meisten
die Kirche zu jenen Konzessionen veranlassen konnte, welche
die Zeit nach Konstantin hervorgebracht hat.
Zu jener Gleichsetzung römischer und barbarischer Götter
äußert sich auch Fr. Richter JDe deorum barharorum inter-
pretatione Bomana quaestiones seledae, Diss. Halle 1906. Als
interpretatio Romana bezeichnet Tacitus Germ. 43 die Aus-
deutung fremder Götter als römische. Richter sammelt die
Stellen erst der Literatur, dann der Inschriften, in denen eine
solche Gleichsetzung zum Ausdruck kommt (Typus Mars AIbiorix)\
Kap. HI handelt über die cognomina solcher Götter {deus sanctus
Mars Cocidius) und über die lokale Gebundenheit einzelner
fremder Namen (Mars Caturix und Intarahus an Oberdeutsch-
land). Kap. IV bespricht die Fälle, in denen nur aus dem
Zusammenhang zu erschließen ist, daß sich unter römischem
Namen ein fremder Gott birgt: aus der Kopulierung mit einem
barbarischen Namen {Mercurius et Rosmerta), aus einem un-
römischen Plural {ßilvani), oder aus einer auffälligen, un-
römischen Häufigkeit der Verehrung (Saturn in Afrika). S. 31
wird ansprechend Hercules Saxanus nicht als germanischer,
sondern als römischer Gott der Steinbrüche erklärt.
Über das Vordringen der orientalischen Religionen im
Römerreich ist oben S. 582 gesprochen. Wir nähern uns nun
der Auflösung der antiken Religion. Von 0. Seecks
Geschichte des Untergangs der antiken Welt^ — Band I liegt
bereits in dritter Auflage vor, Berlin 1910 — erschien der
dritte Band 1909. Er schließt an Band II an, der gegen
Ende das große Kapitel „Religion und Sittlichkeit" beginnt
(1. Der Animismus, 2. Der Sonnen glaube, 3. Die Religion des
* Populäx behandelt dies Thema L. M. Hartmann, Der Unter-
gang der antiken Welt, Wien 1910; hier wird S. 63 — 78 der Sieg des
besser organisierten Christentums über die antike Religion geschildert.
Griechiache and römische Religion 1906 — 1910 599
Homer). Von den Abschnitten des neuen Bandes interessieren
hier hauptsächlich 4. Die ältesten Mysterien der Griechen,
5. Die Philosophie, 6. Die Religion des römischen Reiches,
7. Glaubensphilosophie und Gottmenschen, 8 Das Christentum.
In diesen Kapiteln wird der Komplex der antiken Religion
zu der Zeit, da sie den Kampf mit dem Christentum aufnimmt,
aus seinen Ursprüngen in großen, oft zu gerade gezogenen
Linien abgeleitet. In manchen Dingen denke ich anders: ich
halte Dionysos und Orpheus nicht für ursprüngliche Sonnen-
götter (S. 18), schätze Plato höher als dies S. 57 ff. geschieht,
erkläre mir das Fehlen des Mythos in der römischen Religion
nicht daraus, daß der praktische Römer es für überflüssig hielt,
sich über Dinge, die ihn nichts angingen, den Kopf zu zer-
brechen (S. 97). Wenn das Taurobolium als Taufhandlung
bezeichnet wird (S. 129), so kommt durch dies christliche Bild
leicht ein falscher Zug in die Auffassung. Beachtenswert sind
die Partien über das Fortleben des Heidentums im Christen-
tum, obwohl sich Seeck auch diese Vorgänge zu einfach denkt.
Gut ist der Gedanke durchgeführt, daß im Altertum die Sitt-
lichkeit zunimmt, während der Glaube an die Götter des Olymp
abnimmt (S. 84 ff.); neu war mir die Deutung des Hermoko-
pidenfrevels als einer Handlung fanatischer Philosophen, die
an der allzu großen Menschlichkeit der Götterbilder Anstoß
nahmen (S. 48, 560 f.).
Durch den Sieg des Christentums ist die antike Religion
nur an der Oberfläche überwunden; in der Tiefe lebt sie in
vielen Erscheinungsformen fort bis zum heutigen Tage. Die
Literatur darüber anzugeben ist nicht mehr Aufgabe meines
Berichtes, doch erwähne ich auch hier einiges, was sonst viel-
leicht keine Stelle findet. Von hagiographischen Arbeiten war
oben die Rede (S. 521). — Durch ein Flugblatt vom 1. Februar
1910 teilt ü. V. Wilamowitz-Möllendorff mit, daß er
die Summe, die er am 60. Geburtstag zu wissenschaftlichen
Zwecken erhalten hat „in der Erwartung, daß die nächste
600 Richard Wünsch
Generation sich stark mit dem Problem beschäftigen wird,
das sich ebensowohl als Hellenisierung des Christentums wie
als Christianisierung des Hellenismus bezeichnen läßt" im
wesentlichen dazu bestimmt hat, zuverlässige Ausgaben solcher
Schriften zu schaffen, die in ihrer Kunstform oder ihrem In-
halt für diese Übergangszeit wichtig sind: zunächst Gregor
von Nyssa, Eunomios, Himerios, Eunapios. An diesen Editionen
werden sich außer v. Wilamowitz noch E. Norden, K. Holl,
E. Schwartz und P. Wendland beteiligen. Diese Namen
bürgen für die wissenschaftliche Gediegenheit des Unternehmens,
dem rascher Fortgang zu wünschen ist.
W. Soltau, Das Fortleben des Heidentums in der alt-
christlichen Kirche, Berlin 1906, will in reformatorischer Ab-
sicht diejenigen Elemente aus dem christlichen Dogma aus-
scheiden, die nach seiner Ansicht aus dem Heidentum hervor-
gegangen sind: die Lehre von der göttlichen Geburt und dem
Erlösertum Jesu, vom Logos und der Dreiheit, die Märtyrer-
und Heiligenverehrung, den Engel- und Dämonenglauben, die
Lehre von den Sakramenten und die Hierarchie. Das Buch
ist für weitere Kreise geschrieben, es zeigt uns aber auch,
welche Fragen über die Entstehung des Christenturas zur Zeit
die brennendsten sind und wissenschaftliche Beantwortung ver-
langen. — Th. Trede, Bilder aus dem religiösen und sittlichen
Volksleben Süditaliens, Gotha 1909, ist ein Auszug aus des
Verfassers vierbändigem Werk „Das Heidentum in der rö-
mischen Kirche". Wer Tredes Sammlungen zur unteritalischen
Volkskunde benutzen will, muß nach wie vor zur großen Aus-
gabe greifen, zumal dieser Auszug kein Register enthält. —
G. Stara-Tedde Bicerche sulla evolumone del cidto degli alber i
dal principio del secolo quarto in poi, Bull. Com. arch. com. 1907
S. 129fP. ist eine Portsetzung seiner Boschi sacri delV antica
Borna, ebenda 1905 S. 189ff.: sie gibt eine Sammlung wert-
voller Notizen über die Fortwirkung des antiken Baumkultes
vom Ausgange des Altertums bis tief ins Mittelalter hinein. —
Griechische und römische Religion 1906 — 1910 601
R. Böse Supersfitiones Arelatenses e Caesario collectae, Diss.
Marburg 1909 enthält wichtiges, aus Caesarius von Arelate,
dem Bischof des sechsten Jahrhunderts, geschöpftes Material
über das Weiterleben des Heidentums in Gallien und Ger-
manien. Solche Arbeiten hätte man gern mehr: sie schlagen
die Brücke vom Altertum zur Gegenwart.
Für den griechischen Mythus habe ich versucht, festzu-
zustellen, was aus der vorchristlichen Zeit noch heute lebendig
ist (Was sich das griechische Volk erzählt, Hess. Blätter für
Volkskunde V 1906 S. 108 ff.): das Material bot mir die treff-
liche Sammlung von Politis, MaXixai nBQl tov ßCov xal riig
yXaööTjg tov iXXrjvixov Xaov.^ Es ist nicht allzuviel: die
großen Olympier sind tot, bis auf das schönste Weib und den
stärksten Mann, Aphrodite und Herakles; dafür leben noch die
Dämonen und Gespenster — das Christentum hat die offi-
zielle Religion, die keine festen Wurzeln besaß, fällen können,
aber nicht den zähe haftenden Volksglauben. Zu ähnlichen
Ergebnissen kommt J. Cuthbert Lawson, Modem Greek
Föüdore and Äncient Greek Religion, A Study in Survivals,
Cambridge 1910. Er hat in seinem Material Erinnerungen
von Olympiern nur an Zeus, Poseidon, Pan, Aphrodite ge-
funden — sie blieben im Gedächtnis, weil die Menschen zu
allen Zeiten gerade mit ihrem Machtbereich vertraut blieben,
mit Himmel und Meer, mit Weideland und mit der Liebe.
Die Gedanken an den Tod verhinderten, daß die chthonischen
Götter, Demeter, Persephone und Charon vergessen wurden.
Sehr bekannt sind heute noch die Nymphen, Lamien und
Gorgonen, beliebt ist wie in der Urzeit der Aberglaube und
die Zauberei. Ausführlich werden die Vorstellungen von der
Vereinigung zwischen Mensch und Gott erörtert (S. 292 ff., 543).
Es sind die aus Dieterichs Mithrasliturgie bekannten Probleme
^ Eine ähnliche Sammlung für Rom gibt G. Zanazzo Usi, costumi e
pregiudizi del popolo dt Roma, Turin 1908: es ist Band II der Tradizioni
popolari Romane.
602 Richard Wünsch Griechische und römische Religion 1906 — 1910
(S. 121 ff.), bei denen jedocli Lawson m. E. die Verbindungs-
fäden zwiscben Altertum und Gegenwart viel zu straff zieht.
Wie oft ist da derselbe Gedanke in zweitausend Jahren aus
denselben, stets lebendigen Vorstellungen neu gezeugt worden!
Jeder, der sich um das Fortleben des alten Griechenlands
im neuen gekümmert hat, wird die Verzettelung des Materials
mit Bedauern empfunden haben. Jetzt ist dafür eine Zentrale
geschaffen in der AaoygacpCa, dem Organ der in Athen 1909
unter der Mitwirkung von Politis gestifteten AaoyQacpixrj
ituLQsCa. Zwei Bände liegen bereits vor, in denen mancherlei
Material zur Durchdringung auch der antiken Religion bereit-
gestellt ist. Schade, daß sich die Nachricht vom Fortleben
der eleusinischen Mysterien in den Nachtfeiern gewisser pon-
tischer Gemeinden nicht zu bewähren scheint {Aaoyg. I
S. 136 f.).
So regt sich auf dem weiten Gebiet der antiken Religionen
das wissenschaftliche Leben an allen Enden. Mancherlei Fort-
schritte der Erkenntnis sind in den letzten fünf Jahren zu
verzeichnen; auch die Methode der Forschung scheint sich
konsolidieren zu wollen: das Ausgehen von den Tatsachen der
historischen Überlieferung, die vorsichtige Ausdeutung und
psychologische Erklärung, unter Heranziehung verwandter Er-
scheinungen bei anderen Völkern beginnt mehr Boden zu er-
obern. Nun muß noch die Einseitigkeit überwunden werden,
die alles nur als astral oder als babylonisch deutet. Auch
muß sich noch der Blick dafür schärfen, welche Aufgaben bei
dem heutigen Stand der Wissenschaft eine Lösung verlangen
oder vertragen, und welche Fragen keine oder nur falsche
Antworten finden. Gewaltig groß ist die Zahl der Probleme,
die heute schon und heute noch des Arbeiters harren: Pro-
bleme namentlich des Volksglaubens und des Zaubers, des
Kultus und Ritus, des Synkretismus und der Entstehung des
Christentums.
5 Neuerscheinungen zur Eeligions- und Kirehen-
gescMchte des Mittelalters und der Neuzeit^
Von Albert ■Werminghoff in Königsberg i. Pr.
Der Aufforderung, im „Archiv für Religionswissenschaft"
die Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte des
Mittelalters und der Xeuzeit anzuzeigen, glaubte ich um so
weniger mich entziehen zu sollen, als dies Referat eine Ver-
bindung mit eigenen Versuchen herstellen möchte, die der
Entwicklung des kirchlichen Rechtes und der kirchlichen
Verfassung im deutschen Mittelalter gelten. Fast allzu groß
schon ist die Zahl der Bücher und Broschüren geworden, die
sich auf dem Arbeitstische einfanden: es ist Zeit sie zu über-
schauen und ihnen in gedrängtester Kürze das Geleite zu
geben. In ihrer Mehrzahl sind sie der Geschichte der Kirche,
Männern und Erscheinungen des kirchlichen Lebens gewidmet;
uns liegt daher ob, aus ihnen die Gedanken herauszuheben,
die der Religion, ihrer Entwicklung und ihren Erscheinungs-
formen, sich zuwenden als dem Komplexe eines bestimmten
geistigen Prozesses, der im letzten Grunde dem unzerstörbaren
Drang der Menschen nach Verbindung des bekannten Diesseits
mit dem unbekannten Jenseits Ursprung und Inhalt und
Richtung verdankt. Unser Bericht wird von prinzipiellen
Erörterungen und von Gesamtdarstellungen ausgehen, um dann
die Einzelschriften je nach dem zeitlichen Umfang zu würdigen,
den sie umfassen wollen.
Es trifft sich gut, daß wir zunächst auf den geistvollen
Vortrag von R. Fester hinweisen können, der dem Problem
nachgeht, welche Momente es dahin gebracht haben, „daß wir den
* Abgeschlossen im Januar 1911.
604 Albert Wenninghoff
Dingen dieser Welt als Historiker weltlich gegenüberstehen",
daß „auch der Kirchenhistoriker längst zum Profanhistoriker
geworden ist und sich daran gewöhnt hat, auch das Christen-
tum im Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte zu be-
trachten."' Gegen R. Festers Forderung, daß die Historie sich
immer weiter von jedem Supranaturalismus zu entfernen habe,
hat seitdem die Rektoratsrede von E. Schaeder Einspruch er-
hoben, indem sie sich müht, die Zusammenhänge zwischen
Theologie und Geschichte aufzudecken,^ Sie klingt in die
Sätze aus: „Wir fühlen uns aufs engste speziell mit der
Geschichtskunde verbunden; von den Maßstäben, auch
den kritischen, mit denen sie geschichtliche Tatsachen
feststellt, wird jede Theologie, welche weiß, wozu sie da
ist, immer lernen wollen .... Aber wir wissen, daß wir
im Bereich der Erfassung und Beurteilung unserer Wirk-
lichkeit auch unsere eigene unzerstörbare Aufgabe haben,
um so mehr, wenn die Historie auf jedes theologische Moment
verzichtet und nun in der Erfassung der Geschichte mächtige
Lücken klaffen, von einem zusammenfassenden, weltanschauungs-
mäßigen Urteil über Grund, Sinn und Ziel der Geschichte
ganz zu schweigen. Theologie, die dort über Gott spricht, wo
der geschichtliche Tatbestand nötigt über ihn zu sprechen,
wie der Spruch nun auch ausfalle, wird es immer geben.
Eben die Wirklichkeit macht sie unerläßlich, ganz abgesehen
von den Diensten, die sie dem praktischen Glauben und der
Kirche leistet, ganz abgesehen auch von den Antrieben, die im
Glauben liegen, sich über sich selbst und seine historische
Basis auszusprechen." Von solchen grundsätzlichen Erörte-
* Die Säkularisation der Historie. Ein auf dem Internationalen
Hietorikerkongreß am 11. August 1908 in Berlin gehaltener Vortrag mit
einem Nachwort. Leipzig und Berlin 1909 {= Historische Vierteljahr-
Bchrift XI, 1909, S. 441 ff.).
* Theologie und Geschichte. Rede beim Antritt des Rektorats
der Königlichen Christian-Albrechts-Universität am 6. März 1909. Kiel,
LipsiuB und Tischer 1909.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 605
rungen hält sich das „Lehrbuch der Kirchengeschichte" von
SM. Deutsch fern.^ Als Bestandteil der Sammlung theo-
logischer Handbücher will es den Stoff zu erschöpfender
Kenntnis bringen, das Wesentliche hervorheben, wie es sich
gleicherweise in der Anführung der Literatur starke Ein-
schränkungen auferlegt. Berücksichtigt wird vor allem die
äußere Entwicklung der Kirche, die ihrer Verfassung und
Lehre seit dem Auftreten Christi, seit Gregor dem Großen
(t 604) und seit Luther, ohne daß hier die weitere, zum Teil
atomisierende Stoffgliederung angemerkt werden darf. Wer
von der Lektüre K. Müllers oder A. Haucks kommt, sieht sich
einem Werke gegenüber, das alles in allem weit weniger tief
schürft als jene. Schlicht, stellenweise zu schlicht berührt es
wenig mehr denn die Oberfläche der Dinge, und vergebens
Bucht man z. B. in dem Abschnitt über die Bekehnmg der
Germanenstämme zum Christentum (S. 238 ff.) eine Antwort
auf die Frage nach den Ursachen ihrer religiösen Umprägung,
nach ihren Folgen auf ihr geistiges Leben, in dem der alte
Glaube nicht zuletzt deshalb so rasch verschwand, weil er die
Fühlung mit den Kultstätten in der Heimat eingebüßt hatte.-
Mehr bietet der Abschnitt über das Zeitalter der Reformation
(S. 446 ff.), gerade hier aber vermißt man doch auch wieder
einen Überblick über die Erscheinungsformen der Religion,
über das Streben nach massenhafter Betätigung der Sorge um
das Seelenheil des Einzelnen, der nach unmittelbarer Verbindung
mit Gott trachtete, ohne auf die Diener einer zum guten Teil
entarteten kirchlichen Verwaltung angewiesen zu sein: da hat
^ Lehrbuch der Kirchengeschichte (a. u. d. T. : Sammlung theologischer
Handbücher V). Bonn, A. Marcus und E. Weber 1909.
* Zu S. 306 ff. mit ihren Ausführungen über die Stellung der
deutschen Reichseigenkirchen im 10. und 11. Jahrhundert ist jetzt die
aufschlußreiche Studie von A. Hauck über Die Entstehung der geist-
lichen Territorien (Sonderabdruck aus Band 27 der Abhandlungen der
philol.-hist. Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften), Leipzig, Teubner 1909 zu vergleichen.
606 Albert Werminghoff
es doch F. von Bezold ganz anders verstanden, die religiöse
Bewegung vor Luther und ihre Hinweise auf ihn zu veran-
schaulichen. Auch die Literaturangaben des Verfassers wollen
nicht allen Anforderungen genügen; sie knapp zu halten war
sein gutes Recht, aber dann hätte er viele Anführungen längst
überholter Werke beiseite lassen und mit den neuesten sich
begnügen können, zumal sich überdies Fehler eingeschlichen
haben, die dem Anfänger — an ihn wendet sich das Buch in
erster Linie — recht unlieb sein werden. So sehr es wider-
strebt, eine alte Regel zu durchbrechen, die dem Toten Ehr-
furcht zu zollen gebietet, ebensowenig darf verschwiegen
werden, daß der an sich bereits große Kreis von Kirchen-
geschichten durch die vorliegende nicht wesentlich bereichert
worden ist. Sie mag manchem als Nachschlagewerk und zu
rascher Orientierung nützlich sein, aber nicht als eine pragma-
tische Darstellung, die mehr bieten kann und wird denn dieses
Lehrbuch.
Ohne Zweifel gelungener erscheint eine Spezialunter-
suchung zur Geschichte der altchristlichen Liturgie, wie sie
F. Wieland in der Schrift „Mensa und Confessio" geliefert hat.^
In straffer Gliederung und überzeugender Beweisführung ver-
folgt sie Entstehung, Form und Idee des christlichen Altars
in den drei ersten christlichen Jahrhunderten. Frühestens in
der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts läßt er als vor-
handen sich dartun: er fehlt also den beiden voraufgehenden,
zumal für sie das die Eucharistie herstellende Verherrlichungs-
gebet das einzige und vollkommene Opfer war, mit ihm aufs
engste verbunden das Eucharistiemahl. Weil ihnen demnach
der einen Altar erheischende Opferbegriff im Sinne materieller
Gabendarbringung fehlte, entbehrten sie des Altars, bezeichneten
' Mensa und Confessio. Studien über den Altar der altchristlichen
Liturgie I: Der Altar der vorkonstantinischen Kirche (a. u. d. T. : Ver-
öffentlichungen aus dem kirchenhistorischen Seminar München II n. 11).
