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Full text of "Archiv für Religionswissenschaft vereint mit den Beiträgen zur Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm"

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Univ.of 

TOROKTO 

Library 


BJNDINe  USTAÜG  1  3  1923 


/ 

ARCHIV 
FÜR  RELIGIONSWISSENSCHAFT 


NACH  ALBRECHT  DIETERICH 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

H.  OLDENBERG        C.  BEZOLD        K.  TH.  PREÜSZ 

I 

IN  VERBINDUNG  MIT  L.  DEUBNER  HERAUSGEGEBEN  VON 

RICHARD  WÜ^^SCH 


VIERZEHNTER  BAND 
MIT  2  ABBILDUNGEN  IM  TEXT  UND  1  TAFEL 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG  191 1 


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Inhaltsverzeiclinis 


I  Abhandlnngen  s«it« 

Das    Fischsymbol    im  Judentum    und   Christentiun    von  I.  Schef- 

telowitz  in  Cöln  a.  Rh 1 

La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore,  suivie  de 
recherches  Bur  la  marque  dans  l'Antiquite  par  Paul  Perdri- 
zet,  Nancy.     Avec  une  planche  54 

Das  Alter  des  israelitischen  Versöhnungstagee  von  Hubert  Grimme 

in  Münster  i.  W.     Mit  einer  Abbildung  im  Text 130 

Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen  von  A.  Abt  in  OflFenbach  a.  M. 

Mit  einer  Abbildung  im  Text         143 

Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro.  Original- 
aufzeichnungen von  Eingeborenen  von  J.  Raum,  Missionar  in 
MoBchi 159 

Das  Fischsymbol   im    Judentum    und  Christentum    von  L  Schef- 

telowitz  in  Cöln  a.  Rh.     Schluß ■     .     321 

Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  von  Konrat  Ziegler 

in  Breslau 393 

Religio  und  Superstitio  von  W.  F.  Otto  in  München 406 

Die  älteste  griechische  Zeitrechnung.     Apollo  und  der  Orient  von 

Martin  P.  Nilsson  in  Lund 423 

AXi^avzt^  von  0.  Immisch  in  Gießen 449 

II  Berichte 

1  Religionen    der  Naturvölker    Amerikas    1906—1909   von   K.  Th. 

Preuss  in  Berlin 212 

2  Die    afrikanischen    Religionen    1907 — 1910    von   Carl  Meinhof 

in  Hamburg 465 

3  Vedische  Religion  1907—1910  von  W.  Caland  in  Utrecht      .     .     497 

4  Griechische    und    römische    Religion    1906 — 1910  von  Richard 

Wünsch  in  Königsberg  Pr 517 

6  Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit  von  Albert  Werminghoff  in 
Königsberg  Pr.      ...  603 


IV  Inhaltsverzeichnis 

III  Mitteilungen  und  Hinweise 

Von  L.  Deubner  (Moderner  Totenkult)  302,  (Volkskundliches)  304, 
(Berichtigung)  305,  (Zum  Argeeropfer)  305;  A.  Hellwig  (Anthro- 
pophyteia)  306;  L.  Curtius  (Christi  Himmelfahrt)  307;  J.  Gold- 
ziher  (Magische  Steine)  308,  (Zu  Archiv  XIII  153)  309;  B.  Kahle  f 
(Schwimmendes  KruziBx)  309,  (Zum  Nerthuskult)  310;  A.  v.  Doma- 
szewski  (Exsuperatorius)  313;  M.  Lidzbarski  (Zur  Chadirlegende) 
313;  L.  Radermacher  (Berührungszauber)  314;  0.  Janiewitsch 
(Volkskundliches  aus  Rußland)  315,  (Volkskundliches  aus  der 
Ukraine)  315;  H.  Usenerf  (Zu  den  Mysterienbräuchen)  317; 
R.  Wünsch  (Krähen  als  Dämonen  bei  den  Römern)  318,  (Moderner 
Fluchzauber)  318,  (Der  Zauberer  Dardanus)  319,  (Zu  üseners  Weih- 
nachtsfest) 320. 

Von  A.  Wiedemann  (Regenzauber)  640,  (Zum  ägyptischen  Tierkult) 
640,  A.  von  Löwis  of  Menar  (Zu  den  Nordkaukasischen  Stein- 
geburtsagen) 641;  E.  Pfuhl  (Zur  Geißelung  der  spartanischen 
Epheben)  643;  A.  Wilhelm  {@stov  ■S-eöjrKJfia)  646;  S.  Sudhaus 
(Epikur  als  Beichtvater)  647;  F.  Hempler  (Zu  Archiv  XIII  339)  648 

Register     Von  Willy  Link  649. 


I  Abhandlungen 


Das  Fisch -SjTiibol  im  Judentum  und  Christentum 

von  I.  Scheftelow^itz  in  Cöln  a.  Rh. 

Inhalt 

1.  Im  Jadentnm  ist  der  Fisch  im  Wasser  das  Sinnbild  eines  gläubigen 
Israeliten.  Die  ältesten  Kirchenväter  übertrugen  dieses  aus  dem 
Judentum  übernommene  Bild  auf  den  Christen. 

2.  Der  jüdisch -messianische  Fisch  Leviatan  war  auch  dem  Urchristentum 
bekannt. 

3.  Messias  in  Verbindung  mit  dem  messianischen  Fisch. 

4.  Die  Verschmelzung  des  Messias  und  des  messianischen  Fisches  im 
Christentum. 

5.  Bisherige  Erklärungen  über  das  christliche  Ichthys-SymboL 

6.  Der  Fisch  ist  bei  den  jüdischen  Festmahlzeiten  und  in  den  Malereien 
der  Katakomben  ein  Symbol  der  Seligenspeise. 

7.  Ursprung  der  engen  Verbindung  des  Fisches  mit  dem  Auftreten  des 
Messias  im  Judentum.     Astrologische  Einflüsse. 

8.  Ursprung  der  jüdischen  Vorstellung,  daß  die  Seligen  in  dem 
messianischen  Reiche  Fische  genießen.  Der  Fisch  als  Verkörperung 
göttlicher  Kräfte  bei  den  verschiedensten  Naturvölkern. 

9.  Der  Fiäch  als  Symbol  des  Schutzes  gegen  Dämonen  und  als  glück- 
bringendes Zeichen. 

10.  Die  Fische  als  Darstellungen  von  Ahnengeistem.  Fischfiguren  in 
Gräbern  der  vorchristlichen  Zeit.  Bedeutung  der  in  jüdischen  und 
altchristlichen  Gräbern  gefundenen  Becher,  die  mit  Fischbildem  ver- 
ziert sind. 

11.  Der  Fisch  als  Symbol  der  Fruchtbarkeit. 

12.  Jüngere  Vergleiche  mit  Fischen  im  Judentum. 

Das  Christentum  hat  nicht  nur  die  Septuaginta  und  eine 
reiche  jüdisch-religiöse  Literatur  mitübernommen,  sondern  „der 
Gebrauch  von  Gebeten,  liturgischen  Formen,  Katechismen 
jüdischen  Ursprungs,  der  Anschluß  der  christlichen  Apologetik 
an   die  jüdische   beweist,  wie  viele  seiner  wirksamsten  Mittel 

ArchiT  f.  ReligionswisseDgchaft  XIV  1 


2  I-  Scheftelowitz 

und  Kräfte  der  Propaganda  es  dem  Judentum  verdankt".* 
Der  Gebrauch  des  Alten  Testaments  beim  Gottesdienst,  die 
Gewöhnung  an  eine  Menge  alttestamentlicher  Gedanken  und 
Anschauungen  und  das  Suchen  nach  Weissagung  und  Er- 
füllung brachte  das  Christentum  immer  wieder  mit  jüdischen 
Ideen  .in  Beziehung.  Der  christliche  Gottesdienst  zeigte  ur- 
sprünglich die  größte  Verwandtschaft  mit  dem  Synagogen- 
gottesdienst. Die  Einrichtung  der  Festzeiten  und  Fasttage, 
die  heiligen  Handlungen,  die  Kirchenämter,  der  religiös-sittliche 
Vorstellungskreis,  soweit  wir  ihn  aus  den  Schriften  der  Aposto- 
lischen Väter  erkennen,  —  alles  dieses  geht  auf  das  Judentum 
zurück.^  Viele  christliche  Sinnbilder  haben  ihren  Ursprung 
im  Judentum,  wie  die  Taufe,  das  Abendmahl.  Auch  das 
christliche  Fischsymbol  läßt  sich  auf  das  Judentum  zurück- 
führen. Es  ist  aus  urjüdischem  volkstümlichen  Vorstellungs- 
kreise erwachsen.  Da  auf  das  Fischsymbol  im  Judentum 
bisher  nie  hingewiesen  worden  ist,  und  selbst  das  vor  kurzem 
erschienene  Sammelwerk  der  Jewish  Encyclopaedia  nichts  darüber 
enthält,  so  will  ich  hier  das  Material  zusammenstellen. 

1    Der  Fisch  im  Wasser  als  Sinnbild  eines  gläubigen 

Israeliten 

Rabbi  Semüel,  der  im  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  lebte, 
erklärt  denVergleich Habakuk  1,14:  „Und  du  machst  denMenschen 
gleich  den  Fischen  des  Meeres"  folgendermaßen:  Deshalb  werden 
hier  die  Menschenkinder  mit  den  Fischen  verglichen,  um  an- 
zudeuten: Wie  die  Fische  im  Meere,  sobald  sie  aufs  Trockene 
heraufkommen,  sogleich  sterben,  so  sterben  auch  die  Menschen, 
sobald  sie  sich  von  der  heiligen  Lehre  und  den  heiligen  Vor- 
schriften trennen.^  Midras  Rabbä  sucht  ausfühirlich  zu  begründen, 

'  Wendland,  Paul  D.  hellen.-römische  Kultur,  Tübingen  1907,  p.  119. 

*  Vgl. Hoennicke,  G.  D.  Judenchristentum  im l.u. 2.  Jhdt.,  Ber\inl908-y 
Graetz  Gesch.  d.  Juden*,  Leipzig  1893,  Bd.  4  p.  80. 

*  Talmud  'Ahödü  zärü  3b,  Midras  Jalqüt  zu  Hab.  1,  14. 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  3 

warum  die  Israeliten  den  Fischen  gleichen:  Der  Segensspruch, 
den  Jakob  seinen  beiden  Enkeln  erteilt  hatte,  lautet:  „Sie 
mögen  wie  die  Fische  zahlreich  werden  inmitten  des  Landes".^ 
„Die  Fische  wachsen  im  Wasser  auf,  und  trotzdem  schnappen 
sie,  sobald  ein  Wassertropfen  von  der  Höhe  herabfällt,  lechzend 
danach,  gleichsam  als  ob  sie  nicht  genügend  Wasser  aus  ihrem 
Wasser  schmecken  könnten.  Ebenso  wächst  auch  Israel  in 
dem  Wasser  der  heiligen  Lehre  auf,  und  sobald  sie  eine  neue 
Auslegung  aus  der  heiligen  Schrift  hören,  nehmen  sie  diese 
begierig  auf,  als  ob  sie  bisher  keine  Worte  der  heiligen  Lehre 
aus  ihrem  Wasserquell  vernommen  hätten."*  Die  heilige  Lehre 
wird  im  Judentum  gewöhnlich  mit  Wasser  verglichen.^  „Ebenso 
wie  jeder,  der  im  Wasser  nicht  schwimmen  kann,  untergeht, 
so  geht  derjenige  zu  Grunde,  welcher  sich  nicht  in  der 
heiligen  Lehre  zurechtzufinden  weiß."*  Daher  liegt  es  nahe, 
die  Israeliten,  die  in  dem  Wasser  der  heiligen  Lehre  auf- 
wachsen, den  Fischen  gleichzusetzen.  Diese  Vergleichung 
war  um  100  n.  Chr.  ganz  selbstverständlich,  denn  Rabbi 
'Aqibä  wendet  sie  ohne  weiteres  an.  Als  damals  die 
römische  Gewalt  den  Juden  die  Ausübung  ihrer  Religion  bei 
Todesstrafe  verboten  hatte,  und  Pappos,  ein  damaliger  Führer 
der  jüdischen  Freiheitsbewegung,  den  Rabbi  'Aqiba  gerade  traf, 
wie  er  die  israelitischen  Gemeinden  in  den  heiligen  Gesetzen 
unterwies,  fragte  er  den  Rabbi  'Aqiba  ganz  erstaunt:  „Fürchtest 
du   dich  nicht  vor  der  römischen  Gewalt?"     Doch  'Aqibä  er- 


'  Die  alte  aram.  Übers.  Targum  Onkelos  hat  1.  M.  48,  16:  -jISDT 
■jiC  tW^  „Und  wie  die  Seefische  mögen  sie  zahlreich  werden."  Lie  LXX 
übersetzt  diese  Phrase  nur  dem  Sinne  gemäß :  nlTj&vv^tirieav  sig  nl^9os 
aroir  iTil  z^g  y^g. 

*  Beresit  Eabba  cap.  97;  Pesiqta  zutartU  5  M.  32,  2. 

»  Vgl.  Talm.  Beräköt  56b,  Ta'anit  7a;  Ps.  36,  9  —  10,  Jes.  55,  1, 
Jerem.  17,  13,  Mekiltä  (ed.  Weiß)  Wien  1865,  p.  53;  Tanhümä  zu  2.  M. 
15,  22;  Sifre,  Abschn.  48;  Jalqüt  zu  Jes.  51;  Jalqüt  zu  Sir  hassir  b; 
Sirach  15,  3. 

*  Midras  Ta-nhionä,  Paresä  Ki  Täbo  (zu  5.  M.  26,  16). 

1* 


4  I.  Scheftelowitz 

widerte:  ,,Icli  will  dir  ein  Gleichnis  erzählen:  Einst  ging  ein 
Fuchs  an  dem  Ufer  eines  Flusses  und  bemerkte,  wie  die  Fische 
darin  ängstlich  sich  bald  an  diesem  Ort,  bald  an  jenem 
ansammelten;  da  sprach  er  zu  ihnen:  „Warum  flieht  ihr  denn 
bald  hierhin,  bald  dorthin?"  Sie  antworteten  ihm:  „Wir  fürchten 
uns  vor  den  Netzen,  die  uns  die  bösen  Menschen  stellen." 
, Kommet  doch"  —  entgegnete  der  Fuchs  —  „alle  aufs  Fest- 
land, dann  wollen  wir  wieder  friedlich  nebeneinander  leben, 
wie  es  früher  bei  unsern  Urahneu  der  Fall  war."  Doch  die 
Fische  erwiderten:  „Bist  du  wirklich  das  klügste  von  allen 
Tieren?  Dieser  Ratschlag  zeugt  von  Torheit,  denn  wenn  wir 
uns  schon  in  unserem  eigenen  Lebenselement  nicht  sicher 
fühlen,  um  wie  viel  mehr  müssen  wir  uns  dann  vor  dem 
Trockenen  fürchten,  das  uns  den  sichern  Tod  bringt?"  „So 
wird  es  auch  uns  Israeliten  ergehen,  wenn  wir  unser  Lebens- 
element, die  heilige  Lehre  verlassen"  fügte  'Aqibä  hinzu. ^ 
„Wie  die  Israeliten  zahlreich  sind,  so  sind  auch  die  Fische 
zahlreich,  wie  die  Israeliten  auf  der  Erde  nicht  aussterben,  so 
sterben  auch  die  Fische  in  ihrem  Lebenselement  nicht  aus. 
Nur  der  Sohn  eines  Mannes  Namens  „Fisch"  hat  Israel  ins 
gelobte  Land  geführt,  nämlich  Josua,  der  Sohn  des  Fisches-, 
ein  Nachkomme  Josefs  (vgl.  1.  Chr.  7,  20  — 27)."3  Rabbi 
Aöi,  der  im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  lebte,  stellt  sogar  die 
Menschen  als  schwächliche  Fische  dem  gewaltigen  messiani- 
schen  Fisch  gegenüber;  „Wenn  selbst  der  gewaltige  Fisch,  der 
Leviatan,  schließlich  mit  der  Angel  gefangen  wird,  was  können 
dann  die  schwachen  Fische,  nämlich  die  Menschen,  tun?"* 

Besonders  werden  die  frommen  Talmudjünger  mit  Fischen 
verglichen.  „Ebenso  wie  der  Fisch  vom  Wasser  einen  Genuß 
hat,  so  taucht  ein  hervorragender  Gesetzeskundiger  in  jeder 
Stunde  in  den  Strömen    des   Balsams   unter"    (Midr.  Tauhuma 

*  Talm.  Beräköt  61b;  Midras  Tanhümä  zu  6.  M.  26,  17. 

*  hebr.  nü  n  =  „Fisch".  *  Bereait  Rabbä  cap.  97. 

*  Mö*ed  qätän  26  b. 


Das  Fißch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  5 

5.  M.  cap.  32  Einleit).  „Die  Schüler  des  Rabbi  Gamaliel  des 
Alteren  (um  40  n.  Chr.)  zerfielen  in  vier  Arten  von  Fischen,  in 
unreine  Fische,  in  reine  Fische,  in  Fische  vom  Jordan  und  in 
Fische  vom  Ozean.  Ein  unreiner  Fisch  ist  derjenige,  welcher  von 
Niedrigen  abstammt  und  obgleich  er  viel  Bibel,  Misna  und 
Agada  gelernt  hat,  dennoch  seinen  Verstand  nicht  geschärft 
hat.  Ein  reiner  Fisch  ist  derjenige,  welcher  von  Reichen  ab- 
stammt, viel  Bibel,  Misna  und  Agada  gelernt  hat  und  Scharf- 
sinn besitzt.  Ein  Fisch  vom  Jordan  ist  ein  Talmudgelehrter 
von  großem  Wissen,  der  aber  auf  Fragen  nicht  schlagfertig  zu 
antworten  versteht.  Ein  Fisch  vom  Ozean  ist  ein  Talmud- 
gelehrter von  großem  Wissen,  der  die  Fragen  schlagfertig  zu 
beantworten  versteht"  (Aböt  de -Rabbi  Nätän  c.  40). 

Der  Fisch  im  Wasser  ist  also  ursprunglich  das  Sinnbild 
eines  Israeliten.  Die  ältesten  Kirchenväter,  die  dieses  urjQdische 
Bild  kannten,  übertrugen  es  auf  den  Christen.  Erschien  ihnen 
doch  Jesus  selbst  als  der  gewaltige  messianische  Fisch.  Tertullian 
erklärt  die  Fische  1.  Kor.  15,  39  für  die  Christen,  quibus  aqua 
baptismatis  sufficit.*  An  einer  andern  Stelle  sagt  Tertullian: 
..Nos  pisciculi  secundum  IXSYN  nostnim  lesum  Christum  in 
aqua  nascimur,  nee  aliter  quam  in  aqua  permanendo  salvi 
sumus."-  Über  den  frommen  Eremiten  Bonosus  äußert  sich 
Hieronymus:  „Bonosus,  quasi  filius  ix9^og,  id  est  piscis, 
aquosa  petit."^  Auf  der  Grabschrift  des  Pektorios  von  Autun, 
die  etwa  um  300  n.  Chr.  verfaßt  ist,  heißen  die  Christen 
Ix^vos  ovgavCov  d'siov  yivog.*  In  Alexandrien  hat  man  den 
Fisch  als  Sinnbild  der  Christen  aufgefaßt.^  L.  v.  Sybel  (Christi. 
-Vntike  II,  45)  will  den  Fisch  als  selbständiges  christliches 
^vmbol  aus  dem  messianischen  Mahle  ableiten,  da  er  einer- 
seits   .,im  Seligengelag,   anderseits    in    der  Speisensegnung  der 

■  De  resurr,  öi  *  De  baptismo  c  1. 

"  Epist.  7. 

*  Vgl.  0.  Pohl  D.  Ichthys- Monument  v.  Autun.  Berlin  1880. 

'■  Vgl.  Dölger  Rom.  Quartahehr.  f.  christl.  Arch.  23,  16. 


6  I.  Scheftelowitz 

Malereien  und  Sarkophagreliefs  typisch"  wäre.  Allein  die 
Fische  im  Seligenmahl  haben  eine  ganz  andere  Bedeutung 
(s.  unten  Abschnitt  6).  Das  Judentum  bietet  also  die  einfachste 
Erklärung  für  dieses  Symbol  eines  Christen.  Davon  zu  trennen 
ist  'Ix^vg,  das  Sinnbild  des  Heilands. 

2   Der  messianische  Fisch 

Aber  auch  der  ^Ix^vg,  der  aquae  vivae  piscis^  als 
Bezeichnung  für  Christus  ist  vom  Judentum  abzuleiten,  was 
wir  im  folgenden  klarzulegen  suchen. 

Nach  dem  altjüdischen  Volksglauben  wird  am  Ende  der 
Zeiten,  wenn  der  Messias  sich  offenbart,  auch  der  Leviatan 
aus  dem  Meere  steigen.^  Dieser  ist  der  gewaltigste  aller 
Seefische  ^,  er  haust  im  Weltenmeere^,  und  infolge  seiner 
unermeßlichen  Größe  nimmt  er  den  siebenten  Teil  des  Meeres 
ein.^  In  der  Tiefe  des  Meeres  über  den  Quellen  der  Wasser 
hält  er  sich  auf.®  Sein  Körper  ist  mit  Schuppen  bedeckt,  er 
ist  ein  reiner  E^isch.^  Ihn  vermag  kein  Sterblicher  mit  der  Angel 
zu  fangen*,  kein  Mensch  kann  mit  ihm  spielen  und  ihn  seinen 
Jungfrauen  zur  Kurzweil  anbinden."  Dieser  sehr  große  und  reine 
Fisch  wird  in  der  messianischen  Zeit  vom  Engel  Gabriel 
gefangen,  „doch  wenn  ihm  hierbei  Gott  nicht  helfen  wird, 
wird  er  es  nicht  können"  (Talm.  Bäbä  Baträ  75a).  Dann 
wird  dieser  ungeheure  Fisch  zerstückelt  und  den  Frommen 
zur  Speise  vorgesetzt  werden.'*'  „Gott  wird  in  der  messianischen 

'  PaulinuB  v.  Nola,  Kpist.  13,  11. 

*  Syr.  Baruchapokal.  29,  3  —  4. 

•"'  Talm.  Bäba  Baträ  74b,  Jalqüt  zu  Jönfi  1:  bD  hy  Y^»  iP-'lb  ri5T 
Ü-'H   ^>1  *  Ps.  104,  27.  *  4.  Esr.  6,  62. 

ö  Heuoch  60,  6;  vgl.  auch  Midras  'Janhünm  5.  M.  29,  9:  „Der  Le- 
viatan lagert  über  dem  Tehöm  (==  Meeresschlund)". 

'  Talm.  gullin  67  b,  Toseftä  ^ullin  3,  27,  Sifrä  zu  3  M.  11,  10  (Ab- 
schn.  78);  Midr.  Rabb  i  zu  3.  M.  11,  10;  Jalqüt  zu  3.  M.  11,  10. 

»  Hiob  40,  25.  "  lliob  40,  29. 

'»  Vgl.  Heuoch  60,  24;  4.  Esr.  6,  52;  Syr.  Baruchapokal.  29,  4;  vgl, 
auch  Jes.  27,  1. 


4 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  nnd  Christentum  7 

Zeit  den  Frommen  ein  Mahl  herrichten,  welches  aus  dem 
Fleisch  des  Leviatan  bestehen  wird,  denn  es  heißt  Hiob  40,  20: 
'Er  setzt  ihn  seinen  Genossen  vor'.  Das  Verb  r:-«  bedeutet 
nun  an  dieser  Stelle  dasselbe  wie  in  2.  Kon.  6,  23:  vorsetzen, 
ein  Mahl  herrichten;  und  unter  dem  Ausdruck  „Genossen" 
sind  die  Gerechten  zu  verstehen."^  jjDer  Kopf  des  Leviatan, 
den  nur  diejenigen  kosten  werden,  welche  die  heiligen  Vor- 
schriften erfüllt  haben,  schmeckt  wie  ein  Meerfisch  oder  wie 
ein  Fisch  vom  Tiberiassee."*  Als  Jona  sich  im  Bauche  des 
Fisches  befand,  bat  er  —  so  erzählt  ein  Midras  —  diesen, 
daß  er  nun  schnell  zu  dem  Leviatan  hinschwimme,  da  er  die 
Absicht  habe,  denselben  mit  einer  Schlinge  zu  fangen,  um 
später  nach  seiner  Rettung  eine  Mahlzeit  für  die  Frommen 
aus  dem  Fleische  des  Leviatan  zu  bereiten,  was  ihm  aber 
nicht  gelang.^ 

Dieser  jüdische  Volksglaube  ist  auch  ursprünglich  von 
dem  Christentum  übernommen  und  dann  christlich  gefärbt 
worden. 

In  der  etwa  um  das  Jahr  200  n.  Chr.  verfaßten  Grabschrift 
des  Abercius  von  Hieropolis  heißt  es:  „Paulus  als  Führer 
erkor  ich;  der  Glaube  gab  stets  das  Geleite,  setzte  mir  überall 
vor  als  Speise  den  Fisch  {ix^vv)  von  der  Quelle  (asrö  arjyfig), 
den  ganz  großen  und  reinen  (xafi[isyi&T],  xad'aQuv),  den  ge- 
fangen die  heilige  Jungfrau,  ihn  nur  reichte  sie  dar  den 
Genossen  zum  ständigen  Mahle."*  Hier  ist  der  Fisch  mit  den 
Beiwörtern  „der  sehr  große  und  reine,"  von  dem  sich  nur  die 

*  Talm.  Bäbä  Baträ  75a,  Jalqüt  zu  Hiob  40;  Tanhümä  zu  5.  M. 
29,  9.  Vgl.  auch  das  aus  dem  Mittelalter  stammende  "Werk  Se/er  Me'ülefet 
Sappirim  Abschn.  24, 11. 

-  Jalqüt  zu  Hiob  40. 

'  Jalqüt  zu  Jona  1.  Der  Leviatan  ist  demnach  nicht,  wie  Hrozny, 
Mittheil.  d.  vorderasiat.  Gesellsch.  1903,  264 ff.  annimmt,  ein  Drachen- 
ungeheuer. 

*  Vgl.  Ficker  D.  heidnische  Charakter  d.  Abercius -Inschr.,  in  Sitz 
Preuß.  Ak.  Wiss.  1894  p.  87  ff. ;  H.  AcheUs  D.  Symbol  d.  Fisches,  Mar- 
burg 1889,  p.  16  f. 


8  I.  Scheftelowitz 

gläubigen  Genossen  ernähren,  kein  anderer  als  der  Leviatan. 
Bis  jetzt  hatte  man  diese  Worte  nicht  genügend  erklären 
können.  „Bisher  ist  —  so  äußert  sich  Harnack  —  in  allen 
Nachweisungen  über  heilige  Fische  in  der  Antike  niemals 
'der  Fisch',  am  wenigsten  als  heilige  Speise  nachgewiesen 
worden,  während  „der  eine  reine  Fisch",  und  zwar  als 
Nahrung  aus  Dutzenden  von  christlichen  Zeugnissen  zu  be- 
legen ist.  Möglich  ist  es  immerhin,  daß  dieser  Fisch  noch 
einmal  im  Heidentum  entdeckt  wird,  aber  zurzeit  dürfen  wir 
nicht  anders  urteilen,  als  daß  in  dem  ^I^d^vg  wahrscheinlich 
das  Christusmysterium  verborgen  liegt."  ^  jjDer  christliche 
Charakter  der  Abercius-Inschrift  läßt  sich  nicht  bestreiten,  aber 
das  Christentum  der  Großkirche  ist  es  nicht."  ^  Auch  in  dem 
apokryphen  Religion sgespräch  am  Hofe  der  Sassaniden,  das 
etwa  aus  dem  5.  Jahrhundert  stammt,  ist  von  dem  Wasserquell 
die  Rede,  der  den  einen  Fisch  besitzt,  der  mit  der  Angel  der 
Gottheit  erfaßt  wird  und  die  ganze  Menschheit  mit  seinem 
Fleische  ernährt;  TCrjyi}  yaQ  vdaros  .  ■  ■  £va  ^lovov  l%^vv  s^ovöa 
ta  tfjs  ^s6tr]Tog  ccyxCötQG)  JCEQLlaiißavo^isvov,  tbv  ndvta  xoö^ov 
G)s  ^v  d'aldööT}  diayivonsvov  idCa  6aQxl  TQECpovta.^  Somit  ist 
Dölgers  Vermutung,  daß  wohl  unter  Tcrjyr]  die  Taufe  zu  ver- 
stehen sei^,  hinfällig. 

3  Messias  in  Verbindung  mit  dem  messianischen  Fisch 
Dieser  messianische  Fisch  des  Judentums  steht  nun  in 
engster  Beziehung  zum  Messias.  Die  von  Sünden  beladene 
Menschheit  wird  gleichsam  als  krank  gedacht,  die  der  Heilung, 
d.  h.  der  Vergebung  der  Sünden,  bedarf.  ^    Diese  Heilung  findet 

'  Harnack  Ztir  Abercius-lnschr.,  Leipzig  1895  p.  27. 

*  P.  Wendland  D.  hellen. -römische  Kultur  p.  163. 

'  A.Wirth  Aus  orientalischen  Chroniken,  Frankfurt  1894,  p.  161,  16; 
'E^jjyrjCis  T&v  iv  nsgaläi  ngaxd-ivTODv,  ed.  Bratke  inTheol.  Unt.  (Harnack) 
XIX,  2  p.  12.  Nicht  mir  einleuchtend  ist  die  von  Rob.  Eisler  Philologus 
68,  199  Anm.  vorgetragene  Hypothese  über  nt^yi). 

*  Rom.  Quartalschr.  28,  92  f. 

»  Vgl.  Jes.  6,  10;  63,  6;  Hos    14,  6. 


I 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  and  Christentum  9 

in  der  messianischeu  Zeit  statt:  „Und  dann  wird  Gott  seine 
Knechte  heilen".^  „Unsere  Religion  hat  für  die  Seele  zwei 
Zeiten  zur  Erlangung  der  Vollkommenheit  bestimmt,  die  eine 
Zeit  ist  die  der  sittlichen  Vollendung  in  ihrem  Leben  mit  dem 
Körper;  ist  jedoch  die  Seele  in  den  Znstand  der  Krankheit 
geraten,  so  erlangt  sie  erst  zur  Zeit  der  Auferstehung  wieder 
ihre  Gesundheit".*  Der  Heiland  der  sittlich -kranken  Mensch- 
heit ist  nun  der  Messias:  ,.Xur  unsere  Leiden  trug  er  und 
unsere  Schmerzen  lud  er  sich  auf  .  .  .  Strafe  traf  ihn  zu 
unserem  Heile,  und  durch  seine  Wunden  sind  wir  genesen".' 
Auch  gemäß  der  altpersischen  Religion  ist  Zarathustra  „der 
Heiler  des  Lebens",  der  dazu  berufen  ist,  das  von  den  bösen 
Dämonen  (d.  i.  von  den  Sünden)  krank  gemachte  Leben  der 
Menschen  wieder  gesunden  zu  lassen.*  Ebenso  wird  in  den 
Lobpreisungen  des  Buddha  im  Lalitavistara  (1, 1  und  1, 2)  Buddha 
bezeichnet  als  der  „König  der  Arzte".  „Träufle  hernieder  der 
Heilung  Schauer".  ,.Du  in  der  Heilkunde  erfahrener,  wahr- 
haftiger Arzt,  versetze  die  lange  Leidenden  mit  dreifacher 
Erlösung  Heilmittel  bald  in  Nirvänas  Seligkeit".^ 

Ahnlich  wirkt  aber  auch  der  eschatologische  Fisch,  der 
Leviatan,  als  ein  Heilmittel  für  die  Gerechten  dadurch,  daß 
sie  von  seinem  Fleische  genießen.  Zur  selben  Zeit,  wenn  der 
Messias  kommt,  wird  man  auch  dieses  messianischen  Fisches 
teilhaftig.  „Messias  erscheint  erst  dann,  wenn  der  Kranke 
sehnsüchtig  nach  dem  Fische  verlangt,  den  er  nirgends  finden 
kann.''®     Also  das  Auftreten  des  Messias  und  des  Leviatan  ist 


^  D.  Buch  der  Jubiläen  23, 10;  Mekiltä  (ed.  Weiß)  Wien  1865,  p.  54, 
Jalqüt  zu  2.  M.  c.  4;  Jalqüt  zu  Jes.  c.  65;  Tatthümä,  Paresä  Wajigas. 

*  Aharön  Ben  Elia  (um  lZQO)'Eshajjim,  Leipzig  1841,  Äbschn.  111. 

'  Jes.  53,  4  —  5.  Auch  in  der  Kabbalistik  tritt  immer  wieder  der 
redanke  auf,  daß  der  Messias  durch  seine  Leiden  alle  Sünden  Israels 
auf  sich  nimmt.  Vgl.  Elijähu  Hakköhen  Midras  Talpijjöt,  Warschau 
5635  [1875]  Bl.  241a.  *  Yasna  30,  6. 

'  Vgl.  Lalitat-istara,  übers,  von  S.  Lefmann,  Berlin  1874  p.  3  und  10. 

®  Talm.  Sanhedrin  98  a. 


10  I-  Scheftelowitz 

gleichzeitig  und  ihr  Endzweck  ist  ebenfalls  sehr  ähnlich. 
Daher  konnten  Vorgänge,  die  ursprünglich  nur  für  den  Leviatan 
charakteristisch  waren,  ohne  weiteres  auf  den  Messias  über- 
tragen werden.  So  steigt  nach  dem  apokryphischen  Buch 
4.  Esr.^  der  Heiland,  „durch  welchen  Gott  die  Schöpfung  er- 
lösen will",  „aus  dem  Herzen  des  Meeres"  empor,  was  ur- 
sprünglich nur  vom  Leviatan  berichtet  wird.  Der  Zöhär, 
der  ein  Sammelwerk  ist,  das  wesentlich  im  13.  Jahrhundert 
aus  altem  Material  zusammengestellt  ist,*  erwähnt,  daß  ein 
Fisch,  ebenso  wie  er  ehemals  Jona  Rettung  gebracht  hat,  in 
der  messianischen  Zeit  auch  der  ganzen  Welt  Heil  bringen 
wird.  An  den  Vers  Jona '2,  11:  „Und  Gott  gebot  dem  Fisch, 
da  spie  er  Jona  aufs  Festland"  knüpft  der  Zöhär ^  folgende 
Bemerkungen:  „Wenn  Gott  die  Toten  wiederbeleben  wird,  dann 
wird  er  den  Fisch,  dessen  Bauch  das  Gräberfeld  versinnbild- 
licht,^ gebieten,  er  solle  die  Toten  ausspeien  und  von  sich 
geben.  Und  durch  den  Fisch  werden  wir  ein  Mittel  der 
Heilung  für  die  ganze  Welt  finden.^  Ebenso  wie  der 
Fisch,  als  er  Jona  verschlungen  hat,  starb^  und  erst  nach  drei 
Tagen  wieder  lebendig  wurde  und  dann  den  Jona  ausspie,  so 
ist  auch  die  Erde  jetzt  tot,  doch  in  der  messianischen  Zeit 
wird  sie  die  Toten  erwecken  und  wieder  von  sich  geben." 
Dieser  dreitägige  Zwischenraum  zwischen  Tod  und  Wieder- 
auferstehung ist  also  an  Jona  versinnbildlicht.  Daher  stammt 
auch  die  Anschauung  des  Neuen  Testaments,  daß  Jona  ein 
Vorbild   des  Jesus  sei.     „Und  es  soll  dem  Volke  kein  anderes 


'  4.  Est.  13,  3.  5.  25.  26.  61. 

*  Vgl.  Rob.  Eisler  in  Or.  Literaturz.  1909  S.426f. 

""  P.Wajaqhel,  Wilna  1882  Bd.  II  Bl.  199b.  Ebenso  in  Sebi  Hirs 
Jerahmiel  Nahelat  Sebi,  Helcq  2,  Ahschn.  Ki-tabö,  Amsterdam  5580. 

••  In  Jona,  2,  3  wird  nämlich  der  Bauch  des  Fisches,  in  welchem 
sich  Jona  befand,  „der  Schoß  der  Unterwelt"  genannt. 

*  Nach  Zöhär  P.  Hajje  Särä  ist  der  Fisch  gleich,  nach«iem  er 
Jona  verschlungen  hatte,  gestorben. 


Dm  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  H 

Zeichen  gegeben  werden,  als  das  Zeichen  des  Propheten  Jönä."^ 
Auch  Christus  kehrte  nach  drei  Tagen  zu  den  Lebenden 
zurück.  Gemäß  den  jüdischen  Schriftwerken  tritt  drei  Tage 
vor  der  Ankunft  des  Messias  sein  Vorläufer  Elias  auf.'  Im 
Talmud  Sukkä  52a  werden  drei  Messiasse  aufgezählt:  Elias, 
Messias  Ben-Josef  und  Messias  Ben-David.  Messias 
Ben-Josef,  der  Vorläufer  des  letzten  Messias,  der  im  Kampfe 
gegen  die  gottlosen  Mächte  sein  Leben  einbüßen  muß,  wird  von 
den  Kabbalisten  mit  dem  Propheten  Jona  identifiziert'  Der 
Zeitraum  von  drei  Tagen  spielt  im  Judentum  eine  sehr  wichtige 
Rolle.  Gott  läßt  die  Frommen  nicht  länger  als  drei  Tage 
leiden.*  Nach  dem  Midras  bezieht  sich  Hosea  6,  3:  „Gott  richtet 
am  dritten  Tage  die  Menschen  wieder  auf,  daß  sie  vor  ihm 
leben,"  auf  die  messianische  Totenbelebung.*  Das  Volk  Israel 
mußte  sich  für  den  dritten  Tag  am  Berge  Sinai  feierlichst 
vorbereiten,  „denn  am  dritten  Tage  wird  sich  Gott  dem  ganzen 
Volke  auf  dem  Berge  Sinai  offenbaren"  (2.  M.  19,  11).'' 


'  Matth.  16,  4. 

*  Jalqüt  zu  Jes.  52,  Pesiqtä  Babhäti  c.  25;  vgl.  auch  Misna  Söti 
9,  5,  Maleachi  3,  23,  Matth.  17,  10  f. 

*  Vgl.  Elijähü  Hak-köhen  Midrai  Talpijjöt,  Warschau  5635  Bl.  233. 
In  Midras  Wajiqrä  Rabbä  c.  15,  1  wird  Jona,  mit  Elias  in  Zusammen- 
hang gebracht.  Unter  den  christlichen  Eatakombenbildem ,  wo  Jona  am 
häufigsten  dargestellt  wird,  befindet  sich  ein  Gemälde  aus  dem  vierten 
Jahrhundert,  welches  uns  den  Elias  zeigt,  wie  er  zum  Himmel  fährt. 
..Er  ist  zu  dem  benachbarten  Jonas  unter  der  Laube  in  Beziehung 
gesetzt"  (Wilpert  B.  Malereien  der  Katakomben  Borns  1909  Taf.  160,  2). 

*  Jalqüt  zu  Josua  2  Abschn.  12;  vgl.  auch  1.  M.  40,  19—20.  Der 
kranke  König  Hiskia  ist  am  dritten  Tage  wieder  geheilt  (2  Kön.  20,  5). 
Drei  Tage  lang  fasteten  die  Juden  und  flehten  Gott  an,  bevor  Esther 
den  entscheidenden  Gang  zum  König  machte,  der  ihnen  Rettung  brachte 

Esth.  4,  16). 

^  Daselbst.  Der  Ausdruck  „dritter  Tag*' bedeutet  in  der  Bibel  dasselbe 
wie  „nach  drei  Tagen".  Dieses  geht  auch  deutlich  aus  1.  Kön.  12,  5 
und  12,  femer  Jos.  9,  16  —  17  hervor. 

®  Über  die  Auferstehung  nach  drei  Tagen  vgl.  auch  Otto  Pfleiderer 
D.  Christusbild  d.  urchristl.  Glattbens,  Berlin  1903,  p.  105;  Brückner 
D.  sterbende   u.  auferstehende    Gottheiland    1908    (=  Religionsgeschichtl. 


12  I.  Scheftelowitz 

Es  ist  bis  jetzt  hier  der  Nachweis  geführt  worden,  daß 
nach  den  jüdischen  Quellen  sowohl  der  Messias  als  auch  der 
Leviatan  wohltuend  für  die  Menschheit  sind.  Jedoch  wird  nur 
den  durch  den  Heiland  erlösten  Menschen  der  Genuß  des 
messianischen  Fisches  zuteil.  Der  Leviatan  ist  gewissermaßen 
eine  Begleiterscheinung  des  Messias. 

4    Die  Verschmelzung    des   Messias   und   des    Leviatan 
im  Christentum 

Auch  den  Urchristen  waren  diese  jüdischen  Gedanken  be- 
kannt. Gerade  im  Judentum  der  Epoche  Jesu  tritt  eine 
sehnsuchtsvolle  Erwartung  nach  dem  Messias  und  dem  damit 
verbundenen  messianischen  Fisch  auf.  Auf  einem  Glase,  das 
den  ersten  Jahrhunderten  angehört,  sieht  man  den  Heiland 
abgebildet,  der  einen  sehr  großen  Fisch  hält.^  Hier  ist  augen- 
scheinlich der  Messias  mit  dem  Leviatan  dargestellt.  Da  die 
Apostel  in  griechischer  Sprache  predigten  und  die  Evangelien 
und  die  LXX  griechisch  waren,  so  wurden  alle  heiligen,  aus 
dem  Judentum  stammenden  Begriffe  in  der  Sprache  der  Apostel 
wiedergegeben.  Auf  diese  Weise  erhielt  auch  der  messianische 
Fisch  die  Bezeichnung  'I^d^vg-  Sogar  die  Juden  sprachen  in 
der  Diaspora  nur  Griechisch,  weshalb  auch  die  meisten  In- 
schriften in  den  jüdischen  Katakombengräbern  griechisch  sind. 
Der  Talmud  Megillä  18a  gestattete  daher  für  den  Gottesdienst 
neben  dem  Gebrauch  der  hebräischen  Sprache  auch  das  Griechische. 
Selbst  die  Ehescheidungsurkunde  durfte  griechisch  abgefaßt 
sein  (Misnä  Gittin  9,  8).^  Somit  ist  der  griechische  Ausdruck 
'J%'9-vg  als  Übersetzung  des  jüdisch-messianischen  Fisches  nicht 
im  geringsten  auffallend. 

Volksbücher  hrsg.  v.  Schiele,  1.  Reihe,  16.  Heft);  E.  Böklen  D.Verwandt- 
schaft d.  jüdisch- Christi,  mit  d.  pcrs.  Eschatologie,   Göttingen  1902,  p.  27f. 

'  Vgl.  F.  X.  Kraus  R.  E.  d.  christl.  Alt.  I,  517. 

*  Itabbi  Jehuda  (2.  Jahrhundert)  -wundert  sich  daher,  daß  in  Pa- 
lästina die  Juden  syrisch  sprechen.  Sie  sollten  doch  entweder  hebrilisch 
oder  griechisch  reden  (Talni.  Bfibfi  (Jämu  83a). 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  13 

Der  Anbruch  der  messianischen  Zeit  war  an  das  Auftreten 
des  persönlichen  Messias  gebunden.  Nun  war  für  die  Christen 
der  Heiland  bereits  eingetroffen.  Folglich  mußten  auch  schon 
die  Frommen  im  Genüsse  des  messianischen  Fisches  sein. 
Daher  war  man  genötigt  den  messianischen  Fisch  allegorisch 
zu  deuten  und  ihn  mit  der  Person  Christi  zu  einem  einzigen 
Gebilde  verschmelzen  zu  lassen.  Dieses  Zusammenfließen  von 
Fisch  und  Heiland  zu  einer  Gestalt  kann  übrigens  auch  noch 
durch  den  Einfluß  der  klassisch -heidnischen  Welt  begünstigt 
worden  sein,  denn  im  klassischen  Altertum  wird  der  Delphin, 
der  allgemein  als  heilig  betrachtet  wurde,  auch  als  Ketter  der 
in  Gefahr  schwebenden  Menschen  geschildert.  In  der  delphischen 
Sage  erscheint  er  „geradezu  als  eine  Inkarnation  des  Apollo; 
schwer  faßlich  laufen  die  Beziehungen  zwischen  dem  Gott  und 
seinem  heiligen  Tiere  hin  und  her.  Als  ^sXqiCvLog  ist  Apollo 
ebenso  von  Doriern  wie  von  loniern,  vielleicht  allgemein  von 
den  Griechen  verehrt  worden."  ^  Manchen  Seefahrer  hat  er 
aus  der  höchsten  Not  errettet.  „Die  Gesandten  des  Ptolemaios 
Soter  werden  auf  der  Fahrt  nach  Sinope  von  einem  Sturme 
nach  Westen  verschlagen;  da  erscheint  vor  dem  Vorderbug  des 
Schiffes  ein  Delphin  und  geleitet  sie  in  ruhiges  Fahrwasser, 
bis  er  sie  nach  Krissa  hingeführt  hat,  wo  sie  nun  der  göttlichen 
Fügung  gehorsam  beim  Orakel  des  Apollo  sich  genauere 
Weisungen  über  ihre  Aufgaben  einholen."  Gemäß  der  Erzählung 
des  Homerischen  Hymnus  hat  Apollo  in  Gestalt  eines  Delphins 
griechischen  Schiffern  offenbart,  daß  ihm  in  Delphi  ein  Heilig- 
tum begründet  werden  möge.-  Eikadios  erleidet  auf  einer 
Seereise  Schiffbruch;  da  nimmt  ihn  ein  Delphin  auf  seinen 
Rücken  und  trägt  ihn  in  die  Nähe  des  Parnaß,  wo  er  dann 
Apollo  einen  Tempel  erbaut.^ 

Die  Heidenchristen  scheinen  nun  die  Vorstellungen  von 
dem  Messias  und  dem  Leviatan  mit  dem  vom  Tode  errettenden 

^  H.  Usener  Sintflutsagen,  Bonn  1899,  p.  147. 

*  Vgl.  H.  Usener  Sintflutsagen,  p.  145f.  '  Usener,  p.  147. 


14  I-  Scheftelowitz 

Delphin  verknüpft  zu  haben.  So  sind  auf  mehreren  urchristlichen 
Epitaphien  oft  Delphine  dargestellt.^  Auch  eine  urchristliche 
Gemme  weist  darauf  hin;  auf  ihr  ist  ein  riesiger  Fisch  mit 
offenem  Maule  zu  sehen,  „der  ein  von  drei  Menschen  und  zwei 
Vögeln  besetztes  Schiff  auf  dem  Rücken  trägt",  er  landet  an 
einer  Küste,  wo  Petrus  vor  Jesus  kniet.^  Da  übrigens  der 
Christ  an  sich  mit  einem  Fische  verglichen  ist,  so  lag  es  nahe, 
in  Jesus  das  Urbild  des  Fisches  zu  sehen.^  „Gerade  die  Zeit, 
in  welcher  das  Christentum  sich  ausbildete,  hat  auch  die 
Klügeleien  der  Gnosis  gezeitigt;  man  wurde  nicht  müde,  mit 
den  Buchstaben  bedeutungsvoller  Worte  zu  spielen,  namentlich 
indem  man  ihren  Zahlenwert  in  Betracht  zog.  Aber  es  sind 
selbstverständlich  immer  gegebene  Worte,  mit  denen  so  gespielt 
wird;  und  niemandem  konnte  es  einfallen,  durch  theologische 
Spekulation  solcher  Art  Begriffe  und  Bilder  erst  zu  schaffen/'^ 
Bereits  die  Kirchenväter  lehren,  daß  der  Fisch  und  Christus 
ein  einheitliches  Wesen  bilden.  So  spricht  Prosper  v.  Aqui- 
tanien^  7;"^on  dem  großen  Fisch,  der  selber  die  Jünger  sättigte 
und  sich  selbst  der  ganzen  Welt  als  Fisch  dahingab".  Ebenso 
sagt  der  heilige  Augustinus'':  „Bei  dem  Mahle,  welches  der 
Herr  seinen  sieben  Jüngern  gab,  und  wobei  er  ihnen  den 
Fisch,  den  sie  auf  dem  Kohlenfeuer  gesehen,  nebst  den  von 
ihnen  gefangenen  Fischen  und  Brot  vorsetzte,  war  Christus, 
der  gelitten,  in  Wirklichkeit  der  Fisch,  der  gebraten  wurde." 
An  einer  anderen  Stelle  bemerkt  er  über  diesen  messianischen 


'  Vgl.  De  Rossi  De  christianis  monumentis  'Ix^vv  exhibentibus  in 
Spicilegium  Solesmense  III,  Paris  1855. 

*  Vgl.  F.  Becker  D.  Darstellung  Jesu  Christi  unter  dem  Bilde  des 
Fisches.  Breslau  1866,  p.  84.  Der  Fisch  ist  hier  'Ix&vg,  der  die  Seelen 
der  Frommen  ins  Jenseits  hinübergeleitet. 

"  Vgl.  TertuUian  (oben  S.  5) :  Nos  pisciculi  secundum  IXQTN  nostrum 
Jesum  Christum. 

*  H.  Usener  Sint/lutsagen  p.  224. 

*  De  promiss.  etpraedic.  Dei  II,  39,  vgl.  F.  X.  Kraus  lloma  sotter.*  247; 
Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches  p.  42. 

'  Im  Joh.  Evaug.  Tract.  123  sec.  2;  III,  2460  ed.  Gaume. 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  15 

Fisch,  daß  er  aus  der  Meerestiefe  hervorgezogen  und  von  der 
frommen  Erde  (=  Menschheit)  verzehrt  sei.^  Gemäß  dem  heiligen 
Hieronymus  ist  „unter  jenem  Fisch,  der  im  Tigris  gefangen 
wurde,  dessen  Galle  und  Leber  Tobias  nahm,  um  Sarah  von  dem 
bösen  Dämon  zu  befreien  und  seinem  blinden  Vater  das  Gesicht 
wieder  zu  geben,  Christus  zu  verstehen".'  Hier  ist  augenscheinlich 
der  messianische  Fisch  mit  dem  Heiland  identifiziert  worden. 

Augustin  war  bereits  die  Entstehung  des  'Jjr^vg- Symbols 
unbekannt,  was  aus  seiner  Erklärung  hervorgeht,  die  er  über 
dieses  Sinnbild  anführt:  Eo  quod  in  huius  mortalitatis  abysso 
velut  in  aquarum  profunditate  vivus,  hoc  est,  sine  peccato  esse 
potuerit';  d.  h.  „wie  der  Fisch  im  Wasser  lebt,  in  welchem  sonst 
alle  übrigen  Wesen  untergehen,  so  vermochte  Christus  allein 
in  dieser  Welt  ohne  Sünde  zu  bleiben".  Die  ünhaltbarkeit 
dieser  Erklärung  leuchtet  ohne  weiteres  ein.  Der  Begriff 
'Ix^vg  war  dem  ältesten  Christentum  ein  heiliges,  aber  im 
Laufe  der  Zeit  ein  völlig  unverständliches  Bild  Christi  ge- 
worden. Im  8.  Buche  der  sibyUinischen  Orakel  bilden  die 
Verse  217  —  250  die  Akrostichis  'Ir^öovg  Xqsiötos  &iov  ^Yibg 
IJottIq.  Die  Anfangsbuchstaben  dieser  Worte  ergeben  ^Ix^^vg. 
Diese  Akrostichis  scheint  der  Niederschlag  der  symbolischen 
Umdeutung  des  messianischen  Fisches  'Ix^vg  zu  sein,  da  dessen 
ursprüngliche  Bedeutung  bereits  in  tiefes  Dunkel  gehüllt  war. 
Nach  A.  Harnack*  sind  diese  sibyUinischen  Orakel  um  265 n.Chr. 
verfaßt  worden.  Die  Identifizierung  dieses  Fisches  mit  dem 
Heiland  tritt  uns  auch  aus  der  um  das  Jahr  300  n.  Chr.  ver- 
fertigten Grabschrift  des  Pektorios  auf  dem  Kirchhof  Saint- 
Pierre  l'Estrier  bei  Autun  entgegen,  deren  erste  Verse  die 
Akrostichis  'Jj^-O-vg  ergeben:^ 

'  nie  piscis  exhibetur,  quem  levatum  de  profundo  terra  pia  comedit 
Augustinus  Confess.  XIU,  23  ed.  v.  Baumer,  p.  367;  vgl.  Achelis  D. 
Symbol  d.  Fisches  p.  31. 

*  F.  X.  Kraus  Borna  sotter.-,  p.  243.         =*  De  civitate  Bei  XVIII,  23. 

*  D.  Chronol.  d.  altchristl.  Liter.  II,  p.  189. 

*  Vgl.  Otto  Pohl  1).  Ichthys- Monument  von  Autun,  Berlin  1880. 


16  I.  Scheftelowitz 

UcozrjQog  ccyCcsv  ^sXnjdscc  Id^ßavs  ßgäöLV, 

„Nimm  die  honigsüße  Speise  des  Heilands  der  Frommen,  iß 
mit  Begier  den  Fisch,  ihn  mit  den  Händen  haltend."  Überhaupt 
wird  in  dieser  Inschrift  der  Ix^vg  als  Gabe  des  Herrn  und 
Heilands  bezeichnet:  'Jj^O-vt  ;|jd()ra^'  ccQa,  Xikalo^  diönota  ßärsg. 
H.  Achelis^  hat  nachgewiesen,  daß  das  'J^^ug- Symbol  schon 
um  das  Jahr  20Ö  n.  Chr.  eine  Geschichte  hinter  sich  hat. 
Tertullian  (um  200)  erwähnt  zuerst  die  Bezeichnung  ^Ix^vg 
für  Jesus.  „Die  Selbstverständlichkeit,  mit  welcher  die  Worte: 
secundum  Ix&vv  nostrum  Jesum  Christum  als  Wider- 
legung der  Häresie  eingefügt  werden,  beweist  zur  Genüge,  daß 
Tertullian  hier  nicht  eigene  Erfindung  bietet,  sondern  an  einen 
bereits  einige  Zeit  eingebürgerten  Sprachgebrauch  anknüpft.'^* 

5  Bisherige  Erklärungen  über  das  Ichthys-Symbol 

Nach  Dölger^  ist  der'Ix^vg  als  Symbol  Christi  rein  christ- 
lichen Ursprungs.  Es  sei  von  Christus  selbst  im  Anblick  der 
galiläischen  Fischer  zuerst  ausgesprochen  worden:  „Folget  mir 
nach,  ich  will  euch  zu  Menschenfischern  machen."  Und  dieses 
wäre  von  seinen  Jüngern  der  Kirche  übermittelt  worden;  „denn 
die  Taufpraxis  verlangte  in  damaliger  Zeit  ein  völliges  Unter- 
tauchen, so  daß  die  Neophyten  den  im  Wasser  schwimmenden 
Fisch  als  Symbol  empfinden  mußten,  auch  wenn  der  Katechet 
oder  Täufer  nicht  eigens  darauf  hinwies".  Doch  hätte  man 
in  Anlehnung  an  das  Bild  der  Fischer  erwartet,  daß  Jesus  in 
erster  Linie  als  Menschenfischer   dargestellt  würde.*     Übrigens 

'  D.  Symbol  des  Fisches,  Marburg  1888,  p.  10  —  61. 

*  Dölger  Jium.  Quartalsclir.  f.  christl.  Altert.  23,  8. 
"  Böm.  Quartalschr.  23,  1  flf. 

*  Das  neutestamentliche  Bild  vom  Menschenfischer  geht  aui 
Jerem.  li»,  16  zurück:  „Ich  werde  mächtige  Fischer  senden,  die  die 
Menschen  zuaammenfischen  werden,  spricht  Gott."  Rob.  Pasler  hat,  wie 
er  mir  schreibt,  bereits  in  einem  Vortrag  über  Orpheus  (Oxford  1908)  auf 
Jes.  16,  16  hingewiesen;  vgl.  auch  Eisler  ITie  fishing  of  Men  in  Early 
Christian  Literature  (in  Quest  1910). 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  17 

geht  ja  die  ursprüngliche  Taufe  auf  die  altjüdische  Vorschrift 
zurück,  daß  ein  Heide,  wenn  er  zum  Judentum  übertreten  wollte, 
unmittelbar  nach  seiner  Beschneidung  ein  Tauchbad  in  einem  Quell- 
wasser nehmen  mußte.^  Dieses  Tauchbad  war  nur  ein  Symbol  für  die 
Sündenreinheit  und  wird  an  keiner  Stelle  in  Beziehung  mit  den 
Fischen  gebracht.  Ich  aber  glaube  den  Nachweis  gebracht  zu  haben, 
daß  das  Urchristentum  den  messianischen  Fisch  des  Judentums 
gekannt  hatte.  Das  christliche  'J^'ö'vj- Symbol  ist  nur  durch 
die  natürliche  Entwicklung  des  messianischen  Fisches  aus  dem 
Judentum  verständlich. 

Auch  der  Erklärungsversuch  H.  Pischels  ist  völlig  unbalt- 
bar.  Dieser  hervorragende  Sanskritist  suchte  den  Ursprung  des 
christlichen  Symbols  nach  Indien  zu  verlegen,  da  nach  seiner 
Ansicht  das  Alte  Testament  keine  Anknüpfungspunkte  dafür 
biete,  während  bei  den  Brahmanen  und  Buddhisten  von  ältester 
Zeit  an  uns  Sagen  überliefert  sind,  in  denen  ein  Fisch  als 
Retter  erscheint.'  Diese  Vermutung  hält  Hans  Schmidt'  ohne 
weiteres  für  richtig:  in  Indien  „wird  der  älteste  Gedanke,  der 
Ursprung  des  christlichen  Fischsymbols  gewesen  sein". 

Pischel  hat  zwar  das  Symbol  des  Fisches  als  Retters  auch 
für  Indien  zahlreich  belegt,  jedoch  nicht  den  Beweis  erbringen 
können,  daß  dieses  indische  Sinnbild  ins  Christentum  über- 
gegangen sei.  „Man  fragt  sich  doch  unwillkürlich,  wie  kam 
man  dazu,  das  indische  Fischsymbol  in  das  Abendland  zu 
übertragen.  Geläufig  könnte  das  Fischsymbol  doch  zunächst 
nur  solchen  Christen  gewesen  sein,  die  in  der  indischen  Religion 
aufgewachsen  .  .  .  waren.  Daß  aber  geborene  Inder  nach  ihrer 
Bekehrung  zum  Christentum  bereits  am  Anfange  des  zweiten 
Jahrhunderts  einen  besonders  einflußreichen  Verkehr  mit  dem 
Abendlande   gepflogen   hätten,    ist   nicht   bekannt,   auch    nicht 


'  Vgl.  Schürer  Gesch.  d.Jüd.  Volkes*'  III  181  f.,  Misnä  Pesähim  8,8 
Talm.  Pesähim  92  a ;  Jebümöt  46 a  und 47 b ;  Keritöt  9 a ;  Masseket  Gerim  1, 3. 
*  Vgl.  R.  Pischel  in  S.  B.  Preuß.  Ak.  d.  Wiss.  1905,  S.  606  f. 
"'  Jona,  Göttingen  1907,  S.  154  f. 

Archiv  f.  Religion»wi8senschaft  XIV  2 


18  I.  Scheftelowitz 

erweisbar."  ^  Schließlicli  weisen  die  Eigenheiten  des  'I^d-vg- 
Symbols  auf  den  altjüdischen  messianischen  Fisch  hin,  was 
bisher  nicht  aufgedeckt  war.  Schon  Windisch,  der  im  Schluß- 
kapitel seines  Werkes:  Buddhas  Geburt^  die  zahlreichen  Über- 
einstimmungen der  buddhistischen  Legenden  mit  den  christ- 
lichen behandelt,  gelangt  zu  dem  Resultat,  daß  hier  keine 
Entlehnungen  stattgefunden  haben,  sondern  die  Ähnlichkeiten 
zwischen  manchen  christlichen  und  buddhistischen  Erzählungen 
nur  als  Parallelen,  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  als 
„Linien,  die  sich  nicht  berühren  und  nicht  schneiden",  auf- 
zufasssen  sind. 

6  Der  Fisch  bei  den  jüdischen  Festmahlzeiten  und 
in  den  Malereien  der  Katakomben  als  Symbol  der 
Seligenspeise 
Neben  dem  Glauben  an  den  einen  messianischen  Fisch, 
den  Gott  gleich  bei  der  Wiederauferstehung  der  Toten  den 
Frommen  vorsetzen  wird,  herrschte  noch  die  altisraelitische  Vor- 
stellung, daß  die  Seligen  im  messianischen  Weltreiche  sich 
hauptsächlich  von  Fischen  ernähren  werden.  Bereits  bei  Ezechiel 
finden  sich  Spuren  von  dieser  Anschauung.  Dieser  Prophet  schildert 
Kap.  47,  wie  in  jener  zukünftigen  Zeit  ein  Strom  unter  der 
Schwelle  des  wieder  neuerstandenen  Tempels  hervorfließen 
wird.  „Jedes  Geschöpf,  welches  sich  regt,  wird  überall,  wohin 
der  starke  Strom  kommen  wird,  leben,  und  sehr  viele  Fische 
werden  sein.  Wohin  auch  immer  diese  Gewässer  fließen 
werden,  werden  sie  heilvoll  sein;  und  alles  lebt,  wohin  der 
Strom  kommt.  Und  Fischer  werden  dann  daran  stehen,  von 
Engedi    bis   En-Eglajim  werden  Plätze    zum  Ausspannen   der 

'  Dölger  Böm.  Quartalschr.  23,  32,  vgl.  auch  H.  Oldenberg  ZDMG 
69,  627.  Der  Versuch  Oldenbergs,  der  gegen  Pischel  das  'Ix^'vg-iijmhol 
abermals  aus  der  Akrostichis  herleiten  wollte,  ist  unhaltbar,  vgl,  A.  Die- 
terich Archiv  f.  Belig.  wiss.  8,  606  Anm.;  H.  Schmidt  Jotia,  S.  186  f.; 
Uaener  Sintßutsagen  S.  224. 

»  Äbhdlg.  d.  süchs.  Ges.  d.  Wiss.  Bd.  26  (1908). 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  19 

Netze  sein;  nach  ihrer  Art  werden  Fische  darin  sein,  wie  die 
Fische  des  orroßen  Meeres,  sehr  riele."* 

Darauf  beruht  nun  der  altjüdische  Brauch,  am  Sabbat  und 
an  Feiertagen  Fische  zu  genießen,  der  besonders  bei  den  Juden 
der  östlichen  Länder  und  des  Orients  noch  heute  gepflegt  wird. 
Diese  Sitte  läßt  sich  bereits  im  Talmud  nachweisen.  An  den 
Festtagen  gab  es  wenigstens  zwei  Gerichte,  von  denen  das  eine 
stets  aus  Fischen  bestand  (Misna  Besä  2,  1,  Talm.  Besä  17  b). 
Zu  Ehren  des  Sabbat  soll  man  große  Fische  essen,  heißt  es 
im  Talmud.-  Es  wird  auch  von  einem  frommen  Mann,  namens 
Jösef  berichtet,  der  stets  den  schönsten  Fisch  für  den  Sabbat 
kaufte.  ^ 

Auch  in  den  im  Mittelalter  entstandenen  Sabbatliedem  wird 
auf  diese  uralte  Sitte,  am  Sabbat  Fische  zu  genießen,  angespielt, 
so  heißt  es  dort  z.  B.:  „Wie  schön  und  lieblich  bist  du  unter 
allen  Genüssen,  o  Sabbat,  Wonne  der  Betrübten,  dir  werden 
Fleisch  und  Fische  zubereitet  vor  Anbruch  des  Festes"^*;  oder 
„Fleisch,  Wein  und  Fische  dürfen  beim  Festmahle  nicht 
fehlen,  und  prangen  diese  drei  vor  ihm,  so  wird  ihm  dafür  ein 
Lohn  erstehen,  weil  er  den  Sabbat  verherrlichen  wollte".* 
Ähnlich  heißt  es  in  dem  von  Abraham  Ibn-Ezra  (12.  Jhdt.) 
verfaßten  Sabbatliede,  das  mit  den  Worten  Ki  esmerä  sabbät 
beginnt:  „Er  ist  ein  Tag,  wo  man  Brot,  köstlichen  Wein, 
Fleisch  und  Fische  genießt  "     Rabbi  Salomon  Luria,  der  1573 


»  Ez.  47,  9—10. 

'  Sabbät  118b;  Jalqüt  zu  Jes.  58. 

'•  Sabbat  119a;  Pesiqtä  Babbäti  cap.  23.  Aus  Nehemia  13,  16 
erfahren  wir,  daß  in  Jerusalem  „Tyrer  wohnten,  die  Fische  brachten 
und  andere  Waren  und  sie  am  Sabbat  den  Juden  verkauften".  Der 
um  860  n.  Chr.  lebende  Gäön  Xatronai  Bar-Hilai  wird  von  der  jüdischen 
Gemeinde  zu  Lucena  in  Spanien  angefragt,  ob  man  an  einem  jüdischen 
Feiertage  vom  Markte  etwas  kaufen  dürfe.  Die  Antwort  des  Gfiön  lautete: 
„Man  darf  am  Feiertage  nichts  kaufen,  selbst  nicht  einmal  Fische  oder 
Mehl"  (Xatronai  Bar-Hilai  Qehüsat  hakämim,  Wien  1861,  S.  110). 

*  Zemiröt  Lei  Sabbät,  beginnend  mit  mä  jäfit. 

'  Zemiröt  Lei  Sabbät,  beginnend  mit  Jöm  Sabbät  qödes. 

2* 


20  I-  Scheftelowitz 

starb,  hebt  hervor,  man  solle  am  Sabbat-Mittage  zur  Erhöhung 
der  Feier  Fische  essen,  was  am  Freitagabend  nicht  erforderlich 
ist.  Er  sagt:  „Ich  muß  eine  Mahnung  an  meine  Glaubens- 
genossen richten,  welche  das  Abendessen  am  Freitage 
reichlicher  ausstatten  als  das  Mahl  am  Sabbatmittage,  indem 
sie  am  Abend  die  guten  Fische  essen;  da  aber  die  Fische 
das  Hauptelement  für  die  äußere  Verehrung  des  Tages 
bilden  sollten,  gehören  sie  zur  Tafel  des  Tages  selbst.  Von 
jeher  war  ich  darauf  bedacht,  nicht  am  Abend,  sondern 
am  Mittage  des  Sabbat  mich  am  Fischgenuß  zu  erfreuen, 
der  allein  der  Würde  des  Tages  angemessen  ist."^  Ein 
neueres  hebräisches  Buch,  welches  die  altjüdischen  Bräuche 
behandelt,  führt  für  den  sabbatlichen  Fischgenuß  folgenden, 
aus  einem  älteren  Werke  entnommenen  Grund  an:  „Das 
sabbatliche  Fischgericht  soll  an  den  messianischen  Fisch 
'Leviatan'  erinnern."^ 

Zur  Erinnerung  an  den  messianischen  Fisch,  den  einst  die 
Frommen  kosten  werden,  wird  wohl  auch  folgender  Brauch 
dienen:  In  Tunis  legen  die  Juden  bei  Festen  und  Hochzeiten 
auf  ein  Kissen  einen  Fischschwanz,  der  gewöhnlich  von  einem 
Thunfisch  herrührt.^  Bereits  der  römische  Dichter  Persius 
erwähnt  diese  eigentümliche  jüdische  Sitte.  Er  schildert 
Satirae  V,  180 — 184  einen  am  Abend  beginnenden  jüdischen 
Feiertag,  an  dem  die  Anhänger  des  Judentums  ganz  den 
talmudischen  Vorschriften  entsprechend  ihre  Zimmer  durch 
viele  Lichter  erhellen,  zum  Festmahle  Wein  haben,  während 
der  große  Schwanz  des  Thunfisches  „die  ganze  rötliche 
Schüssel  einnimmt";  „man  murmelt  mit  den  Lippen  ein  Gebet 
und  scheut  ehrfurchtsvoll  den  jüdischen  Sabbat". 


'  Vgl.  Sefer  Jam  sei  Selömö,  Gittin  IV  §  51. 

*  .rishäq  LiY>iec  Sefer  maVea mim,  Warschau  (M.  J.  Halter)  18itl,  S.  20. 

'  H.  Dunant  Notice  sur  la  regence  de  Tunis,  Genf  1858  p.  241.  Der 
Fischschwanz  könnte  aber  auch  nur  die  Fruchtbarkeit  symbolisieren 
(siehe  unten  Abschnitt  11);  man  vgl.  südital.  J£r  pcsce  'Penis'. 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  21 

Dispositae  pinguem  uebulam  comuere  lucernae 
portantes  violas,  rubrutnque  amplexa  catinum 
cauda  natat  thunni,  turnet  alba  fidelia  cino 
labra  moves  tacitus,  recutitaque  8<ibbcUa  palles.  * 

Bereits  in  den  alten  jüdischen  Katakomben  kommt  diese  An- 
schauung, daß  Fische  die  Seligenspeise  bilden,  plastisch  zum  Aus- 
druck. In  einem,der  Deckengemälde  der  jüdischen  unterirdischen 
Begräbnisstätte  an  der  Via  Appia  zu  Rom  „sind  zwei  Gruppen  von 
drei  bez  w.  vier  Fischen  so  angeordnet  dargestellt,  daß  einer  der  Fische 
auf  einem  hohen  Körbchen  gelegt  ist,  während  die  andern  daneben 
am  Boden  hingestreckt  sind.  Daran  schließen  sich,  in  be- 
sondere Umrahmung  gesetzt,  Körbe  mit  Brot  gefüllt".*  „An 
eine  mechanische  Nachahmung  christlicher  Symbole  kann  hier 
schwerlich  gedacht  werden"'  Da  man  bisher  die  Fisch- 
darstellungen nur  auf  urchristlichen  Grabmälem  kannte  und 
sie  als  rein  christliche  Symbole  auffaßte,  so  gelangt  H.  Achelis* 
zu  folgender  wunderlichen  Ansicht:  „Da  es  hier  ausgeschlossen 
ist,  an  eine  beabsichtigte  Darstellung  des  evangelischen  Speisungs- 
wunders zu  denken,  so  bleibt  für  die  Erklärung  nur  ein  doppel- 
ter Ausweg  übrig:  entweder  wollten  die  Juden  hier  dieselbe 
Idee  darstellen,  wie  die  Christen  dort,  so  daß  diese  Idee  auf 
neutralem  Boden  läge,  oder  es  ist  eine  mechanische  Über- 
tragung*'. Diese  Vermutung  ist  völlig  unhaltbar  Das  ewige 
Leben  wird  auch  von  jüdischer  Quelle  unter  dem  Bilde  des 
Freudenmahles,    in    welchem    Fische    die    Hauptrolle    spielen, 


*  poliere  hat  hier  eine  ähnliche  Bedeutung  wie  metuere  in  den 
jüdischen  Katakombeninschriften  Roms,  z.  B.  Ephem.  epigr.  IV  Xr.  838 
Äemilio  Volenti  eg.  Romano  metuenti;  C.  I.  L.  IV,  29,  759  Larciae  Qua- 
dratillae  natione  Eomanae  metuenti;  C.  I.  L.  IV,  29,  763  Deum  metuens; 
Tgl.  auch  den  lat.  Komm,  zu  Persius  Satirae  v.  Fred.  Plum,  Havnia€ 
1827,  p.  478  f.  Ein  alter  Scholiast,  der  daselbst  zitiert  wird,  meint 
fälschlich,  daß  die  Juden  einen  Thunfisch  am  Feiertage  in  den  Tempel 
gebracht  und  ihn  dort  verzehrt  hätten. 

*  V,  Schnitze  Die  Katakomben,  Jena  1877,  S.  121. 

*  A.  Harnack  Theol.  Lit.  Z.  1882,  Sp.  373. 

*  H.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches,  Marburg  1888,  S.  93. 


22  I-  Scheftelowitz 

geschildert.^  Dem  Talmud  gemäß  sitzen  die  Frommen  nach 
dem  Tode  in  der  Nähe  Gottes  beim  Freudenmahle  und 
jeder  einzelne  hat  einen  kostbaren  Tisch.^  Dieses  Bild  des 
himmlischen  Seligenmahles  in  der  jüdischen  Katakombe  ist 
nur  ein  symbolischer  Ausdruck  des  Satzes:  Dieser  hier 
Ruhende  ist  des  jenseitigen  ewigen  Lebens  teilhaftig  geworden. 
Gemäß  Talmud  Qiddusin  31b  soll  man,  werfti  man  sich  an 
einen  frommen  Verstorbenen  erinnert,  sprechen:  „Sein  Andenken 
gereiche  zum  Segen  für  das  Leben  im  Jenseits."  Die  uralte 
jüdische  Grabinschrift,  die  sich  an  einen  biblischen  Satz 
1.  Sam.  25,  29  anlehnt,  lautet:  „Seine  Seele  sei  eingebunden  in 
das  Bündel  des  ewigen  Lebens"'  (vgl-  Talmud  Hagigi  12b).^ 
Dieser  Wunsch  wird  auch  in  einem  Festgebet  Ribbön  hä'öläm 
während  des  Aushebens  der  Tora  ausgesprochen:  „Auf  daß  wir  teil- 
haftig werden  des  glücklichen  langen  Lebens,  des  Lebens  der 
künftigen  Welt."  Er  ist  wohl  auf  Dan.  12,  2  zurückzuführen: 
„Und  viele  von  den  im  Erdenstaube  Schlafenden  werden  er- 
wachen, diese  [die  Frommen]  zum  ewigen  Leben,  doch 
jene  Gottlosen  zu  Schanden  und  zu  ewiger  Abscheu."  Daher 
liest  man  auf  den  Grabsteinen  der  jüdischen  Katakomben  viel- 
fach: „Zum  ewigen  Leben"  oder  „er  ruhe  bei  den  Gerechten".^ 
Der  Wunsch,  in  der  messianischen  Zeit  zum  ewigen  Leben  zu 


^  Vgl.  Jes.  25,  6  f.,  Midr.  Wajiqrä  Rabbä  cap.  13,  4. 

*  Ta'anit  25  a. 

*  Vgl.  auch  Midr.  Rabbä  P.  Haazinu ,  ferner  Frazer  in  Änthropol. 
Essays  present.  to  E.  B.  Tylor,  Oxford  1907  p.  143—160.  Dieser  Satz 
kommt  gewöhnlich  in  der  Abbreviatur  n"3;i3n  vor. 

*  Vgl.  A.  Berliner  Oesch.  d.  Juden  in  Rom,  Frankfurt  a.  M.  1893, 
I  S.  73  —  89.  Über  die  jüdischen  Katakomben  zu  Rom  vgl.  Marucchi 
Catacombe  Bomane,  Rom  1905,  S.  234  —  247;  H.  Vogelstein  u.  Rieger 
Oesch.  d.  Juden  in  Born  I,  S.  49  ff.  u.  459  —  483;  N.  Müller  in  Herzog, 
Realencyclop.  d.  protest.  Theol.'X  794f.  Garucci  II  cimitero  degli  antichi 
Ebrei,  Rom  1862.  Auch  auf  alten  jüdischen  Grabsteinen  des  13.  Jahr- 
hunderts heißt  es:  „Gott  geleite  ihn  (sie)  ins  Paradies";  oder  „Der  im 
Paradies  jetzt  seine  Stätte  hat";  vgl.  S.  Salfeld  Mainzer  Ztschr.  1908  p. 
107—108. 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  23 

erwachen,  wird  auf  den  jüdischen  Katakomben- Grabsteinen 
durch  verschiedene  Symbole  bildlich  ausgedrückt,  wie  durch 
den  Schöfar  („Blasehorn"),  oder  durch  den  Hahn.  Der  Schöfar 
ist  eine  x^nspielung  an  Jes.  27,  13:  „In  der  messianischen  Zeit 
wird  Gott  in  das  große  Hörn  stoßen  lassen,  so  daß  die  Ver- 
lorenen und  Verstoßenen  wieder  nach  Jerusalem  herbeikommen." ' 
Auch  auf  Grabschriften  der  christlichen  Katakomben  wird 
darauf  Bezug  genommen.  So  lautet  eine  Inschrift:  Cum 
tubj\.  terribilis  sonitu  concusserit  orbem  \  exitaeque 
animae  sursum  in  sua  vasa  redibunt.'  Von  dem 
Hahn  aber  heißt  es  im  Talmud:  „Ebenso  wie  der  Hahn 
den  Anbruch  des  Morgens  erblickte,  so  wird  Israel  die  Er- 
lösung schauen."^  Auch  in  christlichen  Katakomben  erscheint 
dieser  Vogel.* 

Der  Fisch  war  nun  bei  den  Juden  ein  Symbol  der  messia- 
nischen Zeit  und  der  himmlischen  Genüsse,  weshalb  er  auf  den 
ältesten  jüdischen  Grabdenkmälern  sichtbar  ist.  Paolo  Orsi  hat 
in  der  Rom.  Quartalschrift  14,  207  ff.  das  Bild  eines  aus  den 
ersten  Jahrhunderten  stammenden  jüdischen  Grabsteines,  den  er 
in  Syrakus^  aufgefunden  hat,  abgedruckt.  In  der  Mitte  des 
Steines   ist   ein  Fisch   dargestellt,   über  ihm   sind   zwei  runde 

*  Vgl.  auch  Zachar.  9,  14.  Daher  ist  auch  im  Koran  die  Posaune 
das  Symbol  des  jüngsten  Gerichts,  vgl.  die  Suren  6.  27.  36.  39.  £0. 
74.  78.  80. 

*  De  Waal  Borna  sacra,  München  1905,  S.  109. 

'  Sanhedrin  98b,  Auf  altcbristlichen  Totenlampen  ist  häufig  der 
Hahn  abgebildet  (siehe  die  Sammlung  des  Konsul  Xiessen,  CöLn).  Auch 
hier  ist  es  das  Symbol  der  Auferstehung.  In  China  wird  bei  einem 
Leichenbegängnis  die  Figur  eines  Hahnes  vorangetragen,  was  mir 
Museumsdirektor  Prof.  Adolf  Fischer,  Cöln,  der  viele  Jahre  in  China  war, 
mitteilt. 

*  Vgl.  F.  X.  Kraus  E.  E.  d.  chrisü.  Altert.  I,  643. 

*  Über  einen  anderen  jüdischen  Grabstein  vgl.  Orsi  Rom.  Quartalschr. 
14,  194,  worauf  der  siebenarmige  Leuchter,  ein  Palmzweig,  Zedemfrüchte 
und  auch  ein  schlecht  gezeichneter  Fisch  dargestellt  sind.  Eine  andere, 
in  Syracus  entdeckte  jüdische  Grabinschrift  aus  byzantinischer  Zeit  findet 
sich  in  Corp.  Inscr.  Graec.  Nr.  9895. 


24  I-  Scheftelowitz 

Brote,  die  eine  kleine  Vertiefung  in  der  Mitte  haben^,  und 
ein  zweihenkliger  Weinkrug,  wie  er  in  vielen  jüdischen  Kata- 
kombengräbern zu  seben  ist.^  Unterhalb  des  Fisches  sind  zwei 
übereinander  stehende  Vögel,  wohl  Turteltauben.^  Die  ganze 
rechte  Seite  des  Steines  wird  von  einem  Palmzweig  (dem 
Lüläb)  beschattet,  an  dessen  unterem  Ende  zu  beiden  Seiten 
je  ein  Paradiesapfel  (EtrSg)  ist*  Die  linke  untere  Seite  des 
Steines  ist  durch  runde  Brote  ausgefüllt.  Sämtliche  Bilder 
auf  diesem  Steine  sind  urjüdisch.  So  auch  die  Taube,  die 
auf  mehreren  altjüdischen  Grabsteinen  zu  finden  ist.  Sie 
ist  das  Sinnbild  eines  frommen  Israeliten,  der  unschuldig 
verfolgt  ist.  Bekannt  ist  die  Aussendung  der  Taube  durch 
Noah,  wo  sie  beim  zweiten  Male  mit  dem  Olblatte  als 
Zeichen  des  wiederkehrenden  Friedens,  der  erneuten  Gottes- 
gnade wiederkam.  Die  Taube  mit  dem  Olblatt  versinnbildlicht 
nach  dem  Ausspruch  des  Midras  den  Beruf  Israels,  der  das 
Licht  der  heiligen  Lehre,  den  Frieden  und  die  Versöhnung  der 
Menschheit  bringen  soll.''  Nach  dem  Talmud  stellt  die  Taube, 
die  unschuldig  gedrückt,  gequält  und  verfolgt  wird,  ohne  selbst 
zu  verfolgen,  die  sittsam  lebt  und  ihr  Blut  zur  Versöhnung 
der  Sünden  anderer  auf  dem  Opferaltar  verspritzt,  den 
unschuldig  leidenden  Israeliten  dar.''  „Die  Nation  Israel  ist 
mit  einer  Taube  verglichen,  denn  so  finden  wir  Ps.  68,  14: 
Ihr  werdet  sein  gleich  den  silberbedeckten  Flügeln  der  Taube, 
deren    Gefieder    goldig   schimmern;    denn    so    wie    die    Taube 

'  Ähnliche  Brote  sind  auch  zuweilen  auf  jüdischen  Weingläsern 
gemalt,  vgl.  Orsi  Hörn.  Quartalschr.  14,  208. 

*  Vgl.  R.  Garrucci  Storia  delV  arte  christiana,  Prato  187S— 1880. 
Taf.  490. 

•'  Der  untere  ist  größer  als  der  über  ihm  befindliche,  daher  möchte 
Orsi  den  unteren  für  eine  Gans  halten,  doch  der  spitze  Schnabel  spricht 
dagegen. 

*  Palme  und  Paradiesapfel  sind  zwei  altbekannte  jüdische  Sym- 
bole, die  häufig  in  den  jüdischen  Katakomben  vorkommen. 

'■  Sir  has-sir.  Babbä  zu  1,  15  und  4,  1. 
"  Bäbü  Qäniä  93  a,  Sabbat  130  a. 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  and  Christentum  25 

nur  durch  ihre  Flügel  geschützt  ist,  so  sind  die  Israeliten  auch 
nur  durch  die  Gottesgebote,  welche  sie  ausüben,  geschützt, 
und  so  wie  die  Tauben  sich  nur  mit  ihresgleichen  paaren,  so 
schließt  sich  das  Volk  Israel  nur  seinem  Vater  im  Himmel 
an/'^  Das  Bild  der  Taube  wird  wohl  ursprünglich  in  den 
Zeiten  der  Verfolgung  auf  den  jüdischen  Grabsteinen  angewendet 
worden  sein. 

Der  Wein  und  die  Brote,  die  neben  dem  Fische  auf  dem 
jüdischen  Grabstein  zu  Syrakus  dargestellt  sind,  gehen  ebenfalls 
auf  eine  urjüdische  Sitte  zurück.  Es  ist  nämlich  Vorschrift, 
die  Hauptmahlzeiten  am  Sabbat  und  an  den  Festtagen  durch 
Wein  und  Brot  einzusegnen  (cit;;).  Dann  verteilt  der 
Vorsitzende  des  Mahles,  nachdem  er  über  zwei  Brote  den 
Segensspruch  gesprochen  und  ein  Brot  angeschnitten  hat, 
kleine  Stücke  dayon  an  die  Herumsitzenden.*  Der  dazu  ver- 
wendete Becher  Wein  heißt:  kos  sei  beräkä  „Becher  des  Segens". 
Diese  Zeremonie  wurde  für  sehr  wichtig  gehalten,  so  daß  der 
Talmud  hierüber  sagt:  „Wer  über  ein  volles  Glas  Wein  den 
Segenspruch  sagt,  hat  Anteil  am  diesseitigen  und  am  jenseitigen 
Leben"*  Selbst  in  der  messianischen  Zeit  spielt  „der  Becher 
des  Segens"  eine  bedeutende  Rolle.  „Gott  veranstaltet  in  der 
zukünftigen  Welt  den  Frommen  ein  Mahl,  wobei  sie  reichlich 
essen  und  trinken  werden.  Am  Schlüsse  der  Mahlzeit  wird  aber 
Gott  dem  würdigsten  Manne,  dem  König  David,  den  'Becher  des 
Segens'   reichen,   der   dann   hierüber    den   Segenspruch  sagt."^ 

Diesen  Brauch,  die  Festmahlzeit  mit  Brot  und  Wein  ein- 
zusegnen,  übten   noch  die   urchristlichen  Gemeinden  aus,   was 

'  Tahn.  Beräköt  53b. 

*  Vgl.  Pesähim  106a,  Jösef  Karo  Sülhän-'Anik :  Örak  Hajjim, 
Abschn.  271;  vgl.  auch  Beräköt  423  — b  (Misnä). 

'  Beräköt  51b,  Sabbat  76b,  'Erubin  29b,  Pesähim  105b;  119b. 
^  Beräköt  51a      Die  Sitte,   über  Brot  und  Wein  den  Segenspruch 
zu  machen,  ist  uralt,  vgl.  1.  Mos.  14,  18. 

*  Pesähim  119b,  Bereut  Rabbä  c.  88,  Jalqüt  zu  Jerem.  25;  Jdlqüt 
zu  Ps.  23,5  gibt  sogar  die  genaue  Größe  des  gewaltigen  Bechers  an. 