München, J. J. Lentner 1906.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 607
sie auch nicht ihren Mahltisch als Altar. Erst seit Ausgang
des zweiten Jahrhunderts drang der Gedanke einer materiellen
Gabendarbringung in den Begriff des Opfers, das nicht mehr
bloß in dem Gotteslob durch konsekrierende Herstellung des
eucharistischen Christus erblickt wurde, sondern bei dem dieser
Christus selbst als Gabe an Gott galt, durch deren Darbringung
Gott verherrlicht werde. Erst von jetzt an wurde der eucha-
ristische Tisch, auf dem die Gaben dargelegt wurden, Altar
genannt: er ist nicht herzuleiten aus Juden- oder Heidentum,
aber leicht mochten sich ursprünglich heidnische Anschauungen
auf den christlichen Altar übertragen. Der Verfasser, dessen
Ergebnisse wir in möglichst engem Anschluß an seine eigenen
Worte wiederholten, hat diese seitdem in einer besonderen
Schrift zu verteidigen unternommen;^ wie überzeugend sie
sind, beweist allein der Umstand, daß auch P. Drews in seinem
Artikel über den christlichen Altar auf sie sich gestützt hat.*
Ebenfalls von der Eucharistie der ältesten christlichen Zeit
geht auch F. Raible aus, wenngleich sein Ziel ein anderes
ist.^ Ihn beschäftigt zunächst die Frage, warum die Eucha-
ristie vor Uneingeweihten geheim gehalten, wo sie aufbewahrt
wurde, weiterhin die Verschiedenheit der Aufbewahrung der
Eucharistie in der Kirche, über und neben und hinter dem
Altar in der Periode von rund dem Jahre 700 bis etwa 1600,
endlich die Geschichte des Altartabernakels in Neuzeit und
Gegenwart. Es handelt sich also letztlich um die Entwicklung
eines liturgischen Kirchengerätes, wenn der Verfasser auch den
religiösen Vorstellungen nachgeht, die zu seiner Anbringung
* Die Schrift Mensa und Confessio und P. E. Dorsch S.J. in Inns-
bruck 'a. u. d. T. VeröfiFentlichungen usw. III n. 4). München, J. J. Lent-
ner 1908.
- Die Behgion in Geschichte uyid Gegenwart herausg. von F. M.
Schiele I (Tübingen 1909), Sp. 373 ff.
' Der Tabernakel einst und jetzt. Eine historische und liturgische
Darstellung der Andacht zur aufbewahrten Eucharistie. Herausg. Ton
E. Krebs. Freiburg i. Br., Herder 1908.
608 Albert Werminghoff
und Verwendung führten. Darüber hinaus liefert er einen
Beitrag zur Geschiclite der kirchlichen Kunstaltertümer, nicht
ohne das Äußere des Tabernakels im Wandel der Zeiten durch
zahlreiche Abbildungen zu veranschaulichen. Sein Buch dient
einem praktischen Zweck, indem es den Sinn für die künst-
lerischen Aufgabein bei Herstellung neuer Tabernakel wecken
will, andererseits einem homiletischen, derart daß es An-
knüpfungspunkte für eucharistische Predigten und Christen-
lehren zu liefern trachtet. Der Religionshistoriker wird zu-
nächst den Abschnitten über den Glauben der alten Kirche von
der Eucharistie, über Gebrauch und Verehrung der Eucharistie
bei den ersten Christen (S. 5 ff. und 21 ff.) sein Augenmerk zu-
kehren; wie sehr sie von den Ausführungen Wielands ab-
weichen, mag nur der eine Satz erkennen lassen, daß schon
bei den ältesten Vätern die Lehre von der Eucharistie in
voller Klarheit und Bestimmtheit auftritt, sie genau die Lehre
des Konzils von Trient über das allerheiligste Altarsakrament
ist (S. 17). Man sieht, von einer gänzlich voraussetzungslosen
Erforschung eben des Grundproblems ist Raible weit entfernt,
ohne daß deshalb sein Fleiß in der Zusammentragung des
Materials verkannt werde: ihm verdankt das Buch seinen Wert
für die kirchliche Kunstgeschichte, auf den aber hier nicht ein-
zugehen ist.^
Mehr bietet die Monographie von E. Ch. Babut über
Priscillian (f 385) und den Priscillianismus, die nach sorg-
fältiger Quellenkritik ein Bild jenes spanischen Asketen und der
nach ihm benannten Bewegung zu zeichnen unternimmt.^
Besonders in Betracht kommt der Abschnitt S. 105 ff. über
' Kurz verwiesen sei auf A. B&nm.ata.ik Liturgische Texte III, Die
Konstantinopolitanische Meßliturgie vor dem 9. Jahrhundert. Übersicht-
liche Darstellung des wichtigsten Quellenmaterials (a. u. d. T. : Kleine
Texte für theologische und philologische Vorlesungen und Übungen,
herausg. von H. Lietzmann n. 35). Bonn, A. Marcus und E. Weber 1909.
* Priscillien et le Priscillianismc (Bihliotheque de Vecöle des hautes
arides n. 169). Paris, H. Champion 1909.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 609
Priscillians Lehren, deren dualistischen Einschlag der Verfasser
auf Paulus zurückführt, sodann derjenige über Priscillians
mystischen Asketismus, der ihn bestimmte, einer Schar von Aus-
erwählten einen höheren Grad religiöser Erkenntnis beizulegen
und sie allein des Verständnisses des geheimen Sinnes der
heiligen Schriften fähig zu erklären; nur auf Grund dieser
Gaben konnten sie in unmittelbare Verbindung mit Christus
treten. In solchen Doktrinen, dazu in der steigenden Zahl
ihrer Bekenner auf Bischofsstühlen und in den Konventikeln
ihrer Anhänger lagen die Ursachen des Vorgehens wider Pris-
cillian, jener Anklage auf Zauberei, nächtliche Zusammenkünfte
mit Frauen und die Gewohnheit nackt zu beten, einer Anklage,
die zur Hinrichtung der angeblich Schuldigen führte. Auch
auf das Kapitel S. 253 ff. ist hinzuweisen: es befaßt sich mit
den Hypothesen über Priscillians Gnostizismus und Manichäis-
mus, wie es außerdem den Vorwurf prüft, Priscillian habe
Christus als innascibilis bezeichnet. In die gleiche Zeit, den
Ausgang des vierten und den Anfang des fünften Jahrhunderts,
führt der dritte Teil der Biographie des Hieronymus (f 420) von
G. Grützmacher, der in ihm Leben und Schriften seines Helden
bis zu dessen Todesjahr schildert.^ Es kann sich hier nicht
darum handeln, die hohe Bedeutung des Werkes abzuschätzen.
Getragen von eindringendem Verständnis für das Wesen des
Kirchenvaters, erfüllt vom Bestreben seiner historischen Be-
urteilung die Richtlinien zu bestimmen, fesselt es den Leser
stets aufs neue, mag es bald den nicht gerade seltenen Streitig-
keiten des doctor ecclesiae nachgehen, mag es seine Kommentare
zu einzelnen biblischen Schriften würdigen. Gerade in diesen
letzteren Abschnitten möchte das Hauptverdienst des Verfassers
zu suchen sein; man weiß, wie nachhaltig die Theologie des Hiero-
* Hieronymus. Eine biographische Studie zur alten Kirchen-
geschichte III: Sein Leben und seine Schriften von 400—420 (a. u. d. T.:
Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche herausg. von
N. Bonwetsch und R. Seeberg II, 2). Berlin, Trowitzsch u. Sohn 1908.
Archiv f. Beligions-wisseaschaft XTV 39
h
610 Albert Werminghoff
nymus auf die späteriB eingewirkt hat, wie oft er in der Folge
als Kommentator der Psalmen, der Propheten usw. ange-
zogen, ausgeschrieben worden ist. Grützmacher ist weit ent-
fernt, jeden Kommentar für mustergültig zu erklären (vgl. z. B.
S. 22 über den Psalmenkommentar); indem er aber auf die
Art der Exegese des näheren eingeht, in ihr die historische
und tropologische oder allegorische nach Richtung und Um-
fang bestimmt, sowie ihre Quellen im einzelnen aufdeckt, blicken
wir hinein in die Werkstätte hieronymianischer Gedanken,
durch die nicht zuletzt griechisches und hebräisches Wissen
dem Abendlande vermittelt wurde. Besonders lehrreich er-
scheinen die Ausführungen über den Kommentar zur Apokalypse
und sein Verhältnis zu dem des Victorinus von Pettau, über
die Stellung des Hieronymus zum Chiliasmus, den er — anders
als seine ursprünglichen Führer — ablehnte: er spirituali-
ßierte die Hoffnungen auf ein tausendjähriges Reich Christi
auf Erden; an ihre Statt ist ja seit Konstantin dem Großen
die Kirche auf Erden zur Wirklichkeit geworden, und das blutige
Martyrium erscheint abgelöst durch das unblutige Martyrium
der Virginität (S. 235 ff,). Man erkennt, worin zuzweit
Grützmacher die Bedeutung des Hieronymus beschlossen sieht,
in der Verherrlichung des asketischen Lebens, in der Propa-
ganda für coenobitäre Ideen, die seine erbaulichen Sendschreiben
zu vielgelesenen Traktaten in der Hand des mittelalterlichen
Mönchtums gemacht haben. Dem Patriarchen des Mönchtums
gelten daher mehrere Abschnitte (S. 95 ff., 137 ff. und 240 ff.)
mit ausführlichen Inhaltsangaben jener Mahnbriefe, die durch
ihre Anschaulichkeit und ihren Reichtum an Schilderungen
aus dem wirklichen Leben die typischen Beschreibungen
der Askese und ihrer Vorzüge fast in den Hintergrund drängen:
sie werden dadurch zu wertvollen Quellen für die Kultur-
geschichte ihrer Entstehungszeit und lassen ihren Urheber
weniger unsympathisch erscheinen als den starren Eiferer für
die kirchlich gebundene Orthodoxie, mag gleich sein größtes
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 61 1
Verdienst, die Bibelübersetzung, allein genügen, um ilin unter
die Lehrer der Kirche einzureihen.
Längst haben wir erkannt, daß alle Periodisierungen der
Vergangenheit Notbehelfe sind, dem menschlichen Verstände
aber unentbehrliche Hilfsmittel, um durch sie das Nacheiuande r
der Ereignisse ordnend zu begreifen. Fließen nicht in Wirk-
lichkeit die von uns angesetzten Zeiträume unmerklich in-
einander über? Sind nicht Altertum und Mittelalter eben
durch das Band des religiösen Lebens, durch die Entfaltung
des christlichen Glaubens, seiner Kultur und Kirchenverfassung
aufs engste miteinander verknüpft? Selten sind uns diese
Tatsachen so deutlich, so handgreiflich entgegengetreten wie bei
der Lektüre des prächtig ausgestatteten Buches von H. Grisar
über die römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihren
Reliquienschatz, das von überraschenden Entdeckungen auf dem
Gebiete wie der kirchlichen Kunstübung so des Reliquienwesens
Kunde gibt.' Ihr Schauplatz ist die Palastkapelle der mittel-
alterlichen Päpste zu Rom in der Nähe der nur einmal
betretenen Scala santa. Ihre Ergebnisse bestehen aus zahl-
reichen Kunstgegenständen wie z. B. Kreuzen, Reliquiaren, Holz-
und Elfenbeinwerken, ferner Textilien mit bildlichen Darstel-
lungen, dazu einer stattlichen Zahl von Reliquien, deren Ur-
sprung und Gebrauch Grisar aufzudecken sich bemüht. Die
Frage nach ihrer Authentizität braucht hier nicht aufgerollt zu
werden, da sie uns als dem Gebiet des Glaubens angehörig un-
diskutierbar dünkt. Über sie hinaus ist es lehrreich zu beob-
achten, welcher Art die beschriebenen Reliquien sind, vor aUem
das Salvatorbild, d. h. jenes nicht von Menschenhand gemachte
Bildnis Jesu, dessen zum ersten Male in der Biographie des
Papstes Stephan II. (f 757) Erwähnung geschieht und dem
^ Die römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihr Schatz. Meine
Entdeckungen • und Studien in der Palastkapelle der mittelalterlichen
Päpste. Mit einer Abhandlung von M. Dreger über die figurierten
Seidenstoffe des Schatzes. Freiburg i. ßr., Herder 1908.
39*
612 Albert Werminghoff
seit Beginn des 9. Jahrhunderts göttliche Herkunft zuerkann
wurde. Auch ein goldenes Emailkreuz vielleicht aus der Zei
vor Papst Sergius (f 701) trat zutage, des weiteren eii
goldenes Gemmenkreuz, dessen Beschreibung Grisar veranlaßt
über die Reliquien des wahren Kreuzes und die Salbungen mi
Balsam, über die Geschichte der angeblichen Christu3reliqui(
des Gemmenkreuzes, das praeputium D.N.J.C, zu handeli
(S. 82ff. 89 ff.). Aus der Zahl der silbernen Reliquiare mögei
die der Sandalia D. N.J.C., der Häupter der Heiligen Agnes un(
Praxedes, ein altchristliches mit dem Bild der Verehrung dei
Kreuzes erwähnt sein, aus der Zahl ferner der Elfenbeinwerk(
eine Pyxis mit Szenen des Bacchuskultus (S. 120 ff.), währenc
unter den Gewändern des Schatzes solche mit Symbolen un(
Tierbildern möglicherweise des ostasiatischen Kulturkreisei
begegnen. Man mag bedauern, daß Grisar keine unbeding
vollständige Schilderung aller aufgedeckten Kunstgegenständi
usw. gegeben hat (vgl. S. 141) — , was er bietet ist wertvol
nicht zuletzt durch die ständigen Hinweise auf die erschließ
bare Geschichte des einzelnen Objektes in historischen un(
liturgischen Aufzeichnungen. Dadurch aber föllt Licht au
gottesdienstliche Bräuche, die freilich z. T. recht sehr an Bilder
dienst gemahnen (vgl. bes. S. 69 ff.). Auch wer die Urteile des Ver
fassers über diese Zeremonien nicht teilt, wird ihm für seine mühe
vollen Untersuchungen Dank wissen und es begreiflich finden
daß er in einem erläuternden Vorbericht zur Publikation voi
Ph. Lauer über denselben Schatz Stellung genommen hat.
Einen zeitlich und räumlich größeren Rahmen umspann
die Untersuchung von St. B eis sei über die Geschichte dei
Marien Verehrung in Deutschland während des Mittelalters, eii
Beitrag zur Religionswissenschaft und Kunstgeschichte, wie ihi
Verfasser sie nennt.^ Er hat seinen Stoff in 29 Kapitel ge
' Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während de
Mittelalters. Ein Beitrag zur ReligionewisBenschaft und Kunstgeschichte
Freiburg i. Br., Herder 1909.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 613
gliedert: ausgehend von den Grundlagen und Anfängen der
Marienverehrung in Deutschland und Frankreich (S. 4 ff.) richtet
er sein Augenmerk auf die Marienkirchen (S. 19ff. 132 ff. 430 ff.),
die marianischen Wallfahrtsorte und Wallfahrten (S. 143ff.
415 ff.), die Marienfeste des 9. Jahrhunderts (S. 42 ff.), die
marianische Literatur, Legende und Predigt (S. 57 ff. 90 ff.
4S9ff.\ auf Maria in den Offenbarungen des 12. bis 14. Jahr-
hunderts (S. 278 ff.), die Marienbüder (S. 71ff. 157 ff. 327 ff.
463 ff), Darstellungen ihres Lebens (S. 175 ff.), ihres Stamm-
baums und ihrer Jugend (S. 567 ff.), im verborgenen Leben
des Herrn (S. 593ff.), ihrer Freuden (S. 630ff.\ auf ihre Reliquien
(S. 292ff.), die Marienverehrung in den Orden, im Yolke
und in der Liturgie (S. 195 ff. 214ff. 251 ff. 266 ff. 304ff. 379ff.),
auf den Rosenkranz, seine Geheimnisse und Bruderschaften
(S. 228ff. 5llff. 540ff). Um eine Einsicht in den Inhalt des
Buches zu vermitteln, sind Abschnitte gleicher oder ähnlicher
Art hier zusammengefaßt: der Autor selbst hat sie — mit gutem
Recht — getrennt, da es ihm nicht auf eine Systematik und
Topologie der Marienverehrung ankam als vielmehr auf ihre
Geschichte, die in immer neuen Ansätzen neue Formen jenes
Kultus geschaffen hat. Die Vielgestaltigkeit dieser Formen
erweckt billig Erstaunen: welcher Weg doch von der Benennung
von Kirchen nach der Heiligen bis zu den Darstellungen der
Gottesmutter im verborgenen Leben des Herrn und ihrer Freuden,
auf der anderen Seite welche Intensität legendarischer Aus-
schmückung in Gebeten, Schriften, Gebräuchen, die doch keine
neuen Wesenszüge Marias enthüllen können! Immer wieder
setzen Erweiterungen, Ausdeutungen ein, und schließlich
empfängt der Leser den Eindruck, daß am Schluß des Mittel-
alters die Verehrung der Maria wohl kaum mehr gesteigert
werden konnte. Beissel hat sich in den Abschnitten über die
marianische Literatur (S. 57ff. 90 ff. 489 ff.) und über Maria
in den Offenbarungen des 12. bis 14. Jahrhunderts (S. 278ff.)
begnügt, jedes einzelne Zeugnis für sich sprechen zu lassen,
614 Albert WerminghofF
ein Verfahren, das im Interesse der freilich planmäßig nichl
angestrebten Vollständigkeit nützlich ist, das aber verhindert
die durchgängigen Anschauungen über die Heilige zu erkenner
und eine Art von literarischem Porträt der vielgenannten Frau
zu zeichnen. Hierin beruht offensichtlich ein Nachteil des
mit erstaunlichem Fleiß zusammengetragenen Buches; dem
wer sollte imstande sein, durch den Wald dieser Einzelzeugnisse
sich einen Weg zu ebenen, der die Aussichten eröffnete aui
die Verschiedenheiten solcher Prädikate, die der Maria im 10
bis 15. Jahrhundert beigelegt wurden? So macht die An-
lage des Werkes an sich selbst es unmöglich, die wirkliche
Geschichte der an Maria sich knüpfenden Vorstellungen zu
erfassen — , ein Glück nur, daß die spezifisch kunstgeschicht-
lichen Abschnitte über die Marienbilder usw. schärfer zu sondern
trachten und daß von künstlerischen Anregungen wiederum
die Literatur über Maria befruchtet erscheint. Aus jeder Zeile
des Werkes spricht der gläubige Katholik, der sich über die
Vielseitigkeit der Marienverehrung freut, in ihr eine Bestätigung
der kirchlichen Lehren über die Gottesmutter findet, während der
Andersgläubige in ihr die Wechsel vollen Ausgestaltungen ständig
wirkender Phantasie erblickt. Was aber ist ihr Ausgangspunkt?
Die Antwort des Verfassers müht sich darzutun, daß allein
die biblische Lehre, wie sie von Rom nach Deutschland ge-
drungen sei, die Grundlage der Marienverehrung gebildet habe;
er lehnt die Anschauungen von J. Grimm ab, der in ihr und
ihren Festen die Weiterwirkungen heidnischer Vorstellungen
erblicken wollte (bes. S. 57). Beissel hat hier zwei ver-
schiedenartige Dinge auf eine Stufe gestellt. Daß Maria zu-
nächst nur in der Bibel erwähnt war, bestreitet niemand; ihre
Verehrung aber hat sicherlich schon in Griechenland und
Italien Elemente des Kultus der Venus, Juno und Cybele in
sich aufgenommen, die dann um germanische Anschauungen
von Holda, Frouwa, den Nomen und Wallcüren vermehrt
wurden; mit anderen Worten, die Marienverehrung stellt sich
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 615
als eine Mischung von Anschauungskreisen dar. Der Ver-
fiasser ist sich selbst nicht getreu, wenn er einerseits die
Meinung Grimms als auf falschen Vorstellungen beruhend ab-
lehnt, sofort aber hinzufügt: „Manche Formen dieser Ver-
ehrung entsprechen freilich in vielen [vielem den?] altererbten
Anschauungen des deutschen Volkes. Diese sind dann „heidnisch",
insofern auch die Heiden die ganze menschliche Natur mit ihrem
tiefen Gefühl besaßen, nicht insofern man heidnisch als Ausdruck
der Abgötterei ansieht Aus der Tiefe des deutschen Gemütes
sproßte innige Liebe zur Müde, Güte, Schönheit und Macht
einer hehren Frau empor. Poetische Auffassung und freudige
Begrüßung stattlicher Bäume und uralter Haine, frischer, heil-
kräftiger Quellen sind allgemein menschlich, weder spezifisch
heidnisch noch christlich. Heidentum und Christentum haben
in sie gleichsam ihren Einfluß hineinverwebt" (S. 53). Beissel
verweist also auf eine Verbindung ursprünglich getrennter
Gedankenreihen, die den nicht beleidigt, der nicht wie der
Verfasser an der Göttlichkeit der Maria als Postulat festhält.
Er muß Maria mit einem Nimbus umkleiden, den ihr das Gemüt,
nicht der Verstand und die Wirklichkeit zubilligen kann. — Gleich
hier sei vermerkt, daß St. Beissel dem eben gewürdigten Werke
eine zweite, demselben Gegenstand gewidmete Arbeit hat folgen
lassen, deren Aufgabe es ist, die Geschichte der Verehrung
Marias im 16. und 17. Jahrhundert zu schildern.^ Fortgefallen
ist also hier die Beschränkung auf Deutschland, derart daß
nun der Verfasser das ganze Gebiet der katholischen Kirche
umspannt, um seine staunenswerte Belesenheit und die Aus-
dehnung seiner Studien deutlich erkennen zu lassen. Des ihm
zuströmenden StoÖes hat er versucht Herr zu werden durch
eine übersichtliche Gliederung, die hier wenigstens in ihren
Grundzügen angedeutet werden mag. Er geht aus von der
Erweiterung des „Gegrüßet seist du, Maria" (S. 5 ff.) und dem
' Geschichte der Verehrung Marias im 16. und 17. Jahrhundert.
Freiburg i. Br., Herder 1910.
616 Albert Werminghoff
Gebete „Der Engel des Herrn" (S. 16 ff.); länger beschäftigt
ihn Entwicklung und Ausgestaltung des Rosenkranzes und der
ihm gewidmeten Bruderschaften (S. 35ff. 54ff. 87 ff.). Er hat
von der Bekämpfung der Marienverehrung durch Protestanten
zu berichten (S. 100 ff.), nicht minder aber von immer zahl-
reicheren bildnerischen Darstellungen der Jungfrau durch
Maler und Bildhauer, die wie sie selbst so einzelne Teile ihres
Lebens und die ihr gewidmeten Texte geschildert haben (S. 117 ff.
176ff'. 196ff, 275ff 298ff. 333ff 376ff. 391ff). Einläßlich
wertet er das Fest der unbefleckten Empfängnis Maria und
die ihm gewidmeten Bilder (S. 217 ff. 242ff.), bis drei Abschnitte
über das heilige Haus zu Loreto (S. 423 ff.), marianische Litaneien
(S. 466 ff.) und Salveandachten (S. 494 ff.) das Ganze abschließen.
Wir stehen nicht an, Beissels Buch als eine reichhaltige Fund-
grube des verschiedenartigsten Materials zu bezeichnen; es
ohne Pause zu lesen wird man sich schwerer entschließen, da
das Interesse am breit ausgesponnenen Gegenstande leicht er-
lahmt, namentlich sobald der Standpunkt des Lesers ein
anderer ist als der des Verfassers. Immerhin sei hervor-
gehoben, daß durch die Ausbreitung der Quellenzeugnisse, durch
die vielen Illustrationen das Buch nicht nur für den Katho-
liken, namentlich den Seelsorgegeistlichen von Wert ist, sondern
auch für den Protestanten, dem hier eine Fülle neuer Kennt-
nisse sich erschließt. In dieser Hinsicht sei nicht zuletzt der
Abschnitt über das heilige Haus zu Loreto namhaft gemacht
(S. 423 ff.), der zugleich ein Verzeichnis der Loretokapellen
enthält; nicht minder freilich bleibt die Art bezeichnend, mit
der Beissel den Einwänden begegnet, die gegen die Echtheit
jenes Hauses, gegen seine Übertragung nach Loreto und die
dorthin gerichteten Pilgerfahrten erhoben wurden. Deutlich
wird gerade hier der Gegensatz der Anschauungen, die keine
Brücke zu vereinigen imstande ist.^
■ Das Werk von A. Franz Die kirchlichen Bcnedilctionen im
Mittelalter I. II. Freiburg i. Br., Herder 1909 ging uns erst nach Abschloß
Xeuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 617
In die Zeit der Bekelirung der Germanen zum Christen-
tum einen größeren Leserkreis einzuführen, ist das Ziel der
Monographie von G. Schnürer, die den heiligen Bonifatius
zum Mittelpunkt hat.* Leben und Charakter des Apostels der
Deutschen aufs neue zu schildern mag nach A. Haucks
Kirchengeschichte Deutschlands (I) als ein Wagnis erscheinen,
aber es sei alsbald angemerkt, daß der Verfasser es verstanden
hat, in das Wesen seines Helden sich liebevoll zu versenken
und sein Wirken in den welthistorischen Zusammenhang der
Dinge einzugliedern. Zugute kommt ihm die Verwertung der
jüngsten Ausgabe der Vitae s. Bonifatii durch W. Levison,
dazu mancher neueren Untersuchung, wie er dann mit gutem
Grund das Jahr 754 als das des Märtyrertodes von Bonifaz
beibehalten hat. Die Würdigung des angelsächsischen Missionars
und römischen Legaten erhebt sich auf dem Hintergrunde einer
solchen der Benediktinerregel ^ und der Bekehrung seines Heimat-
volkes zum Christentum. Sie begleitet die Wirksamkeit des
Bonifaz in ihren verschiedenen Phasen, um bei jeder zugleich der
Beziehungen zum Papsttum und zur fränkischen Reichsgewalt' zu
gedenken. Sie mündet aus in eine Charakteristik Bonifazens
als des Trägers deutscher Art. Unserer Meinung nach fehlt
eins, die zusammenfassende Darlegung der religiösen Höhenlage
der germanischen Stämme bei ihrer Bekehrung, insonderheit
der ostrheinischen Deutschen im 8. Jahrhundert : die Einzelzüse
des Heidentums, das Bonifaz bekämpfte, sind über das ganze
Buch hin zerstreut, und so dankenswert die Mitteilung bezeich-
des Manuskripts zu: seine Anzeige wird im folgenden Bericht nachzu-
holen sein.
^ Die Bekehrung der Deutschen zum Christentum. Bonifatius.
Mainz, Kirchheim & Co. 1909, als Bestandteil der „Weltgeschichte
in Charakterbildern" heraueg. von F. Kampers.
- Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die tcirtschaftstheoretischen Anschau-
ungen der Regxda s. Benedicti in den Historischen Aufsätzen K. Zeumer
dargebracht (Weimar, H. Böhlaus Nachf. 1910), S. 31 ff.
618 Albert Werminglioff
nender Quellenstellen über die Art der Mission ist (z. B. S. 41 f.) \
ebenso wünschenswert wäre es gewesen, daß Schnürer an der
Hand der Epistolae Bonifatii versucht hätte, Angaben über
heidnische Bräuche und Vorstellungen einmal zu vereinigen.
Die Motivierung der Christianisierung scheint zuweilen weiter-
zugehen als unsere Quellen es erlauben (vgl. z. B. S. 7), während
anderwärts die Wiedergabe bezeichnender Einzelberichte z. B.
aus Beda (S. 15 f.) sehr passend in den Text verwoben ist.
Das Urteil des Verfassers über die Gegner seines Helden ist
stets gerecht, so z. B. über die Schwärmereien der im Jahre
745 verurteilten Aldebert und Clemens, für deren eigentümliche
Lehre von der Wunderkraft abgeschnittener Haare und Nägel
L. Deubner auf eigenartige Parallelen aus dem Altertum ver-
weisen konnte, wie auch ihre Himmelsbriefe hier erwähnt sein
mögen. ^ Weitere Einzelheiten sollen hier nicht zur Sprache
kommen: genug, daß Schnürers neue Arbeit ebenbürtig seiner
früheren über den hl. Franz von Assisi sich anreiht, ohne zu
einer schlechthin epideiktischen Preisrede über Bonifaz zu
werden, nachdem ältere Heißsporne gerade in der Verzerrung
seines Bildes unentschuldbare Blößen gezeigt hatten.
Als Historiker hat Schnürer es verschmäht, von Wundern
seines Helden zu berichten: er steht seiner Aufgabe anders
gegenüber als der Verfasser einer Heiligenbiographie des Mittel-
alters — , wir beobachten die Säkularisation der Historie im
Sinne von R. Fester. Wie aber suchte ein mittelalterlicher
Autor seine Aufgabe zu lösen? Die Antwort auf diese Frage
zu geben unternimmt das Buch von L. Zopf, eine erfreuliche
Bereicherung unserer Kenntnis nicht allein der Hagiographie,
' Vgl. dazu W.Konen Die Heidenpredigt in der Germanenbekehrung.
Bonner Diss. Düsseldorf, Ohligschlager 1910.
* Vgl. dazu Mon. Germ. Concilia II, S. 41 Anm. 1 und S. 1010,
wo zu den dort angeführten Hinweisen von L. Deubner noch der weitere
desselben Gelehrten auf Grass Die rtissischen Sekten II, 1 S. 213 hin-
zugefügt werden mag.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 619
sondern auch der geistigen Voraussetzungen, aus denen heraus
jene Literaturgattung erwuchs und ihre Richtung empfing.^
Man kennt die neuen Arbeiten von Delehaye und Günter; in
ihren Kreis gehört die vorliegende Schrift, die ihren Stoff in
zehn Abschnitte gliedert : ausgehend von Grund und Zweck
des Heiligenlebens behandelt sie die Heiligen-Legende, die
Heiligen- Vita und die Heiligen-Biographie; sie lehrt die
Heiligenleben des 10. Jahrhunderts als einen Spiegel der Zeit-
ideen erkennen, um daran Betrachtungen über seine Bezie-
hungen zwischen der Vergangenheit und Zukunft, über seine Be-
deutung als einer geschichtlichen Quelle zu knüpfen. Die
Anschauungen vom Jenseits, die Wunder in den Heiligenleben
werden erörtert, nicht minder der Heiligenkultus, das Natur-
gefühl, die Darstellungen und das Novellenartige in ihnen.
Aus allem mag man den planmäßigen Aufbau erkennen, der
das Ganze erfüllt und trägt. Von den Abschnitten fesseln wohl
am meisten der siebente und achte, d. h. die i\ber die An-
schauungen vom Jenseits und die Wunder. In jenem werden
u. a. auch die Visionäre gewürdigt, allerdings in etwas starker
Einschränkung auf das 10. Jahrhundert; gerne hätte man hier
Anknüpfungen an die ältere und spätere Literatur der Visionen
und ihre Motive gesehen. Im zweitgenannten Kapitel ist die
Zusammenstellung der Wunder von Interesse. Zopf gruppiert
sie nach ihren Motiven, zählt Bau-, Quellen-, Vermehrungs-,
Bequemlichkeits- und Verklärungswunder auf und beobachtet
das Wandern der Motive wie auch das Verhalten der Heilioren
bei der Wunderausübung. Wohl muß er bekennen, daß die
Hagiographie des 10. Jahrhunderts auf dem Gebiete des Wunders
nichts Selbständiges geschaffen hat, daß die Wunder neben dem
^ Das Heiligenleben im 10. Jahrhundert (a. u. d. T.: Beiträge zur
Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance herauag. von
W. Goetz. Heft 1). Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1908; vgl. dazu
0. Holder- Egger: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde XXXIV (1909), S. 240 f.
620 Albert Werminglioff
nicht abzulehnenden Einfluß der Volkssage dem Vorbild bib-
lischer Erzählungen ihre Entstehung verdanken und daß ihre
Motive durchweg innerhalb der Grenzen des Typischen sich
bewegen. Aber gerade daß er sie zusammenstellte ist nützlich;
denn auf solche Weise wird der Vergleich mit ähnlichen Be-
richten aus älterer und jüngerer Zeit erleichtert; die Kontinui-
tät des Wunderglaubens als einer Außerungsform religiösen
Geisteslebens tritt greifbar zutage. Wie groß die Zahl der
untersuchten Heiligenleben ist, lehrt die Tabelle am Schluß
des Buches erkennen, dessen Fleiß gern hervorgehoben sei.
Wohl ist seine Beschränkung auf das 10. Jahrhundert getadelt
und vom Verfasser überdies gefordert worden, daß er eine Ver-
gleichung seiner Materialien mit denen des 9. Jahrhunderts
vorgenommen hätte — , hieße solches aber nicht von einer
Erstlingsschrift allzuviel verlangen? Wenn alle ersten Ar-
beiten jüngerer Forscher solche Reife zeigten wie die vorliegende,
dann erlebten wir in der Tat einmal ein Wunder, dessen Motiv
wenigstens noch neu wäre.^
In Kürze sei der Studien zur Lebensgeschichte einzelner
Persönlichkeiten des 11. Jahrhunderts und seiner Nachfolger
gedacht. J. Drehmann legt die Stellung dar, die Papst
Leo IX. (f 1054) zur Frage der Simonie einnahm, d. h. jener
bekannten, oft übertrieben geschilderten Mißbräuche bei der
Besetzung kirchlicher Ämter durch Laien und Kleriker, als
deren iJQag incbvv^og der in der Apostelgeschichte genannte
^ Verwiesen sei hier auf den anregenden Aufsatz von E. A.
Stückelberg über Heiligengeographie mit zwei Tafeln, die einmal die
Ausbreitung des Galluskultus über die Schweiz, sodann die des Thebäer-
kultus von Solothurn aus veranschaulichen: Archiv für Kulturgeschichte
herausg. von G. Steinhausen VIII (1910), S. 42 ff. Genannt sei auch die
Schrift desselben Verfassers über Die Katakonibenheiligen in der
Schweiz mit ihrem Verzeichnis derjenigen ursprünglich in römischen
Katakomben beigesetzten Reliquien von Heiligen, die seit dem 17. Jahr-
hundert vornehmlich durch die Schweizergarde in die Schweiz gebracht,
hier feierlich beigesetzt und der Verehrung zugänglich gemacht wurden
(Kempten und München, J. Kösel 1907).
Neaerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 621
Simon angesehen wurde. ^ — Mit der rätselvollen Persönlichkeit
und den zahlreichen Schriften des Honorius Augustodunensis
befaßt sich J. A. Endres, oft in glücklicher Polemik gegen
J. von Kelle, der mehrere unter dem Namen des Honorius gehende
Traktate von anderen anonymen Autoren verfaßt wissen wollte.^
Allerdings auch Honorius scheint ein Deckname zu sein für
einen um die Mitte des 12. Jahrhunderts lebenden Schotten-
klausner beim Kloster St. Jakob in Regensburg. Im ganzen
38 Werke verschiedenartigsten Inhalts soll er zusammengestellt
haben, zumeist also Kompilationen, deren Zweck es war, die
Ansichten älterer Autoren zu popularisieren. Von ihnen ins-
gesamt seien hier nur erwähnt das Eucharistion und die Scala
coeli maior mit ihrem Mystizismus, die Imago mundi mit ihren
Beziehungen zur Legende vom Kreuzesholz Christi, die Expo-
sitio in cantica canticorum mit solchen zur Symbolik und
kirchlichen Kunst, bezeichnenderweise gerade in Regensburg
(s. auch S. 126 ff.). Der Aufzählung der Traktate läßt Endres
eine gründliche Würdigung ihres Autors als Philosophen und
Theologen folgen; besonders erwähnt sei die Darlegung über
des Honorius Lehre vom Engelsturz, vom Hinabsteigen Christi
in die Unterwelt, von Christi Himmelfahrt und von den letzten
Endzuständen der Menschen, vom Übergang des Körperlichen
ins Geistige, des Geistigen in Gott (s. bes. S. 114 ff. und
S. 150 ff.). Ein Anhang bringt eine Auswahl von Texten, unter
denen die zweier Traktate (Quaestio utrum monachis liceat
praedicare; Quod monachis liceat praedicare) hervorgehoben
seien. — Ph. Funk geht dem Leben und den Werken Jakobs
von Vitry (f 1241) nach, jenes Kanonikers und Predigers im
belgischen Oignies, der ums Jahr 1214 zum Bischof von Akkon
' Papst Leo IX. und die Simonie. Ein Beitrag zur Untersuchung
der Vorgeschichte des Investiturstreites (a. u. d. T.: Beiträge znr Kultur-
geschichte des Mittelalters und der Renaissance heransg. von W. Goetz
Heft 2). Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1908.
* Honorius Augustodunensis. Beitrag zur Geschichte des geistigen
Lebens im 12. Jahrhundert. Kempten und Mönchen, J. Kösel 1906.
622 Albert Werminghoff
gewählt und 1229 zum Kardinalbiscliof von Tusculum kreiert
wurde, um in Briefen, Geschichtswerken und Predigten dar-
zutun, daß er mehr als Theologe denn als Kirchenfürst ge-
wertet werden will.^ Mögen seine Ansichten gleich traditionell
und scholastisch sein, lehrreich ist unter seinen Schriften nicht
zuletzt die Biographie der Beghine Maria von Oignies (f 1213).
Jakob war ihr Beichtvater gewesen, als ihr Biograph aber steht
er bei aller Anlehnung an das überlieferte Schema am Be-
ginn eines mystischen Vitenstils mit seinen beiden wesenhaften
Zügen, einmal dem hesychastischen Charakter, dem Losgelöst-
sein von Sinnlichkeit, Welt und Zeit, sodann dem kontem-
plativen Aufstieg zu Gott vermittels der Erlebnisse einer reli-
giösen Phantasie und eines frommen Empfindens. Auch in
der Geschichte der Predigt nimmt Jakob von Vitry seinen
eigenen Platz ein dank der in seine Schriften homiletischen
Charakters eingestreuten Beispiele aus der Tierfabel und aus
dem täglichen Leben, die freilich oft an Komik und derbe
Burleske streifen — man denkt an die Erzählungen bei dem
zeitgenössischen Historiker Salimbene da Parma — , obwohl
hierbei wiederum das Wesen Jakobs in eigenartigem, nicht
restlos erklärbarem Zwiespalt erscheint. Funk hat sich be-
müht, seinen Charakter zu verdeutlichen, jedenfalls ihn ge-
rechter und — im allgemeinen — richtiger zu werten, als es
durch W. Preger geschehen war. — Wenn Jakob von Vitry
in seinen Werken auch des hl. Franz von Assisi gedacht hat,
so mag passend sich hier ein Hinweis auf die Studie von
J. Merkt anreihen, die mit dem Wunder der Stigmatisation
Franzens sich beschäftigt.^ Der Verfasser kann auf eine statt-
* Jakob von Vitry. Leben und Werke (a. u. d. T.: Beiträge zur
Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance herausg. von
W. Goetz. Heft 3). Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1909.
* Die Wundmale des heiligen Franziskus von Assisi (a. u. d. T. : Bei-
träge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance herausg.
von W. Goetz. Heift 6). Leipzig und Berlin, B. G. Teubner 1910; vgl.
auch Historische Zeitschrift 106 (191i;, S. 195 f. 654.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 623
liehe Reihe von Vorgängern zurückblicken — unter ihnen
auf K. Hase und K. Hampe — , was aber ihn begünstigt, ist
die ausgebreitete Belesenheit nicht zuletzt in neuerer medi-
zinischer Literatur über ähnliche Erscheinungen, die es er-
möglicht* die Entstehung jener Wundmale zu deuten. Merkt
erklärt sie letzthin als die Folge einer Autosuggestion, die um
so wirksamer sein mußte, weil der durch Askese und Siechtum
geschwächte Körper des Heiligen ihren Einflüssen unterlag
einer Autosuggestion zugleich im Zustand der Ekstase, die dem
jahrelangen Streben und Sehnen nach persönlichem Erleben
der Leiden Christi Erfüllung brachte. Nicht als wäre in diesem
Ergebnis allein der Inhalt der gewandten Schrift beschlossen:
hervorgehoben sei auch die Kritik der sorgfältig zusammen-
getragenen Quellenberichte, die Ansetzung der Stigmatisation
kurz vor den Tod ihres Trägers und endlich der Versuch ihr
Aussehen zu schildern. Ob der Verfasser allgemeine Zustim-
mung finden wird? — Dem Biographen des Heiligen von Assisi,
dem Ordensgeneral Bonaventura, der im Jahre 1274 als Kar-
dinalbischof von Ostia starb, ist die Schrift von H. Lemmens
gewidmet.^ Ihre Würdigung wird zu berücksichtigen haben,
daß sie als eine Festschrift zum 700jährigen Jubiläum des
Franziskanerordens sich darstellt, als dessen Epoche ihr jener
Tag erscheint, da „Franziskus in der Portiunculakapelle bei
Assisi seine Aufgabe erkannte und Hand an ihre Ausführung
legte". Bonaventuras Generalat ist dem Verfasser „das Ideal
und ein Spiegel für die folgenden Zeiten", er selbst „dem
neuen Jahrhundert Führer und Berater". Man hat es mit einer
Lobrede zu tun, die allzusehr die an sich nicht tadelnswerte
Begeisterung für Bonaventura hervorkehrt, überall und stets
ihn lobt, nur Gutes von ihm zu berichten weiß, mag es sich
handeln um den Lehrer der hl. Schrift, um den Autor über
Askese und den Ordensstifter, um den Prediger, Ordensgeneral
' Der hl. Bonaventura, Kardinal und Kirchenlehrer ans dem
Franziskanerorden 1221 — 1274. Kempten und München, J. Kösel 1909.