26  !•  Scheftelowitz 

klar  aus  1.  Kor.  10, 16  hervorgeht;  denn  rö  notrJQLOv  tris  svXoyCccg 
0  svXoyov^ev  setzt  die  hebr.  Phrase  Ti^'i^  b\b  DnD  by  '7'ia  vor- 
aus; ebenso  geht  tbv  ccqtov  bv  xXäiisv,  wie  auch  das  in 
Apostelgesch.  2, 42  vorkommende  xkocßig  tov  äQtov  auf  hebräisch 
Dnc  zurück,  das  ursprünglich  „Brot  brechen"  (Jes.  58,  7)  be- 
deutet, im  Talmud  aber  der  gewöhnliche  Ausdruck  für  das 
Einsegnen  und  Verteilen  des  Brotes  an  die  an  der  Tafel 
Teilnehmenden  ist  (vgl.  Rös  hassänä  29  b).^  Daß  an  dieser 
jüdischen  Sitte  die  Urchristen  noch  festgehalten  haben,  zeigt  uns 
ein  aus  dem  2.  Jahrhundert  stammendes  Bild  in  einer  Wölbung 
der  Priscilla- Katakomben,  die  erst  in  den  letzten  Jahren 
aufgedeckt  sind.  Hier  sind  sechs  Personen,  an  einer  Tafel 
sitzend,  dargestellt,  auf  welcher  ein  Weinbecher  und  Brote 
sich  befinden;  „der  Vorsitzende  hat  ein  rundes,  flaches  Brot 
in  beiden  Händen  und  ist  im  Begriff,  es  zu  brechen  und  dann 
unter  die  Tafelgenossen  zu  verteilen".^  Auf  einem  alten 
jüdischen  Weinglas  ist  der  Fisch  ebenfalls  abgebildet  (vgl. 
R.  Garrucci  Storia  dell'arte  christiana  VI,  Tav.  490).  Eine 
alte  Phiole  jüdischen  Ursprungs,  worin  der  zur  Einsegnung  des 
Festmahls  erforderliche  lüiT'p -Wein  aufbewahrt  wurde,  ist  die 
kugelförmige  Flasche  der  Sammlung  Disch  zu  Köln,  jetzt  im 
British -Museum,  Sie  trägt  folgende  durch  zwei  Fische  unter- 
brochene Inschrift:  Hie  ZHCAIC  AEI  EN  AfAGOIC^    Der  Inhalt 

^  Über  den  Qiddus  als  Ursprung  der  Eucharistie  vgl.  Box  Jewish 
antecedents  of  the  Eucharist  (in  Journ.  of  Theol.  Stiidies  1902  p.  357  ff.). 

*  A.  de  Waal  Borna  sacra,  München  1906,  S.  55. 

'  F.  X.  Kraus  B.  E.  d.  christl.  Altert. 1,  617.  In  Cöln  gefunden,  vgl. 
Bonn.  Jahrb.  64,  127 f.;  71,  124  und  Taf.  VI  Nr.  1360;  Dalton  Catalogue 
of  Early  Christ.  Antiquity  of  the  British  Mus.  Nr.  653.  Dieselbe  Inschrift 
trägt  auch  eine  im  Jahre  1732  zu  Rom  gefundene  kristallene  Trinkschale, 
vgl.  Janßen,  Jahrb.  d.  Ver.  v.  Altertumsfreunden  i.  Bheinl.  16,  75.  In 
zwei,  aus  dem  4.  Jahrhundert  stammenden  Gräbei-n  zu  Cöln  sind  zwei 
Glasbecher  mit  folgenden  Inschriften  gefunden:  TTI€  ZHCAIC  KAAQC 
und  Bibe  multis  annis  (vgl.  Jahrb.  d.  Ver.  v.  Altcrtumsfr.  i.  BJieinl.  VI 
Taf.  11  u.  12,  1;  XVI,  76 f.;  Aus'm  Weerth  Bonn.  Jahrb.  69,  67;  Kisa 
/Aschr.  f.  Christi.  Kunst  1899  Sp.  15,  38,  79;  Fig.  120  u.  121.)     Auch  auf 


Das  Fisch-Symbol  im  Judentum  und  Christentum  27 

der  griechischen  Inschrift  weist  auf  jüdischen  Ursprung  hin, 
denn  diese  griechischen  Worte  gehen  auf  einen  altjüdischen 
Trinkspruch  zurück.  So  sprach  R.  Aqibä  bei  einem  Gastmahle 
zu  seinen  Gästen  beim  Kredenzen  der  Becher:  NT:n  Y.z-, 
cnsb  •'■•m  „Wein  und  Leben  sei  entsprechend  den  Weisen".^  Ein 
anderes  jüdisches  Weinglas,  das  aus  den  romischen  Katakomben 
stammt  und  von  A.  Berliner^  beschrieben  ist,  hat  eine  ähnliche 
Inschrift:  UCs,  ^Tj'ffaig  usrä  räv  öäv  Tcdvtov. 

Das  Fischsymbol  ist  auch  auf  folgendem  alten  Grabstein 
jüdischen  Ursprungs  vorhanden.  Ein  bei  De  Rossi^  erwähnter 
Stein  aus  den  römischen  Katakomben  hat  zwei  symmetrisch 
gestellte  Fische.  Darunter  ist  die  Inschrift:  Valerie 
Mariem  Valerius  Epagathus  conserve  sorori  et  coniugi 
quacua  vixit  an.  XXX VIU  v[ivi]  pos[uerunt].  „Also  die  Ver- 
storbene ist  Valeria,  welcher  ihre  Mitsklavin  Mariem,  ihr 
Bruder  Valerius  und  ihr  Gatte  Epagathus  den  Denkstein  setzten. 
Die  christliche  Provenienz  des  Steines  ist  zweifelhaft.  De  Rossi 
erkennt  dies  an,  V.  Schnitze,  Katakomben  p.  129,  erklärt  ihn 
bestimmt  für  heidnisch.  Zu  beachten  ist  aber  die  Form  des 
Namens  Mariem,  die  doch  nur  aus  dem  hebräischen  D"n?3 
verständlich  ist;  das  deutet  auf  jüdische  Herkunft  dieser  Frau".* 

einem  von  Winckelmann  i.  J.  1725  bei  Xovara  in  Italien  ausgegrabenem 
Glasbecher  steht:  Bibe  vivas  multis  annis  (vgl.  Aus'm  Weerth  Bonn. 
Jahrb.  69,  66).  Ob  hier  jüdische  oder  urchristliche  Gläser  vorliegen,  läßt 
sich  nicht  bestimmen.  Daß  bereits  im  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  in 
Cöln  eine  größere  jüdische  Gemeinde  -war,  geht  aus  dem  Codex 
Theodosianus  XVI,  8,  3  hervor.  Um  200  n.  Chr.  ist  auch  für  Griechen- 
land der  Trinkspruch:  ^t]6£iag  belegt,  vgl.  Dio  Cassius  LXX,  18. 

'  Vgl.  TaJm.  Sabbat  67b.  Der  altjüdische  Trinkspruch  lautete  ge- 
wöhnlich: D'^TI?  „Zum  Leben",  vgl.  J.  Lipiec  Sefer  Mate'amim,  Warschau 
1891,  p.  49. 

*  A.  Berliner  Gesch.  d.  Juden  Borns  I,  61. 

*  Spicil.  Solesm.  III,  554. 

*  H.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches,  Marburg  1888,  S.  62  f.  Aus  den 
römischen  Namen  der  Mitsklaven,  die  den  Stein  gesetzt  haben,  läßt  sich 
nicht  auf  ihren  Ursprung  schließen,  da  ja  die  meisten  Juden,  wie  aus 
den  jüdischen  Katakomben  ersichtlich  ist,  römische  Namen  trugen. 


28  I-  Scheftelowitz 

Auch  die  römischen  Proselyten  haben  die  altjüdischen  Zu- 
kunftshoffnungen in  ähnlicher  Weise  auf  ihrem  Grabe  zum 
Ausdruck  gebracht.  Die  älteste  Darstellung  des  himmlischen 
Mahles  auf  den  Katakomben  besitzt  die  sogenannte  Galerie  der 
Flavier.  „Sie  wird  noch  in  das  erste  Jahrhundert  gesetzt." 
„Im  Fond  des  Raumes  ist  das  Mahl  als  Hauptbild  gemalt,  der 
Eintretende  und  Vorschreitende  hat  es  immerfort  vor  Augen, 
seine  zentrale  Stellung  verbürgt  seine  zentrale  Bedeutung. 
Leider  sehr  beschädigt,  stellt  es  ein  Mahl  zweier  Personen  dar, 
bartloser  Männer  im  Chiton;  sie  sitzen  auf  jener  Art  Kanapee, 
wie  sie  in  der  Kaiserzeit  Mode  war  und,  mit  dem  Dreibein- 
tischchen davor,  gerade  auf  Grabsteinen  sich  öfter  findet.  Der 
besser  erhaltene  der  beiden  wendet  sich  im  Gespräch  zu  seinem 
Genossen.  Vor  ihnen  steht  ein  Dreibein  mit  den  Speisen, 
einem  Fische  und  drei  Brötchen.  Von  rechts  tritt  ein  Auf- 
wärter heran,  er  bringt  das  Getränk  zum  Mahle  .  .  .  Unser 
Mahl  kann  weder  die  Speisung  der  Tausende,  noch  Jesus'  letztes 
Mahl  oder  sonst  eines  der  in  den  Evangelien  erzählten  Mahle 
sein,  noch  auch  das  liturgische  Abendmahl."*  Hier  gelangt 
noch  ungetrübt  die  urjüdische  Anschauung  zur  Darstellung. 
Es  liegt  daher  die  Vermutung  nahe,  daß  jener  Flavier,  der 
dieses  Gemälde  hat  anbringen  lassen,  ein  Proselyt  war.  Auch 
alle  übrigen  aus  der  zweiten  Hälfte  des  1.  Jahrhunderts 
stammenden  Bilder,  wie  Noe  in  der  Arche  und  Daniel  in  der 
Löwengrube,  sind  aus  dem  Alten  Testament  entnommen.  Nun 
steht  es  fest,  daß  zur  Zeit  des  Domitian  ein  Flavier,  namens 
Flavius  Clemens,  dem  Judentum  zugetan  war.^  Eine  Anzahl 
Flavier-Namen  kommen  auch  in  den  jüdischen  Katakomben 
vor.^     Auch    der   jüdische  Schriftsteller    Flavius  Josephus  war 

*  L.  v.  Sybel  Christliche  Antike  I,  Marburg  1906,  S.  199. 

*  Vgl.  H.  Graetz  Gesch.  d.  Juden  IV*,  109 f.;  Graetz  D.jüd.  Proselyten 
im  Römerreich  (Breslau  1884)  5f.  28f. ;  Lebrecht  in  der  Jüd.  Zeitschr.v. 
A.  Geiger  XI,  273;  H.  Schiller  Gesch.  d.  röm.  Kaiserzeit  I,  577 f.;  Lemme  in 
Neue  Jahrb.  f.  deutsche  Theologie  I,  367. 

*  Vgl.  A.Berliner  Gesch.  d.  Juden  in  Born  I  p.  78.    Falls  jedoch  diese 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  29 

in  die  flavianische  Familie  aufgenommen  und  wohnte  in  dem 
Palaste  der  Fla  vier,  so  daß  er  hinreichend  Gelegenheit  hatte, 
diese  Kaiserfamilie  mit  dem  Judentum  bekannt  zu  machen. 
Für  die  späteren  Flavier  war  jedoch  das  Judentum  mit  seinen 
zahlreichen  strengen  Gesetzen  nur  ein  Übergangsstadium  zum 
Christentum .  dessen  Annahme  für  den  Heiden  keinerlei  Schwierig- 
keiten bot.  Schon  Josephus  scheint  dieses  anzudeuten:  „Viele 
der  Hellenen  sind  zu  unserem  Glauben  übergegangen,  die  einen 
sind  dabei  fest  geblieben,  andere,  welche  der  Standhaftigkeit 
nicht  föhig  waren,  sind  wieder  abgefallen.*'  ^ 

Die  ältesten  christlichen  Anhänger  haben  auf  ihren  Gräbern 
die  jüdischen  Symbole  übernommen.  Fast  auf  allen  jüdischen 
Grabschriften  findet  sich  der  Satz:  „In  Frieden"  (in  pace, 
iv  eLQijvTi,  zib'is !  gemäß  der  talmudischen  Vorschrift:  „Einem 
Toten  wünsche  man:  „Gehe  ein  in  Frieden",  da  es  von 
Abraham  heißt  (1.  M.  15,  15):  „Du  wirst  in  Frieden  zu 
deinen  Vorfahren  eingehen."'  Diese  Formel  nebst  den  ältesten 
jüdischen  Symbolen,  wie  die  Palme,  der  siebenarmige  Leuchter 
und  die  Taube,  ist  auch  von  den  Christen  übernommen  worden.' 

Auch  die  christliche  Idee  des  Seligenmahles ,  worin  der 
Fisch  die  Hauptrolle  spielt,  ist  aus  dem  messianischen  Zukunfts- 
mahle   des   Judentums    entsprungen.      „Sie    liegen    an    deinem 


Toten  Freigelassene  waren,  so  würde  dieses  nur  beweisen,  daß  die  Familie 
der  Flavier  jüdische  ^^klaven  hatte. 

'  Josephus  Contra  Apion.  II,  10. 

*  Beraköt  64  a,  Mö'ed  qUtän  29;  vgl.  auch  2.  Kön.  22,  20;  Jes.  57,  2. 

•■■'  Vgl.  De  Rossi  in  Specilegium  Solesmense  III,  C.  M.  Kaufmann 
Handbuch  d.  chrisü.  Archäologie,  Paderborn  1905,  S.  207.  Über  den  sieben- 
armigen  Leuchter  auf  christlichen  Denkmälern,  der  ebenso  wie  bei  den 
jüdischen  teils  aufrecht«tehend ,  teils  umgestürzt  dargestellt  ist,  vgl. 
Garrucci  Dissertationi  archeologiche  II,  158,  Eoma  1865;  Delattre  iatnpes 
chretiennes  (Cat.)  Nr.  694;  F.  X.  Kraus  Roma  sott.*  1879,  S.  293  f.  Selbst 
die  Taube  in  Verbindung  mit  dem  Fisch,  wie  dieses  auf  dem  jüdischen 
Grabstein  zu  Syrakus  zu  sehen  ist,  kommt  auf  vielen  christlichen 
Katakomben -Grabmälem  vor,  vgl.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches  S.  67 
F.  X.  Kraus  Borna  sott.*  244. 


30  I-  Scheftelowitz 

I  ==  Gottes]  Tische  und  werden  gespeist  in  Ewigkeit",  sagt 
ein  alter  syrischer  Kirchenvater.^  Nachdem  einmal  in  Jesus 
der  Messias  gesehen  und  so  das  Gottesreich  als  gegenwärtig 
anerkannt  war,  mußte  infolgedessen  schon  die  tägliche  Mahlzeit 
des  Christus  und  seiner  Anhänger  als  charakteristischer  Zug 
des  messianischen  Mahles  angesehen  werden.  „Es  ist  auch 
kein  Zufall,  daß  Jesus  in  den  Evangelien  so  gern  beim  Mahle 
vorgeführt  wird;  dabei  machen  sich  wichtige  Züge  des  messi- 
anischen Mahles  bemerkbar;  das  Gottesreich  ist  Freude;  im 
Gegensatz  zu  dem  fastenden  Bußprediger  sehen  wir  Jesus 
essen  und  trinken."^  Joh.  21,  8  — 13  berichtet  vom  Mahle 
am  See  Genezareth:  „Wie  sie  nun  ans  Land  stiegen,  sahen 
sie  ein  Kohlenfeuer  bereitet  und  einen  Fisch  darauf  und  Brot 
.  .  Und  Jesus  kam  und  nahm  das  Brot  und  gab  es  ihnen 
und  den  Fisch  ebenso."  Matth.  14,  19,  Mark.  6,  38  ff.,  Luk.  9, 
13  ff.  und  Joh.  6,  11  schildern  die  Speisung  der  5000  mit  fünf 
Gerstenbroten  und  zwei  Fischen.  Auch  bei  der  Erscheinung 
des  wiederauferstandenen  Christus  fand  die  Mahlidee  Eingang. 
Jesus  erscheint  (nach  Lukas  24,  H6ff.)  gleich  nach  seiner  Auf- 
erstehung im  Kreise  seiner  Jünger  und  verlangt  zu  essen 
„Sie  aber  reichten  ihm  ein  Stück  gebratenen  Fisches  und 
Honigseim."^ 

Also  auch  nach  christlicher  Auffassung  besteht  das  Seligen- 
mahl  der  messianischen  Zeit  in  Fisch  und  Brot.  Daher  kommt 
in  allen  Mahlbildern  der  christlichen  Katakomben  Fisch  neben 
Brot  vor. 

Auf  Anhänger  der  judenchristlichen  Gemeinde  scheinen 
die  ursprünglichen  Katakomben  der  S.  Lucina  zurückzugehen. 
Dort  Avurden   Grabschriften   adliger  Römer   aus    dem   Anfange 

1  Aphraat  Hom.  XXII. 

»  L.  V.  Sybel  Christliehe  Antike  I,  S.  193. 

*  Luk.  24,  42.  Es  ist  bei  den  Juden  ein  alter  Brauch,  am  Neujalirs- 
feste  das  Brot,  womit  das  Mahl  eingesegnet  wurde,  mit  Honig  zu 
genießen.  Zur  Einsegnung  des  jüdischen  Festmahles  genügt  auch  Rrot 
allein,  falls  kein  Wein  zu  beschaffen  ist. 


Das  Fisch  -  Symbol  im  Judentum  und  Christentum  31 

des  2.  Jahrhunderts  zutage  befördert,  die  den  Familien  der 
Caecilier,  Comelier  und  der  Pomponier  zugehörig  sind.  „Jene 
ursprüngliche  Grabstätte  ist  uns  teilweise  noch  mit  ihren 
Gemälden  bis  heute  bewahrt.  Eine  schmale  Treppe  führt  von 
der  Oberfläche  des  Bodens  in  eine  doppelte  Grabkammer;  die 
Deckenmalerei  des  zweiten  Gemaches  ist  vortrefflich  erhalten, 
ganz  im  Stile  der  pompejanischen  Wandgemälde."^  Sämtliche 
bildlichen  Darstellungen  gehen  auf  altjüdische  Motive  zurück. 
Zunächst  ist  zum  Zeichen  dafür,  daß  der  Tote  der  juden- 
christlichen Gemeinde  angehört  habe,  vor  dem  Eingange  im 
ersten  Gemache  dargestellt,  wie  der  ehemalige  Heide  das  nach 
jüdischen  Gesetzen  vorgeschriebene  Tauchbad  in  einem  Quell- 
wasser genommen  hat.  Oben  schwebt  eine  Taube  mit  einem 
Olblatt  im  Schnabel,  was  ein  altjüdisches  Symbol  ist.  In  der 
Mitte  des  Gemaches  ist  Daniel  in  der  Löwengrube  zu  sehen. 
Zwei  andere  Bilder,  die  in  den  vier  Ecken  abwechselnd  an- 
gebracht sind,  gehören  ursprünglich  dem  Heidentum  an,  nämlich 
der  gute  Hirte,  der  ein  Schaf  auf  seinem  Rücken  trägt,  und 
die  Orante  (d.  i.  eine  Frau,  die  die  Arme  zum  Gebete  erhoben 
hat)."'  Der  gute  Hirte  ist  keine  sklavische  Nachahmung  des 
Hermes,  der  auf  seinen  Schultern  einen  Widder  trägt,  sondern 
unter  demselben  Bilde  haben  ja  die  Juden  nicht  nur  Moses, 
sondern  auch  den  messianischen  König  darcrestellt.  Moses 
selbst  hatte  den  Beinamen  „der  treue  Hirte ".^  Der  Midras 
erzählt:  „Als  Moses  in  der  Nähe  der  Wüste  die  Schafe 
seines  Schwiegervaters  weidete,  entlief  ihm  ein  Lamm.  Moses 
begab  sich  auf  die  Suche  nach  demselben  und  fand  es  bei 
einer  Quelle,  seinen  Durst  hastig  stillend.     Da  sah  Moses   ein, 

*  A.  de  Waal  Borna  sacra,  München  1905,  S.  65. 

*  Die  älteste  Darstellung  des  guten  Hirten  stammt  aus  den  Kata- 
komben der  S.  Priscilla,  vgl.  A.  de  Waal  Borna  sacra  p.  54.  Über  die 
heidnische  Darstellung  des  guten  Hirten  vgl.  F.  X.  Kraus  Born,  soiter.*  229 f. 

*  Vgl.  Midr.  Räbbä  zu  2.  M.  Abschn  2:  Zchir  zu  Bertsit  18,  23: 
N^r'^r;?:  5rr"i;  vgl.  auch  Jes.  63  11,  wo  Moses  „der  Hirt  seiner  Herde'- 
genannt  wird. 


32  I-  Scheftelowitz 

daß  es  nur  deshalb  entlaufen  war,  weil  es  durstig  war,  und 
er  machte  sich  darüber  Vorwürfe,  daß  er  nicht  genügend  für 
das  Tier  gesorgt  habe.  Mitleidig  nahm  er  das  müde  Tier 
auf  seine  Schulter  und  trug  es  zur  Herde  zurück.  Da 
sprach  Gott  zu  ihm:  Da  du  ein  solch  treuer  Hirte  einer 
Schafherde  bist,  so  wirst  du  wohl  auch  meine  Herde,  das 
Volk  Israel,  mit  Schonung  und  Liebe  behüten,  sei  du  daher 
der  treue  Hirte  meines  Volkes."  ^  Ebenso  werden  der  wahre  Prophet 
(Zach.  c.  11)  und  der  messianische  König  unter  dem  Bilde  eines 
guten  Hirten  geschildert  (Jerem.  23,  4.  Ezech.  34,  23).  Selbst 
Gott  wird  mit  einem  fürsorglichen  Hirten  verglichen:  „Wie 
ein  Hirt  wird  er  weiden  seine  Herde,  mit  seinem  Arme  die 
Lämmer  sammeln,  an  seinem  Busen  sie  tragen"  (Jes.  40,  11).^ 
Die  römischen  Proselyten  werden  daher  auf  ihren  Grabgemälden 
Moses  oder  den  König  der  messianischen  Zeit  als  den  guten 
Hirten  dargestellt  haben."^ 

An  die  Darstellung  des  jüdischen  Grabsteines  zu  Syrakus 
erinnert  das  Bild  auf  der  Rückwand  der  zweiten  Kammer  von 
S.  Lucina,  „wo  wir  nämlich  auf  der  Steinleiste  zwischen  zwei 
aus  dem  Tuff  ausgehöhlten  Gräbern  einander  gegenüber  zwei 
Fische  sehen  und  neben  ihnen  (fast  scheint  es,  als  trügen  sie 
ihn)  je  einen  geflochtenen  Korb,  auf  welchem  oben  Brote 
liegen.  Das  Flechtwerk  ist  vorn  in  der  Mitte  offen  gehalten, 
um  ein  mit  rotem  Wein  gefülltes  Glasgeiaß  erscheinen  zu 
lassen."*      Bisher    konnte    man    keine     genüyiende    Erklärung 


^  Midr.  Räbbä  zu  2.  M.  Abschn.  2. 

*  Vgl.  auch  Ez.  34,  11—16,  Ps,  23,  1—4  (wo  Cxott  selbst  den  ver- 
storbenen Frommen  ein  treuer  Hirte  ist) ;  Ps.  80,  2. 

*  Josephus  Bell.  Jud.  II,  8,  9  berichtet  von  der  jüdischen  Sekte  der 
Essener:  „Nächst  Gott  zollen  sie  die  größte  Verehrung  dem  Namen  des 
Gesetzgebers  Moses."  Über  Moses  auf  den  Sarkophagbilderu  vgl. 
L.  V.  Sybel  Christliche  Antike  II,  117—124, 

*  Anton  de  Waal  Borna  Sacra  S.  65  —  66.  Die  früher  allgemein 
verbreitete  Ansicht,  die  Fische  seien  Träger  der  Körbe,  ist  falsch,  vgl. 
I.  Wilpert  D.  Malereien  der  Katakomben  Roms,  S.  288  f.  u.  Taf.  27,  1  u,  28. 


Das  Fi  seh -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  33 

dieser  Illustration  geben.  Nach  Anton  de  Waal  scheint  der 
Wein  in  den  beiden  ein  sinnbildlicher  Hinweis  zu  sein,  „um 
zugleich  mit  dem  Brote  ein  Symbol  jenes  geheimnisvollen 
Mahles  zu  sein,  welches  uns  zur  Teilnahme  am  ewigen 
Himmelsmahle  vorbereitet".  Nur  vom  urjüdischen  Standpunkte 
aus  erhält  dieses  Bild  seine  richtige  Bedeutung,  wie  ich  bereits 
oben  bei  den  jüdischen  Darstellungen  ausgeführt  habe. 

An  das  Bild  im  jüdischen  Coemeterium  zu  Rom  erinnern 
einige  Malereien  in  den  Sakramentskapellen  von  S.  Callisto, 
die  aus  der  ersten  HäKte  des  3.  Jahrhunderts  stammen 
und  aus  sechs  kleinen  dicht  nebeneinander  liegenden  Cubicula 
bestehen.  Auf  einer  Seiten  wand  sieht  man  sieben  Jünglinge 
zu  einem  Mahl  zusammensitzen.  „Jeder  der  Gastmahlsgenossen 
streckt  einen  Arm  nach  zwei  großen,  auf  Schüsseln  vorgelegten 
Fischen  aus,  während  sie  —  zwei  ausgenommen  —  den  anderen 
Arm  in  lebhaftem  Gestus  erheben."  Vor  dem  Tische  sind  acht 
Brotkörbe,  links  und  rechts  je  vier,  aufgestellt.*  An  der  Decke 
eines  dieser  Cubicula  findet  sich  eine  ähnliche  Szene.  „Auf 
einem  Drei  fuße  liegen  zwei  Brote  und  ein  Fisch.  Zu  beiden 
Seiten  stehen  drei  bzw.  vier  Körbe  mit  Brot."'  In  dem  daran 
anstoßenden  Cubiculum  sieht  man  das  Bild  eines  Mannes  und 
einer  Frau,  zwischen  ihnen  einen  dreifüßigen  Tisch.  Die  Frau 
..neigt  sich  leicht  abwärts  nach  dem  Tische  hin  und  erhebt 
betend  die  Arme".  Der  dreifüßige  Tisch  ist  „mit  Speisestücken, 
darunter  Brot  und  ein  Fisch,  bedeckt.  Letzterer  und  ein 
darunter  liegendes  Brot  werden  von  der  männlichen  Person 
ergriffen".^  In  diesen  Zusammenhang  gehören  noch  die- 
jenigen Katakomben -Grabsteine,  welche  Fisch  und  Brot  als 
Bilder  tragen.* 

*  H.  Achelis    D.  Syvibol   des   Fisches   S.  77;    L.  v.  Sybel   Christi 
Antike  I  S.  204. 

*  H.  Achelis  D.  Symbol  des  Fisches  S.  87  f. 

*  H.  Achelis  a.  a.  0.  S.  89.     Über  ähnliche  himmlische  Mahlbilder 
aus  dem  4.  Jahrhundert  s.  L.  v.  Sjbel  Christi.  Antike  I  S.  206. 

*  Vgl.  H.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches  S.  97  f. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XIV  3 


34  I-  Scheftelowitz 

In  den  Katakomben  der  Plautilla  an  der  ostiensischen 
Straße  ist  ein  Freigelassener  aus  dem  Hause  der  Flavier 
begraben,  Titus  Flavius  Eutycbes,  dessen  Inschrift  mit  dem 
Zurufe  kare  bale  [=  care  vale]  schließt,  dann  sind  zwei  Brote 
und  darunter  zwei  Fische  dargestellt.^  Zur  Einsegnung  des 
Festmahls  gehören  nach  talmudischer  Vorschrift  wenigstens 
zwei  Brote.  Oben  S.  28  f.  sind  bereits  die  Beziehungen  der 
Flavier  zu  den  Juden  festgestellt. 

Der  Wunsch,  daß  der  Verstorbene  in  das  himmlische 
Leben  eingehe,  wurde  also  ursprünglich  bildlich  durch  eine 
himmlische  Fischmahlszene  ausgedrückt.  Deshalb  sind  diese 
Seligenmahle  natürlich  auch  gewöhnlich  in  den  blumen- 
reichen Auen  des  Paradieses  dargestellt.  Das  älteste  Beispiel 
bietet  die  dem  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  zugeschriebene 
Capella  Graeca  des  Coemeterium  Priscillae.  Hier  ist  das 
Gemälde  eines  Seligenmahles  im  Grünen  zu  sehen.  „Das 
Polster  liegt  am  Boden  in  weit  offenem  Halbkreis;  davor 
stehen  ein  Becher  und  zwei  Schüsseln,  die  eine  mit  zwei 
Fischen,  die  andere  mit  fünf  Broten.  Sieben  Personen  sind 
beteiligt . .  .  unter  ihnen  zur  Linken  der  Mittelperson  befindet 
sich  eine  Frau  .  ,  ,  der  bärtige  Siebente  sitzt  links;  er  hält  mit 
vorgestreckten  Händen  einen  nicht  mehr  recht  deutlichen 
Gegenstand",  wohl  ein  Brot.  Endlich  stehen  zu  beiden  Seiten 
des  Gelages  linker  Hand  vier,  rechts  drei  volle  Brotkörbe  gereiht. 
„Die  gereihten  Brotkörbe,  das  sieht  jeder  sofort,  stammen  aus 
der  Speisung  der  Tausende."  ^  Hier  ist  die  altjüdische  Vor- 
stellung vom  himmlischen  Mahle  mit  der  evangelischen  Speisung 
zusammengeflossen.  Dieser  Grundgedanke,  daß  der  Verstorbene 
würdig  sei,  die  Auferstehung  zu  erleben,  wurde  im  Laufe  der 
Zeit  viel  einfacher  durch  zwei  Fische  oder  sogar  nur  durch 
einen  einzigen  Fisch  zum  Ausdruck  gebracht,  da  ja  der  Fisch 

*  Vgl.  A.  de  Waal  Rotna  Sacra  S.  68. 

*  L.  V.  Sybel  Christliche  Antike  1  202,  vgl.  auch  C.  M.  Kaufmann 
Handb.  d.  christl.  Ärchäol,  Paderborn  1906,  S.  303  —  304. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  35 

das  Charakteristische  des  himmlischen  Mahles  ist.  Darum 
kommen  auf  den  christlichen  Katakomben- Grabsteinen  nur 
zwei  Fische  bzw.  ein  Fisch  vor.^  Auch  in  den  christlichen 
Katakomben  von  Hadrumetum  in  Afrika  ist  der  Fisch  gefunden  ' 
In  einer  verfallenen  altchristlichen  Basilika  einer  altrömischen 
Stadt  Nordafrikas,  die  erst  vor  einigen  Jahren  aufgedeckt 
wurde,  sind  in  dem  Mosaikbelag  des  Fußbodens,  der  dem 
Eingang  zunächst  gelegen  ist,  Fische  dargestellt.  „Dem  Styl 
nach  zu  urteilen,  gehören  die  Mosaiken  dem  Ausgang  des 
vierten  oder  fünften  Jahrhunderts  an."'  Sehr  häufig  erscheint 
in  späterer  Zeit  der  Fisch  in  Verbindung  mit  dem  urchristlichen 
Symbol,  dem  Anker/  Während  der  Fisch  die  Hoffnung  auf 
das  Jenseits  ausdrückt,  bezeugt  der  Anker  das  Bekenntnis  des 
Beigesetzten.^  Ein  im  Jahrie  1841  auf  dem  Mons  Vaticanus 
aufgedecktes  Grabmal  zeigt  über  zwei  Fischen  und  einem 
Anker  die  Worte:  IX&YZ  ZSINTSIN.  Viktor  Schnitze*'  hat 
hier  die  eucharistische  Bedeutung  des  Fischsymbols  vermutet. 
Unter  ZSINTSIN  sind  vielmehr  die  im  Jenseits  Ewiglebenden 
verstanden,  die  des  Genusses  des  messianischen  Fisches  teil- 
haftig sind.  Nach  altjüdischer  Auffassung  werden  die  Frommen, 
die  nach  ihrem  Tode  ins  Jenseits  gelangen,   die  Lebenden  ge- 

'  Nach  J.  Wilpert  Pnnzipienfragen  d.  christl.  Archäologie  (Freiburg 
1889)  p.  7  geschah  die  Verdopplung  der  Fische  aus  symmetrischen  Gründen. 
Dölger  {Rom.  Quart.  1910  p.  75)  glaubt  dagegen,  daß  unter  den  zwei 
Fischen  die  Christen  angedeutet  wären;  „der  Plurahs  kann  nur  minde- 
stens durch  zwei  Fische  ausgedrückt  werden." 

*  Böm.  Quartalschr.  20,  217. 

■•  Rom.  Quartalschr.  15,  91.  Auch  in  der  kürzlich  aufgedeckten 
Basilika  von  Aquileja  in  der  Xähe  Venedigs,  die  etwa  um  300  n.  Chr. 
erbaut  wurde,  sind  Mosaiken  mit  Fischen  gefunden  worden  (vgl.  die 
Ztschr.  Adria,  Triest  1910  Nr.  3). 

*  Vgl.  H.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fischts,  Marburg  1888,  S.  60  —  62; 
F.  Becker  1).  Barstellung  Jesu  Christi  unter  dem  Bilde  des  Fisches, 
Breslau  1866  Nr.  57.     De  Waal  Rom.  Quartalschr.  18,  263. 

*  „Ein  auf  einer  Grabplatte  eingeritzter  Fisch  kann  nie  den  Christus 
bedeuten"  (H.  Achelis  D.  Symbol  d.  Fisches  S.  9). 

*  V   Schnitze  D.  Katakomben,  Jena  1877,  S.  117. 

3* 


36  I-  Scheftelowitz 

nannt  (vgl.  Midr.  Tanhümä  5  M.  c.  34  Schluß;  Pirqe  Aböt  4, 
29).  Daher  heißt  es  in  den  Grabinschriften  der  jüdischen 
Katakomben:  diu  ßCov  (hebr.  db^y  •^inb)  „zum  ewigen  Leben". 
Auch  das  Neue  Testament  versteht  unter  dem  Begriff  „Leben" 
das  ewige  Leben  der  Seligen  (Matth.  1,  14;  19,  17).  Dasselbe 
nun  was  Ix^vg  S<övtov  ausdrückt,  versinnbildlichen  auch  viele 
andere  Bilder,  die  in  den  christlichen  Katakomben  häufig  zu 
sehen  sind,  wie  das  Isaakopfer,  Daniel  in  der  Löwengrube,  die 
drei  Jünglinge  im  Feuerofen,  die  Susanna  (die  aus  den  apo- 
kryphischen  Büchern  des  Alten  Testaments  stammt);  sie  sind 
„sämtlich  sinnbildliche  Darstellungen  der  Rettung  aus  dem  Grabe 
zum  seligen  Leben  im  Himmel".^ 

Auf  einem  christlichen  Grabmale  zu  Thessalonich  heißt  es: 
„Den  süßesten  Eltern  zur  Ruhestätte  bis  zur  Auferstehung." 
Darunter  befindet  sich  das  Bild  eines  Fisches.  Der  Glaube 
an  die  Auferstehung  ist  auf  einem  alten  Katakomben-Grabstein 
durch  folgenden  Satz  ausgedrückt:  „Er  hat  seinen  Leib  der 
Erde  anvertraut,  bis  der  frohe  Tag  der  Auferstehung  dämmert."  ^ 

Die  meisten  christlichen  Gräber  weisen  nur  das  Zeichen 
des  christlichen  Glaubens,  den  Anker,  auf.  In  der  Kata- 
kombe der  heiligen  Priscilla  finden  wir  auf  370  Inschriften 
39 mal  den  Anker,  elfmal  die  Palme,  zweimal  die  Taube  und 
nur  dreimal  den  Fisch.  Von  diesen  drei  Fisch -Grabsteinen 
entstammen  wohl  zwei  vielleicht  noch  aus  dem  2.  Jahrhundert, 
dagegen  der  dritte  sicherlich  aus  dem  3.  Jahrhundert.  Bereits 
Wilpert*   hat   richtig    vermutet:    „Das   spätere   Auftreten    des 


^  De  Waal  Roma  sacra,  München  1906,  S.  100  f.  Daher  wird  auch 
auf  den  alten  Grabinschriften  der  sehnsüchtige  Wunsch  ausgedrückt: 
vivatis  in  Deo  oder  vivas  in  Deo  (vgl.  Georg  Schmidt  D.  unterirdische 
Born  Brixen  1908  p.  124,  143,  271).  Daher  haben  zuweilen  die  den 
Toten  beigelegten  tönernen  Henkelkrüge  die  Aufschrift:  ^ijßrig  (derartiges 
findet  eich  in  der  Sammlung  des  Konsul  Niessen,  Cöln). 

*  emfioc  3k  ycürj  sIookul  ccvaardasws  sväyysXov  i](ucq  sixj]ts.  Vgl.  de 
Waal  Borna  sacra  S.  108. 

*  Böm.  Quartalschr.  20,  14. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  37 

Fisches  an  sich  liegt  in  der  Natur  der  Sache  begründet",  da 
es  die  Vereinfachung  der  älteren  Darstellungen  ist,  welche 
mehrere  Fische  aufweisen,  „aus  denen  er  sich  als  selbständiges 
Symbol  entwickelt  hat."  Die  himmlische  Fischmahlzeit  ist  so- 
mit später  nur  durch  einen  Fisch  angedeutet  worden.  Dieser 
f'ine  Fisch  wurde  dann  im  Laufe  der  Zeit  als  das  Symbol  des 
Heilands,  als  'Ix^vg,  gedeutet.  Daher  wird  nun  anstelle  des 
Fischbildes  das  Wort  'Ix^^S  gesetzt.^  Ebenso  wie  den  Juden* 
war  auch  den  ältesten  Christen  der  Fisch  eine  bevorzugte 
Speise,  Aus  Tertullian  adversus  Marcionem  I,  14  geht  hervor, 
daß  Marcion  die  Fische  als  eine  „heilige  Speise,  sanctiorem 
cibum"  betrachtet  hat;  die  Marcioniten  und  Manichäer  haben 
daher  Fischspeise  bevorzugt.  Die  Montanisten  begründeten  ihre 
-trenge  Fastenordnung  damit,  daß  sie  behaupteten:  „Christus 
aß  nach  seiner  Auferstehung  Fisch  und  nicht  Fleisch,  weswegen 
auch  wir  Fisch  essen  und  nicht  Fleisch."''  Clemens  von 
Alexandrien^  sieht  in  dem  Fischgenuß  die  bvxoXos  xal 
d-sodägrjtog  xai  öaxpgav  XQOCpT]. 

Mit  dem  Beginn  des  5.  Jahrhunderts  ist  das  Fischsyrabol 
fast  überall  verschwunden.^ 


'  So  z.  B.  de  Waal  Borna  Sacra  S.  112:  Bettonifus]  in  pace  Deus 
cum  spiritam(!)  tuum(!).'7;ir9'ys.  DecessitVII  Idus  Febr.  ^  I    •  annorumXXII. 

*  Die  Juden  setzten  ihren  Gästen,  die  sie  besonders  ehren  wollten, 
Fische  vor  (vgl.  Taliu.  Makköt  IIa,  Sifre  zu  Deuter.    Abschn.  37). 

'  F.  J.  Dölger  Eöm.  Quartalschr.  23,  154.  *  Paed.  II,  1. 

''  Vgl.  F.  X.  Kraus  Borna  sacra  S.  240.  Herr  Prof.  A.  Müller,  Religions- 
lehrer an  der  hiesigen  Oberrealschule,  macht  mich  noch  auf  folgendes, 
sehr  altes  Mosaikbild  aus  der  Basilika  S.  Apollinare  Xuovo  zu  Ravenna 
aufmerksam,  welche  kurz  nach  dem  Jahre  500  erbaut  wurde.  Es  stellt 
das  letzte  Abendmahl  dar.  Prof.  A.  Müller,  der  das  Original  gesehen  hat, 
beschreibt  es  mir  folgendermaßen:  Die  ganze  Auffassung  der  Szene  er- 
innert noch  sehr  an  die  entsprechenden  Bilder  in  den  Katakomben. 
Der  gedeckte  Tisch  ist  mit  einem  Polster  eingefaßt,  auf  welches  sich 
die  um  den  Tisch  liegenden  Personen  stützen.  Während  die  Apostel 
bartlos  sind,  ist  Christus  bärtig;  er  Hegt  an  der  Ecke,  links  vom 
Beschauer.  Auf  dem  Tische  sind  vor  den  Aposteln  Brote,  während  in 
der  Mitte  eine  Schüs.sel  mit  zwei  Fischen  steht. 


38  I-  Scheftelowitz 

Das  spätere  Christentum,  dem  der  ursprüngliche  Sinn  des 
Fischmahls  nicht  mehr  geläufig  war,  sah  in  den  Fischen  eben- 
falls das  Christus -Symiaol  'Ix^vg,  und  so  wurde  das  eigent- 
liche messianische  Fischmahl  zum  Sinnbild  der  Eucharistie. 
Schon  H.  Achelis^  meint,  daß  die  eucharistische  Bedeutung 
des  Fisches  „erst  später  hineingelegt  worden"  und  nur  ver- 
ständlich sei  „als  eine  Weiterbildung  der  einfacheren  Vor- 
stellung, daß  der.  Fisch  Christus  bedeutet".  Die  Bezeichnung 
^Ixd^vs  für  den  Heiland  ist  aus  einer  Verschmelzung  des  Messias 
mit  dem  messianischen  Fisch  hervorgegangen,  und  letzterer 
dient  ja  nach  altjüdischen  Vorstellungen  den  Frommen  einst 
zur  Speise.  Daher  konnte  Christus  bei  den  Kirchenvätern  zu 
demjenigen  Fisch  werden,  „durch  dessen  innerliche  Heilmittel 
die  Menschheit  täglich  erleuchtet  und  ernährt  wird".^  Nicht 
nur  das  Christentum,  sondern  auch  der  Islam  hat  den 
Glauben  an  das  ewige  Leben  und  die  Auferstehung  vom 
Judentum  übernommen.  Daher  ist  nach  den  Dogmatikern  des 
Islam  die  himmlische  Speise  der  Seligen  der  Fisch,  der  die 
Erde  trägt.^  Auch  den  Muslims  ist  der  Fisch  eine  bevorzugte 
Speise,  worüber  es  im  Koran  (Sure  5)  lautet:  „Seine  Speise 
diene  euch  und  den  Reisenden  als  Lebensmittel  " 

Eine  ähnliche  Rolle  wie  der  Fisch  bei  der  Wieder- 
auferstehung im  Judentum  spielt  der  messianische  Stier 
Ha^ayas  im  Parsismus.  Dieser  unsterbliche  Stier  wird  erst 
am  Tage  der  Wiederauferstehung  von  dem  Heiland  Saosyant 


'  Achelis  D.  Symbol  d(S  Fisches,  Marburg  1888,  Ö.  51. 

*  Vgl.  Prosper  v.  Aquitanien  De  promiss.  et  praedict.  T)ei 
II,  39:  Piscis . . .  cuius  ex  interioribus  remediis  quotidie  illuminaumr  et 
pascimur. 

*  Vgl.  I.  B.  Rüling  Beitr.  z.  Eschatologie  des  Islam,  Leipzig  (Disaert.) 
1896,  S.  66.  Nach  Sure  6,  112—116  sendet  Gott  dem  Jesu  auf  sein 
dringendes  Bitten  einen  himmlischen  Tisch  mit  Speisen  für  die 
Menschheit  herab.  Als  Hauptspeiso  wird  von  den  Kommentaren  der 
Fisch  genannt.  (Darauf  bin  ich  von  Rob.  Eisler  aufmerksam  gemacht 
worden.) 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  39 

geschlachtet.  Das  Fett  dieses  Tieres  wird,  gemischt  mit  Hörn, 
den  Frommen  als  Unsterblichkeitstrank  vorgesetzt.^ 

Diese  den  Juden  nicht  fremdartig  klingende  persische  Vor- 
stellung vom  messianischen  Stier  ist,  da  die  persischen  An- 
schauungen über  die  zukünftige  Welt  sich  vielfach  mit  den 
jüdischen  eng  berührten,  neben  manchen  andern  Ideen  über 
das  Leben  im  Jenseits  und  über  die  messianische  Ära  in  die 
jüdische  Eschatologie  aufgenommen.  Für  solche  Vorstellungen, 
die  eigentlich  mehr  den  Unterströmungen  der  jüdischen  Religion 
angehört  und  niemals  einen  wesentlichen  BestandteU  des  Juden- 
tums ausgemacht  haben,  suchte  man  nachträglich  Anhaltspunkte 
in  der  Bibel.  So  glaubte  man  den  messianischen  Stier  bereits 
in  Hiob  c.  40  angedeutet  zu  finden,  wo  neben  dem  messianischen 
Leviatan  auch  ein  gewaltiges  Landtier,  namens  Behemöt,  wohl 
„Flußpferd"  (s.  Gesenius-Buhl:  Handwörterb.  z.  A.  T.")  ge- 
schildert wird.  Auch  die  Ableitung  des  Namens  von  Behemä 
(„zahmes  Vieh"j  schien  für  die  Annahme  eines  Stieres  zu 
sprechen.  Erst  in  der  spätjüdischen  Literatur  tritt  neben  dem 
Leviatan  das  messianische  Landtier  Behemot  auf  (vgL  4.  Buch 
Esra  6,  51;  Syr.  Baruchapokal.  29,  4),  mit  dessen  Fleisch  die 
Frommen  am  Jüngsten  Gerichte  gespeist  werden  (Henoch  60,  7; 

4.  Esra  5,  51 — 52).     Im  Midras*  wird  er  als  gewaltiger  Stier 

•  Vgl.  Dädistän  i  Dinik  c.  37,  99.  119;  48,  34;  90,  40;  Bundekis  19, 
13;  30,  25;  Zädsparam  11,  10.  Dieser  Trank,  der  Hüä  heißt,  spielt  auch 
im  Mithrasknlt  eine  wichtige  Rolle,   vgl.  A.  Dieterich  Bonn.  Jahrb.  1902, 

5.  32.  Nach  dem  Parsismus  wird  sonst  den  verstorbenen  Seligen  gleich 
nach  ihrem  Tode  im  Himmel  als  Speise  eine  Art  Butter,  Maidyök-zarem 
vorgesetzt.  Sie  wird  als  die  allerangenehmste  Speise  bezeichnet;  vgl. 
Dädrstän  i  Dlnlk  c.  31.  13.  Hädöxt  yask  U,  38;  MenixardU,  152.  Der 
messianische  Stier  der  Perser  kann  ursprünglich  die  Sonne  im  Tierkreis- 
zeichen des  Stieres,  im  Frühlingsäquinoktium,  darstellen.  So  stammen 
auch  „  die  ältesten  erhaltenen  babylonischen  Urkunden  aus  der  Periode 
des  Stieres;  der  Kalender  ist  vollständig  hierauf  zugeschnitten." 
(J   Benzinger  Hebr.  Archäologie*  p.  163.) 

*  Wajiqrä  RAbbä  P.  13,  4;  P.  22,  Pesiqtä-Bahhäti  cap.  16;  Jalqüt 
zu  3.  Mos.  cap.  11.  Der  Midras  Tanhumä  3.  Mos.  cap.  11,  1  u.  5.  Mos. 
29,  9  gibt  über   den  Leviatan  und    den  Behemöt  folgende    Schilderung: 


40  I-  Scheffcelowitz 

geschildert,  der  in  der  raessianischen  Zeit  mit  dem  Leviatan 
einen  Zweikampf  bestellt,  in  welchem  beide  sich  gegenseitig 
tötlich  verwunden  werden.  In  dem  Satze  Hiob  40,  19:  „Sein 
(des  Behemöt)  Schöpfer  wird  das  Schwert  heranbringen",  fand 
man  nun  eine  Bestätigung  für  die  Anschauung,  daß  Gott  dann 
diesen  Stier  mit  einem  Schwerte  zergliedern  und  an  die  Frommen 
verteilen  werde  (s.  Kommentar  Rasi  zu  Hiob  40,  19).  In  der 
hebräischen  Dichtung  Aqdämüt,^  die  von  dem  um  1060  n.  Chr. 
lebenden  Rabbi  Meir  Ben-Jishäq  verfaßt  ist,  wird  diese 
eschatologische  Vorstellung  genau  geschildert:  „Bald  wird  uns 
Gott  in  die  ewige  Welt  leiten,  die  er  uns  in  seiner  Erhaben- 
heit von  Anfang  an  zum  Anteil  beschieden  hat.  Nun  erhebt 
sich  ein  Zweikampf  zwischen  dem  Leviatan  und  dem  Berg- 
stier, sie  greifen  einander  tapfer  an  und  führen  einen  be- 
lustigenden Kampf.  Mit  den  Hörnern  führt  der  Stier  Behemöt 
seine  tötlichen  Stöße.  Der  Fisch  aber  schnellt  ihn  tot  mit 
seinen  ehernen  Flossen.  Gott  tritt  herzu  mit  einem  gewaltigen 
Schwerte  und  zergliedert  sie  und  bereitet  sie  zum  köstlichen 
Mahle  für  die  Frommen.  Diese  sitzen  rings  um  Tische* von 
Jaspis  und  Karfunkel  neben  balsamströmenden  Bächen  und 
zechen  entzückt  aus  vollen  Pokalen  des  köstlichen  Weins,  der 
seit  der  Schöpfung  der  Welt  in  Beeren  aufbewahrt  ist." 

In  der  zukünftigen  Welt  wird  den  Frommen  aus  dem  Fleische  des 
Behemöt  und  des  Leviatan  ein  Mahl  hergerichtet.  Gott  fordert  zunächst 
die  Engel  auf,  den  Leviatan  zu  erlegen.  Sobald  sie  ihm  aber  gegen- 
überstehen, und  er  seine  Blicke  gegen  sie  heftet,  geraten  sie  in  Furcht 
und  ergreifen  die  Flucht.  Er  reißt  seinen  Mund  auf  und  verschlingt  sämt- 
liche Fische  des  Meeres.  Auf  Geheiß  Gottes  schießen  die  Engel  Pfeile 
gegen  ihn,  allein  er  fühlt  sie  nicht;  sie  schleudern  dann  mit  Wurf- 
maschinen gegen  ihn  gewaltige  Steine,  aber  sie  schaden  ihm  nicht.  Da 
läßt  Gott  den  Behemöt,  der  auf  1000  Bergen  weidet,  in  gewaltige  Wut 
gegen  den  Leviatan  geraten,  er  stürmt  gegen  ihn  an  und  beide  töten 
sich  gegenseitig.  Sogleich  versammeln  sich  die  Frommen  um  diese  beiden 
messianischen  Tiere,  und  Gott  läßt  dann  jeden  einzelnen  seinem  Ver- 
dienste entsprechend  von  ihnen  Fleisch  essen. 

'  Diese  Dichtung  wird  am  ersten  Tage  des  Säbu'öt-Featea  verlesen 
und  ist  im  Mahzör  aufgenommen. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  41 

7  Ursprung  der  engen  Verbindung  des  Fisches  mit 
dem  Auftreten  des  Messias  im  Judentum 

Daß  der  Anbruch  der  messianischen  Zeit  im  Judentum 
eng  mit  dem  Fischsvmbol  verknüpft  ist,  scheint  auf  astrologische 
Vorstellungen  zurückzugehen.  Im  Altertum  spielten  die  zwölf 
Tierkreisbilder  des  Himmels  die  wichtigste  Rolle  im  Kalender. 
Diese  uralten  Bilder  kamen  bereits  in  babylonischen  Abbildungen 
vor.  Niemand  weiß,  wann  sie  erfunden  worden  sind.  Bereits 
in  grauer  Vorzeit  wurden  besonders  der  Tierkreis  und  die 
Planeten  beobachtet.*  Die  Jahreszeitpunkte  des  Weltenjahres 
suchte  man  im  Tierkreis  zu  fixieren.-  Nach  altorientalischer 
Auffassung  konnte  man  den  richtigen  Zeitpunkt  wichtiger 
Ereignisse  aus  den  Gestirnen  erschließen.  Die  Babylonier 
gaben  daher  stets  auf  den  Stand  der  Himmelskörper  acht, 
und  „überzeugt  davon,  daß  dieser  Zusammenhang  mit  dem- 
jenigen, was  sich  auf  Erden  ereignet,  und  daß  die  Götter 
hierdurch  den  Menschen  ihren  Willen  zu  erkennen  geben, 
nahm  man  bei  den  wichtigen  Vorfallen  sorgfältig  Notiz  von 
demselben,  um  aus  ihm  Weissagungen  bezüglich  der  nächsten 
Zukunft  herzuleiten".' 

Auch  die  alten  Inder  glaubten,  daß  alle  Ereignisse  in  der 
Welt  von  den  Tierkreisbildern  und  den  Planeten  abhängig 
wären.  „Alles,  was  hier  in  der  Welt  Schönes  und  Unschönes 
zu  schauen  ist,  das  stammt  von  ihnen"  (von  „dem  Monde,  den 
Sternbildern,  Planeten").*  „Von  den  Planeten  hängt  ab  der 
Könige  Erhebung  und  Fall  und  das  Sein  und  Nichtsein 
der  Welt;    deshalb    sind    die    Planeten    besonders    zu    ehren."' 

*  Vgl.  Ginzel  D.  astronom.  Kenntn.  d.  Babylonier  (in  Beitr.  z.  alt. 
Gesch   1902);  A.  Jeremias  D.  Alter  cL  babylon.  Astronomie,    Leipzig  1908. 

*  Vgl.  0.  Gruppe  Griech.  Myth.  u.  Religionsgesch.  I,  450.  Über  die 
astrologischen  Anschauungen  in  Nordabessinien  vgl  E.  Littmann  Arch.f. 
Beligioymc.  11,  298  ff. 

'  P.  Tiele  Gesch.  d.  Relig.  d.  Altert.  I,  S.  209f. ;  vgl.  Diodoros  Bt|3i»o*^'x;j 
töropixi}  (ed.  Vogel,  Leipzig  1888)  IIc  30  — 31. 

*  MaiträyanaUpanisadQ,  IQ.  *   Yäjhavalkyal^ZQl. 


42  I-  Scheftelowitz 

Nach  dem  Glauben  der  Inder  kann  man  unter  einem  günstigen 
oder  üblen  Gestirn  geboren  werden.^ 

Die  alten  Perser  nahmen  an,  daß  jedes  Wesen  seinen 
besonderen  Stern  habe.^  Alles,  was  sich  unter  den  Menschen 
ereignet,  steht  im  Zusammenhang  mit  den  Gestirnen.^  Die 
Stellung  der  Tierkreisbilder  ist  nach  persischer  Auffassung  von 
Einfluß  für  das  menschliche  Geschick.* 

In  China  wird  ebenfalls  bei  allen  wichtigen  Angelegen- 
heiten der  Astrologe  gefragt,  welcher  aus  den  Gestirnen  den 
günstigen  Tag  zur  Vornahme  eines  Aktes  berechnet.  Ebenso  wie 
die  Babylonier  unterscheiden  sie  Glücks-  und  Unglückstage  (vgl. 
F.  Heigl,  Religion  und   Kultur  Chinas,   Berlin  1900,  p.  130f.). 

Dieser  Glaube,  daß  das  Schicksal  des  Menschen  durch 
die  Konstellation  der  Geburtsstunde  bestimmt  werde,  besonders 
durch  die  Stellung  der  Planeten  zu  den  Zeichen  des  Tier- 
kreises, war  ursprünglich  den  alten  Israeliten  und  Griechen 
völlig  fremd.  Diese  astrologischen  Lehren  scheint  wohl 
hauptsächlich  der  Babylonier  Berossos  den  Griechen  vermittelt 
zu  haben.  „Die  Verbreitung  und  Bedeutung,  die  diese  Lehren 
und  die  astrologische  Praxis  fanden,  off'enbart  sich  in  der 
Aufnahme  der  Astrologie  in  die  stoische  Theologie  und  in  dem 
lebhaften  Streite,  der  seit  Karneades  um  ihre  Geltung  geführt 
wurde.  Und  mit  der  hellenistischen  Zeit  setzt  eine  reiche 
astrologische  Literatur  ein."^  Dieser  Aberglaube  hatte  sich 
über  die  ganze  klassische  Welt  verbreitet.     Plinius^  berichtet: 

'  Vgl.  Kausika  Sütra  40,  25.  =*  Vgl.  Menlxard  49,  22  —  23. 

'  Dädistän  i  Dlnik  70,  2. 

*  Epistles  of  Mänüsclhar  2,  0  —  11;  Herodotos  1,  131  berichtet,  daß 
die  Perser  die  Sterne  verehrten. 

"  P.  Wendland  Z).  hellen.-röm.  Kultur,  Tübingen  1907,  S.  80:  vgl.  auch 
F.  BoU  D.  Erforsch,  d.  antik.  Astrologie  in  iV'.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altert.  1908, 
S.  103 ff.;  F.  Cumont,  B.  oriental.  Eeligü>nen.  übers,  von  Gehrich,  Leipzig 
1910,  S.  191—205. 

®  Plinius  Ilistoria  vaturalis  11,  23.  Den  Römern  war  ursprünglich 
die  Verehrung  der  Gestirne  fremd,  vgl.  W.  Gundel  De  stellarum  appel- 
latione  et  religione  Romana,  Rel.  gesch.  Vera.  u.  Vorarb.  III  2,  Gießen  1907. 


Das  Fiach- Symbol  im  Jadentnm  und  Chnstentam  43 

Viele  Menschen  schreiben  ihren  Gestirnen  die  Ereignisse  zu 
„nach  den  Gesetzen  der  Konstellation  bei  der  Geburt".  „Diese 
Meinung  fangt  an,  sich  festzusetzen,  und  sowohl  der  Gebildete 
als  auch  der  rohe  Haufe  nähert  sich  ihr  im  Sturmschritt." 
Bei  der  Deutung  des  Sternes  ist  es  nach  Plinius  von  Wichtig- 
keit, „welche  Ähnlichkeit  er  zeige,  und  an  welchem  Orte  er 
erscheine".'  Das  Altertum  glaubte,  daß  die  herrorragenden 
Menschen  besonders  helleuchtende  Sterne  hätten.-  Li  der 
Geburtsnacht  Alexanders  d.  Gr.,  da  der  Tempel  der  ephesischen 
Artemis  in  Flammen  aufging,  stand  ein  auffallend  glänzender 
Stern  am  Himmel.  Schon  die  Mitwelt  deutete  ihn  auf  den 
kommenden  Heiland,  und  der  Sternglaube  hat  mit  dazu  bei- 
getragen, dem  Mazedonier  bei  den  Persem  den  Weg  zu  ebnen. 
Noch  mit  der  Geburt  Alexanders  Severus'  (222  —  235)  verknüpft 
die  Überlieferung  die  Erzählung  von  einem  plötzlich  auf- 
leuchtenden Stern,  der  die  künftige  Weltstellung  des  nicht  in 
Purpur  geborenen  Knaben  voraus  verkündet  hätte.  Ähnliches 
berichtet  der  Talmud:  Bei  der  Geburt  Moses'  erhellte  plötzlich 
ein  überirdisches  Licht  das  Haus,  in  welchem  das  Kind  ge- 
boren wurde.^  Nach  dem  Midras*  war  dieses  Licht  in  der 
ganzen  Welt  sichtbar.  Auch  bei  der  Geburt  Jesu  erscheint 
über  Bethlehems  St?ll  ein  Stem.^ 

Die  Israeliten  haben  erst  durch  die  Berührung  mit  den 
Assyrem  die  Stemdeuterei  in  ihrer  Verwertung  für  das  Ge- 
schick des  einzelnen  Menschen  kennen  gelernt.^     Dieser  Aber- 

'  Plinius  Historia  nat.  U,  92.  *  Vgl.  Plinius  II,  28. 

'  Talm.Sötä  12a  und  13b;  MegilJä  14a. 

*  .7a7gM(  zu  2  M.  2. 

'"  Vgl.  Matth.  2,  2.  Über  den  Glauben  an  die  Sterne  und  besonders 
über  den  Stern  Christi  vgl.  auch  Hugo  Kehrer  D.  lügen  drei  Könige  in 
Literatur  u.  Kunst,  Leipzig  1909. 

*  Die  astralen  Grundlagen  waren  zwar  den  Israeliten  seit  ältester 
Zeit  bekannt,  aber  die  eigentliche  Astrologie  stand  in  unvereinbarem 
Gegensatze  zu  ihrer  monotheistischen  Religion,  denn  es  galt  als  heid- 
nische Art,  aus  den  Sternen  die  Zukunft  ergründen  zu  wollen  (vgl. 
Jes.  47,  13). 


44  I-  Scheftelowitz 

glaube  scheint  etwa  um  700  v.  Chr.  in  Palästina  eingedrungen 
zu  sein.  Die  Bibel  berichtet,  daß  der  assyrerfreundliche  König 
Manasse  die  Gestirne  des  Himmels  verehrte.^  Diesen  Aberglauben, 
daß  von  den  Sternbildern  das  Geschick  des  Menschen  abhänge, 
sucht  Jeremia  (10,  2)  zu  bekämpfen:  „An  die  Sitten  der 
Völker  gewöhnt  euch  nicht,  und  vor  den  Zeichen- des  Himmels 
zagt  nicht,  wenn  auch  die  Völker  davor  zagen."  Die  Misnä* 
wirft  den  Heiden  die  Verehrung  der  Sterne  und  der  Tierkreis- 
bilder vor.  Die  um  140  v.  Chr.  verfaßten  Sibyllinischen 
Orakel  des  3.  Buches  behaupten,  daß  die  Juden  „weder  aus 
den  Sternen  die  Orakel  der  Chaldäer  suchen,  noch  Astrologie 
treiben,  denn  das  alles  ist  verführend".^  Allein  im  gewöhnlichen 
Volksglauben  der  Juden  hatte  man  bereits  lange  der  Astrologie 
höbe  Bedeutung  beigelegt.  Schon  Aussprüche  von  Talmud- 
lehrern aus  dem  1.  Jahrhundert  beweisen,  daß  man  an  die 
Sterndeutung  sehr  viel  glaubte.^  „Das  Schicksal  des  Menschen 
hängt  von  dem  Planeten  ab,  der  in  der  Geburtsstunde  herrscht", 
heißt  es  im  Talmud.^  Rabbi  Eliezer  aus  Modein  behauptete, 
schon  Abraham  habe  große  astrologische  Kenntnisse  besessen, 
weshalb  er  von  vielen  aufgesucht  wurde.*'  Ebenso  sagt  der 
Zöhär,''  daß  Abraham  aus  den  Gestirnen  die  Geschicke  der 
einzelnen  Völker  lesen  konnte.  Diese  Ansicht,  daß  Abraham 
die  Astrologie  genau  gekannt  hatte,  ist  sehr  alt.  Bereits 
jüdisch -hellenistische  Schriftsteller  ^  der  vorchristlichen  Zeit 
berichten    dieses.^     Talmudlehrer    des   2.  Jahrhunderts  n.  Chr., 


'  II.  Kön.  21,  3  und  5.  *  Misnä  Abödä  zärä  4,  7. 

*  Sibyll.  Or.  Ilf,  227  f.  Über  das  Alter  dieses  3.  Buches  vgl.  E.  Scliürer, 
Gesch.  des  Jüd.  Volkes  lll*,  571  f. 

*  Y gl  Talm.  Sabbat  lb&a,Nedärim'62. 

*  Sabbat  156a;  vgl.  auch  Zöhär  Beresit  Bl.  180b:  btwn  •^^br\  b'D'rt 
„Allee  hängt  vom  Tierkreis  ab."  Ähnlich  heißt  es  im  Talm.  Mö'ed 
qätün  25a:  „Rabbä  lehrt,  daß  Leben,  Kinder  und  Lebensunterhalt  vom 
Planeten  abhängt." 

°  Talm.  Baba  Baträ  16.  '  Zöhär  Beresit,  Paresä  Lek-lekä. 

«  Vgl.  P.  Wendland  1).  helkn.-röm.  Kultur,  S.  Ulf. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  45 

wie  Rabbi  Meir  und  R.  Jose  haldigten  der  Astrologie*,  ebenso 
R.  Chaninä  (3.  Jahrhundert).'  Doch  suchten  andere  Weise 
diesen  Aberglauben  zu  bekämpfen,  so  R.  Aqibä,  R.  Jöhanan, 
Räb  und  Semüel,'  indem  sie  behaupteten,  das  Geschick  Israels 
stehe  nicht  unter  dem  Einfluß  der  Tierkreisbilder;  jedoch 
geben  sie  zu,  daß  die  Sterndeutung  für  die  Geschicke  anderer 
Völker  von  großem  Einfluß  sei.* 

Auch  von  den  Juden  sind  die  wichtigsten  Begebenheiten 
unter  den  Menschen  in  Beziehung  zu  den  Planeten  und  Tier- 
kreisbildern gesetzt  worden.^  So  ist  die  altisraelitische  An- 
schauung, daß  Gott  die  Handlungen  der  Menschen  mit  der 
Wage  wägt',  unter  dem  Einfluß  der  Astrologie  mit  dem  Rös- 
hassänä-Fest,  welches  am  ersten  Tisri  (d.  i.  der  siebente  Monat) 
im  Tierkreisbild  der  „Wage"  gefeiert  wird,  eng  verschmolzen. 
Dieses  bestätigt  der  Midras  Rabbä",  der  ausdrücklich  bemerkt, 
daß  dieses  Fest  mit  dem  Tierkreisbild  der  „Wage"  im  Zu- 
sammenhang stehe,  da  Gott^an  diesem  Tage  die  Taten  der 
Menschen  auf  einer  Wage  abwiegt.  Nach  Josephus®  wurde 
die  Zerstörung  des  Tempels  bereits  lange  vorher  durch  ein 
schwertähnliches  Gestirn  ancrekündicrt. 

Dem  Midras  gemäß  hatte  Haman  aus  den  Sternbildern  zu 
berechnen  gesucht,  wann  der  geeignetste  Zeitpunkt  für  die 
Vernichtung  der  Juden  wäre.  Und  er  fand,  daß  sein  Plan 
unter  dem  Tierkreis  der  „Fische"  am  besten  ausgeführt  werden 
könnte,   denn  er  dachte:  „Wie  die  großen  Fische  die  kleinen 

'  Talm.Sukkä  29  a,  Mekiltä  (ed.  Weiß,  Wien  1865)  S.  4  a. 

*  Sabbat  156.  »  Sabbat  156  a. 

*  Sabbat  156,  Mekiltä  (ed.Weiß^  S.  4  a. 

*  Vgl.  z.  B.  Talmud  Berdköt  64  a,  Hörajöt  14  a. 

«  Vgl.  Hiob  31,  6,  Ps.  62, 10,  Miäle  16,  11,  Dan.  5,27,  Baruch  41,  6. 
Diese  Anschauung,  daß  die  Gottheit  die  guten  und  bösen  Handlungen 
der  Menschen  wiegt,  war  auch  bei  den  Ägyptern  heimisch;  vgl.  Budge 
Book  of  deaih  22  f.,  ebenso  auch  im  Parsismus,  vgl.  Dädistün  i  Duiik 
c.  8.  1  u.  13,  3,  Men  i  xard  2,  119  —  121;  Ardä   Vlräf  5,  6. 

'  Bamidbur  Rabbä  c.  16,  1. 

"  Bellum  Judaicum  VI,  5,  3;  Tacitus  Histor.  5,  13. 


46  I-  Scheftelowitz 

verschlingen,  will  ich  auch  die  Israeliten  verschlingen."  „Doch 
Gott  sprach:  Du  Bösewicht!  Zuweilen  werden  die  Fische 
verschlungen,  zuweilen  aber  verschlingen  sie,  jetzt  sollst  du 
von  den  verschlingenden  [Fischen]  verschlungen  werden."^ 

Besonders  suchten  die  Juden  aus  den  Tierkreisbildern  das 
Erscheinen  des  Messias  vorherzubestimmen,  denn  der  Prophet 
Jöel  (3,  3 f.)  hatte  ja  verkündet:  „Und  ich  gebe  Wunderzeichen 
auf  dem  Himmel  und  auf  der  Erde  .  .  .  bevor  der  Tag  des 
Herrn  kommt."  Nach  Pesiqtä  zutartä  (S.  58  a)  und  Zöhär 
(2.  Mos.  S.  3)  wird  ein  Stern  am  Morgen  die  Geburt  des 
Messias  andeuten.  Das  Herannahen  der  messianischen  Zeit  wird 
durch  ein  deutliches  Zeichen  am  Himmel  zu  erkennen  sein.^ 

Der  Talmud  setzt  die  Kenntnis  der  zwölf  Tierkreisbilder 
(mazalöt)  als  allgemein  bekannt  voraus.^  Die  Reihenfolge  der 
zwölf  Zodiakalzeichen  nebst  den  ihnen  zugehörigen  Monaten, 
wie  sie  in  den  jüdischen  Schriftwerken  aufgezählt  werden, 
lautet  folgendermaßen:  1.  Täleh  „Widder"  —  Monat  Nisan. 
2.  Sör  „Stier"  — Monat  Ijjar.  3.  Teömim  „Zwillinge"  — 
Monat  Siwan.  4.  Sartän  „Krebs" — Monat  Tamüz.  5.  Ari 
„Löwe"  —  Monat  Ab.  6.  Betüläh  „Jungfrau"  —  Monat 
Elul.  7.  Möznajim  „Wage"  — Monat  Tisri.  8.  'Aqräb 
„Skorpion"  —  Monat  Marheswän.  9.  Qeset  „Bogen"  — 
Monat  Kisleb.  10.  Gedi  „Ziegenbock"  —  Monat  Tebet. 
11.  Deli  „Eimer"— Monat  Sebat.  12.  Dägim  „Fische" 
— Monat  Ädär.* 


*  Midras  Rdbhä  zu  Esth.  3,  7,  Jalqüt  Simeöni  zu  Eeth.  3,  7. 

*  Sibyllin.  Or.  III,  796  flF.  Daher  scheint  auch  Aqibä  den  Freiheits- 
helden Bar-Kosiba,  den  er  für  einen  Messias  hielt,  Bar-Kökebä 
(„Sternensohn")  genannt  zu  haben;  vgl.  Midr.  Ekä  2,  2;  Jer.  Talm. 
Ta'anit  IV,  7,  p.  68b. 

"  Vgl.  Berdköt  82b;  ebenso  das  5.  Buch  der  Sibyllin.  Gr.,  das 
etwa  im  2.  Jhdt.  n.  Chr.  verfaßt  ist;  vgl,  E.  Kautzsch,  Apokryphen  Bd. II 
183;  E.  Schürer,  Gesch.  des jüd.  Volks  III*,  681—582. 

*  Vgl.  Pesiqtä  Eabhäti,  c.  20;  Midr.  Tan}iumü  6.  M.  c.  82;  Midr 
Mablä  zu  Esth.  3,  7;  Jalqüt  Simeöni  zu  2.  M.  Absch.  418;  Jalqüt  Sim. 
zu  1.  Kon.  7;  Tal-Gebet,   beginnend   mit   „Elim   bejöm"   im    Muss.if- 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentmn  und  Christentum  47 

Für  das  Auftreten  des  Messias  bietet  nun  das  Sternbild 
der  „Fische"  die  bedeutungsvollsten  und  günstigsten  Merk- 
zeichen. Nach  einer  jüdischen  Überlieferung  ist  nämlich  die 
Zeit,  die  der  Ankunft  des  Messias  vorangeht,  in  zwölf  Abschnitte 
geteilt,  von  denen  ein  jeder  besondere  Drangsale  für  die  Welt 
bringen  wird.  Erst  nach  dem  zwölften  Zeitabschnitt  wird  sich 
Messias  offenbaren',  denn  die  Zwölfzahl  ist  von  guter  Vor- 
bedeutung (Jalqüt  zu  Jes.  66).  Unter  den  zwölf  Sternbildern 
stehen  die  „Fische"  an  letzter  Stelle  und  sind  im  zwölften 
Monat  sichtbar.  Das  Sternbild  der  „Fische"  kann,  da  es  als 
letztes  der  Tierkreisbilder  im  letzten  Monat  auftritt,  einerseits 
symbolisch  sehr  leicht  als  der  Zeitpunkt  des  Weltendes  auf- 
gefaßt werden,  anderseits  aber  auch,  da  unter  demselben  Stern- 
bilde das  Frühlingsäquinoktium  liegt,  wegen  des  Frühlings- 
anfangs den  Beginn  einer  neuen  blühenden  Ära  darstellen. 
Daher  liegt  es  sehr  nahe,  das  Erscheinen  des  Messias  auf 
diesen  Zeitpunkt  zu  verlegen,  so  daß  also  die  Vorstellungen 
von  dem  Anbruche  der  messianischen  Zeit  sich  eng  mit  dem 
Fisch  verknüpften. 

Gebet  zum  ersten  Tage  Pesah  (verf.  Ele'azar  Kalir  im  8.  Jhdt. ,  vgl.  Zunz 
Literatur gesch.  d.  synag.  Poesie  S.  45);  Gesem- Gebet,  beginnend  mit 
„Jiftah  eres  lejes'a"  im  Mussäf-Gebet  zu  Semini  'aseret;  Rasi 
z.  Talm.  Rös  hassänäh  IIb;  Qinöt  Lei  tise'ä  be-Ab  im  Schluß- 
stück  beginnend  mit  „Zer'a  qödeä";  Selömö  Ibn-Gabirol  (11.  Jhdt.)  in 
seinem  Keter  malküt. 

'  Syr.  Baruchapokal.  c.  27.  Auch  nach  dem  Parsismus  tritt  der 
Heiland,  der  die  Auferstehung  aller  Toten  bewirkt,  am  Ende  des  Welten- 
jahres, das  eine  Periode  von  12  000  Jahren  umfaßt,  auf  (vgl.  Bundehis 
c.  7).  Dieses  Weltenjahx  des  Parsismus  zerfallt  ebenfalls  in  12  Ab- 
schnitte zu  je  1000  Jahren.  Vom  6.  Millennium  ist  in  Zädsparam  9  die 
Rede.  Am  Ende  des  9.  Millenniums  hat  Zarathustra  gewirkt  (Dinkard  VII, 
c.  1,  51).  Am  Ende  des  10.,  11.  und  12.  Millenniums  erscheint  je  ein 
Messias,  aber  erst  der  letzte  Heiland  erweckt  die  Toten  (vgl.  Dinkard  VJI, 
c.  8,  51  —  10,  19;  Bundehis  30,  1  —  3;  Dädistän  i  Dlnik  2,  10;  48,  30; 
Epistles  of  Mänulclhar  II,  3,  3;  Grdr.  d.  iran.  Phil.  II,  686).  Nach  jüdi- 
scher Auffassung  bleiben  die  Frevler  in  der  Hölle  über  zwölf  Monate 
und  werden  dann  erlöst  {Jal^t  zu  Jes.  66;  Edujot  2, 10;  Jerus.  Sanhedrin 
10,  3). 


48  I-  Scheftelowitz 

Im  Einklang  mit  dieser  Erklärung  stehen  folgende  ältere 
Angaben  jüdischer  Schriftwerke: 

Der  im  15.  Jahrhundert  lebende  Tsaak  Abrabanel  erwähnt 
in  seinem  Kommentar  zu  Daniel,  daß  der  Messias  unter  dem 
Zodiakalzeichen  der  „Fische"  auftreten  werde.^  Aus  demselben 
Grunde  hat  auch  der  im  17.  Jahrhundert  lebende  Pseudomessias 
Sabbatai  Sebi  eine  sonderbare  Zeremonie  mit  einem  Fische  vor- 
genommen, den  er  wie  ein  Kind  in  die  Wiege  gelegt  mit  der 
Angabe:  Israel  werde  unter  dem  Zodiakalzeichen  „Fische"  erlöst 
werden.  ^ 

In  einem  aus  dem  8.  Jahrhundert  stammenden  Tal -Gebet 
des  ersten  Tages  des  Pesah- Festes  heißt  es:  „Du  mögest  die 
Früchte  des  Jahres  vermehren  im  Himmelstore ^  der  „Fische", 
mache  sie  fett,  o  Tau,  laß  die  schlummernden  Saaten  Wurzel 
fassen,  um  sie  erblühen  zu  lassen,  wie  Tau  eine  Rose  erblühen 
läßt."*  Nach  einem  Kommentar  zu  dieser  Stelle  ist  nun 
unter  den  „schlummernden  Saaten"  allegorisch  das  Volk  Israel 
zu  verstehen,  das  bei  dem  göttlichen  Tau  der  Erlösung  und 
Totenauferstehung  ^  wiederum  auf  blühen  wird.®  Auch  hierin  liegt 
die  Vorstellung,  daß  unter  dem  Sternbilde  der  Fische  die  Er- 
lösung erfolgen  wird.  Infolge  dieser  Auffassung  hielt  man  es 
für  ein  günstiges  Vorzeichen,  wenn  ein  Kind  am  fünften  Tage 
der  Woche,  an  welchem  ja  Gott  die  Fische  erschaffen  hat,  ge- 
boren wurde.  Ein  solcher  Mensch  wird  nach  talmudischer 
Auffassung  später  Hervorragendes   leisten   im  Wohltun   gegen 

'  Vgl.  die  hebr.  Monatsschrift  des  Bär  Goldenberg  Nögä  hajjäreah, 
Lemberg  1872  I,  S.  17. 

*  Vgl.  H.  Graetz  Gesch.  d.  Jtiden,  Bd.  10  (Leipzig  1868)  Note  3, 
Nr.  7,  S.  XXXII. 

"  Der  Ausdruck  „Himmelstor"  für  Sternzeichen  kommt  daher, 
weil  man  sich  im  Altertum  vorstellte,  als  ob  die  Sterne  aus  einem 
Himmelstore  hervorträten;  vgl.  das  Buch  Henoch  33,  3  u.  72  —  82. 

*  Tal- Gebet,  beginnend  mit  Dm   Q-^Vn  (verf.  v.  Eliezer  Kalir). 

*  Über  den  Tau  der  Totenauferstehung  vgl.  Jes.  26,  19;  vgl.  auch 
J.  Goldziher,  Archiv  XIII  p.  45 ff. 

"  S.  Mahzör  sei  Pesah,  Metz,  11.  Hadamard  5677  BI.  95a. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  49 

seine  Mitmenschen.^  Ebenso  wie  es  im  Tierkreisbild  zwei 
Fische  gibt,  nimmt  auch  der  Talmud  zwei  Leviatan  an,  einen 
männlichen  und  einen  weiblichen,  von  denen  Gott  bereits  den 
weiblichen  Fiscli  getötet  hat,  dessen  Fleisch  bis  zur  Auf- 
erstehung für  die  Frommen  konserviert  ist  (Bäbä  Baträ  73  b). 
Daher  wird  wohl  auch  „Jinön"  der  allgemein  übliche  Name  für 
den  Messias  geworden  sein,  indem  dieser  Name  wahrscheinlich 
volksetymologisch  mit  hebr.  nun  „Fisch"  in  Zusammenhang  ge- 
bracht wurde.  H.  Dölger*  hält  die  Bezeichnung  „Jinön"  nur  für 
eine  künstliche  Wortspielerei,  da  er  nur  eine  einzige  Stelle  für 
das  Vorkommen  dieses  Namens  kennt,  nämlich  Talmud  San- 
hedrin  98  b,  wo  neben  zwei  künstlich  konstruierten  Messias- 
namen, wie  Haninä  und  Menahem  Ben-Hisqiä,  auch  zwei 
sehr  alte  Bezeichnungen  Silä^  und  Jinön  erwähnt  werden. 
Bereits  in  einer  sehr  alten  Überlieferung  kommt  der  Messias- 
name Jinön  vor:  ,.Vor  Erschaffung  der  Welt  wurde  bereits  der 
Name  des  Messias  erschaffen,  denn  es  heißt  Ps.  72,  17: 
Sein  Name  ist  ewig,  vor  [Erschaffung]  der  Sonne  war  sein 
Name  Jinön".*  '  Das  hohe  Alter  dieser  Überlieferung  wird 
auch  durch  das  Buch  Henoch,  das  um  100  v.  Chr.  ent- 
standen ist,  bezeugt.  Henoch  48,  3  geht  auf  diese  altjüdische 
Auslegung  zurück:  „Bevor  die  Sonne  und  die  Tierkreis- 
zeichen geschaffen,  bevor  die  Sterne  des  Himmels  gemacht 
wurden,    wurde    sein    [des     Messias]     Name    vor    dem    Herrn 

*  Talm.  Sabbat  156  a. 

*  Rom.  Quartalschr.  23,  38. 

'  Beresit  Sabbä  Abschn.  98  übersetzt  1.  Mos.  49,  10  folgendermaßen: 
„Nicht  weichen  wird  das  Zepter  von  Juda  und  das  Rechtswesen,  bis  der 
§ilä  erscheint,  d.  i.  der  königliche  Messias."  Ebenso  Jalqüt  Sime'öni  und 
Tarrjum  OnJcelos  zu  1.  Mos.  49,  10.  Somit  ist  die  Auslegung,  daß  Silä  der 
Name  für  Messias  sei,  alt  und  wird  wohl  durch  Ez.  21,  32  beeinflußt 
worden  sein:  „Bis  der  [Messias]  erscheint,  dem  das  Recht  gebührt". 
Über  §il:i  vgl.  auch  Jalqüt  zu  Jes.  18  und  Adolf  Posnanski  Schiloh,  die 
Auslegung  von  Genesis  49,  10  im  Altertum,  Leipzig  1904. 

*  Talm.  Pesähim  54  a,  Nedärim  39b,  Jalqüt  Sim.  1.  Mos.  Abschn.  20; 
Beresit  Babbä  Abschn.  1;  Jalqüt  zu  Jer.  c.  17. 

ÄrchiT  f.  Religionswisseuschaft  XIV  4. 


50  !•  Scheftelowitz 

der  Geister  genannt."  Jinön  als  Name  des  Messias  ist 
häufig  belegt.^ 

Hiermit  habe  ich  nachgewiesen,  daß  Dölgers  Annahme 
über  den  messianischen  Namen  Jinön  unwahrscheinlich  ist,  er 
war  vielmehr  ein  allgemein  geläufiger  Ausdruck  für  Messias. 
In  einer  mittelalterlichen  jüdischen  Quelle  wird  Jinön  tat- 
sächlich mit  hebr.  nun  (aram.  nüna)  „Fisch"  in  Zusammen- 
hang gebracht.  So  sagt  der  Zöhär  hädäs  ausdrücklich:  „Gott 
wird  vermittels  der  Fische  Israel  durch  Messias  erlösen,  denn 
es  heißt  Ps.  72,  17:  Vor  Erschaffung  der  Sonne  war  sein 
Name  Jinön".'"^  Diese  jüdische  Auffassung  scheint  im  Mittel- 
alter sehr  verbreitet  gewesen  zu  sein,  denn  im  17.  Jahrhundert 
wurde  allgemein  „Jinön"  von  nun  abgeleitet.^ 

Auch  die  indischen  Fischmythen,  welche  manche  Ähnlich- 
keiten mit  den  jüdischen  Vorstellungen  aufzuweisen  haben, 
scheinen  auf  astrologische  Anschauungen  zurückzugehen  und 
mit  dem  Sternbild  der  „Fische"  in  Beziehung  zu  stehen.* 

Ebenso  wie  vor  dem  Auftreten  des  jüdischen  Messias 
suchen  die  Kranken  gemäß  einer  buddhistischen  Legende  sehn- 
süchtig nach   einem    bestimmten  Fisch,   von  dessen  Genuß  die 

^  Vgl.  Pesiqtä  de-Bab  Kahänä,  ed.  Buber,  Lyck  1868,  Bl.  148a; 
Midras  Tanhüma,  Paresä  Nä'sö  Einleit.;  Midras  Misle  3  u.  19;  Ekä 
Rabbä  1,  Jalqüt  zu  Ps.  72,  17;  gemäß  einem  späten  Midras  hat  der 
Messiaa  acht  Namen:  Jinön  (Ps.  72,  17),  Semah  (Jes.  4,2),  Mäsiah 
(Dan.  9,  25f.),  Pele  (Jes.  9,  5),  Joes  (Jes.  9,5),  El  (Jes.  9,  5),  Gibbör 
(Jes.  9,  6),  Abi-'ad-sar-sälöm  (Jes.  9,  5);  vgl.  Susmann  Eli'ezer 
Jalqüt  Eliezer,  Preßburg  5624,  Bl.  70b. 

*  3"in3i  tT^iiw  i"3>  bj^niüib  i-isiDn  ibNn  irsb  p-iQ!>:b  n""np"n  i^^y 

"  Vgl.  G.  Ludovici  Dissertatio  philologica  de  nomine  Christi  eccle- 
siastico  acrosticho  Ix^vg,  piscis,  Lipsiae  1699;  H.  Dölger  Jiöm. 
Quartalschr.  23,  38. 

**  Der  Fisch  als  Retter  ist  auch  in  der  syrischen  Sage  mit  dem 
Tierkreisbild  in  Zusammenhang  gebracht.  So  soll  der  südliche  Fisch 
im  Tierkreis  die  ins  Meer  gefallene  Isis  oder  Derketo  gerettet  haben 
und  deshalb  verstirnt  worden  sein;  vgl.  F.  Lübkers  Beallexikon  d.  klass. 
Altert.,  Leipzig  1891,  S.  1152. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Christentum  51 

Heilung  abhängt,  den  sie  aber  nirgends  finden  können.  Da 
beschloß  der  fromme  König  Padmaka,  sich  für  seine  kranken 
Untertanen  zu  opfern.  Mit  dem  inbrünstigen  Gebete,  daß  er 
in  der  nächsten  Geburt  als  Rohita-Fisch  wiedergeboren 
werden  möge,  tötete  er  sich  selbst  und  wurde  sofort  auf  dem 
Sande  des  Flusses  als  Rohita-Fisch  wiedergeboren.  Die 
Gottheiten  ließen  die  Kunde  davon  im  ganzen  Reiche  ver- 
breiten, worauf  nun  das  herbeiströmende  Volk  mit  Messern 
das  Fleisch  des  Fisches  abschnitt,  durch  dessen  Genuß  es  so- 
gleich geheilt  wurde.  Trotz  der  Schmerzen  fühlte  sich  der 
Rohita-Fisch  hierdurch  sehr  glücklich,  und  nachdem  er  sich 
ihnen  zu  erkennen  gegeben  hatte,  bekehrte  er  sie  zum  Buddhismus.^ 
In  der  brahmanischen  Sage  von  Manu  erscheint  der  Fisch 
sogar  als  der  Retter  der  gesamten  Menschheit.  Nachdem  der 
Gott  Brahma  die  Gestalt  des  Fisches  angenommen  hatte,  rettete 
er  den  Manu  vor  der  hereinbrechenden  Sintflut,  indem  er  ihn 
veranlaßte,  eine  Arche  zu  bauen,  wohin  er  mit  den  sieben  Rsis 
sich  begeben  sollte,  und  außerdem  allen  Samen  legen  sollte, 
den  er  ihm  angeben  würde.  In  Fischgestalt  leitete  dann 
dieser  Gott  die  Arche  durch  die  Fluten.*  Auch  Visnu  nimmt 
als  Heilbringer  die  Fischgestalt  an.  In  Bhägavatpiiräna  8,  24,  43 
fordern  die  Munis  den  Satyavrata  auf,  an  Visnu  zu  denken: 
„Der  wird  uns  aus  dieser  Gefahr  retten  und  uns  Heil  schaffen  " 
Als  nun  Satvavrata  an  ihn  denkt,  erscheint  Visnu  in  Fisch- 
gestalt, denn  „zum  Heile  für  die  Wesen  nimmst  du  die  Ge- 
stalt der  Fische  an'",  heißt  es  in  diesem  Werke  (8,  24,  27).' 
In  Gestalt  eines  goldenen  Fisches  wird  Visnu  auch  bei  einer 
Feier  dargestellt,  die  ihm  zu  Ehren  am  zwölften  Tage  des 
Monats  Märgasiras,  des  ersten  Monats  des  indischen  Jahres, 
stattfindet,    wobei    er   mit   folgenden  Worten   angeredet   wird: 

'  Avadänasataka,  ed.  Speyer.  S.  168ff.;  Fischel  S.  B.Pr.Ak.  Wiss. 
1905,  S.  511  f. 

*  Satap.  Brähm.   I,  8,    1,    1  —  10;  Mahäbhar.  3,  187;    vgl.  Pischel 
S.  B.  Pr.  AI:  Wiss  1905.  S.  515.  »  Vgl.  Pischel  a.  a.  0.  S.  531 

4* 


52  I-  Scheftelowitz 

„Wie  du,  0  Grott,  in  Gestalt  eines  Fisches  die  in  der  Unterwelt 
befindlichen  Veden  gerettet  hast,  so  rette  auch  mich."^ 

Auch  nach  babylonischer  Auffassung  bringt  eine  Gottheit 
in  Fischgestalt  der  Menschheit  Heil.  Nach  dem  Oannes- 
Mythos,  den  Berosus  wiedergibt,  ist  ein  fischartiges  Wesen, 
namens  Oannes,  welches  ganz  den  Leib  eines  Fisches,  aber 
einen  menschlichen  Kopf  und  menschliche  Füße  hatte,  aus 
dem  Meere  emporgestiegen.  „Dieses  Wesen  verkehrte  am 
Tage  mit  den  Menschen,  ohne  Speise  zu  sich  zu  nehmen, 
überlieferte  den  Menschen  die  Kenntnis  der  Schriftzeichen, 
Wissenschaften  und  Künste  aller  Art,  lehrte  sie  die  Besiedlung 
von  Städten,  die  Errichtung  von  Tempeln,  die  Einführung  von 
Gesetzen  und  die  Landvermessung,  zeigte  ihnen  das  Säen  und 
Einernten  der  Früchte  und  überlieferte  den  Menschen  über- 
haupt alles,  was  zur  Kultivierung  des  Lebens  gehört.  Seit 
jener  Zeit  habe  man  nichts  anderes  darüber  Hinaus- 
gehendes erfunden."^  Aus  der  viel  früheren  Periode,  in 
der  das  Frühlingsäquinoktium  noch  unter  dem  Tierkreisbild 
des  „Stieres"  stattgefunden  hatte,  scheint  dementsprechend  der 
messianische  Stier  der  Perser  zu  stammen. 

Sehr  unzutreffend  ist  daher  Wundts  Erklärung,  die  er  über 
den  Ursprung  des  messianischen  Fischsymbols  gibt:  „In  der 
indischen  Flutsage  ist  es  der  Gott  selbst,  der  in  Fischgestalt 
die  Arche  lenkt;  und  wenn  in  Griechenland  der  Delphin  die 
ähnliche  Rolle  des  Retters  übernimmt,  so  ist  es  wohl  das  mit 
dorn  Seetier  überhaupt  sich  verbindende  Bild  der  sicheren  Be- 
weffunsf  durch  die  den  Menschen  gefährdende  Meerflut,  das 
diese  Vorstellung  erweckt,  ein  Bild,  das  ja  auch  in  dem  christ- 
lichen Fischsyrabol  lange  nachgewirkt  und  hier,  nachdem  seine 
ostasiatische  Heimat  längst  vergessen  war,  die  merkwürdigsten 


>  Pischel  a.  a.  0.  S.  519. 

*  Vgl.  A.  Jeremias  in  Röscher»  Lexikon  d.  gricch.  u.  löm.  Mythol. 
III  Sp.  577  f.  und  in  seinem  Buche  Das  A.  T.  im  Lichte  des  alten  Orients, 
Leipzig  1904,  p   4lf. 


Das  Fisch -Symbol  im  Judentum  und  Chriatentom  53 

Deutungen  gefunden  hat."^  Diese  Erklärung  Wundts  könnte 
wohl  für  den  rettenden,  göttlichen  Delphin  Griechenlands 
möglich  sein,  allein  das  Fischsvmbol  des  christlichen  Hei- 
lands geht,  wie  ich  bereits  oben  glaube  nachgewiesen  zu  haben, 
auf  den  jüdischen  Leviatan  zurück,  der  unter  dem  £influß  des 
Tierkreisbildes  der  „Fische''  in  engen  Zusammenhang  mit  dem 
Messias  gebracht  wurde  und  so  schließlich  mit  ihm  zu  einer 
Person  verschmolz. 


'  W.  Wandt  Völkerpsychologie,  Bd.  II  Mythos  und  Religion,  T.  3, 
S.  176.  Auch  W.  Caland  Arch.  f.  Religionsw.  11,  140  lehnt  den  Ursprung 
des  christlichen  Fischsymbols  von  Indien  ab;  er  nimmt  jedoch  an,  daß 
es  sich  „aus  christlichen  Anschauungen  erklären  läßt'  . 

[Schlol  folgt] 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore, 
suivie  de  recherches  sur  la  marque  dans  rAntiquitö 

Par  Paul  Perdrizet,  Nancy 

Avec  une  planche 

I 
L'histoire  de  Pandare  et  d'Echedore:  texte  et  traduction  56.     Sens, 
dans  eette  histoire,  des  mots  Griyiiara,  ygäyniara  58.     Bibliographie  des 
ouvrages  relatifs  a  la  marque  dans  l'Antiquitd  59. 

II 

La  marque  par  scarification  60.  Par  cauterisation  61.  Dans  le 
droit  criminel  du  Moyen  Age  et  des  temps  modernes  63.  Suppression 
de  la  marque  au  fer  rouge  par  la  Constituante:  le  rapport  de  Lepelletier 
Saint-Farjeau  65.  Fers  ä  marquer,  de  type  heraldique,  medievaux  et 
modernes  67.  Leur  analogie  avec  les  rvitoi  antiques  ä  parasemes  68. 
Les  prisonniers  Samiens,  dans  la  guerre  de  440,  marques  au  paraseme 
de  la  chouette  athenienne  69.  Digression  sur  la  chouette  de  Phidias  a 
l'Acropole  70.  Theocrite  1'  'ElccfpÖGniixog  portait-il  une  marque  servile 
au  fer  rouge  ou  un  tatouage  de  consecration?  72. 

III 

Du  tatouage:  que  son  origine  remonte  aux  temps  les  plus  recules  73. 
Du  tatouage  eu  Grece  dans  la  civilisation  premycenienne  75.  Traces  de 
tatouages  totämiques  dans  la  legende  grecque:  les  KvliiiQävsg  de 
l'CEta  76.  Repulsion  de  la  G-rece  classique  pour  le  tatouage  77.  Itepi- 
gramma  fugüivorum  et  les  coUiers  d'esclaves  fugitifs  80.  Du  tatouage 
comme  flätrissure  des  mauvais  esclaves  84.  Le  pröcepte  du  Ps.  Plio- 
cylide  88. 

IV 

Des  moyens  employes  par  les  anyiiariat  pour  cacher  ou  pour  faire 
disparaitre  la  marque  de  fl^trissure;  le  recours  a  Asclepios  91.  Pandare 
le  Thessalien  et  Echedore  sont-ils  des  personnages  historiques?  93.  La 
Thessalie  et  le  commerce  des  esclaves  94.  Comment  dissimulait-on  les 
marques  au  fer  rouge V  95.  Comment  les  mödecins  grecs  faisaient  dis- 
paraitre les  tatouages  97. 


P.  Perdrizet    La  miraculeuse  histoixe  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.       55 

V 

La  marqne  militaire  au  temps  dn  Bas  Empire,  d'apres  Vegece  98. 
Elle  est  etendue  aux  fdbricenses  99.  Et  aux  hydrophylaces  de  Con- 
stantinople  99. 

VI 

Pourquoi  les  Peres  y  fönt  si  souvent  allusion:  le  signaculum  de  la 
confirmation  et  la  marqne  du  tniles  Christi  101.  De  la  croii  et  du  tau 
comme  marquea  sacrees.  102.  Textes  bibUques  pour  et  contre  la  marque 
sacree  105.  L'haggada  relative  au  roi  Joachim  106.  La  marque  sacree  dana 
YApocalypse  et  dans  les  sectes  orientales  du  christianisme  archaiqne  107. 
Le  stigmate  militaire,  cas  particulier  du  stigmate  religieux  109.  Sur- 
yivance  de  l'usage  des  marques  de  consecration  dans  le  christianisme 
actuel  112.  Tatouages  de  pelerinages  113.  Les  stigmates  de  FranQois 
d'Assise  ont  pour  origine  un  texte  mal  compris  de  VEpitre  aux  Ga- 
lates  114.    Les  marques  de  consecration  dans  les  religions  antiques  117. 

VU 

Dextres  de  bronze,  votives,  des  religions  syriennea  118.  Les  d^dicaces 
que  ces  dextres  portent  au  poignet  sont  imit^s  des  inscriptions  de 
consecration  gravees  sur  le  poignet  du  fidele  122.  Tatouages  religieux 
en  forme  de  palmes,  reproduits  sur  les  dextres  de  Sidon  123.  Tatouages 
en  forme  de  cercles,  reproduits  sur  la  dextre  de  Darmstadt  123. 

VIII 
Les  soldats  du  Bas  Empire  portaient  tatoue  sur  la  main  le  nom 
de  l'Empereur  124.  Les  Actes  de  MaximiUen  125  Pourquoi  ä  la 
main  126.  Pourquoi  les  Carpocratiens  portaient  une  marque  de  con- 
secration sur  la  partie  posterieure  du  lobe  de  l'oreille  droite  127. 
L'usage  de  la  marque  militaire  remonte  au  III«  siecle  128.  C'est  un 
rite  d'origine  syrienne  129.- 

I 

En  etudiant  ici  meme  le  miracle  du  vase  brise*,  depois 
Asclepios  qui  l'a  opere  ä  Epidaure,  jusqu'ä  saint  Antoine  de 
Padoue  qui  l'aurait  reussi  en  Provence,  j'ai  montre  comment 
un  theme  folklorique  se  repete  d'une  religion  a  une  autre,  ä 
travers  les   siecles.     L'enquete   d'un   theme   n'est   jamais    finie. 

'  Archiv  für  Beligionsicissefischaft  VIII 1905,  p.  305 — 9.  Cf  mon  livre: 
La  Vierge  de  Misericorde,  etude  dun  theme  iconographique  (Paris,  1908), 
p.  30  et  les  references  indiquees  en  1909  par  0.  Weinreich  (Antike 
Heilung^tcunder  RGVY  VEI  1,  p.  4,  note  4). 


56  Paul  Perdrizet 

Depuis  la  publication  de  mon  travail,  j'ai  trouve  que  le  miracle 
du  vase  brise  aurait  ete  opere  aussi  par  saint  Jean  l'Evange- 
liste.^  Pour  continuer  ces  recherches  sur  les  fameuses  steles 
d'Epidaure,  je  voudrais  aujourd'hui  entrer  dans  quelques  ex- 
plications  sur  un  autre  Xa^a  non  moins  divertissant^,  et  dont 
le  recit  est,  ä  certains  egards,  vraiment  instructif.  En  voici 
le  texte  et  la  traduction. 

• 

OvTog  I  l^yxad'svdoov  ö^Jtv  stds'  kdöxst  avtov  t\ai\vCai  xata- 
dijöat  tu  etCWly^ccta  6  @ebg  xa]l  TtsXBöQ'ai  viv,  knsl  [xa  l'laj] 
ysvrjtai  tov  aßdtov,  [a(psX6(i£vov  rä]v  xaivlav  av%'i^[Ev  slg 
t]bv  va6v  •  a^sQag  ds  ysvo  [^evag  ki,avs6tcc]  xal  acpriXsto 
Tä\v  xai\vCuv  'Kai  xh  [isv  TtQOöcanov  [^EZSKud'aQxo  xg>\v  6xiy- 
ficir[c3v,  TJav  d[£  x^aivCav  ävsd'rjxs  slg  xbv  vcc  [bv,  'i^ovöav 
tä  yQ\diiiiax\a  t]«  ^x  xov  ^lexänov.  'ExiSoQog  xa  navöcc\\[QOv 
öxCy^axa  EX\aßB  nol  xolg  vnaQxovßiv.  Ovxog  Xaßcov  nccQ  [JTav|- 
ddgov  iQYinaxa]  Si6x  äv&sßsv  x&i  @£g>l  slg  ^EnidavQOV  vtcsq 
ttv\rov  I  ovx\  u7CE8i8ov  xccvxa  '  kyxad^svdcov  ds  bipLv  stds. 
Edöxsi  ol  6  @s\bg\  \  exiöxäg  ijtSQoxfjv  viv,  sl  s%ol  rivct:  xqt^i- 
fiaxa  TCaQ  HavddQOv  E .  .  \  ®HNAN  avd^s^a  slg  xb  lagöv, 
avxbg  d'  ov  (pd^sv  XsXccßijxsiv  ovd'sv  j|  xoiovxov  Jtdp  avxov  '  ccXX^ 
al'  xa  vyiij  viv  JtOL7]6'rjL,  dvd'r,6slv  ol  slx6\va  ygatl^dfisvog  ' 
fiExä  ds  xovxo  xbv  ^sbv  xäv  xov  UavdttQOv  xaivC  av  Ttsgiörj- 
6ai  tisqI  xa  öxCy^axd  ov  xal  xsXsöd^aC  viv,  hnsl  xa  ii,  sX&rjt 
ix  xov  ccßdxov,  dcpsXö^svov  xäv  xaivlav  aTCovCrlfaöQ^ai  \  xb  Ttgöö- 

'  Honorius  d'Autun,  Specuhim  Ecclesiae,  dans  Migne,  P.  L.,  CLXXII, 
835:  vas  vitreum,  quod  in  multas  particulas  dessiluit,  pristinae  sanitati 
restituit.  Suivant  d'autres,  saint  Jean  aurait  rapproch^  les  morceaux 
de  pierres  precieuses:  cf.  Ps.  Isidore,  De  ortu  et  obitu  Patrum,  72 
(P.  i.,  LXXXIII,  151)  et  Legenda  aurea,  eh.  IX.  Je  ne  puis  renvoyer 
aux  Acta  SS,  puisque  le  natale  de  Jean  l'Evangeliste  est  comm^mor^ 
le  27  dt^cembre,  et  que  la  collection  des  Bollandistes  n'a  pas  d^passö  le 
d^bat  de  novembre. 

*  Wilamowitz  {Hermes,  XIX,  452)  le  qualifie  de  „besonders  be- 
lustigend". 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  57 

OTCOV  ttjcb  tag  xgcivas  xal  iyxuTontQC^aö&ca  slg  tb  vöag' 
a\\iUQag  di  ysvo^evag  ite^.d^cov  sx  rov  dßdxov  xäv  xaivCav 
ufpriXsto,  '  xä  ygd^^axu  ovx  i^ovöav  '  eyxad'idav  öe  elg  xb 
v8c3Q  iaQTj  xb  avxov  ngöGanov  aol  rolg  IdCoig  öxLyfiaöiv  xai 
TU  xov  navSuQov  ygdiißaxa  Xskaßr^xog} 

Pandare  le  Thessalien,  qui  avait  des  stigmates  au  front 
Cet  komme,  endormi  [datis  Vabaton],  eiä  une  lision:  il  lui 
semhla  que  le  Dieu  lui  nouait  une  bände  sur  ses  stigtnaies  et 
lui  prescrivait  de  l'erdever  quand  il  sortirait  de  Vabaton,  et  de  la 
consacrer  dans  le  temple.  Uauhe  venue,  Pandare  se  leva  et  ota 
la  hande;  et  voici,  les  stigmates  avaient  disparu.  Et  il  consacra 
dans  le  temple  la  hande  ou  se  trouvaient  les  teures  que  jusque 
Ja,  il  avait  eiies  au  front. 

Eche'dore,  qui  attrapa  les  stigmates  de  Pandare,  en 
plus  des  siens. 

11  avait  regu  de  Pandare  l'argerU  que  cdui-ci  voulait  donner 
au  dieu  d'Epidaure  qui  V avait  gueri.  Echedore  garda  cet  ar- 
gent.  Endormi,  il  eut  une  vision:  il  lui  semhla  que  le  Dieu 
debout  devant  lui,  lui  demandait  s'il  avait  Vargent  que  Patidare 
envoyait  comme  offrande  au  sanctuaire;  lui  niait  avoir  rien  regu 
mais  prometiait  que  si  le  Dieu  le  debarrassait  [de  ses  stigmates], 
il  lui  consacrerait  l'ima^e  peinte  [de  sa  guerisonj*;  apres  quoi 
le  Dieu  lui  avait  noue  sur  ses  stigmates  la  bände  de  Pandare, 
et  lui  avait  prescrit  de  Venlever  ä  sa  so)iie  de  Vabaton,  puis  de 
se  laver  le  visage  ü  la  source  et  de  se  regarder  dans  le  miroir 
de  Veau.  Uaube  venue,  Echedore  sortit  du  dortoir  et  enleva  la 
hande.  Les  lettres  n'y  etaient  plus,  mais  en  se  regardant  dans 
Veau,  il  vit  que  sur  son  front,  en  plus  des  stigmates  qui  sy 
trouvaient  dejä,  etaient  gravees  les  lettres  de  Pandare. 


'  IG  lY,  n"  951,  1.  48—68  (Dittenberger ,  Sylloge*,  t.  U,  p.  652). 

-  äv^r^6Btv  oi  eixöva  ygaipdiitvog.  La  traduction  de  Reinach  et  de 
Lechat,  „il  lui  offrirait  ane  Image  arec  inscription",  me  semble  in- 
exacte. 


58  Paul  Perdrizet 

Ainsi,  par  la  volonte  d'Asclepios  les  driyfiata  ou  yQafi- 
liata  de  Pandare  s'attachent  au  bandage  noue  par  le  divin 
medecin,  d'oü  ils  passent  au  front  d'Echedore.  La  croyance 
ä  des  transmissions  de  ce  genre  est  extremement  frequente  dans 
le  fülk-lore  universel.  Une  foule  de  remedes  populaires  suppo- 
sent  l'idee  que  la  maladie  est  une  sorte  de  parasite  invisible, 
adherant  ä  la  peau,  d'oü  l'on  peut  le  faire  passer  aux  objets 
qu'on  mettra  en  contact  avec  le  malade.  Marcellus  de  Bor- 
deaux prescrit,  pour  enlever  les  verrues,  de  les  toucher 
avec  de  petits  cailloux,  d'envelopper  ceux-ci  dans  des 
feuilles  de  lierre  qu'on  jettera  sur  un  chemin;  qui  touchera 
les  cailloux  attrapera  les  verrues,  et  celui  qui  les  avait  en 
sera  debarrasse.^ 

Mais  dans  le  cas  de  Pandare  et  d'Echedore,  il  ne  s'agit 
pas  de  verrues,  quoiqu'en  ait  dit  Larfeld^;  il  ne  s'agit  pas  non 
plus  de  marques  congenitales,  quoiqu'en  aient  cru  S.  Reinach  ^ 
et  Lechat,  qui  traduisent  örCy^ara  et  yquiiiiaxa  par  „taches". 
II  s'agit  de  marques  de  fletrissure.  Aucun  des  epigraphistes 
qui  ont  edite  les  steles  des  'Idiiara  ne  l'a  fait  observer  dans 
son  commentaire.  C'est  apparemment  que  l'interpretation  vraie 
leur  semblait  evidente.  En  redigeant  ce  travail,  je  me  suis 
aper9u  qu'elle  avait  ete  indiquee  avant  moi,  independamment 
Tun  de  l'autre,  par  Frazer*  et  par  Dittenberger^  —  celui- ci 
dans  un  article  posterieur  ä  la  reedition  de  la  Sylloge;  je 
m'aper9ois  aujourd'hui  qu'elle  vient  d'etre  indiquee  de  nouveau 


*  De  medicamentis  XXXIV,  102,  p.  357  Helmreich,  citä  par  Frazer, 
Golden  Bough^,  t.  Ilf,  p.  21  =  t.  II,  p.  257  de  la  traduction  Stiöbel. 
Frazer  indique  beaucoup  d'autres  preuves  de  la  meme  croyance.  Cf.  en- 
core  Weinreich,  op.  l.,  p.  90,  n.  3. 

*  Jahresbericht  de  Bursian,  t.  LH  (1887),  3,  p.  458. 

*  liev.  archiol.,  1884,  t.  II,  p.  79,  traduction  des  'icliiccrcc  reproduite 
par  Cavvadias,  Fouilles  d'Epidaure,  t.  1,  p.  26,  et  avec  quelques  modi- 
fications,  par  Lechat,  Epidaure,  p.  144. 

*  Golden  Bough^,  loc.  cit.\  Pausanias,  t.  III,  p.  249. 
■*  Hermes,  1902,  p.  301. 


La  miraculeuse  hietoire  de  Pandare  et  d'EchÄiore  etc.  59 

par  Weinreich"',  independamment  de  Frazer  et  de  Dittenberger. 
Peut-etre  l'a-t-elle  ete  par  d'autres  encore.  En  tout  cas,  je  ne 
Sache  pas  que  persoime  Tait  prise  pour  point  de  depart  d'un 
travail  sur  la  marque  dans  l'antiquite.  Sujet  doublement 
interessant,  qui  conceme  aussi  bien  la  science  des  religions 
que  rhistoire  de  lancien  droit.  On  n'arait  comme  travaux 
particuliers,  sur  ce  point  tres  special,  que  de  vieilles  disser- 
tations  tbeologico-philologiques,  destinees  principalement  ä  elu- 
cider  certains  textea  bibliques.  J'ai  pense  qu'il  y  aarait  quel- 
que  profit  ä  rajeunir  ces  recherches  plutot  desuetes. 

Pour  l'expose  qui;  va  suivre,  je  me  suis  aide  surtout  de 
trayaux  publies  en  1903  par  Crusius  et  Wolters  dans  le  Philo- 
logus,  p.  125  et  V Hermes f  p.  265;  du  commentaire  de  Bernays 
sur  les  Oc3yivXC8sa  {Gesammelte  Abhandlungen,  t.  I,  p.  246),  et 
du  bei  article  TATOUAGE,  des  docteurs  Lacassagne  et  Magi- 
tot,  dans  le  Dictionnaire  encydopedique  des  sciences  medicales. 
Je  tiens  ä  mentionner  aussi  quelques  ouvrages  des  grands  erudits 
du  temps  jadis:  les  Observationes  de  Cujas,  1.  VU,  eh.  13;  les 
Eleda  de  Juste  Lipse,  1.  11,  eh.  15;  les  commentaires  de  Grotius 
sur  le  16"  verset  du  XllP  chapitre  de  YÄpocahjpse  (vol.  11, 
t.  2,  p.  1205  des  Opera  theologica,  ed.  d'Amsterdam,  1679);  le 
De  servis  de  Pignorius,  dans  le  recueil  de  Graevius  &  Grono- 
vius,  Supplement,  tome  lU;  le  De  legibus  Hebraeorum  ritualibus 
de  John  Spencer,  1.  11,  eh.  14  (2®  ed.,  La  Haye,  1686);  les 
notes  de  Burmann  sur  le  103*  chapitre  de  Petrone,  edition  d'Ut- 
recht,  1719;  mais  surtout  le  commentaire  de  notre  grand  ro- 
maniste Jacques  Godefroy  sur  2  Cod.  Theod.  7X,  40.  La  disser- 
tation  de  Groebel,  UTirMATIZMOZ,  parue  en  1721  dans 
le  t.  X  des  Miscdlanea  Lipsiensia,  pp.  71' — 98,  est  pleine 
d'erreurs.  Par  contre,  celle  d'Ebbesen,  De  usu  stigmatum  apud 
veteres  ad  Galat.  VI,  17,  Leipzig,  1733,  constitue  un  excellent 
repertoire  de  textes.  Ebbesen  cite  sur  le  meme  sujet  deux 
autres  dissertations,  par  Cornelius  Hasaeus  et  par  Erhard  Spitz, 

^  Op.  l,  p.  90,  n.  2. 


60  Paul  Perdrizet 

que  je  n'ai  pu  voir.  Les  articles  excessivement  sommaires  de 
la  jRealencyclopädie  de  Pauly,  s.  v.  STIGMA,  et  du  Dictionnaire 
des  antiquites,  s.  v.  NOTA,  ne  m'ont  rien  appris.^ 

II 

II  y  a  trois  fa^ons  de  marquer  (xaQK66SLv,  ixxaQäööSiv^) 
d'une  fa^on  durable:  par  cauterisation,  par  tatouage  et  par 
scarification.  Les  Grecs  et  les  Romains  semblent  avoir  prati- 
que  seulement  les  deux  premieres. 

La  scarification,  c'est-ä-dire  le  fait  de  pratiquer  des  cica- 
trices  intentionnelles  ä  l'aide  d'instruments  tranchants^,  est  attes- 
tee,  ä  une  tres  haute  antiquite,  chez  les  Beni-Israel*  et  chez  leurs 
voisins  de  Syrie,  de  Phenicie  et  de  Moab  ^,  et  un  millier  d'annees 

^  Le  Grand  dictionnaire  universel  du  XIX^  siede,  de  Pierre  Larousse, 
dans  im  article  d'ailleurs  interessant  sur  le  tatouage,  t.  XIV,  p.  1506,  et 
ä  la  suite  de  Larousse,  les  docteurs  Lacassagne  et  Magitot,  art.  ?.,  p.  159, 
renvoient  ä  une  dissertation  de  Dresig,  De  usu  stigmatum  apud  veteres^ 
laquelle  nexiste  pas.  Dresig  presida  la  these  d'Ebbesen,  son  nom  figure 
sur  le  titre  de  la  dissertation  de  celui-ci,  en  lettres  beaucoup  plus  gran- 
des,  Selon  l'usage,  que  le  nom  meme  du  proposant.  D'oii  l'erreur.  Elle 
se  trouve  aussi  dans  la  table  manuscrite  du  recueil  factice  de  la  Biblio- 
theque  royale  de  Munich,  qui  contient  la  the»e  d'Ebbesen  (Sigism:  Fried: 
Dresigii  Dissertatio  de  usu  stigmatum  apud  Veteres  ad  Gal:  VI  v:  17). 
Ce  volume  porte  l'ex-libris  d'Etienne  Quatremere.  .Pen  ai  eu  communi- 
cation  gräce  ä  l'aimable  entremise  de  M.  Max  Maas, 

*  D'oü  idcQayiLcc.  Cf.  Apoc.  Joan.,  XIII,  17:  ö  ^;u<»v  to  ^jagay/ia  zo 
ovofia  Tov  %r]Qiov.  Anacreont.,  55:  iv  lex'^oi'S  ft^v  iitTioi  JtvQog  x^Qayy^ 
^Xovaiv.     Schol.  ad  Arist.  Nubes,  23.     Etc. 

"'  Jöst,  Körperbemalung,  Narhenzeichenund  Tätowieren  {Beilin,  18S1), 
p.  10;  Dechelette,  Manuel  d'archeol.  prehistorique,  celtique  et  gallo-romaine 
(Paris,  1908),  t.  I,  p.  203. 

*  Zacharie,  XIII,  6:  xul  igst  ngog  uvtov  ti  ai  TtXrjyal  txvtai  ccvä 
tisaov  T&v  XBiQÖav  oov;  xai  iget'  ag  inXr'jyriv  iv  tm  oix(p  rät  &yuTir\rä  iiov. 
Cette  partie  de  Zacharie  est  datee  par  Rcuss  {La  Bible:  Les  Frophetes,  t. 
1,  p  347)  de  la  premiere  moitie  du  VII«  siecle. 

'•'  Esaüe,  eh.  XV  (date  par  Iteuss  de  800  euvirou:  les  Frophetes,  t. 
I,  p.  81),  verset  2:  Ttdvtsg  ßgccxioveg  xccraTST^Tjfiivot.  Jt5r<5mie  (fin  du 
Vlle  siäcle),  XXXI,  37  de  la  version  des  Septante:  näaat  x^igsg  x6'\povrat. 
Levitique,  XIX,  28;  XXI,  5;  Deuteronome,  XIV,  1;  III  Mois,  18,  28. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  61 

plus  tard,  dans  la  secte  chretienne  des  Carpocratiens  *,  qui  se 
faisaient  a  l'oreille  des  marques  au  rasoir;  eile  est  attestee  encore 
pour  les  Cariens-,  les  sectateurs  de  Mä-Bellone'  et  les  pretres 
d'Isis/  Tous  les  t^moignages  en  parlent  soit  comme  dun  rite 
religieux,  soit  comme  d'un  rite  funeraire. 

La  cauterisation  etait  designee  en  grec  par  les  verbes 
syxaCELv,  xavöttjQidtsLV^  le  tatouage  par  le  verbe  erC^siv,  d'oü 
erCy^ara,  örCycov^,  6xiyyLaxlaq,  ötiyfvg,  6TCy.trjs.'  Mais  ötCLeiv^ 
comme  ses  derives,  s'entendait  aussi  au  sens  large,  quel  que  füt 
le  procede  employe:  ainsi  Herodote  (VII,  35)  appelle  ffxiyeag 
les  gens  qui  marquerent  au  fer  rouge,  sur  Fordre  de  Xerxes, 
les  eaux  de  l'Hellespont.  En  latin.  la  marque  s'appelait  nota, 
ou  au  pluriel  notaCy  mais  plus  souvent  Stigmata^  et  dans  la 
langue  populaire  Stigma,  genitif  stigmae.^ 

Le  fer  ä  marquer  s'appelait  xavri^'p^,  jjapaxrijp.*®  Signare 
oportet  frönteni  calida  forcipe,  dit  un  vers  d'Atellane^*  conserve 
par  Priscien:  ce  qui  signifie,  non  pas  que  le  xautTjp  füt  une 
pince,  forceps,  mais  qu'il  etait  mis  au  feu  et  manie  a  l'aide 
d'une  pince;  le  feu  echauffait  non   seulement  le  xavr^g,  mais 

'  Epiphane,  Panarion,  XXVII  (Migne,  P.  G ,  XLI,  372). 

*  Herodote.  II,  61. 

'  Lucain,  I.  565;  Lampride,  C<mimode^  9. 

*  Finnicus  Matemus,  De  errore  profan,  relig.,  II,  3;  cf.  Dennisoo, 
dans  Y Amer.  Journal  of  archaeol.,  1905,  p.  33  sq. 

■'  I  Tivioth.  IV,  2:  iv  vezigoig  xaiQot^  &no6Ti'i60VTui  rivsg  t^s  «i'e- 
TS(og,  :Too6exovrsg  .  .  .  didaexaliaig  datiLOPtatp  .  .  .  xsxavexrjQiaßiiivaw  rijw 
idiav  6vvsidr,6i,v.     Strahon,  V,  1,  §  9. 

®  Arist^phane.  fr.  97  Kock;  Pollux,  Onom.,  III,  79  Bekker. 

^  Le  substantif  ezi'/ficcTiß^g  est,  sauf  erreur,  une  creation  de  Gröbel. 

*  Petrone,  p.  69:  non  omnia  artificia  servi  nequam  narras.  Agaga 
est.  At  curabo.  stigmam  habeat.  Pour  les  metaplasmes  de  ce  genre  dans 
le  latin  populaire,  cf.  Guericke,  De  Unguae  vulgaris  reliquüs  apud  Pe- 
tronium  (dias.  Königsberg,  1875),  p.  40. 

*"  Lucien,  Piscator,  eh.  46;  Epiphane,  l.  cit. 

***  Isidore  de  Seville,  Orig.,  XX.  16:  charader  est  ferrttm  caloratum, 
quo  notae  pecudibus  inuruntur. 

"  Ribbeck,  Com.  rom.  fr.-,  p.  261.  Ce  vers  provient  de  la  lAgnaria 
de  Novius,  sur  lequel  cf  Schanz,  Böm.  Litt.,  t.  I'.  p.  153. 


62  Paul  Perdrizet 

aussi  la  pince,  d'oii  l'epithete  calida,  qui  convient  bien  pour 
les  tenailles  du  forgeron,  et  qui  rappelle  le  sens  etymologique 
de  forceps} 

Le  type  de  la  marque  se  disait  tvTtog^,  6i]^avtQov^,  6(pQcc- 
yCg.  II  variait  Selon  les  proprietaires*,  et  ne  differait  pas  sensi- 
blement  de  ceux  qu'on  employait  pour  marquer  les  betes :  c'etait 
soit  un  Symbole  pictograpbique,  soit  une  lettre  ou  un  groupe 
de  quelques  lettres.  On  se  rappelle  les  chevaux  marques  du  san 
ou  du  coppa,  öa^cpÖQccg,  xoTtnarCag,  dont  il  est  question  dans 
Aristophane.^  De  meme,  c'etaient  des  lettres  que  Darius  avait 
fait  marquer  au  fer  rouge  sur  les  quatre  mille  prisonniers  grecs 
qu'  Alexandre  delivra  pres  de  Persepolis;  Quinte  Curce  (V, 
5,  §  6)  observe  que  c'etaient  des  lettres  barbares,  inustis  Bar- 
harorum  litterarum  notis,  c'est  ä  dire  des  cuneiformes.  Cune- 
iformes    aussi,    selon  toute    apparence,    les    6t Cynara  ßaöiXrjia 

*  Ce  mot,  qui  n'a  rien  ä  voir  avec  forfex  «cisaille»,  derive  de 
formus,  gr.  ■9'6pftos,  all.  ivarm,  et  de  capto.  Cf.  Festus,  p.  65  Thewrewk 
de  Ponor :  formucapes  fovcipes  dictae,  quod  forma  capiant,  id  est  ferventia 
(Walde,  Lat.  etym.  Wörterbuch,  p.  235;  Ernout,  Les  elements  dialectaux 
du  vocabulaire  latin,  p.  170). 

^  Lucien,  Piscator,  eh.  4:6  :  6  Sh  xvnog  xov  xccvTJJgos  iotoa  dlconrjjl  ^ 
TriO'Tjxog.  "  [Xenophon],  De  vectigalibus,  eh.  IV,  §  21. 

*  Martial,  XII,  61 :  Frans  haec  stigmate  non  meo  notanda  est.  — 
Ambroise,  De  obitu  Valentiniani  jun.  (Migne,  P.  L ,  XVI,  1377):  charac- 
tere  domini  inscribuntur  servuli.  —  Dion  Cassius  (XLVII,  10,  t.  II,  p.  300 
Melber)  raconte  l'histoire  d'un  GTtyfiariag  qui,  pendant  les  proscriptions, 
se  fit  tuer  pour  le  maitre  qui  l'avait  fait  marquer:  ccTrexrovag  iTtiarevO-r} 
iy.  TS  T&v  GKvXav  Kai  in  x&v  ertyiidrcov. 

^  Nuees,  23,  122,  437.  Komtaq>6Qog  dans  Schol.  ad  Lucian.  adv. 
indoct,,  5.  Plutarque  raconte  que  du  temps  oü  son  pere  etait  etudiant  ä 
Athenes,  un  voleur  qui  avait  cambriole  l'Ascl^pi^ion,  fut  poursuivi  jus- 
qu'  ä  Crommyon  et  arrete  par  le  chion  du  sanctuaire  {De  sollertia  anim., 
13,  t.  VI,  p.  40  Bernardakis;  cf.  Elien,  De  anim.^  VII,  18).  Ce  chien  de 
police  s'appelait  KännaQOs.  Le  nom  vient,  je  crois,  non  pas  de  xara- 
TtsiQSiv,  comme  Tassurent  Pape  et  Benseier,  mais  d'un  Kappa  =  K{v(ov)  = 
IsQog  Kvwv,  dont  etait  marqude  la  brave  bete.  Peut-etre  d'ailleurs  convien- 
drait-il  de  corriger  ce  KämtaQog  en  Kcc7TJta{q)6)QOs:  la  mauvaiae  le^on 
KaxTcdcQog  proviendrait,  soit  d'une  abreviation  par  contraction,  soit  d'une 
haplographie. 


La  miraculeuße  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  63 

dont  Xerxes  fit  marquer  les  Thebains  transfuges,  apres  l'affaire 
des  Thermopyles.^  Le  cheval  d'Alexandre  s'appelait  Bovx£q)äXag 
ou  BovxdcpaXog,  parce  qu'il  portait  sur  la  robe  une  marque  en 
forme  de  tete  de  boeuf  ou  de  boucräne.^ 

Je  ne  sache  pas  qu'  aucon  archeologue  ait  eucore  reuni 
les  tvTCOL  parvenus  jusqu'ä  noos,  qui  ont  servi  pendant 
l'Antiquite  ä  marquer  les  esclaves  ou  le  betail.^  Mais 
nous  pouvons  tres  bien  nous  en  faire  idee,  d'apres  les 
instruments  employes  au  meme  effet  pendant  le  Moyen  Age 
et  plus  tard  encore.  Ils  abondent  dans  les  musees  historiques. 
Car  c'est  surtout  depuis  l'Antiquite  que  le  chätiment  de  la 
marque  au  fer  a  ete  prodigue.  D'une  fa^on  generale,  le  droit 
penal  du  Moyen  Age  et  des  temps  modernes,  jusqu'au  triomphe 
de  la  Philosophie  du  XVII I^  siecle,  a  ete  infiniment  plus  barbare 
et  plus  fe'roce  que  le  droit  penal  antique.  II  serait  facile  d'en 
faire  la  preuve  en  etudiant,  pendant  et  depuis  l'Antiquite,  soit 
la  torture,  soit  les  divers  supplices  Pour  nous  borner  ä  la 
marque  par  le  fer  rouge.  qu'on  recherche  la  place  qu'elle  tient, 
par  exemple,  dans  le  code  militaire  promulgue  par  Frederic 
Barberousse  en  1158:  Vecnyer  (armiger)  coupable  dans  le  camp 


'  Herodote,  TU,  223,  d'oü  Schol  ad  JEsch    de  falsa  leg.  79,  dans 

les  Oratores  attici  de  Didot,  t.  II,  p.  504.  Plntarque,  apologiste  de  sa 
province,  proteste  contre  ce  recit,  par  esprit  de  clocher  (De  malignitate 
Herodoti,  33),  sans  raisons  bien  valables. 

*  Arrien,  Änabase,  V,  19.  Hesychios,  Et.  M.,  Et.  Gud.,  s.v.  Bov- 
xicpalog.  Schol.  ad  Arist.  Xubes,  23.  Cf.  Aristophane,  fr.  41  et  42 
Kock.  Les  Anciens  n'ont  pas  tous  bien  compris  ce  nom:  oi  dh  iiyovaiv 
OTi  Xsvxbv  efi^a  eI^bv  i^ti  t^s  xscpaXrig,  ^'ias  mv  avros,  fls  ßoog  xsqpocÄrjv 
näXusta  Blxaßfidvov  (Arrien,  loc.  dt.).  Strabon  (XV,  p.  1023:  ixalstro  dh 
BovxB(fd).ag  uxo  tov  ^Idrovs  rov  (lerärtov)  et  Aula-Gelle  {\uits,  V,  2 : 
equus  Alexandri  regis  et  capite  et  nomine  Bucephalus  fuit)  en  donnent 
nue  explication  inepte. 

'  J'ai  note  deux  fers  k  marquer  an  musee  de  Mayence,  Tun  avec 
Tinscription  LEG.  XXII  AXT.  (cf.  Keller,  Söm.  Inschriften  des  Museums 
der  Stadt  Mainz  [appendice  au  catalogue  de  Becker,  1883],  p.  25),  Tautre 
avec  l'inscription  FL.  XERI  SABIX  (cf.  Körber.  Inschriften  des  Mainzer 
Mtiseums  [appendice  au  catalogue  de  Becker,  1900].  p.  107). 


64  Paul  Perdrizet' 

de  rixe  ä  main  armee,  exiista  candenti  fronte  metallo /  Detonsaqiie 
coma,  post  vulnera  pulsus  dbihit^\  — -  le  soldat  incendiaire  ton- 
debitur  et  in  maxülis  comhuretur  et  verherahitur- •,  —  le  serf 
coupable  de  vol  pour  la  premiere  fois,  ahraso  signattis  vertice 
frontemj  Verhera  dura  feret^\  etc.^ 

La  marque  au  fer  rouge  n'a  disparu  qu'assez  recemment 
des  Codes  penaux  de  la  chretiente.  En  Siberie,  les  for^ats 
furent  marques  (au  visage)  jusqu'en  1864.  En  France,  l'abo- 
lition  de  la  marque  date  de  la  loi  du  28  avril  1832,  qui  a  fait 
une  revision  complete  du  code  penal.  Mais  il  faut  dire,  ä  la 
gloire   de   la  Revolution    franQaise^,    que    la   marque  avait    ete 

'  Günther  de  Pairis,  Ligurinus  sive  de  rebus  gestis  imp.  Caes. 
Friedend  Aug.  cognomento  Aenobarbi,  VII,  256 — 7  (dans  Migne,  P.  L. 
CCXri,  331  sq.). 

*  Ottonis  et  Bageivini  Gesta  Friderict  imp.  1.  III,  p.  431  du  t.  XX 
des  Scriptores,  dans  les  Monumenta  Germaniae;  dans  la  meme  coUection 
Leges,  t.  IL  p.  107;  Ligurinus,  Vll,  299  —  300.  Cf.  Eisner,  Das  Heer- 
gesetz Kaiser  Friedrichs  I  (Breslau,  Progr.,  1882,  et  A.  Schultz,  7>o.s' 
höfische  Leben  zur  Zeit  der  Minnesinger.,  t   II,  p.  256). 

'  Ligurinus,  VII,  287  —  8. 

*  Ce  n'est  pas  le  Heu  de  traiter  en  detail  de  la  marque  au  Moyen 
Age.  Je  me  borne  a  renvoyer  au  livre  classique  de  Wilde,  Das  Straf- 
recht der  Germanen  (Halle,  1842),  qui  en  parle  ainsi,  ä  la  p.  515  (je 
supprime  les  reförences):  „Das  Brandmarken,  dessen  von  unsern  Volka- 
rechten  nur  einmal  das  longobardische  erwähnt,  während  es  in  spätem 
ßecbtsquellen  häufig  vorkommt,  findet  sich  dagegen  sowohl  bei  den 
Angelsachsen  als  allen  skandinavischen  Völkern.  Es  war  nicht  bloß 
Strafe  wegen  des  Schmerzes  und  Schimpfes,  sondern  diente  auch  dazu, 
den  einmal  Verurteilten  und  noch  anderweitig  Bestraften  wieder  zu  er- 
kennen; es  traf  ihn  dann  besonders  beim  wiederholten  Diebstahl  eine 
höhere  Strafe.  Zufolge  des  Gulathingsgesetzes  geschah  dasselbe  durch 
ein  Einbrennen  eines  Schlüssels  in  die  Wange  oder  die  Stirn,  wie  es 
auch  noch  in  spätem  Jahrhunderten  in  Deutschland  üblich  war." 

*  Et  ä  la  honte  de  Napoleon,  qui  a  r^tabli  la  marque  abolie  par 
la  Constituante  (Code  penal  des  5  sept  6  oct.  an  I)  et  par  la  Convention 
(Code  des  Delits  et  des  Peines  du  3  brumaire  an  IV,  preparä  par  Merlin 
de  Douai).  Non  moins  que  son  code  civil  ,  le  code  penal  de  Napoleon 
est  un  rccul  par  rapport  a  l'oenvre  de  la  Revolution  (voir  pour  le  code 
civil,  ra])pr^ciation  de  Sagnac,  La  legislation  civile  de  la  Bcroluti(vn 
frangaise,  p.  388  et  suivantes).     La  marque  fut  r«5tablie,  ]>our  la  re'cidive 


La  miraculeuse  histoixe  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  65 

supprimee  par  decret  de  l'Assemblee  Constituante,  date  du  29  sep- 
tembre  de  l'an  I  de  la  liberte  (1791  de  l'ere  vulgaire),  sur  un 
rapport  de  Lepelletier  Saint  Farjeau.'  Le  lecteur  Toudra,  je- 
pense,  connaitre  ce  rapport  si  prudent,  si  sense,  et  je  crois  bien 
pouvoir  dire  si  original:  car  la  question  de  la  marque  avait 
ete  laissee  de  cöte,  comme  secondaire,  par  les  grands  publicistes 
qui,  dans  la  deuiieme  moitie  du  XVIII*  siecle,  convainquirent 
l'opinion  qu'il  etait  urgent  de  proceder  ä  une  refonte  totale 
du  Code  criminel.  J'ai  lä,  sur  ma  table,  un  petit  volume 
venerable,  oü  sont  reliees  ensemble  les  trois  brochures  qui  ont, 
corame  un  triple  eclair,  illumine  les  tenebres  de  la  barbarie:  le 
Trnite  des  Dtlits  et  des  Peines  [par  Beccaria],  traduit  de  ViMien 
[par  Morellet],  ä  Philadelphie,  M.  DCC.LXVI;  —  le  Conunentaire 
sur  le  Livre  des  DelUs  et  des  Peines,  par  un  avocat  de  province 
[Voltaire],  s.  ].,  M. DCC.LXVI;  —  et  le  Discours  sur  Vadmini' 
stration  de  la  Justice  criminelle,  prononce  par  M.  S  ***,  avocat- 
general  [Servan],  ä  Yverdon,  M.  DCC.  LXVll:  aucune  ne  parle 
de  la  marque. 

Quant  ä  la  peine  de  la  marque,  eile  presente  une  tres-grande 
question.  On  peut  appuyer  sur  de  tres-saines  et  de  tres-fortes  raisons 
Topinion  qu'un  signe  sensible  doit  faire  reconnaitre  Thomme  que  la  justice 
a  dejä  puni  pour  un  crime,  afin  que  s'il  se  rend  coupable  une  seconde 
fois,  sa  punition  soit  augmentee  en  raison  de  la  perversite  de  ses  penchans. 

Parmi  ceux  qui  ont  röflechi  sur  cette  question  et  qui  Tont  discutee, 
il  s'est  meme  trouve  de  bons  esprits,  qui  ont  porte  ce  principe  josque 
lä,  qu'ils  pensaient  utile  qu'une  marque  exterieure  et  apparente  rendit 

et  pour  certains  crimes,  par  la  loi  du  23  florc'al  an  X  =  13  mai  1802 
(le  texte  et  les  travaux  pre'paratoires  de  cette  loi,  avec  les  motifs  du 
retablissement,  dans  Locre,  La  legislation  civile,  commereiale  et  criminelle 
de  la  France,  t.  XXIX,  Paris,  1831,  pp.  40-71).  La  loi  du  12  mai  1806 
appliqua,  de  plus,  la  marque  aux  menaces  d'incendie  de  lieux  habites. 
Le  Code  pe'nal  du  22  ferrier  1810  conserra  la  marque  en  lui  donnant 
une  assez  large  application.  Je  dois  ces  renseignements  ä  mon  tres  dis- 
tingue  collegue,  M.  Geny,  professeur  de  droit  civil  ä  rUniversite  de  Nancy. 
^  Public  in  extenso  dans  La  Gazette  nationnle  ou  le  Boniteur  uni- 
r^el  du  mardi  31  mai  1791,  p.  626.  Cf.  Henri  Remy,  Les  principe« 
generaiix  du  code  penal  de  1791  (These  de  doctorat  de  droit,  Paria  1910). 

Archiv  i.  Keiigionswisienschaft  XIV  r. 


66  Paul  Perdrizet 

partout  reconnaissable  le  condamne,  afin  que  la  societe  pilt  se  tenir 
continuellement  en  garde  contre  celui  qui  dejä  l'avait  offensee  par  un 
crime.  Les  consequences  de  cette  opinion  extreme  pourraient  etre 
dangereuses,  meme  pour  le  repos  de  la  societe.  En  horreur  ä  tous  les 
hommes,  exclus  de  tout  commerce  humain,  de  toute  profession,  de  toute 
industrie,  portant  dans  tous  les  lieux  habitös  la  honte,  la  defiance  et 
TefiProi,  l'etre  ainsi  degrade  aurait  fui  dans  les  forets  pour  y  former  une 
peuplade  faronche,  devouee  au  meurtre  et  au  brigandage.  Les  lois  en 
usage  avaient  övite  cet  inconv^nient ,  en  adoptant  un  parti  mitoyen, 
qui,  sans  fl^trir  le  front  de  Thomme  par  l'affreux  cachet  du  crime,  laissait 
pourtant  sur  sa  jjersonne  une  marque  cachee,  m^ais  ineffa9able,  dont  la 
justice  pouvait  au  besoin  retrouver  l'empreinte. 

II  nous  a  paru  qu'une  empreinte  corporelle  indel^bile  etait  incom- 
patible  avec  le  Systeme  des  peines  temporaires,  puisqu'elle  perpötue, 
apres  l'epoque  fixee  pour  le  terme  de  la  punition,  une  fletrissure  qui 
n'est  pas  une  des  circonstances  les  moins  insupportables   du   chätiment. 

Cette  empreinte,  quoique  non  apparente,  peut  si  souvent  et  si 
facilement  se  trahir,  qu'elle  ecartera  presque  toujours  le  malheureux 
qui  la  porte  d'un  etat  honnete,  et  des  lors  des  moyens  legitimes  de 
subsister.  Demeurät-elle  constamment  invisible  et  inconnue,  la  con- 
science  de  son  opprobre  poursuivra  partout  le  condamne;  degrade  et 
fletri  ä  jamais  dans  son  etre  physique,  comment  son  äme  pourra-t-elle 
soulever  le  poids  de  la  honte,  et  dans  l'espoir  de  möriter  l'estime 
des  hommes,  contempler  la  recompense  d'une  conduite  pure  et  sans 
reproche?  .  .  . 

Une  seconde  consideration  nous  a  encore  frappes.  C'est  que,  dans 
le  nouvel  ordre  de  nos  institutions,  il  sera  bien  moins  facile  au  mechant 
de  se  perdre  et  de  se  confondre  dans  la  foule.  La  trace  de  son  existence 
ne  peut  guere  s'efFacer;  des  registres  exactement  tenus  dans  chaque 
municipalite  presenteront  le  denombrement  de  tous  les  membres  qui 
composent  la  grande  famille.  II  faudra  que  chacun  ait  un  nom,  un  etat, 
des  moyens  de  subsistance  ou  des  besoins  notoires.  Les  vagabonds  et 
les  inconnus  formaient  autrefois,  dans  la  nation,  une  peuplade  qui  ne 
se  rendait  guere  visible  que  par  ses  attentats.  Dejä  on  a  indique,  et 
il  vous  sera  propose  encore,  Messieurs,  des  moyens  pour  fixer  dans  l'ordre 
social  ces  existences  funestes  et  fugitives,  et  desormais  l'^tat  de  vaga- 
bond  et  d'inconnu  devenant  un  signal  de  defiance,  avertira  suffisamment 
la  police  et  la  justice  de  prendre  des  mesures  repressives  contre  des 
hommes  justement  suspects  ä  la  societe. 

D'apr^s  068  reflexions,  nous  pensons  que  dt^sormais  aucune  marque 
indälöbile  ne  doit  etre  imprimöe  au  front  du  condamnö. 

Revenons  aux  fers  ä  marquer.  Certains  musees,  disions- 
nouS;  en  conservent  qui  datent  du  Moyen  Age   ou  d'un  temps 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Ech^dore  etc.  67 

moins  eloigne  encore.  Je  n'ai  examine  que  ceux  des  Musees 
de  Nuremberg  et  de  Munich^,  et  du  Musee  historique  lorrain 
a  Nancy.  Ceux  -  ci  proviennent  du  cabinet  de  feu  Charles 
Emmauuel  Dumont  (1802 — 1878),  de  son  vivant  juge  au 
tribunal  de  Saint-Mihiel  et  auteur  de  bons  ouvrages  historiques 
Bur  la  Lorraine,  notamment  de  la  Justice  criminelle  des  duches 
de  Lorraine  et  de  Bar,  du  Bassigny  et  des  Trois  Eveches  (Nancy, 
Dard,  1848,  2  vol.  8"*  avec  planchesV  „Ce  savant  magistrat 
avait  eu  l'idee  de  former  une  collection  des  Instruments  de 
supplice  dont  s'est  servi  la  justice  criminelle  depuis  le  Moyen 
Age  jusqu'ä  nos  jours  ...  La  collection  comprenait,  entre 
autres,  deux  fers  ä  marquer,  dont  Tun  etait  ä  la  croix  de 
Lorraine,  l'autre  aux  deux  barbeaux  de  Bar.  Malheureusement, 
ces  deux  pieces  ne  figurent  pas  dans  la  collection  que  les 
heritiers  de  M.  Dumont  ont  donnee  au  Musee  lorrain  assez 
longtemps  apres  sa  mort.  On  ignore  ce  qu'elles  sont  devenues.' " 
II  est  probable  qu'on  aura  fait  disparaitre  ces  temoins  fächeux 
d'un  passe  que  trop  de  gens  affectent  de  regretter  aujourd'hui. 
Faute  de  photographies  des  originaux  detruits  ou  disparus,  le 
lecteur  se  contentera  des  dessins  publies  par  Dumont,  et  des 
explications  dont  il  les  a  fait  suivre:  „L'instrument  employe 
pour  marquer,  ecrit-il,  fut  toujours  un  fer  rougi  au  feu;  mais 
sa  forme  varia  considerablement.  En  Lorraine,  c'etait  une 
croix  dite  de  Lorraine;  ä  Metz,  un  M;  dans  le  Barrois,  avant 
le  milieu  du  XVI*  siecle,  deux  barbeaux;  dans  quelques 
seigneuries  particulieres ,  les  armes  des  seigneurs.  Ces  fers 
fabriques  quelquefois  au  moment  de  l'execution,  n'etaient 
astreints  a  d'autres  dimensions  qu'  ä  celles  que  le  caprice 
d'un  marechal  ferrant  de  village  voulait  bien  leur  donner".^ 

'  Katal.  des  bayer.  yationahnuseums  ,  \ll.  Bd.  p.  29.  M.  6.  May, 
professeur  a  la  Faculte  de  Droit  de  Paris,  me  signale  un  fer  ä  marquer 
conserre  sous  le  n°  13  104  au  Musee  de  Cluny.  II  provient  de  l'abbaye 
de  Cluny,  dont  il  figure  les  armes:  une  def  tnise  en  pal,  Vanneau  en  pointe. 

*  Musee  historique  lorrain:  Catalogue,  par  Lucien  Wiener,  7«  edition 
(Nancy,  1895\  p.  310.  *  La  justice  criminelle  des  duches,  t.  11.  p.  285. 

5* 


68  Paul  Perdrizet 

Les  Grecs  semblent  avoir  prefere  les  pictographes,  quand 
il  s'agissait  de  marquer  des  esclaves  appartenant  ä  l'Etat,  parce 
qu'en  ce  cas  il  etait  tout  naturel  de  prendre  comme  type  de 
la  marque  le  pictographe  qui  servait  d'armoiries  ^  ä  la  cite. 
L'auteur  du  IIeqI  jiöqcov  attribue  ä  Xenophon,  propose  qua 
les  mines  du  Laurion  soient  exploitees  par  des  entrepreneurs  ä 
qui  l'Etat  louerait  des  esclaves  marques  de  son  signe,  avdQcc^toda 
ösöriiiaöyiBva  rq)  druioöCco  örj^dvtQO)  (IV,  21).  Ainsi,  quand 
jadis  nos  rois  faisaient  marquer  les  criminels  de  la  fleur  de 
lis^,  ou  quand  les  papes  les  faisaient  marquer  des  clefs  de  Saint 
Pierre^,  ou  les  ducs  de  Lorraine  et  de  Bar  d'une  croix  de  Lor- 
raine ou  des  deux  barbeaux,  c'etait  la  survivance  d'une  tradition 
tres  antique.  Pendant  l'expedition  de  Sicile,  nombre  des  Athe- 
niens  tombes  aux  mains  des  Syracusains,  furent  marques  d'un 
cheval  au  milieu  du  front^:  j'ai  montre  ailleurs  ä  propos  du 
decret  vote  en  373/2  par  les  Atheniens  pour  bonorer  Alcetas 
de   Syracuse,  que  le   cheval  sans  cavalier  etait  Tun  des  para- 


'  IIccQäoriiiov  (Plutarque,  Moralia,  399 f),  iniar^iiov  (Simonide,  136 
Bergk- Hiller;  Eschyle,  Sept,  660).  C'est  employer  le  mot  episeme  ä.  conti e- 
sens  que  de  parier,  comme  le  fait  Babelon  {Traue  des  monnaics  grecques 
et  rowaines,  II,  1,  973),  d'un  «bouclier  dont  Pepiseme  est  orne  de  la  lettre 
cht»;  le  j(,  sur  la  piece  dont  il  s'agit  —  une  monnaie  archaique  de  Chal- 
cis  —  constitue  l'episeme  du  bouclier,  lequel  est  lui-meme  l'episfeme  de 
cette  piece  de  monnaie. 

-  Institutes  au  droit  criminel,  par  maitre  P.  Fr.  Mayart  de  Vouglans, 
avocat  au  Parlement  (Paris,  1757),  p.  409. 

•'*  «Antrefois,  on  marquait  les  voleurs  qui  etaient  condamntSs  au 
fouet.  d'une  fleur  de  lis,  qui  est  la  marque  du  Souverain,  comme  ä  Rome, 
dans  l'Etat  Ecclesiastique,  on  les  marque  de  deux  clefs  en  sautoir,  qui 
Bont  les  armes  de  la  Papaute.  Mais  cette  marque  a  ete  cbangee  en 
Celle  d'un  V,  par  la  declaration  du  4  mars  1724.  L'usage  de  la  fleur  de 
lis  n'a  plus  lieu  que  dans  le  cas  ou  l'on  condamne  au  fouet  et  ä.  la 
fletrissure,  pour  autre  crime  que  le  vol»  {Tratte  de  la  justice  criminelle  en 
France,  par  M.  Jousse,  conseiller  au  presidial  d'Orleans,  Paris,  1771,  t.  I,j 
p.  57;  cf.  Serpillon,  Code  criminel  ou  Commentaire  sur  l' Ordonnance  dt 
1670,  Lyon,  1767,  t.  II,  p.  1088.) 

*  Plutarque,  Nicias,  29:  tovrovs  wb*  oUhag  inmXovv  ari^ovreg  tTtnot 
sie  t6  {liranov. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  69 

semes  syracusains.^  En  440,  pendant  la  guerre  entre  Athenes 
et  Samos,  les  prisonniers  farent  marques  de  part  et  d'autre  au 
paraseme  de  ladversaire,  les  prisonniers  atheniens  d'une  eduaivu-, 
Tarmoirie  parlante  de  Samos,  et  les  prisonniers  samiens  dune 
chouette.  Dun  fragment  recemment  public  des  Chroniques 
d'Apollodore^,  il  partut  bien  resulter  que  ce  fut  en  440/39, 
ä  la  fin  de  la  guerre  de  Samos,  que  les  Atheniens  consacrerent 
Bur  l'Acropole  la  chouette  de  marbre,  oeuvre  de  Phidias,  qui  est 
figuree  sur  quelques  monnaies  d' Athenes*,  qui  est  mentionnee 
par  Dion  de  Prouse',    Ausone^  et   Hesychios',    et    dont   l'ei- 


'  BCH,  1896,  p.  550;  d'oü  Georges  Macdonald,  Coin  type^,  iheir 
origin  and  developtnent  (Glasgow,  1905),  p.  71.  Freeman,  Geschichte 
Siciliens  (deutsche  Ausgabe  von  Lupus),  t.  III,  p.  361,  propose  ä  tort  de 
reconnaitre  dans  la  marque  infligee  aus  prisonniers  Atheniens  „das  Ab- 
zeichen der  siegreichen  svrakusischen  Reiterei". 

*  La  6ä{utiva  etait  un  vaisseau  de  guerre.  La  proue  de  eäfuciva 
Bert  de  type  ä  de  nombreuses  monnaies  samiennes ,  depuis  le  V^  sidcle 
jusqu'aux  temps  romains.  Percy  Gardner  n'en  dit  rien,  dans  sa  mono- 
graphie  de  la  numismatique  samienne  {Xumismatic  Chronicie,  1882  . 

'  Nicole,  Le  proces  de  Phidias  dans  les  Chroniques  d'ApoUodore, 
d'apres  un  papyrus  inedit  de  la  collection  de  Genece,  p.  17. 

*  Monnaie  du  cabinet  de  Berlin,  reproduite  dans  Gerhard,  AJcad. 
Ahh.,  pl.  XXV,  1  (t.  I,  p.  358)  et  mieux  dans  Michaelis,  Der  Parthenon, 
pl.  XV,  29,  p.  282. 

*  Discours  olympique,  6  ;^t.  I,  p.  156  Arnim):  a.-rtixajcö  xr,v  ötiov- 
Sr]v  vnöav  rä  ntgl  rriv  ylavxa  yiyvoyiivai  ex^dov  ovn  avtv  Sainoviag 
rivbg  ßovlr,6sag.  vqp'  fjs  xal  Tg  'A9rivä  Xiyerai  XQ06<piUg  elvat  ro  ogvsov, 
rfj  xaXXißTi}  zwv  d'smv  xal  öoqptorärj,  xal  tjjs  ye  ^sidiov  rixvr^g  rraga  'AOtj- 
vaioig  Izvxev,  ovx  UTta^iäxsavxog  civxr^v  evyxad-idgvaai  rfj  d'Bö}.  ßvvdoxovv 
xä  dtlfup  Gell,  dans  son  edition  de  V  'OXvfirtixög,  a  Lndique  que  la  phrase 
qui  suit  (UsQixiJa  .  .  .  ijtl  r^s  äcTcidog),  t«nue  pour  authentique  par 
Dindorf,  est  une  glose  inept«,  dont  il  n"y  a  rien  a  retenir  pour  l'intel- 
ligence  du  passage. 

*  Mosella,  307  sq.  Peiper.  Cf.  mon  etude  sur  le  Folk-lore  de  la 
chouette  dans  VAntiquite,  parue  dans  le  Bulletin  de  la  societe  des  Anti- 
qxtaires  de  France,  1903,  pp.  164—170,  et  ä  part. 

'  Hesychios,  1. 1,  p.  433  Schmidt,  s.  v.  FAAT S  'EN  IIO'AEI  ■  jia- 
QQi\Lia  •  avixEiTO  yccQ  VTto  ^sidiov  (MSS  ^aidgov,  corr.  Meursius)  iv  rg 
&xQ0Tt6let.  Cf.  Proverbia  e  codice  Bodleiano,  dans  les  Parcemiographi 
graeci  de  Gaisford  (Oxford.  1836),  p.  28.  no  264:  FAAT S  'EN  UO'AEI- 


70  Paul  Perdrizet 

voto,  dedie  sur  l'Acropole  vers  le  milieu  du  V®  siecle,  par  le  fils 
de  Conon,  Timothee  d'Anaphlyste^,  nous  donneraitune  idee  appro- 
ximative, si  Ton  en  rassemblait  les  debris ^:  il  se  pourrait  meme 
que  cet  ex -voto  düt  etre  identifie  avec  la  chouette  sculptee  par 
Phidias.  Cette  chouette  n'etait  autre  chose  que  la  representation, 
ä  la  mode  tres  antique,  de  la  deesse  Athena:  car  'Ad^ijvä  ylccvx- 
G)7CLg  fut  une  chouette  avant  d'etre  une  deesse  ä  la  chouette. 
Un  an  apres,  en  438,  les  Atheniens  dediaient  la  statue  chrys- 
elephantine  du  Parthenon:  dans  cette  image  splendide,  rien, 
quoiqu'on  en  ait  pretendu,  ne  rappelait  plus  la  chouette  qui, 
durant  les  temps  primitifs,  avait  ete  la  forme  que  revetait  la 
deesse  ä  ses  epiphanies.  Ces  deux  ex-votos  qui  se  succederent 
ä  une  annee  d'intervalle,  exprimaieDt  deux  conceptions  religieuses 
bien  differentes,  l'une  moderne,  adaptee  aux  besoins  religieux, 
intellectuels  et  artistiques  des  plus  eclaires  d'entre  les  Atheniens 
contemporains  de  Pericles  et  de  Phidias,  l'autre  venue  du  fond 
des  äges  et  soigneusement  conservee   par  les  Atheniens   super- 


vTtb  ^aidov  (sie)  &vExiQ"r\  ylav^  iv  &xqotc6Xei,.  C'est  ä  tort  qu'Overbeck 
{Schriftquellen,  n°'  677 — 9)  a  ränge  les  textes  de  Dion,  d'Ausone  et  d' 
Hesychios  parmi  les  temoignages  concernant  l'Athena  chryselephantine 
du  Parthenon.  C'est  ä  tort  aussi,  je  crois,  que  Frickenhaus  (Ath.  3fitt., 
1908,  p.  23—4;  cf.  Pottier,  dans  BCH,  1908,  p.  547)  rapporte  ces  textes  a 
la  ylav^  ze^e^  mentionnäe  au  IV*  siecle  dans  un  inventaire  d'Athdna 
Polias  (Van  Hille,  Mnemosyne,  1904,  p.  335).  Je  reviendrai  ailleurs  sur 
ce  sujet. 

'  Sur  ce  personnage,  cf.  Kirchner,  Prosopographia  attica,  t  I,  p.  314. 

'  Cet  ex -voto  se  composait  d'une  chouette  de  marbre  haute  de 
pres  d'un  mfetre,  sur  une  colonne  dorique  portant  dans  une  cannelure 
l'inscription  Tifio&sos  Kovovog  'AvacpXveriog.  Cf.  pour  la  chouette,  Lebas- 
Reinach,  Monuments  figures,  p.  77,  pl.  62  et  Friederichs -Wolters,  Gips- 
abgüsse, n"  111;  pour  Tinscription.  10,  I,  n**  393,  d'oü  Dittenberger,  Syl- 
loge*,  n"  14;  jiour  la  d^couverte  des  deux  parties  de  l'ex-voto,  fiiite  eu 
1840  entre  le  Parthenon  et  les  Propylt^es,  Ross,  dans  Anndli  dell'In- 
stituto,  1841,  p.  25,  tav.  d'agg.  C.  Le  moulage  de  l'Ecole  des  Beaux- 
Arts  de  Paris  (Reinach,  Bepertoire  de  la  sculpture  grecqtie  et  romaine,\ 
t.  II,  p.  826,  n''4;  t.  III,  p.  224,  n°  2)  reproduit,  non  pas  Tex-voto  trouvti 
sur  l'Acropole,  mais  une  chouette  conservee  ä,  Leyde  et  publice  jadiij 
par  Gori. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  71 

stitieux,  comme  il  s'en  groupait  autour  de  Nicias  et  d'Hagnon, 
de  Diopeithes  et  de  Lampon. 

L'ex-voto  de  439  temoignait  de  la  gratitude  des  Atheniens 
envers  leur  divine  protectrice,  qui  leur  avait  octroye  de  faire 
rentrer  les  Samiens  sous  le  joug.  II  y  a,  je  crois,  correlation 
etroite  entre  le  type  dont  les  Atheniens  avaient  marque  leurs 
prisonniers  pendant  la  guerre  de  440  et  Toffrande  de  439. 

C'est  par  un  Historien  samien,  Douris^,  que  nous  savons 
que  les  prisonniers  de  la  guerre  samienne  avaient  ete  marques 
de  part  et  d'autre  au  paraseme  de  l'adversaire.  Peut-etre  Ari- 
stote,  dans  sa  monographie  noXirda  UafiCav^,  avait-il  dejä 
mentionne  le  fait.  L'un  et  l'autre,  Aristote  et  Douris,  avaient 
pu  lire  sur  TAcropole  les  deux  decrets  concernant,  l'un  la 
marque  des  prisonniers  samiens  au  type  de  la  chouette^,  l'autre 
l'erection  de  la  chouette  de  marbre  sur  TAcropole/  Photios 
a  qualifie  de  mensonger  le  recit  de  Douris  concernant  la  marque 
des  prisonniers  de  la  guerre  samienne^,  parce  qu'il  a  cm,  ä 
tort,  devoir  appliquer  a  ce  temoignage  de  Douris  les  reserves 
de  Plutarque^  sur  le  recit  fait  par  ce  meme  Douris  des  pnni- 
tions  infligees  aux  Samiens  apres  la  reddition  de  leur  ville. 
Quant  ä  la  rersion  de  Plutarque  lui-meme,  suivant  laquelle  les 
prisonniers  atheniens  auraient  ete  marques  d'une  chouette,  et  les 

»  FHO,  t.  ir,  p.  482,  n«59. 

*  Äristotelis  fragmenta,  ed.  Heitz,  p.  287. 

'  Elien,  Hist  var.,  II,  9:  rovg  cclii6xo(tivovg  al^iicclätovs  HayLiav 
eti^fiv  xaxcc  tov  Ttgoownov  xal  slvat  rb  eziy^ia  yXavxa,  xal  tovro  uttixov 

*  Dion,  1.  cit.:  evvdoxovv  xä>  dTjuca. 

^  Photios,  Lexicon,  s.  t.  Zccaicov  6  Sf,u.os  »s  TCoXvyQäuuazog-  ro 
3h  nkdeiui  ^ovQiSog. 

*  Vita  Periclis,  XXVIII,  2:  ^ovgtg  S'  6  iMfiiog  rovzoig  irtirgayadst 
TioXXijv  oi/idrTjTK  rcbv  'J9Tivai(ov  xcd  tov  Usgixliovg  xatr,yOQ(bv,  r,v  oute 
QovxvSiSr^g  iezoQTiXBV  ovz'  'AQiaroziXr,g  ■  ccXX'  oi3'  äXr,d-sv£iv  loixsv,  mg 
&QU  zovg  ZQiriQÜQXOvg  xal  zoi-g  i-xißdzag  z&v  Zaiiicov  slg  zrjv  MiXr^aicav 
ayoQav  üyaycov  xal  öavici  7fQ06di]aug  i(f'  r]neQCig  dexa  xax&g  ijdri  SiaxEiyLS- 
vovg  7iQ06Bza^£v  dvsXslv  ^vXoig  rag  xetpalccg  ffvyxdifjavra? .  siza  ngoßaXstv 
ccx7]dsvza  Tcc  aä^aza. 


72  Paul  Perdrizet 

prisonniers  samiens  d'üne  öd^aiva^,  c'est  un  non-sens  manifeste. 
Plutarque  d'ailleurs  n'a  du  faire  cette  erreur  que  parce  que 
l'usage  des  parasemes  comme  marques  etait  depuis  longtemps 
tombe  en  desuetude.  La  mention  la  plus  recente  qu'on  en 
ait  concerne  le  IV®  siecle  avant  notre  ere.^  Cet  usage  carac- 
terise  les  guerres  inexpiables  entre  cites  grecques,  il  doit 
avoir  pris  fin  avec  la  liberte  de  la  Grece.  Quand  Lucien 
suggere  de  marquer  les  faux  philosophes  au  type  du  renard 
ou  du  singe  ^,  il  fait  allusion  ä  un  usage  aboli  depuis  long- 
temps, qu'il  connaissait  comme  nous  le  connaissons  nous- 
memes,  par  les  textes  attiques. 

Dans  ce  projet  de  Lucien,  le  renard  aurait  marque  les 
intrigants  et  les  arrivistes,  et  le  singe  les  plagiaires.  Ces 
parasemes  injurieux  fönt  songer  ä  celui  dont  etait  marque  un 
Athenien  mentionne  par  Lysias^:  il  portait  le  sobriquet  d' 
^EXacpöötiicros,  parce  qu'il  avait  ete  esclave  et  qu'etant  esclave, 
il  s'etait  enfui  et  avait  ete  repris:  or,  les  Anciens  donnaient 
aux  esclaves  marrons  le  surnom  de  «cerfs»"";  on  peut  donc 
admettre  que  l'individu  en  question,  une  fois  repris,  avait  ete 
marque  par  son  maitre  au  type  du  cerf.  —  Teile  est  l'ex- 
plication  proposee  par  Dittenberger.^  Mon  savant  maitre,  Paul 
Wolters^,  l'a  contestee:  il  pense  que  le  sobriquet  en  question 
fait  allusion  ä  un  tatouage  dionysiaque  au  type  du  faon,  et  il 


'  Id.,  XXVi.  Cf.  Kock,  Com.  att.  fr.,  t.  I,  p.  408;  Duncker,  Gesch. 
des  Altertums,  t.  IX,  p.  207 ;  Busolt,  Griech.  Geschichte,  t.  III,  p.  548. 

*  Vitruve,  II,  8 :  Artemisia,  Rhodo  capta,  principibus  occisis,  tropaeum 
in  urbe  Rhodo  suae  victoriae  constituit,  aeneasque  duas  statuas  fecit,  unam 
Rhodiorum  civitatis,  alteram  suae  imaginis,  eam  ita  figuravit' Rhodionim 
civitati  Stigmata  imponentem. 

"  Piscator,  eh.  46,  p.  613:  inl  xov  fiETWTCov  arlypiava  inißaXirta  ^ 
iyxav6d.x(o  xara  xo  ^LeoöffQvov  6  6h  xvTiog  xavxfjQog  ^axa  ccXmTtr]^  i]  Tti&rjxog. 

*  XIII,  19.  Cf.  Philologus,  1895,  p.  733  et  1903,  p.  125  (Crusius) 

"*  Festus,  p.  343  Müller:  SERVORUM  DIES  festus  vulgo  existimatur 
Idus  Aug.  quod  eo  die  Sei:  Tullius,  natus  servus,  aedem  Dianae  dedicaverit 
in  Aventino,  cuius  tutelae  sint  cervi,  a  quorum  celeritate  vocant  sercos. 

«  Hermes,  1902,  p.  299.  '  Rid.,  1903,  pp.  265—278. 


La  miraculeuse  hietoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  73 

rappeile,  ä  Tappoi  de  son  opinion,  les  nombreux  vases  peints 
oü  Ton  Toit  des  Menades  tatouees,  sur  le  bras  ou  la  jambe, 
de  Timage  d'un  faon  ou  dun  chevreau.  Mais,  outre  qu'il  faut 
distinguer,  ce  semble,  entre  le  cerf.  eXatpog,  et  le  chevreau, 
£Qtq)og,  je  remarquerai  que  les  representations  allegnees  ne 
concement  que  les  femmes,  et  que  le  tatouage  dionysiaque  du 
sexe  fort  parait  avoir  ete  au  type  de  la  feuille  de  lierre ' ;  ce- 
lui  des  femmes  etait  au  type  de  1'  igitpos,  parce  que,  pendant 
la  Bacchanale,  c'etaient  les  femmes  seules,  loin  du  regard  des 
hommes,  qui  dechiraient  tout  vivant  et  mangeaient  tout  cru  1' 
SQKfog  mystique.  Les  tatouages  dionysiaques  du  chevreau  et 
de  la  feuille  de  lierre,  reserves  chacun  ä  Tun  des  sexes,  sem- 
blent  prouver  l'existence  chez  les  Thraces  de  sex-totems,  comme 
on  en  a  signale  chez  les  Australiens.'  Si  ces  remarques  sont 
just€s,  le  sobriquet  'EXacpöörixrog,  etant  porte  par  un  hemme, 
ne  semble  pas  devoir  etre  explique  comme  le  fait  Wolters,  et 
je  crois  qu'il  faut  se  rallier  ä  l'hypothese  de  Dittenberger. 

m 

Le  tatouage  est  un  art  dechu.  II  date  du  premier  äge 
de  l'humanite.  Dans  ce  temps-lä,  il  n'etait  pas  ce  qu'il  est 
devenu  depuis,  un  moyen  d'agrementer  la  peau  humaine.  Son 
origine  ultime  est  ä  chercher,  par  de  lä  les  raisons  d'ordre  artis- 
tique,  sociologique  et  religieux,  dans  le  trefonds  des  rites  de 
la  magie  medicale.  Le  doct^ur  Fouquet  (du  Caire)  a  releve  des 
traces  non  douteuses  de  tatouage  medicaP  sur  la  moraie  de 
la  dame  Amaunit,  pretresse  d'Hathor  ä  Thebes  sous  la  Xl"  dy- 
nastie*;  et  il  a  montre  que  le  tatouage  comme  moyen  de  thera- 

'  Perdrizet,  Cultes  et  mythes  du  Pangee,  p.  96—98. 

-  Frazer,  Le  totemisme  (Paris,  1898),  p.  72—75. 

'  Archives  cTanthropologie  criminelle,  1898,  pp.  270—279. 

*  Trouvee  en  1891  par  Grebaut  dans  une  tombe  inviolee  de  Deir- 
el-Bahari  Cf.  Maspero,  Guide  to  the  Cairo  Museum,  Le  Caire,  1908. 
p   536,  n"  115:  „Mummy  of  the  ladT  Amaunit.  .  .  She  was  tatooed". 


74  Paul  Perdrizet 

peutique  est  encore  pratique  en  Egypte  par  les  indigenes,  tant 
chretiens  que  musulmans.  Ce  travail  du  docteur  Fouquet  me 
semble  un  coup  de  sonde  jete  dans  l'abirae  des  origines.  Je 
m'empresse  d'ajouter  que,  dans  la  pensee  des  primitifs,  la 
medecine  et  la  luagie  ne  se  distinguant  pas  l'une  de  l'autre, 
ils  ont  du  pratiquer  le  tatouage  non  seulement  d'une  fa9on 
curative,  pour  donuer  issue  aux  forces  mauvaises  etablies  dans 
le  Corps  du  malade,  mais  aussi  d'une  fa9on  preventive,  pour 
empecher  la  maladie  d'entrer  dans  le  corps  de  .l'homme  bien 
portant.  Dans  ce  dernier  cas,  le  tatouage  devait  representer 
soit  une  figure  schematique,  ä  laquelle  la  niagie  avait  attribue 
une  valeur  propbylactique  (le  cercle,  par  exemple),  soit  un 
objet  reel,  dans  lequel  on  croyait  que  s'incarnait  le  divin. 
L'image,  comme  le  nom,  equivaut,  pour  la  magie,  ä  l'objet 
ou  ä  l'etre  qu'elle  represente:  poignarder  le  volt,  c'est 
poignarder  la  personne  dont  il  est  le  Substitut;  inversement, 
rhomme  qui  portait  tatoue  sur  sa  peau  l'image,  ou  le  Sym- 
bole, ou  le  nom  du  dieu  qu'il  adorait,  portait  ce  dieu  incor- 
pore  en  lui,  et  par  cette  sorte  de  communion,  se  trouvait 
premuni;  marque  du  signe  d'un  dieu,  il  etait  la  chose  de  ce 
dieu,  celui-ci  le  preservait  contre  les  maux  possibles.  Que 
par  suite  le  tatouage  religieux  soit  devenu  une  marque  de 
servitude  et  de  punition,  eela  s'explique  aisement:  la  marque 
divine  etait  mise  sur  les  prisonniers  de  guerre,  parce  que  le 
dieu  etait  cense  les  avoir  pris,  sur  les  criminels,  parce  qu'il 
etait  cense  les  avoir  punis.  Eux  aussi,  prisonniers  et  crimi- 
nels, etaient  la  chose  du  dieu,  mais  en  un  autre  sens  que 
tantot.  La  marque  de  consecration  participait  de  l'ambiguitc 
generale  des  choses  divines:  dans  certains  cas,  eile  avait  la 
valeur  d'un  talisman;  dans  d'autres,  c'etait  ua  signe  indelebile 
de  degradation. 

Les  primitifs  pratiquaient  sur  leur  propre  corps  des  Ope- 
rations dont  l'idee  fait  fremir  la  sensibilite  des  hommes  d'au- 
jourd'hui.     11   semble   que   la  douleur  physique  füt  supportee 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  75 

beaucoup  plus  aisement  par  les  habitanis  des  cavemes  qu'elle 
ne  l'a  ete  depuis.  TJn  lecteur  qui  n'aime  pas  les  promenades 
„au  jardin  des  supplices"  netudiera  pas  sans  frisson  les  tra- 
vaux  de  Broca  sur  la  trepanation  neolithique^  et  de  Manou- 
vrier  sur  le  T  sincipital  des  cränes  trouves  dans  les  allees  cou- 
vertes  de  Seine-et-Oise.'  Bien  des  modes  et  pratiques  en 
honneur  chez  les  sauvages,  percement  et  etirement  du  lobe  de 
l'oreille  et  de  la  lerre  inferieure,  ablation  des  canines,  etc., 
remontent  sans  doute  ä  une  epoque  extremement  reculee.  De 
tant  de  supplices  que  s'infligeaient  volontairement  les  hommes 
des  temps  tres  anciens,  le  moins  terrible,  quoiqu'il  ne  füt  ni 
sans  douleur  ni  sans  danger',  etait  encore  le  tatouage.  II 
semble  avoir  ete  fort  en  vogue  dans  la  Grece  prehellenique.* 
Certaines  tombes  des  Cyclades  ont  fourni  des  alenes  ä  manche 
de  pierre  et  ä  tige  de  cuivre,  dans  lesquelles  les  antiquaires 
Scandinaves,  si  experts  ä  interpreter  les  debris  de  l'industrie 
prehistorique,  ont  reconnu  des  instruments   de  tatoueurs,  ana- 


*  Broca,  Comptes  rendus  du  VIU*  Congres  international  d'anthro- 
pologie  et  d'archeologie  prehistoriques  i, Budapest),  p.  166.  Cf.  Dechelette, 
ManueJ,  t.  I,  p.  478. 

-  Manonvrier,   Le    T  sincipital,   dans  le  Bull,   dt  la  soc.  d'anthro- 
pologie  de  Paris,  1895,  p.  357.     Cf.  Dechelette,  Manuel,  t.  I,  p.  481. 
'  Lacassagne  et  Magitot,  art.  cite. 

*  Le  travail  fond amental  sur  cette  question  est  celui  de  Blinken- 
berg,  Antiquiies  premyceniennes,  dans  les  Memoires  de  la  Societe  royale 
des  Antiquaires  du  Nord,  1896,  p.  49  du  tirage  ä  part  (d"oü  Dechelette, 
dans  JRevue  archeologique,  1907,  t.  U,  p.  38).  II  y  faut  joindre  les  re- 
marques de  Wolters,  dans  V Hermes,  1903,  pp.  271 — 272.  Hcernes  {Ur- 
geschichte von  Europa,  p.  31)  assure  qu'un  des  personnages  peints  dans 
le  tombeau  de  Seti  ler,  ä  Bibän  el-Mouloük  (BenMite,  Egypte,  p.  539), 
et  qui  porte  au  bras  un  tatouage,  represente  un  chef  egeen  (cf. 
Champollion,  Monuments  de  VEgypte  et  de  la  Nubie,  p.  260,  d'oü  Perrot, 
Hist.  de  l'art,  t.  I,  fig.  527).  En  realite,  ce  personnage,  comme  ceux 
qui  raecompagnent  et  qui  semblent  aussi  tatoues  (Lepsius,  Denk- 
mäler aus  ^[typten  und  u^thiopien,  t.  ÜI,  pl.  126),  est  un  Libyen:  cf. 
Wiedemann,  dans  J.  de  Morgan,  Recherches  sur  les  origines  de  VEgypte, 
p.  31. 


76  Paul  Perdrizet 

logues  ä  ceux  des  vieilles  tombes  danoises.^  Les  informes 
statuettes  prehelleniques  portent  parfois  des  ornements  incises 
sur  la  peau  nue,  qui  doivent  representer  des  tatouages^,  peut- 
etre    des  tatouages  medicaux. 

On  a  vu  tantot  que  chez  les  Thraces  le  tatouage  etaifc 
probablement  d'origine  totemique.  De  meme  chez  les  Bretons, 
dont  le  Corps,  nous  disent  les  auteurs,  etait  couvert  de  ta- 
touages representant  toutes  sortes  d'animaux.^  On  retrouve  dans 
la  mythologie  grecque  des  indices  qui  donnent  ä  penser  que 
ces  marques  totemiques  n'etaient  pas  inconnues  de  la  Grece  pre- 
historique:  le  fils  qu'  Antigene  avait  eu  d'  Haemon  fut  reconnu 
parce  qu'il  portait  sur  son  corps  le  totem  de  sa  tribu,  qui 
etait  Celle  du  Serpent.* 

Dans  la  Grece  classique,  le  tatouage  avait  perdu  tout  ca- 
ractere  magique  et  religieux.  II  existait,  ä  la  verite,  dans  le 
pays  de  l'ffita,  des  paysans  qu'on  appelait  KvXinQdvsg,  parce 
qu'ils  portaient,  marquee  sur  l'epaule,  Tiniage  d'une  coupe, 
nvXi^.  Mais  Polemon  le  Voyageur,  par  qui  nous  connaissons 
ce  nttQdSoi,ov,  avait  note  que  les  KvXlxqccvss  n'etaient  pas  des 
Grecs:  ils  tiraient  leur  origine  de  la  Lydie,  ils  etaient  venus 
de   Sardes  ä  la   suite  d'Heracles,  quand   celui-ci   echappa  ä  la 


'  Les  alenes  des  tatoueurs  danois  etaient  ä  manche  d'ambre:  cf. 
Sophus  Müller,   Vor  Oldtid,  p.  237;  Nordische  Alterthumskunde,  p.  241. 