624 Albert Werminghoff
und Kardinalbischof. Immerhin wird man das Bucli nicht
gänzlich ohne Ertrag lesen, zumal an den Stellen, die aus
Bonaventuras Deutungen der Bibel, asketischen wie mystischen
Traktaten und Predigten Auszüge bringen, nur daß schärfer,
als es durch Lemmens geschieht, seine Ansichten von der
Yernunftgemäßheit der Kirchenlehre und der Theologie als
des Abschlusses aller Wissenschaften und sein Realismus hätten
betont werden können. Der Verfasser ist geneigt, Bonaventuras
Bedeutung recht zu überschätzen; es klingt doch gelinde ge-
sagt wie Überhebung, wenn S. 23 f. im Zusammenhang mit
allgemeinen Betrachtungen folgende Sätze begegnen: „Die
christlichen Denker nahmen mit Dank die Ergebnisse des
menschlichen Forschens, die Formen und Begriffe der er-
probten Lehrer Griechenlands entgegen. Was diese über Gott
und die Welt, über die Seele und ihr Ziel Gutes und Wahres
gelehrt, erkannten sie an; mit den geoffenbarten Wahrheiten
läuterten und entwickelten sie es und brachten es zu all-
gemeiner Bedeutung. Das Christentum bedurfte ihrer Arbeiten
nicht. Hätten Plato und Aristoteles nicht gelebt und gelehrt,
so würden die christlichen Denker den Glaubensinhalt der
Heilslehre auch ohne diese Hilfe entwickelt haben." Nicht nur
hier sind große Fragezeichen am Platz; auch S. 12 mutet
der Satz: „Adelig (nobilis) hieß im Mittelalter auch der,
welcher an einer Hochschule seine Bildung erhalten" zumal
denjenigen eigentümlich an, der von der Bedeutung der Ge-
burtsstände im Gesamtgefüge der Kirche Kenntnis hat. Dem
Kapitel endlich über Bonaventura als Ordensgeneral fehlt es
nicht am Willen, die Streitigkeiten zwischen Konventualen
und Observanten klar zu legen, Bonaventuras gemäßigte
Richtung deutlich herauszuarbeiten, gerade seine Wirksamkeit
aber für die Weiterbildung der Ordensverfassung wird nicht
BO systematisch entwickelt, wie es die Beschlüsse der von ihm
veranstalteten Generalkapitel und seine Sorge für die Liturgie
der klösterlichen Gottesdienste nahegelegt hätten. Daß die
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 625
Schriften über den Orden (De perfectione evangelica, Apologia
pauperum u. a. m.) ausführlich behandelt werden (S. 11 2 ff.), ist
dankenswert, gern aber hätte man die Frage beantwortet ge-
sehen, ob und wie weit bei Bonaventura Praxis und Theorie
sich deckten. Lemmens hebt deutlich hervor, daß der Stand-
punkt und das Verdienst des Ordensgenerals (seit 1257)
in der Unterscheidung beruhe zwischen den unverbindlichen
Idealen und Taten des Stifters einerseits und der in der
Ordensregel festgelegten Pflicht andererseits; lag hierin aber
nicht ein Fingerzeig dafür, daß ein tieferes Eindringen in
Bonaventuras Verwaltung noch mehr geboten hätte? Daß
Lemmens in dem letzten Abschnitt über Bonaventura als
Kardinal und Mitglied des 2. allgemeinen Konzils zu Lyon
(1274) auf knappe Schilderung des Wichtigen sich be-
schränkte, ist nur zu billigen; doch dies Kapitel allein
hindert nicht die Bemerkung, daß seine Schrift im ganzen
eher als eine Vorarbeit denn als eine abschließende Bio-
graphie gelten darf.
Nur erwähnt sei das Buch von E. Hasse über Dante, da
sein wesentlich erbaulicher Charakter sich der Würdigung an
dieser Stelle entzieht;^ ist es doch das Ziel der Verfasserin,
,.in einer Auslegung des Gedichts das örtlich und zeitlich Be-
schränkte, die politisch-reformatorische und kirchenreforma-
torische Bedeutung zurücktreten zu lassen vor der ethisch-
religiösen Bedeutung, die es für den Dichter selbst und heute
noch für uns besitzt." Eben in das Zeitalter Dantes aber fällt
der Beginn der Blütezeit deutscher Mystik, die ihrerseits von
Männern wie Meister Eckehart, Johann Tauler, Heinrich Seuse
u. a. m. getragen wird. Bei ihrer weittragenden Wichtigkeit
war es dankenswert, daß P. Mehlhorn die Grundgedanken
jener religiösen Anschauungswelt einem weiteren Leserkreis
^ Dantes Göttliche Komödie. Das Epos Tom inneren Menschen.
Kempten und München, J. Kösel 1909; vgl. dazu K. Voßler: Deutsche
Literaturzeitung 1910 n. 10 Sp. 615f.
Archiv f. Keligionswisaenschaft XIV 40
626 Albert Werminghoff
nahe zu bringen versucht hat.^ In gedrängter Kürze schildert
die Einleitung das Aufkommen und die Bedeutung der
Mystik seit dem Altertum, ihren Weg über Paulus, Plotin
und Augustin, ihre Verpflanzung ins Abendland durch die
Schriften des Dionysius Areopagita, ihr Neuaufleben im
12. Jahrhundert, seit dem ihr Einklang, ebenso aber auch ihr
Widerspruch zu den herrschenden kirchlichen Lehren immer
deutlicher zutage trat. Das 13. Jahrhundert schuf ihr die
Möglichkeit weiterer Entfaltung, der Ausbreitung durch Ge-
sichte, Offenbarungen und Predigten, und Meister Eckehart ist
der erste, dessen Ideen Mehlhorn in Auszügen aus seinen
Schriften vergegenwärtigt; desgleichen werden Johann Tauler,
Heinrich Seuse und Johann von Reuysbroeck besprochen, zu-
letzt das „Büchlein vom vollkommenen Leben" oder, wie Luther
es nannte, die „Tüeologia deutsch".^ Mit den Exzerpten ver-
binden sich kurze Lebensbeschreibungen und im Anhang aus-
reichende Literaturnachweise, sodaß die Schrift nicht zuletzt
um ihrer vornehmen, volkstümlichen Darstellung willen im
Leser das Gefühl weckt, in ihr einer guten Führung sich an-
vertraut zu haben. Bezeichnend ist aber auch, daß in gleicher
Weise von katholischer Seite das Andenken an die Mystik des
Mittelalters erneuert wird. Vor uns liegt ein kleiner Band,
seinem Titel nach der erste einer größeren Reihe, die den
deutschen Mystikern eingeräumt werden soll, dem Inhalt nach
' Die Blütezeit der deutschen Mystik (a. u. d. T.: Religionsgeschicht-
liche Volksbücher IV, 6). Tübingen, J. C. ß. Mohr 1907.
* Noch nicht benutzen konnte Mehlhorn die Ausgabe dieser Schrift
durch H. Mandel mit ihrer ausführlichen Einleitung (Luthers Ausgabe
und Beurteilung ; weitere Ausgaben ; Entstehung der Theologia deutsch ;
ihr Gedankengang; ihre Beurteilung in der Geschichte; ihre Bedeutung).
Der Text ist begleitet von erläuternden Anmerkungen ; ihm folgen die
Varianten der Ausgabe Pfeiffers, die in einer frfeilich die Lektüre
nur erschwerenden Weise den Schluß des Heftes bilden (Theologia
deutsch; a. u. d. T.: Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus
herausg. von J. Kunze und C. Stange. Heft 7. Leipzig, A. Deichert,
[G. Böhme] 1908).
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 627
eine Auswahl von Übersetzungen aus dem Schriftenzyklus, dem
sog. Exemplar des Heinrich Sense (f 1366), die W. 0 hl mit
Geschick hergestellt hat. ^ Natürlich kann er mehr bringen
als Mehlhorn, aber die Bücher beider werden sicherlich neben-
einander ihren Platz behaupten, das eine dank der umfang-
reichen Exzerpte, das andere dank der gedrängten Wiedergabe
der leitenden Ideen des Dominikaners, die freilich Mehlhorn
nüchterner beurteilt als 0hl, der mehrfach sich auf J. Görres
beruft — , ein Hinweis auf Zusammenhänge geistiger Art, den
man leicht bis in die Gegenwart ausdehnen könnte; irren wir
nicht, so haben wir in den Lehren neuerer Konventikel wie
z. B. der Quäker ein Symptom der alten, in stets sich ver-
jüngenden Außerungsformen auftretenden Mystik zu erkennen.
Man hat von einer zweiten Richtimg der mittelalterlichen
Mystik gesprochen, deren Absicht es gewesen sei, den einfachen
Bedürfnissen des Herzens und des Volkes zu dienen. Aus
ihr erwuchs das vielumstrittene Buch „Von der Nachahmung
Christi", dessen Autor Thomas von Kempen (f 1471) auch
der eines zweiten Traktats Meditationes de incarnatione Cliristi
gewesen sein soll. Ohne auf die kritischen Fragen einzugehen
hat ihn R. Heinrichs neu herausgegeben,' freilich in aus-
schließlicher Beschränkung auf den Text, dessen Betrachtungen
auf Bibel- und Kirchenväterstellen aufgebaut sind; es ist
bezeichnend, daß im letzten Kapitel keine Bezugnahme auf die
Lehre der imtnacidata conceptio Mariae entgegentritt, die im
Jahre 1439 von dem freilich damals papstfeindlichen Basler
Konzil (36. Sitzung) als fromme Doktrin verkündet worden
war. Wenig jünger als das Buch des Thomas von Kempen
ist der erste Druck des Speculum humane salvationis, dessen
' Deutsche Mystiker I: Sense. Kempten uud München, J. Kösell910
(Bestandteil der Sammlung Kösel).
* Thomae a Kempis Meditationes de incarnatione Christi una cum
exhortatione Pii P. P. X. ad clemm catholicum de die 4. Augusti 1908.
Dulmaniae [= Dülmen], A. Laumann 1909.
40*
628 Albert Werminglioff
Verfasser aber, wie P. Perdrizet zu erweisen versucht/ der
oberdeutsche Dominikaner, dann Kartäuser Laudolphus Saxo
(um 1324) war. Behandelt werden in gründlichen Ausführungen
zugleich Plan und Zweck des Poems, seine Quellen, darunter
die Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus und
jüngere Paradoxographien des Mittelalters; es ist lehrreich zu
beobachten, wie im Speculum die Geschichte des Kodrus
verwandt wird als eine Hinweisung auf Christus, wie die Vor-
stellung von dem für Schlangen unerträglichen Geruch der
Cypresse umgedeutet wird auf Maria und ihr Vermögen, die
böse Begier der Beschauer abzuwehren (vgl. die Parallelen
S. 94 ff.). Nützlich sind auch die Ausführungen über den
typologischen Symbolismus vor dem Speculum, die ihm ver-
wandten religiösen Bilderbücher und seinen Einfluß auf die
Kunst. — In die letzten Jahrzehnte des Mittelalters fällt der
Erlaß der berüchtigten Bulle Innocenz' VIII. (f 1492) vom
Jahre 1484 mit ihrer Festlegung des Hexenwahns, fällt die
Entstehung des Hexenhammers von Jakob Sprenger und Hein-
rich Institoris (1487). Wie häufig gleich beide Machwerke,
ihre Ursachen und Folgen behandelt sind, J. Fran9ais
glaubte ihrer erneuten Untersuchung sich nicht entschlagen
zu sollen, da ihm die Geschichte des Hexenwahns als die
einer psychopathischen Epidemie und als das Symptom des
anti wissenschaftlichen Kampfes der Kirche erschien.^ Allerdings
^ Etüde sur le Speculum humane salvationis. Paris, H. Champion 1908 ;
vgl. dazu 0. Giemen: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1909, S. 123 ff.
* L'eglise et la sorcellerie. Paris, E. Murry 1910 (Bestandteil der
Bibliotheque de critique religieuse); s. auch R. Ohle Der Hexemvahn
(a. XI. d. T. : Religionsgeschichtliche Volksbücher IV, 8). Tübingen, J. C.
B. Mohr 1908. — Wir notieren hier auch die fleißige Biographie der
schweizerischen Landeskunde von F. Heinemann, deren zweites Heft
die Literatur enthält über folgende Themen: Inquisition, Intoleranz,
Exkommunikation, Interdikt, Index, Zensur, Sektenwesen, Hexenwahn
und Hexenprozesse (S. 280—318). Rechtsanschauungen (Bibliographie der
schweizeritichen Landeskunde, Faszikel V ö. Heft II der Kulturgeschichte
und Volkskunde [Folklore] der Schweiz. Bern, K J. Wyss 1908 f).
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschicht« 629
hatte sie bis ins 14. Jahrhundert hinein den Aberglauben be-
fehdet,^ seitdem aber ihm sich anbequemt, um ihn zur kirch-
lichen Lehre zu erheben. Der Verfasser schildert die Folgen
dieses Wahns in geographischer Anordnung der nur allzu
zahlreichen Beispiele vornehmlich aus Frankreich, ohne des-
halb die aus Deutschland, Polen usw. zu übergehen. Sein
Schlußkapitel über die Verantwortung der Kirche an jenen
Scheußlichkeiten endet mit den Worten: „Heute noch glaubt
der katholische Theologe an dieselben teuflischen Kräfte wie
sein Vorgänger im 16, Jahrhundert; er glaubt an den Vertrag
mit dem Teufel, sein Incubat, Succubat und alle Missetaten
der Zauberei. Die einzige Wandlung, die sich dank der Natur-
wissenschaft und dem modernen Geist vollzog, ist: seine Hände
sind gebunden; bleibt er vom Teufel verfolgt, so ist er doch
nicht mehr der Verfolger der Menschen." Man hat es also
letzthin mit einer polemischen Schrift zu tun, wie ja jede
Behandlung des Themas zu einer Anklage wird. Wesentlich
neue Gesichtspunkte treten kaum entgegen, zumal die Arbeiten
von Lea. Riezler und Hansen das Material bereits nach ver-
schiedenen Richtungen hin durchsucht haben. Immerhin mag
des Anhangs gedacht sein, der mit der Übersetzung z. B. der
Bulle von 1484 den Abdruck eines französischen Hexenprozesses
aus dem Jahre 1652 verbindet. Um auch unsererseits ein
weniger bekanntes Zeugnis beizusteuern, das für die Vorzeit
des Hexenwahns lehrreich ist, verweisen wir auf das Edikt des
Langobardenkönigs Rothari vom Jahre 643: Ifidlus presumat
Jialdiam alienam aut ancillam quasi strigayn, quem dicunt mas-
sam, occidere; quod Christianis mentibus nulUxtenus credendum est
nee possihiJem, ut midier hominem vi tum intrinsecus possit comedere.^
* Ygl. die Äußerung des Thomas Ton Aquino, die J. J. Baumann
in seiner Schrift Die Staatslehre des h. Thomas von Äquino. Ein Nach-
trag und zugleich ein Beitrag zur Wertschätzung mittelalterlicher Wissen-
schaft (Leipzig, S. Hirzel 1909), S. 97 f. anführt.
* Cap. 376; Mon. Genn. Leges IT, p. 37; vgl. dazu die Lex Salica
tit. 67 § 3 (Walter, Corpus iuris Germanici antiqui I, p. 86) und Mon.
Germ. Capitularia I, p. 68 c. 6, p. 223 c. 30.
630 Albert Werminghoff
Wesentlicli kürzer muß unsere Übersicht über die Er-
scheinungen zur Geschichte des religiösen und kirchlichen
Lebens seit der Reformation sich gestalten. Wir stehen
mitten inne im Kampfe der Konfessionen und Kirchen, im Streite
der Meinungen um die Persönlichkeiten der Reformatoren, und
wenn endlich einige Bücher zu Fragen der unmittelbarsten
Gegenwart Stellung nehmen, so werden wir sie allein notieren
dürfen, ohne für oder gegen ihre Forderungen Partei zu ergreifen.
Leider hat das Buch von M. Jansen über Maximilian I.
auf eine breite Darlegung der religiösen Zustände in Deutsch-
land um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts Verzicht
geleistet, da diese von einem anderen Gelehrten innerhalb der-
selben Sammlung „Weltgeschichte in Charakterbildern" ge-
bracht werden soll. Immerhin hat der Verfasser die Erschei-
nungen des kirchlichen Lebens gestreift, ohne zu verschweigen,
daß sie ebenso eine Reform forderten wie die Verfassung des
Reiches.^ Wie natürlich ziehen Leben, Schriften und Lehre
Martin Luthers stets aufs neue das Augenmerk auf sich.
Zeugnis dessen sind einmal die beiden stattlichen Bände mit
der Vorlesung Luthers über den Römer brief (1515 auf 1516),
in denen der unermüdliche Eifer J. Fickers das in der Ber-
liner Bibliothek aufbewahrte, seltsamerweise gänzlich unbe-
achtet gebliebene Originalmanuskript des Reformators wieder-
gegeben hat.^ Ihre Bedeutung für die Erkenntnis u. a. des
' Auflösung des Iteiches. Neues Kulturleben. Kaiser Maximilian 1.
München, Kirchheim 1905. Angemerkt sei hier auch das dreibändige,
überaus breit angelegte Werk von J. Thomas Le concordat de 1516.
Les origines et son histoire au XVIe siöcle. Paris, A. Picard 1910, das
mit seiner Schilderung der Abmachungen zwischen König Franz I. von
Frankreich und Papst Leo X. die Arbeit von M. Valois (Histoire de la
pragmatique sanction sous Charles VII. Paris, A. Picard 1906) fortsetzt;
Tgl. zur Pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) jetzt J. Haller:
Historische Zeitschrift 103 (1909), S. IflF.
* Anfänge reformatorischer Bibelauslegung. I. Luthers Vorlesung
über den Römerbrief 1616/16. 1 : Die Glosse. 2 : Die Schollen. Leipziir,
Dieterich (Th. Weicher) 1908
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 631
Werdeprozesses von Luthers religiösen Anschauungen, seiner
Selbständigkeit gegenüber den mittelalterlichen Exegeten und
Karlstadt, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Ihr
sorgfältiger Editor rühmt den Inhalt als „eine originale Ge-
samtdarbietung, die dem Römerbriefe so gerecht geworden ist
wie nur je in seiner Weise Augustin, und die doch in ihrer
Weise wieder über Augustin hinausgeführt hat." Luthers Exegese
wird von H. Böhmer, über dessen Schrift weiter unten gehandelt
werden soll, als ein Phänomen bezeichnet, das in der Geschichte
kaum seinesgleichen habe; durch sie sei Paulus wieder für die
Menschheit entdeckt worden, zugleich lehre sie deutlich schon
Luthers Stellung zu den Mißbräuchen der Ablaßhändler, den
Schäden der Heiligenverehrung, kurz zu allen kirchlichen Fragen
seiner Zeit erkennen Dem bequemen Gebrauch bei Lektüre
und Unterricht dienen drei Hefte der Sammlung „Kleine Texte
für theologische Vorlesungen und Übungen", die ihr Heraus-
geber, H. Lietzmann, veröflFentücht hat. Ihr erstes bringt
die Wittenberger und Leisniger Kastenordnung (1522/23), das
zweite Luthers Schriften „Von Ordnung, Gottesdiensts, Tauf-
büchlein, Formula missae et communionis" (1523), das letzte
Luthers „Deutsche Messe", alle ausgezeichnet durch sorgfältige
Wiederholung der erreichbar besten Vorlagen.^
Überaus erfreulich ist, daß H. Böhmer seine lehrreiche
Schrift über „Luther im Lichte der neuen Forschung" in einer
zweiten Auflage veröffentlichen konnte.* Diese stellt sich
ihrer Vorgängerin gegenüber als vermehrt dar, zugleich aber
* Die Wittenberger und Leisniger Kastenordnung. 1522. 1523
(a. u. d. T. : Kleine Texte für theologische Vorlesungen und Übungen 21).
Bonn, A. Marcus und E. Weber 1907. — Martin Luthers Von Ordnung
Gottesdiensts, TaufbüchJein, Formulu missae et communionis 1523 (a. u.
d. T.: Liturgische Texte IV. Kleine Texte usw. 36). Ebenda 1909. —
Martin Luthers Deutsche Messe 1526 (a. u. d. T. : Liturgische Text« V.
Kleine Texte usw. 37). Ebenda 1909.