^  La  Statuette  de  pierre  trouvee  pres  de  Sparte  (Wolters,  Ath.  Mitt., 
1891,  p.  51,  d'oü  Perrot,  t.  VI,  fig.  334)  porte  sur  les  bras  des  chevrons 
incisös. 

"  Solin,  eh.  XXII,  p.  102  Mommsen*:  (Britanniam)  partim  tenent 
barbari,  quibus  per  artifices  plagarum  figuras  iam  inde  a  pueris  variae 
animalium  effigies  incorporantur,  inscriptisque  visceribus  hominis  incre- 
mento  pigmenti  notae  cre^cunt:  nee  quicquam  luage  patientiae  loco  nationes 
ferae  ducujit,  <{uam  ut  per  memores  cicatrices  phirimum  fuci  artus  bibant. 
Cf.  Hörodien,  III,  14,  13:  tä  Sh  eÖDfiata  ati^ovrai  ygatpais  TtoixiXav  ^moav 
navto8an&v  bIkoöiv. 

■•  Hygin,  eh.  LXXII,  p  70  Schmidt:  hinc  üreon  rex,  quod  ex  dra- 
conteo  genere  omnes  in  corpore  insigne  hahebant,  cognovit.  Cf.  Eemein, 
dans  la  Nouvelle  revue  historique  du  droit,  1901,  p   131. 


La  miraculease  histoixe  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  77 

sandalocratie  d'  Omphale.^  Peut-etre  doit-on  recoimaitre  dans 
la  xvXih  dont  ils  etaient  marques  un  stigmate  dionjsiaqae,  et 
se  rappeler,  ä  propos  de  ces  Lydiens  etablis  dans  l'CEta,  que 
le  culte  de  Dionysos  ayait  ses  origines  non  seulement  en 
Thrace,  mais  en  Lydie,  comme  Euripide  le  dit  plasieurs  fois 
dans  les  Bacchantes.^ 

La  Grece  classiqne  sentait  trop  vivement  la  beaute  du 
Corps  humain,  pour  le  salir  des  stigmates  lirides  du  ta- 
touage.  Vlliade,  X,  71  —  76,  declare  le  vieillard  inferieur  au 
jeune  homme,  pour  une  raison  bien  curieuse:  quand  ils  sont 
tues  Tun  et  l'autre  et  depouilles  sur  le  champ  de  bataille,  le 
cadavre  nu  du  jeune  homme  est  beau  ä  voir,  tandis  que  celui 
du  vieillard  est  une  laide  chose;  et  cette  comparaison  semblait 
aux  Grecs  si  reconfortante  pour  les  jeunes  soldats  que  Tyrtee, 
dans  un  de  ses  poemes  guerriers,  l'emprunte  ä  Homere.'  Qu'on 
se  rappelle  encore  la  legende  de  la  double  flute:  Athena  in- 
rente  cet  instrument,  mais  comme  eile  constate  qu'il  lui  de- 
forme les  joues,  eile  le  jette  avec  degoüt.  On  pourrait  multi- 
plier  les  preuves  analogues.  Ah  non!  ce  ne  sont  pas  les 
anciens  Grecs  qui  auraient  traite  le  corps  humain  de  guenille 
et  de  pis  encore.  On  devine  ce  qu'une  race,  qui  avait  de  la 
beaute  physique  un  sentiment  si  aigu,  devait  penser  du  tatouage: 
eile  trouvait  fort  bon  que  les  Barbares  fussent  tatoues,  et  eile 
tatouait  ses  esclaves,  dont  la  plupart  etaient  des  Barbares.    C'est 


*  Athenee,  1.  XI,  p.  462  a:  üolffKov  iv  rü>  :rpcoToj  rmv  itgog  kdaiov 
xal  'Avxiyovöv  cpr^öiv  ovroag  (Preller,  Polemcmis  periegetae  jragmenta,  56)- 
«T^S  d'  'HgaxXsiai  tfjg  ti:r6  ttjv  Oirr^v  xal  Tgaxtvcc,  zöbv  o/xTjTÖpcov  (u9' 
^HgccxXiovg  rivhg  äcpixaiisvoi  ix  Avdiag  Kvlixgävsg  .  .  .  olg  ov3h  t§s  «o- 
liTsiag  iisriSoeav  ol  'HguxXeärai,  ßvvoixtyvg  aXXotpvXovg  vjtoXaßövxBg. 
KvXixgävsg  dh  Xsyovrui,  Sri  rovg  conovg  iyxBxaQayuivoi  xvXixag  r,6av.^ 

"  F.  11:  AiJfayv  3i  Avd&v  rovg  TtoXvxQvGovg  yvag  et  t.  464:  Avdia 
di  iioi  naroig.  Le  choeur  des  Bacchantes  est  compose  de  Lydiennes 
(v.  55:  Xmoveai  Tn&Xov  ^gv^iu  Avdiag.  Cf.  v.  64 — 65:  'Aeiag  ano  yaLag\ 
'Isgov  TfiäXov  a^sitpaßa  9od^(ii). 

*  Fr.  8  Bergk-Hiller,  v.  21  —  30. 


78  Paul  Perdrizet 

la  Grece  qui  a  consorame  la  decadence  de  l'art  tres  antique  du 
tatouage,  en  l'employaiit  ä  la  marque  servile. 

11  devait  tomber  depuis  plus  bas  encore.  Le  tatouage,  que 
rhumanite  primitive  a  pratique  pendant  des  millenaires  pour  des 
raisons  graves,  n'est  plus  guere  aujourd'hui,  dans  la  civilisation 
europeenne,  qu'une  des  modes  caracteristiques  de  la  basse  pegre.^ 
Chose  remarquable:  aucun  temoignage  ne  nous  permet  d'assurer 
que  dans  l'Antiquite  dejä,  les  criminels  de  profession  se  fissent 
volontairement  tatouer,  comme  leurs  pareils  d'aujourd'bui. 
Sans  doute,  le  sicaire  d'Alexandre,  tyran  de  Pheres,  etait  ta- 
toue  des  pieds  ä  la  tete;  mais  cet  homme  etait  un  esclave  thrace, 
harbarum  et  stigmatiam,  compimctum  notis  Throeciis^,  ses  tatou- 
ages  relevent  de  l'etlinographie,  non  de  la  criminologie.  Quant 
au  tatouage  medical,  il  n'est  atteste,  chez  les  anciens  Grecs  et 
Romains,  par  aucun  temoignage  certain;  mais  peut-etre  les 
petits  cercles  dont  est  marquee  la  main  votive  de  Darmstadt ^ 
representent-ils  des  tatouages  destines  ä  guerir  une  maladie  de 
peau,  comme  dans  un  des  cas  observes  par  le  docteur  Fouquet: 
«J'ai  eu  l'heureuse  chance,  ecrit-il,  de  relever  une  Observation  de 
vitiligo  traite  sans  succes  par  le  tatouage,  ce  qui  n'a  rien  de 
surprenant,  sur  la  main  d'un  Circassien  de  la  classe  aisee.  L'ope- 
ration,  pratiquee  par  une  ghagariah^,  masqua  pendant  quelques 
semaines,  quelques  mois  au  plus,  les  stigmates  de  la  maladie 
qu'elle  devait  faire  disparaitre.     La  decoloration  de  la  peau  ne 

^  Voir,  outre  Farticle  de  Lacassagne  et  Magitot,  celui  de  Perrier 
{Du  tatouage  chez  les  criminels),  dans  les  Archives  d'anthropologie  crimi- 
nelle^ 1897,  p.  486  sq.  Le  meilleur  de  ce  que  Lombroso  dit  sur  la  ques- 
tion,  dans  son  Huomo  delinquante  (voir  la  2e  4d.  fran9aise,  traduite  sur 
la  5e  6d.  italienne,  sous  le  titre  L'Homme  criminell  Paris,  1895,  2  vol.  8" 
avec  album),  est  empruntd  aux  travaux  de  Lacassagne,  notamment  ä 
Tarticle  precitö. 

*  De  officiis,  II,  7,  §  26. 

'  Pour  cette  main,  voir  plus  bas,  p.  123  et  pl.  I,  6. 

*  Nom  des  femmes  d'une  tribu  nomade,  qui  exercent  en  Egypte  le 
tatouage  et  la  circoncision.  On  les  appelle  aussi  Halap  „femmes 
d'Alep"  (Fouquet,  art.  cite,  p.  273). 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  79 

tarda  pas  ä  gagner  de  proche  en  proche;  aujourd'hui  la  main 
malade  presente  un  ilot  bleu  au  milieu  de  chaque  tache  blan- 
che aux  contours  sinueux,  soulignant  la  maladie  au  lieu  de  la 
dissimuler./)^ 

Le  dtCxrrjg  se  servait  de  poin9on8  et  d'aiguilles  —  gatpCdsg  *, 
XEQÖvai^,  ßsXövat*,  acus^  —  en  fer,  qui  ne  ditferaient  sans 
doute  pas  beaucoup,  comme  forme,  des  outils  de  bronze  em- 
ployes  par  les  tatoueurs  de  la  Grece  prehistorique.  Les  pe- 
tites  piqüres  faites  avec  ces  Instruments  —  viihiera  ferro  prae- 
paraia^  —  etaient  imbibees  d'une  certaine  encre,  fisXav^: 
comme  dit  Petrone,  elles  „buvaient  les  lettres"  de  Tinscription, 
litteras  hibebant.  Le  recit  de  Petrone  auquel  nous  empruntons 
ces  expressions  nous  apprend  aussi  que  l'esclave  condamne  a 
la  marque  etait  rase  au  prealable,  comme  aujourd'hui  encore 
les  for9ats,  arec  cette  circonstance  aggravante  qu'on  lui  rasait 
non  seulement  la  barbe  et  les  cheveux,  mais  les  sourcils.  Par- 
fois,  on  ne  lui  rasait  qu'une  moitie  de  la  tete.*  Le  miserable, 
ainsi  accommode,  devait  etre  hideux.  üne  fois  marque,  on  lui 
rivait  aux  pieds  la  double  boucle^  —  aidai,  compedes  —  pour 


'  Fouquet,  art.  cite,  p.  278,  fig.  24. 

-  Herondas,  V,  66.  Epiphane,  Tlavägiovy  XXVII  (Migne,  P.  G., 
XLI,  372). 

*  Clearque  de  Soloi,  dans  Athenee,  1.  XII,  p.  524  c?. 

*  EupoHs,  Ta^iaQxoty  fr.  259  Kock:  'Eyat  di  ye  ßxi^to  es  ßßkovaiaiv 
TQieiv. 

*  Prudence,  Stephan.,  X,  1076.  «  Petrone,  p.  106. 
'  Herondas,  V,  66;  Aetios,  VIII,  12. 

"  Petrone,  p.  103:  mercennarius  mens  tonsor  est;  hie  continuo  radat 
utriusque  non  solum  captta,  sed  etiam  supercilia.  Artemidore,  Oneirocr.y 
I,  21,  p.  23  Hercher:  oxotsqov  d'äv  rfjg  xtcpaXfIg  fugog  ipilov  ixV  ''■^S  ovx 
mv  BvavvBidriTog,  xaraxgcd^esTcci  t^v  Big  Igyov  dmiöeiov  xaradlxTiv  '  zov- 
To  yuQ  xäxsi  rraßaffTjudv  ißti  rotg  xaTadixa^oiiivotg.  Cypriani  epist. 
LXXVII,  ad  Xemesianum  et  ceteros  martyras  in  metallo  constitutos, 
p.  159  Baluze  (cf.  p.  161):  semitonsi  capitis  capillus  horrescit.  Cf.  Momm- 
sen,  Droit  penal  romain,  trad.  Duquesne,  t.  lU,  p.  244. 

®  Je  traiterai  de  la  double  boucle  comme  punition  servile  dans  la 
Bei-,  et.  anc,  1911,  2«  faacicule  („Le  chätiment  de  THellespont  par  Xerxes"). 


80  Paul  Perdrizet 

rempecher  de  fuir,  et  on  l'expediait  au  ^tjtQsiov^,  ä  l'erga- 
stule,   au  moulin  ou  aux  mines^:  c'etaient  les  travaux  forces.^ 

L'Antiquite,  pour  marquer  les  esclaves,  semble  avoir  em- 
ploye  aussi  souvent  le  tatouage  que  le  fer  chaud.  Avec  celui-ci, 
on  ne  pouvait  guere  imprimer  qu'un  signe,  au  plus  que 
quelques  lettres.^  Le  tatouage  permettait  de  marquer  un  bien 
plus  grand  nombre  de  caracteres,  Un  ötCxrrjg  qui  savait  son 
metier  pouvait  aisement  inscrire  sur  Valhiim  de  la  peau  humaine 
des  caracteres  qui  ne  fussent  pas  sensiblement  plus  grands  que 
les  lettres  onciales  des  manuscrits. 

Herondas'*  et  Petrone"  parlent  d'un  ^nCyQaiificc,  Claudien^ 
d'un  titulus  imprime  au  front  de  l'esclave  coupable.  Uepigramma 
fugitivorum  auquel  fait  allusion  Petrone,  etait  une  formule 
connue,  notum,  si  connue  que  Petrone  n'a  pas  pris  la  peine  de 
nous  la  conserver  —  ce  qui  ouvre  le  champ  aux  conjectures. 
Selon  Pithou,  Vepigramma  fugitivorum  aurait  consiste  en  une 
lettre  marquee  au  fer  rouge,  ^  ou  F,  abreviations  de  (p{vyäg), 
f(ugitivus):      Selon    Juste    Lipse^,    c'etait,    en    toutes    lettres, 

^  Herondas,  V,  32  avec  la  note  de  Crusius. 

*  Athen^e,  1.  VI  p.  272  e:  xai  ccl  Tto/.lccl  Sh  avtai  ccTZfxal  (ivgiccäss 
xmv  olxETwv  dsSsfisvcci  slgyä^ovro  rä  ^stalXa. 

*  „La  fletrissure,  ou  marque  au  fer  chaud,  est  presque  toujours 
jointe  ä  celle  des  galeres",  ecrivait  Jousse  en  1771  (op.  l.,  t.  I,  p.  62). 

*  En  France,  au  XVIIIe  siecle,  la  Declaration  du  4  mars  1724,  art. 
1,  3  et  5,  prescrivait  de  marquer  les  voleurs  d'un  V;  et  les  condamnes 
aux  galeres,  des  lettres  GAL  (Jousse,  op.  l.,  t.  I,  p.  57).  En  Lorraine, 
les  voleurs  nocturnes  etaient  marqu^s  des  lettres  VN.  L'article  20  du 
code  pänal  de  1810  s'exprime  ainsi:  »Quiconque  aura  etä  condamn«?  a 
la  peine  des  travaux  forces  ä  perpetuite,  sera  fletri  sur  la  place  publique 
par  l'application  d'une  empreinte  avec  un  fer  bnilant  sur  l'epaule  droite 
.  .  .  Cette  empreinte  sera  des  lettres  TP  pour  les  coupables  condamnes 
aux  travaux  forces  ä  perpetuite,  de  la  lettre  T  pour  les  coupables  con- 
damnäs  aux  travaux  forct^s  ä  temps,  lorsqu'ils  devront  etre  fletris.  T.n 
lettre  F  sera  ajout^e  dans  l'empreinte  si  le  coupable  est  un  faussaire 

"  V,  77 — 9:  infineQ  ovx  olösv  \  "Av^ganog  av  iavxöv,  avtix'  släi/>ii 
I  'Ev  r&  iisröanoi  t6  iTÜyuafi^u  ^x^^  tovto.  "  P.  103  et  106. 

'  In  Eutropium,  II,  344  —  5:  Iura  regunt,  facies  quamvis  inscri}>tn 
repugnet  |  Seque  prodat  tituln.  '  Electorum  1.  II,  c.  15. 


La  miracaleuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  81 

inscrite  par  tatouage,  une  formule  comme  cave  a  fugitivo.  Selon 
un  scholiaste  d'Eschine',  c'etait  la  formale  xdxsxs  (le,  (pevya. 
Selon  Pignori-,  c'etait  une  formule  analogue  ä  celle  des  carcans 
d'esclaves  fugitifs:  tene  nie  quia  fu/fi,  et  revoca  me  domino  meo. 
Je  crois  qu'il  faut  adopter  l'hypotliese  de  Pignori,  et  meme 
la  pousser  plus  loin.  Les  inscriptions  des  carcans  d'esclaves 
ou  des  bulles  de  carcan^  peuvent  nous  donner  idee  des  epigram- 
mnta  imprimes  au  front  des  esclaves  fugitifs,  parce  que  le 
carcan  et  la  marque  repondaient  au  meme  besoiu:  l'esclave 
ne  pouvait  pas  plus  «nlever  celui-lä  qu'eflfiacer  ceUe-ci.  Tons 
les  Colliers  d'esclaves  connus  jusqu'  ä  present  portent  des  in- 
scriptions latines  et  datent  de  l'Empire:  on  peut  donc  attribuer 
aux  Romains  la  Substitution  du  carcan  a  la  marque.  Cette 
Substitution  s'explique-t-elle,  comme  le  suggere  Wolters*,  par 
un  progres  des  sentiments  d'humanite?  On  le  voudrait;  mais 
je  crains  que  le  progres  n'ait  surtout  consiste  en  ceci,  que  le 
Collier  ne  gätait  pas  l'esclave;  si  le  maitre  voulait  vendre  son 
esclave,  il  n'avait  qu'  ä  lui  enlever  le  carcan,  pour  faire  dis- 
paraitre  le  motif  de  depreciation  que  constituait  la  fächeuse  in- 
scription;  ce  qui  n'etait  pas  possible  avec  la  marque. 


*  Ad  II,  79  {Oratores  attici  de  Didot,  t.  II,  p.  504):  ol  <pvyä3Bs  täv 
dovlav  iaTi^ovTO  t6  (lirconov,  o  ieriv  insyQOCtfOvro'  „xars^E  f^f»  (fsvya." 
Dans  les  Fugitivi  de  Lucien,  eh.  31,  lorsque  le  de6n6Tr,i  rattrape  son 
esclave  fugitif,  son  premier  mot  est:  "Exoi  es,  m  Kdrd-aQs. 

*  De  servis,  col.  1144  sq.  {Graevii  et  Gronovii  antiquitates,  suppl.  t.  III). 
'  Les  inscriptions  ont  ete  reunies  et  commentees  naguere  par  Dressel, 

CIL,  XV,  nos  7171  —  99  (adde  M.irucchi,  dans  Nuovo  Bull,  dt  arch. 
crist.,  1902,  p.  126  et  Merlin,  C.  B.  Acad.  Inscr.  19u6,  p.  366  =  Cat. 
du  musee  Alaoui,  suppl,  Paris,  1908,  p.  138,  n«»  59,  pl.  LXXI,  1:  la 
bonne  eiplication  de  ce  colIier  me  semble  avoir  echappe  ä  M.  Merlin; 
je  me  raUie  de  celle  de  Schulten.  Arch.  Anzeiger,  1907,  p.  166:  il  s'agit 
d'une  esclave  qui  etait  fille  publique  et  qui  portait  le  nom  d' Adultera), 
Bous  le  titre :  CoUaria  serroium  et  canum  fugitivorum ;  il  n'y  a  en  effet 
aucune  diflFerence  essentielle  entre  les  inscriptions  de  l'une  et  de  Tautre 
Sorte;  et  cette  constatation  en  dit  long,  ce  semble,  sur  l'esclavage  äRome. 

*  Hermes,  1903,  p.  267,  n.  1:  »der  spätere,  humanere  Ersatz  des 
Brandmale  durch  Halsband». 

Archiv  f.  Religionswissenschaft  XIV  Q 


82  Paul  Perdrizet 

En  tout  cas,  l'hypothese  de  Pithou  ne  semble  pas  heureuse; 
eile  est  contredite  par  le  texte  meme  de  Petrone.  Eumolpe, 
pour  grimer  Encolpe  et  Giton  en  esclaves,  leur  barbouille  au 
travers  du  visage,  en  lettres  enormes,  l'inscription  des  fugitifs: 
implevit  Eumolpus  frontes  utriusque  inqentihus  Utteris  et  notum 
fugitivorum  epigramma  per  totam  fadem  liberali  manu  duxit. 
L'exageration  est  plaisante:  en  realite,  l'inscription  n'occupait 
que  le  front,  et  eile  etait  en  lettres  assez  petites,  parce  qu'elle 
etait  assez  longue.  Zonaras  nous  a  conserve  VenCyQcciina  que 
l'empereur  Theophile  (829  —  842)  fit  tatouer  au  front  de 
deux  fanatiques  iconolätres,  Theophane  et  Theodore:  eile  n'a 
pas  moins  de  12  vers  iambiques.^  Et  pourtant,  une  loi  de 
Constantin,   inseree   aux   codes  de  Theodose  ^  et  de  Justinien^ 


'  Annales,  ed.  Paris.,  t.  II,  p.  146  =  t.  III,  p.  409  Dindorf:  ovrog 
Kcci  Tovg  avraSsXtpovg  cificpa,  rov  ©socpccvrj  rs  xal  OeoScogov  rovg  oiioloyt]- 
tdg,  ilsy^avrag  ttjv  ixslvov  Svßßsßstav,  ix  qi^öecov  JtßoqpTjrtxräv  rs  xal 
ygacpixäv,  TtQ&rov  (ihv  öcpodg&g  xccrrjxieato,  slza  xccl  rag  oipsig  wbzwv 
xuvsßri^s,  xal  rcclg  arty^cctg  ^iXav  insxss,  ygafi^aza  d'  itvTtov  rce  erly^iara  • 
Tcc  S'  ricccv  ia^ßoL  ovroi-' 

Jldvrav  Tcod'ovvtoav  TtgoatQix^iv  Tigog  rijv  jtöXiv, 

"Onov  TtävayvoL  rov  @sov  Aoyov  nodsg 

"E(jrr]6ccv  sig  evaraatv  t^s  Olxov(i£vr]g 

"Sl(fQ'r]6av  ovroi  rä>  GBßae^ioi  röno), 

ZlxEvri  TtovriQcc  dsiöiSai^ovog  JiXdvrig, 

'Exslas  TtoXXd  Xomov  i^  aitieriag 

UQu^avrsg  aiexQcc  dsivu  dvaesßocpQovcog. 

'ExsiO'sv  TjXäd-rjGav  d>g  cntoerccrcxi, 

Ugog  TTJV  TtoXiv  dh  rov  xgärovg  Ttscpsvyörsg, 

Ovx  i^cccpfixccv  rccg  dd'iß^ovg  ^mgiag. 

"Od SV  ygucpivreg  ag  xaxovgyoi  rr]v  Q-iav. 

KaraxQivovrai  xal  diwxovrcci  %äXiv. 
*  Const.  2  Cod.  Theod.  IX,  40:  Inip.  Constantinus  Ä{ugusttis)  Eumelio: 
Si  quis  in  ludum  fuerit  vel  in  metallum  pro  criminum  deprehensorum 
qualitate  damnatus,  minime  in  eius  fade  scribatur,  cum  et  in  manibus 
et  in  suris  possit  poena  damnationis  una  scriptione  comprehendi :  quo 
fades,  quae  ad  similitudinem  pulchritudinis  caelcstis  est  figurata,  minime 
maculetur.  Dat.  XII  Kalendas  april.  Cabilluno,  Constantino  A.  IV  et 
Lidnio  IV  coss.  (a.  D.  315). 

»  Const.  17  Cod.  Just.  IX,  47  (et  non  XIII,  47,  17,  comme  le  dit 
Chapot  ap.  Dict.  des  antiq.,  art.  Servi,  p.  1278,  note  8). 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  83 

defendait  de  fletrir  la  face  hamaine,  »cette  face  formee  ä  la 
ressemblance  de  la  Beaute  divine«.  >Donc,  malheur  ä  toi, 
tyran!  s'ecriait  cinquante  ans  plus  tard,  sous  Leon  le  Sage 
(886—911),  le  jurisconsulte  Theodore,  dans  une  scholie^  ä  cette 
loi  de  Constantin  —  malheur  ä  toi,  qui  as  fait  marquer  le 
front  de  ces  saints!« 

On  comprend  maintenant  pourquoi  l'inscription  d'Epidaure 
emploie  indifferemment  les  mots  ygafifiaTu  ou  6tCyfiaTa  pour 
designer  les  marques  de  Pandare  et  d'Echedore;  et  Ion  s'explique 
la  pointe  de  Tepigramme  de  Martial,  II,  29,  splenia  tolle,  Uges_ 
ou  des  expressions  comme  litterae^,  inscriptiones  frontis^  «mar- 
ques», littercUus*,  inscriptus^  «esclave  de  marque>,  scribere, 
inscribere  <^ marquer).  Litteratus  se  trouve  pour  la  premiere  fois 
dans  Plante,  qui  saus  doute  l'a  calque  du  grec.  Aristophane 
dejä,  dans  les  Babyloniens,  avait  parle  d'esclaves  noXvygdiiftaroi.'^ 
La  comedie  en  efiFet,  ä  Rome"  comme  en  Grece,  s'est  souvenfe 


*  BastXixd,  LX,  51  §  54  (t.  V,  p.  874  Heimbach) :  Oiai  eoi  zoLwv, 
m  rvgavvs,  ort  tov  ayiov  SsödcoQOv  xal  ©eoqpavrjv  iv  zoig  ayioig  avröbv 
litvmTtoig  iavi^ag.  Cit«  par  J.  Godefroy,  Codex  Theodosianus  cum  per- 
petuis  commentariis  (Lyon,  1665),  t.  III,  p.  295.  II  y  a  du  reste  une  faute 
d'impreasion  dans  la  refe'rence  de  Godefroy:  au  lieu  de  Basil.  1.  LX, 
tu.  51,  l'imprimeur  a  mis  tit.  5. 

*  Valere  Maiime,  VI,  8,  §  7:  inexpiabili  litUrarum  nota. 
'  Seneque,  De  ira,  HI,  3. 

*  Piaute,  Casina,  II,  6,  49:  ST.  Hoc  agesis,  Olympia.  OL.  5»  Ate 
Utterattis  ine  sinat.    Apulee,  Metam.  IX,  p.  616  Oudendorp:  frontem  litterati. 

'  Martial,  VIII,  75:  Quattuor  inscripti  portabant  vile  cadaver.  Pline, 
Hist.  nat,  XVni,  4:  nunc  eadem  illa  vincti  pedes,  damnatae  manus,  in- 
acriptiquc  vultus  exercent.  Juvenal,  XIV,  24:  inscripta  eryastula.  Gaius 
(Itistitutes,  1, 13,  commentaire  de  laloi  ^Elia  Sentia;  reproduit  presque  mot 
pour  mot  par  Ulpien,  Regles,  11):  servi  .  .  .  quibus  Stigmata  inscripta  sint. 
Ausone,  Epigr.  36,  p.  325  Peiper:  Ergo  notas  scripto  tolerasti,  Pergante, 
vultu.  Aetios,  Tetrabibl.  II,  serm  4,  c.  12:  öriyuaru  xaXovei  rä  inl  rov 
*Q06<i>:tov  7}  allov  rivog  (legovg  rov  emuazog  irtf/gacföneva. 

*  Fr.  64  Kock. 
^  Une  comedie  de  Naevius,  imitee  d"un  modele  ^ec  dont  nous  ne 

WTons   rien,  a'appelait   Stigmatias    (Varron,    De  Ungua   latina,  VII,  107 
Müller  =  Ribbeck,  Com.  lat.  />.',  p.  21). 

6* 


84  Paul  Perdrizet 

egayee  aux  depens  des  esclaves  de  marque,  mais  jamais  plus, 
serable-t-il,  que  dans  les  Bdbyloniens}  L'action  de  cette  piece 
se  passait  dans  un  moulin,  oü  le  choeur,  compose  d'esclaves 
barbares,  tournait  la  meule.^  On  se  rappelle  le  moulin  decrit 
par  Apulee:  dii  honi,  quales  illic  homunculi  vibicibus  lividinis 
totam  cutem  depicti  dorsumque  plagosum  scissili  centunculo  magis 
iniimbrati  quam  öbtecti,  .  .  .  frontes  liUerati  et  capillum  semirasi 
et  pedes  anulati,  tum  lurore  deformes  et  fumosis  tenebris  vaporosae 
caliginis  palpebras  adesi  etc.^ 

Les  Grecs  employaient  la  marque  pour  le  betail,  pour  les 
prisonniers  faits  dans  des  guerres  inexpiables,  auxquels  la  baine 
du  vainqueur  tenait  ä  infliger  une  fletrissure  indelebile,  inex- 
pidbili  litterarum  nota  per  summam  oris  coniumeliam  inusti*, 
enfin  pour  les  esclaves. 

L'usage  de  marquer  le  betail  au  fer  rouge  etait  general 
dans  l'antiquite.^  Mais  l'ancien  droit  ne  distinguait  pas  entre 
l'animal   domestique  et  l'esclave:   Tun   et   l'autre  n'etaient  que 

^  Fr.  64,  79,  88,  97  Kock. 

*  Cf.  Maurice  Croiset,  Aristophane  et  les  partis,  p.  66. 
•'  Metani.,  IX,  p.  616. 

*  Valere  Maxime,  VI,  8,  §  7. 

^  Gregoire  de  Naziance,  De  baptisma,  cite  dans  le  Thesaurus,  s.  v. 
acpQuyi^o),  col.  1626:  •nqößaxov  i6cpQayi6\iivov  ov  gaSicog  inißovXsverut,' 
t6  äh  äarnLavxov  KUnrais  sidXwTov.  Voir  les  commentateurs  de  Virgile 
ad  Georg.,  I,  263  aut  pecori  Signum;  Ebbesen,  op.  laud.,  p.  15  —  17; 
Bekker-Göll,  Charikles,  1. 1,  p.  130;  Crusius,  dans  Philologus,  1903,  p.  130. 
Un  texte  curieux,  qui  parait  avoir  echappe  ä  ces  erudits,  et  qui  devrait 
Stre  cite  d'abord,  parce  qu'il  a  Häsiode  pour  source,  concerne  le  grand- 
pfere  d'Ulysse,  Autolycos,  qui,  comme  le  dit  YOdyssee,  t,  395—396.  n'avait 
pas  ßon  pareil  comme  voleur  et  parjure.  Cf.  Hesiode,  fr.  112  Rzach  d'iipres 
Tzetzäs  ad  Lycophr.  344  et  Eudocie,  Violarium,  p.  876  et  894:  kX^jitov 
tmtovg  T8  Kai  ßSccg  xal  jtol(ivia  rag  ßcpQuyiSag  «■^töv  (iststcoisi  xal  ikäv- 
&avs  rovg  Seanörag  avxmv,  mg  qpTjöiv  'HaioSog.  Voir  encore  Hygin.  eh. 
CGI,  avec  les  remarques  d'Esmein,  dans  la  Nouvellc  reime  historique  du 
droit,  1901,  p.  136.  Au  Moyen  Age,  les  destriers  portaient  parfois  les 
armoiries  de  leur  propriätaire  marqu^es  sur  leur  robe:  cf.  A.  Schultz,  Das 
höfische  Leben  zur  Zeit  der  Minnesänger,  t.  I,  p.  600. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  85 

des   instruments  animes.     Ce  droit  admettait  donc  que  le  pro- 
prietaire  marquät  ses  esclaves  comme  il  faisait  ses  betes. 

En  Egypte^  et  en  Asie*,  le  betail  qui  appartenait  aux 
temples  etait  marque  au  fer  rouge.  D'autre  part,  Herodote' 
rapporte  que  les  esclaves  fugitifs  qui  cherchaient  asile  dans  un 
certain  temple,  pres  de  Canope,  y  etaient  marques  du  Symbole 
de  la  divinite  egyptienne  adoree  en  cet  endroit:  apres  quoi, 
devenus  par  cette  Operation  la  chose  de  la  divinite,  ils  etaient 
intangibles,  leur  ancien  maitre  perdait  tout  droit  sur  eux.^ 
Des  usages  de  ce  genre  ont-ils  existe  en  Grece?  On  peut 
admettre,  quoique  les  preuves  manquent,  qu'en  Grece  anssi  les 
troupeaux  sacres  fussent  marques  au  signe  du  dieu  dont  ils 
etaient  la  propriete.  Mais  que  des  esclaves,  en  se  refugiant 
dans  un  sanctuaire  grec  et  en  y  recevant  la  marque  du  dieu, 
pussent  echapper  pour  toujours  aux  poursuites  de  leurs  legitimes 
proprietaires,  c'est  une  hypothese  bien  peu  vraisemblable.  Assure- 
ment,  plusieurs  sanctuaires  helleniques  ont  offert  asile  aux 
esclaves*,  mais  sous  des  reserves  de  droit  qui  devaient  etre 
fort  strictement  definies,  si  l'on  en  juge  par  le  reglement  des 
mysteres  d'Andanie.^  Les  Grecs  n'auraient  jamais  concede  ä 
leurs  sanctuaires  les  privileges  exorbitants  des  temples  orientaux. 
Si  Herodote  a  note  celui  dont  jouissait  le  hieron  de  Canope,  c'est, 
je  pense,  qu'il  ne  connaissait  rien  de  pareil  en  pays  hellenique. 

*  Wiedemann,  Htrodotos  II"  Buch,  p.  183. 

-  Plutarque,  Lticullus,  24:  ßoeg  legal  vifiovrai  Tleeeueg  'Agrifiidos, 
T)V  (läXiera  9swv  ol  -xigav  Eiqtgdxov  ßccQßaQOt  rmöbet  .  .  .  jj^a^a/fiara 
tpigoveai  rf/C  Q^sov  Xayi,7td3u. 

'  Herodote,  11,  133:  'HQaxXio^  iscov,  ig  rb  T/V  KUTacpv/wv  oixBTrig 
OT£väv  avd'Qmnwv  i7iißäXr,Tai  6xiyy.ara  igd,  iwvrbv  didovg  zu  9'eä,  ovx  l|£0rt 
Tovrov  cctpaa9ai.  Les  autres  temoignageg  concemant  YdevXia  des  temples 
grecs  sont  tous  grecs  et  d'epoque  ptolemaique  (LefebTre,  dans  C.  B.  de 
l'Acad.  des  Inscr.,  1908,  p.  772);  les  textes  hieroglyphiques  n'en  disent 
rien  (Wiedemann,  op.  L,  p.  436;  Sourdille,  Herodote  et  Ja  religion  de 
VEgypte,  p.  177). 

*  Par  exemple  celui  de  Delphes:  BCH,  1902,  p.  320. 
^  Foucart,  Inscr.  du  Pelopoyinhe,  p.  173. 


86  Paul  Perdrizet 

«Voulez-vous  savoir,  demande  Demosthene  dans  son  plai- 
doyer  contre  Androtion^,  la  difference  qu'il  y  a  entre  l'esclavage 
et  la  liberte?  C'est  que  l'esclave  expie  corporellement  tous 
ses  mefaits,  tandis  que  Thomme  libre,  meme  homicide,  raste 
maitre  de  son  corps.»  Cette  doctrine  explique  qu'en  Grece  le 
fouet  fut  applique  aux  esclaves  seulement^,  et  que  les  seuls 
esclaves  fussent  soumis  ä  la  marque:  d'oü  l'espece  que  les  pro- 
fesseurs  d'art  oratoire  faisaient  traiter  ä  leurs  eleves  et  qui  a 
du  etre  plaidee  en  effet  plus  d'une  fois  devant  les  tribunaux: 
exmsatio  est  aut  ignorantiae,  ut  si  quis  fugitivo  Stigmata  scrip- 
serit  eoqiie  ingenuo  iudicato  neget  se  liberum  esse  scisse? 

Seneque,  il  est  vrai,  raconte  qu'un  Macedonien  s'etant 
conduit  envers  un  compatriote,  son  bienfaiteur,  avec  la  plus 
noire  ingratitude,  fut  condamne  par  Pbilippe  II  ä  recevoir  le 
stigmate.*    Seneque  ne  dit  pas  que  cette  fletrissure  ait  accom- 

'  §  55:  y,al  ^f]v  sl  ^sIets  ensipcxßd'ai  xL  dovXov  rj  iXsv9BQ0v  tlvai 
SicccpSQSi,  xovTO  (isyiGTOv  av  svQOire,  ort  rotg  (ihv  öovXoig  to  ew^a  rwv 
&di,xriiicct(ov  ccTcdvrav  vTtsv&vvov  iori,  rotg  d' iXsv&iQOig,  kccv  ta  (liyior'  atv- 
X&eiv,  rovxö  y'  ivecrt.  GäöaL.  J'adopte,  pour  Kav  xa  fi^yiGx'  axvxöidv,  la 
deuxieme  interpretation  de  Weil  {Les  plaidoyers  politiques  de  Demosthene, 
t.  II,  p.  40).  L'anonyme  qui  est  Tauteur  de  la  pars  suspecta  du  Contre 
Timocrate,  §  167,  repete  la  meme  doctrine  ä  peu  pres  dans  les  memes  termes. 

*  Glotz,  Les  esclaves  et  la  peine  du  fouet  dans  le  droit  grec  (C.  B.  de 
l'Acad.  des  Inscr.,  1908,  p.  571). 

^  Quintilien,  Inst,  orat.,  VII,  4,  §  14. 

*  De  beneficiis,  IV,  37,  p.  117  Hosius:  Fhüippus  Macedonutn  rex 
habebat  militem  manu  fortem,  cuius  in  multis  expeditionibus  utilem  expcrtus 
operam  subinde  ex  praeda  aliquid  Uli  virtutis  causa  donaverat  .  .  .  Hie 
naafragus  in  possessiones  cuiusdam  Macedonis  expulsus  est;  qui,  ut  nun- 
tiatum  est,  accucurrit,  spiritum  eius  recollegit  .  .  .  refecit,  viatico  instruxit 
.  .  .  Narravit  Philippo  naufragium  suum,  auxilium  tacuit  et  protinus 
petit,  ut  sibi  cuiusdam  praedia  donaret.  llle  quidam  erat  hospes  eius 
is  ipse,  a  quo  receptus  erat  .  .  .  Philippus  illum  induci  in  bona,  quae 
petebat,  iussit.  Expulsus  bonis  suis  ille  non  ut  rusticus  iniuriam  tacitus 
tulit  contentus,  quod  non  et  ipse  donatus  esset,  sed  JPhilippo  epistulam  strictam 
fic  liberum  scripsit  ...  Je  ne  sais  si  les  historiens  ont  souligne  le  carac- 
tere  authentiquement  macedonien  de  cette  histoire.  On  sait  eu  effet  que 
les  rois  Macedoniens  s'assuraient  la  fidelite  de  leurs  leudes  en  leur  con- 
stituant  des  sortes  de  fiefs  (l'lutarque,  Vie  d' Alexandre,  eh.  16,  p.  29:J 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echädore  etc.  87 

pagne,  pour  le  personnage  en  question,  la  perte  de  la  liberte: 
voilä  donc  un  exemple  dingenu  condamne  ä  la  fletrissure.  — 
Oui,  mais  ce  cas  ne  nous  concerne  pas:  il  s'est  produit  hors 
de  la  Grece,  en  Macedoine,  du  temps  de  Philippe  II,  et  nous 
ne  parlons  en  ce  moment  que  de  droit  grec  et  romain.  —  11 
est  vrai  encore  que  Piaton  voudrait  voir  marquer  au  front  et 
aux  mains  l'etranger  coupable  de  sacrilege,  meme  si  cet  etranger 
est  un  homme  libre^;  et  peut-etre  en  allait-il  ainsi  dans  quel- 
ques villes  grecques.  Mais  c'est  lä  une  exception  qui,  comme 
on  dit,  confirme  la  regle.  Piaton  en  eflfet  veut  aussi  que  le 
sacrilege  re9oiye  un  nombre  illimite  de  coups  de  fouet^,  autant 
qu'il  plaira  au  magistrat:  l'enormite  du  crime  explique  cette 
prescription,  inusitee  tout  au  moins  ä  Athenes,  oü  l'esclave  ne 
devait  pas  recevoir  plus  de  cinquante  coups*;  eile  explique  aussi 
la  prescription  de  marquer  l'etranger  coupable  de  sacrilege 
meme  si  c'est  un  homme  libre. 

En  general  donc,  les  gens  qu'on  marquait  etaient  des  es- 
claves,  non  pas  tous  les  esclaves,  mais  les  pires,  surtout  les 
esclaves  marrons  [dgccjcetaiy,  et  ceux  qui  se  refusaient  aux  caprices 


Sintenis*;  Dittenberger,  Sylloge^,  n^lTS;  cf.  Duchesne,  lUission  au  Mont 
Athos,  p.  71,  et  Karst,  Gesch.  des  hellenist.  Zeitalters,  t.  I,  p.  126):  ainsi 
oexplique  que  Nearque,  qui  etait  d'origine  cretoise  (Diodore,  XIX,  69,  1; 
Arrien,  Ind.,  XVIII,  10;  Sylloge*,  n"  916),  füt  qualifie  de  Ariraiog  dans 
les  Maxsäovixd  de  Theagene  (cf.  Etienne  de  Bvzance,  s.  v.  AH'TH): 
il  avait  du  recevoir  a  Lete  un  fief  de  ce  genre.  Fowler  {The  sources  of 
Seneca  „De  Beneficiis",  dans  les  Proceedings  of  the  Amer.  Philol.  Asso- 
ciation, XVII,  1886),  estime  que  la  source  principale  du  Tratte  des 
bienfaits  est  le  stoicien  Hecaton  de  Rhodes  (sur  lequel  cf.  Schmekel, 
Die  Philosophie  der  mittleren  Stoa,  Berlin  1892,  p.  14):  Hecaton  avait  du 
trouver  l'histoire  ci-dessus  dans  quelque  auteur  du  IVe  siecle,  peripa- 
teticien  ou  historien,  qui  etait  bien  renseigne  sur  la  Macedoine. 

*  Lois,  IX,  p.  854 d:  og  ä'av  legoGvlcav  Xri(f9^,  iav  [ikv  r;  dovXog  i] 
^svog,  iv  rä  TigoemTCta  xai  raig  ;j£e<Ji  j'paqpa/g  rrjv  örftqpopäv  xal  (laßri- 
ycaO'slg  onoöag  üv  dd|ij  toig  dixacraig,  ixrog  rmv  OQtav  t^g  j^mQug  yviivog 
ixßXri&rita).  *  Glotz,  memoire  die',  p.  578. 

'  Aristophane,  Oiseaux,  760:  El  Sh  xvyxävn  xig  v(i&v  3Qa7iiTr,g 
iöTf/fiivog.    Lucien,  Timon,  §  17:  wonsQ  criyuariag  SgccTchrig  TtSTtsdrifisvog. 


88  Paul  Perdrizet 

du  maitre.  Dans  un  mime  d'Herondas,  une  dame  dans  le  genre 
de  la  femme  de  Putiphar,  jalouse  de  sön  bei  esclave  Gastron, 
qui  s'est  permis  une  couclierie  avec  une  autre  qu'elle^,  fait  querir  le 
tatoueur:  qu'il  vienne  vite,  avec  ses  aiguilles  et  son  encre,  pour 
marquer  le  coupable  au  front!  De  cette  saynete,  de  cette 
»tranche  de  vie«  ([il^og  ßiolöyog),  qui  jette  un  jour  si  cru 
sur  les   moeurs   d'Alexandrie,   on  rapprochera  ce  precepte  des 

2JtCy^ccTcc  ni]  yQccil^ris  s^ovsLdC^av  &£Qcc7tovta^, 
car  les  recherches  de  Jacob  Bernays  ont  etabli  que  les  ^(oxvXCdsia 
sont  un  pseudepigrapbe  juif,  ecrit  ä  Alexandrie  probablement, 
dans  la  deuxieme  moitie  de  la  periode  hellenistique,  c'est-ä- 
dire  ä  l'epoque  meme  d'Herondas.  On  y  voit  poindre  l'aube 
de  la  morale  future:  le  sentiment  de  l'egalite,  de  la  dignite 
humaine,  s'y  affirme.  C'est  le  meme  sentiment,  si  Ton  veut, 
qui  s'affirmera  plus  tard  dans  la  loi  de  Constantin:  facies,  quae 
ad  similitudinem  pulchritudinis  caelestis  est  figurata,  minime 
maculetur.^  Mais  comme  le  precepte  du  Juif  alexandrin,  sous 
sa  forme  purement  laique  et  humaine,  a  pour  nous,  modernes, 
un    autre   accent!     Et   qu'il   est   plus   categorique!      La  loi  de 


Clement  d'Alexandrie,  Faedag.,  III,  2,  §  5,  p.  242  Stählin:   wg   yag  tbv 
SoaTthTTiv  rä  exLy^axcc,  ovxa  xj]v  yiOt,%aXi8a  dslxvvöi  avO-iaiiaxcc.     Etc. 

*  Je  dis  les  choses  telles  qu'elles  sont,  puisqu'on  s'y  est  mepris: 
»Cn  mime  d'Herondas,  ecrit  Chapot,  dans  le  Biet,  des  antiq.,  art.  Servi, 
p.  1271,  met  en  scene  la  durete  d'un  maitre  bien  vite  apaise.« 

*  Dans  le  passage  de  Juvenal,  XIV,  21 — 22  {Tunc  felix,  quoiies  uli- 
quis  tortore  vocato  \  Uritur  ardenti  duo  propter  lintea  ferro)  ^  il  ne  s'agit 
pas  de  marque  au  fer  rouge,  mais  d'une  variete  de  supplice,  dont  il  est 
question  dans  Ciceron,  In  Verrem,  V,  63,  et  Topic,  20,  et  dans  Seneque, 
De  Ira,  III,  3. 

^  Vers  225  de  l'edition  de  Bernays  dans  l'appeudice  de  son  memoire 
lieber  das  pJiokylideische  Gedicht  (Gesammelte  Abhandlungen,  t.  I,  p.  261; 
cf.  p.  246).  Sur  le  Pseudo-Phocylide,  voir  encore  Renan,  Histoire  d' Israel, 
t.  IV,  p.  260. 

■*  Code  Theod.,  IX,  47,  17.  Je  n'ai  pas  vu  Ich  anciennes  disser- 
tations  d'Ernst  Tenzell,  De  stigmatibus  in  facie  et  do  Sam.  Fried.  Willen- 
berg, De  stigmate  in  facie  non  scribendo. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  89 

<  onstantin  defend  de  fletrir  la  face  de  rhomme;  mais  comme 
eile  ne  dit  rien.  du  reste  du  corps,  le  Roi  de  France  et  le  Pape 
feront  marquer  sur  l'epaule  du  miserable  Tun  sa  fleur  de  lis  et 
l'autre  les  clefs  du  cieL 

A  Rome,  sous  la  Republique,  rhomme  libre  coupable  de 
Kalumnia  etait,  dit-on,  puni  de  la  marque:  on  lui  imprimait  au 
front  la  lettre  K,  avec  le  fer  rouge.^  Cette  penalite,  qui  entrainait 
l'infamie,  tomba  en  desuetude  sous  l'Empire  Par  coutre,  les 
Empereurs  firent  plus  d'une  fois  marquer  des  ingenus  con- 
damnes  aux  travaux  forces*:  c'est  que  ceux-ci,  du  fait  meme  de 
leur  condamnation,  perdaient  la  liberte,  devenaient  esclaves  de 
rjltat,  serii  poenae.  II  faut  descendre  jusqu'au  commencement 
du  Moyen  Age  pour  trouver  des  cas  d'ingenus  fletris  de  la 
marque  sans  etre  condamnes  a  la  servitude  et  aux  travaux 
forces.^ 

Le  droit  grec  en  general,  surtout  le  droit  attique,  sem- 
ble  avoir  ete  plus  soucieux  des  egards  düs  ä  l'homme  libre 
et  ä  l'esclave  ne  dans  la  liberte.  Diodore  signale  comme  l'une 
des  causes  de  la  guerre  servile  d'Eunus,  qui  vers  140  —  130 
avant  notre  ere  devasta  la  Sicile,  la  barbarie  de  certains  grands 
pr'oprietaires,  qui  avaient  fait  marquer  des  esclaves  nes  libres.* 


*  Cf.    Humbert,    article    CALVMNTA    dans    le    Dictionnaire    des 

Antiquites. 

*  Suetone,  Caligula,  27:  multos  honesti  ordinis,  deformatos  prius 
*igmatum  notis,  ad  metalla  et  ad  munitiones  viarum  aut  ad  bestias  con- 
lemnavit.  —  Pontius,  Vita  et  passio  S.  Cypriani  (Baluze,  Cypriani  opera, 
•ol.  CXXXYIII) :  quis  denique  tot  confessores,  frontium  notatarum  secunda 
nxscriptione  signatos,   allusion  a   un   passage   de   la   fameuse    lettre    de 

yprien  aux  confesseurs  travaillant  comme  forgats  dans  les  mines  de 
Sigus  en  Xumidie  (Monceaux,  Histoire  litteraire  de  VÄfrique  chretienne, 
t.  II,  p.  248,  d'oü  Schanz,  Rom.  Litt.*,  t.  III,  p.  357). 

'  Opilion  et  Gaudens,  expulses  de  Ravenne  sur  l'ordre  de  Theodoric, 
cherchent  asile  dans  une  eglise  de  cett«  Tille:  edixit  (Tlieodoricus)  vti 
ni  tntra  praescriptum  diem  Bavenna  urbe  decedant,  notas  insignüi 
frontibus  pellerentw  (Boece,  Consol.,  I,  4,  p.  13  Peiper). 

^  Diodore,  1.  XXXIV,  eh.  2,  §  1,  27,  36. 


90  Paul  Perdrizet 

La  servitude,  ä  ceux-ci,  etait  infiniment  plus  douloureusequ'aux 
autres:  le  plus  recent  poete  de  Y Anthologie  l'a  bien  senti: 

L'ESCLAVE 

Tel,  nu,  sordide,  affreux.  nourri  des  plus  vils  mets, 
Esclave  —  vois,  man  corps  en  a  garde  les  signes  — 
Je  suis  ne  lihre  au  fand  du  golfe  aux  helles  lignes 
Oü  l'Hyhla  plein  de  miel  mire  ses  Ileus  sommets  .  .  } 

Un  esclave  ne  dans  la  liberte  gardait  en  general  l'esperance 
d'etre  rachete;  et  souvent  il  lui  arrivait  de  l'etre.  C'etait  donc 
le  fait  d'un  maitre  barbare  que  d'abuser  du  passage  d'un  homme 
par  la  servitude  pour  lui  infliger  ce  que  Blas  le  cynique,  dans 
son  etonnante  autobiographie,  appelait  r^g  tov  ÖEßTCotov  nixgCccg 
evußokov.^  Mais  etant  donne  la  douceur  generale  des  moeurs 
grecques,  je  ne  puis  croire  que  les  esclaves  stigmatises  Sans 
l'avoir  merite  fussent  bien  nombreux.  Un  maitre,  d'ailleurs, 
devait  y  regarder  ä  deux  fois  avant  d'infliger  la  marque,  car 
eile  gätait  le  physique  de  l'esclave  et  depreciait  sa  valeur  en 
le  classant  pour  toujours  parmi  les  mauvais  sujets. 

C'etait  donc,  en  general,  une  fächeuse  recommandation  que 
de  porter  stigmates,  de  meme  que  sous  l'Ancien  Regime  d'etre 
fleurdelise  —  avec  cette  diiference  aggravante  que  la  fleur  de  lis, 
imprimee  sur  l'epaule,  conformement  ä  la  loi  de  Constantin,  ne 
se  voyait  pas,  tandis  que  les  stigmates  etaient  imprimes  sur  le 
front.  Meme  quand  il  avait  reussi,  d'une  fa9on  ou  d'une  autre, 
ä  sortir  de  la  servitude,  le  Griy^atlag  continuait  ä  sentir  les 
effets  de  sa  fletrissure.  Nous  ne  sommes  pas  informes  sur  les 
dispositions  que  les  diverses  legislations  de  la  Grece  pouvaient 
contenir  ä  cet  egard,  mais  nous   pouvons  nous   en  faire  idee 

^  J.  M.  de  Heredia,  Les  Trophecs. 

*  Diogene  de  Laerte,  IV,  7,  §  1 :  t'/ioi  ö  TTari]Q  (ikv  7}v  änEXBvd-£Qo>;, 
x&  ayKmvi  &7io^v666^svog  —  duSr'ßov  äh  rör  rocQixi^-rcoQOV  —  yivO'S 
BoQvod'svitTig,  ^x^^  oi  TtQoaoiTCOv  ccXXa  cvyyQaqiriv  tnl  rov  ngocrnTtov,  ri)^ 
TOV  äsaTCOTOv  Tti'xgiag  cv(ißoXov  '  (ii'jttiq  dh  oiav  6  toiovrog  av  yijiicci,,  &%' 
olyii](iatos-  Cette  fille  en  maison  s'appelait  Olyinpie  (Athencie,  XIII, 
p.  ö92a).     Cf.  V.  Arnim,  dans  Pauly-Wissowa,  V,  483. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  91 

par  Celles  du  droit  romain.  Nous  cormaissons  par  les  commen- 
taires  de  Gaius^  et  d'Ulpien',  une  loi  iElia  Sentia,  qui  defi- 
nissait  la  condition  des  afiranchis  deditiiii:  „Sont  parmi  les 
dedititii  les  aflFranchis,  quelle  que  soit  la  fa^on  dont  ils  ont 
obtenu  raflfranchissement,  qui,  durant  leur  esclavage,  ont  ete 
punis  de  la  double  boucle  et  de  la  marque^;  ou  qui,  ä  raison 
d'un  delit,  ont  ete  tortures  et  juges  coupables;  ou  que  leur 
maitre  a  livres  pour  combattre  dans  l'amphitheätre;  ou  qu'il 
a  enfermes  dans  une  ecole  de  gladiature  ou  jetes  en  prison.« 
La  condition  de  dedititius  etant  la  pire  qu'un  affranchi  put 
connaitre  {pessima  libetias,  dit  Gaius,  I,  26),  on  comprend  que 
les  anciens  esclaves  qui  avaient  merite,  pendant  leurs  annees  de 
servitude,  le  chätiment  de  la  marque,  figurassent  en  tete  de 
cette  enumeration  des  dedititii. 

IV 

Revenons  maintenant  ä  nos  deux  comperes,  Echedore  et 
Pandare.  C'etaient  deux  Grecs  auxquels  ^^etait  arriTe  malheur». 
11s  avaient  ete  esclaves  en  Grece,  quoique  Grecs.  Piaton  vou- 
drait  que  les  Grecs  n'eussent  point  d'esclaves  grecs*,  mais  ce 
voeu  n'a  jamais  ete  entendu,  et  Piaton  lui-meme  a  connu  la 
servitude  ä  Egine.  Mais  autre  chose  etait  d'avoir  ete  esclave 
comme  Piaton,  et  esclave  de  marque  comme  Echedore  et  Pan- 
dare. Ou  peut-etre  nos  deux  personnages  avaient-ils  merite  la 
marque  comme  sacrileges.  De  toute  fa^'on,  ils  devaient  tenir 
ä  faire  peau  neuve.     Et  comme  l'art  humaiu  etait  impuissant 

»  Instit.,  I,  13.  »  Begles,  11. 

'  Qtii  servi  a  dominis  poenae  namine  vincti  sint  quibusve  Stigmata 
inscripta  sint.  Je  montrerai  ailleurs  (Rev.  et.  anc,  1911,  2«  fascicule:  »La 
legende  du  chätiment  de  l'Hellespont  par  Xerxes»)  que  la  double  boucle 
et  la  marque  sont  des  chätiments  serviles  qui  n'allaient  guere  Tun  saus 
lautre,  de  meme  que  dans  notre  ancien  droit,  »la  fletrissure  ou  marque 
avec  le  fer  chaud  etait  presque  toujours  jointe  ä  celle  du  fouet  ou  ä 
Celle  des  galeres  et  ne  se  pronon9ait  presque  jamais  seule«  (Jousse,  op. 
dt.,  t.  I,  p.  57). 

Eep.,  V,  p.  469b:  (ir,dk  "ElXriva  aQa  6ov}.ov  ixzfi6d-ai  avxovg. 


92  Paul  Perdrizet 

a  enlever  les  marques  du  cautere,  ils  eurent  recours  au  dieu 
d'Epidaure.  II  exau^a  Tun,  mais  aggrava  le  cas  de  l'autre, 
parce  que  Tun  avait  voulu  lui  payer  ses  honoraires,  tandis  que 
l'autre  se  les  etait  frauduleusement  appropries.  De  meme,  ä 
Athenes,  quand  Neocleides,  un  homme  politique  connu  par  ses 
malversations,  etait  alle  dormir  dans  l'abaton  d'Asclepios  pour 
obtenir  la  guerison  de  sa  chassie^,  le  dieu  avait  expres  aggrave 
son  cas,  sous  pretexte  de  le  guerir: 

Tbv  dh  NsoxlsCdrjv  ^äXXov  enoCrjösv  xv(pX6v} 

Que  penser  du  double  Xaiia  de  Pandare  et  d'Echedore? 
Que  retenir  de  cette  histoire  grecque? 

Les  steles  des  guerisons  etaient  afficliees  dans  le  sanctuaire, 
elles  ofifraient  aux  visiteurs  des  echantillons  du  savoir-faire  du 
Dieu,  soigneusement  choisis  par  les  pretres.  11  est  plaisant 
qu'elles  lui  attribuassent,  entre  autres  pouvoirs,  celui  de 
debarrasser  les  öny^arCai  de  leur  marque  d'infamie:  singuliere 
clientele  que  celle-lä! 

Ici,  quelques  observations  sur  les  noms  de  nos  deux  mira- 
cules  ne  seront  pas  hors  de  propos. 

Le  second  est-il  bien  un  nom?  Le  mot  d&Qov  a  souvent 
le  sens  d'»offrande«,  et  le  verbe  ex^iv  le  sens  de  »garder«. 
Ce  serait  une  harmonie  preetablie  bien  surprenante  qu'un 
homme  qui  avait  voulu  garder  pour  lui  une  ojfrande  destinee 
au  dieu  d'Epidaure  s'appelät  justement  Echedore.  Le  pretre 
qui  inventa  cette  histoire  pieuse  dut  choisir,  pour  designer  le 
triste  personnage  qui  en  etait  le  heros,  un  nom  transparent, 
du  genre  des  surnoms  ou  sobriquets  dont  le  Dieu  lui -meme 
gratifiait  les  gens  qui  lui  avaient  fait  tort,  par  exemple  les 
libres  penseurs:  ort  xoCvvv  efi^goö&sv  ccnCörsLg  avrolg  ovx 
iovöiv  ScjtCdroLs,  t6  Xoijthv  aötto  xb  „'l^^riffrog"  '6voiiu.^ 


'  NsoxXsiSi^g  u  yXäfiav  (Aristophane,  Ecclesiae.,  398). 

*  Ploutos,  747.  Cf.  Weinreich,  op.  laud ,  p.  96. 

*  Premiere  stele  des  "layLaxa,  1.  32—34. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  93 

Pandare  aussi  est  un  nom  etrange.  On  peut  feuilleter 
les  indices  des  recueils  epigraphiques  et  les  prosopographies, 
on  n'en  trouvera  pas  d'exemple.  Et  pour  cause!  ün  Grec  ne 
devait  pas  plus  etre  tente  d'appeler  son  fils  TldvdttQog  que  nous 
n'appellerions  un  enfant  Judas  ou  Ganelon.  Pandare  etait 
dans  la  legende  grecque  le  type  du  fourbe\  son  nom  etait 
synonyme  de  parjure.^  Les  honnetes  professeurs,  vengeurs  de 
la  bonne  foi  par  Pandare  si  souvent  offensee,  expliquaient  ä 
leurs  jeunes  eleves  que  ce  nom  signifiait  6  jcccvra  dgdöag  svexa 
xdgdovg  xal  aksovs^Cag.^ 

Bien  naifs  serions-nous  si  nous  tenions  Echedore  et  Pandare 
pour  des  personnages  historiques.  L'inscription  a  beau  nous 
assurer  que  Tun  des  deux  etait  de  Thessalie:  nombre  de  recits 
legendaires  contiennent  des  precisions  de  ce  genre,  sans  que 
l'historicite  du  recit  ou  des  personnages  en  soit  pour  autant 
garantie.  Sans  doute,  plus  d'un  miracle  relate  dans  les  steles 
d'Epidaure  a  son  origine  dans  quelque  ex  -  voto,  Statuette*  ou 
ycCva^}  Mais  rien  n'interdit  de  penser  que  d'autres  ont  ete 
inventes  de  toutes  pieces,  par  les  pretres.  Si  celui  dont  nous 
parlons  est  de  ce  nombre,  il  est  possible  d'expliquer  que  Pan- 
dare y  soit  donne  pour  Thessalien.  Dans  le  Ploutos  d'Aristo- 
phane^  la  deesse  Pauvrete  demande  ä  Chremyle:  »Quand  vous 
m'aurez  chassee,  quand  tout  le  monde  aura  de  quoi,  qui  tra- 
vaillera?  —   Les   esclaves.  —    Mais    comment   aurez-vous   des 


•  Cf.  Perdrizet,  Le  chien  d'or  de  Zeus,  dans  Bull,  de  corr.  heü.,  1898, 

pp.  584 — 586  (resume  dans  Röscher,  Lexicon,  s.  v.  Pandaros). 

-  Dion  de  Prouse,  LXXIY,  15  (t.  II,  p.  197  Arnim):  rör  äqiEvsexsQtav 
riavxwv  i]  JJavdäQov  (isörcct  (ikv  ayoQCcl  «»'©"pcöartar,  nsistal  6h  ccyviai. 
Antoninus  Liberalis,  XI,  1,  rapporte  d'apres  Y 'OQvi&oyovia  de  Boios,  une 
particularite  concernant  Pandare,  qui  n'etait  pas  faite  non  plus  pour  le 
rendre  sympathique  aux  gens  cultives:  Tlavöagsog  anisi  r^s  75s  rjy^ 
Ecfsaiag,  iv'  sctIv  vvv  6  JTpiicbv  Ttaga  Trjr  TtöXiv  m  SiSol  ^r}y,T)zr}Q 
döäQov  ^iriSinots  ßtxovv&iivai  rijv  yaerdga  vtco  git'kov  oTtöeov  av  TtXr^Q'og 
(l6svsyxr,Tai.  Cf.  Esmein,  dans  la  Nauvelle  revxie  hütorique  du  droit, 
1901,  p.  133.  '  Etym.  Magnum,  s.  nANJA'PESlK 

*  Syll-,  802,  1.  40.  5  Id,  ibid.,  1.  10. 


94  Paul  Perdrizet 

esclaves?  Qui  voudra  encore  se  donner  le  tracas  d'en  vendre? 
—  11  se  trouvera  toujours  bleu,  repond  Chremyle,  quelque 
Thessalien,  pour  venir  nous  en  proposer,  de  la  part  de  leur 
syndicat  de  marchands  d'hommes» : 

KsQÖaCvsiv  ßovköfisvög  rtg 
s^TtOQog  r]X(x}v  ix  &6<36alCag  TCagä  nXsCötav  ävdQUTCodLöxmv} 

Ainsi,  ä  la  fin  du  V®  siecle,  beaucoup  d'dvdQaTtodiötaC  etaient 
des  Thessaliens.  C'est,  sans  doute,  que  la  marchandise  dont 
ils  trafiquaient  se  trouvait  aisement  en  Thessalie:  la  trans- 
formation  d'un  peneste  en  esclave  devait  etre  un  fait  frequent. 
Les  marchands  thessaliens  embarquaient  leur  betail  humain  ä 
Pagases,  le  port  principal  du  pays.  Le  poete  comique  Hermippos, 
enumerant  plaisamment  dans  les  ^oQuocpÖQOi  les  produits 
caracteristiques  des  diverses  cites  grecques,  dit  de  Pagases  qu'elle 
avait  pour  specialite  les  esclaves  de  marque, 

AI  Uayaöal  dovXovg  xal  öny^atCag  %aQ8xov6Lv} 

Y  eut-il  beaucoup  de  öriy^uTCca,  encourages  par  l'exemple 
de  Pandare,  pour  aller  dormir  dans  le  dortoir  d'Epidaure? 
J'ai  peine  ä  le  croire:  les  coquins,  en  general,  ne  sont  pas  des 
sots,  et  ne  donnent  guere  dans  les  billevesees.  Si  vraiment 
Asclepios  avait  delivre  les  ex-esclaves  de  leur  note  d'infamie, 
on  lui  serait  reconnaissant  de  s'etre  penche  sur  ces  fronts 
fletris.  Mais  il  n'y  avait  ä  Epidaure  que  des  pretres,  bien 
incapables  d'effacer  les  tares  indelebiles.  Les  savants,  il  est 
vrai,  admettent  et  expliquent  que  certains  mystiques,  de  Con- 
stitution maladive,  ä  force  de  penser  aux  cinq  plaies  du  Christ, 
Boient  devenus,  dans  une  certaine  mesure,  des  «stigmatises  »^; 
mais  il  est  plus  difficile  de  croire  que  l'imagination  ait  produit 
l'effet  inverse,  qu'elle  ait  efface  les  raarques  de  quelques  ötty^atCcct, 


'  Ploutos,  521  —  622. 

*  Citd  par  Athenee,  p.  27  f  (Kock,  Com.  att.  fr-,  t-  1,  P-  243). 
".Cf.  Alfred  Maury,  La  magie  et  l'astrologie  dans  VAntiquite  et  an 
Moyen  Age.  3«  ^dit.,  pp.  365—422. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  95 

par  une   reaction  energique   du  physique  sur  le  moral,  ä  force 
de  foi  dans  la  puissance  et  la  bonte  d'Asclepios! 

Pour  faire  peau  neuve,  un  öriy^uccrCug  devait  employer 
d'autres  moyens  que  Fautosuggestion.  Ces  moyens  variaient 
Selon  que  les  stigmates  etaient  des  marques  au  fer  rouge  ou 
des  tatouages.  La  marque  au  fer  rouge  est  indelebile.  Mais 
il  etait  possible  de  lui  substituer  une  autre  cicatrice,  qui,  eile, 
n'avait  rien  d'infamant.^  Ou  encore,  on  essayait  de  la  cacher. 
Certains  la  cachaient  sous  une  bandelette.-  D'autres  laissaient 
pousser  leurs  cheveux  et  les  rabattaient  sur  le  front;  et  si  on 
leur  demandait  pourquoi  cette  coiflFare  singuliere,  ils  pouTaient 
repondre  avec  le  Dionysos  des  Bacchantes  (v.  194): 

'IsQog  6   nlöxafiog'  rä  ^Eä  S'avtbv  tgscfc), 
ils  pouvaient  pretendre  qu'ils  avaient  fait  ä  une  divinite  le  voeu 
de  ne  pas  couper  leur  chevelure,  pour  la  lui  oflfrir  un  jour.' 
La  place  du  marche,  a  Athenes,  fourmillait  de  ces  inquietants 
nazireens,  c'est  Diphile  qui  l'assure: 

'Sli!ir]v  iycj  xovg  Ix^vojccokag  rö  ngötSQOv 
slvai  TCovrjQOvg  zovg  'A&rjvTjöLV  tiovovg. 
T6öe  d\  ag  soixs,  tö  yivog  aöneg  ^rjQiov 
ixißovXöv  k6xL  T^  q>v6£i  xai  navxajov. 

*  Lacassagne  et  Magitot,  art.  cit.,  p.  96:  »En  Russie,  les  condamnes 
au  bagne  de  Siberie  qui  s'evadaient,  tächaient  de  faire  disparaitre  les 
lettres  revelatrices.  Des  nombreux  moyens  employes,  la  plupart  con- 
sistaient  ä  substituer  ä  une  cicatrice  d^jä  si  profonde  une  autre  cica- 
trice de  forme  quelconque,  que  les  evades  attribuaient  toujours  ä  la  gelee«. 

*  Porphyre,  Vie  de  Pythagore,  14  (p.  24  Nauck*):  Jiowaofpävr,?  öh 
Ib'/si  dovXivaca  fiir  Zaijiio|tr  rät  IIvd'ayoQoc,  i^neeövra  d'  slg  Xr]6täg  xai 
6Tix9ivta  .  .  .  df]6(xi,  rö  ^fxcoTCOv  dtä  ru  eriyyiMxa. 

'  Wilcken,  Haaropfer,  dans  la  Bevue  cöloniale  internationaJe,  1884; 
Robertson  Smith,  The  Religion  ofthe  Semites,  new  edition,  p.  325;  Frazer, 
Pausanias,  t.  IV,  p.  393;  Hartland,  The  Legend  of  Perseus,  t.  II,  p.  215; 
Hepding,  Attis,  seine  Mythen  und  sein  Kult,  RGW  I,  p.  162,  notes  4  et  5 ; 
Hubert  et  Mauss,  Melanges  d'histoire  des  religions,  p.  13.  Cf.  Theodoret, 
Quaest.  in  Levit,  §  28,  dans  Migne,  P.  G.,  LXXX,  337:  üätQ-aeiv  "EUrtvss 
|t^  anoxsiQfiv  rmv  naiSiav  vag  xogvcpcig  äXla  (laki-obg  iäi\  xai  rovzovg 
iura  xQÖtOf  äiuTid-fvat.  rotg  6aiuo6iv. 


96  Paul  Perdrizet 

'Evtavd-a  yovv  iötiv  tig  v:tSQ7jxovrLy.(bg, 

x6^7]V    XQS(pC3V    IIBV    TCQGiTOV    ISQOCV    tOV    dSOV^ 

&g  tpr]6iv  oi)  öiä  tovto  y,  aXX  aötiyfisvog 
Äpö  rov  (letcojtov  TtaQUTCstaöii    avtriv  «;f£t.^ 

Pour  empecher  les  öxiy^atlai  de  recourir  ä  ce  pieux  subterfuge, 
on  s'avisait  parfois  de  les  marquer,  non  sur  le  front,  mais 
entre  les  yeux.^  Certains  tächaient  de  dissimuler  quand  meme. 
Une  epigramme  de  Martial  trace  la  Charge  d'un  rastaquouere  qui 
passait  sur  les  trottoirs  de  Rome,  couvert  de  bijoux,  vetu  et 
chausse  par  les  meilleurs  faiseurs;  chose  singuliere,  il  avait  le 
front  constelle  de  mouches: 

Et  numerosa  linunt  stellantem  splenia  frontem. 
Ignoras  quid  sit?     Splenia  tolle,  legest 

A  l'inverse  de  la  marque  au  fer  rouge,  les  tatouages 
etaient  efFa9ables.  Les  medecins  anciens  avaient  ä  cet  effet 
des  moyens^  dont  plusieurs,  au  dire  des  gens  competents  ^,  ne 
different  pas  sensiblement  de  ceux  qu'on  eraploierait  aujourd'hui. 
Lucien  y  fait  aUusion.^    Martial  promet  ä  un  »ereinteur«  de  le 

^  Kock,  Com.  att.  fr.,  t.  II,  p.  563;  cf.  v.  Prott,  dans  Ath.  Mitt, 
1902,  p.  87.  Libanios  se  souvenait  peut-etre  de  ce  couplet,  quand  il 
ecrivait,  ä  propos  des  envieux,  dans  son  discours  Sur  l'Esclavage:  tbv 
rovSs  TOV  voGTj^axos  (sc.  (pQ'ovov)  ^inti-sav  Ttöäg  ovx  av  adiy.oir\v,  zl  xaXoir}v 
iXsvd'SQOv;  og  Ttävta  olxirriv  exiy^ccxiav  TtaQzXriXvQ'BV  ic^'v^iicc.  'O  /iev  ys 
icp8vrog  rov  ösaTCorov  xalg  vtcIq  rov  ^srcuTtov  d'Qi^lv  iTtixccraß^vai  evyycaXv^ag 
TOvvsLdog  ysXän]  av,  wg  dij  ovx  ißriy^itvog,  rov  äh  ovdhv  av  TtoiTjßsis  (li]  ovxi 
tTJueß&ai  {6d.  Reiske,  t.  II,  p.  68  =  ed.  Förster,  t.  II,  p.  546):  rapproche- 
ment  indique  par  Cobet,  dans  Mnemosyne,  t.  V,  p.  142. 

*  Lucien,  Piscatores,  46:  inl  rov  nsroanov  ßriyiiara  imßaXixb)  i] 
iyxavedxo)  Ttaga  xb  iisßdcpQVov. 

'  Epigr.,  II,  29.     La  le9on  quis  sit  est  mauvaise. 

*  Cf.  Friedländer,  Sittengeschichte^,  t.  I,  p.  394. 

*  Lacassagne  et  Magitot,  art.  l.,  pp.  145 — 150. 

*  Traiectus,  24:  PAJ.  TL  xovxo;  i%vi]  fihv  xai  6i]tisia  noXXä  xmv 
iyKav(idxav,  ovk  olöa  Sh  oTtag  i^aXrjXncxai,  fiäXXov  Sh  ixxexonxai.  Ilöag 
ravxa,  m  KvviöKS  .  .  .;  KYN.  'Eyca  ßot  (ppaco)  •  TtäXai  novr^gog  di'  Scnai- 
Sevaiav  ysvdfiEvog  xal  noXXa  diu  xovxo  iintoX/jOag  exiyyiaxa  insidij  xäxioxa 
(pi,Xoaoq)Btv  ^pla/iTjv,  xax'  oXiyov  ccnocöag  xäg  xrjXidag  ri)g  il^v^^g  6cTtsXovad(iTtv 
&yu&ä)  ys  ovxo)  Kai  äwaiiKarärco  xQ'H'^diiEvog  xä>  (paQfiäxw. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Ecbedore  etc.  97 

marquer  de  teile  £39011  que  l'habile  medecin  Cinnamos  n'y 
pourra  remedier.^  Ailleurs*,  il  nomme  un  autre  medecin  grec, 
Eros,  comme  expert  ä  ce  genre  de  eure.  Scribonius  Largus' 
en  nomine  un  troisieme,  Tryphon,  et  donne  la  formule  de 
l'emplätre  que  prescrivait  cet  habile  homme.  Aetios^*  et  Paul 
d'Egine  ^  nous  ont  conserve  des  fonnules  analogues:  celle  qu'avait 
inventee  le  medecin  Criton  etait  specialement  reputee.  Co- 
lumelle  preconise  au  meme  eflFet  une  plante  dont  il  ne  dit  pas 
le  nom,  saus  doute  parce  qu'il  ne  pouvait  le  faire  entrer  dans 
ses  hexametres: 

Lactis  gusium  quae  condiat  herba, 
Ddetura  quidetn  fronti  data  signa  fugarum, 
Vimque  suam  idcirco  profitetur  nomine  Crraw.^ 

Pline,  Galien,  Dioscoride,  Marcellus  recommandent  la  renon- 
cule^,    la    mandragore*,   la    fiente   de  pigeon  delayee   dans   du 

■  Epigr.,  VI,  64,  vers  24—26  (avec  la  note  de  Friedländer): 
Ät  si  quid  nostrae  tibi  bilis  inusserit  ardor, 
Vivet  et  haerebit  totaque  legetur  in  Urbe, 
Stigmata  nee  vafra  delebit  Cinnamus  arte 

*  Epigr.,  X,  56:  Tristia  servorum  Stigmata  delet  Eros. 

'  Scribonii  Largi  conpositiones  ed.  G.  Helmreich,  §  231:  Quatenus 
4xcrium  et  exulcerantium  medicamentorum  hdbita  est  mentio,  ponemtis,  qua 
Stigmata  tollantur.  Indignis  enim  multis  haec  calamitas  ex  transversa 
uccidit,  ut  dispensatori  Sabini  CaJvisi  naufragio  in  ergastulo  deprehenso, 
quem  Tryphon  tnultis  delusum  et  ne  casu  qiiidem  uUo  litteras  confusas 
häbentem  medicamento  liberavit;  alii  candidi  spicae  capitis  tritae  cum 
eantharidibus  viginti  Alexandrinis  —  sunt  autem  variae  et  oblongae  — 
sulphuris  vivi  p.-^I  et  victoriati,  chdlcitis  p.^  IS,  cerae  pondo  triens,  ölet 
pondo  triens;  ceram  contritis  ceteris  admiscuit  et  inposuit. 

*  Tetrabibh,  II,  serin.  iv,  c.  12. 

*  IV,  7,  d'apres  les  Commentaires  d'Archigene.  ^  X,  124 — 126. 
'  Pline,  Hist.  nat.,  XXV,  109:    ravuncxdum   vocamus,  quam  Graeci 

hatrachion.  Genera  eius  quattuor  .  .  .  Omnibus  vis  caustica.  Ideo  .  .  . 
ittuntur  .  .  .  ad  tollenda  Stigmata.  De  meme  Galien,  Oribase  (cito  par 
Paul  d'Egine,  IV,  7)  et  Dioscoride,  II,  205:  dura^tir  f;fft  lixtoTix^v  xal 
^Cj^apcoriXT/'r •   oO'si'  xori  eriyyiara  i^aigsi. 

*  Pline,  Hist.  nat.,  XXV,  110:  Stigmata  in  fade  mandragoras  inlitus 
delet.  Dioscoride,  III,  76:  7iciQUTQtß6(isvd  rs  cpv'/.Xu  Tcgöecpara  ^avögayoQOv, 
i'^'^XV  ^^^   W^QccS  c'  7)  s'  6tiy\LCira  avBv  xov  llxovr  a(f)avi^Bi. 

Archiv  f.  Keligionswissenechaft  XIV  7 


98  Paiil  Perdrizet 

vinaigre.^  Je  laisse  aux  savants  competents  le  soin  de  distin- 
guer  ce  qui  dans  ces  divers  remedes,  releve  de  la  medecine 
scientifique,  et  ce  qui  ressortit  ä  la  magie. 

V 

Nous  n'avons  parle  jusqu'ici  que  des  marques  de  fletrissure, 
infligees  surtout  aux  esclaves."  L'Antiquite  a  connu  des  stig- 
mates  d'autre  sorte,  ceux  des  soldats  et  ceux  des  adeptes  de 
certaines  religions:  je  voudrais  traiter,  en  guise  de  corollaire, 
des  uns  et  des  autres. 

Vegece  (383 — 450)  nous  apprend  que  les  recrues  (tirones) 
n'etaient  pas  tout  de  suite  considerees  comme  de  vrais  soldats. 
On  leur  faisait  subir  au  prealable,  durant  plusieurs  mois,  des 
exercices  d'epreuve;  apres  quoi,  quand  les  tirones  avaient  ete 
reconnus  aptes  au  Service,  on  les  inscrivait  sur  le  matricule  de  leur 
Corps.  Cette  inscription  comportait  quelque  ceremonie,  comme 
encore  de  nos  jours  le  serment  des  recrues  dans  les  armees 
monarchiques:  les  nouveaux  milites  pretaient  serment  ä  l'era- 
pereur,  et  recevaient  la  marque  militaire.^ 

Les  militaires  proprement  dits  ne  furent  pas  seuls,  durant 
le  Bas  Empire,  ä  recevoir  cette  marque.  Les  empereurs  l'im- 
poserent  ä  deux  corporations  que  leurs  fonctions  avaient  fait 
assimiler  ä  des  corps  de  troupe:  les  fabricenses  des  diverses 
fabricae  de  l'Empire,  et  ä  la  fin  du  V**  siecle  les  fontainiers  de 
Constantinople. 


'  Pline,  Hist.nat.,  XXX,  4,  p.  131  Mayhoff':  Stigmata  delentur  colum- 
bino  fimo  ex  aceto.  Marcellus  de  Bordeaux,  De  medicamentis,  eh.  XIX, 
§  25,  p.  183  Helmreicb. 

*  Vögece,  I,  8:  Non  statim  punctis  signorum  scribendus  est  tiro 
dilectus,  verum  ante  exercitio  pertemptandus ,  ut,  utrum  vere  tanto  operi 
aptus  sit,  possit  agnosci  ...  II,  6:  JHligenter  lectis  iunioribus  anitnis 
corporibusque  praestantibus ,  additiv  etiam  exercitiis  cotidianis  quatuor 
vel  eo  amplius  niensuum,  .  .  .  legio  formatur.  Nam  victiiris  fpicturis  n 
in  cute  punctis  milites  scripti,  cum  mxitriculis  inseruntur,  iurare  solent 
et  ideo  militiae  sacramenta  dicuntur. 


ri 

I 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  99 

Les  fabricenses^,  ouvriers  des  manufactures  d'armes  que 
l'Etat  entretenait  dans  toute  l'etendue  de  l'Empire,  etaient, 
comme  devraient  l'etre  les  ouvriers  de  nos  arsenaux  et  manu- 
factures militaires,  assimiles  aux  soldats.  Leur  Service  s'appelait 
militia.  Gertains  privileges,  tels.  que  l'excuse  des  charges  muni- 
cipales  et  la  dispense  de  donner  le  logement,  leur  assuraient 
une  conditio!!  assez  avantageuse  pour  que  les  curiales  tä- 
chassent  parfois  de  se  faire  indüment  recevoir  dans  les  fabricae. 
Ces  Privileges  avaient  leur  revers:  interdiction  de  travailler 
pour  les  particuliers,  de  quitter  la  manufacture;  pour  plus  de 
Bürete,  Tempereur  faisait  marquer  au  bras  les  fahicenses} 

Furent  encore  assimiles  aux  soldats  les  vdgo^pvXaxes,  ä 
qui  etait  confie  le  Service  des  eaux  de  Constantinople.  L'impor- 
tance  de  ce  Service  n'etait  pas  moindre  dans  la  Nouvelle  Ronie 
que  dans  TAncienne;  encore  aujourd'hui,  dans  l'une  et  dans 
l'autre,  eile  est  attestee  par  des  monuments  imposants.  La 
Constitution  de  Zenon  (474 — 491)  concernant  les  vÖQOfpvXuxss 
j  de  Constantinople  compare  leur  Service  au  service  militaire:  c'est 
I  une  garde  oü  l'on  ne  peut  pas  plus  tolerer  de  negligence  ou  de 
desertion  que  dans  celle  du  rempaii  ou  du  camp.*  Ainsi  se 
justifie  la  marque  militaire  ä  laquelle  sont  soumis  les  vÖQOipvJiUiiB^. 

'  Je  suis  le  lumineux  expose  de  Jnllian,  art.  FABRICA  du  Dict. 
des  antiquites. 

*  4  Cod.  Theod.,  X,  22  (De  fabricenaibus) :  Itnperatores  Areadius  et 
Honorius  Augusti  Hosio  magistro  officiorum.  Stigmata,  hoc  est  nota 
publica,  fabricensium  brachiis  ad  itnitationt^m  tirorium  infligatur,  ut  hoc 
modo  saltem  possint  latitantes  agnosci:  his,  qui  eos  susceperint  vel  eonim 
lihero^,  sine  dubio  fabricae  vindicandis ,  et  qui  svhreptione  qtuulam 
deelinandi  operis  ad  publicae  cuiuslibet  sacramenta  militiae  transierunt. 
Dat.  XVIII  Kai.  ian.  Constantinopoli  Honorio  Augusto  IV  et  Eutychiano 
consulibus  (  a.  d.  398). 

'  10  Cod.  last.,  XI,  43:  Imp.  Zeno  A(ugiistusj  Spontio  . . .  Universos 

aquarios  vel  aquarium  custodes,  quod  hydrophylacas  nominant,  qui  omnium 

(aeductuum  huius  regiae  urbis  custodiae  deputati  sunt,  singulis  manibus 

'im  felici  nomine  nostrae  pietatis  imprisso  signari  decernimus,  ut  huius- 

di  adnotatione  manifesti  sint   omnibus  nee  a  procuratoribus  domorum 

quolibet   alio   ad   xtsus  alios  avellantur  vel  angariarum  vel  operarutn 

7* 


100  Paul  Perdrizet 

VI 

Les  Peres  de  l'Eglise,  tant  grecs  que  latins,  fönt  frequemment 
allusion  ä  la  marque  militaire.^  Cela  vient  de  ce  qu'ils  com- 
parent  sans  cesse  leur  secte  ä  une  armee,  leurs  eglises  ä  des 
forteresses,  leurs  couvents  ä  des  camps,  les  fideles  ä  des  soldats, 
les  apostats  ä  de^  deserteurs,  etc.,  au  point  qu'on  a  pu  ecrire 
tout  un  livre  sur  cette  comparaison.^  Elle  apparait  dejä  dans 
les  plus  anciens  documents  chretiens,  les  epitres  de  Paul. 
Et  Paul  ne  l'a  pas  inventee,  car  avant  lui  les  Stoiciens  et  les 

nomine  teneantur.  Quod  si  quem  ex  isdem  aquariis  mori  contigerit,  eum 
nihilo  minus  qui  in  locum  defuncti  subrogatur  signo  eodem  notari  praeci- 
pimus,  ut  militiae  quodammodo  sociati  excubiis  aquae  custodiendae  in- 
cessanter  inhaereant  nee  muneribus  dliis  occupentur. 

'  Cyprien,  Ad  Donalum,  p.  6  Baluze:  tu  tantum,  quem  iam  spiri- 
talibus  castris  caelestis  militia  signavit,  tene  incQrruptam,  tene  sobriam 
religiosis  virtutibus  disciplinam.  (La  date  de  l'epitre  ä  Donat  ne  pent 
etre  fixee  avec  pröcision:  cf.  Schanz,  Rom.  Litt,  t.  III*,  p.  386).  — 
Ambroise,  De  obitu  Valentiniani  iunioris  consolatio  (ecrite  en  392),  eh.  58: 
charactere  domini  inscribuntur  et  servuli,  et  nomine  imperatoris  signantur 
milites  (Migne,  P.  L.,  XVI,  1377).  —  Jean  Chrysostome  (f  407),  3«  sermon 
sur  la  II«  Epitre  aux  Corinthiens,  sub  fin. :  Ka&ccTCSQ  etQccrimraig  cqppayis, 
ovTco  KatcidriXog  yivf]  näeiv  (Migne,  P.  G.,  LXI,  418).  Anrieh  (Mysterien- 
■wesen,  p.  124)  cite  la  traduction  latine  de  ce  texte,  d'aprfes  Marini  {Bull, 
di  arch.  crist.,  1869,  p.  24) :  ni  Tun  ni  l'autre  n'en  avait  donne  la 
refdrence.  —  Jörome  (f  420),  Ad  Esamm:  scribet  in  manu  sua  DEI  SVM, 
ut  novo  tirocinio  servitutis  Christi  se  militem  glorietur  (Migne,  P.  L., 
XXIV,  435).  —  Adtios  (VI«  s.:  cf.  Wellmann,  dans  Pauly-Wissowa,  I,  708), 
Tetrabibl.  II,  4,  eh.  12 :  erlynaxa  Kalovöi  rcc  inl  rov  TtQoßwTtov  t)  ciXXov 
rivbg  (iBQOvg  rov  Gmfiarog  i7CiyQCC(p6[i,Bva,  olä  iexi  x&v  6tQaTevo(isvav  iv  raig 
XSQßr-  ce  texte  a  6t6  souvent  attribue  ä  Elien,  par  nne  confusion  qui, 
comme  l'a  notö  Ebbesen  (op.  l.,  p.  20),  semble  imputable  ä  GrotiuB 
(Opera  theologica,  t.  II,  p.  1206). 

*  Harnack,  Militia  Christi  (Berlin,  1905).  Le  sujet  avait  6t6 
•esquiss^  faiblement  par  Koffmane,  Entstehung  und  EntwicJcelung  des 
Kirchenlateins  bis  auf  Augustinus- Hi er onymus  (Berlin,  1879),  p.  »9—61. 
Voir  encore  Cumont,  Les  religions  orientales  dans  le  paganisme  romain 
(Paris,  1907),  p.  XIV.  Quand  Sulpice  Sävfere  dit  de  Martin,  candidatm 
inter  scholares,  qu'il  ötait  »candidat  au  baptßme«,  agebat  baptismi 
candidatum  {Vita  Martini,  II,  §  8),  il  joue  probablement,  comme  l'a  r^ 
JuUian  {Bev.et.anc,  1910,  p.  269),  sur  l'expresBion  militaire  de  candidatum 


La  miraculetise  histoire  de  Pandare  et  d'Ech^dore  etc.         101 

Cyniques'   comparaient    leur   secte    ä    une    armee,    leurs    chefs 
d'ecole  ä  des  generaux. 

Comme  les  soldats  de  rempereur,  les  chretiens,  qui  sont  les 
soldats  du  Christ,  sont  marques  d'un  stigmate,  mais  d'un 
stigmate  spirituel  et  invisible.  Ou  encore,  ils  sont  marques 
comme  les  brebis  d'un  troupeau,  parce  qu'ils  sont  les  ouailles 
du  Christ.'  Cette  marque  mystique,  que  le  Christ  comme  chef 
de  l'armee  chretienne  imposait  ä  ses  soldats,  et  comme  pasteur 
a  ses  brebis,  etait  le  signe  de  la  confirmation.  Dans  les 
Premiers  siecles  de  l'Eglise,  la  confirmation  suivait  immediate- 
ment  le  bapteme.^  Celui-ci  etait  une  sorte  de  contrat,  la  con- 
firmation en  etait  Vobsignntio:  l'eveque  la  donnait,  en  qualite 
de  representant  de  la  communaute;  on  la  designait  par  les 
Bubstantifs  6g)QayCs*,  Signum,  signactdum,  et  par  les  verbes 
6ifQaylt,SLv,  sigtiare,  consignareJ'  Avec  l'huile  sainte,  xQiö^a, 
l'eveque  tra9ait,  de  la  main  droite,  une  croix  sur  le  front 
du  fidele.^  Ce  rite  s'explique  par  des  raisons  scripturairee, 
dont  nous  devons  ici  dire  quelques  mots.' 

*  Lucien,  Fugitici,^:  ^lAOZO^IA.  Elei  Ttvfs,  w  Ztr.  iv  iiiruixfiia) 
x&v  T£  noi.}.(bv  xat  zöbv  q:iko60(fOvvT(ov  .  .  .  a|ioröt  vtc  iuot  TcrrföO'af 
%al  Tovvo^u  rö  TjyifTSQOi'  iniyQcc(povTai.  —  16:  rar  dio-/fvr,v  xal  'AiTied'ivriv 
%al  Kgarr^Tu  ^7CiyQa(po(i4vo}v  xal  v-xb  tm  xvvl  ravxoiJisvav. 

*  üne  inscription,  qui  n'est  connue  que  par  la  Sylloge  Virdunensis 
et  qui,  d'apres  De  Rossi,  devait  orner,  dans  la  basilique  de  Saint  Pierre 
au  Vatican,  le  baptistere  eleve  par  le  pape  Damase,  commengait  ainsi  (De 
Rossi,  Inscr.  christiana*  JJrhis  Bomae  VIl-^  saeculo  ayüiquiores,  II,  1,  p.  138): 
Istic  insontes  caelesti  ftumine  Iotas  \  Pastoris  sitmvii  dextera  signat  oves. 

*  Cf.  l'article  Confirmation  dans  V Encyclopedie  des  sciences  religieuses 
de  Lichtenberger;  De  Rossi,  dans  Bull,  di  arch.  crist.,  1869,  pp.  28 — 31; 
Anrieh,  Das  antike  Myterienwesen  in  seinem  Einfluß  auf  das  Christen- 
tum (Göttingen,  1894),  p.  123. 

*  Par  ex.  rrjr  dsOTcoTixTjv  cqiQuylda  dans  Theodoret,  Hist.  eccl.,  IV, 
18,  p.  339  Gaisford,  avec  la  note  de  Valois. 

'  Voir  les  exemples  reunis  par  Baluze  dans  son  edition  de  Cyprien 
(Paris,  1726),  p.  464,  et  par  Koffmane.  op.  l,  p.  83. 

^  Prudence,  Psychomachie,  360—61. 

'  Cf  Locard,  Le  tatouage  chez  les  Hebreux,  dans  les  Ärchives 
d'anthropologip  criminelle,  1909,  p.  56  sq. 


102  Paul  Perdrizet 

Entre  autres  visions  dont  fut  favorise  Ezechiel,  on  se 
rappelle  celle-ci:  le  prophete  vit  sept  anges  sortant  du  Temple; 
six  portaient  des  massues;  le  septieme  portait,  comme  les  scribes, 
l'ecritoire  ä  la  ceinture;  ä  celui-ci  l'Eternel  dit:  »Passe  ä  travers 
Jerusalem,  et  trace  une  marque  sur  le  front  de  ceux  qui 
deplorent  les  abominations  qui  s'y  coramettent.«^  Or  marque 
en  hebreu  se  dit  tav,  ce  qui  est  aussi  le  nom  de  la  derniere 
lettre  de  l'alphabet  hebrai'que,  lettre  dont  la  forme,  sur  les 
monuments  les  plus  anciens,  est  pareille  au  tau  grec  ou  encore 
ä  la  potence  dont  on  se  servait  pour  crucifier,  T.  De  lä  vient 
la  traduction  traditionelle:  »Trace  un  tau,  T,  c'est  ä  dire  trace 
une  croix  sur  le  front  des  justes^^,  traduction  tendancieuse,  qui 
transforme  ce  verset  en  une  prophetie  de  la  Crucifixion. 
C'est  encore  le  signe  de  la  croix,  T,  que  la  tradition  a  reconnu 
dans  la  ßfpQayig  &sov  t,&vtog  dont  l'ange  avait  marque  les 
144000  esclaves  deDieu  quientourent  l'Agneau  de  l'Apocalypse.^ 
C'est  lui  encore  que  la  tradition  chretienne  retrouve  dans  le 
texte  de  VExode  concernant  l'institution  de  la  Päque:  »Vous 
prendrez  du  sang  de  l'agneau,  et  vous  en  mettrez  sur  les  mon- 
tants  et  sur  le  linteau  des  maisons  oü  vous  serez  .  .  .  et  ce 
sang  sera  un  signe,  tau,  en  votre  faveur:  quand  Je  verrai  ce 
sang.  Je  passerai  outre,  et  le  fleau  destructeur  ne  vous  atteindra 
pas  quand  J'en  frapperai  l'Egypte.«^ 

De  la  combinaison  de  ces  deux  textes  d'Ezechiel  et  de 
VExode  devait  sortir,  au  Moyen  Age,  un  double  theme  sym- 
bolique,   dont  les   deux  parties   se  repondent  comnie   les   deux 


*  Ez^chiel,  IX,  4:  SitlQ'e  fisßiiv  'l8Q0v6<xXi]^i.  xal  öog  67)(ieiov  tn}  tc. 
(liroiTCa  x&v  ccvögäv  t&v  ■naTaGXivaiövTOiv.  Cf.  Reuss,  Jja  Bible:  /.'.'' 
Prophetes,  p.  31. 

*  Äpoc.  Joan.y  VII,  2:  xai  i'dov  aXXov  ciyyBXov  .  .  .  i';uo»'ra  acpQuytda 
&soi}  ^mvTog  ...  3:  aq}Qayi6o}(isv  rohg  SovXovg  toI»  Qtov  ijii&v  M  rmv 
listmifwv  «vrcov. 

"  Exode,  XII,  7 :  Yul  Xi'milfovrcd  äno  tov  ainaro*;.  xcct  d'i'jßoveiv  fnt 
xibv  dvo  CTud'iiwv  Kul  M  rriv  cpXiccv  ...   13:  xo:>   fffra«    ro    aJiia    vfitr   H' 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Ech^dore  etc.         103 

volets  d'un  triptyque:  le  Crucifiement  de  Jesus,  cloue  ä  une 
croix  en  forme  de  T,  s'encadrait  enb-e  ces  deux  prefigures,  les 
Israelites  marquant  du  T  leurs  maisons,  et  Tange  marquant  du 
T  les  justes  de  Jerusalem. 

De  ces  deux  textes  encore  etaient,  des  les  premiers  siecles 
du  Christianisme,  sortis  deux  rites,  celui  de  la  confirmation, 
dont  nous  venons  de  parier,  et  celui  de  marquer  avec  des  croix  les 
maisons,  aux  montants  et  aux  linteaux  des  portes  et  des  fenetres, 
tant  les  maisons  des  morts  que  les  demeures  des  vivants  et 
que  les  eglises.  C'est  l'habitude,  chez  les  Orthodoxes,  que  le 
jour  de  Päques,  le  papas  vienne  tracer,  avec  un  cierge  allume, 
une  croix  enfumee  sous  le  linteau  des  maisons.  Dans  oette 
coutume  persiste  un  rite  qui  remonte  aux  plus  anciens  temps 
du  Christianisme:  qu'on  se  rappeile  les  croix  dont  sont  accom- 
pagnees,  en  Asie  Mineure,  en  Egypte,  en  Syrie,  les  inscriptions 
chretiennes.  Dans  ces  textes  epigraphiques,  qui  suent,  si  j'ose 
dire,  la  superstition  et  la  peur,  oü  Ton  devine  la  place  que 
tenait  alors  dans  la  pensee  des  hommes  la  crainte  du  Demon, 
de  la  magie  et  du  mauvais  oeil,  ce  n'est  pas  l'inscription  meme, 
c'est  la  croix  dont  eile  est  precedee  ou  accompagnee,  qui  est 
l'essentiel:  on  s'en  rend  compte  souvent  ä  lire  l'inscription 
eile -meme:  rov  ötavgov  Jiagövxog  ix&Qog  ov  xariGxvöt^  —  rov 
olxov  rovxov  Kvgiog  diatpvXätsi  Trjv  siöodov  xai  tiJv  eHodov, 
rov  etavQOv  yäg  7tQOxsi[isvov  ovx  löxvßSL  öff&ulßbs  ßdöxavog^ 
—  t6  öti^lbIov  tovto  vixä^  —  iv  rovra  oi  niGxol  vixov6iv\ 
etc.  Souvent  la  croix  n'est  accompagnee  d'aucun  texte:  ä  eile 
seule,  eile  suffit  pour  ecarter  le  Malin. 


*  Fublicatians  of  an  American  Archaeological  Expedition  to  Syria 
in  1889—1900.  —  Part  III:  Greek  and  Latin  Inscriptions,  by  W.  K'. 
Prentice,  n»«  91,  320,  328,  S31. 

-  Prentice,  p.  20.     La  fonnule  initiale  est  empruntee  ä  Fs.  CXXI,  8; 
cf.  Waddington,  Inscriptions  de  Syrie,  nos  2646,  2662  a. 
=  Prentice,  n»»  201,  210,  219,  237,  255. 

*  Cousinery,    Voyage  dans  la  Macedoine  (Paris,  1831),  t.  I,   p.  124. 


104  Paul  Perdrizet 

II  convient,  je  crois,  d'insister  sur  la  connexite  des  deux 
rites,  celui  de  tracer  la  croix  au  front  des  neophytes,  et  celui  de 
la  tracer  au  linteau,  autant  dire  au  front  des  eglises  et  des  maisons 
chretiennes.  Les  docteurs  Lacassagne  et  Magitot  ont  dit  avec 
beaucoup  de  justesse  que  »les  grafßi  sont  les  tatouages  des 
murailles«:  le  mot  est  vrai  d'autres  graffiti  encore  et  d'autres 
tatouages  que  de  ceux  dont  les  deux  savants  maitres  en  me- 
decine  legale  entendaient  parier. 

Les  fideles,  dans  les  religions  orientales,  desiraient  devenir, 
comme  dit  VÄpocalypse  (VII,  3)  »esclaves  de  Dieu«,  dovXovg 
Tov  @sov :  ils  se  faisaient  donc  graver  sur  la  peau  une  marque, 
par  analogie  avec  la  marque  servile;  et  ils  trouvaient  bon  aussi 
de  la  graver  sur  leurs  maisons  et  sur  leurs  tombeaux.  Ainsi, 
le  stigmate  religieux  s'est  detache,  si  l'ou  peut  dire,  du  corps  hu- 
main  pour  devenir  une  sorte  de  caractere  epigrapbique.  La  feuille 
de  lierre  qui  tatouait  le  Dionysiaste  du  sexe  fort,  marque  aussi  la 
stele  du  Dionysiaste  defunt,  comme  le  montre  la  stele  d'Ery- 
threes,  recemment  publiee  par  Wilamowitz ;  ^  et  continuant  ses 
avatars,  eile  finit  par  devenir  un  signe  prophylactique,  qui  termine 
ou  ponctue  les  inscriptions.  De  meme  pour  la  croix  qui,  ä  force 
de  figurer  dans  les  inscriptions  prophylactiques,  devint  ä  la 
longue  un  simple  signe  d'ecriture,  servant  ä  marquer  le  com- 
mencement  et  la  fin  d'un  texte,  parfois  ä  en  separer  les  mots. 

Les  anciens  Rabbins  croyaient  pour  la  plupart^  que  le 
signe  mysterieux  mis   sur  Qaün  par  Jahve^  etait  une  marque 

*  Nordionische  Steine,  p.  13 — 15,  dans  les  Abhandlungen  de  TAca- 
d^mJe  de  Berlin,  1909. 

*  Cf.  Ebbesen,  op.  l.,  p.  7:  Rabbini  Cainum  stigmate  notatum  fuisse 
plerique  affirmant,  et  quamvis,  qua  in  re  constiterit,  dissentiant  inter  se 
ac  digladientur ,  in  eo  tarnen  fere  ipsis  convenit,  quod  hoc  Signum  instar 
Stigmatis  Caino  sit  a  Deo  ipso  impositum. 

'  Genese,  IV,  16:  xai  fO-sro  Kvqiog  6  Qbos  crutitov  tmKäiv  toü  (lii 
&VBks[v  wbrov  Ttävta  tu  eigißxovTu  uvröv.  Reuss  (La  Bible:  VHistoire 
Sainte  et  la  Loi,  t.  I,  p.  304)  rejette  cette  Interpretation:  »Nous  ne 
eaurions  dire,  dcrit-il,  a  quoi  l'auteur  a  songä  en  parlant  d'un  signe;  en 
tout  cas,  ce  n'^tait  pas,  comme  le  veut  Tex^gese  traditionnelle  et  populaire, 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         105 

du  genre  de  Celles  dont  nous  parlons.  Quoiqu'il  en  soit  de 
ce  passage  obscur  de  la  Genese,  il  est  sür  que  les  Juifs  pra- 
tiquerent  d'abord,  comme  toutes  les  autres  tribus  semitiques 
leurs  voisines,  le  rite  de  la  Stigmatisation.  On  en  a  la  preuve 
peut-etre  dansun  passage  du  XI 11^  chapitre  de  Zacharie  ^,  chapitre 
qui  remonte,  croit-on,  au  VIP  siecle,  en  tout  cas  dans  le  Pseudo- 
Isaie*,  qu'on  date  generalement  de  la  fin  de  l'exil  en  Babylonie: 
un  temps  viendra,  predit  le  Voyant,  oh  TEtemel  fera  gräce  a 
son  peuple,  oü  les  Israelites  porteront,  grave  sur  la  main, 
le  nom  de  Jahve:  ovtos  IqsI'xov  0£Ov  slfii,  xai  ovrog  ßorjösrai 
inl  rq)  ovoiiaxt,  'la/.aß,  Tcal  stsqos  £:iiyQdip£L  x^^Q''  «vrov  tov 
060V  elfii.  Mais  cette  fa^on  materielle  de  concevoir  le  Service 
de  Dieu  devait  repugner  assez  vite  aux  Israelites  d'esprit  eleve. 
Ainsi  s'explique,  assez  peu  de  temps  apres  le  Pseudo-Isa'ie, 
l'interdiction  formellement  exprimee  par  le  Levitiqiie,  XIX,  28: 
ygä^Hara  6xixxa.  ov  ycoirfösxs  iv  v^ilv!^  En  sorte  que  la  Bible 
contient,  touchant  la  Stigmatisation,  deux  textes  contradictoires, 
Fun  qui  la  preconise,  l'autre  qui  la  defend.  De  lä  vient 
que  parrai  les  Eglises  d'Orient,  les  unes  ont  rejete  ce  tres 
rieux  rite  de  consecration,  et  les  autres  Tont  garde: 
l'aversion  des  Grecs  Orthodoxes  pour  le  tatouage*  provient  en 

une   marque    au    front   de    Qain,    car   cette  marque  l'aurait  fait  aussitöt 
reconnaitre.o     Et   il   traduit:    >L"Eternel   etablit   un  signe  en  faveur  de 
Qain,  pour  qu'il  ne  füt  pas  expose  ä  etre  tue  par  le  premier  venu.« 
'  Zacharie,  XIII,  6. 

*  Ps. -Isaie,  XLIV,  5.  Plusieurs  MSS  omettent  xbiqX  avror  (voir 
l'apparat  critique  de  Swete).  Reuss  {Les  Prophetes,  t.  II,  p.  224)  e'crit: 
»La  phrase  xal  irsgog  iTtiyqdipii  xbiqI  avrov  tov  Geov  sl(ii  fait  allusion  ä  la 
coutume  ancienne  de  tatouer  le  nom  de  leur  maitre:  cf.  Ep.  aux  Galates, 
VI,  I7<'f.  Reuss  a  raison,  de  maintenir  contre  les  hesitations  de  Gesenius 
{Commentar  über  Jesaia,  Leipzig,  1821,  t.  II,  p.  79),  qu'il  s'agit  d'un 
tatouage.  Mais  il  se  trompe  en  rapprochant  ce  texte  de  ceux  qui  con- 
cernent  le  stigmate  servile  et  en  comptant  parmi  ceux-ci  le  passage  de 
\'Ep.  a%ix  Galates. 

'  Cf.  Spencer,  De  legibus  Hebraeorum  ritualibus,  II,  14. 

*  Lacassagne  et  Magitot,  art.  l,  p.  96,  la  signalent  chez  les  Russes, 
sans  l'expliquer.     En  Greoe,  les  gens  tatoues  sont  fort  rares. 


106  Paul  Perdrizet 

fin  de  compte  du  Levitique,  tandis  que  le  Pseudo-Isaie  justifie, 
pour  les  Syriens  Catholiques,  pour  les  Jacobites,  les  Nestoriens 
et  les  Coptes,  les  tatouages  religieux  dont  ils  se  marquent  le 
poignet.  Le  vieil  Orient  est  impuissant  ä  se  delivrer  de  ses 
superstitions  millenaires.  Bien  des  Juifs  memes  ne  devaient 
obeir  qu'ä  regret  ä  la  defense  du  Levitique,  tant  etait 
grande  la  coutagion  de  l'exemple  et  puissantes  les  habitudes 
hereditaires.  C'est  pour  faire  peur  ä  ces  hesitants  que  fut 
inventee,  je  suppose,  Vhaggada  du  roi  Joachim.  La  Bible 
disait  de  lui,  tres  brievement,  qu'il  avait  fait  ce  qui  est  mal 
aux  yeux  de  l'Eternel,  et  que  pour  cette  cause,  l'Eternel  per- 
mit  au  roi  Nabuchodonosor  de  l'emmener  en  captivite  a 
Babylone. ^  Mais,  sur  les  fautes  de  Joachim,  les  Rabbins 
en  savaient  plus  long  que  la  Bible:  ils  racontaient  qu'en- 
tre  autres  crimes  contre  Dieu,  Joachim  avait  commis  celui 
de  se  faire  marquer  sur  le  corps  le  stigmate  du  faux  dieu 
Todonazer,  ce  qui  fut  constate  apres  sa  mort,  sur  son 
cadavre:  et  voilä  pourquoi  l'Eternel  avait  livre  Joachim  ä 
Nabuchodonosor.  Cette  hagyada  est  l'une  de  Celles  que  les  doc- 
teurs  catholiques  du  Moyen  Age  ont  empruntees  aux  Rabbins^; 
ils  l'avaient  apprise,  ce  semble,  du  Juif  converti,  Hehraeus  in  legis 
scientia  ßorens  (comme  l'appelle  Raban  Maur),  qui  au  VHP  siecle 
ecrivit  les  Quaestiones  hehraicae  in  libros  Paralipomenon.^ 


'  II  Chron.,  eh.  36. 

*  Sur  les  legendes  d'origine  haggadique  daus  le  catholicisme 
m(idieval,cf.  monEtude  sur  le Speculum  hunianae  sahationis  Paris,1908,ch.V. 

"  Sur  l'auteur  des  Quaestiones  hehraicae,  cf.  S.  Berger,  Quam  noti- 
tiam  Unguae  hehraicae  hahuerint  Christiani  Medii  Aevi  ieniparihus  in 
Gallia  (these  Paris,  1893)  et  mon  Eütde  sur  le  S.  H.  S.,  p.  79.  Voici 
le  passiige  des  Quaestiones  oü  est  racontee  Vhaggada  de  .loachiro :  Inter 
cetera  mala  quae  gessit,  etiam  hoc  fecit  in  corpore  suo,  quod  Dominus 
prohihuit,  dum  diceret:  Ne  stigma  facietis  in  coi*poribu8  vestris,  qtine 
postquam  mortuus  est,  in  corpore  eitis  inventa  sunt.  Huc  spectat  quod 
Hehraei  rcferunt,  stigmata  scilicet  in  occisi  loachimi  corpore  repcrta, 
quihus  religionis  desertae  iestimonium  inerat,  nomen  daemonis  stii  Codo- 
nazer   expressissc   (Qu.  hehr,  in  lih.  II  Paralip.  XXXVI,  8,   dans  Migne, 


La  miracnleuse  histoLre  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         107 

Dans  la  vision  de  Jean,  les  144000  dovXoi  rov  &eov  qui 
entouraient  l'Agneau  sur  la  montagne  de  Sion  portaient  le 
nom  de  l'Agneau  et  celui  de  son  Pere  inscrits  sur  leurs  fronts'; 
et  la  Bete  sortie  de  la  terre  avait  oblige  tous  les  hommes, 
libres  ou  esclaves,  ä  s'imprimer  une  marque  au  front  ou  ä  la 
main  droite.^  Cette  marque  etait  soit  le  nom  de  la  Bete,  soit 
le  nombre  (ccQL&^uog,  i(t^(pog)  de  ce  nom:  et  ce  nombre  etait  666, 
la  tl^ficpog  du  nom  de  Neron,  Plusieurs  heresies  chretiennes 
conserverent  le  rite  du  stigmate  religieui:  preuve,  entre  bien 
d'autres,  que  les  heresies  comportaient  une  forte  part  de  sur- 
vivances.  Des  t^xtes  sur  lesquels  nous  reviendrons  plus  loin 
attestent  l'existence  de  niarques  de  consecration  chez  les 
Carpocratiens.  Un  moine  manicheen  d'Afrique,  ä  la  fin  du 
V"  siecle,  aurait  porte  sur  la  cuisse  une  inscription  ainsi  con- 
^ue:  MANICHAEVS  DISCIPVLVS  CHRISTI  lESV.»  De  ce 
curieux  temoignage,  on  rapprochera  la  description  que  l'Apo- 
calypse  fait  du  Christ  vainqueur  de  la  Bete:  >Sur  son  manteau 
et  sur  sa  cuisse  etait  inscrit  son  nom,  Roi  des  rois  et  Seigneur 
des  seigneurs  .*  On  en  rapprochera  encore,  sinon,  comme  le 
voulait  Montfaucon\  les  statues.ou  statuettes  antiques,  grecques 

P.  i.,  XXUI,  1402).  D'oü  Pierre  le  Mangeur,  Eist,  schal,  L  IV  Regum, 
c  XXXIX,  dans  Migne,  P.  L,  CXCVIII.  1421:  Stigmata  sttnt  inventa  in 
corpore  occisi  contra  legem,  id  est  nomen  idoli,  quod  colebat,  Codonazer. 

*  Apoc.  Joan.,  XIV,  1 :  xai  idov,  xa/  Höh  rö  ügviov  ierög  ^nri  rö  oqo^ 
Himv,  xai  ^£r'  avTOV  Ixarör  rseeagcixorTa  reeeagsg  ;{iitadf  j  l/ouöat  rö  ovofia 
avTOv  xcil  to  livo^a  rov  Ttargög  airrov  ye'/Qaftusvov  irtl  rätv  usTmTtoiv  avrmr. 

*  Id.,  XIII,  11:  xal  bIöov  u'/lXo  9}]Qiov  ccvaßaivov  ix  t^c  y^S  •••  16: 
xai  Tcoisl  nävrcic  .  .  .  Tovg  ikBvd'foovs  xat  roiv  doi-Äot'?,  tva  ämaiv  avTot^ 
j^ägayficc  inl   Ti]i  ;j^fipös   avT&v  r/jc  df^iäg  t)  ^:ri   rö  uf'rojrror  avT&v. 

'  Victor  Vitensis,  De  persecutione  Vandalica,  debut  du  1.  II  (Migne, 
P.  L.,  LVin,  201):  De  Manichaeis  repertus  est  unus,  nomine  Clementianus, 
monachuft  illorum,  scriptum  habens  iu  femore  etc.  Dans  quelques  MSS, 
les  pieux  copistes  ont  fait  a  ce  Clementianus  la  gracieusete  de  l'appeler 
Dementianus. 

*  Apoc.  Joan.,  XIX,  16:  xal  i^^i  tTcl  rö  tjiärtov  xcci  l:ri  rör  ii7,q6v 
^xi'rov  ovo(uc  ysygafnuvov  Ba6ii.bvg  ßaöiXiav  xal  KvQiog  xvgiav. 

'"  L' Antiquiti  expliquee,  t.  III,  2e  partie,  p.  268. 


108  Paul  Perdrizet 

et  etrusques,  qui  portent  des  inscriptions  votives  sur  la  cuisse^ 
mais  des  pierres  gravees  comme  le  camee  du  Cabinet  de 
Vienne^,  qui  represente  un  dieu  debout,  tenant  le  foudre,  et 
portant  sur  les  cuisses  des  'EcpEßia  yga^^ara.  L'inscription 
d'une  dedicace  sur  la  cuisse  d'une  statue  ou  d'une  Statuette 
temoigne  simplement  de  la  mefiance  du  donateur;  quand  la 
dedicace  etait  gravee  sur  la  base,  il  etait  possible,  eu  changeant 
la  base,  de  cbanger  l'inscription  et  d'attribuer  ä  quelque  ecor- 
nifleur  le  merite  de  l'ex-voto.  Mais,  dans  le  cas  du  camee  de 
Vienne,  le  litboglyphe  eüt  aussi  bien  pu  graver  dans  le  cbamp 
ses  lettres  ephesiennes ;  s'il  les  a  mises  sur  les  cuisses  de  la 
figure,  c'est,  je  crois,  que  le  rite  des  marques  ä  la  cuisse  etait 
pratique  dans  la  secte  ä  laquelle  appartenaient  l'auteur  et  le 
proprietaire  de  ce  talisman. 

La  marque  ä  la  cuisse  parait  d'ailleurs  avoir  ete  plutöt 
rare.  De  meme  pour  la  marque  ä  la  nuque,  qui  caracterisait,  au 
dire  de  Lucien^,  les  devots  d'Atargatis  ä  Bambyce-Hierapolis 
(faute  de  porter  reellement  le  joug  de  leur  deesse,  ils  y  sup- 
pleaient  en  se  faisant  graver  ä  la  nuque  la  marque  qui  les 
consacrait  ä  Atargatis).  En  general,  le  stigmate  sacre  se  portait 
a  la  main  droite.  Car,  malgre  toute  leur  piete,  les  devots 
devaient  avoir  de  la  repugnance  pour  la  marque  au  front, 
parce  que  c'etait  au  front  que  les  esclaves  portaient  le  stig- 
mate de  fletrissure.     On  preferait,  je  suppose,  la  marque  ä  la 

'  Statuette  du  Vlle  s.,  en  bronze,  avec  inscription  en  dialecte  beotien 
{Monuments  Piot,  t.  II,  pl.  XV) ;  statues  archaiques  en  marbre,  du  Ptoion 
{BCH,  1887,  pl.  XIV,  p.  287)  et  de  Samos  {Ath.  Mut.,  1900,  p.  190, 
pl.  XII);  bronze  du  musde  de  Leyde  avec  inscription  etrusque  (Martha, 
L'art  etrusque,  fig.  343);  bronze  de  Virunum  (R.  v.  Schneider,  Die  Erz- 
statue vom  Helenenberge,  dans  le  Jahrbuch  der  kunsthist.  Sammlungen 
des  Kaiserhauses,  Vienne,  1893,  p.  20  sq.);  Apollon  mentionnä  par  Ciceron, 
De  Signis,  §  93:  signum  Apollinis  .  .  .  cuius  in  femore  litteris  minutis 
argenteis  nomen  Myronis  erat  inscriptum\  A.Abt  Die  Apologie  des  Äpuleius, 
RGW  IV,  284. 

*  Babelon,  La  gravure  en  pierres  fines,  fig.  137. 

'  De  dea  Syria,  59 :  ert^ovxai  äk  TtccvTtg,  oi  (ikv  ig  xuQjiovg,  ol  äk 
ig  wbx^vag. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         109 

main,  ou  plus  exactement  au  poignet:  örC^ovraL  ds  xdvrsg,  ol 
(ihv  es  xaQXovg,  dit  Lucien  des  Syriens  de  Bambyce.  Un 
papyrus  du  IP  siecle  avant  notre  ere,  qui  donne  le  signalement 
d'un  esclave  fugitif  a  övona  "Eq^kov  ög  xal  NsiXog  xaXelrat, 
to  yevos  IJvQog  äno  Bafißv/.rjgf  dit  qu'il  etait  iöxiyyiivog  xbv 
dBi,i6v  xagnov  ypa/i/iaffi  ßagßaQixoig}  C'est  au  poignet  droit 
que  les  Coptes  d'aujourd'hui  sont  tatoues.  Ceux  qui  ont  visite 
les  eglises  coptes  du  Vieux  Caire  ont  eu  ä  se  debattre  contre 
des  nuees  d'enfants,  des  petites  filles  surtout,  qui  fondent  sur 
le  touriste,  en  lui  montrant  leur  poignet  droit,  oü  est  tatouee 
une  croix,  et  en  lui  criant:  »Nosranü*  Bakchich!«  Chez  les 
Coptes,  le  rite  de  la  Stigmatisation  du  poignet  droit  derive 
apparemment  du  Pseudo-Isaie,  XLIV,  5:  exr/gd^si  x*^P^  avxov' 
rov  &SOV  elfii. 

Pour  nous,  modernes,  Fusage  de  la  marque  militaire  est 
dabord  un  grand  sujet  d'etonnement,  tant  l'idee  de  la  marque 
est  associee  aujourd'hui  ä  l'idee  de  fletrissure.  Cette  association 
explique  l'erreur  oü  sont  tombes  beaucoup  des  erudits  qui  ont 
parle  de  la  marque  militaire.  Juste  Lipse,  il  y  a  quelque 
trois  Cents  ans,  ecrivait,  dans  son  fameux  ouvrage  sur  Tarmee 
romaine:  Siib  Principibus  etiam  ergastula  inirudere  ceperunt. 
Et  quid  mirer?  ipsi  eos  Jiabuere  quam  servos.  Ecce  enim  tirones 
jam  capios  compungehant ,  et  in  oute  signabant  .  .  .  Vera  haec 
Stigmata  fuere.^  Dans  son  Histoire  de  Vesdavage,  Wallon  ecrit: 
>Les  soldats  du  Bas-Empire  sont  la  propriete  de  l'Etat.     Pour 

*  Letronne,  Fragmente  inidits  de  poetes  grecs,  suivis  de  deux  papyrus 
grecs  du  Musee  Boyal,  ä  la  suite  de  l'Aristophane  de  la  collection  Didot, 
p.  14,  »celebre  e  sempre  fresco  commento«,  comme  dit  Ltunbroso  (Archiv 
für  Papyrusforschung,  t.  IV,  p.  63). 

*  »[Je  suis  de  la  reUgion]  du  Nazareen«. 

'  De  militia  romana,  1.  I,  dial.  9,  p.  59  de  Te'dition  d'Anvers,  1596. 
Cf.  Lange,  Historia  mutationutn  rei  militaris  Romanorttm  (Göttingen, 
1846),  p.  97 :  Multa  sunt  qiiae  testentur,  postremis  Imperatorum  temporibus 
Bomanos  ab  antiquo  animo  militari  quam  maxime  degenerasse.  Huc  refero, 
quod  dilecti  instar  servorum  stigmatum  notis  inurebantur,  ne  aiifugientes 
delitescerent. 


110  Paul  Perdrizet 

les  gaider,  on  les  marquera  comme  des  troupeaux,  comme  des 
esclaves  .  .  .  Les  aigles  romaines  qui,  pendant  si  longtemps, 
avaient  guide  les  legions  ä  la  conquete  du  monde,  semblent 
n'etre  plus  lä  que  pour  veiller  sur  des  troupeaux  de  captifs.<<^^ 
Cette  citation  doune  le  ton  d'un  ouvrage  qui  releve  plutot  de 
l'apologetique  que  de  l'histoire.^  Turpin  de  Crisse  avait  depuis 
longtemps  explique  la  marque  militaire  d'une  fa9on  plus 
juste.^  Le  fait  qu'on  ne  rimprimät  aux  conscrits  qu'apres 
une  attente  de  plusieurs  mois,  quand  ils  passaient  de  la 
condition  expectative  de  Uro  au  grade  de  miles,  prouve 
que  la  marque  militaire  n'etait  pas  une  fletrissure,  mais  au 
contraire  un  honneur.  Pour  qu'il  n'y  eüt  pas  de  confusion 
avec  le  stigmate  servile,  la  marque  militaire  etait  imprimee, 
non  au  front,  mais  ä  la  main.  Si  l'on  en  croyait  Wallon,  eile 
aurait  ete  instituee  uniquement  pour  perraettre  de  reconnaitre 
les  deserteurs.  On  ne  niera  point  que  teile  ait  fini  par  etre 
la  principale  utilite  de  cet  usage  deconcertant.  La  marque 
permettait  de  reconnaitre  notamment,  dans  les  couvents,  les 
mauvais  soldats  qui  avaient  prefere  la  securite  et  l'oisivete  de 
la  vie  cenobitique  aux  dangers  de  la  guerre  et  aux  fatigues 
des  camps.  De  temps  ä  autre,  les  empereurs  faisaient  proceder 
ä  des  enquetes  dans  les  couvents,  pour  eu  extraire  les  deser- 
teurs. Naturellement,  les  eveques  protestaient.  On  a  une 
lettre  de  Gregoire  P"",  pape,  a  l'empereur  Maurice  (582—602) 
sur  la  loi  qui  defendait  aux  soldats  de  se  faire  moine:  in  lege 
suhiunctum  est,  nt  nulli  qui  in  manu  signatus  est,  converti  liceat} 


'  Hist.  de  i'esclavage  dans  Vantiquite*,  t.  III,  p.  150. 

'  G.  Perrot  dit  tres  bien,  dans  sa  Notice  historique  sur  Walhn 
(C.  E.  de  l'Acad.  des  Inscr.,  1905),  p.  689:  »Le  Richard  II  est  peut-etre, 
parmi  tous  les  oiivrages  de  Fauteur,  le  Beul  oü  ne  se  trabisse  pas  une 
autre  preoccupation  que  celle  de  la  verite  bistorique.« 

"  Commentaire  sur  les  Institutions  militaires  de  Vegece  (Montarg-is, 
1779),  t.  I,  p.  110. 

*  Gregorii  epist.  1.  III,  61  (t.  I,  p.  221  de  l'^d.  Ewald  et  Hartmauu, 
dans  les  Monumentu  (Jennaniae;  Migne,  F.  L.,  LXXVIl,  663). 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         1 1 1 

Cette  loi  venait  d'etre  renouvelee  par  Maurice;  a  en  croire 
les  pieuses  gens,  c'etait  Julien  qui  l'avait  promulguee.^  Gregoire 
Bupplie  respectueusement  l'empereur  d'abroger  cette  Constitution, 
ou  tout  au  moins  de  l'adoucir;  d'ailleurs,  il  ne  se  permet  pas 
d'elever  de  protestation,  car  »dans  ce  temps-lä,  ce  n'etait  pas 
l'eveque  de  Rome,  mais  l'empereur  et  le  concile  oecumenique 
qui  legiferaient  en  matiere  ecclesiastique«.' 

Gardons -nous  de  prendre,  comme  l'a  fait  Wallon,  l'effet 
pour  la  cause.  Le  stigmate  militaire,  ä  l'origine,  etait  tout 
autre  chose  que  la  marque  des  esclaves  ou  des  betes.  S'il  eüt 
ete  ce  que  croit  Wallon,  on  ne  comprendrait  pas  que  les 
soldats  du  Bas  Empire,  si  peu  dociles,  se  le  fussent  laisser 
imposer.  L'explication  juste  est  ailleurs.  Outre  le  stigmate 
servile,  l'antiquite  a  connu  le  stigmate  religieux.  Dejä  Bongars', 
en  1772,  observait  que  c'etait  un  usage  religieux  chez  les 
Anciens  de  s'imprimer  sur  la  peau  le  signe  de  la  divinite  ä 
laquelle  on  se  consacrait.  Et  Juste  Lipse  avait  pressenti  la 
Solution  vraie,  quand  il  ecrivait:  potuit  exemplo  quodam  pravae 
religionis  primo  hoc  indmi,  itt  talis  quasi  consecratus  müitiae 
ostetulerdur.* 

Pravae  religionis  est  un  mot  imprudent.  Car,  somme  toute, 
la  tonsure  des  pretres  romains  procede  du  meme  principe  que 
le  stigmate  religieux:  c'est,  comme  celui-ci,  un  signe  physique, 
corporel  et  visible,  de  consecration.  De  meme,  teile  fayon 
de  se  couper  les  cheveux,  que  pratiquaient  les  Solymes^  et  les 

'  LL,  III,  64  (t.  I,  p.  225  des  M.  G.):  praecepit  Mauritius,  ut  nullus 
tjftii  actionem  publicatn  egit,  nullus  qui  optio  vel  manu  signatus  vel  inter 
milites  fuit  habitus,  ei  in  monasterio  converti  liceat,  nisi  forte  si  militia 
eins  fuerit  expleta.  Quam  legem  primum,  sicuti  diaint  qui  leges  veteres 
noverunt,  Julianus  protulit,  de  quo  scimus  omnes,  quantum  Deo  adversus  fuit! 

*  Hinschius,  Das  Kirchenrecht,  t.  lU,  p.  685,  auquel  se  referent, 
pour  ce  passage,  les  ^ditenrs  des  Lettres  de  Gregoire  dans  les  Monumenta. 

*  Institutions  de  Vegece,  avec  des  Eeflexions  militaires  (Paris,  1772), 
P-  138.  *  De  viilitia  Romana,  p.  60  de  Ted.  d'Anvers 

'"  ChoeriloB,  fr.  4  Kinkel. 


112  Paiil  Perdrizet 

Arabes^;  de  meme  encore,  chez  les  Egyptiens^,  les  Juifs  et  les 
Musulmans,  la  circoncision.  La  christianisme  d'ailleurs,  en  cer- 
tains  pays  et  dans  certaines  classes  de  la  societe,  n'a  jamais 
renonce  tout  ä  fait  au  stigmate  religieux.  Je  n'entends  point 
parier  seulement  des  sectes  attardees  du  christianisme  oriental, 
Coptes,  Abyssins,  Jacobites.^  J'ai  en  vue  aussi  le  catholicisme 
romain.  Le  Dominicain  allemand  Henricus  Suso,  qui  vivait  au 
debut  du  XIV®  siecle,  s'etait  grave  avec  un  poin9on  de  fer  le  nom 
de  Jesus  sur  la  peau,  ä  l'endroit  du  coeur."*  On  dira  que  Suso 
etait  un  mystique  malade.  Mais  en  Italie,  encore  aujourd'hui, 
fleurit  le  tatouage  religieux:  dans  les  sanctuaires  oü  l'on  va  en 
pelerinage,  ä  Lorette  notaniment,  existent  des  professionnels,  qui 
executent  sur  la  peau  des  pelerins  des  tatouages  religieux,  comme 
Souvenir  et  porte-bonbeur.^  Les  voyageurs  ont  souvent  observe 
la  meme  pratique  ä  Jerusalem,  cbez  les  cbretiens  de  rite  latin. 
Notre  vieux  Thevenot  la  decrit  ainsi*^  (il  ne  connait  pas  encore 
le  mot  de  tatouage,  qui  est  d'origine  tabitienne  et  n'a  ete  intro- 
duit  en  fran9ais  que  dans  la  deuxieme  moitie  du  XVIIP  siecleV: 

1  Härodote,  III,  8. 

*  Reitzentein,  Zivei  religionsgeschichtUche  Fragen  (Strassburg,  1901), 
p.  Isq.;  Foucart,  dans  le  Journal  des  Savanfs,  1911,  p.  5  sq. 

'  Ebbesen,  op.  laud.,  p.  20:  ^Äbyssinos  praeter  sacrum  baptismi 
fontem  Stigmata  etiam  quaedam  fronti  superaddere  consuesse,  memorat 
God.  Stewechius  ad  Vegetium,  II,  5,  p.  68.  De  Jacohitis  idem  facere 
solitis  praeter  alios  evölvi  potest  lo.  Dougtaeus  Anal.  Sacr.  Part.  II, 
p.  125.  De  JEthiopibus  vero  (c.  a.  d.  des  Coptes)  lo.  Alb.  Fabricius 
Biblioth.  Graec.  Lib.  I,  c.  32,  p.  211,  ex  quo  praeterea  intelligtmus  Ber- 
nardum  Ochinum  suis  oculis  in  Italia  vidisse  baptizatos  cauterio  inustos.« 

*  Preger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  im  Mittelalter  (Leipzig, 
1881),  t.  II  p.  354;  Encyclopcdie  des  sciences  religieuses  de  Lichtenberger, 
t.  XI,  p.  756;  Paul,  Grundriß  der  german.  Philologie,  t.  II*,  p.  357. 

"  Trede,  Das  Heidentum  in  der  kutholischen  Kirche,  t.  IV,  p.  324. 
Cf.  Lombroso,  L'homme  criminel,  traduction  fran9aise,  Paris,  1887,  p.  263. 

®  Voyage  de  M.  de  Thevenot  au  Levant,  1.  II,  eh.  46,  3^  t^dition 
(Amsterdam,  1727),  t.  III,  p.  638. 

'  Admis  en  1798  dans  le  Dictionnaire  de  l'Äcademie.  Cf.  Hatzfeld- 
Darmesteter-Thomas,  Dictionnaire  gencral  de  la  langue  fran^aise,  au  mot 
TATOÜER,  et  en  tete  du  t.  I,  Traitc  de  la  jormation  de  la  langue,  p.  35. 


i 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         113 

De  la  maniere  de  marquer  ce  qu'on  veut  sur  le  bras. 
»Nous  emploiämes  tout  le  Mardi  29  Avril  ä  nous  faire 
marquer  le  bras,  comme  fout  ordinairement  tous  les  Pelerins, 
ce  sont  des  Chretiens  de  Bethlehem  suivant  le  rit  Latin  qui 
fönt  cela.  Ils  ont  plusieurs  moules  de  bois,  desquels  vous 
choisissez  ceux  qui  vous  plaisent  le  plus,  alors  ils  les  em- 
plissent  de  poudre  de  charbon,  puis  vous  les  appliquent, 
de  Sorte  qu'ils  y  laissent  la  marque  de  ce  qui  y  est  grave; 
apres  cela  ils  vous  tiennent  de  la  main  gauche  le  bras  dont 
la  peau  est  bien  tendue;  et  dans  la  droite  ils  ont  une  petite 
canne  oü  sont  deux  aiguilles,  qu'ils  trempent  de  tems  en 
tems  dans  de  Teuere  melee  avec  du  fiel  de  boeuf,  et  vous  en 
piquent  suivant  les  lignes  marquees  par  le  moule  de  bois: 
cela  fait  sans  doute  mal,  et  ordinairement  il  en  vient  une 
petite  fievre  qui  dure  fort  peu,  et  les  bras  en  restent  enflez 
trois  fois  plus  qu'  ä  l'ordinaire  durant  deux  ou  trois  jours. 
Apres  qu'ils  ont  pique  tout  du  long  de  ces  lignes,  ils  lavent 
le  bras  et  regardent  s'il  y  a  quelque  faute,  lors  ils  recom- 
mencent,  et  quelquefois  ils  y  retournent  jusqu'  ä  trois  fois. 
Quand  ils  ont  fait,  ils  vous  enveloppent  le  bras  bien  serre, 
et  il  se  fait  une  croüte  qui  tombe  deux  ou  trois  jours  apres, 
et  les  marques  restent  bleues,  et  ne  s'effacent  jamais  .  .  .« 

II  est  piquant  de  rapprocher  de  cette  description  minutieuse 
le  temoignage  d'un  voyageur  qui  a  observe,  deux  cents  ans 
plus  tard,  les  memes  pratiques,  mais  qui,  n'ayant  pas  la  foi 
robuste  du  bon  Thevenot,  a  defendu  contre  les  tfT^xrai  hiero- 
Bolymitains  l'integrite  de  son  epiderme: 

»On  ne  saurait  avoir  une  idee,  ecrivait  Gabriel  Charmes  \ 
de  tous  les  genres  de  commerce  qui  fleurissent  ä  Jerusalem. 
J'ai  ete  arrete  un  jour  dans  une  rue  par  un  homme  ä  figure 
avenante  qui  voulait   ä  tout  prix  me  faire  un  tatouage  sur  le 

'  Revue  des  Deux  Mondes  du  15  juin  1881,  p.  771;  r^imprime 
dana  son   Voyage  en  Palestine,  p.  91. 

ArchiT  f.  Beligio&gwissenschaft  XIV  g 


114  Paul  Perdrizet 

bras  pour  constater  que  j'etais  un  hadji  et  que  j'avais  ete  ä 
Jerusalem.  Je  pouvais  choisir  entre  la  croix  grecque,  la  croix 
latine,  la  fleur  de  lis,  le  fer  de  lance,  letoile,  mille  autres 
emblemes.  L'operation  ne  faisait  aucun  mal;  je  ne  la  seniirais 
pas;  pendant  qu'on  me  tatouerait,  je  fumerais  un  narghile,  et 
je  prendrais  du  cafe  tout  eu  causant  avec  la  femme  et  la  lille 
de  l'operateur,  lesquelles  m'adressaient  d'une  fenetre  les  signes 
les  plus  provocants  .  .  .  D'ailleurs  les  plus  grands  personnages 
s'etaient  offerts  ä  l'epreuve  qu'on  me  proposait.  Vingt  certifi- 
cate en  faisaient  foi.  J'ai  su  resister  ä  ces  nobles  exemples; 
je  ne  me  suis  pas  fait  tatouer;  mais  j'ai  copie  un  des  certifi- 
cats;  il  montre  tres  clairement  que  le  prince  de  Galles  a  ete 
plus  faible  que  moi  .  .  .  En  voici  le  texte;  je  pense  que  per- 
sonne ne  sera  assez  sceptique  pour  douter  de  son  incontestable 
authenticite : 

»Ceci  est  le  certificat  que  Francis  Souwan  a  grave  la 
croix  de  Jerusalem  sur  le  bras  de  S.  A.  le  prince  de  Galles. 
La  satisfaction  que  S.  A.  a  eprouvee  de  cette  Operation 
prouve  qu'elle  peut  etre  recommandee.  (Signe:)  VANNE, 
courrier  de  la  suite  de  S.  A.  le  prince  de  Galles.  Jerusalem, 
2  avril  1862.« 

J'ai  peur    que  la   bonne  foi  de  Gabriel  Charmes  n'ait  ete 
surprise.  Vanne  me  semble  un  nom  aussi  fantaisiste  qu'  'ExsScoQog 
Je  soup^onne  une  mystification  dans  le  certificat  qu'exhibait  le 
sieur  Souwan.  Revenons  ä  des  sujets  plus  graves. 

La  tradition  raconte  que  le  poverello  d'Assise  reyut  les 
stigmates,  c'est-ä-dire  fut  marque  des  cinq  plaies  de  Jesus.  Ce 
miracle,  que  certains  historiens  admettent^  et  que  des  physiolo- 
gistes  expliquent^,  eut  un  immense  retentissement.  Beaucoup 
de  pieuses  personnes,  hommes  et  femmes,  desirerent  ardemment 

^  Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois  d'Assise  (2«  ed.,  Paris,  1894), 
pp.  401—412. 

*  A.  Maury,  La  Magie  et  V Astrologie  dans  VAntiquite  et  au  Morien 
Age  (8e  ^d.,  Paris,  1864),  pp.  357—409. 


La  miraculeuse  hiatoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         115 

recevoir  la  meme  gräce  que  Fran9ois.  Personne  n'en  avait 
ete  favorise  avant  Ini;  mais  apres  lui,  les  stigmatises  sont 
legion,  surtout  dans  l'ordre  Dominicain  \.  rival  de  celui  du  saint 
d'Assise.  ^>Depuis  que  les  compagnons  de  Fran(;ois  avaient  cru 
devoir  relever  la  saintete  de  leur  maitre  par  cette  similitude 
etrange  avec  le  Christ,  les  stigniates  passerent  ponr  un  trait 
de  la  plus  haute  saintete.« " 

Si  Fran^ois  d'Assise  a  souhaite  recevoir  les  stigmates  du 
Christ,  c'est  probablement  ä  cause  d'un  passage  mal  compris 
de  VEpitre  aux  Galates,  VI,  17:  sya  tä  örCyiiara  tov  'Ir^öor 
6v  tä  6(6(1^X1  ßaöTcitco.  Fran^ois  entendait,  ä  tort,  ces  mots 
au  sens  materiel,  il  pensait  que  saint  Paul  etait  marque  des 
cinq  plaies  de  Jesus.  Mais  la  parole  de  l'apotre  ne  doit  pas 
plus  etre  entendue  dans  ce  sens  materiel  qu'au  sens  symbolique 
qu'a  par  exemple  cette  phrase  de  Ciceron^:  sit  inscriptum  in 
fronte  uniiiscuiusqw  civis,  quid  de  re  puhlica  sentiat,  car  l'apotre 
n'a  pas  pretendu  designer,  par  l'expression  erlynara  tov  ' Ir^eovy 
la  marque  mvstique  du  bapteme.  Pour  savoir  ce  qu'il  a  voulu 
dire,  relisons  l'epitre  aux  chretiens  de  Galatie.  Son  oeuvre 
dans  cette  province  etait  menacee  par  de  sourdes  menees  des 
chretiens  de  Judee;  l'apotre,  pour  la  defendre,  ecrit  cette  lettre 
fougeuse.  »II  la  dicta,  dit  Renan ^,  d'un  seul  trait  toute  entiere, 
comme  rempli  d'un  feu  Interieur.  Selon  son  usage,  il  ecrivit 
de  sa  main  en  post-scriptum :  «Remarquez  bien  ces  caracteres,  ils 
sont  de  ma  main».  II  semblait  naturel  qu'il  terminät  par  la 
salutation  d'usage;  mais  il  etait  trop  anime,  son  idee  fixe 
l'obsedait,  Le  sujet  epuise,  il  y  rentre  encore  par  quelques 
traits  vifs:  Des  gens,  qiii  veident  plaire  par  la  cJiair,  vous  forcent 
ä  vous  faire  circoncire  .  .  .  Les  circoncis  rCöbservent  pas  la  Loi, 
mais  ils  veulent  que  vous  soyez  circoncis,  afn  de  se  glorifer  dans 
votre  chair  .  .  .     Pour  moi,   Dieu   me  garde  de  me  glorifier,   si 

•  Perdrizet,  La  Vierge  de  Misericorde  (Paris,  1908),  p.  31. 

*  Renan,  dans  VHistoire  Utteraire  de  la  France,  t.  XXVIII,  p   2. 
»  In  Catil,  I,  13.  §  32.  '  Saint  Paul,  p.  322. 

8* 


116  Paul  Perdrizet 

ce  n'est  en  la  croix  de  N.  S.  J.  C,  .  .  .  car  en  Christ  Jesus  la 
circoncision  n^est  rien,  le  prepuce  n'est  rien;  ce  qui  est  tout,  c'est 
d'etre  cree  ä  nouveau.  Paix  et  misericorde  sur  tous  ceiix  qui 
ohserveront  cette  regle,  sur  V Israel  de  Dieu.  Mais  qu^ä  Vavenir 
personne  nemesuscite plus  de  tracasseries;  car  je  porte  les  stigmates 
de  Jesus  sur  mon  corps.  La  gräce  de  N.  S.  J.  C.  soit  avec  votre 
esprit,  freres!  Amen!«  Quels  sont  donc  ces  stigmates  qui 
recommandent  Paul  et  sa  doctrine?  La  tradition^  et  la  critique 
sont  d'accord  sur  ce  point:  il  s'agit  des  coups  de  fouet  et  des 
coups  de  bäton  que  l'apotre  avait  re9us  au  cours  de  ses  missions. 
»Les  Juifs,  ecrit-il  aux  chretiens  de  Corinthe^,  m'ont  applique 
cinq  fois  leurs  ti-ente-neuf  coups  de  fouet^;  trois  fois  j'ai  ete 
bätonne;  une  fois  j'ai  ete  lapide.«  Ainsi  l'expression  6t Cynara, 
dans  VEpitre  aux  Gdlates,  est  metaphorique:  eile  fait  allusion 
aux  cicatrices  dont  le  corps  de  Paul  etait  balafre.         ^ 

Mais  pourquoi  les  appelle-t-il  örCyfiata  tov  ^Ivjöov?  Car 
enfin,  ce  n'est  pas  de  Jesus,  mais  des  ennemis  de  Jesus,  Juifs 
et  Gentils,  qu'il  les  a  re9ues.  Renan  dit  que  l'apotre  les  appelle 
ainsi,  parce  qu'elles  fönt  ressembler  son  corps  ä  celui  de  Jesus 
apres  la  flagellation.  Je  crois  plutot  qu'il  veut  rappeler  qu'il 
les  a  re9ues  pour  Jesus  et  qu'elles  sont  le  signe  de  sa  con- 
secration  ä  Jesus  ^;  autrement  dit,  je  crois  que  le  mot  ör Cynara 

'  On  lit  dans  une  lettre  d'un  synode  de  C/ple,  concernant  les  per- 
edcutions  du  clerge  orthodoxe  par  les  Ariens  (Th^odoret,  Hist.  ecch,  V, 
9,  p.  409  Gaisford):  aXXoi  dtacpoQOig  yiaTa^avd'evTsg  cclKtccig  in  ta.  ßriyftara 
TOV  Xqi6tov  xal  tovs  (imlaTtccs  iv  tö)  acafiari  nsQicpSQOVGi. 

''  11  Gor.,  XI,  24—25.     Cf.  Renan,  Saint  Paul,  p.  449. 

'  Consuetudo  legis  erat  ad  majus  XL  verbera  dari,  dit  le  Speeuhim 
humanae  sdlvaiionis,  XXI,  6,  d'apres  Deuteronome,  XXV,  3.  Pour  ne 
pas  enfreindre  cette  prescription  de  la  loi  mosaique,  les  Juifs  s'en 
tenaient  ä  39  coups,  qu'il  s'agit  de  flagellation  pc^nale  ou  de  flagellation 
rituelle:  cf.  mon  Etüde  sur  le  S.  H.ß.,  p.  8. 

*  C'est  donc  avec  raison  que  Stein  cite  ce  passage  de  VEj»tre  aux 
Gdlates  dans  son  edition  d'H^rodote,  pour  commenter  le  texte  relatif  a 
l'asile  egyptien  de  la  bouche  Canopique  (II,  113):  iar\  'HqccxXsos  Iqöv, 
ig  rb  ^r  xaraqpuycbv  ofxtVrjs  orsv  (ov  Scv^gtäTKOv  inißcckijTai  (iriy^iaTct  iqu, 
iavrbv  öiSovg  t&  @sä),  ovy.  S^sari  tovtov  &'ipaG9cci. 


La  miraculeuse  histoixe  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         117 

;  eroquait  ici,  dans  l'esprit  de  saint  Paul  et  dans  celoi  de  ses 
i  lecteurs,  non  Tidee  de  la  marque  servile  —  car  l'apotre  se 
glorifie  de  ses  örCy^iara  —  mais  l'idee  de  la  marque  religieuse.^ 
j  Paul  est  natif  de  Tarse,  il  ecrit  ä  des  Asiates  qui  connaissaient 
tous,  comme  il  le  connaissait  lui-meme,  le  rit«  des  marques  de 
consecration;  car  la  plupart  des  religions  orientales  rimposaient 
ä  leurs  adeptes.  11  est  atteste,  en  Galatie  meme,  pour  celle 
d'Attis,  le  dieu  de  Pessinonte*;  en  Syrie,  pour  celle  d'Atargatis, 
la  deesse  de  Bambyce-Hierapolis';  en  Thrace  et  en  Grece, 
pour  la  religion  thraco-macedonienne  de  Dionysos*;  en  Egypte 
pour  la  religion  isiaque.^  Quand  Peregrinus  se  brüle  a  Olympie, 
Lucien  prevoit  que  la  credulite  populaire  fera  un  dieu  de  cet 
extravagant:  il  aura  ses  mysteres  et  ses  pretres,  on  instituera 
en  son  honneur  des  flagellations  rituelles,  las  devots  seront 
marques  de  son  nom,  au  fer  rouge:  ^QXvgoiiaL  de  ^  (i-^v  xal 
Ugiag  avtoi   äxodeix^rjöeöd^ai  fiaötCyav  ^  xavtr^gCcav.^ 


'  Cf.  Maory,  op.  l,  p.  360:  *U  j  avait  dans  la  Bible  plosieurs 
allnsions  ä  l'o8age  repandu  dans  TOrient  de  port«r  au  bras  droit  un 
signe  indicatif  de  la  divinite  au  aervice  de  laquelle  on  s'etait  vouä: 
c'est  ä  cette  habitude  que  se  rapportent  vraisemblablement  lee  paroles 
de  Saint  Paul.« 

'  Prudence,  Peristeph.,  X,  1076—1080.  Le  sobriquet  de  ydikos 
donn^  ä  Ptolemee  IV  Philopator  {Etym.  Magnum,  s.  v.  FA'AAOC.,  qui 
portait  le  tatouage  dionysiaque  (cf.  Bev.  Et.  Anc.,  1910,  p.  236),  fait 
allusion  aux  marques  que  portaient  las  GaUes,  aussi  bien  ceux  d'Attis 
que  ceux  d'Atargatis.  Cf.  le  v.  9  de  Velogium  d'Abercios  (Hepding,  Attis, 
p.  84):  Xüov  d'ildov  ixsl  icqiXQav  etpgayet&av  liovra. 

'  Lucien,  De  dea  Syria,  §  59. 

*  Rev.  Et.  Anc,  1910.  p.  234— 238,  et  mea  Cidtes  et  mythes  du  Pangee, 
p.  96—98. 

*  Dennison,  dans  V American  Journal  of  archaeology,  IX  (1905), 
p.  33  sq. 

®  De  morte  Peregrini,  eh.  28.  Quant  ä  la  religion  mithriaque,  il 
ne  me  semble  pas  prouve  qu'elle  comportat  le  rite  des  stigmates  de 
conse'cration.  Le  texte  de  Tertullien,  Mithra  signat  in  /rontibus  müites 
«tos  {De  praescr.  haeret.,  40),  aUegue  par  Cumont  {Les  mysteres  de 
Mithra*,  p.  131-  et  par  Hepding  {Attis,  p.  163),  me  semble  viser  un  rite 
aymbolique,  analogue  ä  la  confirmation  chretienne. 


118  Paul  Perdrizet 

VII 

Je  ne  vois  point  que  pour  l'etude  du  rite  oriental,  et  plus 
precisement  semitique,  de  marquer  le  poignet  droit  d'un 
stigmate  sacre,  on  ait  fait  etat  jusqu'ici  des  mains  orantes,  de 
bronze,  dont  il  existe  un  assez  grand  nombre  d'exemplaires. 
Je  n'entends  point  parier  des  mains  de  bronze  consacrees  ä 
Sabazios,  que  Blinkenberg  a  etudiees  naguere^:  Celles- ci  forment 
une  classe  speciale,  ä  cause  des  symboles  magiques  dont  elles 
sont  chargees,  et  ä  cause  de  leur  geste :  c'est  celui  dit  de  la  benedic- 
tion  latine,  les  deux  derniers  doigts  replies,  les  trois  autres  allonges, 
le  pouce  touchant  le  grand  doigt  et  l'index.  Les  mains  votives 
du  culte  de  Sabazios  representent  la  main  du  dieu,  a  tout  le 
moins  celle  du  pretre,  puisqu'elles  benissent.  11  n'en  est  pas 
de  meme  des  autres  mains  votives,  qui  toutes  sont  des  mains 
orantes,  levees,  la  paume  en  avant,  les  doigts  allonges  et  joints: 
Celles -ci  representent  des  mains  de  fideles,  elles  perpetuent 
le  Souvenir  d'une  priere.  Toutes  ces  mains  orantes  proviennent 
de  cultes  semitiques.  Toutes,  comme  d'ailleurs  aussi  Celles  du 
culte  de  Sabazios,  sont  des  mains  droites;  et  quand  elles  portent 
une  dedicace,  celle-ci  est  toujours   gravee   sur  le  poignet. 

Avant  de  tirer  de  ces  observations  les  conclusions  qui  me 
semblent  s'appliquer  ä  notre  propos,  je  crois  bon  de  donner 
la  liste  des  dextres  orantes  ä  dedicace. 

A.  Culte  du  dieu  d'Heliopolis 
Musee  du  Louvre.  Provenance:  Niha,  sur  le  versant  du  Liban 
qui  regarde  la  plaine  de  Ba^albek.  Publice  par  Dussaud,  Notes 
de  Mythologie  syrienne  (Paris,  1903),  p.  119,  pl.I.  La  Photographie 
ci-contre  (PI.  I  fig.  1)  a  ete  executee  ä  ma  demande  par  la  Biblio- 
theque  Doucet.  Dextre  orante,  portant  contre  la  paume  une 
petite  idole  du  Baal  d'Heliopolis  {ßaXdviov).'^     Sur  le  poignet, 

^  Darstellungen  des  Sabazios  und  Denkmäler  seines  Kultes,  dans 
Archäologische  Studien  (Copenhague,  1904). 

*  Chronique  Pascale,  p.  303  de  Ted.  de  Bonn:  ytaTeXvßs  6  OeoSöeio^ 
xai  ro  ' HXiovn6XB0)g  t6  rov  Balaviov. 


La  miracnleuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         119 

la  dedicace:  MsvCöxos  vTchg  /  iavrov  xal  ^vyttTQ{bg)  /  xal  övfißCov 
xai  j  ^Qsarav  sv^äfie/vog. 

B.  Culte  cCune  divinitc  syrienne 
Main  conservee  au  patriarcat  maronite  de  Bikirle  (Liban). 
Publiee  par  Lammens,  dans  le  Musee  Beige,  IV  (1900),  p.  310, 
n**ö7:  .  .  .  Xevöa  xa^äs  j  kxsXavö^riv  xfig  /  d^eov  ävi^rjxsv. 

C.  Culte  du  Tres  Haut  (Ssbg  "Ttlfiörog) 
La  collection  formee  jadis  ä  Bejrouth,  par  feu  Peretie,  chan- 
celier  du  consul  de  France,  contenait  cinq  dextres  de  bronze 
portant  sur  le  poignet  des  dedicaces  au  ©«ög  "TptOTog.  EDes 
avaient  ete  trouvees  ensemble  ä  Sa'ida,  l'ancienne  Sidon,  dans 
un  endroit  qui  n'a  malheureusement  pas  ete  note.  Dussaud 
{Notes,  p.  118)  a  revoque  en  doute  cette  provenance,  sans 
raison  valable.  Les  cinq  mains  furent  vues  chez  Peretie  par 
Beaudouin  et  Pottier,  qui  en  publierent  les  inscriptions  dans 
le  Bulletin  de  corresjjmdance  hdlenique  de  1879,  pp.  264 — 267, 
Sans  en  donner,  malheureusement,  ni  photographies  ni  dessins. 
Depuis,  la  collection  Peretie  a  ete  vendue  et  dispersee.  J'ignore 
oü  se  trouvent  aujourd'hui  trois  de  ces  cinq  monuments.  Les 
deux  autres  fönt  partie  de  la  collection  De  Clercq.  J'es- 
perais  en  publier  des  photographies.  MM.  Rene  Jean,  De  Ridder 
et  Pottier  ont  bien  voulu  s'entremettre  aupres  du  possesseur 
actuel  de  la  collection  De  Clercq;  mais  la  permission  de  faire 
photographier  les  deux  mains  leur  a  ete  refusee. 

1.  »Main  droite;  long.  0™  17.  üne  palme,  de  chaque 
cote,  gravee  ä  la  pointe,  se  continuant  jusqu'  ä  l'extremite  du 
petit  doigt  et  du  pouce.  L'inscription,  de  meme  que  les 
suivantes,  est  gravee  sur  le  poignet:  nqöxXa  /  sv^a^d/vrj  vaig  / 
iavTrjs  I  xh  xov  oi'xov  avxfig  /  avi^riX£V€  {BCH,  1.  1.,  n"^  18). 
Aujourd'hui  dans  la  collection  De  Clercq.  ün  facsimile  de 
l'inscription  dans  De  Ridder,  Cöä.  De  Clercq,  Les  Brmzes,  p.  195, 
qui  aurait  bien  du  donner  une  reproduction  de  l'objet  meme  ou 
du  suivant. 


120  Paul  Perdrizet 

2.  »Main  droite;  long.  0*"  18.     Memes  ornements  que  surj 
la    precedente.      Dedicace:    Zijvcjv   xs   Nixovö^a)  /  evi,dnsvoi  /' 
ävsd^rjxav«  {BCH,  1.  L,  n*'  19).     Aujourd'hui  dans  la  coUection 
De  Clercq;  cf.  De  Ridder,  CoU.  De  Clercq,  Les  Bronzes,  p.  194, 
qui  admet,   ä  la  ligne  2,  la  restitution  des  premiers   editears, 
Nixov6(a).      Cette    forme,    qui    serait  un  barbarisme    en    greC; 
classique,    n'en   est    pas   un    dans    la   xolvi^    qu'on   parlait   en| 
Syrie,  ä  l'epoque  imperiale :  la  plupart  des  MSS  de  VÄpocalypse  * 
de  Jean  donnent,  au  verset  1 7  du  chapitre  II,  la  forme  ionienne 
vixovvti  au  lieu  de  vix&vxi  (cf.  Viteau,  Etüde  sur  legrec  du  Nouveau 
Testament,  Paris,   1893,  p.  XIX).      Mais,    comme  le  facsimile 
publie  par  De  Ridder  n'indique   aucune  trace   de  lettre   apres 
NIKOYJL,  je  crois  preferable  de  lire  Niyiov£. 

3.  »Main  droite;  long.  0°*  17.  Les  palmes  de  chaque  cote 
sont  ä  peine  visibles  et  les  caracteres  presque  entierement  effaces. 
Dedicace:  .  .  .  sv/^cc^ev/i^  vtcbq  avxrig  /  xal  ®so8(oqov  dvögog/ 
xal  xmvav  I  &sa  ^Tij^CötG)«  BCH,  1.  1.,  n°  20.  Selon  Dussaud 
{Notes,  p.  118),  l'objet  se  trouverait  au  Musee  National  d'Athenes. 
J'ai  prie  M.  Holleaux  de  l'y  rechercher:  »nous  avons,  me  repond-il, 
Stai's  et  moi,  fait  la  revue  de  tous  les  bronzes  du  Musee,  y 
compris  ceux  qui  se  cachent  dans  les  ccTiod^ijxaL  et  les  tiroirs 
fermes.  La  main  Peretie  n'y  est  pas  et,  m'assure  Stais,  n'y  a 
jamais  ete.  II  avait,  croit-il,  ete  question,  voilä  tres  longtemps, 
d'acquerir  quelques  objets  de  cette  coUection,  mais  suite  ne 
fut  pas  donnee  ä  ce  projet.<^ 

4.  »Main  droite;  long.  O"'  15.  Lettres  pointillees,  peu 
visibles  et  confondues  les  unes  avec  les  autres.  Dedicace:  @ep 
'T/ifCörc)  rriJQlciv  sv^a/fisvog  dvs&)]/xsv«  (BCH,  1.  1.  n°  21). 
Le  nom  FrjQCav  est  bien  extraordinaire.  Peut-on  admettre 
qu'un  Sidonien  de  l'epoque  imperiale  ait  porte  le  nom  du  geant 
tricepbale,  occis  en  Espagne  par  Heracles?  En  tout  cas,  il 
faudrait  accentuer  Fri^iciv,  et  remarquer  que  cette  orthographe 
est  iotacisante,  au  lieu  de  FrjQvcbv.  Mais  je  crois  que  le  nom 
du  donateur  n'a  pas  ete  lu  correctement.     Les  doutes  sont  con- 


;zet,  Histoire  de  Pandare  et  d'  Echedore 


Abb.  1 


Abb.  2 


Abb.  4 

ileligions Wissenschaft  XIV,  1/2 


Abb.  S 


Abb. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         121 

firmes  par  Fröhner,  qui  a  decrit  l'objet  en  question  dans  son 
('atalogue  de  la  vente  Hoffmann,  1893,  p.  570:  »Le  nom  du 
consecrateur,  ecrit-il,  et  son  patronymique  restent  ä  dechiffrer.« 
5.  »Main  droite  sans  ornements.  Long.  0""  1 7.  Inscription: 
.iovx[t]a/v7j«  {BCH,  L  1.,  n°  22).  Cette  lecture  est  confirmee 
par  Fröhner,  qui  a  decrit  l'objet  dans  le  Cat.  de  la  coli.  Ho/fmann, 
1899,  p.  569. 

D.  Culte  du  dien  de  Dolichc 

1.  PL  I,  fig.  2.  Main  droite  ouverte,  trouvee  ä  Heddern- 
heim,  conservee  aujourd'hui  chez  le  comte  Solms,  ä  Assenheim; 
publiee  pour  la  premiere  fois  par  J.  Becker,  Drei  römisdie  Votiv- 
hände  aus  den  RJieinlanden  (Frankfort,  1862),  p.  17,  pl.  I:  cf.  Kan, 
De  Jovis  Dolicheni  cuUu  (Groningen,  1901),  p.  102,  n°  141  et  CIL, 
XIII,  II,  1,  p.  430,  n°  7343:  lovi  Ddiceno  jG.  hd.  Marinusj  centurio 
Briüonum  Guruedens(ium)  I  d.  d.  Sur  le  culte  de  Doliche,  qua 
las  Syriens  de  Commagene  repandirent  dans  tout  l'Empire  et 
qui  a  fusionne  notamment  avec  le  culte  du  dieu  d'Heliopolis 
(CIL,  in,  3462:  /.  O.M.Dulceno  Heliopolitano),  voir  en  dernier 
lieu  l'article  de  Cumont,  DOLICHENVS,  dans  Pauly-Wissowa. 
Le  nom  Marinus,  que  porte  le  donateur  de  la  main  d'Heddern- 
heim.  et  qui  est  frequent  dans  les  inscriptions  relatives  au  dieu 
de  Doliche,  indique  que  le  donateur  etait  pretre  de  ce  dieu; 
il  vient  du  syrien  marlnä,  qui  a  le  meme  sens  que  notre 
Monseigneur,  en  latin  dominus,  en  grec  de6jc6r},g.  Le  pere  de 
Philippe  l'Arabe  s'appelait  ainsi  (Waddington,  Inscriptions  de 
Syrie,  p.  491—2,  n°  2072—76). 

2.  PI.  I,  fig.  3.  Main  droite  trouvee  en  1862  dans  la  Galicie 
Orientale,  district  de  Zaleszczyki,  village  de  Myszkow,  conservee 
au  musee  polonais  Ossolinski  de  Lemberg,  et  publiee  par  W.  De- 
metrykiewicz  et  J.  Zingerle,  dans  le  Beiblatt  der  Jahreshefte  de 
1904,  col.  149 — 152.  Les  trois  derniers  doigts  sont  allonges  et 
ecartes;  le  pouce  et  l'index  tiennent  delicatement  une  petite  sphere 
sur  laquelle  devait  se  dresser  jadis  une  Statuette,  dont  il  ne  reste 
que  les  pieds.    Demetrykiewicz,  ä  cause  des  enseignes  legionnaires 


122  Paul  Perdrizet 

que  surmontait  une  main  levee,  Symbole  de  la  fidelite  au 
serment  militaire  (A.  v.  Domaszewski,  Die  Fahnen  im  römischen 
Heere,  p.  53),  suppose  que  cette  Statuette  deyait  representer 
la  Victoire.  D'apres  l'analogie  avec  la  main  du  Louvre,  contre 
la  paume  de  laquelle  est  fixe  le  balanion  d'Heliopolis,  je  crois 
que  la  main  de  Lemberg  etait  surmontee  de  la  Statuette  du 
dieu  ä  qui  eile  etait  dediee.  La  dedicace,  gravee  sur  le  poignet, 
a  ete  lue  ainsi  par  E.  Bormann:  I{ovi)  0{ptimo)  M{aximo) / 
Doliceno  /  Gaius  optio  /  c(o)h{ortis)  I  His2)(anorum)  {müiariae)  / 
v(otum)  s(olvit)  Kihens)  m(erito).  A  cote  de  la  main  de  Lem- 
berg, nous  en  reproduisons  une  autre,  anepigraphe,  provenant, 
dit-on,  d'Italie,  et  conservee  au  musee  de  Wiesbaden  (Bekker, 
Drei  römische  Votivhände,  fig.  ä  la  p.  10);  eile  est  mutilee,  et 
on  ne  savait  pas  en  expliquer  le  geste:  je  crois  qu'elle  devait 
comme  la  main  de  Lemberg,  tenir  entre  le  pouce  et  l'index  une 
petite  sphere,  servant  de  support  ä  une  Statuette  du  dieu  de 
Doliche  (PI.  I,  fig.  4). 

n  y  a,  je  crois,  correlation  entre  les  marques  de  consecra- 
tion  que  les  adeptes  des  religiuns  semitiques  s'imprimaient  ä 
la  main  ou  au  poignet  droits  et  les  inscriptions  votives  des 
dextres  de  bronze  qu'ils  avaient  accoutume  d'oflPrir  ä  leurs 
dieux.  Ces  dextres,  qui  fönt  toutes  le  geste  de  la  supplication 
et  qui,  par  consequent,  representent  la  main  de  l'orant,  out 
toutes  leur  dedicace  gravee  sur  le  poignet.  Pourquoi  lä  plutöt 
que  sur  le  dos  de  la  main  ou  sur  la  paume?  La  main  sym- 
bolique  de  ralliance  entre  les  Gaulois  du  Velay,  OvEXavvoi,  et 
une  ville  grecque  de  Provence,  porte  son  inscription  sur  la 
paume. ^  Si  les  dextres  votives  des  cultes  semitiques  portent 
toutes  leur  dedicace  sur  le  poignet,  c'est  sans  doute  pour  une 
raison  rituelle,  parce  que  les  fideles  qui  dediaient  ces  dextres, 
etaient,  comme  les  Syriens  de  Bambyce,  höriy^svoL  rbv  de^ibv 
xaQjtbv   yQaniiaöi.     Si   l'on   se   rappelle   que   les    dedicaces   de 

'  S.  Reinach,  Bronzes  figures  de  la  Gaule  romaine,  p.  869;  Cat.  des 
bronzes  de  la  Bibl.  nationale,  p.  461;  10,  XIV,  n"  2432. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         123 

cette   Sorte    d'objets   sont   parfois  ecrites  en  pointüh'  et  accom- 

pagnees  de  pnlmes  gravt'es  a  la  poiute,   qui  vont  de  la  section 

du    poignet    ä   l'extremite    du  petit  doigt  et  du  pouce,   la  cor- 

relation  que  nous  indiquons  apparaitra  comme  plus  vraisemblable 

encore:  ce  pointille  fait  songer  aux  piquetures  d'tme  inscription 

|tatouee,    ces    palmes    representent    les   tatouages   religieux    qui 

Fcouvraient  la  main  droite  du  fidele:  tatouages  religieux,  et  non 

|de   simple   ornement;    car   on   admettra    bien   que  la  palme  eu 

'henicie,   pour  des  adorateurs  du  Tres  Haut  {Ssbs  "Ytlfiötos}, 

Büt  un  sens  sacre.* 

Les   textes    qui   parlent  du    stigmate  religieux  apprennent 

[u'il   etait   parfois   place,   non  sur  le  poignet,    mais  enl  x^'^Qh 

[fiur  le  dos  de  la  main  ou  metacarpe.     Et  il  pouvait  consister, 

[non  en  une  inscription,  mais  en  dessins  plus  ou  moins  schema- 

itiques,  en  signes  plus  ou  moins  pictographiques,  dans  le  genre 

[des    tatouages     en    usage     chez    les     Syriens     et     les    Arabes 

[d'aujourd'hui,   chretiens   et    musulmans.     Une    main    de  bronze 

[anepigraphe,  dont  la  proTenance  exacte  est  inconnue,  mais  qui 

jlon  toute  apparence  a  ete  trouvee  dans  la  vallee  du  Rhin,  et  qui 

st  conservee  au  musee  grand-ducal  de  Darmstadt  (PI.  I,  fig.  5), 

)orte  sur  le  poignet,  sur  le  metacarpe  et   ä  l'attache  des  cinq 

loigts,  un  certain  nombre  de  petits  cercles  incises,  treize  en  tout. 

[Becker,    qui  a  fait  connaitre  ce  monument,   y  voyait  rex-voto 

d'une  personne  qui  souflfeait  d'une  maladie  de  peau:  les  petits 

cercles   representeraient   des    plaques    ou   des  pustules.*     II  est 

possible,   comme    on   l'a    dit  plus  haut,  qu'ils  representent  des 

tatouages    medicaux,    destines    ä    faire    disparaitre    les    plaques 

d'une  lepre  blanche.     Mais  il  est  encore  plus  plausible  d'y  voir 

des    marques   religieuses.     ün    fragment    de    calotte    cranienne 

'  Dans  la  Bible,  la  palme  est  mentioimee  frequemment  dans  les 
ceremonies  de  purification  (II  Macc,  X,  7),  et  dans  les  triomphes  (I  Macc, 
XIIl,  37  et  51;  IV  Esdras,  II,  45—6:  Ev.  Joan.,  XH,  13;  Äpocal,  VII,  9). 

*  Brei  römische  Votivhände,  p.  15,  pl.  11,  1  a,  b.  Jen  dois  la  Photo- 
graphie, ainsi  que  celle  de  la  main  de  Wiesbaden,  a  l'aimable  entremise 
de  M.  Hans  Draorendorff. 


124  Paul  Perdrizet 

trouve    dans    Voppidum  gaulois  de  Stradonitz^,  est  parseme  de 
cercles  pareils. 

VIII 
Revenons,  apres  ce  long  detour,  au  stigmate  militaire. 
Je  crois  qu'il  fut,  ä  Torigine,  un  cas  particulier  du  stigmate 
religieux.  Saint  Ambroise  nous  apprend  que  les  soldats  etaient 
marques  du  nom  de  l'empereur,  nomine  imperatoris  signantur 
milites^  —  nomine  et  non  in  nomine.  Le  stigmate  militaire 
representait  donc  le  nom  de  l'empereur  regnant  —  d'oü 
l'expression  regius  character  dont  se  sert  Augustin  —  c'est-ä- 
dire,  probablement,  une  abreviation,  ou  peut-etre  la  il^7}q)og  du 
nom  imperial.  Le  stigmate  militaire  se  rattache  donc  au  culte 
des  empereurs,  et  plus  precisement  au  culte  dont  les  empereurs 
ont  ete  l'objet  de  la  part  des  armees.  La  question  du  culte 
rendu  aux  empereurs  par  les  armees  est  expediee  en  six  lignes 
par  Beurlier^,  dans  un  chapitre  intitule:  »Du  culte  rendu  aux 
empereurs  par  les  Colleges  prives  et  les  particuliers«.  En 
realite,  c'etait  un  culte  officiel,  prescrit  par  les  reglements 
militaires,  et  meme  le  seul  culte  officiel  que  connüt  l'armee; 
il  est  absolument  distinct  des  cultes  prives  dont  les  militaires 
de  tout  grade,  individuellement  ou  en  groupe,  honoraient  les 
divinites  ä  leur  convenance.  Les  medaillons  des  enseignes  que 
portaient  les  imaginiferi^,  les  statues  imperiales  erigees  dans 
les  camps  rendaient  presents  au  milieu  des  armees  les  genies 
des  empereurs;  ces  images  recevaient  le  culte  du  par  les  mili- 
taires au  sou verain,  et  ce  culte  etait  le  lien  de  la  discipline, 
car  celle-ci  etait  fondee  sur  le  serment,  et  le  serment  etait  jure 
sur  le  nom  sacrosaint  de  l'empereur.  On  con^oit,  dans  cette 
hypothese,  non  seulement  que  les  soldats  se  soient  laisses 
marquer,    mais    qu'ils    aient   tenu   a  l'etre.      Non   seulement  le 

*  Pic,   Le  Hradischt  de  Stradonitz,  traduction  D^chelette  (Leipzig 
1906),  pl.  XLIII,  fig.  17;  Dt5chelette,  Manuel,  t.  I,  p.  480,  fig.  167. 

*  Essai  sur   le   culte  rendu  aux  Empereurs  romains  (Paris,  1890), 
p.  261.  *  V.  DomaszewBki,  Die  Fahnen  im  römischen  Heere,  p.  69  sq. 


I 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         125 

stigmate  militaire  n'etait  pas  plus  deshonorant  pour  un  soldat 
que  la  tonsure  totale  pour  un  pretre  isiaque  ou  la  tonsure 
partielle  pour  un  pretre  catholique  romain;  mais  meme  c'etait 
un  talisman,  le  nom  de  Tempereur,  comme  tout  nom  divin, 
devant  avoir  une  vertu  prophylactique.  Cette  idee  semblait 
evidente  aux  pai'ens  du  Bas  Empire,  dans  des  pays  et  ä  une 
epoque  oü  la  superstition  etait  au  comble.  Ajoutons  que  les 
Boldats,  particulierement,  devaient  etre  tres  superstitieux,  en  raison 
meme  des  dangers  auxquels  ils  etaient  alors  exposes,  dans  un 
temps  oü  Ton  se  battait  presque  sans  cesse;  ils  recherchaient  de 
tous  cotes  les  moyens  magiques  de  se  rendre  invulnerables. 

Une  preuve  que  le  stigmate  militaire  etait  bien  d'ordre 
religieux,  nous  est  fournie  par  les  Actes  äes  Martt/rs.  Un 
jeune  chretien,  Maximilien,  avait  ete  pris  comme  tiro.  Le  jour 
arrive  oü  il  doit  passer  miles,  c'est-ä-dire  etre  mesure,  inscrit 
sur  le  role  et  marque  de  la  marque  militaire.  Maximilien  se 
laisse  mesurer,  incumari^,  mais  quand  on  veut  le  marquer, 
signari,  il  refuse.  Pourquoi?  Le  texte  ne  le  dit  pas,  mais  ce 
refus  s'explique  tres  bien,  si  la  marque  militaire  etait  ce  que 
nous  pretendons.  Pour  un  chretien  scrupuleux,  il  etait  aussi 
reprehensible  de  se  laisser  imprimer  ce  signe  de  paganisme 
que  de  faire  le  geste  de  la  priere  devant  la  statue  de  l'Empereur. 
Subir  cette  marque  aurait  ete,  pour  Maximilien,  adherer  ä  la 
religion  imperiale;  cette  adhesion  ä  une  forme  de  paganisme 
l'aurait  ravale  au  rang  des  lapsir 


^  Ce  verbe  därive  de  ittcoma  ou  incomtna,  lyxoyL^La,  mot  qui  designait 
la  toise  fichee  en  terre,  avec  laquelle  on  mesurait  les  soldats.  Cf.  Du 
Gange,  Gloss.  lat.,  s.  v.  INCOMA,  d'apres  Saumaize  ad  Lampridium,  p.  199. 