- Luther im Lichte der neuen Forschung (a. u. d. T. : Aus Natur und
Geisteswelt Bd. 113). 2. Aufl. Leipzig, B. G. Teubner 1910.
632 Albert Werminglioff
auch in einer Reihe von Abschnitten gänzlich umgearbeitet
und auf den Stand der gegenwärtigen Kenntnis gebracht. Wie
weit sich der Verfasser mit Erzeugnissen der neueren Literatur
auseinandersetzte, lehrt der Blick in den Literaturanhang; daß
er J. Fickers Publikation bereits verwertet hat, ist selbstver-
ständlich, eben in dem Abschnitte aber über die Stufen von
Luthers Bekehrung (S. 27 ff.) wird ihr der gehörige . Platz an-
gewiesen. Auch die übrigen Kapitel haben nicht minder Zu-
sätze und Verbesserungen erfahren, wie denn die Ausführungen
S. 81 ff. sich klar und überzeugend mit den übers Ziel hinaus-
schießenden Hypothesen von H. Bärge auseinandersetzen.
Kurz, wir wüßten keine Schrift zu nennen, die mit gleicher
Beherrschung des Stoffes und mit gleicher Abwägung zahl-
reicher Kontroversen den Leser in die Schwierigkeiten und
Probleme, aber auch in die Ergebnisse der Lutherforschung
einzuführen verstände; sie ist die unentbehrliche Ergänzung
jeder Biographie des „Bahnbrechers einer neuen Kultur". Von
kleineren Beiträgen sei zunächst der Vortrag von A. Goetze
genannt, der aus Luthers Schriften Belege für ihren Reichtum
an volkskundlichen Anspielungen zusammenträgt^; wir ver-
zeichnen nur seine Anschauung vom Tode: „Do ... die Seele
schon auf der Zungen saß" (S. 14), über den Kinderbischof
(S. 27 f.) und über den Johannessegen (S. 27). Angemerkt sei
auch die Schrift von 0. Reichert über die Entstehung von
Luthers deutscher Bibelübersetzung und die Arbeiten der seit
dem Jahre 1531 beratenden Kommission für ihre Revision.^
W. Walther hat die Beziehungen Luthers zu Heinrich VHL
von England zum Thema eines lichtvollen Vortrags gewählt.'
Nicht vergessen mag sein der Versuch von E. Heidrich,
' Volkstümliches bei Luther. Weimar, H. Böhlaus Nachf. 1909.
• D. Martin Luthers Deutsche Bibel (a. u. d. T. : Religionsgeschicht-
liche Volksbücher IV, 18). Tübingen J. C. B. Mohr 1909.
" Heinrich VIIL von England und Luther. Ein "Blatt aus der
Reformationsgeschichte. Leipzig, A. Deichort (G. Böhme) 1908.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 633
Dürers Anteil au der Fortbildung der Reformation Luthers
zum evangelischen Landeskirchentum während der Jahre 1520
und 1521 zu umgrenzen^; hervorgehoben sei vor allem die
Deutung der Apost^lbilder und der ursprünglich mit ihnen
verbundenen Sprüche, die auf Erlebnisse des Künstlers in seiner
Vaterstadt Nürnberg neues Licht zu werfen geeignet ist.
Das Jahr 1909 brachte die Wiederkehr von Calvins Ge-
burtstag (10. Juli): hieraus erklärt sich die Zahl von Schritten,
die dem Genfer Reformator gewidmet wurden, um daa An-
denken an sein Leben und Wirken zu erneuern. Neben der
Rede von F. Arnold* steht die gedrängte Biographie Calvins
von G. Sodeur, die es versteht, einem weiteren Leserkreise
ihren Helden, seine Gedankenwelt und Gesetzgebung zu veran-
schaulichen.^ Lehrreich sind besonders die Abschnitte über
Calvins Programm (S. 13 ff.) und die Schicksale seiner Lehre
wie Kirchen Verfassung (S. 84 ff.). Es föllt auf, daß für den
Verfasser Calvin „nicht eigentlich eine schöpferische Persön-
lichkeif' ist (S. 15), eine Angabe, die jedenfalls für die organi-
satorischen Leistungen des Genfer Theokraten als zu weitgehend
bezeichnet werden muß. Allen Reformatoren des 16. Jahr-
hunderts, Luther, Melanchthon und Calvin, aber auch Zwingli
und ihrer aller Beziehungen zu Österreich-Ungarn gilt die
Arbeit von G. Loesche, das Ergebnis rastloser Mühe, das
mosaikartig die Steine zusammenfügt zum Bilde des Einflusses
jener Männer auf das religiöse und geistige Leben in den
Donauländern/* Die Schrift wird auf solche Weise zu einer
Darstellung der Anfänge des Protestantismus in Osterreich
^ Dürer und die JReformation. Leipzig, Elinkhardt und Bier-
mann 1909.
* CcUvin. Rede bei der vierhundertjährigen Wiederkehr seines
Geburtstages. Breslau, W. G. Korn 1909.
* Johann Calvin 'a. u. d. T.: Aus Natur und G^isteswelt Bd. 247).
Leipzig, ß. G. Teubner 1909.
* Luther, Melanchthon und Calvin in Österreich -Ungarn. Zu Calvins
vierter Jahrhundertfeier. Tübingen, J. C. B. Mohr 1909.
i
634 Albert Werminghoff
und Ungarn — , man weiß, welch schwere Wunden seine
spätere Unterdrückung der habsburgischen Monarchie geschlagen
hat. Lehrreich ist deshalb nicht zuletzt S. 317 ff. der Abschnitt
über die Unionsgedanken, in dem der Verfasser auch die für
den Protestantismus so schwierige Lage dort wenigstens streift.
Seine schwungvolle Schreibweise erinnert daran, daß sein Werk
eine Festschrift sein will; daneben aber verrät nicht zuletzt
der Anhang, der die Übersetzungen reformatorischer Schriften
ins Tschechische, Polnische usw. verzeichnet, daß Loesche auch
entsagungsvolle Kleinarbeit zu verrichten genötigt und im-
stande war. Nicht vergessen sei ein Hinweis auf S. 98 S. und
S. 11 9 ff., wo die theologischen Abhandlungen von Christoph
Jörger gegen das Interim von 1546 und über Abendmahl und
Taufe abgedruckt sind. In denselben Zusammenhang fügt
sich die Schrift von St. Veress ein.^ Sie sucht zwei Fragen
zu beantworten, einmal wie es kam, daß ein von der westlichen
Kultur ziemlich abgesondertes Volk wie das der Magyaren
gerade dem Calvinismus sich anschloß, sodann wie der Einfluß
dieser Richtung des Protestantismus auf Kirche und Staat in
Ungarn gewirkt hat und heute noch wirkt. Namentlich um
dieses zweiten Problems willen ist die Studie ein erfreulicher
Beitrag zu der eben lebhaft umstrittenen Verfassuugsgeschichte
von Ungarn, über sie hinaus aber zur Geschichte des Calvinis-
mus und seiner Ausbreitung.
Längeres Verweilen bei einem aus der konfessionellen
Polemik herausgewachsenen Werke von R. Eckart über den
Jesuitenorden ist hier nicht am Platze. ^ — Ungleich wertvoller
ist die Publikation von R. Allier.^ Ihren Inhalt bilden Doku-
^ Einfluß der Calvinischen Gi'undsätze auf Kirche und Staatswesen
in Ungarn. Tübingen, H. Laupp iun. 1910.
* Hundert Stimmen aus vier Jahrhunderten über ölen Jesuitenorden.
»
1 : Der Jesuitenorden im evangelischen Urteil. 2 : Der Jesuitenorden im
katholischen Urteil. Leipzig, H. G. Wigand o. J.
' Une societe secrete au XVII* siede. La compagnie du Tres-
Saint-Sacrement de l'autel u Marseille. Paris, H. Champion 1909.
Neuerscheinungen zur Relig^ons- und Kirchengeschichte 635
mente aus der Zeit von 1639 bis 1702, beginnend mit dem
Gründlingsbeschluß für eine Genossenschaft, die sich an ein
Pariser Vorbild anlehnen will, um auch ihrerseits „das Reich
Christi wiederherzustellen und die Schäden zu tilgen, die sich
allenthalben ausbreiten." Man hat es mit einer Stiftung religiösen
und sozialen Charakters zu tun, auf deren Wirksamkeit die
mitgeteilten SitzungsprotokoUe, Briefe usw. Bezug haben. Der
Herausgeber verweist in seiner allzu knappen Einleitung auf
ein Buch von A. Rebelliau (La compagnie secrete du Saint-
Sacrement. Lettres du groupe parisien au groupe marseillais)
als unentbehrliches Hilfsmittel für das Verständnis seiner Pu-
blikation-, da es uns unzugänglich ist, bleibt nichts anderes
übrig, als Alliers Arbeit mit wenig verdeutlichender Kürze
zu notieren. — Mit einer Sekte der jüngsten Vergangenheit
im züricherischen Oberlande, der sog. Auferstehungssekte, will
H. Messikommer bekannt machen.^ Außer den Bemerkungen
über ältere Sekten desselben Gebietes und ihre Verbreitung
unter den dortigen Webern und Tuchmachern sind von Interesse
die Ausführungen über die Begründerin jener Genossenschaft,
Dorothea Boller (f 1895). Durch klug berechnete Visionen
verstand sie, Proselyten um sich zu sammeln, um sie zu einem
fast zölibatären Leben zu verpflichten und ihre Arbeitskraft
auszubeuten; eschatologische Prophezeiungen fehlten ebenso-
wenig, nur daß die Sekte glaubte, ihre und ihrer Mitglieder
Habe zu retten, wenn sie diese in ihr gemeinsames Haus brächte.
Die noch ausstehenden Bücher sind Dokumente der Gegen-
wart, zunächst die drei Rundschreiben von Papst Pins X. vom
11. Februar 1906 („Vehementer nos esse" über die Trennung
von Kirche und Staat in Frankreich),- vom 27. März 1906
* Die AtifersteJiungssekte und ihr Goldschatz. Zürich, Orell Füssli 1908.
- Wir erwähnen hier den straffen und klaren Überblick über die
geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Katholizismus und
modernem Staat, den W. Köhler in einem Vortrage gegeben hat. Er
mündet aus in Vorschläge einer Lösung des Problems auf dem Wege
des Kompromisses „teils grundsätzlich, teils von Fall zu Fall"; Katho-
636 Albert Werminghoff
(„Quoniam in re biblica" über das Studium der hl. Schrift in
den theologischen Lehranstalten) und endlich, vielleicht das
wuchtigste unter ihnen, die Enzyklika „Pascendi dominici
gregis" vom 8. September 1907 über die Lehren der Moder-
nisten. ^ Den Fehdehandschuh des letzterwähnten Erlasses
haben zwei Bände mit reformkatholischen Schriften aufgenommen,
der erste mit der Übersetzung der Antwort französischer Ka-
tholiken an den Papst, der zweite mit der des Programms der
italienischen Modernisten — , jeder Band für sich das er-
schütternde Zeugnis eines Ringens um Freiheit des Gewissens
und der Forschung, der die katholische Papstkirche sich ver-
sagen muß, will anders sie bleiben was sie war und ist. ^ An-
geschlossen sei der Hinweis auf ein Werk, dessen erste Lie-
ferung bisher vorliegt, das freilich durch den marktschreierischen
Titel abstößt.^ Von vorneherein wird man in dieser „Moder-
nisten-Antwort auf die Borromaeusenzyklika" des Papstes
Pius X. vom 26. Mai 1910 keine kühle, unparteiische Dar-
stellung der Papstgeschichte erwarten, aber man ist doch er-
staunt zu sehen, wie Th. Engert hier eine der wichtigsten
Uzismus und moderner Staat, a. u. d. T. : Sammlung gemeinverständlicher
Vorträge und Schriften aus dem Gebiete der Theologie und Religions-
geschichte 53. Tübingen, J. C. B. Mohr 1908.
^ Alle drei sind in lateinischem Originaltext und mit deutscher
Übersetzung erschienen in Freiburg i. Br., Herder & Co., o. J. (3 Hefte).
Wir notieren hier noch die vortreffliche Studie von Gt. Anrieh Der
moderne Ultramontanismus in seiner Entstehung und Entwicklung (a. u.
d. T.: Religionsgeschichtliche Volksbücher IV, 10). Tübingen, J. C.
B. Mohr 1909.
* Beformkatholische Schriften. Bd. 1.: Antwort der französischen
Katholiken an den Papst. Autorisierte Ausgabe, übertragen von
R. Pr^vost. Jena, E. Diederichs 1908. Bd. 2: Programm der italienischen
Modemisten. Eine Antwort auf die Enzyklika : Pascendi dominici gregis.
Besorgt von der Krausgesellschaft. Ebenda 1908. S. auch K. Seil
Katholizismus und Protestantismus S. 27Gtf. und K. Holl Der Modernis-
vius (a. u. d. T. : Religionsgeschicbtliche Volksbücher IV, 7). Tübingen,
J. C. B. Mohr 1908.
" Die Sünden der Päpste im Spiegel der Geschichte. Leipzig,
Krüger & Co 1910.
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchenge schichte 637
Stützen des Papsttums als Fälschung brandmarkt und preis-
gibt, jenes unzählige Male angezogene Herrenwort im Matthäus-
evangelium (Kap. 16 Vers 17 — 19), das die protestantische
Forschung seit langem als ein spätes Einschiebsel be-
zeichnet hat.
Das letzte Buch endlich, dessen Würdigung obb'egt, weist
auf die durch R. Festers Vortrag angeregten Gedanken von der
Säkularisation der Historie zurück.^ In ihm hat K. Seil es sich
zum Ziele gesetzt, die Unterschiede zwischen Katholizismus
und Protestantismus aus ihren geschichtlichen Ursprüngen zu
erklären, nicht aber ihre dogmatische Beurteilung zu geben
und nicht zu fragen, auf welcher Seite die göttliche oder
biblische Wahrheit sich findet.- Dem objektiven Historiker
der menschlichen Dinge gleich will er prüfen, woher jene
Unterschiede kommen, wohin sie führen und wem sie genützt
haben; denn „es kann ein objektives geschichtliches Verständ-
nis auch der Entwicklung der christlichen Religion geben,
voll tiefster Sympathie für die menschliche Seite derselben,
ohne daß man nötig hätte, die methaphysische Frage nach
ihrem Ursprung aus übernatürlichen Quellen aufzuwerfen oder
zu erledigen*'. Kein Leser wird sich dem Eindruck entziehen
können, daß der Verfasser selbst seinem Vorhaben durch sein
ganzes Buch treu geblieben ist. Mit dem Ernst des Forschers,
der den Zusammenhang der Dinge sucht, verfolgt er beide
christliche Konfessionen von ihrem gemeinsamen Ausgangspunkt
aus bis zur unmittelbaren Gegenwart — , alles in Betrachtungen,
' Tgl. oben S. 604 mit Anm. 1.
* Katholizismus und Protestantismtis in Geschichte, Religion, Poli-
tik, Kultur. Leipzig, Quelle & Meyer 1908; dazu vgl. desselben Ver-
fassers Schriften: Christentum und Weltgeschichte bis zur Beformation.
Die Entstehung des Christentums und seine Entwicklung als Kirche
(a. u. d. T.: Aus Xatnr und Geisteswelt Bd. 297). Leipzig, B. G.Teubner
1910 und: Christentum und Weltgeschichte seit der Befonnation. Das
Christentum in seiner Entwicklung über die Kirche hinaus (in der
gleichen Sammlung Bd. 298). Ebenda 1910.
638 Albert Werminglioff
die das einzelne Ereignis, die einzelne Persönlichkeit zurück-
treten lassen vor dem Entwicklungsprozeß jener beiden Ge-
samtheiten, als welche sich Katholizismus und Protestantismus
und die von ihnen erfüllten Kirchen darstellen. Diesen Stoff
hat Seil in fünf Kapitel gegliedert: ihr erstes umspannt zu-
nächst den Katholizismus, dann den Protestantismus; zwei
weitere behandeln in parallelen Abschnitten beide Konfessionen
je nach ihrem Verhältnis zur Religion und zur Politik; das
vierte legt vorerst Wesen und Entstehung der modernen Kul-
tur im Zusammenhang mit beiden Konfessionen dar und
prüft sodann deren praktisches Verhältnis zu ihr; das letzte
Kapitel gilt der Psychologie der Konfessionen, ihrem Austausch
und der Zukunft des Christentums. Neben diesem letzten Teil
(S. 289 ff.) mag hier besonders auf S. 86 ff. hingewiesen sein
mit ihren Darlegungen über „das subjektive gefühlsmäßige und
verstandesmäßige Verhalten des Einzelnen in der Kirche zu
Gott, den gesamten Inhalt des höheren, auf Gott und Gött-
liches gerichteten Seelenlebens, also die Frömmigkeit nebst
ihren sittlichen Wirkungen". Auch hier ist die Polemik im
Sinne des apologetischen Eintretens für die eigene Konfession
vermieden, vielmehr der Versuch gemacht, in die Psyche des
religiösen Katholiken und des religiösen Protestanten einzu-
dringen, ihre Anschauungen und ihre Werke auszubreiten wie
nach ihrer Bedingtheit und Tragweite abzuschätzen, endlich sie
zu vergleichen. Eben diese Behandlungsart erlaubt, hier wie
dort Vorzüge und Schattenseiten anzumerken, ohne daß doch
eine auch nur gedrängte komparative Konfessionskunde zu
liefern geplant wäre. Seil will lehren, zum gegenseitigen Ver-
ständnis der berechtigten Eigenart einer jeden Konfession und
ihrer Auswirkungen vorzudringen. Dies Streben nach Ver-
ständnis, besser noch nach Verständigung durchzieht das ganze
Buch, und kaum wird man von seinem Ernste unbeeinflußt
bleiben: er ist notwendig für unsere zerklüftete Gegenwart, die
täglich die lähmenden Wirkungen des konfessionellen Haders
Neuerscheinungen zur Religions- und Kirchengeschichte 639
verspürt, zumal er immer weniger auf das rein geistige Leben
unserer Nation sich einengt und beschränkt. Von diesem Ge-
sichtspunkt aus bedeutet die Schrift Seils für nns eine über-
aus wertvolle Gabe: mag man unser Urteil subjektiv nennen,
jedenfalls brachte sie uns die Bestätigung der lange gehegten
Meinung, daß alle Beschäftigung mit Fragen der Kirchen- und
Religionsgeschichte und ihren vielgestaltigen Problemen frucht-
los bleiben wird, fehlt es an Werken wie dem vorliegenden,
das an die letzte und höchste Aufgabe aller derartigen Forschung
gemahnt, nämlich vorzudringen zu Erkenntnissen allgemeiner
Art und Gültigkeit.
III Mitteilungen und Hinweise
Regenzauber
Zu der in einem der letzten Hefte des Archivs (XIII S. 627)
erwähnten Vorstellung, daß man durch Begießen der Knochen eines
Toten Regen veranlassen könne, gibt ein persönliches Erlebnis
einen weiteren Beleg. Anfang 1905 hatte in der Gegend von
Batna in Algei'ien große Trockenheit geherrscht. Als wir am
27. April in die Nähe von Timgad kamen, waren die moham-
medanischen Bauern eben damit beschäftigt, das Grab eines Heiligen
aufzubrechen, um dessen Knochen mit Wasser zu begießen, was
Regen herbeirufen werde. Nach Angabe unseres einheimischen
Kutschers war dies ein in dieser Gegend bereits öfters angewendetes
Regenmittel. Daß tatsächlich am nächsten Morgen ein wolken-
bruchartiger Regen eintrat, wird dem Glauben an die Nützlichkeit
der Tränkung zur willkommenen Bestätigung gedient haben.
Bonn A. Wiedemann
Zum ägyptischen Tierkult
In einer Arbeit über den ägyptischen Tierkult (Museon N. S. VI
S. 113 — 28, 1905) habe ich darauf hingewiesen, daß eine Reihe
von Andeutungen dafür sprechen, daß nach altägyptischer Ansicht
jede Tiergattung in gewisser Beziehung für monarchisch organisiert
galt. Wurde in einem Nomos ein Gott-Tier verehrt, so galt dieses
als Herr der übrigen Tiere seiner Gattung und hatte dement-
sprechend deren .Schutz zu übernehmen. Diese allem Anscheine
nach im Kreise der ürbewohner des Landes lebende Vorstellung
mußte sich abschwächen, als man im Verlaufe der Nagada-Zeit
die Gott-Tiere in oft sehr willkürlicher Weise mit den menschlicher
und geistiger gedachten Gottheiten eines anderen Glaubenskreises
zusammenstellte und sie nunmehr als deren Inkorporationen auf-
faßte, sie also aus dem Kreise ihrer Artgenossen loszulösen suchte.