*  Acta  Maximüiani ,  dans  les  Acta  priiuarum  martyrum  sincera  et 
sehcta  de  Ruinart,  p.  300  de  Ted.  d' Amsterdam ,  1713,  reproduits  dans 
Hamack,  Militia  Christi,  p.  114 — 7:  Dion  proconsul  dixit:  „Incumetur .'" 
Cumque  incumetus  fuisset,  ex  officio  recitatum  est:  „Habet  pedes  V, 
uncias  X."  Dion  dixit  ad  officium:  „Signetur!"  Cumque  resisteret 
Maximilianus,  respondit:  „Non  facio;  non  possum  militare."  Dion  dixit: 
„Milita,  ne  pereas!  .  .  ." 


126  Paul  Perdrizet 

Autre  preuve  que  le  stigmate  militaire  etait  radicalement 
different  du  stigmate  servile:  tandis  qu'on  imprimait  celui-ci  sur 
le  front,  on  imprimait  celui-lä  sur  la  main  —  sans  nul  doute 
sur  la  main  droite.  Pourquoi  lä  plutot  qu'ailleurs?  Les  heros 
de  notre  tragedie  classique  parlent  sans  cesse  de  leur  main,  ou  de 
leur  bras,  pour  dire  leur  bravoure,  leur  force  physique  et  guerriere 

Ils  n'ont  de  leur  defaite  accuse  que  mon  bras, 
lit-on  dans  V Alexandre  de  Racine,  acte  IV,  scene  2;  et  Ton  se 
rappelle    les    propos    de   fier-ä-bras  que   le  jeune  Horace  tient 
ä  sa  soeur  {Horace,  acte  IV,  scene  5): 

Ma  sceur,  voici  le  bras  qui  venge  nos  deux  freres, 
Le  bras  qui  rompt  le  cours  de  nos  destins  contraires, 
Qui  nous  rend  inaitres  d'Alhe;  enfin,  voici  le  bras 
Qui  seul  fait  aujourd'hui  le  sort  de  deux  Etats! 

Ces  metapbores  usees  et  pour  nous  plutot  deplaisantes,  sont 
prises  des  langues  anciennes^;  elles  avaient  un  sens  tres  plein 
jadis,  dans  un  temps  oü  l'on  combattait  de  pres,  ä  l'arme 
blanche,  et  oü  l'avantage  et  la  vie  restaient  ä  qui  maniait  d'une 
main  plus  habile  et  d'un  bras  plus  robuste  le  glaire  ou  la 
pique.  De  toutes  les  parties  du  corps  d'un  soldat,  celle  qu'il 
importait  donc  le  plus  de  consacrer  au  Service  du  Divus  imperial, 
c'etait  le  bras  ou  la  main.  Une  raison  analogue  explique  peut- 
etre  que  dans  certaines  sectes  chretiennes  on  l'on  n'entrait 
qu'apres  avoir  entendu  une  catecbese  esoterique,  l'oreille  füt  la 
partie  du  corps  qui  recevait  la  marque  de  consecration.  Les 
Carpocratiens  portaient  sur  la  face  posterieure  du  lobe  de 
l'oreille  droite  une  marque  faite  au  cautere  ou  au  rasoir  ou 
au  poin9on^  —  sur  le  lobe  de  l'oreille,   parce  qu'ils  playaient 

*  Par  ex.  Virgile,  yKn.,  XII,  428 :  neque  te,  uKnea,  mea  dextera  sei-^vat. 

*  IrentSe,  Contra  haereses,  1.  I.,  eh.  20,4  (t.  I,  p.  210  Harvey)  =  Hip- 
liolyte,  ^iXoßocpov^Bva,  1.  VII,  cli.  32  (p.  256  Miller):  rovriov  ftvig  xai 
xavrriQiä^ovßi,  rovg  ISiovg  iiad-riTac  h<  rnig  öniaa  (ifgsai  rov  Xoßov  tov 
äs^iov  arög.  —  Epiphane,  Panono«,  XXVII  (Migne,  P.  G'.,  XLI,  872):  acpga- 
ytda  dh  iv  kuvt^qi,  /)  di'  iTtirrjösvCstag  |v(>/ot)  ?)  QatpiSog  inizid'SCißiv  ovrot 
ol  VTtb  KaQTioxQä  iiil  tov  öe^ibr  f.oßuv  rov  (orbg  rolg  vn   ai^xüiv  ccnaroanivoig. 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.  127 

lä  le  siege  de  la  memoire:  cette  croyance  existait  aussi  chez 
les  Grecs  et  les  Romains^,  eile  rend  raison  de  ces  pierres 
gravees^,  fort  nombreuses,  de  la  basse  epoque,  qui  representent 
une  oreille  droite  dont  une  main  touche  le  lobe;  dans  le  champ 
est  la  legende  MNHMONEYE.  Tantöt  les  Carpocratiens  scari- 
fiaient  le  lobe  de  l'oreille  avec  un  rasoir,  ou  le  per^aient  avec 
un  poin9on:  pour  expliquer  ceci,  il  faut  se  rappeler  que  roreille 
percee  etait  chez  les  Orientaux  un  signe  d'esclavage':  d'oü 
l'usage,  chez  les  Juifs,  de  percer  avec  un  poinyon  l'oreille  des 
esclaves  ä  perpetuite*  Tantöt  ils  le  brülaient  avec  le  t'er 
rouge:  la  raison  de  ce  rite  se  trouve  dans  des  textes  evan- 
geliques,  qui  expliquent  aussi  que  la  marque  füt  placee  sur  la 
face  posterieure  {sv  rotg  öxCöa  iiigsöt)  du  lobe:  >Je  vous  bap- 
tise  avec  l'eau,  avait  dit  Jean  le  Baptiste,  mais  quelqu'un 
viendra  apres  moi,  £();u£Tai  ds  [lov  ÖTcCöa,  qui  vous  baptisera 
avec  l'Esprit  et  le  feu.«  ^  Ce  bapteme  de  celui  qu'avait  annonce 
le  Baptiste  etait  signifie,  dans  la  secte  carpocratienne ,  par  la 
marque  au  cautere  imprimee  sur  la  partie  posterieure  du  lobe  de 
l'oreille:  „aVioi  di",  &s  (pr^etv' Hgax/Jav,  „xvqI  tu  aza  xav  ötpga- 
yt^ouivcov  yMX£6),^rjvavto^\  ovtag  axov6uvt£s  tö  d:co6tokr/c6v.^ 
Le  stigmate  militaire  s'imprimait  sur  la  main  droite  du 
nouveau  soldat,  comme  le  stigmate  religieux  des  Orientaux  sur 
la  main  droite  du  neophyte.     ('ette  similitude  permet  de  former 


'  Virgile,  Bucol.,  VI,  3;  Copa,  38;  mais  surtout  Pline,  Hist.  ntU., 
XI,  103  (t.  II,  p.  365  MavhofiF):  est  in  aure  ima  memoriae  locus,  quem  tan- 
gentes  antestamur  (cf.  Piaute,  Le  Perse,  IV,  9,  8;  Horace,  Sat.,  I,  9,  76); 
est  post  aurem  aeque  dexteravi  Xemeseos,  gu<ie  dea  Latinum  nomen  ne  in 
Capitolio  quidem  invenit,  quo  referimus  tactum  are  proximum  a  minitno 
digitum,  veniam  sertnonis  a  düs  ibi  recondentes. 

*  Le  Blant,  750  inscriptions  de  pierres  gravees,  dans  les  Memoires 
de  VAcademie  des  Inscriptions,  t.  XXXVI,  p.  7  et  39—41,  n^s  90—102. 
B'autres  pierres  gravees  portent  MNHMOXEYETE,  ou  MNHMONETE 
THU  KAäHZ  Tl'XIfJ^  (Spon,  Miscellanea  eruditoe  antiquitatis,  p.  297). 

'  Renan,  Histoire  d'Israel,  t.  II,  p.  366. 

*  Exod€,  XXI,  6.  '  Matth.,  UI,  11;  ii«?.,  III,  16 

"  Clement  d'Alexandrie,  Eclogae  propheticae,  25  (t.  III,  p.  143  Stählin). 


128  Paul  Perdrizet 

une  conjecture  assez  vraisemblable  sur  la  date  approximative 
ä  laquelle  le  stigmate  luilitaire  fut  institue  dans  les  armees 
imperiales.  Mais  avant  d'exposer  cette  Hypothese,  il  importe 
d'ecarter  un  texte  qui  a  induit  quelques  savants  en  erreur. 
Quand  Tertullien  (dont  l'activite  litteraire  commence  dans  la 
derniere  decade  du  IP  siecle)  ecrit,  probablement  en  se  rappelant 
des  Souvenirs  d'enfance  (il  etait  fils  de  centurion^),  qu'il  a  vu 
(dans  les  camps  de  l'armee  d'Afrique)  »Mithra  marquer  au 
front  ses  fideles«,  l'expression  dont  il  se  sert  pour  designer  les 
Mithriaques,  milites  suos^,  n'implique  nullement^  que  le  signe 
dont  il  s'agit  fut  imite  de  la  marque  militaire,  qui,  je  crois, 
n'etait  pas  encore  en  usage  au  temps  oü  Tertullien  etait  enfant 
de  troupe;  car  la  marque  militaire  etait  imprimee  ä  la  main, 
tandis  que  le  signe  des  Mithriaques  l'etait  sur  le  front;  d'ailleurs 
la  marque  militaire  semble  avoir  ete  un  tatouage,  et  le  signe 
des  Mithriaques  une  marque  au  fer  rouge.^ 

Ce  texte  de  Tertullien  ecarte,  le  temoignage  le  plus  ancien 
concernant  le   stigmate  militaire  est  celui  de  Cyprien  (f  258), 

'  Schanz,  Eöm.  Litt.*,  t.  III,  p.  280;  cf.  Harnack,  Militia  Christi, 
p.  39:  „als  Soldatenkind  scheint  Tertullian  im  Lager  die  Zeremonie  ge- 
sehen zu  haben." 

*  De  praescriptione  liaereticoi'um,  eh.  40,  p.  577  Oehler:  Diaboli 
sunt  partes  intervertendi  veritatem,  qui  ipsas  quoque  res  sacramentorum 
divinorum  idolorum  mysteriis  aeinulatur.  Tingit  et  ipse  quosdam,  utique 
credentes  et  fideles  suos;  expiationem  delictorum  de  lavacro  repromittit, 
et,  si  adhuc  memini,  Mithra  signat  illic  in  frontibus  milites  suos,  celebrat 
et  panis  oblationem  et  imaginem  resurr ectionis  inducit. 

"  Elle  n'implique  pas  non  plus,  je  crois,  que  ce  signe  fut  confär^ 
au  Mithriaque  quand  il  parvenait  au  grade  de  miles,  le  troisifeme  de  la 
hi^rarchie  mithriaque.  Le  mot  milites,  dans  ce  texte  de  Tertullien,  a  le 
sens  metaphorique  „d'adeptes",  de  „fideles",  comme  on  dirait  milites 
Christi  pour  designer  les  Chretiens.  Sur  ce  point,  je  me  säpare  de 
Franz  Cumont  {Textes  et  monuments  relatifs  aux  mystires  de  Mithra,  t.  I, 
p.  318—9). 

■•  Gregoire  de  Naziance  reproche  ü,  Julien  de  mepriser  les  martyrs 
chrdtiens,  lui  qui  admire  ras  ^x  Mi&QOV  ßacävovg  xai  %av6Bii  ivöixovg 
rag  (iveriKag  (Migne,  P.  G.,  XXXV,  592  —  et  non  620,  comme  cite 
Cumont,  Textes  et  monuments,  t.  II,  p.  15  b). 


La  miraculeuse  histoire  de  Pandare  et  d'Echedore  etc.         129 

dans  sa  lettre  ä  Donat.  Ceux  d'Ambroise,  de  Jerönie  et  de 
Jean  Ciirysostome,  ceux  de  Vegece  et  d'Aetios  sont  beaucoup 
plus  tardifs.  Du  reste,  aucun  de  ces  auteurs  ne  parle  du  stig- 
mate  militaire  comme  d'une  institution  recente. 

Si  l'usage  de  marquer  la  main  droite  du  soldat  derive 
vraiment  du  rite  de  marquer  la  main  droite  du  fidele,  on  peut 
supposer,  etant  donnee  l'origine  Orientale  de  ce  rite,  que  le 
stigmate  militaire  a  ete  introduit  d'abord  dans  l'armee  romaine 
d'Orient,  et  plus  precisement  dans  les  legions  de  Syrie,  sous  1^ 
empereurs  Syriens,  au  debut  du  IIP  si^cle.  II  aurait  ete  institue 
par  l'empereur  oriental  et  Syrien  par  excellence,  ce  Baöiavog^  en 
qui  s'incamait  l'Elagabal  d'Emese,  que  l'on  n'en  serait  pas  etonne. 

Quand  au  debut  du  II®  siecle,  Juvenal  ecrivait 
lam  pridem  Syrus  in  Tiberim  defluxit  Orontes', 

il  signalait  un  phenomene  qai  avait  commence  bien  avant  lai, 
et  qui,  apres  lui,  devait  prendre  des  proportions  immenses, 
au  für  et  ä  mesure  des  progres  du  culte  imperial  et  des  cultes 
orientaux  dans  Rome,  christianisme  compris.  On  a  remarque 
souvent  que  le  culte  imperial  fut  accepte  beaucoup  plus  tot  et 
plus  aisement  par  les  Orientaux  de  l'Empire,  et  qu'üs  le 
pousserent  beaucoup  plus  loin  que  les  Occidentaux:  le  prosterne- 
ment  devant  l'empereur,  le  nom  de  Ssog  ou  de  Divus  donne 
ä  l'empereur  vivant,  sont  d'origine  Orientale^;  de  meme,  sans 
deute,  le  stigmate  müitaire,  en  qui  l'on  retrouve  la  vieille 
croyance  de  l'Orient  ä  la  divinite  des  souverains.  On  y  retrouve 
d'autres  choses  encore,  bien  orientales  aussi,  la  croyance  ä  la 
vertu  prophylactique  du  nom  divin,  le  desir  ardent  du  fidele 
de  consacrer  son  corps  ä  son  dieu,  le  rite  tres  antique  des 
marques  de  consecration. 

*  C'est  la  vraie  forme  de  ce  nom,  derive  de  basus,  mot  oriental 
qui  signifiait,   ce  aemble,   »grand  pretre«:  cf.  v.  Domaszewski,  Religion 
von  Emesa,  dans  cet  Archiv,  t.  XI,  p.  237   (=  Ahh.  zur  röm.  Religion, 
i      p.  211).  *  Sat.,  lU,  62.  »  Benrlier,  op.  dt.,  p.  52—4. 


ArclÜT  f.  Beligionswissenschaft  XIV 


Das  Alter  des  israelitischen  Yersöhnungstages 

Von  Hubert  Grimme  in  Münster  i.  W. 
(Mit  einer  Abbildung) 

In  meiner  Studie  „Das  israelitisclie  Pfingstfest  und  der 
Plejadenkult"  (Studien  zur  Geschichte  und  Kultur  des  Alter- 
tums I,  1)  hatte  ich  zu  zeigen  versucht,  daß  von  den  drei 
israelitischen  Festen,  die  Wellhausen  als  eine  organisch  zu- 
sammengehörige Gruppe  bezeichnet  hat,  das  mittlere,  Schabuoth, 
sich  nach  Ursprung  und  Inhalt  so  erheblich  von  den  beiden 
anderen,  Mazzoth  und  Sukkoth,  unterscheide,  daß  der  Begriff 
einer"  alten  Erntefestdreiheit  nicht  aufrecht  zu  halten  sei. 
Im  weiteren  Verlauf  der  Untersuchung  kam  ich  dazu,  mich 
über  das  Alter  der  verschiedenen  biblischen  Feste  auszusprechen. 
Ich  fand,  es  könne  die  Dreizahl  der  Feste,  die  Deuteronomium 
als  legal  bezeichnet,  keineswegs  älter  sein  als  die  Fünfzahl 
von  Leviticus  und  Numeri.  Die  Idee  einer  Weiterentwicklung 
der  einen  zur  anderen  sei  nicht  zu  halten;  beide  Festtafeln 
seien  insofern  voneinander  unabhängig,  als  jede  ein  anderes 
Publikum  von  Festfeiernden  vor  Augen  habe.  Die  Fünfertafel 
enthalte  alle  Feste  der  zweigeteilten,  d.  h.  aus  Heiligen  und 
Profanen  bestehenden  altisraelitischen  Gemeinde;  was  sie 
an  Festen  ohne  nähere  Zusätze  anführe,  ginge  die  Gesamt- 
gemeinde an;  was  aber  die  Bezeichnung  "CTp  N"ip7a  bzw.  rriiüy 
trage  (nämlich  der  1.  und  7.  Tag  von  Mazzoth,  der  Schluß 
des  Festaktes  von  Schabuoth,  der  1.  und  8.  Tag  von  Sukkoth, 
das  Neujahrs-  und  Versöhnungsfest),  seien  Versammlungen  der 
Heiligen  (=  Internen)  gewesen.  Das  Deuteronomium  habe,  ent- 
sprechend  seiner  Tendenz    die  Gemeinde   zu   imiformieren,   in 


Hubert  Grimme     Das  Alter  des  israelitischen  Versöhnungstages     131 

seiner  Liste  die  Versammlungen  der  Kadösche  möglichst  zurück- 
treten lassen,  und  sei  so  infolge  des  Ausscheidens  zweier  ihrer 
Sonderfeste  zu  seiner  Dreizahl  gelangt 

Gegen  diese  meine  Ansicht  ließe  sich  einwenden,  daß  doch 
eines  der  Feste,  die  in  der  Fünferliste  mit  der  Charakterisierung 
'CTp  arrp'n  auftritt,  das  auf  den  10.  VII.  gesetzte  Versöhnungs- 
fest, von  Wellhausen  durch  sehr  starke  Argumente  als  nach- 
exilisch  dargetan  sei,  somit  das  cTp  N~pr:  nicht  auf  Sonder- 
verhältnisse in  der  altisraelitischen  Gemeinde  hinweisen  könne. 
Daraufhin  möchte  ich  der  Frage  nach  dem  Alter  dieses  Ver- 
söhnungstages einmal  näher  treten  und  untersuchen,  ob  Well- 
huusens  Argumente  wirklich  durchschlagend  sind,  und  ob  sich 
uicht  positive  Anhaltspunkte  für  ein  höheres  Alter  der  Ver- 
söhnungstagfeier finden  lassen. 

Wellhausen  (Prol*.  S.  105)  behauptet,  die  ersten  embryo- 
uischen  Keime  eines  Versöhnungsfestes  wären  erst  im  Exile 
/.utage  getreten;  das  machten  Ezechiel  und  Zacharia  wahr- 
scheinlich. Für  eine  solche  Wahrscheinlichkeit  spricht  nur  wenig. 
In  Ezechiels  Festordnung  ist  davon  die  Rede,  daß  der  Priester 
wie  am  1.  I.  so  auch  am  1.  VII.  (gemäß  der  Lesart  der  Sept.) 
den  Tempel  entsühnen  solle  und  zwar  am  letzteren  Termin 
„wegen  derer,  die  versehentlich  und  unwissentlich  gesündigt" 
(tiei  ri5Ö  C"»«?:).  Diesen  am  1.  VII.  vorzunehmenden  Akt  be- 
zeichnet Wellhausen  als  einen  Vorläufer  des  Jöm-Kippür- Ritus 
des  Gesetzes.  Wenn  auch  nicht  zu  leugnen  ist,  daß  zwischen 
beiden  Veranstaltungen  Ähnlichkeit,  ja  Zusammenhang  besteht, 
80  wird  damit  der  Versöhnungstag  des  Ezechiel  keineswegs  zum 
Prototyp  desjenigen  der  Thora;  er  kann  auch  einer  Umformung 
des  letzteren  entstammen.  Ezechiel  fühlte  sich  zum  Refor- 
mator des  Kultus  im  Sinne  des  strengen  Jahwismus  berufen: 
deshalb  möchte  er  das  doch  gewiß  alte  Pfingstfest,  in  dem  er 
das  altheidüische  Substrat  wohl  noch  durchschimmern  sah, 
ganz  abschaffen:  deshalb  mußte  ihm  auch  das  Ritual  des  gesetz- 
lichen Versöhnungstages,  dessen  Azazelzeremonie  einem  Jahwe- 


132  Hubert  Grimme 

Verehrer  Skrupel  machen  konnte,  reformbedürftig  erscheinen. 
Daraufhin  mag  die  Sühnung  der  Gemeinde  ron  ihm  in  eine 
Reinigung  des  Tempelraumes  umgewandelt  worden  sein.  Diese 
verlegte  er  auf  den  1 .  VII.,  weil  er  den  Neujahrscharakter 
des  10.  VII.  entweder  nicht  mehr  erkannte  oder  nicht  gelten 
lassen  wollte  und  für  jede  der  Jahreshälften  zwei  einander 
parallele  Festtage  anstrebte.  Somit  dürfte  der  Versöhnungstag 
des  Ezechiel  nichts  Embryonales,  wohl  aber  Rudimentäres  an 
sich  tragen. 

Weiter  findet  Wellhausen,  auch  der  Prophet  Zacharia 
habe  von  einem  Versöhnungstag  im  Sinne  des  Gesetzes  nichts 
gewußt;  denn  von  den  bei  ihm  erwähnten  vier  Fast-  und  Klage- 
tagen, als  deren  Termin  er  ganz  allgemeiu  den  5.  und  7.,  4. 
und  10.  Monat  nennt,  sei  keiner  als  Versöhnungstag  anzu- 
sprechen. Letzteres  kann  man  Wellhausen  ohne  weiteres  zu- 
geben: der  Prophet  zählt  vier  Tage  auf,  die  die  Erinnerung 
an  vier  ünglückstage  Judas  wach  hielten.  Aber  zum  Beweise 
für  das  Nichtvorhandensein  des  gesetzlichen  Versöhnungstages 
genügen  diese  Aufzählungen  nicht.  Der  Prophet  erwähnt 
vier  Tage,  an  denen  gefastet  wurde  im  Hinblick  auf  nationales 
Unglück,  um  in  Aussicht  zu  stellen,  daß  diese  später  „zu  Freude 
und  Jubel  und  zu  frohen  Festzeiten"  werden  sollten,  wenn 
Israel  seine  religiösen  und  sittlichen  Pflichten  ernster  nähme. 
Den  Versöhnungstag  neben  diesen  Trauertagen  zu  nennen  hatte 
der  Prophet  gar  keine  Veranlassung;  wie  sein  Inhalt  Sünden- 
bekenntnis und  Buße  war  und  er  in  einem  Reinigungsakt  der 
Gemeinde  seinen  Abschluß  fand,  so  hätte  Zacharia  eher  auf 
seine  bleibende  Bedeutung  für  Israel,  als  auf  das  Wünschens- 
werte einer  Umänderung  seines  Charakters  hinweisen   können. 

Aber  das  Zeugnis  von  Ezechiel  und  Zacharia  wiegt  in 
Wellhausens  Beweis  nicht  so  schwer  wie  das  von  Nehemia 
8 — 9.  Dieses  soll  ausschlaggebend  sein,  „Ezra"  —  sagt  er  — 
„begann  die  Vorlesung  des  Gesetzes  am  Anfang  des  7.  Monats, 
danach   am   15.  wird   Laubhütten   begangen:  von   einer  Sühn- 


Das  Alter  des  israelitischen  Yersöhnongstages  133 

feier  am  10.  des  Monats  wird  in  der  genauen  und  gerade  für 
Liturgisches  interessierten  Erzählung  nichts  berichtet,  sie  wird 
dagegen  am  24.  nachgeholt.  Dies  testimonium  e  silentio  ist 
vollgültig  —  bis  dahin  bestand  der  große  Tag  des  Priester- 
kodex nicht,  der  erst  jetzt  eingeführt  wurde."  Hier  ist  zu 
fragen,  warum  Ezra,  der  jeden  Buchstaben  des  Gesetzes  für 
verbindlich  nahm,  den  Tag  nicht  schon  am  10.  VII.  begangen 
habe.    War  er  bei  der  Lesung  bzw.  Promulgierung  des  Gesetzes 

m  '2.  VIL  schon  bis  zur  Laubhüttenfeier  gekommen,  so  war  die 
Erwähnung  des  Yersöhnungstages  sicher  schon  vorhergegangen. 
Wellhausen,  dem  überhaupt  die  Termine  der  jüdischen  Feste 
Nebensachen  sind,  geht  darüber  leicht  hinweg:  „Sein  Termin 
wird"  —  er  sagt  nicht,  ob  unter  Ezra  oder  einem  späteren  — 
..teilweise    im   Anschluß   an    Ezechiel   durch  das    alte   Neujahr 

Lev.  25,  9)  bedingt  sein,  teilweise  im  Anschluß  an  Zacharia 
durch  das  Fasten  Gedaljas,  welches  freilich  später  dann  doch 
noch  besonders  gefeiert  wurde."  Der  letzte  Zusatz  vermindert 
die  Beweiskraft  dieser  Ausführung  außerordentlich;  denn 
wenn  der  Versöhnungstag  vom  Termin  des  Gedaljafastens  Be- 
sitz ergriffen  hätte,  so  würde  das  unter  gewöhnlichen  Um- 
ständen die  Verdrängung  des  letzteren  durch  den  ersteren  be- 
deuten, nicht  aber,  daß  sich  das  Gedaljafasten  einen  neuen  Ter- 
min gesucht  hätte. 

Immerhin  wirkt  es  auf  den  ersten  Blick  befremdend,  daß 
der  Bericht  bei  Nehemia  nichts  von  einer  am  10.  VII.  ab- 
gehaltenen Versöhnungstagfeier  enthält.  Und  was  soll  man  von 
dem  Wesen  der  Veranstaltung  am  24.  VII  halten,  bei  welcher 
der  Gedanke  der  Sühne  für  die  Sünden  der  Anwesenden  unter 
Hinweis  auf  alle  Vergehungen  der  früheren  Geschlechter  im 
Vordergrunde  stand?  Um  Antwort  auf  solche  Bedenken  und 
Fragen  zu  geben,  muß  ich  ein  Gebiet  betreten,  das  zu  den 
dimkelsten  der  hebräischen  Altertumskunde  gehört,  in  der  Hoff- 
nung,  ein  wenig  zu  seiner  Aufhellung  beitragen  zu  können: 
ich  meine  das  der  israelitischen  Schaltpraxis. 


134  Hubert  Grimme 

Für  die  Jahre srechnung  der  Israeliten  war  von  alters- 
her  der  Mondlauf  maßgebend.  So  war  ihr  Jahr  ein  Mondjahr, 
allerdings  ein  gebundenes,  das  durch  Schaltungen  mit  dem 
Sonnenlauf  und  dem  dadurch  bedingten  regelmäßigen  Wechsel 
der  Jahreszeiten  in  Einklang  gebracht  wurde.  Über  die  dabei 
befolgte  Schaltpraxis  liegen  direkte  Zeugnisse  bisher  nicht  vor; 
dennoch  scheint  es  möglich,  an  der  Hand  biblischer  Berichte 
das  Prinzip  derselben  in  etwa  festzustellen. 

Ich  gehe  von  einer  König  Jeroboam  betreffenden  Notiz  des 
ersten  Königsbuches  aus.  Hier  wird  Kap.  12,  32 ff.  über  eine 
dem  jüdischen  Berichterstatter  ketzerisch  scheinende  Maßnahme 
folgendes  mitgeteilt: 

1V2a1l^  nby-i'ca  n-^brij^b  nnrb  bx-r-^nn  riirN  p  nntörr  b3?-by"^i  nniri-'n 
bN-p-^sa  niiy-ncN  nntt:^;  by  hy^i  ;  nby  icn  m7:an  "»^riiD-rN  bN  r">33 
123b  5n  iD3>iT  inb^^  Nin— iiir»!  cnrin  i^^üt:!"!  liinn  ar  ^b>'  ricT^nn 

:  -i^Liprib  nNT72ri-br  b^T  bNiiij-> 

Textlich  ist  dieser  Bericht  in  üblem  Zustande:  darauf 
weisen  schon  die  vier  von  altjüdischen  Textkritikern  eingescho- 
benen Pesik  und  die  Berichtigung  des  nnbtt  durch  das  Kere 
lab»;  das  zeigen  stilistische  Unebenheiten  wie  die  dreimalige 
Wiederkehr  der  Wendungen  niayn^N  und  nntttlri-b:?  by^").  Die 
Urform  der  Stelle  wird  wohl  bedeutend  kürzer  gelautet  haben, 
etwa  folgenderweise: 

bN-n^na  nb3>-"i^N  nST^rrb:»  bs^^i  rtiirfn  -icx  ans  :;n  crn'ni  ^^-^t 

:  bkSnbi 
„Da  veranstaltete  Jeroboam  ein  (Laubhütten-) Fest,  wie 
es  in  Juda  gefeiert  wurde,  und  stieg  zum  Schlachtaltar  hinauf,  den 
er  in  Bethel  errichtet  hatte,  am  15.  Tage  des  8.  Monats,  eines 
Monats,  den  er  von  sich  aus  neu  eingesetzt^  hatte, 
und  veranstaltete  den  Israeliten  das  Fest." 


'  fifia  wird  besser  mit  arab.  bada'a,  badaja  ,schaffeu'  ,ueu  machei 
zu  vergleichen  sein  als  mit  syr.  badä  ,erlügen'. 


Das  Alter  des  israelitischen  Versöhntmgstages  135 

Über  das,  was  diese  Stelle  aussagt  —  einerlei  ob  man  sie 
iu  der  überlieferten  oder  der  korrigierten  Fassung  nimmt  — 
sind  die  Exegeten  verschiedener  Meinung.  So  lesen  Benzinger 
und  Kittel  in  ihren  Handkommentaren  zu  den  Königsbüchem 
—  jener  mit  Sicherheit,  dieser  mit  Wahrscheinlichkeit  — 
heraus,  daß  in  Juda  bzw.  Jerusalem  vor  der  Zeit  Jeroboams 
ier  Termin  für  das  Laubhüttenfest  der  15.  VIIl.  gewesen 
sei,  und  daß  dieser  Termin  unter  jenem  Könige  auch  für 
das  Nordreich  für  maßgebend  erklärt  worden  sei.  Hier- 
gegen hat  E.  König  (ZDMG  1906,  638)  betont,  daß  es 
dem  Autor  nicht  darum  zu  tun  gewesen  wäre,  das  jerusa- 
lemische Fest  als  auf  den  15.  VIIL  fallend  zu  konstatieren, 
sondern  festzustellen,  das  Fest  sei  im  Nordreiche  von  Jeroboam 
auf  einen  neuen  Termin,  den  15.  VIIL,  verlegt.  Bei  dieser 
Interpretation,  die  ich  für  die  richtige  halte,  fragt  es  sich, 
was  für  eine  Bewandtnis  es  mit  diesem  8.  Monat  habe,  den 
Jeroboam  „von  sich  aus  neu  eingesetzt^'.  Ich  glaube,  es  kann 
sich  dabei  nur  um  einen  Schaltraonat  handeln.  Wie  es  in 
Babylonien  in  der  Kompetenz  der  Könige  lag,  nötigenfalls 
einen  Schaltmonat  in  das  Jahr  einzusetzen  (vgl.  Brief  4  des 
Hamraurabi  an  Siniddinam  bezüglich  Einschaltung  eines  Monats 
hinter  dem  Ulul  oder  6.  Monat),  so  wird  auch  Jeroboam,  der  viel- 
leicht bei  seinem  Aufenthalt  in  Ägypten  einer  Unregelmäßig- 
keit in  der  Jahresrechnung  Israels  inne  geworden  war,  sich  das 
Recht  genommen  haben,  einen  Schaltmonat  einzufügen,  vermutlich 
einen  zweiten  Adar,  da  in  der  älteren  Königszeit  wohl  der 
Herbst  Jahresanfang  bedeutete.  Seit  dieser  Schaltung  fiel  nach 
der  Anschauung  der  Judäer,  für  welche  die  Neuerung  Jeroboams 
nicht  maßgebend  war,  das  Laubhüttenfest  des  Nordreiches  in 
den  2.  Monat  —  bzw.  nach  Einführung  des  Frühlingstermins 
für  Neujahr  —  in  den  achten. 

Aus  dem  Schalten  des  Jeroboam  läßt  sich  nicht  ohne 
weiteres  entnehmen,  ob  in  Israel  die  Jahresregulierung  eine 
nur   gelegentliche    oder    eine    regelmäßig   wiederkehrende  war. 


136  Hubert  Grimme 

Aber  mit  Hilfe  eines  anderen  biblischen  Bericbtes  kommt  man 
dazu,  letzteres  für  wahrscheinlicher  zu  halten  und  zugleich 
darzutun,  daß  sich  das  Südreich  vom  Nordreich  bezüglich  der 
regelmäßigen  Schaltung  nicht  unterschieden  habe. 

In  2  Chronik.  Kap.  30  wird  berichtet,  König  Hiskia  habe 
nach  Beratung  mit  den  Obersten  unter  Zustimmung  der  Volks- 
gemeinde beschlossen,  das  Passahfest  statt  im  ersten  Monat  erst  im 
zweiten  zu  feiern.  Daraufhin  seien  Boten  wie  durch  Juda  so 
auch  durch  Israel,  speziell  auch  zu  den  Stämmen  Ephraim  und 
Manasse,  gesandt,  um  zur  Teilnahme  an  diesem  Passah  ein- 
zuladen. Die  große  Mehrzahl  der  Nordisraeliten  habe  jedoch 
die  Einladung  höhnisch  abgewiesen,  so  daß  die  Festfeier  nur 
unter  Assistenz  von  Jadäern  und  einigen  wenigen  Gästen  aus 
Asser,  Manasse  und  Zebuion  vor  sich  gegangen  wäre. 

Hiskia  muß  sehr  triftige  Gründe  gehabt  haben,  um  das 
traditionell  auf  den  14.  I.  fallende  Passahfest  einen  Monat 
später  zu  feiern.  Jedenfalls  waren  es  andere  als  die,  welche 
die  Chronik  ihm  unterlegt.  Da  das  mosaische  Gesetz  (Num. 
9, 6  ff.)  die  Möglichkeit  einer  Passahfeier  am  14.  II.  vorsah, 
nämlich  für  solche,  die  wegen  Verunreinigung  durch  eine  Leiche 
oder  wegen  einer  weiten  Reise  den  regelmäßigen  Passahtermin 
nicht  innehalten  konnten,  so  möchte  der  Chronist  —  oder  eher 
noch  ein  Interpolator  —  den  späten  Termin  des  Passahs  des 
Hiskia  damit  erklären,  daß  die  Priester  vorher  nicht  mit  ihrer 
Heiligung  fertig  geworden  seien  und  noch  nicht  genügend  Volk  in 
Jerusalem  zugegen  gewesen  wäre.  Aber  diese  Gründe  erklären  nicht 
die  großen  und  offenbar  wohlüberlegten  Vorkehrungen,  die  für 
das  Fest  seitens  des  Hofes  getroffen  waren.  Ein  Blick  auf  die 
damalige  Zeit  und  Zeitlage  gibt  uns  den  Schlüssel  zur  richtigen 
Beurteilung  der  auffälligen  Maßnahme.  Sie  ist  frühestens  im 
7.  Jahre  des  Hiskia  erfolgt  —  ob  auch  die  Chronik  den  Bericht 
darüber  unmittelbar  auf  die  Erzählung  von  kultischen  Reformen 
aus  dem  1.  Jahre  des  Königs  folgen  läßt  — :  das  geht  aufs 
deutlichste  aus  den  Werbereden   hervor,  womit  die  Boten  des 


Das  Alter  des  israelitischen  Versöhnungstages  137 

Königs  an  die  Nordstämme  herantraten:  ,.lhr  Israeliten,  bekehrt 
euch  zu  Jahwe,  dem  Gott  Abrahams,  Isaaks  und  Israels,  damit 
er  sich  den  Entronnenen  zukehre,  die  euch  aus  der  Gewalt 
der  Könige  vor  Assyrien  noch  übrig  geblieben  sind,  usw." 
Hiernach  war  die  große  Katastrophe  über  das  Xordreich  schon 
hereingebrochen,  die  nach  2  Kg.  10,10  im  6.  Jahre  des  Hiskia 
erfolgte.  Dadurch  waren  die  Nordstämme  ihrer  Heiligtümer 
und  Kultbehörden  verlustig  gegangen,  und  es  war  für  sie  jetzt 
eine  brennende  Frage,  von  welcher  Seite  sie  dafür  Ersatz  be- 
kommen würden.  Was  lag  da  für  Hiskia  näher,  als  den  Ver- 
such zu  machen,  jene  zu  bewegen,  sich  den  Jerusalem ischen 
Tempel  als  geistlichen  Mittelpunkt  zu  wählen?  Nun  wäre  aber 
ein  solcher  Versuch  ohne  Konzessionen  an  die  religiöse  Eigen- 
art der  Nordstämme  von  vornherein  aussichtslos  gewesen;  so 
nehme  ich  an,  daß  Hiskia  gewillt  war,  das  israelitische  Jahr 
und  damit  den  Festkalender  Saraarias  für  Jerusalem  zu  akzep- 
tieren. Das  Signal  dazu  sollte  die  Feier  von  Passah  im  zweiten 
Monat  sein,  der  der  Monat  des  israelitischen  Passahfestes  war, 
da  ja  —  wie  oben  gezeigt  —  das  israelitische  Laubhüttenfest 
in  den  (judäischen)  8.  Monat  fiel.  Trotz  dieses  Entgegen- 
kommens erreichte  der  kluge  König  nicht  das  Angestrebte.  Zum 
Spott,  den  sein  Anerbieten  bei  den  Nordstämmen,  die  seine 
Politik  durchschauen  mochten,  hervorrief,  scheint  er  von  selten 
der  strenggläubigen  Judäer  noch  den  Vorwurf  der  Gottlosigkeit 
geemtet  zu  haben,  wie  aus  der  bösen  Note  zu  schließen  ist, 
die  er  in  der  Mischna  bekommt  (Traktat  Pesachim  4):  weil  er 
..einen  Nisan  im  Nisan  einschaltete"  (ic::  ic;  2-jr).  Es  ist 
wahrscheinlich,  daß  Hiskia  nach  seinem  Mißerfolg  den  Gedanken, 
das  israelitische  Jahr  in  Juda  einzuführen,  fallen  gelassen 
habe;  jedenfalls  entsprach  unter  Josia  (vgl.  2  Chronik.  35,  i)  der 
Passahtermin  wieder  den  alten  Bedincmnffen. 

o       o 

Wenn  nun  nach  dem  vorhergehenden  das  judäische  Jahr 
von  dem  israelitischen  sich  nur  dadurch  unterschied,  daß  es  um 
einen   Monat   später  begann   als  jenes,   und    das   Schalten   des 


138  Hubert  Grimme 

Jeroboam  diese  Differenz  bewirkt  hatte,  so  muß  in  den  200  Jahren 
zwischen  Jeroboam  und  Hiskia  das  Mondjahr  des  Nord-  und 
Südreiches  nach  dem  gleichen  Schaltprinzip  reguliert  worden 
sein.  Es  war  dies  wohl  ein  dreijähriger  Zyklus:  das  schließe 
ich  aus  dem  Termin  des  gesetzlichen  Versöhnungstages,  wobei 
ich  im  Gegen satze  zu  Wellhausen  ihn  samt  den  Terminen  aller 
jüdischen  Feste  als  etwas  im  Wesen  der  Feste  Begründetes  ansehe. 
Nach  Lev.  16,29;  23,27;  Num.  29,7  ist  der  10.  VII.  der  Tag 
der  Versöhnungsfeier.  Wellhausen  (Prol.  105)  hat  auf  den 
Neujahrscharakter  dieses  Tages  hingewiesen,  da  auch  das  Jobel- 
jahr  am  10.  VII.  seinen  Anfang  nähme,  und  fügt  daran  die 
Vermutung,  während  des  Exils  sei  Neujahr  noch  am  10.  VII. 
in  der  jüdischen  Gemeinde  gefeiert  worden.  Daran  anschließend 
erklärt  Bertholet  (Komm,  zu  Lev.  16)  es  für  undenkbar,  daß, 
wenn  zwei  Neujahrstermine  —  einer  1.  VII,  der  andere 
10.  YiL  —  überliefert  seien,  der  letztere  auffälligere  nicht  auch 
der  ältere  sei.  Dieser  Schluß  ist  übereilt.  Zwei  Neujahrs- 
termine können  recht  wohl  neben  einander  bestanden  haben, 
unter  der  Voraussetzung,  daß  in  der  Rechnung  Gottes  das  Jahr 
anders  begrenzt  sei  als  in  der  Rechnung  der  Menschen.  Im 
bürgerlichen  Leben  erwies  es  sich  als  praktisch,  die  Differenz 
zwischen  dem  zwölfmaligen  Mondumlauf  und  dem  einmaligen 
(scheinbaren)  Sonnenumlauf  erst  dann  zur  Jahreslänge  hinzu- 
zufügen, wenn  sie  die  Länge  von  einem  Monate  erreicht  hatte, 
d.  h.  in  der  Regel  nach  je  drei  Jahren;  dabei  fiel  das  bürger- 
liche Neujahr  stets  auf  den  ersten  eines  Mondmonats.  Aber 
das  Jahr,  nach  welchem  Gott  rechnete,  wenn  er  das  Fazit  der 
Jahressünden  der  Menschheit  zog,  konnte  nicht  ein  künstlich 
zurechtgemachtes  sein;  es  mußte  in  seiner  Länge  den  natür- 
lichen Bedingungen  entsprechen,  war  somit  erst  nach  Verlauf  von 
12  Monaten  und  der  zwischen  9  und  10  Tagen  schwankenden 
Differenz  zu  Ende.  Dann  fiel  aber  das  göttliche  Neujahr 
auf  den  10.  VII.,  den  Tag  der  gesetzlichen  Sühnfeier,  und  diese 
bedeutete  somit  die  Neujahrsfeier  Gottes. 


Das  Alter  des  israelitischen  Versöhnungstages  2.39 

Aber  indem  man  Gott  größere  Konsequenz  in  der  Jahres- 
begrenzung zuschrieb,  als  im  bürgerlichen  Leben  nötig  war, 
konnte  sein  Neujahrstermin  nicht  immer  auf  den  10.  VII.  fallen; 
er  mußte  vielmehr  ein  wandernder  sein,  der  innerhalb  dreier 
bürgerlichen  Jahre,  von  denen  das  dritte  ein  Schaltjahr  war, 
der  Ileihe  nach  auf  den  10.  VII.,  20.  VII.  und  1.  \^I.  fiel.  Läßt 
sich  für  ein  solches  Wandern  des  Versöhnungstages  ein  biblisches 
Zeugnis  beibringen? 

Als  ein  solches  betrachte  ich  die  Nachricht  Neh.  9  über 
den  von  der  jüdischen  Gemeinde  unter  Ezra  abgehaltenen  Fast- 
und  Bußtag.  Man  ist  darüber  einig,  daß  er  als  Versöhnungs- 
tag genommen  werden  könnte,  falls  sein  Termin  es  zuließe. 
Nun  stimmt  aber  m.  E.  dieser  zu  den  oben  entwickelten  Vor- 
bedingungen für  das  göttliche  Neujahr.  Man  nehme  an,  es 
liege  hier  der  zweite  der  wandernden  Neujahrstermine  vor:  dann 
konnte  von  Seiten  der  Gemeinde  vermutlich  erst  am  24.  VII. 
der  Neujahrssühnakt  verrichtet  werden.  Am  20.  VII.  hinderte 
die  Feier  des  Laubhüttenfestes  dessen  Abhaltuncr;  desgleichen 
an  den  weiteren  zwei  Tagen.  Weshalb  der  nun  folgende  23.  VII. 
nicht  zum  Fasttag  taugte,  geht  zwar  aus  der  Bibel  nicht 
hervor,  wohl  aber  aus  der  späteren  jüdischen  Praxis.  Ihr  ist  der 
23.  der  Tag  des  eigenartigen  Festes  Simchath»Thora,  das  eine  Art 
von  religiösem  Bacchanal  vorstellt.  Man  bezeichnet  es  als  eine 
rabbinische  Einrichtung,  aus  keinem  anderen  Grunde,  als  weil 
überhaupt  keine  Zeugnisse  über  seine  Entstehung  vorliegen. 
Nachdem  sich  mir  aber  in  meiner  Studie  über  das  israelitische 
Pfingstfest  (S.  103  f.)  herausgestellt,  daß  segar  der  Halbfeiertag 
Lag  Beomer  (d.  i.  der  33.  Tag  nach  Ostern),  eine  angeblich 
rabbinische  Einrichtung,  altorientalischen  Ursprungs  ist,  halte 
ich  es  nicht  für  zu  gewagt,  auch  Simchath-Thora  für  ein 
aus  gutbiblischer  Zeit  stammendes  Fest  zu  nehmen,  das,  weü 
nicht  ersten  Ranges,  in  der  Thora  unerwähnt  gelassen  wurde, 
auch  nicht  wie  die  vier  oben  erwähnten  nationalen  Fasttage 
eine  zufällige  Erwähnung  in  der  Bibel  erfahren  hat,  aber  schon 


140  Hubert  Grimme 

durch  sein  gar  nicht  zu  mittelalterlichen  Kulteinrichtungen 
passendes  Wesen  sich  als  alt  ausweist.  War  nun  der  23.  VII. 
durch  eine  Art  Simchath-Thora- Feier  besetzt,  so  konnte  die 
jüdische  Gemeinde  erst  am  24.  VII.  das  göttliche  Neujahr  in 
ernster  Weise  mitfeiern. 

Hiermit  stehen  wir  am  Endpunkte  des  Beweises,  daß  der 
Bericht  über  die  Kultreform  des  Ezra  nicht  gegen,  sondern  für 
die  Annahme  eines  hohen  Alters  des  Versöhnungstages  spricht. 
Zwar  konnte  ich  nur  Indizien  für  meine  These  vorbringen, 
aber  solche  in  geschlossener  Kette.  Sollte  ein  derartiger  Indi- 
zienbeweis weniger  wiegen  als  der  Beweis  e  silentio,  auf  den 
gestützt  Wellhausen  behauptet,  daß  von  einer  Versöhnungs- 
feier vor  Ezra  nicht  die  Rede  sein  könne? 

Nachdem  so  die  Schranke  entfernt  ist,  die  die  Forschung 
bewog,  die  Entwicklung  der  Versöhnungsfeier  in  nachexilische 
Zeit  zu  verlegen,  eröffnet  sich  im  Hinblick  auf  das  Ritual  der 
Feier  die  Möglichkeit,  diese  dem  ältesten  Bestände  des  Gesetzes 
zuzurechnen,  ja,  sie  mit  der  Werdezeit  des  Volkes  Israel  in 
Verbindung  zu  bringen.  Dabei  habe  ich  vor  allem  die  Azazel- 
zeremonie  im  Auge.  Diese  enthält  in  dem  Zuge,  daß  die 
Sünden  der  Gemeinde  einem  Ziegenbocke  aufgehalst  werden, 
der  sie  zu  Azazel  in  die  Steppe  zu  tragen  hat,  die  Anerkennung 
eines  im  Gegensatz  zu  Jahwe  stehenden  dämonischen  Prinzips, 
wie  es  der  strenge  Jahwismus  des  Deuteronomisten  und  der 
Propheten  als  bedenklich  empfinden  mußte.  Konnte  Azazel  doch 
nicht  wie  etwa  die  ein  Kapitel  später  (Lev.  17,  7)  genannten 
an"'5>b  als  nur  in  der  Vorstellung  der  Heiden  existierend  ge- 
nommen werden!  Hier  haben  wir  unstreitig  einen  höchst  alter- 
tümlichen Zug  des  Gesetzes  vor  uns,  nicht  etwa  einen  „archa- 
istischen Aufputz",  wozu  ihn  die  Exegese  seit  Wellhausen  gerne 
machen  möchte.  Man  lasse  den  Azazel  aus  dem  Gesetzes- 
texte, und  etwas  ganz  Wesentliches,  das  Mittel,  die  Sünden  der 
Gemeinde  samt  ihren  Nachwirkungen  aus  der  Welt  zu  schaffen^ 
fiele  weg;  der  Sühnakt  wäre  ohne  Abschluß. 


Das  Alter  des  israelitischen  Versöhnungstages  141 

Azazel  erweist  sich  aber  auch  durch  seine  Namensform 
als  ein  nur  in  die  Frühzeit  Israels  passender  Dämon.  Von  den 
zahlreichen  Deutungen,  die  dieser  Name  von  Septuaginta  und 
Hieronymus  an  bis  auf  die  neueste  Zeit  erfahren  hat,  halte  ich 
keine  für  richtig.  Den  Kern  des  Wortes  bildet  nicht  die 
Wurzel  T7r  'stark  sein'  oder  bir  'entfernen',  sondern  diejenige, 
die  in  äthiopischem  g"ezäg"ez  'zottiges  Yließ'  vorliegt.  Diese, 
auf  ciserythräischem  Sprachgebiete  zu  t?77  umgewandelt,  ergab 
mit  der  Endung  -el  (die  wahrscheinlich  Deminutivbedeutung 
hat)  '1?,!?.  d.  i.  'der  kleine  Haarige',  ein  Wort,  das  synonym 
mit  koranischem  :jifrit  (von  der  Wurzel  Jafara  =  amharisch 
g"afara  'dichthaarig  sein'  mit  der  südarab.  Nisbeendung  -it) 
und  anderen  arabischen  Feldteufelnamen  wie  anch  mit  dem 
hehr.  (D)'r':nD  ist  Wenn  es  in  der  Bibel  die  Schreibung  ^^J^. 
aufweist,  so  liegt  darin  der  Beweis,  daß  es  von  aramäischer 
Seite  den  Israeliten  zugeführt  worden  ist;  duldet  doch  das  Ara- 
mäische in  der  Regel  nicht  das  Vorhandensein  von  zwei  Ajin  in 
einer  Wurzel,  wovon  eines  meist  zu  Aleph  geschwächt  wird. 
Mit  Aramäern  sind  die  Israeliten  hauptsächlich  zu  zwei  Zeiten 
zusammengekommen:  während  des  Exils  und  in  der  Zeit  des 
Zusammenlebens  mit  den  Ismaeliten,  d.  h.  arabischen  Aramäern, 
vor  der  Eroberung  des  gelobten  Landes.  Aramaismen,  wie  sie 
das  Exil  den  Juden  zuführte,  sind  bisher  im  Pentateuch  nicht 
nachgewiesen:  so  ist  auch  der  b'H'y  wohl  kein  Überbleibsel  aus 
dieser  Periode.  Dann  bleibt  fast  keine  Wahl,  als  das  Urbild  des 
Azazel  in  der  nordwestarabischen  Steppe  zu  suchen.  Daß  hier 
in  sehr  alter  Zeit  der  Begriff  von  haarigen  Dämonen  lebte, 
entnehme  ich  aus  der  beistehend  reproduzierten  Figur,  die 
nach  Euting  in  el-Oela  in  mehrfacher  Wiederholung  rechts 
und  links  von  Minäergräbem  in  den  Felsen  eingemeißelt  ist, 
Sie  mit  Euting  als  'Mumienbild'  oder  (nach  privater  Mit- 
teilung) als  stilisierten  Löwen  zu  nehmen,  möchte  ich  nicht 
befürworten;  dafür  ist  besonders  der  Kopf  zu  fratzenhaft  ge- 
bildet. 


142     Hubert  Grimme    Das  Älter  des  israelitischen  Versöhnungstages 


Abb.  1.    Bämonenbild  aus  el-Oela. 

(Aus:  D.H.Müller,  Epigraphische  Uenkmäler 

aus  Arabien,  Tafel  VII,  links.) 


Meine  Untersucliung  hat 
zu  dem  Ergebnisse  geführt, 
daß  die  Feier  des  israeliti- 
schen Versöhnungstages  An- 
spruch darauf  erheben  kann, 
als  ein  alter  Bestandteil  des 
Gesetzes  genommen  zu  wer- 
den, So  wird  auch  die  Fünfer- 
liste der  israelitischen  Feste, 
wie  sie  Leviticus  und  Numeri 
enthalten,  gegenüber  der 
Dreierliste  von  Deuterono- 
mium  nicht  zu  einer  jungen 
Aufstellung,  weil  sie  den 
Versöhnungstag  mitaufführt. 
Endlich  ist  meine  Aufstellung, 
^1-p  N"ip7a  bedeute  „Versamm- 


lung der  Heiligen'^,  von  dieser  Seite  nicht  zu  widerlegen. 


Bleitafelu  aus  Münclmer  Sammlungen 

Von  A.  Abt  in  Offenbach  a,  M. 
Mit  einer  Abbildung 

1.  Mit  der  Amdtschen  Sammlung  ist  auch  ein  14,5:11  cm 
großes,  rechteckiges  Bleiplättchen  in  das  Antiquarium  in  München 
gelangt.^  Die  eine  Seite  (rt)  ist  in  7  Zeilen  zur  guten  Hälfte, 
die  andere  (6)  in  17  Zeilen  vollständig  beschrieben.  Nach 
Fertigstellung  des  Textes  ist  die  Tafel  dreimal  vertikal  zur 
Schriftrichtung  gefaltet  und  mit  einem  starken  Nagel  durch- 
bohrt worden,  der  auf  Seite  a  die  Zeilen  6'  und  7^,  auf  Seite  h 
die  Zeilen  9^  und  10^  getroffen  und  verletzt  hat.  Außerdem 
ist  dann  beim  Auseinanderfalten  die  Tafel  durchgebrochen, 
doch  passen  die  beiden  Teile  genau  aneinander. 

Auf  Seite  a  steht: 

Kaiabriu)  TTdvqpiXov  Kai 
eXTTibac  Tcic  TTavqpiXou  d- 
TTttcac  Ktti  ^pTaciac  dTtdcac, 
GouKXeibriv,  eXiribac 
6  idc  9ouKXeibou,  Cupoc 
Ktti  Trapatriiici  .  .  ciric 
cu  br]  'Hpjifj  Ka(i)T0xr| 


*  Es  trägt  die  Nummer  A  769.  Durch  die  Freundlichkeit  Dr. 
J.  Sievekings  haben  mir  alle  hier  besprochenen  Stücke  im  Original  vor- 
gfelegen. 

*  Beschädigt:  das  a  von  koi,  das  zweite  a  von  Trapa. 

'  Beschädigt:  das  erste  H  von  Hpjari,  wobei  aber  sicher  bleibt,  daß 
es  kein  G  war;  die  Haste  des  folgenden  P;  das  i  von  KaiT0xr|. 

*  tu  von  "fuvaiKüüv  fast  völlig  verloren. 

*  Obere  Teüe  des  ai  von  kui  beschädigt. 


144  A.  Abt 

Diesen  Text  verzeichnet  Audollent^  als  den  einer  tabula  infra 
mutila  nach  Ziebarth.^  Dessen  Text  geht  auf  eine  Abschrift 
zurück,  die  Wolters  1895  im  athenischen  Institut  nahm,  ehe 
die  dort  zum  Kauf  angebotene  Tafel  wieder  im  Handel  ver- 
schwand. Ziebarths  Lesung  wird  durch  das  Arndtsche  Original 
an  zwei  Stellen  berichtigt: 

Zeile  3  steht  deutlich  epYaciac  a-rracac,  nicht  Tiacac,  und 
Zeile  5  an  Stelle  des  -rrpoc  der  Wolters'schen  Abschrift  sicher 
Cupoc,  also  ein  Eigenname,  der  die  Annahme  einer  Lücke  im 
Text  unnötig  macht.  Wir  erkennen  als  Träger  einen  Sklaven^ 
der  nach  seiner  Heimat  heißt  ^  und  in  die  Sphäre  unserer  Tafeln 
wohl  paßt,  wo  schon  ein  Syriskos  genannt  wird.^  Unser  Syros 
kann,  wenn  man  einen  Konstruktionsfehler  annimmt^,  ein  Ver- 
fluchter, kann  aber  auch  der  Verfluchende  sein,  der  sich  nicht 
ganz  selten  nennt,  so  unklug  dieses  Verfahren  auch  sein  mochte, 
wenn  man  die  Möglichkeit  der  Entdeckung  und  eines  Gegen- 
zaubers bedachte." 

*  defixionum  tabellae,  Paris  1904,  Nr.  73,  S.  101. 

*  Neue  attische  Fluchtafeln,  Göttinger  Nachrichten,  phil.-hist.  Klasse 
1899  S.  117 f.  Nr.  19,  dazu  Wünsch,  Rhein.  Mus.  LV  (1900)  S.  62ff. 

'  Fick-Bechtel,  griech.  Personennamen*  S.  338,  345.  Wünsch,  def. 
tob.  att.  24b  2,  8  4;  I.  Gr.  II  969c  i6,  988  6,  1328,  4141,  4142  [add. 
834b  I  70],  [add.  834  b  II  5],  [add.  834c  23];  Menander,  Georgos  v.  39 
(Kretschmar,  de  Men.  reliquiis  p.  9) ;  Plautus  Cist. :  Syra  lena,  Merc. :  Syra 
atius;  der  Syrus  servus  bei  Terenz  (Menander)  Heaut.  Adelph.,  eine  Syra 
anus  in  der  Hec,  Hör.  Sat.  I  6,  38,  Lucian  Toxaris  28:  olK^rric  yctp  oOtoö 
COpoc  Kai  Toüvoiua  Kai  rriv  Traxpiba;  K.  Schmidt,  Griech.  Personennamen 
bei  Plautus,  Hermes  37,  S.  210.  —  Andere  Sklavennamen  nach  Ländern: 
Fick-Bechtel  S.  332ff.;  Wünsch,  def.  tob.  att.  14  2,  16  2,  67a  4,  68a  9,  b  ii, 
72  1,  141a  1;  Audollent,  def.  tab.  8öb. 

*  Zugehörige  Tafel  bei  Audollent,  Nr.  70  Zeile  4;  vgl.  Menander, 
Epitrepontes  21. 

*  Bei  Wünsch  {def.  tab.  att)  103  a  6,  141a  i  liegt  er  tatsächlich  vor. 
®  Audollent,  praefatio  XLV  adnot.   1 — 3.     Verschreibung  für  Cüpou 

ist  wohl  ausgeschlossen,  da  auch  bei  Audollent  72  4  keine  Herkunft  des 
Thukleides  angegeben  ist,  Verschreibung  am  Anfang  des  Wortes  wird 
man  ohne  zwingende  Gründe  nicht  annehmen.  Von  dem  CupicKoc  bei 
Audollent  70  4  ist  unser  COpoc  jedenfalls  zu  scheiden,  wenn  auch  der 
Nominativ  für  den  Akkusativ  stehen  sollte. 


Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen  145 

Zeile  6:  Das  i  von  Kai  ist  vorhanden  Hinter  xriuci  zwei 
Ritzlinien,  sicher  keine  Buchstabenteile.  ^  Vom  vorletzten  Buch- 
staben der  Zeile  ist  die  rechte  Hasta  im  Bruch  untergegangen, 
der  Mittelstrich  setzt  so  tief  an  der  linken  an  und  läuft  so 
flach,  daß  H  ebensogut  möglich  ist  als  N.  In  der  Lücke  haben 
höchstens  2  Buchstaben  Platz,  die  Deutung  des  Buchstaben- 
komplexes bleibt  unsicher.* 

Zeile  7:  Die  Lesung  Hpuri  ist  sicher^,  dazu  vergleiche 
man  die  Schreibung  HKairi  auf  Seite  b  Zeile  13  und  in  unserer 
Zeile  das  br\,  das  nach  einigen  Analogien  gleich  be  ist.*  Bei 
KaiTOxn  halte  ich  das  am  oberen  Ende  verletzte  i  für  ein  an- 
gefangenes T,  das  dem  a  zu  nahe  kam  und  durch  ein  anderes 
ersetzt  wurde,  so  daß  kotoxh  gleich  Kdroxe  zu  lesen  ist. 

Die  Seite  b  enthält  folgende  Verfluchung: 

Kaxabriuj  'QqpiXiujva 
Kai  'QqpiXinri  kui  "OXuMTrov 
Ktti  TTicTiav  Kttl  Mdfabiv 
Ktti  TTpÖTov  Ktti  Kotbov,  0ou- 
6  KXeibriv  Kai  MeXava  Kai 
Küü|aov 
Ka\  Baxiba  kui  Kittov. 

TOÜTUiV    TUJV    CtvbpUJV    Kai 

TuvaiKÜJV  Ktti  eXiTibac 
10  Ktti  Trapd  Geuüv  Kai  TTa(p')  fipiu- 


'  Ebenso  kann  ein  die  Hasta  vor  ci  im  unteren  Drittel  schräg  durch- 
ziehender Strich  kein  Buchstabenteil  sein,  eher  ein  Tilgungsstrich. 

*  irapä  Tfi[TT€p]ci(q)ö)[vrii]  Kaibel;  irapä  <T)>»*|[puj]ecciv<c>  oder  napa- 
Tripiiciv  oder  -rrapä  Tfji  'lci(&)i  Wünsch,  der  auch  die  Möglichkeit  in  Betracht 
sieht,  daß  6  nach  Zeile  7  zu  lesen  sei  und  das  fehlende  Verbum  enthalte. 

'  Vgl.  S.  147  Anm.  2. 

*  Wünsch,  def.  tob.  att.  90a  4  cü  bi  kötoxoc  fivou;  109.  i f.  u|ueic 
hk  cpiXm  TTpaEiöiKai  Karexere  aür  ö)v  koi  '6p]uf|  Kdroxe;  Pap.  Paris,  ed. 
Wesaely  1418  ir^ian^ov  b"6pivöv,  1821  6öc  bi  noi  udcrjc  H;uxnc  üixoraTriv, 
2787  eu^evlrl  b'  ^rrdKOucov.  W.  Rabehl  de  sermone  defix.  Att.,  Diss.  Berlin 
1906  S.  10  u.  21.  Für  br\  kann  ich  nur  pap.  Par.  445  =  1966  anführen: 
Kai  bi]  vöv  XiTo^xai  ce  iiidKap. 

ArchiT  f.  Religionswisaenschaft  X IV  JQ 


146  A.  Abt 

ujv  Ktti  epYCtciac  fiirdcac 
Ktti  irpoc  TÖv  '€p)nfiv  TÖV 
KotTouxov  Ktti  Trpöc  Tfi(v)  'H- 
KotTriv  Kai  TTpoc  Triv  rfj  Kai 
15  xfiv  fev 

Trpöc  0eouc  ä-rravTac 

KOI  iLieiepa  öeujv.  * 

Auch  diese  Seite  schenkt  uns  eine  verschollene  Defixion 
wieder^,  es  fallen  also  die  seit  Ziebarths  Veröffentlichung  als 
zwei  Tafeln  geführten  Texte  in  eine  doppelseitig  beschriebene 
zusammen,  die  nach  1895  jedenfalls  aus  dem  athenischen 
Kunsthandel  in  Arndts  Besitz  gelangte.  Zum  Texte  ist  dies 
zu  bemerken: 

Zeile  2  konnte  die  Lesung  OXujlittuuv  dadurch  entstehen^ 
daß  dem  Schreiber  beim  Ritzen  des  0,  das  er  immer  aus  zwei 
Halbkreisen  zusammensetzt,  der  Griffel  nach  rechts  ausglitt, 
wodurch  ein  scheinbarer  Anstrich  zu  einem  Q  entstand.^ 

Zeile  3:  Der  wagerechte  Strich  des  A  in  Mayaöiv  ist  deut- 
lich, das  N  war  zuerst  dicht  am  i  vom  Schreiber  vorgezeichnet, 
dann  ist  es  durch  ein  stärker  eingeritztes  in  weiterem  Abstand 
ersetzt,^ 

Zeile  8  ist  uu  nicht  kleiner  zwischen  seine  Nachbarn  gestellt*, 
sondern  die  Zeile  zieht  sich  von  hier  ab  (wie  7  von  ba  ab)  nach 
oben,  um  den  hinter  Kuj|liov  (6)  gebliebenen  Raum  zu  füllen. 

Zeile  11:  Tirracac  ist  sicher.^ 

Zeile  13:  Das  angebliche  i  von  Kaiouxiov"  ist  eine  ganz 
dünn  eingeritzte  Linie  ^,  die  der  Schreiber  außerdem  mit  einem 


'  Audollent  Nr.  72. 

*  Die  Hochstellung  der  Silbe  Xi  in  QqpiXiiar]   ist  bei  Ziebarth   wohl 
Satzfehler,  das  Original  gibt  keinen  Anlaß  dazu. 

•''  Spuren  einer  Vorzeichnung  der  Buchstaben  in  dünneren  Linien 
weist  Seite  b  noch  mehrfach  auf.  *  So  der  Druck  bei  Ziebarth. 

*  Angezweifelt  von  Wünsch,  Berl.  phil.  Wochenschr.  1907  Sp.  1677. 
"  Die  Lesung  ist  auch  in  Meisterhans-Schwyzers  Grammatik  d   att. 

Inschr."  p.  115.  1068  übergegangen.  ^  Vgl.  Anm.  3. 


Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlangen  147 

Strich  des  0  durchstreicht.  Man  wird  kotouxov  zu  lesen 
haben.*  Bei  rrpöc  ttii  war  p  zunächst  vergessen,  ein  vorgezeich- 
netes 0  wird  von  ihm  mitten  durchstrichen  Die  Hasta  nach 
Tri  ist  ein  angefangenes  N,  von  dem  folgenden  H  ist  sie  durch 
einen  ziemlichen  Zwischenraum  getrennt.* 

Zeile  14:  Bei  K  von  KAI  am  Zeilenschluß  folgt  der  Bruch 
dem  Zug  der  beiden  schrägen  Striche,  Ziebarths  Lesung  lai 
beweist  demnach,  daß  die  Tafel  1895  schon  zerbrochen  war, 
denn  nur  beim  Zusammenlegen  der  Hälften  wird  der  Buch- 
stabe klar.^ 

Zeile  16:  Von  Beouc^  an  biegt  die  Zeile  nach  oben  aus,  bei 
der  Silbe  rrav  ist  sie  so  hoch  geführt,  daß  die  Worte  niv  rfj 
(^Zeile  14)  getroffen  und  durchschnitten  werden.  Der  Schreiber 
hat  offenbar  rfiv  rf\  als  falsch  empfunden,  es  nochmals  ge- 
schrieben und  dann  die  beanstandeten  Worte  dadurch  getilgt, 
daß  er  die  nächste  Zeile  in  sie  übergreifen  ließ^ 

Als  Haupttext  hat  der  Schreiber  b  angesehen,  der  auch 
an  Fluchgottheiten  und  Verfluchten  reicher  ist.  Er  hat  dafür 
gesorgt  —  die  Richtung  der  Faltungen  und  der  vom  Nagel 
mit  nach  innen  gerissenen  Lochränder  zeigt  es  — ,  daß  diese  Seite 
geschützt  nach  innen  lag.  Den  Text  a  faßt  Wünsch  wohl  mit 
Recht  als  Nachtrag,  die  Verschiedenheit  der  Fluchgötter  und 
Defigierten  auf  a  und  b  macht  die  Auffassung  von  a  als  erstem 
Entwurf  trotz  des  unvollständigen  Textes  wenig  wahrscheinlich. 

'  Für  OY  =  0  hat  Rabehl  S.  10  kein  Beispiel,  nur  für  o  =  ou. 

*  Für  HKarri  vgl.  oben  S.  145  Anm.  4;  auf  Seite  b  noch  Z.  14  u.  15 
Triv  rfj  neben  tt^v  fev  und  'Cpjanv  Z.  12  gegenüber  'Hpuf)  a  7. 

'  Reste  beabsichtigter,  aber  aufgegebener  Buchstaben  in  Z.  14:  vor 
dem  K  des  ersten  koi  eine  Hasta,  unter  dem  i  ein  o,  vor  irpoc  ein  p  oder  t. 

*  Das  0,  das  Ziebarth  klein  druckt,  hat  die  reguläre  Höhe,  unter 
dem  u  das  ursprünglich  fdlschHch  verdoppelte  o,  innerhalb  des  tt  von 
airavTac  gleichfalls  ein  vorgezogener  Buchstabe  (a?). 

^  Die  Absicht  der  Tilgung  ist  besonders  klar  bei  dem  v  von  airovrac, 
das  unnatürlich  breit  geschrieben  ist,  damit  seine  Hasten  die  Zeichen 
V  und  Y  der  Worte  xriv  -pi  treffen.  Auch  Z.  17  wird  so  durch  den  linken 
Anstrich  des  Q  eine  vorgeritzte   Senkrechte  durchschnitten  und  getilgt. 

10* 


148  A.  Abt 

Vom  religions wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  bietet 
unsere  Tafel  zwei  Besonderheiten,  die  Erwähnung  der  eXTiibec 
Kai  TTapd  OeuJv  Kai  nap'  fipuuuuv,  die  Wünsch  als  Jenseitshoff- 
nungen erklärt  hat^,  und  dann  das  Auftreten  der  Göttermutter 
als  Fluchgottheit.  Vielleicht  kann  man  an  diesem  letzten 
Punkte  auch  noch  etwas  weiter  kommen.  An  der  attischen 
Herkunft  unserer  Tafeln  ist  wohl  kein  Zweifel,  und  in  Attika 
bestand  neben  dem  Staatskult  der  Mrixrip  der  Verband  der 
Orgeonen  der  Mr|Trip  jueTOtXri  im  Peiraieus,  der  sich  zum  großen 
Teil  aus  Leuten  der  untersten  Schichten  zusammensetzte^,  und 
den  wir  aus  seinen  Inschriften  seit  dem  4.  Jahrh.  v.  Chr. 
kennen.^  Dieser  Kultrerein  nun  hatte  religiöse  Beziehungen 
zur  Qeä  Cupia,  er  hat  unter  dem  Archon  Herakleitos  (1.  Jahrh.) 
eine  Ehrung  beschlossen  für  Nikasis  aus  Korinth,  weil  sie  in 
ihrer  Eigenschaft  als  Priesterin  der  Cupia  'Aqppobixri  dieser  im 
Namen  der  Orgeonen  Opfer  dargebracht  hatte.*  Das  ist  ver- 
ständlich, denn  einmal  hat  die  syrische  Göttin  ebenfalls  ihre 
Gemeinde  im  Peiraieus  ^  und  dann  glichen  sich  die  phrygische 
Göttermutter  und  die  syrische   Atargatis    in  Wesen  ^  und  Dar- 


>  Rh.  Mus.  LV  (1900)  a.  a.  0. 

*  P.  Foucart,  les  associations  religieuses  p.  159  ff. 

*  Die  Belege  bei  E.  Ziebarth,  Das  griech.  Vereinswesen  S.  36,  das 
ältere  Material  auch  bei  Foucart,  a.a.O.  p.  85,  98ff,  197 ff. 

'  I.  Gr.  II  627. 

^  Die  ^VTTopoi  Ol  KiTiek  erhalten  333/2  das  Recht,  Land  für  ein 
Heiligtum  ihrer  'Aqppobixri  im  Piräus  zu  erwerben  (I.  Gr.  II  i  168) 
Maass,  Orpheus  S.  74  nimmt  an,  dieser  Tempel  sei  nicht  gleich  gebaut 
worden,  und  bis  dahin  habe  dieser  Kult  im  Metroon  der  Orgeonen  ein 
Unterkommen  gefunden.  Ein  hinreichender  Grund  für  diese  Hypothese 
besteht  nicht,  so  bestechend  sie  gerade  für  unsern  Fall  auch  ist.  Ein 
eigner  Tempel  wird  freilich  in  den  Inschriften  der  Salaminier  (I.  Gr.  II  5, 
616  c;  vgl.  611b)  nicht  erwähnt. 

*  Luc.  de  dea  Syria  15  ?cti  U  koI  äXXoc  Xötoc  iepöc  .  .  .  öti  i^  m^v 
Qeä  'P^n  kriv;  Hesych  s.  v.  Kußnßn;  0.  Gruppe,  Gr.  Mythol.  u.  Relgesch. 
IL  1629.  L',  1586.8;  WisBOwa,  Rel.  u.  Kult.  d.  Römer  S.  300ff.;  Ziebartb, 
Vereinsw.  203. 


Bleitafeln  ans  Münchner  Sammlungen  149 

Stellungen^  so  stark,  daß  man  sie  in  späterer  Zeit  als  gleich 
empfand*;  vielleicht  liegt  wirklich  eine  alte  Beeinflussung  zu- 
ffrunde,  die  beide  Kulte  aufeinander  übten.'  Unsere  Tafel  nun 
stammt,  wie  die  dionysischen  Namen  der  Verfluchten  zeigen, 
aus  den  Kreisen  der  Thiasoi  und  betrifft  die  unterste  Schicht 
ihrer  Angehörigen,  Sklaven.  Ein  Sklave  ist  auch  der  Cupoc, 
und  dieser  oder  einer  seiner  Genossen  ruft  die  Mnxrip  0ۆJv  an. 
Der  Schluß  liegt  nahe,  daß  dieser  Semite  des  3.  Jahrh.  dem 
Kultverein  der  großen  Göttermutter  angehört  habe,  weil  er  in 
ihrer  Verehrung  und  ihrer  Darstellung  die  heimische  große 
Göttin  wiederzufinden  glaubte.  Als  dann  die  Notwendigkeit 
an  ihn  herantrat,  in  einem  Fluch  sich  an  möglichst  mächtige 
Gottheiten  zu  wenden,  wählte  er  neben  den  in  seiner  zweiten 
Heimat  geläufigen  chthonischen  Wesen  die  große  Göttin  seines 
Geburtslandes,  setzte  aber  den  Namen  für  sie  ein,  unter  dem 
sie.  wie  er  meinte,  in  seiner  Bruderschaft  verehrt  wurde. 

'  Luc.  d.  d.  Syr.  15  r|  Geöc  tö  iroXXä  ^c  Petiv  ^niKv€€Tai.  AeovTcc 
Xdp  uiv  qp^pouciv  Kai  TÜjiTravov  ^x^i  Kai  ^iti  t^  K€(paXrj  injpToqpop^ci, 
ÖKOiTiv  'P^r|v  Auboi  iroieouciv.  Vgl.  abend.  32.  Einen  schlagenden  Beweis 
dafür  fand  Foucart  S.  100  in  einem  att.  Relief,  das  nebeneinander  2  weib- 
liche Gottheiten  mit  den  Abzeichen  der  Kybele  darstellt.  Da  nun  aber 
Verdoppelung  einer  Gottheit  in  der  Darstellung  nicht  selten  ist  (Usener, 
Dreiheit  Rh.  Mus.  LVni  (1903)  191  fiF.),  so  wird  man  davon  absehen 
müssen,  hier  Rhea  und  die  dea  Syria  abgebildet  zu  finden.  Vgl.  jetzt: 
G.  Radet,  Cyb^b^,  Bordeaux  1909. 

*  Auf  Delos  heißt  in  der  Kaiserzeit  Atargatis  Mnnip  OeOuv:  Bull, 
de  corr.  hell.  VI.  1882.  S.  479  ff.  u.  Inschr.  Nr.  22,  25;  auf  späteren  In- 
schriften der  att.  Orgeonen:  Foucart,  Inschr.  16,  für  die  aber  Maass, 
Orpheus  73  die  Gleichsetzung  der  Mr)TTip  OeOüv  und  der  'Aq)po6iTTi  be- 
streitet. In  Brundisium:  C.  I.  L.  IX.  6099  L.  Pacilius.  Taur.  Sac.  Matr. 
Magn.  et  Suriae  Deae;  Inschr.  des  Tribuns  M.  Caec.  Donatianus  aus 
Carvoran  ^3.  Jahrh.)  C.  I.  L.  VII.  759.  4  eadem  mater  divutn  .  .  .  dea  Syria 
und  die  Inschr.  eines  Bronzesitzbildes  der  Kybele  aus  Rom  (C.  I.  L.  VI. 
80970)  Mater  Deor.  et  Mater  Syriae.  D.  S.  Vgl.  Apul.  met.  VIU.  25 
p.  196.  25;  IX.  10.  p.  210.5  Helm. 

'  Hepding,  Attis,  S.  125,  161f.,  217;  Gruppe  a.  a.  0.  II.  1586.8. 
Vgl.  noch  J.  G.  Frazer,  Adonis,  Attis,  Osiris,  London  1906.  S.  54  ff.,  56  i. 
80.  81.2. 


150 


A.  Abt 


2.  Zum  alten  Bestände  des  Antiquariums  gehören  die 
folgenden  Tafeln  2,  4,  5.  Von  diesen  ist  die  Defixio  2  (Abb.  1) 
eine  ungefähr  rechteckige  Tafel  (6  :  4,5  cm)  ^,  die  Oberfläche 
ohne  Spur  von  Faltungen,  nahe  am  oberen  Rande,  ungefähr 
in  der  Mitte  ein  kleines  Loch,   das   sehr  vorsichtig  hergestellt 

^      sein    muß,    da    bei 

heftigerem  Durch- 
schlagen eines  Na- 
gels der  Rand  sicher 


zum 
eines 


Abb.  1 


ausgerissen  wäre. 
Vielleicht  hat  es 
Durchziehen 
Fadens  ge- 
dient, dann  wäre 
die  Tafel  aufge- 
hängt gewesen  und 
keine  Defixion. 
Vorstehende  Zeichnung  bietet  in  möglichst  treuer  Nach- 
bildung aus  dem  Gewirre  der  Ritzlinien,  welche  die  Tafel  be- 
decken, nur  die,  welche  sicher  zu  Buchstaben  gehören  oder 
wenigstens  gehören  könnten.  Das  Ergebnis  ist  trostlos  genug. 
Buchstaben  und  Buchstabenteile  überschneiden  sich,  manchmal 
läßt  sich  die  Absicht  der  Tilgung  wahrscheinlich  machen^, 
anderes  sieht  wie  Ligaturen  aus^,  manche  Komplexe  wieder- 
holen sich.^  Es  liegen  entweder  überhaupt  sinnlose  eqpecia 
Ypa)U)aaTa  vor  oder  ein  durch  Umstellung  und  Verkritzelung  ab- 


*  Ohne  Inventarnummer;  aus  Attika. 

*  Z.  2  tilgt  das  erste  u)  den  darunter  sichtbaren  Haken,  später  b 
das  e,  am  Ende  steht  das  große  a  über  aei.  Z.  4:  Fünftletztes  Zeichen 
uu  von  \  durchschnitten;  in  der  Mitte  das  fe-artige  Zeichen  über  den 
Bogen  vor  p  weggezogen. 

»  Z.  B.  pc  in  Z.  1;  €T,  epa  Z.  2;  riav  Z.  3;  vf,  auu?  Z.  4. 

*  aiei,  bzw.  lei  Z.  3,  4,  5,  vielleicht  auch  Z.  2  Schluß.  Dazu  noch 
(nach  Immisch)   die  Gruppe  rjuvca  oder  Tuvca  Anfang  4  und  Ende  5. 


0 

Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen  151 

sichtlich  unleserlich  gemachter  Zaubertext  ^,  denn  ein  unverfäng- 
licher Privattext  ist  es  sicher  nicht.^  Ignorabüiter  Jamminae 
litter atae  kennen  wir  aus  der  feralis  officina  der  Pamphila', 
wo  es  keine  Defixionen,  sondern  wohl  qpuXaKxripia  xfic  TTpd£eujc 
sind*,  aber  mit  Bestimmtheit  läßt  sich  hierüber  ebensowenig 
etwas  sagen,  als  über  die  Zeitstellung  des  Stücks,  wo  nur  die 
Form  des  uu  auf  das  2.  Jahrh.  n.  Chr.  wiese,  wenn  man  Formen 
der  Steininschriften  ohne  weiteres  vergleichen  dürfte.* 

3.  Ähnlich  steht  es  mit  Nr.  3  aus  Sievekings  Privatbesitz.* 
Es  ist  ein  unregelmäßig  viereckiger  Bleifetzen,  der  bei  4  cm 
größter  Breite  und  8  cm  größter  Länge  durch  Brüche  in 
fünf  Felder  zerlegt  ist,  deren  erstes  von  links  unbeschrieben 
ist,  ebenso  die  linke  Hälfte  des  zweiten.  Das  fünfte  ist  ab- 
gebrochen, paßt  aber  genau  an. 

Am  oberen  Rande  scheint  keine  Schrift  verloren  zu  sein, 
dagegen  ist  das  Stück  an  der  rechten  Kante  vielleicht  auf  ihrer 
ganzen  Länge,  sicher  an  der  oberen  und  unteren  Ecke  ver- 
stümmelt.    Man  erkennt  folgende  einigermaßen  sichere  Züge^: 

*  capamei  glaubt  Immisch  Z.  4  zu  erkennen,  in  5  bilden  die 
Gruppen  ei  r|v,  aiei,  -fx]  sinnvolle  Worte.  Aus  Z.  5  läßt  sich  bei  ganz 
willkürlicher  Cmstellung  dcl  cu2I[u]Tnvai,  atcl  äxci  cu2[rivai  gewinnen, 
aber  ohne  jede  Gewähr  auch  nur  für  "Wahrscheinlichkeit  (Mitteilang 
Wünschs^. 

*  Privattext  auf  Blei:  Wilhelm,  Jahresheft«  d.  österr.  arch.  Inst. 
Wien  VII  (04)  94  ff. 

'  Apul.  met.  III.  17  p.  65.  5  Helm. 

*  Vgl.  für  solche:  Wessely,  Denkschr.  Acad.  Wien,  phil.-hist.  Kl. 
1893  S.  11,  pap.  Lond.  46,  373 ff.  u.  308 ff.  Wess.;  Wünsch,  Zaubergerät 
V.  Pergamon,  Ergänzungsh.  6  des  archäol.  Jahrbuchs  S.  39. 

ä  Müller,  Hdb.  I*  536. 

®  Nähere  Herkunftsbezeichnungen  fehlen  mir. 

'  Unsicher  ist  Z.  1  hinter  e  ein  Rest,  der  etwa  zu  einem  rz  gehören, 
aber  auch  zufälliger  Kratzer  sein  könnte.  Z.  2  scheint  an  erster  Stelle 
nie  ein  ganzer  Buchstabe  gestanden  zu  haben,  sichtbar  ist  heute  nur  ein 
schräger  Strich  innerhalb  der  rechten  Hälfte  des  links  liegenden  ti. 
Ebenso  scheint  zwischen  t  und  cc  nie  etwas  gestanden  zu  haben;  nach 
cc  unsichere  Reste,  darunter  vielleicht  b  über  dem  x]  in  Z.  3.  Z.  3  und  4 
sind  die  6  nicht  sicher,  da  gerade  hier  Falten  durchgehen,  die  das  Vor- 


152 


A.  Abt 

% 

TTOCClüTTbe  . 

^  leGajLiaTCC 

3.  'fGcVlCT  ,  .  ib  .  . 

■  n 

a  TGcKaeue  . . .  ^c. 

. 

5      KC  .  oex  .  Kec  . 

Weder  ein  Lesen  der  Zeichen  von  hinten  nach  vorn^  oder 
von  oben  nach  unten,  noch  einfache  Umordnungen  der  Buch- 
staben^, noch  schließlich  Annahme  lateinischer  Wörter  in 
griechischen  Lettern'^  verhelfen  zu  einem  vernünftigen  Sinn. 
So  muß  denn  auch  zweifelhaft  bleiben,  ob  man  den  quer 
geschriebenen  Buchstabenkomplex  axi|LiTibri  mit  xi)Lir|  und  axi|uoc 
zusammenbringen  darf.  Am  ehesten  ist  unserm  Stück  noch 
die  tanagräische  Tafel  bei  AudoUent^  zu  vergleichen. 

4.  Dagegen  hilft  uns  bei  Tafel  4  das  Lesen  von  rechts  nach 
links  zum  Verständnis  des  Textes.  Es  sind  zwei  Stücke  einer 
großen  Fluchtafel'',  nur  am  linken  Ende  zusammenpassend. 
Das  obere  (a)  mißt  am  unteren  Rand  12,  am  oberen  4  cm, 
die  Breite  ist  an  den  Rändern  je  4,  in  der  Mitte  7  cm,  das 
untere  Stück  (&)  ist  rechteckig  14 : 8  cm.  Durch  Faltungen 
ist  die  ganze  Tafel  (a  und  h)  in  16  Felder  zerlegt,  von  denen 
12  durch  Nagellöcher  und  Brüche  beschädigt  sind.  Der  Text 
läuft  in  sieben  Zeilen  quer  über  die  Tafel,  so  zwar,  daß  a  nur 
in  seiner  linken  unteren  Ecke  12  Buchstaben  trägt,  von  denen 
9  zur  ersten,  3  zur  zweiten  Zeile  gehören.  Der  Text,  der  an 
den  Schmalseiten  unverstümmelt  ist,  lautet: 


handensein  der  Punkte  innerhalb  der  Kreise  ungewiß  machen.  Zwischen 
T  und  i  in  Z.  3  kann  ich  nichts  Sicheres  erkennen,  ebenso  zwischen  ö 
und  r).  Z.  4  nach  e  zunächst  leerer  Raum,  dann  unmittelbar  vor  tc  wage- 
rechter Strich,  der  zu  einem  t,  c  oder  e  gehören  könnte.  Z.  5  nach  kc 
Spuren  eines  runden  Buchstabens  (?),  zwischen  e  uud  t  keinerlei  Reste, 
nach  dem  nicht  ganz  sicheren  c  am  Ende  die  oberen  Anfänge  von  ai  (?), 
das  andere  weggebrochen. 

'  Vgl.  Wünsch,  def.  tah.  att.  112,  123,  177-180,  182. 

*  Ebenda  77,  85.  "  Audollent  231,  251,  267  al. 

*  82.  p.  134.  ^  Ohne  Inventarnummer. 


Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen  153 

PHIAKArPG  ATIAKN  HTYAAAKQA 
IHTYAArePATIAKNHTYAAlMIoK 
QAA  II  ArPG  ATIAK  N       A 

TAA     NoTYAAhH      ^KA 
5         Yp     TY 

APAlKYArAflTAT  N  ^ 

KA       Y  Ar  lANe 

Das  ergibt  von  rechts  nach  links  gelesen: 

bujKXX  auTrjV  xai  id  epT«  kqi  np 
Koc)aia(v)  aurriv  Kai  Tct  Ipfa  auxfic 

ä[uTn]v  Ktti  TCi  dpTdcia  biu 

XkX  . . .  ryfa  auTÖv  [K]a(i)  xd  [epTa . . . 