Verlorengegangen ist der alte Volksglaube aber, wie noch die
klassischen Autoren zeigen,' nicht, solange die ägyptische Religion
bestand. Er lebte fort in der Hochachtung, welche man einerseits
dauernd der Gattung des Gott-Tieres gegenüber empfand, und
andererseits in der Furcht, eines dieser ihm artengleichen Geschöpfe
zu verletzen und der damit zusammenhängenden Sorgfalt, mit der
man, falls trotzdem ein solches Tier getötet wurde, auf seine Be-
stattung bedacht war. Es wurde einbalsamiert, mit Mumienbinden
Mitteilungen und Hinweise 641
bekleidet, gelegentlich mit einer Art Sarg beschenkt, man brachte
ihm Tot«nopfer dar.
Auf einige entsprechende Vorstellungen bei anderen Völkern,
welche dazu beitragen, die bei dem ägyptischen Tierkulte maß-
gebenden Gedankengänge verständlich zu machen, habe ich bereits
in der genannten Arbeit hingewiesen. Eine genaue und daher sehr
lehrreiche Parallele gibt eine Schilderung aus Togo*, deren Verfasser
sich auf einen Bericht über seine eigenen Beobachtungen beschränkt,
den ägyptischen Tierkult und seine Ausbildung nicht heranzieht.
In Klewe in Togo wird eine Riesenschlange, die an einem
Wasserloche lebt, als größte und zugleich als älteste Gottheit
verehrt Niemand darf infolgedessen eine Riesenschlange töten,
denn sie gelten alle für Kinder dieses Gottes. Bringt trotzdem
jemand ein solches Tier um, so muß er weißen Baumwollenstoff,
eine große Kalebasse Palmwein, eine bestimmte Summe baren
Geldes und einen Ziegenbock herbeibringen. Das weiße Zeug wird
der Schlange als Leichentuch umgewickelt, und sie dann, den
menschlichen Beerdigungen entsprechend, begraben. Palmwein,
Geld und Ziegenbock werden, den sonstigen Sitten entsprechend,
unter dem Volke verteilt. Wenn der Mörder einer Schlange die
Gaben nicht bringt, so wird er sterben. Besonderes Interesse an
der Erfüllung dieser Pflicht haben die Priester, da sie sich dann
ihrem Gotte gegenüber beruhigt fühlen.
Wie im alten Ägypten, so hofft man demnach hier in Togo
durch eine sorgsame, der menschlichen Sitte entsprechende Be-
stattung der Vendetta des Herrn des Gemordeten entgehen zu
können. Falls diese Sühne unterbleibt, wird die Rache zunächst
den Täter treffen; außer ihm aber offenbar, wenn dies in dem
Aufsatze auch nicht betont wird, andere Angehörige des Volkes.
Nur so läßt sich das Interesse der Priester erklären, ihrerseits
durch die Erfüllung der Bestattungsvorschrift«n ihrem Gotte gegen-
über gesichert zu sein.
Bonn A. Wiedemann
Zu den nordkankasischen Steingeburtsagen
;Archiv XIII 509)
Eine mir nachträglich bekannt gewordene osetische Fassung
der Steingeburtsagen möge an dieser Stelle als Oset. IV* ihren
Platz finden. Sie erweckt dadurch besonderes Interesse, daß sie
^ Spieß Die Joholu-Gotiheit und ihr Schlangenkult (Globus XCVIII
S. 337. 1910).
* Sbornik materialov dVa opisan. mestn. i plem. Kavkaza VII 2,
30 f : vgl. besonders die im Archiv XIII 514 mitgeteilte Variante der
Bergtataren.
Archiv f. Religionswissenechaft XIV ^\
m
642 Mitteilungen und Hinweise
den Teufel als Befruciiter des Steines einführt und in dieser
Angabe mit den spätjüdischen Überlieferungen vom Antichrist
dem Sohne Satans übereinstimmt.
„Sirdon gehörte zu den Narten. Er entstand auf folgende
Weise. Einstmals wusch Satana am Ufer des Flusses Wäsche und
hatte keine Hosen an. Auf dem andern Ufer ging der Teufel, und
als er ihren Körper so weiß wie Schnee erblickte, entflammte er
in Begierde und lehnte sich währenddessen an einen Stein, wo-
durch sich dieser befruchtete. Satana erfuhr es und begann die
Monate zu zählen. Es kam der Tag, an dem die Frucht gereift
sein mußte, und Satana bat, den Stein zu zerschlagen. Weil
der Stein groß war, begann man ihn stückweise zu brechen. Als
man der Stelle, wo sich das Kind befand, schon nahe war, machte
Satana die Arbeitenden mit Araka trunken, die sie selbst erfunden
hatte, und jene schliefen ein. Dann nahm sie ein Rasiermesser,
schnitt vorsichtig die übriggebliebene steinerne Hülle durch und
hob von dort das Kind heraus, das sie Sirdon benannte. Der
schlaue Sirdon zeichnete sich als ein Geschöpf des Teufels durch
Gewandtheit und Findigkeit aus. Aber die Narten hielten von
ihm nichts: man lachte über ihn als einen Dümmling und benutzte
ihn zu geringen Diensten."
Ferner möchte ich noch auf ein schwedisches Märchen^ auf-
merksam machen, das folgendermaßen beginnt:
„Es war einmal ein Schmied, wie es deren so manche gibt.
Er hatte seine Früharbeit beendet und wollte sich in den Wald
hinaus begeben, um Holz für einen Kohlenmeiler zu hauen. Nach-
dem er das Frühmahl gegessen, sagte er, bevor er aufbrach, zu
seiner Frau: „Du kommst wohl mit dem Mittagsmahl zu mir
hinaus in den Fichtenwald?" Das Weib versprach zu tun, wie ihr
der Mann geheißen. Der Schmied ging hierauf in den Wald und
begann zu hauen. Als nun der Mittag herannahte, schien es
ihm, als käme sein Weib mit dem Mahle zu ihm. Nachdem
er gegessen, schickte er sich an, seine Mittagsruhe zu halten, wie
es in der Sommerszeit gebräuchlich ist, und schlief eine Stunde
im Arme des Weibes. Nachdem sie geschlummert hatten, stand
das Weib auf und machte sich auf den Weg, nahm aber die Axt
des Schmiedes mit sich. „Was willst du mit meiner Axt?" fragte
der Schmied, „es hängen ja vier Äxte daheim auf dem Axtgehänge."
Das Weib antwortete nicht, sondern setzte ihren Weg fort. Dies
kam dem Manne wunderlich vor, er dachte aber: Sie stellt wohl
die Axt in irgendeinen Busch, wo ich sie wieder finden kann.
* Schwedische Volkssagen und Märchen, hrsg. von Cavalliua und
Stephens, deutsch von Oberleitner Nr. 4, S. 69 (Wien 1848).
Mitteilungen und Hinweise 643
Der Schmied begann wieder für seinen Kohlenmeiler Holz auf-
zuhäufen. Nach Verlauf einer Stunde kam des Schmiedes Weib
und brachte ihm das Mittagsmahl. Sie fragte: „Willst du nicht
dein Mittagsmahl essen? Der Tag ist schon weit vorgerückt"
Der Schmied war verwundert und erwiderte: „Jetzt essen? ist's
jetzt Zeit zum Essen?" ,.Je nun," entschuldigte sich das Weib^
„ich bin über die Zeit ausgeblieben; aber ich war nicht müßig.
Ich habe gebacken, damit du Brot bekommst, ich habe gebuttert,
damit du Butter findest." Das kam dem Schmied noch wunder-
licher vor und er dachte bei sich, daß es mit ihr wohl übel stehen
möge. Er setzte sich hierauf um zu essen, was er vermochte,
sprach aber nichts, sondern hielt es am ratsamsten, es dabei be-
wenden zu lassen. — Sieben Jahre nach diesem Ereignisse fügte
es sich, daß der Schmied eines Abends auf seinem Holzschlage
stand und Holz für den Abend fällte. Da kam ein Knabe daher-
gegangen, mit einer Axt auf der Schulter. Der Schmied fragte:
„Was fehlt deiner Axt? Soll sie ausgebessert oder geschärft werden?"
Der Knabe antwortete nicht. Der Schmied nahm nun die Axt tmd
besah sie sehr genau. Er sagte: „Der Axt fehlt nichts; aber ich
sollte mich fast schämen, denn dies ist ja meine Art." Darauf
entgegnete der Knabe: „Wenn dies eure Axt ist, so seid ihr auch
mein Vater." Der Schmied mußte ihn nun als seinen Sohn an-
erkennen, so wie er die Axt als sein erkannt hatte . . . Der
Knabe ward hurtig und willig und dazu sehr stark, weil er halb
ein Christ, halb ein Troll war."
Dieser ganz sagenhafte Eingang des schwedischen Märchens
illustriert wiederum ein Traumerlebnis und zugleich den Volks-
glauben an Mittagsgespenster (Mährte, Trollen), die gern eine dem
Schläfer vertraute Gestalt annehmen, um ihn zu einem Beischlaf
zu verleiten. Die Erzählung ist sicher so zu verstehen^, daß der
Schmied bereits in dem Augenblick schläft, wo er die Empfindung
hat, als käme sein Weib mit dem Essen zu ihm. Er ißt nun im
Traum und wohnt darauf seiner Frau bei. Alle diese Vorgänge
faßt der Märchenerzähler als wirkliche auf, und ebensogut, wie
der Schmied nach dem vermeintlichen Mahle eine Sättigung ver-
spüren muß, kann auch die Traumvereinigung nicht ohne Folgen
bleiben. So entsteht der Held des nachfolgenden Märchens, ,halb
ein Christ und halb ein TroU".
Berlin August von Lö-wis of Menar
Zur Geisselung der spartanischen Epheben
Im Archiv IX S. 397 ff. hat Anton Thomsen die Epheben-
geisselung vor der spartanischen Orthia neu erklärt; er nimmt an,
* Vgl. auch Panzer, Studien z. german. Sagengeschichte I 20.
41*
644 Mitteilungen und Hinweise
daß dieser später zur Marterprobe entartete Eitus ursprünglicli
weder eine Ablösung von Menschenopfern noch ein allgemeiner
Reinigungsbrauch, wie Frazer meint, sondern ein Sakrament der
Vegetationsgöttin Orthia Lygodesma gewesen sei: die Epheben
sollten gesund und kräftig werden. Mir steht kein fachmännisches
Urteil über dies Ergebnis zu'/ seine Richtigkeit als möglich oder
wahrscheinlich vorausgesetzt, möchte ich jedoch den Religions-
forschern die Frage vorlegen, ob man nicht auf folgende Weise
den von Thomsen beschrittenen Weg zu einem schärfer markierten
Ende gehen kann. Ferdinand Freiherr von Reitzenstein hat in der
Zeitschrift für Ethnologie 1909 eine ungemein lehrreiche Abhand-
lung veröffentlicht: Der Kausalzusammenhang zwischen
Geschlechtsverkehr und Empfängnis in Glaube und
Brauch der Natur- und Kulturvölker. Der Verfasser zeigt
an zahlreichen Beispielen, daß auf der noch heut bei vielen Stämmen
mehr oder minder rein erhaltenen Kulturstufe, auf welcher man
diesen Kausalzusammenhang nicht kennt, sondern an eine mysteriöse
Befruchtung verschiedenster Art glaubt, die Geisselung niit Ruten
und Ranken bei den Pubertätsfesten der Frauen eine große Rolle
spielt (vgl. S. 671, 679 ff.). Im Schlußwort weist er darauf hin,
daß da, wo der wahre Zusammenhang erkannt ist, -'die alten An-
schauungen doch insofern weiterwirkten, als sie als Unterstützungs-
riten der männlichen Potenz fortlebten und sich hauptsächlich mit
dem Phalloskult verbanden, der dadurch ungemein mannigfaltig
ausgestaltet wurde.'
Nichts liegt näher, als die von Thomsen bereits herangezogene
dionysische Weibergeisselung von Alea als ein derartiges Sakrament
des großen Lebensgottes aufzufassen. Wenn die Frauen dabei ^den
Gott in sich aufnehmen und seiner Kraft durch direkte körperliche
Übertragung teilhaft werden', so ist das eben, wenn man so sagen
darf, die vorerotische Form des legog ydfiog mit Dionysos. Merk-
würdigerweise lehnt Thomsen, der doch mit Mannhardt vertraut
ist, das geschlechtliche Moment in jeder Form ab. Sexual-patho-
logische Erscheinungen sind hier freilich nicht zu erkennen; eben-
sowenig aber da, wo Thomsen sie annimmt: nämlich ^bei den
Barbaren Rußlands, wo die Stäupung der Braut oft zu den Hoch-
zeitsgebräuchen gehörte.' Daß die Germanen ebensolche 'perverse
' Für Bosanquets überraschende Annahme, daß der Kitus in der
überlieferten Form eine Neuschöpfung des 2. Jahrhunderts sei, steht eine
genauere Begründung noch ans; denn der bloße Hinweis auf die Xenophon-
stelle, Rep. Lac. 2, 9 genügt nicht (Recent Excavations at Sparta S. 12).
Die Deutung des Brauches wird dadurch kaum berührt, denn es würde
sich nur um eine Veränderung der äußeren Umstände der Geisselung
bandeln. Vgl. jetzt auch Schnabel, Eordax S. 49 ff.
Mitteilungen und Hinweise 645
Barbaren' sind, mag man bei Reitzenstein S. 681 nachlesen; Be-
fruchtung durch Schläge mit Ruten oder mit Fellstreifen des Opfertieres
ist ja doch allgemein verbreitet und noch niemand hat die Luperci
für Sadisten erklärt. AU diese Bräuche rücken jetzt in ein viel
helleres Licht.
Demgegenüber wird man erwägen müssen, ob ähnliche Bräuche
bei den Pubertätsfeiem der Knaben nicht eine dem erkannten
Kausalzusammenhang entsprechende Übertragung sind. Daß der
spartanische Ritus mit anderen spartanischen Bräuchen bei den
Betschuanen wiederkehrt, hat schon Frazer bemerkt; seine Voll-
ziehung ist dort die unerläßliche Vorbedingung der Eheschließung.^
Gerade beim Pubertätsfest liegt es doch sehr nahe, die Kraft-
übertragung vom Baume des Lebens nicht allgemein, sondern
speziell sexual zu verstehen. Eine erotische Parallele zu der
Geisselung wäre die dorische Knabenliebe nach Bethes Auffassung:
auch sie ist als Pubertätsweihe deutlich charakterisiert und dürfte
erst mit der Zeit den weiteren und höheren Sinn erlangt haben,
den Bethe mit Recht hervorhebL* Thomsen selbst weist darauf
hin, daß die Lygoszweige der Orthia Lygodesma bei den Thesmo-
phorien und beim samischen Herafeste benutzt wurden: selbst die
bekannte Erklärung ihrer keuschheitsfördernden Wirkung — die
Frauen schliefen während der kultliehen Enthaltsamkeit darauf —
gewinnt nun aber in Reitzensteins Zusammenhang einen tieferen
Sinn. Seine Ausführungen über Keuschheitsnächte zeigen nämlich,
daß man ursprünglich den Geschlechtsverkehr gradezu für empfängnis-
störend hielt' ; der 'Keuschlamm' sollte also ungestört befruchtend,
nicht nervenberuhigend wirken! Da nun Geisselung mit Lygosgerten
anderweitig bezeugt ist, wird man auch ohne besonderes Zeugnis
annehmen können, daß die Geisselung der spartanischen Epheben
' Thomsen, S. 405 f.; dort wird das mir unzugängliche Buch von
Lang Costum and myth für ähnliche australische Initiationsriten zitiert.
* Rhein. Museum 1907 S. 458 f., 464 ff. Der Kern von Bethes Aus-
führungen bleibt unberührt von Eduard Meyers Einschränkung, Geschichte
d. Altertums I 1 S. 96, 98: wir erhalten drei Stufen: die natürliche Ab-
schweifung des Geschlechtstriebes, ihre Sanktionierung als Pubertätsweihe
xmd die von Bethe dargestellte Verfeinerung. Die vierte und höchste
Stufe ist der platonische Eros. Bethes Bemerkung über die Prophetinnen
ist übrigens nach Reitzenstein etwas zu modifizieren: die Mädchen
sind ursprünglich gewiß nicht auf dem normalen, sondern auf mysteriösem
Wege des Gottes voll geworden.
» S. 655, 660 f., 675, 678; vgl. Fehrle, Kultische Keuschheit S. 41 f.
Von den beteiligten Dämonen betont Reitzenstein mehr die nützlichen,
Fehrle mehr die schädlichen; angesichts des großen Zusammenhanges
der Erscheinung hat der Befruchtimgsglaube mindestens genetisch den
Vorrang (vgl. jedoclj Deubner, Archiv XIII S. 496). Die Heidelberger
Diasertationen von Modrow und Albecker über griechische und römische
Hochzeitsbräuche sind mir bisher nicht zugänglich (Fehrle S. 41, 1).
646 Mitteilungen und Hinweise
vor der Orthia Lygodesma mit solchen ausgeführt wurde und ur-
sprünglich nicht eine allgemeine Kräftigung, sondern eine Stäi"kung
der Zeugungskraft bei Erlangung der Geschlechtsreife bezweckte.^
Dies allgemein menschliche Moment erhält im spartanischen Staat,
der die Ehe ausschließlich als eine 'Institution zui" Züchtung
gesunder Spartiaten' ansah, einen individuellen Zug.
Basel Ernst Pfuhl
Gstov ■d'sam<5na
Im XIII. Bande dies"es Archivs S. 478 hat 0. Kern eine neue
Erklärung der von mir in meinen Beiträgen zur griechischen In-
schriftenkunde S. 196 ff. behandelten Inschrift aus Attaleia in Pam-
phylien vorgetragen und in der itavriyvQLq.^ deren Beginn und Dauer
sie auf Grund eines &hov Q-iöitiG^ia verlautbart, ein Fest des Apollon
von Didyma erkennen wollen; in ri TtavrjyvQig xov ZIZT0OT berge
sich, da W. Ramsay BCH VII 260, durch dessen Veröffentlichung
der Stein allein bekannt ist, gerade den drittletzten Buchstaben
als unsicher bezeichnet, ZIZTMEOT gleich ^c6v(ibov. So er-
wünscht eine solche Lösung des Rätsels wäre und so gern ich zu-
gebe, daß ich eine Deutung auch in dieser Richtung hätte suchen
sollen , statt einzig auf Ramsays (und Sir C. Wilsons) Lesung zu
bauen, so setzt Kerns Vorschlag in dieser doch eine ziemlich starke
Entstellung voraus und, wenn auch in späteren Inschi-iften mit
Besonderheiten der Schreibung, die älteren nicht zugetraut werden
dürfen, zu rechnen ist, wie der Verwendung von Buchstaben sehr
verschiedener Größe (vgl. z. B. Beiträge S. lOO) und der Verbindung
der Buchstaben, die Ramsay ausdiücklich bezeugt, die Abschrift aber
nicht kenntlich macht, so bleibt obendrein das Bedenken, ob in
einer amtlichen Veröffentlichung wie der vorliegenden die vulgäre
Form des Gottesnamens zu erwarten stünde, es sei denn, daß der
Jidviiatog in Attaleia geradezu den Namen Zt^viiaiog geführt hat;
die Schreibung Jtdvfisov bedürfte in einer Inschrift, die mit ccQxere
für aQxerat beginnt, kaum der Stützung durch Sylloge 424 rov
JiSv^eov 'ATtöllovog. Demnach wird die vorgeschlagene Deutung, so
gefällig sie an sich wäre, kaum als endgültig betrachtet werden
können, und sicherlich irrt Kern, wenn ihm „das d^eiov
^iöma^a auch gerade für ein Apollonfest vortrefflich zu stimmen
scheint". Denn mit diesem &Etov ^ianiß^a ist nicht etwa, wie die
Bemerkung voraussetzt, ein göttliches, apollinisches Orakel gemeint,
sondern nach dem feststehenden und daher von mir nicht erst er-
läuterten Sprachgebrauch der späteren Kaiserzeit ein kaiserlicher
' Vgl. das hochzeitliche Lockenopfer der deliscben Jünglinge: die
Locke wurde um ein grünendes Reis gewickelt (Herod. IV 34; vgl. Baur,
Eileithya, Philologus Suppl. VIII 1901 S. 497 f.).
Mitteilungen und Hinweise 647
Erlaß. Es wird genügen, für ^sörci^eiv und &e67iiafia auf 061 521
Z. 9 und Dittenbergers Bemerkung zu verweisen; soeben veroflFent-
licht F. Cumont in seinen Studia Pontica III p. 226 n. 254 eine
Inschrift, wahrscheinlich der Zeit Justinians, aus Babali von der
pontisch-galatischen Grenze, in der die Formel kcccu 9eiov ^iöTCiöfut
wiederkehrt.