5 [a]uTOÖ 

rXuKia  

Zur  Lesung:  Zeile  1  t  und  e  im  Bruch  größtenteils  ver- 
loren, doch  durch  Zeile  2  und  3  gesichert,  bei  auTf^v  ist  nf 
aus  dem  ursprünglich  doppelt  geschriebenen  a  verbessert,  u  ist 
dann  eingeflickt. 

Zeile  2:  cr|T.  Das  c  steht  zur  Hälfte  auf  a,  zur  anderen 
auf  &,  ist  aber  vollständig^,  r|T  dagegen  stark  beschädigt. 

Zeile  3:  Das  y  war  vergessen  und  ist  so  nachgeholt,  daß  an 
das  rechte  Ende  des  Querstriches  von  a  ein  kleiner  senkrechter 
Strich  angesetzt  wurde,  so  daß  eine  Art  Ligatur  entsteht.  Das 
V  gegen  Schluß  der  Zeile  wegen  eines  hier  durchgehenden 
Xagelloches,  das  b  wegen  der  Versinterung  der  Platte  ungewiß. 
Auch  Zeile  4  und  5  verhindert  der  Sinter,  mehr  zu  erkennen, 
als  oben  gegeben.^ 


*  Dieser  Buchstabe  verhalf  zur  Erkenntnis  der  Zusammengehörig- 
keit beider  Teile,  die  in  München  als  zwei  verschiedene  Tafeln  galten. 

*  Bei  der  Umschrift  oben  ist  angenommen,  daß  ra  für  ax  ver- 
schrieben ist,  wie  Z.  2  aycp  für  a^pe,  doch  ist  von  dem  i  des  iok  trotz 
Unversehrtheit  der  Stelle  keine  Spur  da.  Da  die  Zeichen  von  rechts 
unten  nach  links  oben  quer  über  die  Tafel  laufen,  so  köimte  das  oben 
an  den  Schluß  von  Z.  6  gestellte  t  zur  Not  auch  zu  Z.  5  gehören. 


154  A.  Abt 

Zeile  6:  Die  Gruppe  aTiTax  ist  von  einem  Nagelloch  stark 
mitgenommen,  was  als  ir  umschrieben  ist,  könnte  auch  ein 
mißratenes  r]  sein,  das  t  auch  p,  sodaß  man  herauslesen  könnte 
Tct  rip(T)a  r\uKia(c).^ 

Zeile  7  ist  das  meiste  unsicher,  zwischen  X  und  u  Baum  für 
drei,  zwischen  u  und  a  für  zwei  Zeichen,  y  geht  mit  dem  oberen 
Querstrich  in  ein  Nagelloch,  könnte  also  auch  Teil  eines  tt  sein. 

Verflucht  werden  mindestens^  fünf  Personen,  drei  Frauen, 
von  denen  die  Namen  Kocjuia  und  fXuKia  kenntlich  sind,  und 
zwei  Männer,  von  denen  nur  ein  Namensrest  riya  in  Zeile  4 
erhalten  blieb. 

Die  Namen  weisen  auf  Sklaven-,  bzw.  Hetärenkreise."  Den 
Leuten   sollen   ihre    epY«   „schief  gehen"*  —  einmal   ist   dem 


'  Das  Fehlen  des  y  wäre  nicht  auffällig,  der  Schreiber  hätte  die  Silbe 
Ya  versehentlich  in  der  richtigen  Reihenfolge  hingesetzt  und  dann  das  y 
als  Anfang  des  Namens  benutzt.     Auffallend  dagegen  wäre  hier  y]  für  e. 

*  Wenn  man  nämlich  annimmt,  daß  Z.  3  Anfang  kein  neuer  Name 
weggefallen  ist,  sondern  die  Zeile  sich  auf  die  1  und  3  f.  genannte  Per- 
son 5uuk\\  bzw.  öuj\k\  bezieht.  Oder  sollten  die  X  beidemal  für  a  stehen 
und  Ka(T)abu)  zu  lesen  sein?  Bezieht  man  mit  Wünsch  das  px]  am 
Schluß  von  1  zu  öujkW,  so  wird  man  zweifellos  einen  Namen  zu  er- 
kennen haben. 

*  Auf  att.  Inschriften  nur  eine  Koc|a[iJÜ]  I.  Gr.  II  3  3874  und  ein 
Köcnioc  III  1,  1115.  7  [III  1,  1004  IL  19.].  Außerhalb  Attikas  I.  Gr.  VII. 
1162  (Tanagra),  IX  2,  1295.  21  (OlooBBOn)  und  568.8  (Larisa),  in  den 
beiden  letzten  Fällen  Freigelassene;  I.  Gr.  XIV  1958.  5,  2308  (Tochter 
eines  Köcjlioc)  vgl.  I.  Gr.  ant.  473.  Der  Name  würde  zur  Klasse  B  i, 
S.  46  bei  Bechtel,  att.  Frauennamen  gehören.  Zum  Schwund  des  v  im 
Akkusativ  vgl.  Audollent  86.  a.  2,  Rabehl  S.  25  ff.  Für  Glykia  vgl.  Fick- 
Bechtel,  griech.  Personennamen*  S.  86.  Eine  Freigelassene  des  Namens: 
I.  Gr.  XIV.  1369.  TXuK^pa  bei  Ziebarth  a.  a.  0.  Nr.  20  =  Audollent  Nr.  52.  4. 
S.  7.  I.  Gr.  II  4,  S.  12.  I.  Gr.  II  .%  772b  B.  col.  II.  27;  4271b  in  letz- 
tem Fall  nur  fXu  erhalten.  Vgl.  K.  Schmidt,  griech.  Personennamen  bei 
Plautus,  Herm.  37.  S.  191  zu  Hedytium.  Glycerium  mulier  bei  Teren.  Andr. 
Pape  führt  für  Glykeia  C.  I.  Gr.  II.  3445  b  an,  für  Glykia  3440  (Lydien) 
950  (Athen).  Für  die  Form  verweist  mich  Heraeus  auf  Ligia  bei  Mart. 
X.  90,  XII.  7  neben  Ligea  Verg.  Georg  IV.  336. 

*  Diese  Erklärung  des  Rückwärtsschreibens  bei  Rabehl  S.  7;  wenn 
er  aber  als  Beweis  gegen  die  Absicht,   bloß  unleserlich  zu  machen,  an- 


Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen  155 

Schreiber  fi  epfacia  und  rot  epT«  zusammengeflossen^  —  viel 
mehr  ist  der  Tafel  nicht  abzugewinnen,  wenn  auch  eine  Nach- 
lese am  Original  wohl  noch  einen  oder  andern  Buchstaben 
hinzuentziffem  könnte. 

5.  Tafel  5'  ist  ein  rechteckiger  Bleistreifen  (15,5:6),  oben 
und  rechts  unvollständig,  ohne  Nagelspuren.  Fünf  Zeilen  Schrift 
sind  mehr  oder  minder  vollständig  erhalten: 

ILievuu i  .  .  [ev] 

beiEiv  .  .  .  vilui  Kttl va  .  .  .  . 

x\v  dTUJvi2l€c6ai  iLieXXei  ev  tiu  Maina[KT] 
ripiüjvi    ^T^vl  Kai    aÜTÖv  eTnKaT0pu[TTu)] 

5    .    .    Kttl    TÖC    CUVblKOC    OUTOO 

Zeile  1  und  2  ist  bis  auf  das  Angegebene  teils  durch  Sinter, 
teils  durch  Bruch  der  Tafel  vernichtet.  Zeile  2  würde  [dqpaJviJluj 
die  Lücke  füllen.'  Zeile  4  ist  pi  durch  Einsetzen  eines  Bogens 
in  die  linke  obere  Ecke  eiues  ursprünglich  geschriebenen  ir 
hergestellt. 

Zeile  5  gibt  die  Schreibung  töc  cuvbiKOC  einen  Anhalts- 
punkt für  die  Zeitbestimmung.  Auf  Inschriften  findet  sich  o 
für  ou  trotz  Eukleides  bis  zum  Ende  des  4.  Jahrh.*,  wesent- 
lich später  ist  unser  Stück  wohl  kaum. 


fuhrt,  es  würde  auf  ein  und  derselben  Tafel  manchmal  ein  Name  erst 
von  rechts  nach  links,  dann  aber  richtig  geschrieben,  so  dürfte  er  zu 
wenig  mit  der  Gedankenlosigkeit  des  Schreibers  rechnen,  der  gerade  bei 
den  weniger  geläufigen  Eigennamen  beim  zweitenmal  unwillkürlich  in 
die  gewöhnliche  Schreibweise  verfiel,  weil  sie  leichter  war. 

'  Für  ähnliche  Kontaminationen:  Wünsch,  de  f.  tab.  att.  75  a.  2; 
Audollent  15.  21,  25;  Index  VIU  A  i.  Syntactica  ß.  p.  532.  Ipxa  und 
ipTCicia  nebeneinander:  Wünsch  69.6;  75b:  137.  Audollent  47.5,7; 
52.  13/4.     68  A.  6. 

*  Sie  trägt  die  Inventamummer  III.  1146. 

'  Audollent  49,  it  (neben  kotopOttu;  auf  einer  attischen  Tafel). 

*  Meiaterhans-Schwyzer,  Gramm,  d.  att.  Inschr.'  26;  Wilhelm,  üb. 
d.  Zeit  einiger  att.  Fluchtaf.,  Österr.  Jahreshefte,  Wien  1904  (VU). 
S.  106,  107. 


156  A.  Abt 

Der  Defixionscharakter  ist  durch  dasVerbum  eTTiKaxopuTTeiv* 
zweifellos,  die  Verwendung  im  Prozeßzauber  neben  toc  cuvöikoc 
durch  dtTUJViZieceai.^  Sind  wir  einmal  so  weit,  so  ergänzt  sich 
leicht  [ev]bei£iv^,  wozu  dann  t^v  als  Relatiy  gehört.^  Gegen 
wen  der  Fluch  gerichtet  ist,  erfahren  wir  nicht;  eine  Ergänzung 
von  Zeile  1  zu  Mevuu[va]  ist  bei  der  Unsicherheit  des  M  zu 
gewagt  und  hilft  nichts.^  Etwas  weiter  führt  vielleicht  die 
Erwähnung  des  Monats  Maimakterion.  Der  Verfluchende  muß 
bei  Abfassung  des  Textes  gewußt  haben,  daß  der  Prozeß  in 
diesem  Monat  zum  Austrag  kommen  mußte,  sonst  hatte  es 
keinen  Sinn,  den  Dämon  auf  einen  bestimmten  Termin  zu  be- 
mühen. Nun  gibt  es  in  der  attischen  Prozeßordnung  Streit- 
sachen, deren  Verhandlungstermine  dKpißeic  Kaict  )afiva  liegen, 
unter  Umständen  sogar  eVluTivoi  sein  müssen:  die  der  e'iniropoi. 
Und  diese  liegen  diro  xoö  Bor|bpo|uia)Voc  juexpi  toO  Mouvixujuvoc, 


^  Der  Ausdruck  eTTiKaxopÜTTU)  aöxöv  Kai  xöc  cuvöikoc,  bei  dem  in 
^TTi  ein  logischer  Fehler  liegt,  weil  ja  noch  niemand  „vergraben"  ist, 
erklärt  sich  als  verkürzt  für  KaxopÜTTU)  auxöv  Kai  ^TriKaxopOxxu)  xöc 
CUVÖIKOC.  Für  öpuxxeiv  vgl.  S.  165  Anm.  3.  Schluß  von  der  an  der  Tafel 
geübten  Tätigkeit  auf  den  Zustand  des  Verfluchten:  vgl.  Wünsch  zu 
Ziebarth  Nr.  10,  17  a.  a.  0.,  R.  Münsterberg,  österr.  Jahreshefte.  VII.  142. 

*  Luc.  Prom.  sive  Cauc.  4  (vom  Verteidiger);  vgl.  bis  accus.  12 
(vom  Kläger),  Lysias  irp.  Cifji.  §20  p.  43.  5,  Thalheim  (vom  Angeklagten) 
Aristoph.  Eq.  614  (vom  Verteidiger). 

•'  Thalheim  bei  Pauly-Wissowa  V  2,  2651,  Meyer-Schoemann-Lipsius, 
att.  Prozeß  I  (1883)  270  ff.,  286  ff. 

*  f|v  =  ^ctv  v?äre  als  jon.  Form  (Meisterhans- Schwyzer'  266.  1989) 
auffällig,  anderseits  setzt  fiv  einen  Ausdruck  gvöeiSiv  dYUJviJIeceai  vor- 
aus, der  unbelegbar  ist. 

*  Menones  auf  Fluchtafeln:  Ziebarth  a.  a.  0.  7.  2,  14,  i,  7.  (nach 
Wünsch,  Rh.  Mus.  LV.  64),  letztere  Tafel  gleichfalls  Prozeßfluch  gegen 
M.,  Philokydes,  Philostratos ,  Kephisodor  und  öXXoi.  Wünsch,  dcf.  tab. 
att.  95  b.  1,4  ist  zeitlich  von  unserer  Tafel  zu  vreit  getrennt  (cuvriTÖpouc 
gegen  cuvöikoc),  als  daß  Gleichheit  der  beiden  Menones  anzunehmen 
wäre.  Der  Name  ist  sehr  häufig;  von  den  22,  die  in  der  Prosop.  Attica 
aufgezählt  werden,  würde  nur  10  086  passen,  der  362/1  eine  leitende 
Stellung  bei  der  athen.  Flotte  einnimmt  und  360  von  ApoUodor,  Sohn 
des  Bankiers  Pasion,  angeklagt  wird. 


Bleitafela  aus  ilünchner  Sammluagen  J57 

iva  TTapdxprm«  tujv  biKaiuiv  tuxövtcc  dvd'fujvTai;  man  legt  die 
Handelsgerichtsperiode  in  die  stille  Zeit  der  Seefahrt  und  urteilt 
die  einzelnen  Klagen  rasch  ab,  um  die  beteiligten  Kaufleute 
und  Bundesgenossen  nicht  ohne  Not  in  der  günstigen  Jahres- 
zeit durch  Sitzungen  aufzuhalten  und  zu  schädigen.'  Ursprüng- 
lich gehörten  die  biKai  euTiopiKai  vor  die  Xautodiken,  die  auch 
nur  in  bestimmten  Monaten  tagten',  im  4.  Jahrb.  ging  ihr  Amt 
in  dem  der  Thesmotheten  auf,  die  auch  evbeiEeic  annahmen, 
auch  in  Handelssachen.*  Können  wir  so  aus  der  Nennung 
eines  Wintermonats  ^  als  Termin  mit  einiger  Wahrscheinlich- 
keit auf  einen  Streit  in  Handelssachen  schließen,  so  läßt  sich 
ebenso  wahrscheinlich  feststellen,  daß  der  eine  Streitteil  ein 
Fremder  war.  Als  in  den  „Vögeln"  einer  erklärt,  er  wolle 
gegen  Pisthetairos  im  Munjchion  Klage  führen,  weil  er  im 
Wolkenkuckuksheim  —  also  im  Ausland  —  ungerecht  be- 
handelt worden  sei®,  verbessert  der  Scholiast  diese  Angabe 
mit  dem  Hinweise,  daß  nach  Philetairos  (mittlere  Komödie) 
Prozesse  gegen  Fremde  in  den  Maimakterion  gehörten,  da  in 
jenes  Dichters  „Monaten"  auf  die  Frage  Tic  ecTi  Mai^aKtripiujv 
geantwortet  werde:  )nfiv  biKdciuoc'  Da  das  Stück  )Lifjvec  hieß, 
so  muß  der  Maimakterion   biKdcijaoc    in    einer   ganz   speziellen, 

»  Belege  bei  [Dem.]  geg.  Apat.  XXXIII,  23,  [Dem.]  üb.  Halon.  VII.  12. 
Xen.  TTÖpoi  in.  3;  vgl.  H.Weber,  att.  Prozeßrecht  in  den  Seebnndstaaten, 
Studien  z.  Gesch.  n.  Kultur  d.  Altert,  herausg.  v.  Drerup  I.  5  1908  S.  22, 
.j8.  I.  Gr.  I  38.  frg.  f.  14  (Ol.  89  soll  der  fiuurivoc  abgeurteilt  werden, 
der  zur  Nichtlieferung  des  q)öpoc  aufreizt,  also  doch  wohl  ein  Bundes- 
genosse. 

*  I.  Gr.  I  29.4;  Lysias  XVII,  §  5  S.  197  Thalheim:  ^v  tA  ^a^nA»a»vt 
^Tivi  Ol  vauTobiKai  ouk  ^Se&iKocav. 

*  Meyer-Schoemann-Lipsius,  att.  Prozeß  II  628,  636  f. 

*  Schol.  Arist.  Vesp.  1120.     Etym.  magn.  338,  39. 

*  Att.  Prozeß  I  270  ff.,  286  ff.  I.  Gr.  II.  546.  35;  18,  21,  28  (Einfuhr- 
gesetz u.  Prozeßordnung  betr.  Handel  mit  koischem  jiiXtov,  Mitte  d. 
4.  Jahrb.);  Arist.  Eq.  278:  Andoc.  IT  14  'bei  Zufuhrleistung  an  den 
Feind  . 

®  Maimakterion  ungefähr  gleich  November:  Unger  bei  Iwan  v.  Müller, 
Hndb    I  *  S.  730.  •  v.  1046  Hall-Geldart. 


158  ■^-  -^^t     Bleitafeln  aus  Münchner  Sammlungen 

ihn  von  andern  Monaten  unterscheidenden  Hinsicht  gewesen 
sein,  und  wir  haben  keinen  Grund  zum  Zweifel,  wenn  ein 
Kommentar  uns  belehrt,  diese  Besonderheit  habe  in  der  Be- 
schränkung der  Fremdenprozesse  auf  diesen  Monat  gelegen. 
Einen  weiteren  Beleg  bietet  das  schon  von  Lipsius  heran- 
gezogene Fragment  der  aristophanischen  Apaiuata  f|  Nioßoc.^ 
Hier  gibt  jemand,  der  irgendwie  mit  der  Unterwelt  zu  tun  hat, 
über  deren  rechtliche  Beziehungen  zum  Diesseits  Auskunft: 

eCTlV    YCtp    TllLlTv    TOiC    KOtTUU    irpÖC    TOUC    avu) 

otTTÖ  cu)Lißö\ujv  Ktti  }xf]y  ö  Mai|aaKTripiu)v 
ev  dj  Troioö|uev  tdc  biKac  Kai  idc  Tpa^dc 

Wenn  also  ein  Fremdling  aus  dem  Lande,  von  dem  keiner 
wiederkommt,  eine  Klage  gegen  einen  Einheimischen  auf  der 
Oberwelt  hat,  oder  umgekehrt,  so  ist  sie  auf  Grund  eines 
Staats  Vertrags  im  Maimakterion  einzureichen,  widrigenfalls  sie 
abschläglich  beschieden  werden  muß.  Dieser  Witz,  auf  attisches 
Publikum  berechnet,  muß  attische  Rechtsverhältnisse  persiflieren. 

Damit  dürfen  wir  die  Vermutung  aussprechen,  unsere  Fluch- 
tafel verdanke  ihr  Dasein  einer  evbeiHic  in  Handelssachen,  bei 
der  die  eine  Partei  —  der  Verfluchte,  denn  die  Tafel  ist  attischen 
Fundorts  —  ein  Fremder  war,  den  die  Landesgesetze  zwangen, 
in  einem  ganz  bestimmten  Monat  sein  Recht  zu  suchen. 


1  Meinecke  III  297,  vgl.  att.  Prozeß  II  773  f. 
*  Frg.  278  Kock,  Hall-Geldart. 


Die  Religion  der  Landschaft  MoscM  am  Kilimandjaro 

Originalaufzeichnungen  von  Eingeborenen 
Von  J.  Raum,  Missionar  in  Moschi 

Vorbemerkungen 

Ohne  Frage  bieten  dem  Forscher,  der  sich  mit  einem 
Naturvolk  beschäftigt,  die  religiösen  Anschauungen  seines 
Forschungsgebiets  die  meisten  Schwierigkeiten  dar.  Die  sach- 
gemäße Erkenntnis  der  religiösen  Gedankenwelt  eines  kultur- 
armen Stammes  ist  eine  Aufgabe,  die  dem  wissenschaftlichen 
Reisenden,  der  nur  wenig  Zeit  auf  einen  Stamm  oder  ein 
Volk  verwenden  kann,  kaum  gelingen  wird.  Die  Gründe  dafür 
liegen  auf  der  Hand:  der  Naturmensch  st«ht  fast  immer  dem 
Fremden  mißtrauisch  gegenüber  und  ist  weit  davon  entfernt, 
ihm  die  altererbten  heiligen  Anschauungen  und  Bräuche  ohne 
weiteres  preiszugeben.  Aber  selbst  wenn  er  sich  dazu  ver- 
stehen sollte,  so  ist  jenem  damit  nicht  sehr  viel  geholfen.  Es 
erfordert  eine  genaue  Kenntnis  der  Sprache,  es  gehört  eine 
intime  Bekanntschaft  mit  dem  ganzen  Vorstellungskreis  eines 
Volkes  dazu,  um  seine  religiösen  Gedanken,  die  ja  den  Kern 
seines  geistigen  Lebens  bilden,  richtig  zu  erfassen  und  dar- 
zustellen. Das  sind  aber  alles  Bedingungen,  die  bei  einem 
literaturlosen  Naturvolk  nicht  leicht  zu  erfüllen  sind.  Selbst 
dem,  der  ex  professo  sich  länger  mit  einem  Stamm  be- 
schäftigt, auch  dem  europäischen  Missionar  wird  es  schwer, 
sich  einzufühlen  in  die  ihm  ganz  fremde,  primitive  Ge- 
dankenwelt. Es  kommt  eben  nicht  nur  darauf  an,  die  einzelnen 
Erscheinungen  und  Tatsachen  richtig  zu  erfassen,  sondern  es 
gilt  vielmehr,   das   einzelne   im  Zusammenhang  des  Ganzen  zu 


160  J  Raum 

erkennen,  und  die  Motive,  die  der  einzelnen  Tatsache  zugrunde 
liegen,  nachzuempfinden. 

Diese  Erwägungen  schienen  mir  nötig  zur  Würdigung  der 
nachfolgenden  Originalaufzeichnungen  von  Eingeborenen  über 
die  Religion  ihrer  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro.  Sie 
stammen  in  der  Hauptsache  von  Yohane  Msando,  einem  christ- 
lichen Dschaggalehrer,  ohne  Frage  einem  der  begabtesten  Mit- 
glieder unserer  Dschaggagemeinden.  Der  Umstand,  daß  der 
Verfasser  Christ  ist,  darf  nicht  dazu  verleiten,  den  Wert  seiner 
Aufzeichnungen  über  die  heidnischen  Gedanken  und  Institutionen 
seiner  Volksgenossen  gering  zu  schätzen.  Im  Gegenteil:  seine 
Ausbildung  in  den  Missionsschulen  hat  ihm  einen  freieren  Blick 
verschafft,  der  ihn  befähigt,  das  Wesentliche  zu  erkennen  und 
herauszuheben.  Als  Christ  kann  er  den  Geisterdienst  selbst- 
verständlich nur  verwerfen,  aber  das  hindert  ihn  keineswegs, 
ihn,  mit  dem  er  von  Jugend  auf  vertraut  ist,  zu  schildern,  wie 
er  ist.  Ich  kann  mich  durchaus  dafür  verbürgen,  daß  in  dem 
Bericht  nur  Tatsachen  stehen. 

Es  stehen  mir  zwei  Manuskripte  über  denselben,  durch 
die  Überschrift  bezeichneten  Gegenstand  zur  Verfügung.  Es 
wird  aber  das  beste  sein,  wenn  ich  nur  das  eine,  eben  von  dem 
genannten  Yohane  Msando  verfaßte,  zur  Darstellung  bringe  und 
aus  dem  zweiten  an  gegebenen  Stellen  Ergänzungen  aufnehme. 
Diese  Stücke  sind  mit  B  bezeichnet  und  durch  eckige  Klammern 
als  von  wo  anders  her  stammende  Abschnitte  kenntlich  gemacht. 
Runde  Klammern  im  Text  umschließen  erklärende  Zusätze  von 
mir.  —  Aus  psychologischen  Gründen  habe  ich  mich  ent- 
schlossen, das  Manuskript  A  unverkürzt  mitzuteilen,  auch  wo 
es  nicht  berichtet,  sondern  raisoniert.  Es  wird  für  die  Leser 
des  Archivs  vielleicht  nicht  uninteressant  sein,  zu  erfahren,  wie 
ein  christlich  gewordener  Dschagga  über  seine  religiöse  Ver- 
gangenheit denkt.  Im  Interesse  der  Originalität  ist  auch  die 
ursprüngliche  Ordnung  des  Manuskripts  beibehalten,  obwohl  sie 
nicht  immer  unanfechtbar  ist.     Meine  Tätigkeit  beschränkt  sich 


Die  Religion  der  Landschaft  Mcschi  am  Kilimandjaro         161 

also  darauf,  die  Aufzeichnungen  in  möglichst  getreuer  Über- 
setzung zu  reproduzieren,  sie  durch  geeignete  Stücke  aus  B 
zu  ergänzen  und  das  Ganze  mit  sachgemäßen  Anmerkungen  zu 
begleiten. 

Ich  hoffe,  daß  die  Arbeit  einen  nicht  ganz  unbrauchbaren 
Beitrag  zur  Religionskunde  der  ostafrikanischen  Bantuvölker 
darstellt 

Die  Art  und  Weise,  wie  man  in  den  Pflanzungen 
zu  Gott  betet^ 

I 
Die  Geister  (tvarttmu) 

(Einleitung.)  Die  Leute  hier  am  Kilimandjaro  pflegen  alle 
die  Ahnen geister  zu  verehren,  ihnen  zu  dienen  und  oft  Gebete 
an  sie  zu  richten.  Zwar  wissen  sie,  daß  es  einen  Gott  (Muwa, 
B.  u.)  gibt,  der  im  Himmel  ist,  aber  sie  fürchten  ihn  nicht  in 
dem  Grade,  wie  die  Ahnengeister.  Weshalb?  Gott  ist  einer, 
der  Geister  aber  sind  viele.  Gott  heischt  einmal  eine  einzige 
Sache;  die  Geister  aber  stellen  (oftmalige)  Forderungen  an 
jeden  einzelnen. 

1 

Was  sind  die  Ahnengeister?  (Allgemeine  Bemerkungen 
j  über  den  Geisterdienst  der  Bantu,  speziell  der  Dschagga:  Der 
Ahnenkult  der  ostafrikanischen  Bantu  hat  bei  den  Dschagga 
zu  paradigm atischer  Reinheit  sich  ausgebildet,  bzw.  sich  rein 
bewahrt.  Über  die  Geister  gibt  es  sehr  bestimmte,  von  allen 
geteilte  Meinungen;  die  Verhältnisse  der  Lebenden  zu  ihnen 
sind  auf  das  genaueste  geregelt. 

Der  Ahnendienst,  wie  er  bei  den  Dschagga  sich  darstellt, 
hat  eine  doppelte  Wurzel:  eine  religiöse  und  eine  soziale.    Seine 


^  d.  h.  die  Religion  der  Dschagga.  Mit  dem  Namen:  Dschagga 
bezeichnet  die  Kilimandjarobevölkerung  nicht  sich  selbst.  Sie  nennen 
sich:  wandu  wa  mndeny  =  Leute  die  in  den  (Bananen-)  Pflanzungen 
•wohnen.    Ganz  Dschaggaland  ist  auch  ein  einziger  großer  Bananengarten. 

Archiv  t  KeligioDswiasenscbaft  XIV  j  i 


162  J-  Raum 

religiöse  Wurzel  ist  der  animistische  Geisterglaube,  der  hier 
Seelen-  und  Unsterbliclikeitsglaube  ist.  Sozial  ist  aber  der 
Geisterglaube  der  Dscbagga  bedingt  durch  die  Stufe  der  mensch- 
lichen Gemeinschaft,  die  sie  erreicht  haben.  Die  Dschagga 
zerfallen  in  eine  Reihe  patriarchalischer  Sippen.  Die  Kinder 
folgen  dem  Geschlecht  des  Vaters;  der  Mann  ist  der  Herr  (Be- 
sitzer) der  Frau,  die  durch  Kauf  (Vieh)  erworben  wird.  Die 
Häuptlingsschaft  scheint  auf  Usurpation  von  auswärts,  nämlich 
von  der  Küste  zugewanderter  Geschlechter,  die  keine  Bantu 
waren,  zurückzugehen;  die  Traditionen  der  Dschagga  reichen 
überall  noch  in  die  häuptliugslose  Zeit  zurück.  Die  dem 
Dschagga  nahe  verwandten  Kamba  kennen  nur  eine  Ge- 
schlechterverfassung; bei  den  ihnen  gleichfalls  nahe  stehenden 
Taita  und  Pare  gibt  es  zwar  Häuptlinge,  aber  mit  geringer 
Autorität.  Die  Herrschervölker  anderen  Stammes,  die  wir  in 
Ostafrika  unter  den  Bantu  treffen  —  in  Uganda  die  Wahuma, 
in  Usambara  die  Wakilindi  (diesen  entstammen  sehr  wahr- 
scheinlich auch  die  Herrschergeschlechter  der  Dschagga) 
scheinen  ein  anderer  Beweis  dafür  zu  sein,  daß  die  meisten 
Bantustämme  Ostafrikas  von  sich  aus  noch  nicht  zu  Staaten- 
bildungen fortgeschritten  sind,  daß  ihre  Einwanderung  also 
jüngeren  Datums  ist.  —  Die  einzelnen  Mitglieder  einer  Dschagga- 
sippe  sind  verbunden  durch  das  lebendige  Bewußtsein  gemein- 
samer Abstammung;  sie  feiern  gemeinsame  Schlacht-  und 
Opferfeste;  Männer  und  Frauen  werden  mit  dem  Sippennamen 
als  Ehrennamen  gegrüßt.  Es  herrscht  die  Sitte  der  Exogamie, 
die  mir  einmal  von  einem  Moschimann  durch  den  Umstand  be- 
gründet wurde,  daß,  falls  die  Frau  aus  der  eigenen  Sippe  wäre, 
sie  ja  keinen  Bluträcher  hätte.  Die  Sippen  scheinen  ursprüng- 
lich totemistisch  gewesen  zu  sein;  das  Geschlecht  der  Walyatu, 
z.  B.  hat  den  Hundspavian  als  Wappentier;  er  wird  direkt  alst 
msiki  =  Schwester  bezeichnet.  i 

Der  Ahnenkult   der  Dschagga   ist   nichts    anderes    als   die 
über  das  Grab  hinaus  fortgesetzte  Farailiengenossenschaft.     Dit 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  163 

Familieng^meinschaft  ist  heiligt  geschützt  durch  den  Glauben, 
daß  von  der  Haltung  der  Pietät  —  die  hier  mehr  als  Verhalten, 
denn  als  Gesinnung  zu  fassen  ist  —  Wohl  und  Wehe  des  ein- 
zelnen abhänge.  Die  Ehrfurcht  gegenüber  den  Alteren,  auf 
denen  die  Familiengemeinschaft  beruht,  erscheint  also  als 
religiöse  Pflicht;  sie  scheint  für  das  jüngere  Familienglied  ge- 
boten durch  die  Meinung,  daß  jene  eine  Art  höherer  Macht 
besitzen,  die  sich  nach  dem  Tode  ins  Wunderbare,  ja  Grenzen- 
lose steigert.  Aber  auch  die  Respektspersonen  bei  Leibesleben 
zu  verletzen  ist  schon  unheilvoll;  es  besteht  die  Überzeugung, 
daß  in  einem  solchen  Fall  die  jenseitige  Familiengemeinschaft 
für  die  verletzte  Respektsperson  eintreten  werde.  So  kann  z.  B. 
der  Vater  den  unverbesserlichen  Sohn  den  Geistern  übergeben: 
idanibika  warumu.  Das  hätte  natürlich  schwere  Folgen  für 
Leib  und  Leben  des  ungehorsam  Betroffenen.  Daher  ist  die 
Pietät  gegen  die  älteren  Familienmitglieder  eine  Forderung, 
die  im  eigenen  Interesse  des  Jüngeren  liegt. 

Der  Mann,  der  Kinder  hat,  wird  bei  den  Dschagga  an- 
geredet: mhe  =  Vorderer,  Älterer,  oder:  mndumi  =  Mann;  die 
Frau:  mae  =  Mutter,  mfe  ==  Gebärerin,  mongo  =  Säugerin. 
Kinderlose  Frauen  und  Männer  gelten  als  unheilbringend;  sie 
werden,  wie  die  unverheiratet  gestorbenen,  oft  nicht  begraben, 
sondern  ausgesetzt.  Kinderlosigkeit  gilt  den  Dschagga  als  der 
furchtbarste  Fluch. 


'  Auf  den  Glauben  an  die  Heiligkeit  der  Familienbande  scheint 
es  auch  zurückzugehen,  wenn  bei  den  Moschileuten  vorehelicher  von 
Folgen  begleiteter  Verkehr  der  beiden  Oreschlechter  als  Frevel  gilt;  es 
wird  von  den  Mädchen  Keuschheit  bei  Eingehung  der  Ehe  verlangt.  Die 
Hochzeit  ist  eine  Angelegenheit  der  ganzen  Sippe,  die  daran  teilnia  mt. 
Nach  Erzählungen  Eingebomer  sind  in  l'rüheren  Zeiten  die  beiden 
Schuldigen,  aufeinander  gelegt,  gepfählt  worden.  —  B  sagt  darüber: 
bevor  sie  —  die  Braut  —  verheiratet  ist,  gibt  man  sehr  auf  das  Mädchen 
acht,  daß  sie  nicht  unehelich  empfange.  Hat  sie  unehelich  empfangen, 
ehe  die  Hochzeitszeremonien  stattgefunden  haben,  so  belangt  der  „Alte" 
den  jungen  Mann.  Dieser  muß  zwei  Ziegen  stellen,  den  Brauch  zu 
„entsühnen"  {yolora  eig.  =  kühl  machen  =  gut  machen). 

11* 


164  J-  Raum 

In  der  patriarchalischen  Sippe  sind  die  Rechte  jedes  ein- 
zelnen Familiengliedes  nach  Alter  und  Geschlecht  genau  ge- 
regelt. Der  jüngere  Sohn  darf  vor  dem  älteren  z.  B.  nicht 
beschnitten^  werden  oder  heiraten.  Diesen  Anspruch  macht  er 
auch  nach  seinem  Tode  geltend.  Wenn  oben  gesagt  wurde, 
daß  der  Geisterdienst  bei  den  Dschagga  die  über  das  Grab 
hinaus  fortgesetzte  Familiengemeinschaft  sei,  so  ist  dies  ganz 
wörtlich  zu  nehmen.  Die  Beziehungen  zu  den  einzelnen  Geistern 
bemessen  sich  nach  der  Stellung,  die  sie  in  der  Familie  bzw. 
Sippe  einnehmen. 

Eine  matriarchalische  Erinnerung  scheint  durchzuschimmern 
in  dem  Umstand,  daß  für  die  jungen  Knaben  und  Mädchen  der 
Mutterbruder  (wasidu)  derjenige  ist,  dessen  Gunst  oder  Ungunst 
ihnen  am  meisten  Segen  oder  Unsegen  bringt. 

Trägt  der  Geisterdienst  der  Dschagga  einen  im  ganzen 
düsteren  Charakter,  so  ist  doch  seine  ethische  und  soziale  Be- 
deutung nicht  zu  verkennen.  Der  Glaube,  daß  die  Pietät,  auf 
der  alle  Familiengemeinschaft  beruht,  die  religiöse  Pflicht  des  J 
Menschen  sei,  deren  Erfüllung  eine  Forderung  des  eigenen 
Wohles  ist,  beschränkt  die  Ichsucht  des  einzelnen  und  macht 
eine  weitere  Entwickelung  der  menschlichen  Gemeinschaft,  die 
ja  von  der  Familie  ausgeht,  überhaupt  erst  möglich.) 

Die  Ahnengeister  sind  die  Geister  der  Verstorbenen.  Hier- 
zulande sagt  man,  es  seien  die  Schatten  der  Verstorbenen. 
Der  Grund  zu  dieser  Bezeichnung  ist  der  Umstand,  daß  sie 
keine  Knochen  (Leib)  haben.  Zwar  von  Ansehen  sind  sie  wie 
ein  Mensch,  der  hier  auf  Erden  lebt,  nur  ist  es  nicht  möglich, 
daß  einer,  der  den  hier  Lebenden  angehört,  ihn  (den  Geist)  um- 
fange. Auch  wenn  man  ihn  einen  Augenblick  wahrnimmt, 
plötzlich   ist   er  verschwunden,    sei   es,   daß   er  ein  Alter,   ein 


*  Durch  die  Beschneidung,  die  gemeinsam  mit  allen  Altersgenossen, 
auf  Anordnung  des  Häuptlings,  an  ihm  vollzogen  wird,  tritt  der  junge 
Dschagga  in  die  Zahl  der  Heiratsfähigen  ein.  Sie  ist  daher  ein  sehr 
ersehntes  Ziel. 


Die  ReligioD  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro         165 

Mann,  eine  Frau  oder  ein  Kind  ist.  Das  sind  die  Ahnengeister, 
an  die  die  Dschagga  glauben.  Etwas,  was  dem  christlichen 
Glauben,  daß  es  Teufel  gäbe,  entspricht,  ist  den  Dschagga 
nicht  bekannt. 

Der  Aufenthaltsort  der  Ahnengeister  ist  die  Tiefe.*  Sie 
haben  ihre  Heimat  hier  unten,  unter  dem  Boden,  inmitten  der 
Erde.  Auch  Volksversammlungen  halten  sie  ab,  wie  die  Menschen, 
femer  haben  sie  ihren  König.  Wenn  ein  König  hier  auf  Erden 
stirbt,  so  bekommt  er  auch  bei  den  Geistern  Gewalt  und  be- 
sitzt seine  eigenen  Krieger.  Die,  welche  ihm  hier  unter  den 
Lebendigen  zugehörten,  die  ruft  er  auch  (dort  in  der  Unter- 
welt) alle  zu  sich.  Wenn  jemand  hier  verstirbt  und  dorthin 
geht,  so  hält  er  sich  auf  bei  seinen  Familienangehörigen;  die 
Familie  aber  weilt  unter  ihren  Volksgenossen.  Alles  ist  so 
geordnet,  wie  hier  auf  Erden.  Wenn  die  Leute  hier  (im 
Diesseits)  etwas  unternehmen  wollen,  so  halten  sie  darüber, 
was  es  auch  sei,  eine  Beratung  ab.  In  ebensolcher  Weise  be- 
raten sich  die  Geister.  Aber  die  Volksversammlungen  der 
'jeister  sind  unvergleichlich  größer  als  die  der  Menschen.  Sie 
veranstalten  ihre  eigenen  gemeinschaftlichen  Beratungen  (um 
zu  beschließen"),  wie  ihre  besonderen  Angelegenheiten  zu  regeln 
seien  und  wie  es  auf  Erden  und  mit  den  Menschen  gehen 
solle.  [B.  weiß  über  das  Verhältnis  der  Geister  zu  den  Lebenden 
noch  folgendes  zu  berichten:  Früher,  als  noch  nicht  das  Christen- 
tum hiehergekommen  war,  aber  auch  jetzt  noch,  pflegten,  nach 
der  Angabe  der  Leut«,  die  Geister  auch  mit  den  Menschen  auf 
Erden  zu  kämpfen.  Befanden  sich  zwei  oder  drei  Leut«  auf 
dem  Wege,  so  gewahrte  (wohl)  einer  davon,  wie  die  Geister 
mit  ihm  kämpften,  als  ob  er  mit  Menschen  kämpfte;  er  be- 
fand sich  dabei  in  einer  Art  traumhaften  Zustandes.  Er  rief 
dann  (wohl)  seinen  Gefährten  zu,  sie  möchten  ihm  beistehen, 
es   kämpften  Leute    mit   ihm,   aber   der   andere    sah  sie  nicht. 

'  Daher  erklären  sich  die  Dschagga  ein  Erdbeben  als  ein  Vorüber- 
ziehen der  Geister. 


166  J-  Raum 

Wenn  dann  ein  solcher  Mensch  nach  Hause  kam,  so  brachte 
er  etwas  (als  Spende),  um  die  Geister  damit  anzuflehen.^  Oder 
er  wurde  krank  und  glaubte,  die  Geister  hätten  ihn  so  ge- 
schlagen, daß  er  sterben  müsse.  —  Oder  jemand  ging  seines 
Weges  und  sah  die  Geister  am  Wege  sitzen,  wie  Menschen, 
und  sich  untereinander  unterhalten  und  beratschlagen  über 
Dinge,  die  sie  hier  auf  Erden  anstellen  wollten.  Einer,  der 
derartiges  wahrnahm,  kann  nach  dem  Glauben  der  Leute  nicht 
mit  dem  Leben  davonkommen,  da  er  eine  Versammlung  der 
Geister  gesehen  hat.  Er  brachte  eine  Gabe,  um  damit  die 
Geister  anzurufen,  daß  er  nicht  sterben  müsse.  Daher  machte 
sich  in  früheren  Jahren  nach  Eintritt  der  Dunkelheit  niemand 
mehr  auf  den  Weg,  oder  (wenn  er  das  tat),  so  wandelte  er 
ganz  mäuschenstill.] 

Aber  die  Geister  bleiben  nicht  für  immer  in  dem  Wohn- 
ort der  Geister.  Bei  den  Geistern^  befindet  sich  nur  der  Vater, 
der  Großvater  und  der  Urgroßvater;  der  Ururgroßvater  aber 
nicht  mehr.  Unterhalb  des  Aufenthaltsortes  der  Geister  gibt 
es  nämlich  einen  anderen  Ort,  der  Kilengetseny^  heißt.  Dort, 
in  KilengeUeny  ist  der  Ort,  wo  der  Ururgroßvater  und  die 
weiteren  Familienahnen  der  absteigenden  Linie  sich  befinden. 
Zu  denen,  die  in  Kilengetseny  weilen,  wird  nicht  mehr  gebetet, 
mit  Ausnahme  des  einen  oder  anderen  Urahnen,  der  als  Erster 
(der  Sippe)  hierher  an  den  Kilimandjaro  gekommen  ist.  Ein 
solcher  ist  z.  B.  Oririna,  der  Urahn  des  Häuptlingsgeschlechts 
von  Pokomo'',  der  aus  dem  Lande  Pokomo  in  der  Nähe  der 
Küste  herkam.  Diesem  bringen  sie  das  eine  oder  andere  Jahr 
Opfer  dar;  man  schlachtet  dabei  ein  Stück  Vieh  an  dem  Orte, 


'  iterewa  mndu  na  kindo  sagen  die  Dschagga  =  jemand  mit  einer 
Sache  (d.  h.  Gabe)  bitten  oder  anflehen.  Die  Bitte  oder  das  Gebet  wird 
durch  die  Gabe  unterstützt.  *  Einer  Familie. 

"  Ein  Wort  von  dunkler  Herkunft  und  Bedeutung. 

*  Eine  Landschaft  westlich  von  Moschi,  die  also  ihren  Namen  hatto 
von  Pokomo  am  Tana. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaxo  167 

an  dem  er  sich  bei  seiner  Einwanderung  angesiedelt  hatte. 
Auch  die  anderen  Sippen  (der  Dschagga)  opfern  in  ebender- 
selben Weise  dem  Urahnen,  der  als  erster  hierher  kam.  Was 
den,  der  jenem  (Oririna)  in  Pokomo  vorherging,  betrifft,  für 
den  hält  man  gegenwärtig  kein  (Opfer-)  Mahl  mehr. 

.  Anderenteils  aber  sagt  man,  jene,  die  der  längst  vergangenen 
Zeit  angehören,  verwandelten  sich  in  Tiere,  z.  B.  Frösche  und 
Iltisse  *  Da  ist  dann  das  Ende  der  Toten.  Das  ist  aber  nur 
Sage,  keineswegs  ein  allgemeiner  Glaube.  [B:  Es  wird  erzählt, 
daß  früher  die  Hyänen  die  Verbindimgswege  der  Landschaften 
herabgekommen  seien,  wie  Menschen  singend.  Sie  gingen, 
Leute  daheim  zu  rufen,  und  erzählten  ihnen  etwas.  Eine  wahre 
Geschichte,  die  sich  zugetragen  hat,  nachdem  die  Europäer 
schon  das  Land  in  Besitz  genommen  hatten:  hier  in  Moschi 
lebte  ein  Mensch  im  Bezirk  Mahoma.  Zu  dem  kamen  die 
Hyänen  und  redeten  mit  ihm,  gleich  Menschen.  Sie  sagten 
zu  ihm:  Nimm  dies  Ochsenkalb  und  schlachte  es.  Dann  gehe 
auf  den  breiten  (von  den  Europäern  angelegten)  Weg.  Dort 
wirst  du  ein  Mädchen  antreffen,  unterhalb  des  Weges  sitzend, 
das  bring  zu  dir  nach  Hause!  Als  der  Mann  das  tat,  da  fand 
er  das  Mädchen,  das  ihm  bezeichnet  war.  Dieser  Mann  ist 
vielleicht  noch  jetzt  am  Leben.  —  Weiter:  In  früheren  Zeiten, 
als  die  Hyänen  mit  den  Menschen  verkehrten,  da  pflegten  sie 
oftmals  Reigentänze  aufzuführen.  Auf  dem  Heimwege  befind- 
lich, kamen  sie  und  pflegten  zu  singen  und  zu  tanzen  wie 
Menschen.  In  der  Nacht,  wenn  die  Leute  sich  zur  Ruhe  ge- 
legt hatten,  da  hörte  man,  wie  sie  (die  Hyänen)  auf  den  Ver- 
bindungswegen gingen  und  einander  zuriefen:  Kamerad,  Kamerad! 
wie  Menschen.  Dies  veranlaßte  die  Leute  zu  dem  Glauben, 
daß  die  Menschen  nach  dem  Tode  sich  in  wilde  Tiere  ver- 
wandelten und  in  ihnen  lebten.  Daher  gerieten  die  Leute, 
wenn    in    früheren   Zeiten    eine   Hyäne    im   Lande   heulte,    in 

'  Also    Seelenwandemngsglaube.     Als  Geistertiere    kommen   noch 
der  Schakal,  die  Ginsterkatze  u.  a.  in  Betracht. 


168  J-  Raum 

Furcht,  daß  dem  Lande  ein  Unglück  widerfahren  werde  und 
gingen  zu  den  Wahrsagern,  um  den  Grund  (des  Heulens)  zu 
erfahren.  Das  gleiche  war  der  Fall  bei  dem  Geheul  eines 
Schakals.  Wenn  er  auf  einer  freien  Fläche  in  der  Landschaft 
sich  hören  ließ,  so  ging  das  das  ganze  Land  an;  wenn  er  aber 
in  der  Pflanzung  jemandes  heulte,  so  bezog  sich  das  nur  auf 
ihn,  es  konnte  daraus  nur  für  ihn  Unheil  entstehen.  Daher 
ging  er,  sich  ein  Orakel  zu  holen,  um  zu  erfahren,  weswegen 
er  von  einem  wilden  Tiere  angeheult  worden  sei,  was  das  zu 
bedeuten  habe.  Nach  der  Anweisung  des  Wahrsagers  brachte 
er  dann  den  Geistern  ein  Stück  Kleinvieh  zum  Opfer  dar.] 

2 
Welche  Gedanken  bewegen  nun  die  Leute  dazu,  zu  den 
Geistern  zu  beten,  sie  zu  ehren  und  zu  fürchten?  Sie  glauben, 
die  Menschen  hier  auf  Erden  seien  erzeugt  von  Ruwa  (Gott, 
s.  u.),  der  im  Himmel  ist.  Dieser  gibt  den  Menschen  An- 
weisungen, wie  sie  hier  auf  Erden  zusammenleben  sollen,  die 
Alten  mit  den  Jungen,  so  daß  der  Vater  eines  Menschen 
sein  Herr  sei.  Auch  wenn  jemand  ein  Krüppel  oder  ein  Armer 
ist,  so  hat  ihn  Ruwa  so  gemacht.  Weiter  sagen  sie:  Gott,  der 
im  Himmel  ist,  will,  daß  wir  Menschen  unsere  Respektspersonen 
und  unsere  Angehörigen  lieben  sollen.  Wir  sollen  ihnen  auch 
das,  was  wir  erwerben,  mitteilen.^  Sie  meinen:  wenn  jemand 
hier  auf  Erden  verstorben  ist  und  in  die  Tiefe  geht,  wo  man 
ihn  nicht  mehr  sieht,  so  erhält  er  die  Macht,  einem  zu  helfen, 
oder  einen  zu  verderben,  wenn  man  ihn  vernachlässigt.  Und 
noch  ein  anderes:  Die  Ahnengeister  pflegen  vom-  Hunger  ge- 
peinigt zu  werden,  sie  wünschen  Speise  von  ihren  Angehörigen 

'  Ob  diese  Beziehung  von  Ruioa  zum  Geistevdienst  genuin  sei, 
ist  zweifelhaft,  da  nach  den  eigenen,  weiteren  Aussagen  des  Verfassers 
die  Furcht  vor  der  Macht  der  Geister  das  Hauptmotiv  ihrer  Verehrung 
im  einzelnen  Falle  ist.  Sicher  ist,  daß  der  Dschagga  den  Geisterdienst 
im  ganzen  als  die  religiöse  Pflicht  xkt'  i^oxi^v  betrachtet;  seine  Unter- 
lassung v^Qrde  ein  schwerer  Frevel  sein. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  169 

ZU  erhalten.  Wenn  ihnen  nun  Speise  mangelt,  so  suchen  sie  solche 
zu  erhalten.  Gibt  man  ihnen  nicht  bald  etwas,  so  werden  sie 
zornig  und  wir  Menschen  erfahren  Unglück.  Wenn  wir  also 
den  Ahnendienst  unterlassen,  so  bringen  wir  Gott  auf^  und 
bringen  zugleich  die  Geister  auf.  Das  ist  der  Grund, 
weswegen  man  die  Ahnengeister  fürchtet.  Wenn  die  Ahnen- 
geister nichts  verlangen  würden,  so  würde  sich  niemand  vor 
ihnen  fürchten. 

Merke  auf,  so  will  ich  dir  erzählen,  wie  die  Ahnengeister 
Macht  und  Zorn  besitzen.  Sie  zeigen  ihre  Macht  besonders 
an  den  Seen,  in  den  heiligen  Hainen,  bei  Erdbeben,  und  indem 
sie  die  Menschen  krank  machen,  ja  töt€n.  Alle  Flüsse  (am 
Kilimandjaro)  haben  Becken,  in  die  sich  das  Wasser  von 
einem  Wasserfall  herabstürzt.  An  einem  solchen  Ort  befindet 
sich  ein  Geistersee.  Dort  gehen  die  Geister  ein  und  aus  und 
steigen  dann  und  wann  empor  zu  den  Menschen.  Dabei 
nehmen  sie  Rinder,  Ziegen  und  Schafe  mit  sich  fort,  die  auf 
den  Grasflächen  geweidet  werden.  Femer  schleppen  sie  den 
Leuten,  die  am  Wasser  wohnen.  Tröge  weg.  Und  wenn  ein 
Mensch  nahe  an  den  See  hingeht,  so  wird  er  von  ihnen  er- 
griSen  und  weggeführt.  Wenn  sie  dich  aber  fassen  und  du 
hast  eben  einen  scharfen  Gegenstand,  etwa  ein  Buschmesser,  zur 
Hand,  und  wenn  du  dir  damit  dann  eine  Verwundung  beibringst, 
so  daß  du  blutest,  so  tragen  sie  dich  nicht  fort,  denn  du  hast 
eine  Wunde.*  Ferner  holen  sie  den  Menschen  in  der  Nacht, 
wenn  er  schläft,  führen  ihn  im  Leibe  fort  und  lassen  nur  sein 
Zeug  in  der  Hütte  zurück.  Da  bringen  sie  ihn  dann  zu  sich, 
nach  Hause,  und  ojffenbaren  ihm  Dinge,  die  sie  hier  auf  Erden 
anrichten  wollen.'    Wenn  du,  mein  Freund,  so  von  den  Geistern 


'  So  freveln  wir.  Der  Erzähler  versetzt  sich  ganz  in  die  Seele 
seiner  heidnischen  Landsleute. 

*  Dieser  Glaube  beruht  vielleicht  auf  der  Heiligkeit  des  Blutes. 

'  Die  Wahrsager,  tcaJasa,  die  den  Verkehr  der  Geister  mit  den 
Lebenden   vermitteln,    werden   in   dieser  Weise   von   den  Geistern  fort- 


170  J-  Raum 

fortgeführt  werden  solltest,  und  du  gelangst  hin,  so  sieh  dich 
ja  nicht  zu  sehr  nach  ihren  Dingen  um,  sondern  sei  vorsichtig! 
Warum?  Die  Geister  pflegen  nähmlich  schlechte  Speisen  zu 
essen.  Ihre  Kinder  gehen  dahin  und  dorthin,  um  Speise  zu 
suchen  und  bringen  Käfer  und  Schmetterlinge  (als  solche)  mit 
heim.  Wenn  du  das  wahrnimmst  und  darüber  deinem  Erstaunen 
Ausdruck  gibst,  so  nehmen  sie  ganz  und  gar  von  dir  Besitz, 
so  daß  du  nicht  mehr  zurückkehren  kannst.  Da  kocht  z.  B.  eine 
alte  Frau  (eben  bei  den  Geistern)  eine  einzige  Yamsknolle  in 
einem  großen  Tontopf  und  sie  quillt  (wunderbarerweise)  auf, 
so  daß  alle  ihre  Kinder  satt  werden.  Wirfst  du  aber  dein  Auge 
darauf,  o  weh!  was  hat  dann  dein  Blick  angestellt!  Die  Yams- 
wurzel quillt  nicht  mehr,  du  aber  wirst  über  die  Maßen  ge- 
schlagen und  wirst  dabehalten  mit  Gewalt,  damit  du  sie  (die 
Geister)  nicht  etwa  auf  Erden  in  Schanden  bringest.  Oder 
wenn  etwa  einer  deiner  Angehörigen  fortgeführt  worden  ist, 
so  hebe  ja  sein  Zeug  nicht  auf  von  dem  Bettgestell  (auf  dem 
es  liegen  geblieben  ist),  noch  rufe  ihn,  sonst  wird  er  dort  ver- 
schwunden bleiben.  —  Als  in  alten  Zeiten  die  Feinde  ins  Land 
fielen,  da  erhoben  die  Seen  ein  Geschrei:  o-o-i!^  Laß  gut 
sein!  Heute  wollen  wir  die  Feinde  vertreiben.  Und  die  Feinde 
wurden  wirklich  verjagt.  Die  Weiber  (der  Geister)  erhoben  ein 
Triumphgeschrei ^,  um  ihren  Männern  dafür  zu  danken,  daß 
sie  die  Feinde  vertrieben  hätten.^ 

Aber  auch  die  Geister  werden  überwacht  und  verjagt  von 
anderen,  noch  mächtigeren  Geistern.  Wie  die  Europäer  hierher 
gekommen  sind  (und  von  dem  Land  Besitz  ergriffen  haben), 
so  geschah  es  auch  bei  den  Geistern.^    Das  hindert  die  Geister, 

geführt  und  von  ihnen  mit  OtFenbarungen  bedacht.  Das  ist  ihre 
Legitimation  vor  ihren  Kunden.  *  Kriegsruf. 

*  okululu,  eine  Art  Jauchzen  in  hohen  trillernden  Tönen. 

'  Die  Geister  kämpften  also  für  das  einst  von  ihnen,  nun  von  den 
Ihrigen  bewohnte  Land. 

*  Interessante,  zum  Teil  amüsante  rezente  Weiterbildungen  des 
Geisterglaubens. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  171 

Machttaten  (auf  Erden)  auszuführen  wie  früher.  Ja  auch 
Steuer  müssen  die  Geister  an  die  (Geister  der)  Europäer  ent- 
richten. (Man  sagt:)  ,,0  weh!  Bei  den  Geistern,  da  ist  noch 
viel  schwerere  Drangsal,  ihr  Leute!  Sieht  man  ein  altes  Weib 
von  den  Geistern,  so  ist  sie  schmutzig  über  und  über!^  Sie 
haben  zerrissene  Lappen  zur  Kleidung  und  sind  ganz  erbärm- 
lich abgemagert!"  —  Diejenigen,  die  von  den  Geistern  nächt- 
licherweise im  Traum  fortgeführt  werden,  sind  es,  welche  so 
den  Leuten  (von  den  Geistern)   erzählen,  und  die  Wahrsager. 

3 

Wie  die  Ahnengeister  geehrt  werden  und  von  den  Dingen, 
die  sie  erhalten,  um  sie  zu  begütigen.  Jede  Sippe  hat  ihre 
eigenen  Geister.  Es  gibt  aber  auch  Geister,  die  über  das  ganze 
Land  eines  Häuptlings  Macht  haben.  Ihnen  bringt  der  Häupt- 
ling im  Verein  mit  den  Kriegern  bei  einzelnen  Gelegenheiten 
Opfer.  In  dem  Hain,  dort,  wo  der  Ahnherr  des  Häuptlings 
sich  angesiedelt  hat,  als  er  hierher  einwanderte,  dort  vollzieht 
man    den    Brauch  (das  Opfer).*     In  einem  heiligen  Hain  wagt 


'  Wohl  weil  sie  vor  lauter  Arbeit  nicht  mehr  dazu  kommen  kann, 
sich  zu  waschen. 

*  Drei  Kreise  von  Geistern  sind  es,  von  denen  der  Dschagga  sich 
umgeben  weiß,  deren  Macht  je  nach  der  Entfernung  von  ihm  stufenweise 
abnimmt.  Der  engste  Kreis  sind  die  Geister  der  Familie;  das  Verhält- 
nis zu  ihnen  berührt  unmittelbar  Wohl  und  Wehe  des  einzelnen;  sie 
haben  die  meiste  Macht  über  ihn.  Sie  werden  verehrt  an  einem  Ort  in 
der  Pflanzung,  wo  in  einem  Gehege  von  Drazänen  der  Schädel  in  einem 
Tontopf  beigesetzt  ist.  Der  Tote  hat  dadurch  eine  ,, Heimstätte"  bei  den 
Seinen  erhalten;  hier  nimmt  er  Gebet  und  Opfer  entgegen.  —  Der  zweite, 
weitere  Geisterkreis,  der  dem  einzelnen  schon  ferner  steht,  ist  der  der 
Geister  der  Sippe,  von  denen  aber  nur  Ahnherr  und  Ahnfrau  in  Betracht 
kommen.  Ihnen  wird  bei  bestimmten  Gelegenheiten  von  der  ganzen  Sippe 
ein  Opfer  dargebracht,  und  zwar  in  dem  heiligen  Hain,  der  die  Stätte 
bezeichnet,  wo  die  Urahnen  gewohnt  haben  sollen.  In  dem  Wort  für 
den  hl.  Hain:  Kjungu,  oder  mit  einem  anderen  Präfix:  müngu,  ist  sehr 
wahrscheinlich  das  Bantuwort  für  Gott:  Mungu  (Miilungu)  erhalten, 
das  die  Dschagga  durch  Euua  ersetzt  haben.  —  Der  entfernteste  Kreis 
sind   die  Geister,   die  dem   ganzen  Land  zugehören;  es  sind  die  Geister 


172  J-  Raum 

kein  Mensch  einen  Baum  zu  fällen,  sonst  würde  er  von  den 
Geistern  bestraft  werden  und  der  Häuptling  würde  ihn  pfänden. 
Wenn  aber  ein  Baum  von  selbst  zu  Boden  bricht,  so  erkennen 
daran  die  Leute,  daß  die  Geister  erzürnt  sind.  Man  teilt  es 
dem  Häuptling  mit,  der  die  Alten  beruft,  daß  sie  an  dem  Ort 
ein  Opfer  darbringen.  Oder  wenn  man  Eleusinefelder  anlegen 
will,  oder  eine  Seuche  ins  Land  kommt,  so  schickt  der  Häupt- 
ling zu  den  Wahrsagern  nach  einem  Orakel.  Wenn  diese  die 
Weisung  gegeben  haben,  so  bringt  der  Häuptling  fden  Landes- 
geistern) ein  Opfer  dar.  Auch  wenn  die  Leute  in  den  Krieg 
ziehen  wollen,  geschieht  das.  Da  bittet  dann  der  Häuptling 
seinen  (toten)  Vater  und  Großvater,  daß  diese  sich  mit  ihren 
Beratern  versammeln  und  dem  Kriegszug  ein  sicherer  Führer 
sein  möchten,  damit  er  auch  Beutevieh  mit  heimbringen 
möchte. 

Folgende  Dinge  bilden  Opfer  an  die  Geister:  Rinder, 
Kleinvieh,  Bier,  Eleusinekorn,  Honig,  Milch,  Tabak.  Aber  die 
Geister  erhalten  keineswegs  schnell  aufeinander  folgende  oft- 
malige Opfer,  sondern  nur  dann,  wenn  sie  fordern.  Wenn 
jemand  zur  Stillung  eigenen  Bedürfnisses  schlachtet,  so  über- 
gibt er  aber  das  Schlachttier  (als  Opfer)  den  Geistern.^  Ein 
kastrierter  Stier,  ein  altes  Mutterrind  und  ein  kastrierter 
Hammel  werden  nicht  zum  Opfer  dargebracht.  —  Es  sind  nun 
Anlässe  zweierlei  Art,  die  die  Menschen  eigens  zur  Darbringung 
ihrer  Opfergaben  veranlassen:  Zeichen  und  ein  Übel. 


der  allerersten  Besiedler  des  Berges  oder  der  Ahnen  der  Häuptlings- 
geschlechter. Ihre  Verehrungsstätte  wird  ebenfalls  durch  Baumgruppen 
bezeichnet,  die  manchmal  in  der  Steppe  sind,  da  von  doi*t  aus  die  Be- 
siedler zum  Berg  aufstiegen.  Mit  ihnen  hat  der  einzelne  überhaupt 
nichts  zu  tun;  ihr  Dienst  ist  eine  politische  Angelegenheit.  —  Dagegen 
gibt  es  außer  den  genannten  noch  Geister,  die  einem  verderblich  werden 
können:  das  sind  solche,  mit  denen  man  in  nahe,  Leib  oder  Leben 
berührende  Beziehung  getreten  ist,  so  der  Geist  des  Blutbruders. 

*  Jede  Schlachtung  ist  dem  Dschagga  ein  Fest,  um  das  die  ganze 
Familie,  auch  die  jenseitige,  sich  sammelt. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro         173 

a)  Zeichen.^  Ein  Zeichen  nennt  man  dies,  wenn  die 
Geister,  die  etwas  ausrichten  oder  (Menschen)  töten  wollen, 
Torher  ihre  Boten  schicken.  Boten  der  Geister  sind  Hyänen, 
Schakale,  Ginsterkatzen,  Eulen  und  Grillen,  außerdem  noch 
viele  andere  Tierey  jedoch  nur  solche  bestimmter  Art.  Wenn 
eine  Hyäne  oder  ein  Schakal  nahe  der  Heimstätte  eines 
Menschen  heult,  so  bedeutet  das  Böses,  etwa,  daß  jemand  (in 
der  Familiej  krank  werde  oder  sterbe.  Oder  wenn  eine  Grille 
in  der  Hütte  zirpt,  so  erkrankt  jemand,  oder  man  wird  in  eine 
Streitsache  verwickelt.  Wenn  Schakale  oder  Ginsterkatzen 
(nächtlicherweise)  im  Hofe  sich  miteinander  balgen,  so  ist  das 
furchterregend.  Wenn  ihr  in  den  Krieg  zieht,  und  ein  Vogel, 
(von  bestimmter  Art)  ruft  nahe  deinem  Kopfe,  so  kehrst  du 
nach  Hause  zurück  mit  den  Worten:  Ich  habe  ein  böses  Vor- 
zeichen gehabt.  Wenn  dann  der  Kriegszug  noch  nicht  am 
Aufbruch  ist,  so  gießest  du  Bier  in  eine  Schöpfkalabasse  und 
stellst  es  auf  den  Hof  mit  den  Worten:  Ihr  tvarumu,  wenn  ihr 
nicht  wollt,  daß  ich  in  den  Krieg  ziehe,  so  sendet  etwa  Ginster- 
katzen, die  das  Bier  in  der  Nacht  allemachen  mögen.  Kommen 
diese  nicht,  so  machst  du  dich  auf  den  Weg.  Was  tut  also 
jemand,  wenn  er  ein  Zeichen  in  seinem  Hause  wahrnimmt? 
Er  muß  zum  Wahrsager  gehen  und  sich  die  Geister  nennen 
lassen,  die  das  Zeichen  geschickt  haben. 

b)  Ein  Übel  besteht  darin,  daß  ein  Glied  in  der  Familie 
erkrankt.  Ist  die  Erkrankung  leichter  Art,  so  sucht  man  für 
sie  Arznei.  Wird  es  aber  schlimmer,  so  geht  man  zum  Wahr- 
sager. Die  Wahrsager  nehmen  jeden  Geist  wahr.  (Der  um  ein 
Orakel  kommende  spricht  zum  Wahrsager:)  „Frage  für  mich 
die  Geister,  HerrI  —  es  gibt  aber  auch  wahrsagende  Weiber  — 
mein  Kind  ist  krank!"  (Wahrsager:)  „Wo  ist  das  Bündel?"' 
„Hier   ist   es!"     Man   bringt  Eleusinekom  oder  etwas  anderes 


'  wuhenu,  eig.  etwas  Fremdes,  Seltsames,  Ungewöhnliches. 
*  Die  Feldfrücht«,  die  sein  Honorar  bilden,  bringt  der  Kunde  dem 
Wahrsager  gewöhnlich  in  ein  Bündlein  gebunden  mit. 


174  J-  Raum 

Kleines  mit.  Dann  befragt  der  Wahrsager  die  Geister  mittels 
Eleusinekornes  oder  dem  Blatt  von  einer  Drazäne  (mit  der  er 
das  Wasser  in  einem  Gefäß  schlägt);  andere  legen  Tabak  auf 
die  iimere  Handfläche  und  rühren  daran,  indem  sie  achtgeben. 
Dann  wird  einem  verkündigt:  der  Großvater,  die  Mutter,  der 
Verwandte  des  Vaters,  die  Großmutter  väterlicher-  oder  mütter- 
licherseits u.  a.  m.  wollen  Mehl  (Bier),  oder  ein  Stück  Kleinvieh, 
oder  ein  Rind.  Wenn  es  aber  ein  Stück  Vieh,  auch  nur  Klein- 
vieh ist,  die  der  Geist  verlangt,  versteht  man  sich  nicht  sofort 
dazu,  sie  zu  schlachten.  Man  bindet  ihr  einen  Strick  aus 
Bananenbast  um  den  Hals^  und  spricht:  „Du  Geist  Soundso'-*, 
der  du  diesen  Menschen  ergriffen  hast:  mache  ihn  gesund,  so 
werde  ich  erkennen,  daß  du  (und  kein  anderer)  es  bist  und 
dir  dann  deine  Ziege  spenden".  Genest  er  (der  Kranke),  so 
wird  die  -Ziege  wieder  aufgehoben.'^  Erfolgt  aber  keine  baldige 
Gesundung,  so  geht  man  zu  einem  anderen  Wahrsager,  der 
einem  dasselbe  oder  etwas  anderes  sagt.  Wenn  es  aber  mit 
dem  Kranken  immer  schlimmer  wird,  dann  freilich  wird  das 
Stück  Kleinvieh  schnell  geschlachtet  (als  Opfer),  vielleicht  zwei 
an  einem  Tag.  (Dabei  wird  etwa  folgendes  Gebet  gesprochen:) 
„Hier  ist  die  Ziege,  mein  Vater  Mhilema^,  wende  doch  deine 
Augen  auf  den  Kranken,  daß  er  gesund  werde!  Erhöre,  erhöre 
o  König,  o  Erde,  o  Himmel,  laß  dich  erbitten!  Wenn  du  es 
bist,  der  ihn  ergriffen  hat,  so  mache  ihn  nun  gesund,  Herr, 
dann  wirst  du  noch  ein  anderes  (Stück  Kleinvieh)  erhalten. 
Mögest  du  essen  und  dein  Weib  esse  die  Eingeweide^,  sie  möge 

*  Zeichen  der  Weihung  oder  des  Opfergelöbnisses. 

*  Dabei  wird  der  Name  des  vom  mlasa  bezeichneten  Geistes  genannt. 
'  Der  Geist  wird  also  regelrecht  an  der  Nase  herumgeführt. 

*  Der  Geist  wird  mit  seinem  Namen  genannt,  er  heißt  also   hier  j 
Mkilema.  '  I 

*  Bei  den  Dschagga  ist  jede  Schlachtung  ein  Fest ;  ihre  Nahrung  j 
ist  sonst  rein  vegetabilisch;  sie  sind  aber  —  vielleicht  ebendeswegen  — 
sehr  gierig  nach  Fleisch.     Sogar  die  Eingeweide  des  Tieres  werden,  sehr 
oberflächlich  gereinigt,  verzehrt;   mit  ihnen  müssen  oft  die  Weiber  und 
Kinder  sich  begnügen.  ■ 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  175 

die  Weiber  der  ganzen  Sippe  rufen,  daß  sie  zusammenkommen. 
Esset  das  Stück  Kleinvieh  imd  macht  also  den  Kranken  gesund!" 
Wird  er  (der  Kranke)  dann  nicht  gesund,  so  mußt  du,  wenn 
du  wohlhabend  bist,  noch  viele  (Opfertiere)  schlachten,  indem 
man  dir  viele  Geister  namhaft  macht.  Hilft  alles  nichts^,  so 
spricht  man  (bei  der  Darbringung  des  Opfers):  „Wenn  du  es 
bist,  der  ihn  ergriffen  hat,  den  ich  aber  nicht  kenne,  hier  ist 
das  Rind,  usw." 

Arme  Leute,  die  keine  Rinder  besitzen,  erhalten  die  Wei- 
sung, Kleinvieh  oder  Bier  darzubringen,  nicht  Rinder,  weil 
sie  solche  nicht  erlangen  können.^  Und  was  ihre  aus  Klein- 
vieh bestehenden  Opfertiere  betrifft,  so  schlachten  sie  (manch- 
mal) heimlicherweise  solche,  die  bei  ihnen  zur  Fütterung 
untergestellt  sind."'  Das  hat  zur  Folge,  daß  sie  Haussklaven 
werden,  die  für  Herren  arbeiten  müssen.  Einige  aber,  die 
nicht  anderen  gehöriges  (Vieh)  schlachten  wollen,  verschaffen 
sich  etwa  den  Kopf  oder  das  Bein  einer  Ziege  und  bringen 
damit  ein  Opfer  dar.  Manche  stellen  auch  Honig  als  Opfer 
hin  und  sprechen,  es  sei  eine  Ziege.  Denn  mit  Honig  erwirbt 
man  Ziegen.  Die  gewöhnlichen,  alltäglichen  Opfergaben  aber 
bestehen   in  Bier,  Biersatz,   Honig,   Eleusinekom   und   Milch.* 

Wenn  nun  jemand  den  Geistern  etwa  ein  Stück  Kleinvieh 
als  Opfer  schlachtet,  erhalten  diese  dann  das  ganze  Fleisch? 
Mit  nichten.     „Wir  Gebenden  genießen  das  ganze  Fleisch,  samt 

*  Hat  man  ohne  Erfolg  die  ganze  Reihe  der  in  Betracht  kommenden 
Familiengeister  mit  Opfern  bedacht,  so  kommt  man  auf  den  Gedanken, 
daß  ein  unbekannter,  vor  alters  Verstorbener  die  Krankheit  verursacht  habe. 

*  Wie  die  Opfernden  selbst,   so   sind  auch   ihre  Geister  genügsam. 
'  Die  "Wartung  des  Viehs  erfordert  in  manchen  Dschaggalandschaften 

sehr  viel  Arbeit,  weil  die  Weide  nicht  zureicht  und  in  der  heißen  Zeit 
das  Gras  stundenweit  aus  der  Steppe  geholt  werden  muß.  Da  wird 
denn  sehr  oft  Vieh  bei  anderen  zur  Fütterung  untergestellt,  die  den 
Milchnutzen  oder  jedes  dritte  geworfene  junge  Tier  haben. 

*  Die  Ansprüche  der  Geister  richten  sich  eben  durchaus  nach  den 
Ansprüchen  und  der  Lage  der  Lebenden.  Für  gewöhnlich  erhalten  sie 
nur  Vegetabilien,  die  eben  die  alltägliche  Nahrung  der  Lebenden  bilden. 


176  J-  Raum 

dem  Blut.  Was  aber  die  Geister  anbetrifft,  so  ist  deren  Teil 
das  jLeben^  der  Ziege,  das  ein  Schatten  ist,  das  gelangt  zu 
ihnen  hin  und  stellt  die  ihnen  entsprechende  Ziege  dar.^  Auch 
wenn  ich  ihnen  ein  mageres  Stück  Kleinvieh  schlachte,  so 
sehen  sie  darüber  nicht  scheel.  Was  auch  die  Geister  erhalten, 
sie  sehen  darüber  nicht  scheel/'  Wenn  jemand  rein  gar  nichts 
hat  als  Gabe  an  die  Geister,  so  borgt  er  von  ihnen  selbst 
etwas  Eleusinekorn  —  d.  i.  Erde  —  (die  er  aufhebt  mit  den 
Worten):  „Hier  ist  Eleusinekorn,  es  ist  euer  Eigentum,  das 
ich  von  euch  leihe,  bis  ich  anderes  (wirkliches)  erlange  und 
euch  spende.  Erhöret,  erhöret,  o  Wunderbare,  o  Berg  des 
Alten,  o  Stolz  des  Landes,  o  Zierde  des  Ostens!  Erhaltet  mir 
das  Leben  und  schenkt  mir  Gesundheit!  Oder  wie  soll  ich 
es  denn  sonst  nach  eurer  Meinung  machen?  Habt  Geduld, 
ich  wiU  Gras  schneiden,  bis  ich  eine  Ziege  als  Putterlohn 
erhebe,  die  werde  ich  euch  spenden.  Wenn  ihr  mich  so 
bedrängt,  werdet  ihr  dann  etwas  erhalten?  Unmöglich!  Ihr 
werdet  (höchstens)  von  euresgleichen  ausgelacht  werden.  So 
behütet  (mich)  denn,  dann  werdet  ihr  auch  das  eurige  er- 
halten." — 

Auch  ein  Dank  (für  geleistete  Hilfe)  an  die  Geister  findet 
statt:  „Hier  ist  die  Ziege,  die  ich  euch  spende.  Ihr  habt  sie 
mir  verliehen  und  ich  bringe  sie  euch  wiederum  dar,  um  euch 
damit  zu  danken.  Ihr  habt  mich  am  Leben  erhalten,  so  daß 
ich  bis  zum  heutigen  Tag  gelangte.  Erhaltet  mich  auch  ferner- 
hin, und  verleiht  mir  andere  (Stücke  Kleinvieh),  so  sollt  ihr 
wieder  Gaben  erhalten." 

Ferner  gibt  es  einen  Lobpreis  und  ein  Rühmen  der  Geister, 
aber  nur  in  Verbindung  mit  Bitten:  „0  Berg  des  Alten,  o  Fülle 
des  Landes",  oder  bei  eidlichen  Versicherungen:  „Ich  soll 
meinen  Vater  beschimpfen   (seil,    wenn   das   nicht    wahr    ist)", 

*  Echt  animistische  Theorie!  In  Madschame  werden  übrigens  den 
Geistern  einige  Fleischstückchen  hingeworfen,  die  aber,  im  Verhältnis 
zum  Ganzen,  hier  auch  nichts  besagen  wollen. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  177 

„bei  dem  und  dem  (Geist)".  Bei  Ausrufen  der  Bewunderung 
äußert  man:  ,, Erstaunlich  in  der  Tat,  Mutter",  „ja  wirklich, 
Vater!" 

Wenn  die  Geister  einem  Menschen  Vieh  verleihen,  so 
mischen  sie  auch  solches  für  sich  darunter.  Ein  ganz  schwarzes 
Stück  Kleinvieh  gehört  den  Geistern.  Der  Eigentümer  wagt 
nicht,  es  einem  Gläubigen  als  Zahlung  zu  geben.  Es  wird 
geschlachtet  und  dem  Geist  gegeben,  der  sein  Eigentümer  ist. 
Auch  mit  einem  solchen  Stück  Kleinvieh,  das  die  Farbe  kyära 
am  Kopfe  trägt,  oder  einen  solchen  von  der  Farbe  msori  und 
marehe  verhält  es  sich  so,  femer  mit  Rindern,  deren  Farben 
liyara  oder  rangya  ^  sind.  Oder  wenn  bei  dem  Wurf  eines 
Stückes  Vieh  die  hinteren  Beine  zuerst  kommen,  so  gehört  es 
den  Geistern.  Wenn  die  Wahrsager  ein  Orakel  geben,  so 
sprechen  sie  oft  zu  den  Leuten:  „Du  hast  ein  Stück  Kleinvieh 
von  doppelter  Farbe,  seinetwegen  bist  du  ergriffen!''  Oder: 
„Du  hast  ein  Rind  von  der  Farbe  hyara  und  hast  es  unter- 
schlagen! Der  Geist,  der  es  dir  verlieh,  ist  dein  Oheim 
mütterlicherseits,  du  aber  hast  es  ihm  nicht  gegeben  und  so 
ist  er  erzürnt."  [B.*  Man  hat  zwei  Arten  von  (Familien-) 
Geistern,  die  auf  zwei  Arten  verehrt  werden,  nämlich  Geister 
der  rechten  und  Geister  der  linken  Seite.  Der  Mensch  wird 
also  von  den  Geistern  beider  Seiten  beschützt 

A.  Die  Geister  der  rechten  Seite 

Geister   der   rechten  Seite   nennt  man   die   von   dort,   wo 

der  Mensch  selbst  herstammt,  nämlich  von  dort,  wo  sein  Vater 

und  Großvater  her  ist.     Die  Toten  ihrer  Herkunft  (d.  h.  die  der 

Verwandtschaft  des  Vaters    und   Großvaters)   sind   es,  die  den 

'  Ich  kann  die  im  Text  nicht  übersetzten,  naturgemäß  selten  vor- 
kommenden Farbnamen  augenblicklich  nicht  identifizieren. 

*  ß  bringt  verschiedene  Ergänzungen  zu  dem  Vorhergehenden,  so 
über  die  Arten  der  Familiengeister,  die  Opferzeremonie,  die  Ansprüche 
einzelner  Geister,  und  die  Art,  wie  die  jenseitige  Familiengenossenschaft 
für  die  diesseitige  eintritt. 

Archiv  f.  ReligiouswisBeuschaft  XIV  J2 


178  J-  Raum 

Menscilen  behüten  oder  ihm  Unheil  bringen.  Deswegen  fürchtet 
man  sie.  Alles  nun,  was  der  Mensch  (eben  in  der  väterlichen 
Verwandtschaft)  erhalten  hätte  bei  Leibesleben,  das  wird  ihm 
auch  gespendet  nach  seinem  Tode;  er  wird  dazu  eingeladen 
unter  Nennung  seines  Namens,  nur  daß  es  (das  Dargebrachte) 
eben  verzehrt  wird  von  den  Lebenden,  nach  dem  Glauben, 
daß  er  nur  den  Schatten  davon  verzehre,  da  er  auch  nur  ein 
Schatten  sei.  Es  gibt  nichts,  was  die  hiesigen  Leute  genießen, 
und  was  sie,  zusammensitzend  mit  ihrem  Verwandten  verzehrt 
hätten,  zu  dem  sie  diesen,  auch  nach  seinem  Tode,  nicht 
riefen  unter  Nennung  seines  Namens.  Auch  wenn  jemand  mit 
ihm  Feindschaft  hatte  und  ihn  (hier  auf  Erden  zum  Schlacht- 
fest) nicht  mehr  gerufen  hätte,  so  muß  er  ihn  doch  jetzt  (als 
Geist)  dazu  einladen,  nur  wegen  der  Furcht.  Auch  wenn  sie 
(die  Verwandten)  bei  Lebzeiten  einander  nicht  gut  waren,  so 
bemüht  sich  der  Lebendbleibende  doch  um  seine  (des  Toten) 
Gunst,  damit  dieser  ihm  nicht  am  Leben  schade,  oder  ihm 
sein  Eigentum  nehme.  Daher  betet  jener  (der  Lebende)  oft- 
mals zu  ihm,  damit  er  nicht  mehr  der  Feindschaft  gedenke, 
sondern  ihm  nun  seine  Freudschaft  zuwende.  Man  glaubt, 
wenn  einer  jemanden  aus  der  Verwandtschaft  vorsätzlich  ums 
Leben  gebracht  hat,  ohne  daß  dieser  es  verschuldet  hatte,  so 
werde  derselbe  ihn  (den  Mörder)  töten,  um  sich  zu  rächen. 
Auch  wenn  er  (der  Tote)  bei  seinen  Lebzeiten  sich  nicht  an 
ihn  gewagt  hätte,  so  wage  er  sich  doch  jetzt  an  ihn,  ohne 
daß  es  ihm  schwer  würde,  jetzt  habe  er  zweifellos  Macht  über 
ihn,  weil  er  ihn,  den  Toten,  nicht  mehr  sähe.  Oder  wenn  das 
nicht  der  Fall  sei  (wenn  der  Geist  den  feindlichen  Verwandten 
nicht  selbst  töte),  so  vertilge  er  ihm  seine  Kinder.^  So  tut 
der  Vater  dem  Sohn,  wenn  er  mit  ihm  in  Feindschaft  stirbt, 
indem  dieser  nicht,  wie  es  sich  gebührt,  nach  ihm  (dem  Vater) 
gesehen    oder   ihm    kein    gutes,   ausreichendes   Essen   gegeben 

'  Oder  sein  Vieh. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  179 

hatte.  Nach  seinem  Tode  hindert  er  (der  Vater)  ihn,  etwas 
zu  erlangen.  In  gleicher  Weise  verhält  es  sich  mit  der  Mutter. 
Das,  was  das  Kind  ihr  vorenthielt,  das  wird  sie  ihm  vor- 
enthalten, oder  sie  peinigt  es  auf  andere  Weise.  Dasselbe  ist 
der  Fall  mit  dem  Bruder.  Ist  es  der  jüngere  Bruder,  so  wird 
er  nach  seinem  Tode  heischen,  was  ihm  als  jüngeren  Bruder 
gebührt.  Umgekehrt  begehrt  der  ältere  Bruder  das,  was  ihm 
als  solchem  zusteht.  Wenn  hierzulande  jemand  einen  jüngeren 
Bruder  hat,  so  heiratet  dieser  nicht,  bevor  der  ältere  ein  Weib 
genommen  hat.  Auch  wenn  er  (der  Altere)  gestorben  ist,  so 
wird  über  dem  Weib  (das  der  jüngere  Bruder  zu  nehmen  im 
Begriff  steht)  zuerst  sein  Name  genannt,  dann  erst  darf  sie 
das  des  jüngeren  Bruders  werden^,  weil  eben  jener  unverheiratet 
gestorben  ist.  Man  glaubt,  wenn  jener  sehen  würde,  daß  sein 
jüngerer  Bruder  ein  Weib  nimmt,  während  er  unbeweibt  habe 
dahingehen  müssen,  so  werde  er  in  gleicher  Weise  darüber 
aufgebracht,  wie  wenn  es  zu  seinen  Lebzeiten  geschehen  wäre. 
Oft  läßt  man  es  sein  Bewenden  haben,  ohne  daran  zu  denken, 
dem  Toten  ein  Weib  zu  geben,  bis  dann  der  Mann  (also  der 
jüngere  Bruder  selbst)  oder  das  Weib  erkrankt.  Da  heißt  es 
denn,  jener  sei  erzürnt  darüber,  daß  sein  jüngerer  Bruder  ge- 
heiratet habe  und  er  sei  unverheiratet.  Man  nimmt  dann  ein 
Stück  Kleinvieh  und  bindet  ihm  einen  Strick  aus  Bananenbast 
um  den  Hals,  oder  man  schlachtet  es  sofort,  um  ihn  zu  er- 
bitten, daß  die  Krankheit  aufhöre,  die  dadurch  entstand,  daß 
sein  jüngerer  Bruder  ihm  mit  dem  Heiraten  zuvorgekommen 
Bei.  Gesundet  hierauf  der  Mann,  die  Frau,  oder  das  von  ihnen 
erzeugte  Kind,  so  glaubt  man,  daß  der  Tote  das  Opfer,  mit 
dem  man  ihn  erbeten  hat,  sich  habe  gefallen  lassen.  — 

Wenn  daher  jemand  (in  der  Familie)  erkrankt,  so  geht 
man  zum  Wahrsager  nach  einem  Orakel,  um  den  Grund  der 
Erkrankung  zu  hören  und  den  (bestimmten)  Geist  zu  erfahren. 


Es  findet  also  Totenhochzeit  statt. 