Wien Adolf "Wilhelm
Epiknr als Beichtvater
Usener verzeichnet in den Epicurea S. 138 =YH^ V fr. 73
einen Brief des Meisters an Apollonides. Der Wortlaut der Stelle
wird folgender gewesen sein: xa0^a:tfp 6 'EmxovQog S7t[i(po]Qdg
[xivag] TtQog 'A7i[oXk]covidi]v i['x6]r]6ev. Über den Anlaß und den
Inhalt dieses Briefes gibt das 49. Fragment der Schrift thqI TiaggriGucg
interessante Angaben. Da wird ein Herakleides gelobt, 'weil ej-
die Tadelsworte, die seine geplante Beichte nach sich ziehen mußte
geringer anschlug als den Nutzen, die ihm jene einbrachten, und
darum dem Epikur seine Sünden bekannte'.^)
Dann war erzählt, daß für Apollonides, der sich zu einem
llhnlichen Schritte nicht entschließen konnte oder nicht 'das Bedürf-
nis hatte zu beichten, sein Freund Polyainos eintrat. Dessen freund-
schaftliche Denunziation veranlaßte weiterhin die Epistel. Denn
ohne Zweifel ist nun im folgenden Apollonides" Name einzusetzen:
xai IloXvaivog
6h roLOvrog ijv, og ys Kai 'A-
noXXcovClöov QadA)uovv-
r]o[? y^cqpft?] :TQbg ^ErrtxovQOv —
Den Zusammenhang beleuchtet noch einmal der Anfang des folgenden
Fragments: öidßoXov . . . yuQ ovx i^yTjöfTct tov ini&viiovvra xbv
(pikov xvi^tv dioQd'(o6ea>g.
Der starke Trieb der Schwachen, zu bekennen xmd zu beichten,
um so von der Autorität geistige Hilfe und 'Aufrichtung' zu emp-
fangen, tritt uns in vorchristlicher Zeit, soviel mir bekannt ist,
nirgends deutlicher entgegen. Man möchte glauben, daß Epikur
solche Äußerungen in seinem Kreise nicht ungern sah und begünstigte.
Denn daß sich zwischen Beichtvater und Beichtenden starke Fäden
knüpfen, konnte seinem nach dieser Eichtung aufmerksamen Geiste
nicht verborgen bleiben. Wer einmal die Freundschaftsbeziehungen
im alten xfjitog und das Verhältnis des Meisters zu den Seinen zu
1) i7tai]vsi6&ai zov 'HgaxXsidTjv, ort rag ix räv ivcfavrßouivav
liifitbeis r,Trovg Ti9i(i£vos xfjg äcpsXUcg arrrör ifirjwev 'ErtiKOvgoi rag
ayxiQxLag. Den Text dieser Philodemischen Schriffc jrspi nuggriaiag, die
er nach den Schulvorträgen dea Zenon redigierte, wird demnächst Olivieri
herausgeben, dessen Mannskript mir vorliegt.
648 Mitteilungen und Hinweise
schildern unternimmt — es ist eine lockende Aufgabe — , darf
auch diesen Zug nicht übersehen, die ^fraterna delatio', um mit
Ignaz von Loyola zu sprechen, die uns in jener Umgebung so selt-
sam anmutet.
Kiel S. Sudhaus
Zu Archiv XIII S. 339: Zu den von Stückelberg angeführten
Stellen über blutig gefärbte Gewässer sei es gestattet, weitere
Parallelen beizubringen. Eine Rötung des Wassers, die sich in
mehr als einem Jahre zu derselben Zeit wiederholt, erwähnen
Quintus Smyrnaeus II 556 flf. vom Flusse Paphlagoneios , die
Chemischen Annalen von 1784 in Band 1 S. 513 für den Stadt-
graben von Eppingen in der Pfalz und Volney Voyage en Syrie et en
Egypte Band 2 S. 196 f. von einem Brunnen an der syrischen
Küste nahe der Stätte des alten Tyrus. Hier scheint dasselbe
Phänomen schon im Altertum beobachtet und, einmal mit der
Andromeda-Sage verknüpft, von Pausanias IV 35, 9 der Küste
bei Joppe zugeschrieben zu sein, die schon für Plinius Nat. bist.
V 69 und Strabo XVI 759 als Lokal der Befreiung Andromedas
gilt. Wiederholt, wenn auch nicht regelmäßig jedes Jahr, färbten
sich blutig der Fluß Asopos und die Quelle Dirke bei Theben,
Schol. B Hom. II. XVI 459; Diodor XVII 10; Aelian v. h. XII 57;
vgl. Senec. Oedip. 177, Stat. Theb. IV 374; ähnlich hören wir von
vereinzeltem Auftreten blutroten Wassers in der Mineralquelle von
Caere Liv. XXII 1, 10, im Flusse Atratus Cic. div. I 98, II 58,
bei Mantua in Wasser, das aus dem Mincius ausgetreten ist, Liv.
XXIV 10, 7, von einem See bei Volsinii Liv. XXVII 23, 3, von
einem Brunnen in Rom, C. Meyer, Aberglaube des Mittelalters,
S. 181, von dem Straussee in der Mark Brandenburg in den Histor.
Beyträgen die Preußischen Staaten betreffend, Bd. 11 2 S. 365
und vom Missouri bei Lewis and Clarke Travels to the Source of
the Missouri River Band I S. 387. Ein anhaltend blutiges
Aussehen zeigen eine Quelle am Japygischen Vorgebirge Ps.
Aristot. mir. ausc. 97, Strabo VI 430 und ein Gewässer Äthiopiens
Strabo XVI 779, Antig. bist. mir. 145 (160) Keller, Plin. n.h. XXXI
2, 9, Ps.-Sotion 17, Rufus bei Oribas. V 3, Isid. Orig. XIII 13, 4.
In der Neuzeit hat C. New Life Wanderings and Lahours in
Eastern Africa S. 328 eine tiefrote Farbe bei den Bächen wahr-
genommen, die vom Mt Kisigau hinabfließen,
Königsberg i. Pr. F. Hempler
[AbgesohloBien um 19. Sopteinbor 1911]
Register
Von Willy Link
Man beachte besonders die Artikel Opfer und Zauber.
Aberglaube 55ff. ; 250;,
315 tf.; 348; 526; 534;
543 ff.; 601 j
Abraham u. d. Astrologie 44 i
Abwehr v. Dämonen 15 ;|
343 ff.; 555 i
Abwehrzauber 74 ; 217 ; 220 ; i
225; 236; 241; 255 f.;'
260; 296; 343 ff.; 355,1;
387 tf.; 468; 537; 545 f. ; :
558 :
Abzeichen, relig. 226 f.
Ackerbaufeste 438; 441, i
Ackerbauriten 298
Adlertanz 240
Adonis 519.1 ; 532
Adoptionsriten 256 f.
Aeneas 595
Afrikanisches 465 ff.
Ägyptisches 45,6; 73; 85;
344 f.; 357 f.; 368; 370:
386; 519; 575; 579f.;
588; 640 f.
Ahnengeister 161 ff.
Ahnengötter 263 ff.
Ahnenkult 161 ff.; 473; 483
Aias 567
Aion 539
Aischylos 446
cclißag 449 ff.
Allerseelenfest bei d. In-
dianern 280
Altar 484; 606 f.
Altartabemakel 607 f.
Altchristliches iff.; 100 ff.;
317 f.; 325; 355 f.; 374;
606 ff.
Alttestamentliches 2ff ; 29
32; 40; 44; 49; 102
104 ft'.; 130 ff.; 321; 339
341; 345; 376; 382 f.: 385 i
Ameisenprobe 239
Amerikanisches 212 ff.
Amulett 202 f.; 205; 215
219 f.; 248; 296 f.; 344
347; 351,1; 353 ff.; 366
368; 372: 389; 391; 494
545 ff.
amuletum 524
Anaitis 577
Analogiezauber 220; 223;
226; 372; 391
Animismus 193; 598
Anna Perenna 593
Ant 344
Anthesteria 534
Aphrodite 601
— Urania 536
ApoUon 351,1; 423 ff.; 434;
442 ff.; 551
— , asiat. Ursprungs 447
— , Beinamen 553
— Delphinios 13
— Eikadios 444
— Numenios 443
— , Patron d. Monats-
rechnung 447
— Sühngott 446
— u. d. Siebenzahl 443
— u. Horos 525
Apologetik, christl. 521
Apotheose 595 f.
Apuleius 526
Archäologisches 14; 21
23; 26 ft'.; 32 ff.; 37,5
69 f.: 118 ff.; 287; 325
330ff.; 351,1; 367 ff.; 374
378,1; 381; 391; 424f.
518 f; 535; 550; 556 f
566;568;570;589f.;594f.
Arena 524
Arethusa 331
Artemis 559; 577
— Orthia 558
Askese 570; 609 f.
Asklepios 56 f.; 94 f; 554;
562
— Soter 579; 581; 590
Astarte 582
Astralkult, semitischer 539
Astrologie 521; 582
'. Astrologisches 41 tf.
Asyle 85
Atargatis 108; 117; 148f.;
338; 342
! Athene 77; 351,1; 535 f.
Attis 117; 536; 584
Auferstehung 9 ff.; 18; 34;
36; 38f.: 48
— nach 3 Tagen 10 f.;
385
Auferstehungsglaube 322
Auferstehungstrank 349
Auspizien 534
Aussaugen d. Krankheit
232; 268; 293
Austreiben von Dämonen
343; 346; 365
[Baal 118; 582 f.
Babylonisches 41;
343; 348,2; 365;
433,1; 434 ff.; 538
564; 583
Bannzauber 188; 203
546
Baumdämonen 290
Baumkult 600
Begräbnisriten 183 ff
279; 289; 315; 468
484; 494; 555
Behexung 514
338,4;
392;
; 540;
;306;
; 242:
; 479:
650
Register
Bendis u. Hekate 576
Berührungszauber 314 f.
Beschneidung 164,i; 467 f.;
475 f.; 478; 480 f.; 488;
490; 496
Beschwörung 201; 226;
301; 514; 518; 528
Beschwörungsformel 181 ;
203; 208; 232; 316; 318f.
Besessenheitsglaube 526
Besprengen mit Blut 282
— Wasser 255; 258; 265
Bilder 142; 589; 611; 613
— gebadet 281
— heilend 526
Bilderschriften 271; 283
Bilderverbrennen 239
Bildzauber 538
Bindung, magische 188; 203
Blattorakel 204
Blick, böser 307; 345 f.;
349; 459; 489; 546
Blitz 552; 590
Blut 229; 8 auch unter
Zauber
— aly Geist 230
— apotropäis3hl02; 169
— im Opfer 488
Bonaventura 623 ff.
Bonifatius 617 f.
Brahma 51
Brandmarken 62 ff.
— , relig. 101 ff.
— als Strafe 65 f.; 86 ff.
— der Soldaten 124 ff,
— von Gefangenen 68 f.;
71
Brot u. Wein 25 f.; 325
Buddha 9; 325,4; 870; 386
Buddhismus u. Christentum
18
Buddhistisches 60 f.; 326,4;
384; 390
Büffeltanz 243
ßovxöXoL 578
Bündnisritus 182,2
Büßer im Hades 582
Cacas 694
Calvin 683
Cerberus 497
Chadhir 313 f.
Charon 601
Chinesisches 371; 384
Chiromantie 521
Christentum, Entstehung
582
— u. Buddhismus 18
— U.Judentum lff.;321ff.
Christus 523
Chronos 539
Cicero 520
Dämonen 9; 15; 103;140f.
156; 222ff.; 227; 231
244; 267; 269; 282; 284 f.
289ff,; 299ff.; 318; 326
348 f.; 361; 458; 473 f.
480; 483; 490: 492; 527
543 ff.; 550; 552; 555; 567
575; 594; 600 f.
Dämonenbild 142
Dämonentänze 288
Danksagungsfest 259
Dante 625
Dardanos 319; 549
Delphin als Retter aus See-
gefahr 13; 52
— als Symbol d. Rettung
352
— heilig 332,1
— , sein Erscheinen gün-
stig 351,1
— u. Apollon 13
Delphos 553
Demeter 551; 576; 601
— u. Baubo 570
Derketo 50; 338; 342 f.
dtEQog 461
Dike 560
Dionysos 117; 442; 661;
655; 570; 599
— Perikionios 589
— u. Esmun 576
— u. Sabazios 576
Dioskuren 554; 581
Donnergott 299
Doppelaxt 529
Drachenkämpfe 386; 662
Dreiheit 600
Dreizahl 10 f.; 238 f.; 249;
261; 320; 385; 391
Dyaus 498
£a 348
Ehen mit Tieren 491; 493
Eid 489; 661
Eideshelfer 661
Eiiigeweideschau 181; 475;
690
i Ekstase 420 ff.; 569
Elemente 539; 541
Elias 11
'ivsQoi, 458
Enthaltsamkeit 223 ; 226 ;
293; 569
Enthusiasmus 552 ; 571 ; 601
Ephesia grammata 108;
150
epigramma fugitivorum
soff.
Epikur 647 f.
Epilysamene 625
Epimachos 525
Epiphanie 441 f.; 596
Erdgöttinnen astraler Natur
273
Erechtheus 550
Erichthonius 566
Erlösung 47 f.
Erntefest 259; 268; 270;
279; 291; 467; 477; 480
Erntezauber 380
Eros 419; 525
Eschara 526
Eschatologisches 148; 322ff.;
357 ff.; 619
Esmun 576 f.
i Essen v. Tieren
Hei-
482;
370;
I ligung 326 f.
E&zauber 208; 210
Ethik, griech. 585 f.
I — , sexuelle 306
j Ethisches 465; 476;
491
Etruskisches 333, i;
628; 590
Eucharistie 606; 608
Eumolpidai 526
Exogamie 162; 226
Exsuperatorius 313
Ezechiel 102; 131 f.
Fakire 516
fasten 132; 225 f.; 231;
236; 243; 249; 262;
261 f.; 267; 293 f.; 336
Fasti 526
Febris 420
Federtanz 260
Felsbemalung 289
Felsinschriften zauber-
kräftig 229
Feste 130ff.; 172,i; 174,6;
233; 237; 268 f.; 286;
Register
651
293; 298; 438 ff.; 474 f.;
477; 480; 484; 558; 696;
613
Festgebräuche 1 9 f . ; 25 ;
103, 140; 307: 357 f.
Festkalender 279; 550
Festlieder 267
Festverkünder 558 f.
Fetiales 526
Fetische 201; 250; 267:
J8Ö: 294; 334; 381,2;
472: 479; 484; 494f.;
529; 536; 589
Feuer, heilig 265
Feuertänzer 248
Fisch als Darstell, von
Ahnengeist«m 357 ff.
— als heil. Speise 6 ff.
— als mag. Heilmittel
346 f
— als Opfer 335
— als Opferspeise 332,s
— als Retter 17
— — der ganzen Mensch-
heit 51
— alsSeligenspeiseälf.;
38 f.; 321 ff.
— als Symbol 1 ff.; 321 ff.
- — der Fruchtbarkeit
356; 376 ff.
— — d. Seligenspeise
18; 367
— als Träger der Weis-
heit 329
— , messianischer 5 ff.
— , seine eucharistische
Bedeutung 38
Fische göttl. Ursprungs 334
— , heilige 6 ff.; 13 f.;
327 ff.; 360 ff.
— zur Heilung 50 f.
Fischgenuß, Crspr. d. F. bei
den Juden 19 f.
Fischmythen, jüd.-christl.
Iff.; '321 ff.
Fischorakel 350; 388
Flamines 526
Fluchformel 189; 199,4; 521
Fluchgottheit 148
Fluchtexte 519; 531
Fluchtopf 477
Fluchzauber 143 ff.; 318 f.;
547
Flußgötter 526
Formido 411; 414
Fortuna 526
Freundschaftsriten 258
Fmchtbarkeitsdämonen
289; 291: 522; 565
Fruchtbarkeitsgottheit 279 ;
552; 570
Fruchtbarkeitsrit^n 260 ;
265; 289; 295 f.; 310;
312; 566; 593
Fruchtbarkeitszauber 215;
217; 244; 247; 268: 280;
308; 377; 502; 534; 552;
558 f.
fünfter Wochentag günstig
48
Fünfzahl 48; 234; 238;
281 f.; 376
Furiae 526
Ge 551
— Hemeros 520
Gebet 46,4; 48; 51; 174 ff.;
180; 189ff.; 194; 196ff.;
236; 282; 284 f.; 297;
315; 384,3; 470; 472; 476;
483; 488 f.; 494; 514;
528; 531; 547; 578
— an d. Mond 199,4; 232
Gebetsbräuche 161 ff
Gebetsfedern 264 f.
Gebetsformeln 231 f.
Geburtsgöttin 284
Geburtsriten 228 ; 234 ; 242 f.
Geburtstag 303 : 439,3 ; 527 ;
596
Geheimgesellsch aften,relig.
223; 258; 263 f.; 266; 530
Geißelung 643 ff
Geister 161 ff.; 225; 230;
244; 307; 315; 361; 458;
473 f.; 477 f.: 480; 531
— austreiben 244
— d. rechten u d. linken
Seite 177 ff.
— mißgünstig 191,i
— , unbekannte 175, i
— verlästert 192
— verwandeln sich in
Tiere 167 f; 198
— werden betrogen 174
Geisterbefragung 174
Geistersee 169
Geistertanz 251; 256
Geld, seine Entstehung 425,i
Gesänge, relig. 240; 251
258; 260; 267; 269: 283
285 f.; 301; 304; 481
489; 500 f.
— apotropäisch 236
Geschenkfeste 223
Geschlechtliches 163: 205:
217: 234 f; 270; 308;
311; 377: 489; 501 f.
Gesichtsbemalung 226
Gespenster 491; 601; 643
Gestirne u Kult 550
Gnostizismus 571; 609
Gorgonen 601
Götterbild ^89; 611
— gebadet 310
— z. Abwehr v. Unglück
aufgestellt 284
Göttergeburtstage 439; 441 ;
443
Göttemamen 379,i; 524 f.;
575; 598
Gottesgericht 480; 484
Gottessagen 194
Gottesurteil 210.2; 475
Gottesvorstellung 194
Gottheiten 269; 284
— Patrone menschl.
Tätigkeiten 224 f.
— in Fischgestalt 51 f.;
327; 343
Gottkönigtum 278f.; 530;
582
Gottmenschen 599
Grabbauten 518
Gräbertult 550
Grabsteinsymbole 29
Grastanz 244
Gründungslegende, röm.523
Haar, geweiht 480
— i. Zauber siehe Zauber
Hades 576
Hadesstrafen 561
Hahn als Symbol der Auf-
erstehung 23
Haine, heilige 169; 171 f.
Hakenkreuz 381; 392
Hand, rechte 101; 108;
118 ff.; 126; 128 f.
Handauflegung 526
Hände, erhobene auf Grä-
bern V. Ermordeten 519
Haruspizin 590
652
Register
Heidentum, sein Fortleben
599 ff.
Heidnisches i. christl. Kult
522
— i. Marienkult 614 f.
Heilandskulte 581
Heilgesänge 267
Heilige, sonderbare 521 f.
Heiligenbilder apotrop. 315
Heiligenlegende 619
Heiligenverehrung 600
Heiligkeit d. Familie 163
— d. Herdes 307
Heilungswunder 56 ff.
Heilzauber 201; 204 ff.;
214f.; 222; 225; 236;
248 ff.; 260 f.; 267; 291;
293; 296 f.
Hekate 332,3
— u. Bendis 576
Heldensage 304
Helios 583 f.
Hephaistos 576
Herakles 563; 566; 570;
590
Hercules Saxanus 598
Hermes 551; 563; 568 f.
— Pyletes 520
— u. d. Toten 555
Heroen 567 f.
Herrscherkult 550; 579 ff.
Hesiod 393 ff.; 427; 438;
442 ff.
Hexen 304; 479
Hexenprozesse 629
Hieronymus 609 ff.
IsQog yd^iog 311 f.; 644
Himmelfahrt Christi 621
Himmelsbriefe 618
Himmelskult 196 ff.; 529
Himmelstor 48
Himmelszeichen 198
himmlische Erscheinungen,
ihre Darstellung magisch
266
Hirt, d. gute H. 31 f.
Hiskia 136 f.
Hochzeitsgebräuche 20 ;
376f.; 378,1; 537; 644
Hölle reinigend 47, i
Höllenbrücke 322 f.
Höllenfahrt d. Venus 272
Homer 77; 431; 434
— , allegorisch interpret.
687
Horaz 595
Horme 520
Hundetanz 231
Hymnen 402 ff.; 552; 581;
588
Idole 118; 479; 484
Indisches 17; 41 f.; 50; 333;
347; 497 ff.
Indra 498; 500; 502
— u. Zeus 498
Initiationsriten 237 f.; 263;
291; 469; 471; 479; 481;
530; 570; 645,1
Inkubation 56 f.; 544; 554
Ion 541
Iranisches 543
Isis 50; 117; 569; 582
— u. Sarapis 579
Islamitisches 495
Isopsephieen 538; 542; 574
Istar 392
Japanisches 341, i; 348,2;
354; 390
Jesus 342; 600
Jinön 49 f.
Jona, Vorbild Jesu 10
Josua 4
Judentum u. Christentum
Iff.; 321 ff.
Jüdisches Iff.; 130 ff. ;321ff.;
580
Kabiren 554; 575f.
Kadmilos 576 f.
Kaiserkult 124; 597; 585
Kalender 283; 427 f.; 436 ff.
— , milesischer 428
— , relig. Ursprung 436
Keuschheit, kultische 163,i ;
527
Kircheugeschichtliches
603 ff.
Knochen zerbrechen ver-
boten 309
Kommunionsriten 532
Konfirmation 101
Köre 537; 661; 570; 576 f.
Kosmas u. Damian 523
Krähentanz 251
Krankheitsdämonen 166;
226; 244; 290 f.; 300;
843; 365; 368; 389
Krankheitsgott 298
Kriegergenossenschaften
246 f.
Kriegsgebräuche 223; 226
266
Kriegsgesang 267
Kriegstanz 233; 236; 267
489
Kriegszauber 261
Kruzifix, schwimmendes
309 f.
Kultbauten 548 ff.
Kulte, chthon. 590
Kultgesetze 561
Kulthandlungen, allmonatl.
439 ff.
Kultstätten 308; 478; 549;
592
Kulttage 441 ff.
Kultübertragungen 527
Kultvereine 148; 518;578f.
Kureten 552
Kuros 552
Kybebe 577
Kybele 542; 651; 569; 582;
590
— u. Atargatis 1481.
Labrys 629
Lachen, rituelles 305
Lamien 601
Laubhüttenfest 135; 137;
139
Legenden 522; 613; 6il
— , aitiolog. 527
Legendenbildung 568 f.
Leichen, Berührung v. L.
bringt Unglück 217
Leichendämonen 352
Lemuralia 534
Leukas-Ithaka 461 ff.
Leviatan 4; 6ff.; 20; 39 f.;
49; 53; 341; 386
— u. Messias 8 ff.; 321;
342
Libanios 520
Liebeszauber 223; 226; 297;
304; 316 ff.; 647 f.
Liturgie, altchristl. 606
Logoslehre 600
luperci 305
lustrare 531
Lustratio 693
Luther 630 ff.
Lykurgos 666
Resrister
653
Maisgottheit 259
Manichäismus 583; 609
Manilius 520
Mannweiber 237
Mantik 524; 543 ff.
Märchen 305; 465 f.; 471 f.;
477: 479; 484; 489 ff.;
495; 548
— . aitiolog. 482; 492
Marduk 536; 538
Marias unbefleckte Emp-
fäagnis 616
Marienverehrung 612 ff.
Marken 56 ff.
— , Art«n d. Herstellung
60
— der Soldaten 98 ff.
— , Einbrennen v. M. 61
— religiöser Sekten 9 8 ff.
Mars Albiorix 598
Maskentänze 228; 288 f.;
469
Matemus 521
Matronenkult 379,i
Medizinmänner 201 ff.
Medizinpfeife 254
Medizinp teile 245 f.
Medizinsack 249 f.: 254 f.
Meergott 334: 342,i
Melanchthon 633
i7',r 432 f.
messianischer Stier 38 f. ; 52
Messias 6; 8 f.; 11 ff.: 49
— u. d. Astrologie 46
— u. Leviatan Stf.; 321;
342
Messiasnamen 49 f.
metus 411; 414
\ Milchtaufe 305
Mithras 325,4; 536; 569;
582 ff.
Monat, griech. 426 f.
J Monatsnamen, griech. 430 f.;
437
Mond 199; 272: 275 ff.;
284: 491
— in d. Zeitrechnung
426: 431 ff.
— im Zauber siehe das.
— . zunehmender 199,4;
i *88
>| Mondgötter 562 f.
Mondgöttin 269; 273 ff.;
279; 300; 542
Mondmythen 562
Mondsichel, Weihung einer
M. an Hermes 520
Moses 495
— als guter Hirte 31
Mumienköpfe im Kult ver-
wendet 294
Musenanrufung 393 ff. ;
402 ff.
(ivßTai 578
Mysterien 501; 569 ff.; 578;
599; 602
Mysterienbräuche 317 f.
Mysterienkult 337; 338,4
Mystik, Christi. 625 ff.
Mystizismus, astraler 583 f.
Mythen 215 ff.; 220; 224
228: 233: 243: 254; 258
266; 269; 274f.; 291; 475
481; 532; 537; 553; 668
594
Mythendeutung 587 f.
Mythenwanderung 565
Mythologisches 465; 491;
497 ff.: 517; 622
Mythos 561 ff.
— , semit. Ursprung d.
griech. M. 526
, Nacktheit, kult. 627 ; 557
I — im Zauber siehe das.
1 Namen zu nennen verboten
489
— fangen 268 f.
Namenfest 268 f.
Narbenzeichen 60 ff.
Naturdämonen 221; 235
Naturgeister 231
Naturgottheiten 224
Nehemia 132 f.
Nerthus 310
Neujahr bei d. Juden 138 f.
Neunzahl 270; 289; 316 f.;
320; 336; 357; 426; 431;
433; 435; 448; 572
Neuplatonismus 520; 644;
584
Neutestamentliches 26 : 30 :
I 102; 107; 115ff.; 375,2;
385
Niesen 232
j Nonnos 520
I Nuakintanz 243
Numina 597
nun 4: 49f.
i Nymphen 565: 601'
I Oannes 52
; Odysseus 524; 564
Offenbarung 245; 249; 320;
! 483; 544; 571; 613
Omina 173; 475; 479 f.
i Opfer 171 f.; 179; 284 f.
298; 300; 310; 443; 473
475 f.; 483; 488; 490
I 492; 506; 531; 569: 578
! 606 f ; — von Gottheiten
' 277; — Argeeropfer305f.;
— Bauopfer 555; Dank-
opfer 176 ; 199 ; — Emte-
opter282; — Fischopfer
■ 338,4; 358; 361; 378;
392; Kriegsopfer 199;
559; — Menschenopfer
277: 279; 310; 335: 474;
506; — — , Ablösung v.
M. 644; — Sonnenopfer
264 ; — Speiseopfer 483 ;
— Tieropfer 505 ; —
Totenopfer 181; 280
322,3; 365,8; 482; 641
— Trankopfer 473; 483
488
Opferfeste 162
Opfergaben 172, 175; 180;
190 f.; 224; 254; 282;
296 f.; 330
Opfergebräuche 166 f. ; 176;
i 180; 189; 559
■ Opfermahl 337,4
Opfersprache 559
; Opferstätten 187
Opferstoffe 559
Opfertiere 172
I — , Geschrei d. 0. unheil-
I voU 470
Orakel 172 f.: 177; 179 f.;
204; 305: 544; 548
— , chaldäisches 683
Orientalisches i. Griechen-
tum 423 ff.; 533; 535;
1 539; 543
— i Jöm.Heidentum582ff.
Orientation 549 f.
Orpheus 599
j Orphisches424;446; 532 f.;
i 539 f.; 542: 572
j Osiris 579; 582
I Pan 601
I — , Tod d. großen P. 532
Pandrosos 660
654
Register
Paradies 34; 323 flf.
Parapegmata 428
pars pro toto 230
Passah 136 f.
paulinisches Christentum
571
Paulus 115 ff. ; 571 ; 587 ; 609
Penelope 524; 564
Persephone 568; 601
Persisches 45,6; 322; 328;
333; 539
— im Judentum 39 ; 322
Personifikationen 594
Pfeile, heil. 248
Pflanzen apotropäisch 546
Phallisches 519 f.
Phallus 265; 270; 644
Phallustanz 289
Phanes 539
Pherekydes 538
Philoktet 576 f.
Phobos 419; 546
Phönizisches 519
Plato 91; 529
Pluton 539
Pontifices 526
Poseidon 332; 442; 524 f.;
550 f.; 601
Priapos 525
Priscillian 608 f.
Prometheus 525
Prozessionen 280; 531; 578
Prozeßzauber 156
Psyche 525
Pubertätsfeiern 468; 479 f.;
644 f.
Pubertätsriten 226; 228 f.;
233 f.; 241 f.; 334; 552;
644 f.
Puppe, magisch 480
Pygmäen 482; 494
Pythagoräisches 444,i; 445
Pythios 525
Quellen von Ungeheuern
bewohnt 260 f.
Quirinus 525
Rätsel 489; 573
rechts 317
Deformation 605
Kegengötter 264; 284
Kegenpriester 264
Regenzauber 215 ; 230 ; 232 ;
254 f.; 265; 268; 280;
296; 310f.; 313; 478;
510; 640
Reinheits Vorschriften 527;
581
Reinigung, kult. 531
Reinigungsriten 310; 312;
644
relegere 406; 417 f.
religare 408 f.
religio 406 ff. ; 529
— , Etymologie 408 ; 417 f.
Religion astral gedeutet 273
religiosus 410; 413; 416;
422
Reliquien 484; 611 ff.
Reliquienkult 527
Remus 523
Rgveda 499 ff.
Rhesos 555
Rhomos 523
Roma 525; 597
Romulus 523; 525
Romulualegende 594
rote Wolle 297 ff.; 316
Sabazios 118; 325; 337;
525; 555
— u. Dionysos 576
Sabbat 435
sacer 526
Sage vom heil. Gral 505
Sagen 194; 565; 568
Salbung 101
Salii 526; 593
Sandzeichnung 238 ff.
Sarapis 525; 579 f.; 682
u. Isis 579
Saturnalia 526
Saturnus 525
Satyros 525
Schadenzauber 1 43ff. ; 1 99,4 ;
206; 209 f.; 226; 244;
254; 261; 296; 350; 371;
510; 531; 546
Schamane, sein Werdegang
235
Schamanen - Zauberbündel
222
SchamanismuB 220; 222 f.;
225 ff.; 229 f.; 232 f.; 285 ff.;
244
Scheingeburt 616
Schlachtfest 172,i; 174,5
Schlange 76; 207; 467; 476
Schlangenkult 340,i; 472;
478; 484; 488; 641
Schöpfungssage 195; 269;
489
Schutzgeistgesang 230
Schutztiere 238
Schutzzauber 201 f.
schwarze Farbe 177; 282
Schwimmen d. heil. Petrus
281
Schwurgötter 561
Schwurritus 561
eißag 412; 414
Securis 526
Seegespenster 459 f.; 464
Seelen 218f.; 304; 478;
490; 538; 595
Seelenbrücke 322,3; 365,3;
387
Seelenfisch 362 ff.; 371 f.;
390
Seelenorte 235
Seelentiere 167; 467; 476
Seelenvogel 357; 391
Seelenwanderung 167 ; 293 ;
363; 561
Seewesen, übernatürl. 224
Seirenen 525
Sekten, relig. 126 f.; 635
Selbstverwundung 236; s.
auch Zahn Verstümmelung
Seligenland 324
Seligenmahl 29 f. ; 34 ; 324 ff.
Seligenspeise 6 ff.; 21; 30;
38; 321 ff.; 356
Semitisches 122; 529
— im Griechentum 576
Sepulcrum 526
Serapis s. Sarapis
Sibyllae 526
Sideralmythologie 662 f.
Siebenzahl 6; 33 f.; 102
249; 252; 282; 325; 377
392; 4 25 f.; 431; 433 ff.
443; 447 f.; 573; 643
Siegesfest 294
Silene 625
Simonie 620
Sklavenmarken 68 ff.; 77 ff.;
87 ff.
Sol invictus 688
Sondergötter 668; 698
Sonne 198; 491; 698
Register
655
Sonnengott 269; 274 ; 278 f. ;|
284; 300
Sonnenkult 583
Sonnentanz 243 ff.; 247;
250; 253
Sonntag bei d. Indianern 227
Sophokles 520
Soteira 525
Speichel beim Bündnis
182.2
— beim Gebet 197
— im Zauber siehe das.
Speien 201
— bei Gefahren 205,2
— im Opferritus 180;
185 f.; 196; 199
Speisegebräuche 239
Speisen zauberkräftig 317
Speiseverbot 473
Spiele 251; 257
— , reUg. Ursprung 2 14 ff.
Stab als Symbol d. Richters
560
Städtegründung 550
Steine magisch 308
Steingeburtsagen 641 ff.
Steinigung 560
Sterne 200; -274 ff.; 284
— i. d. griecb. Zeitrech-
nung 427 ff.; 436; 438;
448
Stemenmäntel 536 ff.
Sternglaube 41 ff. ; 386 ; 528
Sühnfest 435
Sühngott 446
Sühnriten 131 f.; 248; 267;
443; 446; 545; 560
Sündenbock 140
Sündenvergebung ist Hei-
lung 8 f.
superstitio 406 ff.; 420 ff.
Symbole 31; 35 ff.; 578;
592
Sympathiezauber 20-3; 219
Synkretismus 519; 525; 579
Gvv&vrai 578
Tabak als Opfergabe 224
— als Totengabe 324
Tabu 220; 248; 361 ; 408 ff.;
444 ff.
Tabuverletzungen 218; 445
Tabuvorschriften 217; 444
Tag, siebenter, d. Apollo ge-
weiht 434; 412
Tage, günstige u. Ungunst
438 ; 444
— , tabuiert 448
— , Ungunst. 132
Talion 561
Tanz apotropäisch 291
'Tanzdorf 263; 265
Tanzdramen 500
Tänze, relig. 185; 227; 230
233 f; 238; 251 ff.; 259 ff.
263; 265; 269 f.; 279; 281
291; 293 f.; 475 f.; 479
481; 559; 565
Tanzgötter 264
Tanzriten 253
Tarpeia 532
Tätowieren 60 f.; 72 ff.
— heilt 78
— Mittel zur Vergottung
74
— totemistisch 76
Tau der Erlösung 48
Taube als Symbol d. From-
men 24 f.
Taufe 101; 115; 128; 570
— , Ursprung 17
TtQag 524
Terpon 525
Thargelien 438; 442; 445
9siov 9i67ti6ua 646 f.
Themis 560
Theologie u. Geschichte
604 f.
O'iaöOs 578
Thomasakten 588
Tier u. Mensch 491
Tiere bringen Krankheit
260 f.; 268
— dämonisch 221 ; 277 f. ;
349,1; 371; 387
— heilige 282; 483
— in d. reüg. Bilder-
schriften 278
Tiergeister 258
TiergeseUschaften 258 f.
Tierkreisbilder i. Talmud
Tierkult 224; 282; 328
332 ff.; 340,2; 467; 472
476; 478; 484; 536; 586
589; 640 f.
Tierschrei ominös 173; 300;
470
Tiertänze 260
Totem 470; 483; 487 f.
— , erblich 243
Totemiamus 162; 222; 224;
242 f.; 301; 328,1; 466 f.;
473; 504; 528 f.; 532 f.
Totemsäulen 226
Totemtier 76; 222; 230 f.;
261: 328,2; 467
Tote als Sterne 277
— auf d. Meere »ändernd
458
Totenauferstehung. Tau
d. T. 48
Totenbezeichnung 449 ff.
Totenbräuche 181 f.; 186 f.;
230; 237 ff.; 289; 291;
315; 360; 375; 439,3;
480; 556 f.
Totenbuch, ägypt. 344
Totenfährmann 390
Totenfest 223; 289; 291;
357; 361; 484
Totengaben 324; 351,i;369
Totengericht 357
Totenhochzeit 179
Totenklage 185
Totenknochen 292
Totenkult 358; 555 f.
— , modemer o02f.
Totenmahl 309
Totenschiff 390
Totenstrom 322,3; 365,3
Totentanz 361
Trauergebräuche 239
Traumdeutung 544 f.
Träume 481; 483; 643
— verleihen übernatürl.
Kraft 244
Traumheilung 526; 554
Tyche 596
Tychon, d. heil. T. 522
Umdrehen verboten 317
Unsterblichkeitsglaube 322
ünsterbHchkeitstrank 39
Unterwelt u. Diesseits 158
Unverwundbarkeit 567
Uranos 539
— u. Gaia 529
Yampir 304
Varro 520
Vegetationsgottheiten 578
Verbote, relig. 233; 293
317; 327 ff.; 339 f; 357
359,1; 362:413; 473; 479
488 ff.
656
Register
Vereine 439,3
Vereinsnamen 578
Vergil 548
Versöhnungsfest 130 ff.
Vierzahl 185; 199,4; 215;
245 f.; 252; 257; 263;
265 f.
Vierzig 572
Visionen 251; 635
— verleihen übematürl.
Kraft 244
Votivhände 118 ff.
Wahrsagen aus Kömern
283
Walddämonen 290
Wallfahrten 284 f.; 293; 613
Wasser, rote Färbung des
W. 648
Wasserdämonen 330; 359 f.
Wassergeister 335; 364
— weissagen 350, i
Wassergott 300
Wasserwandeln 458 f.
Weibertanz 243
Weibertausch, zeremoniel-
ler 219
Weihungszeichen 74
Wein, sakram, Bedeut. 527
— u. Brot 25 f.; 326
Weiße Farbe 260; 492
Weltenjahr, d. parsistische
47,1
Werwolf 487 ; 490
Wetterzauber 228 ; 230 ; 232 ;
539; 558
Wettrennen, magisch 269
Wiedergeburt 51; 362; 515;
568; 571
Wunder 619 f.; 622 f.
Wundererzählungen 56 ff.;
459; 522 f.; 588
Wunderglaube 526
Wundermänner 534
Wunderpflanze 241
Würfel beim Orakel 305
Zahlenmystik 445 ; 542 ;
572 ff.
Zähne geweiht 480
Zahnverstümmelungen 468 ;
475; 489
Zarathustra 9; 328
Zauber 221; 543 ff.; siehe
auch Abwehrzauber, Ana-
logiezauber, Bannzauber,
Berührungszauber, ßild-
zauber, Erntezauber,
Eßzauber, Fluchzauber,
Fruchtbarkeitszauber,
Heilzauber, Kriegszau-
ber, Liebeszauber, Pro-
zeßzauber, Regenzauber,
Schadenzauber, Schutz-
zauber, Sympathiezau-
ber; Wetterzauber; —
Abzeichen 247 ; — Bema-
lung 248; — Bild 74; —
Blasen 232; — Blei 546;
— Blut 316; — Erde
480; — Gesang 531; —
Gestirne 538; — Grenze
531; — Haare 316; 618;
— Kreis 74; 531; —
Malereien 222; — Men-
schenblut 296; — Men-
schenfleisch 304; 480; —
menschl. Körperteile 255 ;
304; — Mond 199,4; —
Musikinstrument 246; —
Nacktheit 234; 236; 307;
557; — Nägel 618; —
Name 74; — Puppe 480;
— Schlange/ 205; —
Schweiß 316; — Silber
347 ; 547 ; — Speichel 475 ;
489; — Steine 308; —
Tierteile 255; 258; —
Wettrennen 269;— Zeich-
nungen 255
— u. Medizin 74
Zauberer 207; 319; 324;
481
Zauberformeln 220; 236;
371 f; 514f.; 528; 531;
569
— verkehrt zu sagen 514
Zaubergebet 318 f
Zaubergesänge 248
Zauberkräfte dinglich ge-
dacht 201
Zaubermittel 203 f. ; 206 ff. ;
223; 225; 244; 248 f.;
256; 295; 472; 480; 484
Zauberpflanze 246; 251
Zauberritus 514
Zaubersprüche 220; 231 f.;
573
— , gesungen 2 60 f.
Zaubertext 151 ff.
Zauberversammlungen 263
Zauberwürfel 481
Zehnzahl 234; 282
Zeichen 56 ff.
Zeitrechnung, griech. 423 ff.
— , jüdische 134 f.
Zeus 444; 552; 581; 601
— Eurydamenos 518
— Themistios 404
— u. Helios 539
— u. Indra 498
Zigeuner 305
Zucken, ominöses 474; 480;
545
Zwingli 633
Zwölfzahl 47; 61
Dmck von B. O. Teubner in Drolden
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Wß Archiv für Reli'^onsvissan«^
4 Schaft vereint mit d^n
A8 Beitragen zur Religions-
Bd.lA wissenschaftlichen Gesell-
schaft in Stockhol»
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