12^ 


180  J.  Raum 

der   mit    einem    Opfer    zu    erbitten    sei.      Der   Wunsch    dieses 
Geistes,    etwa   nach   Mehl  (Bier)   oder  einem   Stück  Kleinvieh 
wird  eben  durch  das  Orakel  kund.     Denn  man  glaubt,  daß  es 
Geister  gäbe,  die  nach  Mehl,   oder  nach  Fleisch,   oder  Honig, 
oder  Eleusinekorn,   oder  Milch  verlangten.     Eleusinekorn  und 
Milch   sind   Dinge,   mit  denen   man  weibliche   Geister   anfleht. 
Die    Leute    glauben    eben,    daß    die    Geister    ihre    Ansprüche 
geltend    machen,  wenn    man   sie   lange    nicht   mit   einer  Gabe 
bedacht    hat.     Wenn    ein   Wohlhabender    ein    Orakel    erhalten 
hat,  so  betet  er  für  sich  und  bringt  dem  Geist  Mehl  dar,  der 
ihm  als  der  bezeichnet  worden  ist,  welcher  ihn  ergrifi'en  habe. 
Gesundet  er  nicht,  so  betet  er  mit  einem  Schlachttier,   einem 
Stück  Kleinvieh  oder  Rind,  wenn  er  ein  Viehbesitzer  ist.     Bei 
der  Schlachtung  spuckt   er  zuerst  (viermal)   dem  Tier  auf  den 
Kopf,   indem   er   es    mit   den  Händen  hält,  auch  sein  anderer 
Bruder   spuckt  darauf,   desgleichen   die  Mutter,  indem   sie  für 
das  Kind  betet.     Dabei  zählen   sie   die  Fleischstücke  auf,  wie 
sie    (die  Geister)    bedacht   werden   sollen.     So    wird   der   toten 
Mutter   das   zugezählt,   was   sie   bei   Lebzeiten   erhalten  haben 
würde,    desgleichen    dem  Bruder.     In   dieser   Weise    wird    das 
ganze  Stück  Vieh  den  Geistern  ausgeteilt,  immer  entsprechend 
den   Anteilen,    die   sie   bei   Lebzeiten    erlialten    haben   würden. 
Die  Austeilung  des  Opferfleisches  erfolgt  aber  so,  daß  es  einem 
der  Geister  als  Hauptinhaber  zugesprochen  wird,   der  es   aus- 
schlachten  und   der  gesamten,   gleich  ihm   verstorbenen  Sippe 
verteilen   soll.     Nach   der  Übergabe  des  lebendigen  Tieres  an 
die   Geister   schlachtet   man   nun   das   Fleisch   aus    in   Gemein- 
schaft mit  den  Verwandten,  dasselbe,  das  man  eben  den  Geistern 
gespendet  hat.    Denn  man  sagt,  die  Geister  trugen  den  Schatten 
des  Opfertieres  davon,  den  Lebenden  aber  gehöre  das  Fleisch. 
Wenn  sie  aber  schlachten,  so  wollen  sie  keinen  Menschen  zu- 
gegen haben,  der  Neid  empfinde  (wegen  des  Fleisches),  in  der 
Meinung,  auch   die  Geister  betrachteten  das  Tier,  das   sie  er- 
hielten mit  Neid;   sie  könnten  sonst  kommen  und  ein  anderes 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  181 

heischen.  —  Wenn  ein  Kind  krank  ist,  so  betet  man  mit  dem 
Opfer  für  dasselbe.  Kann  es  schon  reden,  so  spricht  man 
ihm  vor,  wie  es  sagen  solle,  das  spricht  es  dann  nach.  — 

Wenn  die  Leute  ein  Opfertier  schlachten,  um  die  Geister 
zu  erbitten,  so  haben  sie  Beschwörungsformeln,  die  sie  an  ein 
Stück  Fleisch  in  seinem  Inneren  richten.  Sie  bestimmen  ein 
Zeichen,  um  sich  darüber  zu  vergewissern,  ob  das  Fleisch, 
das  man  dem  Toten  dargebracht  hat,  ihm  angenehm  gewesen 
sei  oder  nicht  ^,  oder  ob  der  Opfernde  etwa  in  eine  Streitsache 
verwickelt  werde,  oder  ob  der  Kranke  sterben  werde,  oder  ob 
man  etwa  zu  vielen  Rindern  kommen  werde.  So  haben  sie  be- 
stimmte Zeichen,  auf  die  sie  sich  verlassen,  und  die  ihnen 
Unterpfänder  von  zukünftigen  Dingen  sind. 

B    Die  Geister  der  linken  Seite 

Was  die  Geister  der  linken  Seite  betrifft,  so  fürchtet  man 

sie  nicht  so  sehr,  weil  man  glaubt,  daß  sie  nur  kleine  Gaben, 

nicht   solche,   wie  die  der  rechten  Seite,  heischen.     In  hohem 

1  Grade  furchterregend   sind  nur  die  Geister  von  zu  Hause,   die 

der  Familie.    Diese  haben  besonders  Macht  gegen  die  Menschen. 

Geister  der  linken  Seite  nennt  man  die  von  dort,  wo  die  Mutter 

herstammt.      Die    Dinge,    mit   denen   man   sie   bei  Leibesleben 

dann   und    wann    bedachte,    die    spendet   man    dem    Großvater 

mütterlicherseits  oder  dem  Mutterbruder  auch  nach  dem  Tode, 

hie  und  da  einmal.    Mit  ihnen  hat  es  nicht  so  viel  auf  sich.  — 

So  werden  also  die  Toten  von  zwei  Seiteu  angebetet :    1.   wird 

ihnen    geopfert    von    ihren    eigenen    Kindern,     2.    von    ihren 

Xeffen  und  Nichten.     Hat  der  Tote  viele  (die  ihm  Verehrung 

zollen  müssen),  so  erhält  er  von  allen  Gaben. 

Stirbt   etwa   der  Vater  der  Mutter  oder  der  Mutterbruder 
(wasidii),  ohne  daß  ihm  der  Mahlschatz  entrichtet  wurde-  und 


*  Es  findet  also  Eiugeweideschau  statt. 

*  Neben  Leistungen  in  Bier  und  Fleisch  an  den  Vater,  den  Bruder 
und.  die  Mutter  der  Braut  besteht  der  Maklschatz  {iigosa,  der  Kaufpreis 


182  J-  Raum 

das  Kind,  der  Neflfe  oder  die  Nichte  wird  krank,  so  heißt  es: 
Das  kommt  davon  her,  daß  der  Oheim  nicht  den  Mahlschatz 
erhielt.  Man  betet  dann  zu  ihm  und  gelobt  ihm,  er  würde 
eine  Gabe  erhalten,  wenn  das  Kind  gesund  geworden  sei. 

Ein  besonderer  Fall  ist  der,  daß  jemand  stirbt  mit  Hinter- 
lassung einer  Tochter,  die  bei  ihrem  Manne  sich  befindet,  für 
die  aber  noch  nicht  der  Mahlschatz  bezahlt  ist,  es  ist  aber  die 
ganze  Sippe  bis  auf  den  Letzten  ausgestorben  (die  Frau  hat 
also  auch  keinen  Bruder  mehr):  Da  nimmt  denn  ihr  Mann  ein 
Rind  oder  ein  Stück  Kleinvieh,  bringt  es  mit  sich  fort  auf  den 
Weg,  und  spricht  es  dann  dem  Toten  zu  mit  den  Worten: 
„Hier  ist  deine  Färse!  Und  jetzt  führe  ich  sie  mir  nach  Hause 
zurück,  du  hast  sie  deiner  Tochter  in  Pflege  gegeben,  damit 
sie  davon  Milch  habe!"  Hierzulande  pflegen  nämlich  die  Väter 
bei  ihren  verheirateten  Töchtern  Rinder  zur  Fütterung  unter- 
zustellen, wenn  ihre  Männer  arm  sind.  —  Ist  die  Färse 
heimgekommen,  so  wird  der  Frau  gesagt:  „Es  ist  das  Rind 
deines  Vaters,  das  er  dir  anbindet,  damit  du  Milch  davon 
habest."' 

Der  Neff'e  (die  Nichte)  geht  auch  nicht  zu  dem  Oheim 
(Vater  oder  Bruder  der  Mutter),  ohne  daß  ein  Stück  Kleinvieh 
für  ihn  (den  Neffen  von  dem  lebenden  Oheim)  geschlachtet  und 
ihm  von  demselben  das  Kitsonu  {n  =  ng  in  singen)  angesteckt 
worden  ist.*     Das  geschieht  aber  nur  dann,  wenn  er  (sie)  zum 

für  die  Frau)  auch  in  lebendem  Vieh,  das  an  den  Vater  oder  Bruder  der 
Frau  zu  bezahlen  ist.  Es  kommt  nun  häufig  vor,  daß  die  Frau  teilweise 
auf  Kredit  heimgeführt  wird. 

^  So  ist  also  dem  Toten  sein  Recht  geworden. 

'  Siehe  über  das  Kitsonu  Band  X  dieser  Zeitschrift  pag.  274  f 
Das  Kitsonu,  ein  aus  der  Stirnhaut  einer  Ziege  in  ßingform  geschnittener 
Fellstreifen,  stiftet  einen  Bund:  die  beiden  Bundschließenden  stecken  es 
einander  an.  Die  Bedeutung  beruht  wohl  darauf,  daß  auf  der  Stirn  des 
Tieres  sich  der  Speichel  der  beiden  Bundschließenden  gemischt  hat; 
sie  werfen  beide  vorher  solchen  darauf.  NeflFe  und  Oheim  halten  sich 
also  einander  als  fremd ;  durch  das  Kisohu  wird  dann  eine  Art  Adoptions- 
verhältnis  begründet. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  183 

ersten  Male  dahin  geht,  ohne  daß  er  vorher  schon  dagewesen 
war.  Und  wenn  der  Neffe  (die  Nichte)  krank  ist,  da  lädt  man 
ihm  Bier  auf,  das  er  zu  seinem  Oheim  trägt,  damit  der  Oheim 
für  ihn  zu  seinen  Geistern  bete,  den  seinen,  des  Oheims,  von 
wo  die  Mutter  herstammt  —  Eine  andere  Sache:  Wenn  ein 
.  EJQabe  Vieh  hält,  es  ihm  aber  nicht  recht  gerät,  so  bringt  er 
seinem  Oheim  Bier  und  bittet  ihn,  damit  er  für  ihn  bete  und 
ihm,  dem  Neffen,  günstig  sei.    Dann  wird  er  Gedeihen  haben.] 

Anhang 
Von  der  leiEetznng  der  Toten  und  dem  Fluch  der  Sterbenden 

(Vorbemerkung:)  Wenn  man  von  alledem  absieht,  was 
ich  erwähnt  habe,  wie  die  Geister  ihre  regelmäßigen  Opfer 
heischen,  so  ist  noch  als  etwas  Furchtbares  zu  nennen  dies, 
wenn  ein  Mensch  stirbt,  ohne  beigesetzt^  zu  werden,  sei  es, 
daß  er  zu  Hause  den  Tod  findet,  oder  an  einem  unbekannten 
Orte;  ferner,  wenn  jemand  stirbt  mit  einem  Fluch.  Die  Geister, 
bei  denen  einer  dieser  Fälle  eintritt,  können  auch  durch  das 
Opfer  vielen  Viehes  nicht  begütigt  werden. 

Das  Begräbnis 

Jeder  Mensch  wird  nach  seinem  Tode  in  der  Erde  bestattet.' 

Diejenigen,  die  Kinder  haben,  werden  in  der  Hütte  begraben', 

flofem    sie   in    ihrem    Heimwesen   gestorben    sind.      Der  Mann 

■wird    rechts    neben    (unterhalb)    der  Tür    bestattet,   nahe    den 


*  Der  Ausdruck  yungo,  der  das  Aufstellen  des  wieder  ausgegrabenen 
Schädels  in  der  Pflanzung  nahe  dem  Gehöft  der  Famüie  bezeichnet,  be- 
deutet wahrscheinlich  eigentlich:  Tereinigt  werden  seil,  mit  der  Familie. 
Der  Tote  hat  damit  gewissermaßen  seine  Heimstätte  erhalten;  an  diesem 
•Orte  nimmt  er  die  ihm  gebührenden  Gaben  in  Empfang. 

'  Bei  den  Unfruchtbaren  und  im  Kindesalter  Verstorbenen  ist  dies 
Aber  unter  den  Dschagga  vielfach  ursprünglich  nicht  der  Fall,  wie  der 
"Verfasser  später  selbst  erwähnt. 

'  Die  festgestampfte  Erde  verhindert  die  Ausdünstung. 


184  J-  Raum 

Stangen^,  mit  eingebogenen  Beinen,  das  Gesiclit  zum  (hell- 
glänzenden) Kibo  gewendet.  Die  Frau  wird  in  dem  (der  Tür 
gegenüberliegenden)  Winkel  begraben,  auf  der  oberen  (linken) 
Seite,  das  Gesicht  zur  (dürren)  Steppe  gewandt.  Die  Kinder 
und  die  Unfruchtbaren  werden  in  der  Pflanzung  bestattet,  oder 
hinter  der  Hütte.  Stirbt  jemand,  der  Vieh  besitzt,  so  wird  ein. 
Stück  geschlachtet  und  die  Leiche  mit  dem  Fell  bedeckt;  Arme 
werden  mit  Drazänenblättern  und  mit  einem  Kraut,  das  zur 
Bestattung  ausgesucht  wird,  zugedeckt.  Bevor  die  Leiche  eines 
Erwachsenen  in  die  Grube  gesenkt  wird,  läßt  sich  jemand,  ein 
Verwandter,  hinab  und  steigt  dann  wieder  heraus.  Bei  dem 
Begräbnis  eines  unfruchtbaren  Menschen  werden  seine  Dinge, 
die  er  am  Leibe  trägt,  auch  seine  Kleider,  auf  ihn  gelegt. 
Niemand  will  etwas  in  Besitz  nehmen,  was  einem  Unfrucht- 
baren gehörte.  Auch  sein  Vieh  nimmt  man  nur  an  sich,  weil 
es  eben  Speise  ist,  aber  es  wird  nicht  sehr  gern  gehabt. 
Nur  die  Häuptlinge  werden  in  einem  Troge  bestattet  und  inj 
eine  Hütte  eingeschlossen. 

Das  Fleisch  des  zum  Begräbnis  eines  Menschen  dienendei 
Stück  Viehes  wird  nur  gegessen  von  "^solchen,  die  weder  Vatei 
noch  Mutter  mehr  haben.  Wenn  jemandes  Vater  gestorbei 
ist,  und  du  issest  von  dem,  was  dabei  geschlachtet  worden  ist^ 
so  stirbt  dein  Vater. 

Es  gibt  Leute  unter  den  Dschagga,  die  ihre  Kinder  (undl 
Unfruchtbaren)  gar  nicht  bestatten  mögen.  Sie  setzen  sie  aus] 
in  der  Pflanzung  oder  im  Busche 

Auch  wenn  jemand  hier  in  den  Pflanzungen  von  einem] 
wilden  Tier  getötet  worden  ist,  wird  er  nicht^begraben.     Das! 


'  ndingo   die   Stangen,    die    kreisförmig  in   die  Erde  eingerammt,! 
oben  in   einer  Spitze   zusammenlaufend,    von  innen  | durch  Pfosten   ge- 
ßtützt  und  von  außen  mit  Gras  dicht  und^sauber^eingedeckt  werden  und 
ßo  das  Gerippe  der  Hütte  bilden. 

*  Nur   die  Erzeuger   und  Gründer  .der  Familie  erhalten  die  patri- 
archalischen Ehren. 


Die  Religion  der  Landschaft;  Moschi  am  Eilimandjaro  185 

wilde  Tier  soll  ihn  völlig  aufzehren.  Desgleichen  werden  die, 
die  unter  den  Speeren  der  Feinde  fallen,  nicht  beerdigt.  Jedoch 
werden  ihre  Schädel  mit  den  anderen  vereinigt  S  wenn  sie  ge- 
funden werden. 

Nach  dem  Tode  jemandes  wird  am  Todestage  die  Toten- 
klage erhoben  und  man  trauert  einige  Tage.  Aber  in  betreflf 
der  Trauer  der  Angehörigen  kommt  es  auf  das  Alter  an,  das 
dieser  erreicht  hat.  Hat  jemand  schon  Urenkel,  so  wird  seinet- 
wegen nicht  geklagt.  Seine  Urenkel  und  Enkel  tanzen  viel- 
mehr einen  Reigentanz,  wozu  sie  sich  mit  Fett  salben.  Sie 
singen  dabei: 

Der  Lauf  des  Alten  ist  zu  Ende  gekommen. 
Daher  laßt  uns  schwingen  im  Reigentanz! 

Verscheidet  jemand  an  einem  Orte,  wo  Menschen  sich  befinden, 
und  er  wird  nicht  bestattet,  so  gerät  er  zum  Verhängnis  und 
tötet  andere. 

Regelung  der  Hinterlassenschaft 
Vier  Tage  verfließen  nach  dem  Begräbnis  eines  Menschen, 
der  vierte  ist  „der  der  Reibung  seines  Zeuges",  wenn  er  Kinder 
hinterlassen  hat.  Dazu  kommen  alle  Familiengenossen  auf  den 
Hof.  Das  Schlaffell  des  Verstorbenen  wird  auf  dem  Hofe 
ausgebreitet  und  sein  Zeug  (Kleider).  Dies  nimmt  jemand', 
reibt  es  an  einem  seiner  Enden  zwischen  den  Fingern,  auch 
etwas  Bier  wird  dabei  auf  das  Zeugende  gespuckt.  Der  Rei- 
bende proklamiert  dabei  folgendes:  „Wenn  jemand  da  ist,  der 
eine  Forderung  an  den  Verstorbenen  hat,  so  soll  er  es  heute 
sagen,  damit  es  bekannt  werde!  Wenn  jemand  es  nicht  heute 
angibt,  sondern  an  einem  anderen  Tage  kommt,  so  ist  es  Trug! 


'  mit  denen  der  Familie,  daheim;  man  „bringt  sie  heim". 

*  Gewöhnlich  wohl  der  älteste  Bruder  des  Verstorbenen  und  die 
älteste  Schwester  der  Verstorbenen.  Durch  die  „Reibung  des  Zeuges", 
die  wohl  eine  Waschung  vorstellen  soll,  wird  die  Habe  des  Toten  von 
den  Lebenden  in  Besitz  genommen. 


186  J-  Raum 

Sein  Zeug  soll  gerieben  werden,  wie  das  dieses  Menschen!" 
Ist  ein  Gläubiger  vorhanden,  so  erklärt  er  etwa:  „Der  Mann 
hat  ein  Stück  Kleinvieh  von  mir!"  —  Einer  Frau,  die  keine 
Töchter  hat,  wird  nicht  das  Zeug  gerieben^,  ebensowenig  einem 
Mann,  der  keine  Söhne  hat.  Wenn  aber  jemand  stirbt,  ohne 
daß  sein  Zeug  gerieben  wird,  so  wird  er  böse  werden. 

Ist  das  Zeug  gerieben,  so  wird  das  „Bier  der  Spuckung" 
(wari  woputsaj  bereitet.  Ein  Alter  aus  der  Verwandtschaft 
schöpft  mit  einem  Schöpflöffel,  stellt  sich  aufrecht,  nimmt 
einen  Schluck  in  den  Mund  und  spuckt  es  um  sich^;  die  Kinder 
des  Verstorbenen  sind  dabei  gegenwärtig.  Das  Bier,  welches 
im  Troge  übrigbleibt  (nachdem  alle  gespuckt  haben),  wird 
nur  von  einem  genossen,  der  keinen  Vater  mehr  hat.  Nur 
einem  Manne  wird  die  Spuckung  dargebracht. 

(Die  Schlachtung  eines  Stückes  Kleinvieh  zur  Begleitung 
des  Geistes  zu  der  übrigen  im  Geisterreich  versammelten  Familien- 
genossenschaft.) An  einem  nahen  Tage  wird  dann  ein  Stück 
Kleinvieh  geschlachtet,  um  ihn  (den  Verstorbenen)  mit  der 
Sippe  zu  vereinigen.  Bevor  das  Stück  Vieh  zu  seiner  Auf- 
nahme dort  geschlachtet  ist,  muß  er  für  sich  allein  weilen. 
Die  anderen  Geister  sprechen  zu  ihm:  Du  kannst  nicht  bei 
uns  bleiben,  wenn  du  nicht  mit  uns  vereinigt  bist.  Wenn  er 
nicht  vereinigt  wird,  so  macht  er  seinen  Nachkommen  hier 
auf  Erden  Pein. 

Die  Ausgrabung  und  Beisetzung 
Wenn   ein    Jahr   verflossen  ist,   so  wird  der  Mensch  aus- 
gegraben.   Die  Knochen  werden  in  einem  Gehege  von  Drazänen 
niedergelegt.     Der  Schädel  wird,  getrennt  davon,  ebenfalls  in 
einem  Gehege  von  Drazänen  beigesetzt,   in  einem  Tontopf  ge- 


^  Das  bewegliche  Eigentum  der  Frau  wird  von  den  Töchtern  geerbt. 

*  Förmliches,  feierliches  Spucken  ist  Zeichen  der  Huldigung.  Die 
obige  Zeremonie  ist  wahrscheinlich  zu  deuten  als  feierliche  Verabschiedung 
des  Toten. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  187 

borgen.  In  der  Grube  wird  sorgfältige  Nachschau  gehalten, 
damit  auch  nicht  ein  Knöchelchen  zurückbleibe.  Ein  Mensch, 
der  nicht  ausgegraben  würde,  würde  ein  sehr  böser  und  tückischer 
Geist  werden.  Warum?  Wenn  er  nicht  ausgegraben  wird, 
so  muß  er  dort  bei  den  Geistern  an  einen  Ort  gebannt  sitzen 
bleiben  und  kann  nicht  hin  und  her  wandeln;  dann  wird  er 
von  Zorn  erfüllt,  weil  er  eben  keine  Bewegungsfreiheit  hat. 
Ein  solcher  kann  durch  kein  Mittel  besänftigt  werden.  Betreffs 
derer  aber,  die  in  der  Ferne  gestorben  sind,  von  denen  aber 
ungefähr  bekannt  ist,  in  welcher  Gegend  sie  gestorben  sind, 
gilt:  Weiß  man  nicht  die  bestimmte  Stelle  (wo  der  Tote  liegt, 
kann  man  daher  nicht  zu  seinem  Schädel  gelangen),  so  hebt 
man  einen  Stein  auf  in  dem  betreffenden  Lande  und  bringt 
ihn  nach  Hause.  Uas  ist  gleichsam  sein  Schädel.  Unterläßt 
man  aber  das,  so  wird  der  Tote  zum  Verhängnis  und  spricht: 
Warum  wollt  ihr  mich  nicht  suchen,  daß  ihr  mich  nach  Hause 
bringt? 

Der  Ort,  wo  die  Schädel  beigesetzt  sind,  muß  jedes  Jahr 
beharkt  und  hergerichtet  werden.  Das  nennt  man  das  üra- 
graTben  der  Opferstätten.  Die  Leute  beharken  dort  im  Monat 
Mdemo  und  gießen  dabei  Mehl  (Bier)  aus  auf  die  Erde.^ 

Der  Fluch  der  Sterbenden 

Stirbt  jemand  durch  Verschuldung  eines  anderen  Menschen 

(d.  h.  Familienmitgliedes),  oder  hat  er  (von  einem  solchen)  Pein 

erduldet   oder  ihm   einer  gefehlt,    der  mit  ihm  Mitleid  gehabt 

hätte,   so   spricht    er    beim  Herannahen   des  Todes   den  Fluch 


*  Die  Leute  beglückwünschen  dabei  die  Toten,  wie  sich  unter- 
einander, zum  neuen  Jahre,  d.  h.  zur  neuen  Ackerperiode.  Der  erste 
Monat  des  Dschaggajahres  heißt  Mdemo  =  Ackermonat  [deina  =  ackern). 
Die  Jahreswende  ist  die  Zeit  des  Frühlingsäquinoktiums,  das  die  große 
Regenzeit  bringt.  Man  begeht  sie  durch  große  Festlichkeiten  und  ge- 
denkt dabei  auch  der  Toten,  deren  Wohlwollen  für  die  neuen  Acker- 
früchte wichtig  ist.  Das  ist  die  einzige  regelmäßige  Institution  des 
Geisterdienstes. 


188  J-  Raam 

aus  und  sagt:  „Wenn  ich  einmal  bei  den  Geistern  bin,  so 
werdet  ihr  sehen,  was  ich  euch  antun  werde.  Nur  mit  einem 
Leopardenschwanz  kann  man  mich  begütigen."  Oder:  „Nur 
mit  Elefantenmilch  kann  man  meinen  Zorn  stillen."^  Einen 
solchen  Geist  kann  man  mit  keinem  Mittel  erbitten,  er  wird 
seine  Angehörigen  vertilgen.  Manche  suchen  dann  aber  einen 
Medizinmann;  der  entfernt  einen  Zahn  aus  dem  Schädel  jenes 
Menschen,  der  den  Fluch  gesprochen,  und  bindet  ihn  zusammen 
mit  einem  Zaubermittel.  Nach  erfolgter  „Bindung"  vermag  dann 
der  Geist  nicht  mehr  zu  töten.  Stirbt  aber  ein  solcher  an 
einem  Ort,  ohne  daß  man  weiß,  wohin  er  verschwunden  ist, 
dann  kann  man  ihn  nicht  mehr  „binden". 

Bei  allen  Geistern  ist  der  letzte  Fluch  das  Schrecklichste. 
Der  Fluch  der  Schwester  aber  ist  der  schlimmste,  er  hat  die 
Eigenschaft  zu  wüten. 

Hast  du  jemand  in  der  Familie,  der  z.  B.  mit  Aussatz* 
behaftet  ist,  so  nimmst  du  dich  ihm  gegenüber  sehr  in  acht, 
damit  er  dir  nicht  nach  seinem  Tode  den  Aussatz  anhängt. 
Dieser  Umstand  ist  es,  der  die  Dschagga  hauptsächlich  ver- 
anlaßt, ihre  Familienangehörigen  zu  lieben.  " 

[B  erzählt,  wie  schon  bei  Leibesleben  die  Verletzung  der 
Familienbande  unheilvoll  sei:  Wenn  dein  Vater,  Mutter,  Bruder, 
Oheim  unwillig  sind  bei  Leibesleben,  wenn  sie  über  dich  auf- 
gebracht sind  und  dir  zürnen,  so  werden  auch  jene,  die  bereits 
verstorben  sind,  unwillig  und  du  mußt  unheilvolle  Dinge  er- 
fahren. Hat  daher  jemand  mit  diesen  Streit,  so  beeilt  er  sich 
mit  der  Versöhnung  und  bringt  auch  Bier  dar,  um  damit  zu 
den  Geistern  zu  beten,  zum  Zeichen,  daß  der  Streit  beendet 
sei.  —  Auch  wenn  jemand  mit  seiner  Frau  Streit  hat  und  er, 


*  Das  soll  heißen:  Ich  bin  auf  keine  Weise  zu  versöhnen.  Leoparden- 
schwanz und  Elefantenmilch  sind  Dinge,  von  denen  eines  so  unmöglich 
zu  erlangen  ist,  wie  das  andere. 

'  Die  echte  lepra  kommt  am  Berge  vor;  unter  dem  Wort  saka 
•werden  aber  auch  bösartige  Ausschläge  zusammengefaßt. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moachi  am  Eilimandjaro  139 

der  Mann,  übergibt  sie  den  Geistern^,  so  suchen  sie  beide^  wenn 
etwa  die  Frau  später  erkrankt,  zwei  Stücke  Kleinvieh,  eines 
für  die  Frau  und  eines  für  den  Mann,  und  beten  damit  zu 
den  Geistern.  Das  nennt  man  Verfehlungsopfer  (?).  Nach  der 
Opferung  bringt  die  Frau  Bier  herbei  un4  spendet  es  dem 
Mann,  damit  sein  Sinn  freundlicher  werde.  Geraten  sie  über 
etwas  Kleines  oder  Großes  in  Streit,  so  bringen  sie  es  bald  zum 
Austrag,  indem  sie  meinen:  Wenn  sie  miteinander  erzürnt  blieben 
und  Kinder  erzeugten,  so  würden  diese  sterben,  wegen  ihrer 
gegenseitigen  Feindschaft.  Oder,  wenn  der  Mann  seine  Frau 
geschlagen  hat,  und  diese  nachher  zurückkommt,  so  schneidet 
er  einer  Ziege  ein  Ohr  ab  und  sie  stecken  einander  die  sitsonu 
an:  damit  machen  sie  den  Zorn  wieder  gut,  den  sie  gegen- 
einander hegten.  Darauf  kocht  die  Frau  dann  Essen  für  den 
Mann  und  dieser  ißt  davon.  Bevor  er  nic^t  der  Ziege  das  Ohr 
abgeschnitten  hat,  kann  sie  für  den  Mann  weder  kochen,  noch 
mit  ihm  essen.  —  Wenn  es  aber  ein  ganz  großer  Streit  ist, 
der  eine  Trennung  beider  verursacht  hat :  die  Frau  infolgedessen 
wieder  zu  den  Ihrigen  gegangen  ist  und  dort  eine  lange  Zeit, 
etwa  ein  Jahr  zugebracht  hat,  mit  einem  Kind,  so  gibt  ihr  der 
Vater,  wenn  sie  später  wieder  nach  Hause,  zu  ihrem  Gatten, 
zurückkehren  will,  ein  Stück  Kleinvieh,  dem  ein  zweites  von 
dem  Mann  zugesellt  wird,  zum  Opfer.  Dies  Stück  Kleinvieh 
heißt:  Die  Ziege  der  Wiedereröffnung  der  Türe,  da  sie  eben 
für  lange  Zeit  von  ihrem  Mann  getrennt  war  und  sein  Haus 
leer  gelassen  hatte.  —  Oder  der  Mann  schlägt  etwa  die  Frau  und 
die  Frau  verletzt  ihn  durch  einen  Biß,  so  ist  das  eine  schwer- 
wiegende Streitsache.  Wenn  nämlich  bei  den  Dschagga  ein 
Weib  einem  Mann  eine  blutende  Verletzung  beibringt,  so  ist 
das  etwas  sehr  Ernstes.  Vor  ihrem  Vater  (oder  Bruder)  wird 
die  Streitsache  zum  Austrag  gebracht.     Die  Frau  bringt  dann 


'  Siehe    über  das  idambika   icarunm  oben  S.  163.     Die  Formel  der 
Verwünschung  lautet  einfach:  Ich  übergebe  dich  den  Geistern. 


190  J-  Raum 

eine   Ziege,    um    die  Verletzung   gut   zu  machen,   die   sie  dem 
Mann  beigebracht  hat. 

Bei  diesem  ihrem  Tun  leitet  die  Leute  der  Gedanke:  die 
Geister  sind  in  gleicher  Weise  darüber  erzürnt.  Wenn  eine 
Person,  die  über  dir  {mnene  =  älter,  größer)  ist,  in  Gedanken 
deinetwegen  murrt,  weil  du  dich  gegen  sie  vergangen  hast,  so 
werden  die  Geister  für  sie  mit  böse  und  es  kann  für  dich  Un- 
heil entstehen  aus  dem  Zorne  der  Person,  die  über  dir  ist.  So 
heißt  es  eben,  daß  der  Mann  über  der  Frau  sei.  Wenn  er  auf- 
gebracht ist,  so  entsteht  für  die  Frau  Unheil  aus  dem  Zorne 
des  Gatten.  Auch  über  Sohn  und  Tochter  hat  er  (der  Mann) 
Macht  und  kann  sie  den  Geistern  übergeben,  wenn  sie  ihm  un- 
gehorsam sind.  —  Oder,  wenn  die  Mutter  böse  ist  über  (das 
Kind),  so  sind  auch  die  Geister  böse.  —  Auch  die  Mutter  des 
Gatten  und  die  Fl-au  dürfen  keinen  Streit  miteinander  be- 
kommen. Es  gebührt  der  Frau,  ihrer  Schwiegermutter  Ehr- 
furcht zu  erweisen,  so  daß  sie  einander  nicht  feind  werden,, 
sonst  könnte  der  Frau  etwas  zustoßen,  wegen  der  Schwieger- 
mutter. Auch  dem  Schwiegervater  darf  sie  keine  bösen  Worte 
geben,  sondern  muß  ihn  ehren.  In  dieser  Weise  übt  jemand 
Aufsicht  über  sein  Haus.  Erhebt  sich  ein  Streit  zwischen  der 
Mutter  des  Gatten  und  der  jungen  Frau  des  Sohnes,  so  suchen 
sie  eine  Ziege,  spucken  dieser  beide  Speichel  auf  den  Kopf  und 
sagen  dabei,  daß  sie  des,  was  sie  einander  angetan  hätten,  ein- 
ander nicht  mehr  gedenken  wollten.  In  gleicher  Weise  solle 
der  Sinn  der  Geister  sich  erheitern,  weil  Schwiegermutter  und 
Schwiegertochter  sich  wieder  gut  wären;  die  Schwiegertochter 
erklärt  dabei,  daß  sie  nicht  mehr  so  handeln  wolle.  Zu  ihrem 
Gebete  gießen  sie  wohl  auch  nur  Milch,  Bier  oder  in  Wasser 
aufgelösten  Honig  aus  auf  den  Boden,  zur  Gabe  an  die  Geister.] 

Andere  Geister,   die   den  Menschen   verderben  können 

Abgesehen  von  den  Geistern  der  Familienmitglieder  ist  es 

der  Geist   des  Blutbruders,  der  Gaben  von  dir  heischt.     Hast 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  191 

du  mit  jemand  einen  Blutbund  geschlossen  und  die  Blut- 
brüderschaft übertreten,  so  wird  er  dir  zum  Verhängnis. 

Ein  anderer  ist  der  (einstige)  Besitzer  des  Pflanzungs- 
grundstückes, das  du  bewohnst,  ohne  es  von  deinem  Vater 
ererbt  zu  haben.  Er  will  seinen  Anteil  haben  an  den  Feld- 
früchten, die  du  darauf  baust 

Wenn  du  eine  Pflanzung  bewohnst,  auf  der  der  Fluch 
eines  der  Ahnen  der  Sippe,  die  Besitzerin  der  Pflanzung  war, 
lastet,  so  wird  sie  dir  zum  Verhängnis.  Erzeugst  du  ein  Kind, 
80  stirbt  es.  Auch  dein  Vieh  stirbt  und  dein  Weib.  Zuletzt 
bist  nur  du  übrig. 

4 

(Urteil  über  den  religiösen  Wert  des  Geisterdienstes. )  Ver- 
mag denn  der  Geisterdienst  den  Leuten  Befriedigung  zu  ge- 
währen? Das  läßt  sich  schwer  behaupten.  Er  vermag  es 
ganz  und  gar  nicht.  Aus  welchem  Grund?  —  Doch  das  kann 
nur  ein  Christ  verstehen.  —  Wie  sollen  sie  denn  Freude  daran 
empfinden?  Die  Geister  wollen  immerzu  Gaben  haben;  sie 
sind  gierig  und  geben  sich  nicht  zufrieden.  Sie  kennen  keine 
Güte,  auch  Mitleid  ist  ihnen  etwas  Fremdes.  Man  richtet  häufig 
durch  Gaben  begleitete  Gebete  an  sie,  aber  sie  wollen  es  nicht 
Wort  haben,  daß  sie  etwas  erhalten  hätten.*  Deswegen  sprechen 
viele:  „0  wenn  mir  doch  jemand  den  Weg  zu  den  Geistern 
zeigen  wollte,  so  würde  ich  sie  niedermachen  mit  dem  Schwerte! 


*  Von  der  Mißgunst  der  Geister,  auch  gegeneinander,  erzählt  B 
ein  bezeichnendes  Beispiel:  Wenn  ein  Kind  geboren  ist,  so  ruft  der 
Vater  die  Sippe  und  schlachtet  etwa  zwei  Rinder  (natürlich  nur  der 
Wohlhabende).  Bei  der  Geburt  eines  Mädchens  schlachtet  man  ein 
männliches  und  ein  weibliches  Tier.  Man  sagt:  Den  Geistern,  die  einem 
Menschen  ein  Kind  geschenkt  haben,  gebührt  Dank.  Die  männlichen 
Geister  sollen  das  männliche,  die  weibUchen  das  weibliche  Tier  essen. 
Schlachtet  man  aber  zwei  männliche  Tiere  und  das  Kind  ist  ein  Mäd- 
chen, so  nehmen  die  männlichen  Geister  den  weiblichen  das  Fleisch  mit 
Gewalt  weg  und  diese  gehen  leer  aus.  Darüber  werden  sie  erbost  und 
das  Kind  wird  möglicherweise  krank  und  stirbt. 


192  J-  Raum 

Warum  spende  ich  ihnen  immer  aufs  neue  Gaben  und  sie  wollen 
mir  doch  keine  Linderung  gewähren?"  Ja,  man  lästert  die 
Geister  sogar.  Böse  Dinge,  die  den  Leuten  begegnen,  kommen 
nach  ihrer  Meinung  von  den  Geistern  her:  „0  was  ist  das  für 
eine  böse  Sache!  Sie  ist  so  schlecht,  wie  die  Geister!"  Wenn 
zu  den  Geistern  für  einen  Kranken  gebetet  wird,  so  wird  ja  hier 
und  da  einer  gesund.  Aber  oft  machen  sich  die  Leute  arm 
mit  den  Geistern,  ohne  daß  sie  Linderung  erfahren,  so  daß 
einige  überhaupt  an  ihnen  verzweifeln  und  nicht  mehr  öfter 
zum  Wahrsager  gehen,  noch  häufiger  opfern  mögen.  Sie  be- 
finden sich  aber  gerade  so,  wie  die  anderen. 

Wenn  einer  allen  möglichen  Geistern  geopfert  hat,  ohne 
Linderung  zu  erfahren,  so  läßt  er  sie  zuletzt  und  richtet  seinen 
Blick  zum  Himmel. 

Es  gibt  auch  niemand,  der  zu  den  Geistern  gehen  wollte, 
um  dort  zu  bleiben.  Nur  für  dieses  Leben  betet  man  zu  den 
Geistern  und  verläßt  sich  auf  sie.  (Man  spricht:)  „Jeder  freue 
sich,  solange  er  hier  am  Leben  ist.  Nach  dem  Tode  gibt  es 
nichts  Gutes  mehr.  Bei  den  Geistern  ist  nichts  Gutes".  Oder: 
„Wer  mir  zugehört,  der  soll  mich  heute  lieben  und  mir  etwas 
zum  Genießen  geben.  Sterbe  ich,  so  hat  es  ein  Ende".  So 
pflegen  die  Leute  zu  sprechen. 

n 

Gott  (Muwa) 

(Einleitende  Bemerkungen  über  den  Gottesglauben  der  Dschagga) 

(Über  dem  ganzen  Geisterdienst  schwebend,  aber  ohne 
innere  Verbindung  mit  ihm,  kennen  die  Dschagga  [eine  Art 
göttliches  Wesen.  Teilen  sie  diesen  Gedanken  mit  allen  Bantu- 
stämmen,  so  nimmt  er  doch  bei  ihnen  besondere  Formen  an 
Den  bei  den  Ostafrikanern  häufigsten  Gottesnamen:  MuungUf 
Mulungu  usw.  —  nach  Bleek  sind  sämtliche  Formen  abzuleiten 
von    dem    Adjektiv  kulu  =  alt;    also    etwa    zu   deuten  =  der 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro  193 

Uralte;  bei  den  Südafrikanern  findet  sich  für  Gott  auch:  Molimo, 
was  sehr  wahrscheinlich  mit  Kanimu  zusammenzubringen  ist 
—  haben  die  Dschagga  nicht.  Sie  nennen  Gott  Ruica^.  ein 
Wort  das  in  der  absoluten  Form  nur  Sonne,  in  der  lokativen 
aber  Himmel  bedeutet.  Diesem  Wort  JRuwa  fehlt  das  Präfix  »w, 
das  im  Bantu  die  Person  bezeichnet  (Mstiahili  =  der  Suahili; 
Plur.:  WasuaJiili).  Die  Dschagga  sprechen  in  einem  Atem  ganz 
unbefangen  von  Kmca  als  dem  Tagesgestiru  —  Ruwa  geht  auf, 
Ruica  geht  unter,  Itutca  scheint  sehr  —  und  von  RutOfi  als 
göttlichem  Wesen:  Ruica  hat  die  Menschen  erzeugt,  usw.  Be- 
reitet das  unserem  Denken  Schwierigkeiten,  so  bestehen  solche 
für  den  Naturmenschen  eben  nicht;  bei  ihm  waltet,  wie  beim 
Kinde,  die  Phantasie  vor  statt  des  Verstandes.  Physikalische 
Kenntnisse  hat  er  nicht;  die  Grenze  des  übernatürlichen  und 
Geheimnisvollen  beginnt  für  ihn  sehr  bald;  es  ist  ihm  ganz 
natürlich,  Dinge  der  Außenwelt,  von  denen  starke  Wirkungen 
auf  ihn  ausgehen,  zu  beseelen,  in  ihnen  mächtige  Wesen  zu 
sehen.  Aus  der  Beseelung  des  wunderbaren  Tagesgestims  oder 
des  mächtigen  Himmelsdomes,  der  aUgegenwärtig  über  dem 
Menschen  sich  wölbt  mit  seiner  flimmernden  Sternenpracht, 
von  dem  der  Blitz  herabzuckt,  der  Regen  und  Dürre  sendet, 
wird  ihre  göttliche  Verehrung  zu  erklären  sein. 

Natürlich  ist  dieser  animistische  Sonnen-  oder  Himmels- 
glaube eines  Bantuvolkes  nicht  zu  verwechseln  mit  echten 
Astralreligionen.  Daran  hindert  schon  der  Umstand,  daß  die 
eigentliche  Religion  der  Dschagga  der  Ahnendienst  ist  Gott 
kann  neben  den  Geistern  nicht  aufkommen;  ein  eigentlicher 
Kultus  wird  ihm  nicht  gewidmet;  Ruwa  droht  oft  zu  einer 
bloßen  Idee  oder  Ahnung  sich  zu  verflüchtigen,  die  keine 
praktische  Bedeutung  mehr  hat.  Um  so  unerklärlicher  wird 
es  freilich,  daß  solch  eine  Idee,  mit  der  man  praktisch  fast 
nichts  anzufangen  weiß,  bei  den  Bantu  sich  findet. 


*  Es  ist  das  Bantuwort  für  Sonne,    das  in  anderen  Dialekten  vor- 
kommt in  den  Formen:  Izuxca,  jua  usw. 

Archiv  £  Beligionswissenschafc  XIV  jg 


194  J.  Raum 

Nach  dem  Gesagten  werden  die  Vorstellungen  der  Dschaggä 
über  Ruwa  charakterisiert  durch  eine  große  Unbestimmtheit. 
Bei  den  Aussagen  über  Uuwa  handelt  es  sich  mehr  um  Gottes- 
sagen, oft  sehr  merkwürdiger  Art,  als  um  von  allen  geteilte 
Meinungen.  Wie  echte  Sagen  verändern  sie  sich  im  Munde 
jedes  Erzählers.  Die  dichtende  und  gestaltende  Phantasie  des 
Volkes,  aber  auch  die  Anfänge  des  Denkens  schaffen  sich  in 
diesen  Vorstellungen  über  Ruwa  mit  ihren  Ausdruck. 

Allerdings  gibt  es  gewisse  allgemeine  Züge,  mit  denen 
Rmva  ausgestattet  wird.  Aber  sie  ergeben  eben  schattenhafte 
Umrisse,  kein  Bild.  So  denkt  man  sich  Ruwa  als  groß,  ja 
ungeheuer.  Ferner  erscheint  er  oft  neben  den  armseligen, 
immer  fordernden  Geistern  als  der  reiche,  milde  Spender.  Aber 
dabei  bleibt  er  für  den  einzelnen  doch  ein  unfaßbares  Etwas; 
über  seine  Gestalt  und  Lebensweise  macht  man  sich  die  wunder- 
lichsten Vorstellungen.  Vor  allem  ist  seine  Macht  gegen  die 
der  Geister  in  keiner  Weise  abgegrenzt.  Er  zeigt  sich  auch 
nicht  eifersüchtig  darüber,  daß  man  in  der  Regel  die  Geister 
statt  seiner  verehre.  Würde  man  einen  Dschaggä  fragen,  wer 
größere  Macht  hätte,  Ruwa  oder  die  Geister,  so  würde  er  wohl 
Ruwa  die  größere  Macht  zuschreiben.  Aber  er  handelt  eben 
gerade  umgekehrt. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  nicht  verwunderlich,  wenn 
es  keinen  festen  Kreis  von  Wirkungen  gibt,  der  eindeutig  auf 
Ruwa  zurückgeführt  wird.  Das  einzige  Gebiet,  auf  dem  seine 
Macht  nicht  in  Kollision  tritt  mit  der  der  Geister,  scheint, 
nach  der  übereinstimmenden  Meinung  der  meisten,  das  Gebiet 
der  atmosphärischen  Wirkungen:  Regen  und  Dürre,  die 
Nahrungsmangel  im  Gefolge  hat,  kommen  ja  offensichtlich 
von  oben  herab.  Wenn  aber  morgens  und  abends  vou 
manchem  Dschaggä  um  Schutz  und  Hut  zu  Ruwa  gebetet 
wird,  oder  um  Vieh,  und  dieser  dadurch  als  Förderer  des 
Lebens  und  Erhalter  erscheint,  so  werden  eben  Bitten  um 
Verlängerung   des    Lebens,   um   Güter,    wie  Vieh    oder   Nach 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  195 

kommenschaft,  noch  öfter  an  die  Geister  gerichtet.    Selbst  bei 
allgemeinen,    das    ganze    Land    berührenden    Angelegenheiten, 
wie  bei  dem  Gedeihen  der  Früchte  des  Feldes  oder  bei  Seuchen, 
denkt  man  zunächst  an  die  warumu,  erst  in  zweiter  Linie  an 
Buica.     Daß  jene   fortdauernd   lebendig   in   das   Geschick   der 
Oberirdischen   eingreifen,   davon   hat   man   ein   sehr  deutliches 
Bewußtsein,   während   der  Einfluß  von  Buiva   dunkel  und  un- 
bestimmt   bleibt     L^nter  diesen  Umständen  ist  auch  die  Trag- 
weite   der    Sätze,    die    man    gelegentlich    hören    kann:    Rutca 
limohye  wandu  =■  Ruwa  ist  der  Erzeuger  der  Menschen,  oder: 
limia  bestimmt  dem   Menschen   die  Grenzen   des  Lebens,  eine 
geringe.      Manche   lassen   die   Menschen   von   selbst   entstehen, 
manche   denken   an   die    uanimit.     Nur  der  Tod  derer,  die  im 
natürlichen  Alter  sterben,  scheint  sich  auf  Ruwa  zurückzuführen . 
Dagegen   das  Ableben   derer,   die   in   früheren  Jahren  sterben, 
haben   entweder  Zauberei  oder  die   uanimu   verschuldet.     Ein 
Moschimann  sagte  mir  einmal:  Indem  die  Geister  die  Menschen 
töten,  stehlen  sie  dieselben  dem  Ruwa.     Charakteristisch  für 
jden  Begriff  von  Ruwa  ist  es,  daß  man  in  gewissen  Ausnahme- 
lfällen auf  ihn  zurückgreift.     Von   einem  solchen,  der  auf  un- 
erklärliche   oder    plötzliche   Weise,    etwa    durch   einen   Unfall 
oder   durch   ein   wildes   Tier,   ums   Leben   gekommen  ist,  hört 
iraan  den  Ausdruck:   ni  Ruwa  lyoke  lyanibäJia  =  sein  Ruwa 
hat  ihn  getötet.    Krüppel  darf  man  nicht  verlachen,  Ruwa  hat 
isie  so   gemacht.     Wenn   eine  allgemeine  Hungersnot  ins  Land 
jlkommt,  so  heißt  es:  Ruwa  lyatsa  =  Ruwa  kommt.     Ein  ganz 
!  lohne  Anhang  dastehender,   schutzloser  Mensch  heißt:  mndu  o 
i  Ruwa  ==  einer,  der  Ruwa  zugehört,  der  sich  auf  Rutca  ver- 
lassen muß.     In  Moschi   wendet  man  sich  bei  einem  Kranken 
:iann  an  Ruwa,   wenn   alle   Geisteropfer  nichts  fruchten.     Das 
in    den    oben    angeführten  Ausdrücken    Bezeichnende    ist   nun 
lies,  daß,  wie  man  finden  wird,  in  ihnen  Ruwa  sich  ersetzen 
äßt  durch:  Schickung,  Schicksal;  mndu  o  Ruwa  =  einer,  der 
uch  auf  sein  gutes  Glück  verlassen  muß. 

13» 


196  J  Raum 

Wir  können  dazu  schreiten,  das  Resultat  unserer  kurzen 
Untersuchung  zu  ziehen.  Wir  sehen  aus  allem,  daß  die 
Dschagga  mit  dem  Begriff  Ruwa  sehr  undeutliche  Vorstellungen 
Terbinden.  Hinter  der  scharfumrissenen  Realität  der  Geister, 
deren  Art  das  Spiegelbild  des  Dschagga  selbst  ist,  und  an  die 
für  ihn  fast  ausschließlich  Segen  oder  Unheil  geknüpft  ist, 
tritt  Ruwa  zurück.  Er  ist  eine  unbestimmte  und  unfaßbare 
Größe,  von  der  im  letzten  Grunde  abhängig  zu  sein  man 
freilich  das  dunkle  Gefühl  hat.  Man  darf  vielleicht  Ruiva 
deuten  als  die  in  der  Sonne  oder  im  Himmel  verkörperte 
schaffende  oder  vernichtende  Naturmacht,  die  als  Einzelwesen 
vorgestellt  wird. 

Es  ist  möglich,  ja  wahrscheinlich,  daß  auf  den  Gottes- 
glauben der  Dschagga  fremde  Einflüsse  eingewirkt  haben. 
Gott  in  dem  Tagesgestirn  oder  im  Himmelsgewölbe  zu  sehen, 
scheint  keine  genuine  Bantuvorstellung  zu  sein.  Wohl  aber 
sind  die  Masai  Himmelsanbeter.  Die  Dschagga  haben  auch 
sonst  manches  von  den  Masai  angenommen,  zum  Teil  sich  mit 
ihnen  gemischt.  Dafür,  daß  die  Gleichung:  Gott  =  Himmel 
von  den  Masai  stammen  könnte,  ist  noch  der  besondere  Um- 
stand ins  Gewicht  fallend,  daß  die  Dschagga  auch  den  Gottes- 
namen der  Masai:  ngai  kennen  und  anwenden.  Auch 
mohammedanischer  Einfluß  ist  nicht  ganz  unmöglich.  Es  ist 
historisch  sicher,  daß  im  Osten  des  Kilimandjaro  Zuzug  von 
der  mohammedanischen  Küste  her  stattgefunden  hat.  Endlich 
mögen  wohl  auch  bereits  von  der  christlichen  Predigt  die  Gottes- 
vorstellungen in  gewisser,  unbewußter  Weise  tangiert  worden  sein.) 

Wenn  die  Leute  oftmals  zu  den  Geistern  gebetet  haben, 
ohne  Frieden  und  Freude  zu  finden,  wenden  sie  sich  zum 
Himmel,  zu  Ruwa,  dem  Erzeuger  der  Menschen.  Denn  sie 
sprechen:  Der  Erzeuger  der  Menschen  ist  Gott,  der  im  Himmel 
ist;  von  den  Geistern  sagen  sie  das  nicht.  Vielleicht  gibt  es 
aber  doch  einige,  die  das  von  den  Geistern  denken  Aber  die 
meisten  schreiben  es  Gott  zu. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  197 

Von  Gott  haben  sie  keine  deutlichen  Vorstellungen,  sondern 
sie  machen  sich  über  ihn  verschiedene  Gedanken.  Daß  sie 
sich  solche  verschiedene  Gedanken  über  Gott  machen,  erkennt 
man  daran:  1.  Am  Tag  sagt  man  wohl:  Dem  Rutva,  der  hier 
am  Himmel  wandelt,  verdanken  wir  die  Rettung  dieses 
Menschen.  So  sagt  man  also,  wenn  man  die  Sonne  am 
Himmel  sieht.  2.  Nachts  stellt  sich  einer  wohl  in  den  Hof, 
sieht  direkt  himmelwärts  und  spricht:  Ruua,  Häuptling,  Heil 
dir!  Du  hast  mich  den  Tag  (gut)  verbringen  lassen,  laß  mich 
auch  die  Nacht  (gut)  verbringen!  —  Auch  am  Morgen  sehen 
viele  in  derselben  Weise  gen  Himmel,  nach  dessen  Mitte,  also 
nicht  gerade  nach  der  Stelle,  wo  die  Sonne  aufgeht.'  Sie 
sprechen  dabei:  Dank  sei  dir,  Ruwa,  Herr,  du  hast  mich  in 
der  Nacht  beschirmt!  Beliebe  mich  auch  tagsüber  zu  schirmen 
und  laß  es  mir  nicht  fehlen  an  etwas  zum  Sattwerden,  Häupt- 
ling!  —   Dabei  werfen  sie  Speichel  aus  (himmelwärts). 

Es  scheint,  daß  sie  bei  Riitca  zwar  auch  an  die  Sonne, 
aber  mehr  an  den  Himmel  im  ganzen  denken.  Wenn  man 
geradezu  glauben  würde,  daß  die  Sonne  Ruwa  sei,  da  würde 
doch  der,  der  in  der  Nacht  (zu  Rnua)  betet,  nach  unten 
blicken,  weil  man  glaubt,  daß  die  Sonne  nächtlicherweise  sich 
unter  der  Erde  (herumwandelnd)  befinde.  Auch  abends  würde 
er  sich  dahin  wenden,  wo  sie  untergeht.  Aber  so  machen  sie 
es  keineswegs.  Der  Grund,  weswegen  sie  an  die  Sonne  denken, 
ist  der:  sie  wissen,  daß  die  Sonne  etwas  sehr  Großes  ist,  das 
einen  wunderbaren  Glanz  hat.  Sie  kann  auch  wandeln  bei 
Tag  und  bei  Nacht,  ohne  Ruh  und  Rast.  Es  gibt  aber  nie- 
mand, der  dir  angeben  könnte,  warum  sie  so  herumwandele,  ob 
es  sei,  um  zu  wachen,  oder  aus  welchem  anderen  Grunde.  Sie 
glauben  auch,  daß  sie  an  Gestalt  dem  Menschen  gleiche.  Auch 
rede  sie  wie  ein  Mensch   und  esse,  und  zwar  Gras.     Sie  habe 

'  Der  Erzähler  meint,  sie  wendeten  sich  bei  ihren  Gebeten  an 
JRuwa  fast  mehr  an  den  ganzen  Himmel,  als  an  die  Sonne  im  be- 
sonderen. 


198  J-  Raum 

sich  auch  ein  Gehöft  errichtet:  wenn  sie  im  Zenit  steht,  so 
sei  sie  in  ihrem  Gehöft  angekommen.  Der  Mond  aber  sei  die 
Frau  des  Buwa  und  die  Sterne  seien  die  Rinder  des  Riiwa. 

Die  Geister  sind  veränderlich:  sie  gehen  an  den  Geister- 
ort, später  steigen  sie  hinab  nach  Kilengetseny  und  endlich 
Terwandeln  sie  sich  in  Tiere.  Aber  Buwa  bleibt  immer  wie 
er  ist,  nur  streift  er  eben  umher.  Was  dir  Buwa  bestimmt 
hat,  das  trifft  dich  auch.  Die  Geister  sind  tückisch,  Buiva 
aber  ist  herrlich  und  macht  die  Menschen  groß.  Wenn  Ruwa 
erzürnt  ist,  dann  sterben  alle  Länder  aus.  Buiva  kennt  Mit- 
leid. Wenn  es  Buwa  beliebt,  einen  Menschen  gern  zu  haben, 
so  wird  er  groß.  Ein  kleiner  Mensch,  der  verachtet  ist  und 
von  den  anderen  geplagt  wird,  wird  später  groß  und  vornehm 
werden.  Wenn  Buwa  will,  so  kommt  Regen.  Buwa  aber  hat 
einen  Medizinmann  bestellt  zur  Aufsicht  über  den  Regen. 
Auch  der  Donner  ist  etwas  von  Buwa  Gesetztes.  Blicke  ja 
nicht  unverwandt  gen  Himmel,  sonst  wirst  du  „die  Kälber 
Gottes"  sehen!  An  manchen  Jahren  sieht  man  in  der  Nacht 
(am  Himmel)  etwas  wie  eine  Schlange,  das  sich  bewegt  (ein 
Meteor),  das  ist  ein  „Kalb  des  Buwa".  Wenn  das  jemand 
sieht,  so  bedeutet  das  Schlimmes,  vielleicht  den  Tod.  Ein 
anderes  ist  ein  Komet.  Das  ist  ein  Zeichen  von  Buwa.  Wenn 
es  erscheint,  so  will  Buwa  die  Menschen  schlagen. 

Gebete  an  Buwa 
An  Buwa  richtet  man  nicht  so  oft  Gebete,  wie  an  die 
Geister.  Man  betet  zu  Buwa  dann,  wenn  man  die  Geister 
ohne  Erfolg  angebetet  hat.^  Hat  man  den  Geistern  viele  Tage 
hindurch  Opfer  dargebracht,  der  Kranke  gesundet  aber  nicht, 
dann  sagt  man  (wohl):  „Jetzt  hilft  alles  nichts  mehr.  Niemand 
soll  fernerhin  zum  Wahrsager  gehen!  Die  jetzt  zu  schlachtende 
Ziege    diene    als    Opfer   für   Biiwal"      Die    Ziege    wird    dann 

*  Man  darf  darin  doch  vielleicht  eine  Ahniing  sehen,  daß  von  Riiica 
im  letzten  Grunde  auch  die  Geister  abhängig  seien.  ^ 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  199 

herbeigeschafft,  wenn  die  Sonne  im  Zenit  steht.  Man  bringt 
sie  in  den  Hof,  spuckt  (indem  man  sie  mit  den  Händen  hält) 
ihr  auf  den  Kopf  und  spricht:  „Hier  ist  die  Ziege,  Ruwa, 
mein  Häuptling.  Du  allein  weißt,  wie  du  mit  diesem  Menschen 
verfahren  wirst,  als  ob  du  ihn  gleichsam  von  neuem  erzeugest." 
Die  Ziege  wird  dann  weggenommen,  hinter  das  Haus  gebracht 
und  geschlachtet.  Das  Fleisch  verzehren  sie  selbst.  Ruwa 
erhält  nur  die  Seele.* 

Wenn  man  in  den  Krieg  geht,  so  finden  Opfer  an  die 
Geister  statt,  aber  auch  an  Rutva:  „Ruwa,  mein  Häuptling, 
mögest  du  mich  an  die  Hand  nehmen  und  sicher  führen!  Ge- 
währe mir  auch  ein  Rind,  Häuptling,  damit  ich  dir  mit  ihm 
ein  Opfer  bringe."  —  Kehrt  der  Kriegszug  mit  Beutevieh 
zurück,  so  opfert  und  dankt  man  das  einemal  den  Geistern, 
das  anderemal  Ruiva  (indem  man  dabei  spricht):  „Bleibe  gesund, 
Ruiva^,  mein  Häuptling,  du  hast  mich  wohlbehalten  zurück- 
gebracht, so  daß  ich  nach  Hause  gelangte!  Hier  ist  eine  Ziege, 
Reicher,  mögest  du  mir  später  eine  andere  verleihen!" 

Der  Mond  heißt  die  Frau  des  Rmia,  weil  sie  an  Gestalt  der 
Sonne  gleicht  und  auch  den  Weg  geht,  den  die  Sonne  wandelt. 
Der  Mond  ist  kleiner,  als  der  Gatte.  Er  waltet  in  der  Nacht', 
des  Tags  über  aber  der  Gatte.     Auch   sein  Licht  ist   kleiner. 

An  den  Mond  richtet  man  weder  Gebete,  noch  Lob- 
preisungen.*    Nur   bei   kleinen    Kindern   findet   sich    folgender 


'  Solche  Opfer  an  Buica  sind  selten. 

*  Gesundheit  wünscht  der  Dschagga  zum  Abschied,  zum  Dank  und 
zur  Huldigung. 

*  Wenn  die  Sonne  sich  zum  Untergange  neigt,  dann  heißt  es: 
Euwa  lyanengija  mka  ngaico  =  Buwa  übergibt  seiner  Frau  den  Schild. 
Bis  zum  Morgen  soll  sie  dann  walten. 

*  Im  Leipziger  Ev.  -  Luth..Missionsblatt  erzählt  Missionar  Gutmann 
Beispiele  von  Mondverehrung  aus  den  westlichen  Dschaggalandschaften 
(Jahrg.  1909,  S.  17):  „Der  Tag,  au  welchem  die  schmale,  feine  Mond- 
sichel zum  ersten  Male  wieder  am  westlichen  Horizont  sichtbar  wird,  ist 
besonders  glückbringend.  An  ihm  muß  man  daher  sein  Gebet  an  den 
Mond  tun.     Wer  das  tun  will,   stellt   sich   an  diesem  Abend   auf  einen 


200  J-  Kaum 

Brauch.  Beim  erstmaligen  Erscheinen  der  neuen  Mondsichel 
rufen  sie  aus:  „Mond,  ich  habe  dich  wahrgenommen!  Das 
Rind  des  Vaters  möge  ein  Kuhkalb  werfen,  damit  ich  Milch 
zu  trinken  bekomme;  das  liind  des  Oheims  aber  möge  ein 
Ochsenkalb  werfen,  damit  ich  vom  Fleischanteil  zu  essen  be- 
komme." —  Der  „Fleischanteil"  ist  das  Fleisch,  das  die  ver- 
heiratete Schwester  und  der  Schwestersohn  vom  Bruder  bzw. 
Oheim  erhält  und  der  in  der  Hüfte  besteht.  —  Aber  sie 
sprechen  nur  so  beim  Erscheinen  der  Mondsichel;  es  bedeutet 
kein  Gebet,  sondern  es  sind  nur  Worte. 

Oder,  wenn  die  Mondsichel  sich  so  neigt,  daß  sie  gebeugt 
ist,  indem  das  eine  Ende  in  schiefer,  nach  abwärts  gewendeter 
Stellung  sich  befindet,  so  kommt  Hungersnot  hieher  in  die 
Pflanzungen.  Indem  man  aber  so  sagt,  schreibt  man  die  Her- 
kunft nicht  dem  Mond  zu,  sondern  Buwa. 

Die  Sterne  sind  die  „Rinder  des  Buwa'^.  Ob  er  sie  aber 
auch  schlachtet,  darüber  weiß  niemand  Bescheid.  Sterne,  die 
von  den  Leuten  in  ihrem  Gang  beobachtet  werden,  sind  die 
Venus  und  die  Plejaden. 

Es  gibt  zwei  Venussterne,  einen  kleinen  und  einen  großen.' 
In  früheren  Zeiten,  nahe  1895,  da  fürchteten  sich  manche 
Leute,  die  eben  nicht  wissen,  daß  die  Venussterne  umher- 
wandelu  und  sich  trennen  und  daß  der  eine  am  Morgen 
sichtbar  ist,  vor  Anfang  der  Morgenröte,  und  der  andere  am 
Abend  sich  zeigt  an  dem  Ort,  wo  die  Sonne  untergegangen 
ist.     Als  sie  das  wahrnahmen,  daß  die  Venus  am  Morgen  nicht 


Hügel,  spuckt  dem  Mond  viermal  entgegen,  wobei  er  ansdrücklich  bis 
vier  zählt  und  betet  dann:  „Mein  Mond,  gib  mir  Frieden,  gib  mir 
Speise,  halte  alle  Händel  von  mir  fern!"  Ein  charakteristisches  Rache- 
gebet an  den  Mond  lautet:  „Mond  ich  bitte  dich,  brich  ihm  Hals  und 
Nacken."  —  Vielleicht  sind  es  Frauen,  die  sich  in  solcher  Weise  au  ila» 
„Weib  des  Euwa"'  wenden. 

'  Obwohl  der  Moschimann  den  Morgenstern  und  den  Abendsteru 
mit  demselben  Worte  bezeichnet,  so  ist  ihm  doch  unbekannt,  ilaß  e« 
ein  Stern  sei. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  201 

mehr  schien,  da  fürchteten  sie  sich  —  sie  waren  der  Meinung, 
daß  die  Venus  alle  Morgen  gesehen  werde  —  und  glaubten, 
es  würde  vielleicht  ein  unheilvolles  Ereignis  eintreten,  vielleicht 
würde  ein  König  von  einem  anderen  aus  seinem  Wohnsitz 
vertrieben  werden.  —  Auch  den  Lauf  der  Plejaden  pflegte 
man  in  früheren  Zeiten  zu  betrachten.  Aber  jetzt  sind  derlei 
Dinge  bei  vielen  in  Vergessenheit  geraten. 

ni 

Andere  Stücke  aus  dem  Glauben  der  Dschagga 
Die  Medizinmänner 

(Vorbemerkungen  über  das  Zauber wesen  bei  den  Dschagga. 
Neben  dem  Geisterdienst  nimmt  der  Zauberglaube  einen  breiten 
Raum  ein  im  religiösen  Meinen  und  Handeln  des  Volkes. 
Allerdings  ist  dieser  Zauberglaube  und  -brauch  im  engeren 
Sinn  nicht  zur  Religion  der  Dschagga  zu  rechnen;  er  ist  unter- 
religiös;  mit  dem  Geister-  oder  Gottesglauben  hat  er  nichts 
zu  tun.  Er  beruht  auf  der  Überzeugung,  daß  bestimmte 
sinneufäUige  Dinge  durch  Beschwörungen,  die  in  der  Regel 
mit  einer  Handlung  (Manipulation)  verknüpft  sind  —  bei  den 
Dschagga  spielt  das  Bespucken  eine  große  Rolle  — ,  Sitz  nütz- 
licher oder  schädlicher  Kräfte  magischer  Art  werden  können. 
Gewiß  darf  man  da  unterirdische  Verbindungskanäle  mit  dem 
Fetischismus  annehmen.  Aber  von  Fetischismus  selbst  ist  hier 
besser  nicht  zu  sprechen.  Jene  Zauberkräfte  werden  von 
unseren  Ostafrikanern  durchaus  als  dingliche  behandelt.  Sie 
werden  nirgends  Objekte  kultischen  Handelns  bei  ihnen. 

Der  Dschagga  unterscheidet  prinzipiell  zwischen  Heil-, 
bzw.  Schutzzauberei,  die  von  öifentlich  dafür  bekannten  Per- 
sonen, den  wahanga  oder  Medizinmännern,  berufsmäßig  aus- 
geübt und  honoriert  wird  und  zwischen  der  bösen,  verderb- 
lichen Zauberei,  die  er  ivusavi  (v  =  w)  nennt.  Sie  gilt  als 
ein    Verbrechen,    da    sie    den    Menschen    an    Leib    und    Leben 


202  J-  Raum 

schadet,  und  geht  im  Geheimen  im  Schwange,  sei  es,  daß  sie 
in  bestimmten  Familien  sich  forterbt,  oder  von  einzelnen  ge- 
legentlich ausgeübt  wird.  Es  kann  natürlich  vorkommen,  daß 
ein  Medizinmann  sich  auch  auf  verderbliche  Zauberei  versteht, 
was  er  aber  selbstverständlich  streng  geheim  hält. 

Die  genannten  Medizinmänner  nun,  die  ihr  Handwerk  nur 
nebenbei,  nicht  als  einzige  Beschäftigung  betreiben,  weil  sie  in 
der  Regel  dafür  nur  gering  honoriert  werden,  haben  mannig- 
faltige Tätigkeiten,  die  sich  häufig  auch  auf  verschiedene  Per- 
sonen verteilen.  Da  gibt  es  walasa,  deren  Aufgabe  ist,  den 
Verkehr  zwischen  den  Geistern  und  ihren  lebenden  Familien- 
angehörigen zu  vermitteln,  ilasa  =  die  Geister  befragen  durch 
eine  Art  Los.  Einer,  der  zur  Zunft  der  walasa  gehen  will, 
verschwindet  plötzlich  vorher  auf  wenige  Tage;  es  heißt  dann, 
die  Geister  hätten  ihn  zu  sich  geholt,  um  ihm  Offenbarungen 
zu  geben.  Oder  er  gibt  an,  im  Traum  von  ihnen  entführt 
worden  zu  sein. 

Eine  andere  Tätigkeit  der  wahanga  ist  das  itamana  ==  be- 
sprechen. Sie  besprechen  die  Krankheit,  dabei  verabreichen 
sie  wohl  auch  Medizin \  die  sie  ebenfalls  besprechen;  die 
Medizinmänner  kennen  eine  Reihe  medizinischer  Pflanzen.  Oder 
sie  fabrizieren  Schutzzauber,  z.  B.  Amulette.  Weiter  gibt  es 
wahanga,  deren  Tätigkeit  darin  besteht,  solche,  die  durcli 
schlimmen  Zauber  geschädigt  worden  sind,  zu  entzaubern.  Ist 
jemand  ein  Fremdkörper,  Holzkohlen,  Erde  oder  ein  kleiner 
Knochen,  in  das  Fleisch  hineingehext  worden,  so  machen  sie 
Einschnitte  an  der  betreffenden  Stelle  —  das  nennt  mau: 
isara  =  einschneiden  —  und  saugen  (angeblich)  mit  dem  Blut 

^  Man  darf  nicht  glauben,  daß  die  Naturvölker  ganz  ohne  medi- 
zinische Kenntnisse  seien.  Vor  etwa  zehn  Jahren  war  ein  Sudanese  der 
Sphutztruppe  in  Moschi  erblindet.  Der  Arzt  der  Militilrstation  behandelte 
ihn  lange  ohne  Erfolg.  Ohne  Vorwissen  des  Arztes  begab  er  sich  dann 
in  Behandlung  eines  heidnischen  Mnyamuezimannes,  der  damals  auf  der 
Missionsstation  Moschi  arbeitete.  Nach  einigen  Tagen  kam  er  sehemi 
dann  zurück   zum   größten  Erstaunen  aller  Europäer  der  Militärslation. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  203 

das  Corpus  delicti  aus  dem  Körper;  sie  bringen  dasselbe,  es 
aus  dem  Munde  hervorzieliend,  nachher  zum  Vorschein.  Der 
sinnenfälliore  Gecrenstand,  der  Leib  und  Leben  eines  Menschen 
bedrohte,  könne  aber  auch  von  ihm  entfernt  sein.  Der  böse 
Zauberer  nimmt  bestimmte  Dinge,  die  mit  Leben  und  Leib 
des  Menschen  oder  Viehes  zusammenhängen,  z.  B.  Haare, 
Fingernägel,  heimlich  weg  —  die  Dschagga  nennen  das:  iiaäa 
lifo  =  eine  Spur  nehmen  — ,  und  verbirgt  sie  unter  Ver- 
schwörungsformeln  und  Flüchen  an  einem  unbekannten  Ort. 
Dann  gehen  gegen  Leib  und  Leben  dessen,  mit  dem  jenes 
Ding  in  Verbindung  gestanden  hat,  unheilvolle  Folgen  aus. 
Da  ist  es  denn  Aufgabe  des  Medizinmannes,  herauszubringen, 
wo  der  böse  Zauber  verborgen  liegt.  Dies  nennt  man  ikuheo. 
Dabei  spielen  Rauch  und  Gnuschwanz  eine  Rolle.  —  Um- 
gekehrt kann  der  mlianga  seinerseits  ein  Übel  oder  eine  Krank- 
heit ,,binden"  {ifunga),  eben  dadurch,  daß  er  einen  Stoffteil  aus 
dem  kranken  Körper  fortbringt  und  irgendwo  unterbringt.) 

Da  aus  ihrem  Glauben  an  die  Geister  und  an  Rtitca  den 
Leuten  kein  wahrer  Segen  und  kein  Friede  kommt,  so  haben 
sie  nichts,  worauf  sie  vertrauen  können.  So  suchen  sie  denn 
die  Medizinmänner  auf,  die  im  Besitz  von  Heil-  und  Schutz- 
zaubermitteln sind,  die  auch  Amulette  zu  verfertigen  verstehen 
zum  Schutze  ihres  Lebens  und  zur  „Bindung"  (Unschädlich- 
machung, Abhaltung)  von  Dingen  verschiedener  Art. 

Wenn  jemand  erkrankt,  so  gibt  er  sich  nicht  zufrieden 
mit  Orakeln  und  Opfern,  sondern  er  bemüht  sich  in  vielerlei 
Weise.  Er  ruft  einen  Medizinmann,  der  zu  besprechen  ver- 
steht, und  dieser  bespricht  ihn.  Was  ist  nun  ein  solcher,  der 
zu  besprechen  versteht,  für  ein  Mensch?  Er  hat  Zaubermittel, 
die  die  Krankheit  „beschwichtigen"  {yolora  abkühlen)  und 
andere,  er  weiß  auch  den  Ort,  wo  eine  schlimme  Zauberei 
hinversteckt  worden  ist.  Es  heißt  aber  auch,  daß  ein  Medizin- 
mann, der  Besprecher  ist,  auch  imstande  sei,  einen  Menschen 
zu  behexen  (mit  schlimmer  Zauberei},  so  daß  er  sterbe.  —  Er 


204  J.  Raum 

ist  auch  im  Besitz  von  einer  Wurzel  ndalaho  (von  sehr  starkem 
Geruch)  und  vieler  Arzneien  oder  eines  Gnuschwanzes.  Alle 
diese  Dinge  hat  er  von  einem  anderen  Medizinmann  erstanden, 
der  vor  ihm  tätig  war.  Im  Begriff,  einen  Kranken  zu  be- 
sprechen, kaut  der  die  Wurzel  ndalaho,  so  daß  der  gute  Geruch 
spürbar  wird,  und  nimmt  etwas  Wasser  in  den  Mund.  Dies 
getan,  so  faßt  er,  falls  der  Patient  etwa  an  Kopfweh  leidet, 
dessen  Kopf  mit  beiden  Händen  und  spricht:  pya  —  pya  —  pyino 
werde  kühl  wie  der  Baumschliefer  und  das  mendel^  Weiter 
zählt  er  auf  (mit  dumpfer,  murmelnder  Stimme)  Namen  von 
Bergen  und  Flüssen,  die  er  kennt.  Ist  er  fertig  mit  dem  Be- 
sprechen, so  knackt  er  mit  den  Fingergelenken  oder  er  sucht 
ein  Orakel  mit  dem  Blatt  einer  Drazäne  und  gibt  dir  an,  daß 
du  den  Geistern  Bier  spenden  sollest  oder  etwas  anderes.  Ein 
großer  Medizinmann  ist  auch  im  Besitze  von  guten  Arzneien; 
die  holt  er  hervor,  bespricht  sie  und  gibt  sie  dir.  Die  Arznei 
heilt  dich  dann  im  Verein  mit  der  Besprechung. 

Zu  einem  Verrückten  (msuko)^  wird  ein  Medizinmann  ge- 
rufen. Er  kommt  und  entfernt  einem  verschiedene  Dinge  aus 
dem  Leibe  (die  hineingehext  worden  sind  und  den  Wahnsinn 
verursacht  haben),  als  da  sind:  eine  Feder,  Pingernägel.  Er 
bespricht  und  bindet  sie  in  ein  Bündelchen,  das  dann  an  einem 
Orte  verborgen  wird,  der  zwar  den  Angehörigen  des  Verrückten 
bekannt  ist,  diesem  selbst  aber  nicht.  Das  nennt  man  „Binden 
des  Wahnsinns".    Zuvor  schlachtet  man  ihm  (dem  Medizinmann) 


*  Der  Baumschliefer  (dendrohyrax) ,  ein  murmeltierartiger  Nager, 
der  im  G-ürtelwald  des  Berges  lebt,  ist  den  Dschagga  heilig;  sein  Blut 
dient  den  Zwecken  des  yolora,  der  Beschwichtigung  schädlicher  Mächte. 
Auch  das  mende  genannte  Tier  ist  heilig;  ich  kann  es  nicht  identi- 
fizieren. 

-  Man  darf  nicht  glauben,  daß  die  „Naturvölker"  frei  wären  von 
Störungen  des  Nervensystems.  Temporärer  Wahnsinn  scheint  bei  den 
Dschagga  nicht  ganz  selten  zu  sein.  Die  Sache  bedürfte  der  Unter- 
suchung. Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  es  sich  in  manchen  Fällen  um 
eine  Autosuggestion  handelte. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  205 

ein  Stück  Kleinvieh.  Wird  der  Verrückte  gesund,  so  erhält 
er  ein  Rind. 

Auch  der  Aussatz  wird  „gebunden".^  Der  Medizinmann 
gibt  dem  Kranken  Arznei  und  saugt  den  Eiter  mit  seinem 
Munde  aus  der  kranken  Stelle.  Manche  tun  den  Eiter  in  eine 
Kürbisflasche,  in  der  sich  Milch  befindet,  die  wird  dann  auf 
den  Markt  getragen  und  dort  ( unter  die  Marktprodukte)  hinein- 
geschmuggelt. Deswegen  mögen  viele  Wohlhabendere  keine 
Milch  vom  Markte.  Hat  etwa  die  Arznei  den  Aussätzigen  gesund 
gemacht,  so  heißt  es,  der  Medizinmann  habe  den  Aussatz  „ge- 
bunden". 

Einer  schwangeren  Frau  wird  eine  Schnur  besprochen  vom 
Medizinmann,  die  sie  sich  anlegt,  um  keine  Fehlgeburt  zu  haben. 

Jeder  Mensch  aber  wünscht  ein  Amulett  (mbingu)  oder 
ein  „Hölzchen",  das  eingekerbt  ist  in  der  Mitte.  Es  ist  be- 
sprochen. In  der  Mitte  hat  es  ein  Loch,  so  daß  es,  unter 
den  Perlen  an  einer  Schnur  aufgereiht,  am  Halse  getragen 
werden  kann.  Die  Amulette  und  „Hölzchen"  bilden  ein  Schutz- 
mittel für  den  Menschen,  daß  er  nicht  behext,  von  keinem 
wilden  Tier  gefressen  werde,  daß  man  ihn  gern  habe,  usw. 
Wenn  du  mehrere  Amulette  anhast  und  dich  etwa  anschickst, 
Bier  zu  trinken,  so  tröpfelst  du  zuerst  etwas  Bier  auf  das 
Amulett.'  Wenn  etwa  ein  böser  Zauber  darin  ist,  so  kann 
er  dich  nicht  mehr  behexen.  Manchmal  erhält  man  auch  ein 
Amulett,  das  man  verschluckt  und  das  im  Leibe  bleibt.  Wird 
einem  dann  etwas  zum  Genüsse  gereicht,  das  Zauberei  enthält, 
so  erbricht  man  das  Genossene  wieder.  Den  Häuptlingen  wird 
eine  Baumschlange  besprochen,  die  sie  verschlucken  und  die 
in  ihrem  Leibe  lebendig  bleibt.  Kein  Mensch  kann  ihn  dann 
mehr  behexen.  Bei  seinem  Tode  kommt  dann  die  Schlange 
▼on  selbst  wieder  hervor. 


*  Es  wird  sich  wohl  hier  nicht  um  die  echte  Lepra,  sondern  um  einen 
»useatzähnlichen  Ausschlag  oder  langwierige  Geschwüre  handeln 

''  Auf  andere  Amulette   wird   im  Augenblick  der  Gefahr  gespuckt. 


206  J-  Raum 

Oder  wenn  dir  Holzkohle  oder  ein  Knochen  von  irgend- 
einem Lebewesen  in  den  Leib  gehext  worden  sind,  so  rufst  du 
den  Medizinmann,  und  er  kommt,  dir  einen  Einschnitt  zu 
machen.  Zuerst  steckt  er  ein  Feuer  an  mittels  des  Feuerquirls 
und  Feuerbrettchens ;  an  dessen  Rauch  riecht  er  und  erkennt 
so,  an  welcher  Stelle  du  behext  bist.  Dann  macht  er  einen 
Einschnitt   und    bringt   mit   seinen   Backen  die  Kohle   hervor. 

Oder  es  gibt  böse  Zauberer,  die  von  deinem  Leibe  dir 
eine  „Schur"  nehmen,  Haar  oder  etwas  anderes,  infolgedessen 
du  erkrankst  und  hinschwindest,  bis  du  endlich  stirbst.  Von 
der  Frau  wird  Menstrualblut  genommen  und  sie  ist  dann  nicht 
imstande,  ein  Kind  zur  Welt  zu  bringen.  Auch  Milch  von 
den  Kühen  wird  fortgenommen  und  in  einer  Baumhöhle  ver- 
borgen, oder  der  böse  Zauberer  wirft  ein  Zaubermittel  in  die 
Rinderabteilung,  dann  trocknet  die  Milch  ein  (im  Euter). 

Aber  vielfach  nimmt  man  wahr,  daß  die  Medizinmänner 
bewußte  Betrüger  sind.  Manche  sieht  man  mit  Kohle  in  den 
Backen,  wenn  sie  von  zu  Hause  kommen.  Manche  haben 
andere  Dinge,  z,  B.  solche,  die  zu  schlimmer  Zauberei  dienen; 
sie  geben  aber  an,  sie  hätten  sie  entfernt  aus  dem  Leibe  oder 
der  Hütte  eines  Menschen. 

Die  bösen  Zauberer 
Worin  besteht  die  böse  Zauberei  bei  den  Dschagga?  Es 
sind  Dinge  vielerlei  Art,  die  zubereitet  werden,  um  dem  Wider- 
sacher im  geheimen  an  Leib  und  Leben  zu  schaden.  Unc 
zwar  werden  diese  schlimmen  Zaubermittel  hauptsächlich  voi 
bestimmten  Tieren  genommen.  Aber  bestimmte  Kunde  voi 
dieser  schlimmen  Zauberei  könnte  man  sich  nur  durch  die' 
Zauberer  selbst  verschaffen.  Die  anderen  wissen  nur  dies  und 
jenes  davon.  Es  geht  auch  nicht  an,  etwa  einen  Zauberer  zu 
bitten,  er  solle  einem  diese  Dinge  mitteilen.  Kommt  man  zu 
einem  Zauberer  und  bittet  ihn,  daß  er  es  einem  „zeige",  so  ist 
man  selbst  ein  zweiter  Zauberer  geworden.     Soviel  sich  davon 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  207 

erkennen  läßt,  sind  es  Schlangen,  Kröten,  Krähen  und  Kroko- 
dile, die  zur  Bereitung  dienen.  Die  Betreffenden  selbst  aber 
kennen  viele  Tiere  und  Kräuter.  Wie  es  viele  Heilzauber  gibt, 
so  auch  viele  verderbliche.  Die  Tiere  verbrennen  sie  auf  einer 
Topfscherbe  zu  Ruß  und  heben  ihn  auf  an  einem  verborgenen 
Orte,  wo  kein  Mensch  es  sehen  kann. 

Schlimme  Zauberei  findet  sich  bei  einem  jeden  Menschen, 
der  sie  betreiben  will,  sei  es  ein  Mann  oder  ein  Weib,  oder 
seien  es  Kinder,  die  darin  unterwiesen  sind.  Die  Männer  haben 
aber  zum  Teil  andere  Zaubermittel  als  die  Frauen. 

Wie  fängt  es  nun  einer  an,  um  ein  böser  Zauberer  zu 
werden?  Auf  zweierlei  Art  und  Weise:  a)  Es  gibt  Familien, 
die  sich  von  jeher  mit  der  schlimmen  Zauberei  beschäftigen. 
Der  Großvater  zeigt  sie  dem  Vater,  der  wieder  dem  Sohne. 
Auch  die  Frau,  die  Zauberin  ist,  hat  es  übernommen  von 
Mutter  und  Großmutter.  Ein  Mann  zeigt  aber  einem  Mädchen 
keine  Zaubermittel.  Ist  jemand  alt  und  der  Sohn  noch  klein, 
so  zeigt  er  es  seinem  Weibe,  damit  später  das  Weib  den  Sohn 
unterweise.  Das  Weib,  das  keine  Tochter  hat,  zeigt  es  dem 
Sohne,  wenn  der  Mann  gestorben   ist. 

Wenn  der  Vater  oder  die  Mutter  vom  Tod  übereilt  wird, 
ohne  das  Kind  in  der  Zauberei  unterwiesen  zu  haben,  so 
spricht  die  Großmutter  oder  die  Tante  (Vaterschwester)  zu 
diesem:  „Salbe  mich!  Ich  will  dir  das  „Herkommen'^  deiner 
Mutter,  bzw.  unseres  Großvaters  zeigen."  Das  Kind  bringt 
ihr  dann  Milch  und  Fett.  Wenn  es  ein  Mann  ist  (der  einem 
das  „Herkommen"  zeigt),  so  schlachtet  man  ihm  eine  Ziege. 
Dann  ruft  er  einen  nächtlicherweise  und  unterweist  einen. 
Denn  es  bringt  Unheil,  wenn  die  Eltern  sterben,  ohne  dem 
Kinde  das  „Herkommen"  gezeigt  zu  haben  —  die  (in  der 
Familie  erbliche)  Zauberei  nennt  man  das  „Herkommen"  — : 
Die  Nachkommen  würden  von  Übeln  heimgesucht  werden. 
Wenn  er  ein  Kind  erzeugt,  so  würde  er  sterben.  Oder  er 
würde  oft  erkranken. 


208  J-  Raum 

b)  Manche  andere  Leute  kaufen  die  Zaubermittel,  wena 
sie  zu  bebexen  wünschen.  Man  erwirbt  sie  aber  von  einem 
Angehörigen  eines  fremden  Landes;  z.  B.  damals,  als  die 
Wakamba  im  Lande  waren,  kauften  viele  Moschileute  von 
ihnen  oder  von  den  Taitaleuten.  Zaubermittel  von  einem  iu 
der  Nähe  Wohnenden  zu  kaufen  ist  gefährlich.  Einer,  der  im 
Besitz  von  solchen  ist,  wagt  nicht,  zuzugestehen,  daß  er  ein 
Zauberer  sei;  er  fürchtet  sich,  man  möchte  ihn  darum  fragen, 
um  ihn  zu  verraten,  so  daß  es  unter  den  Leuten  auskäme. 
Doch  mögen  sich  nicht  viele  Leute  Zaubermittel  erwerben. 
Was  die  Zahl  der  Zauberer  anbetrifft,  so  mag  es  in  einem 
solchen  Ländchen,  wie  Pohomo,  etwa  gegen  ein  Hundert  geben, 
Männer  und  Frauen  zusammengenommen.' 

Wie  man  zaubert,  und  welche  Macht  der  Zauberei 

eignet 

Hinsichtlich  der  bösen  Zauberei  sind,  nach  dem  Glauben 
der  Leute  in  den  Pflanzungen,  zwei  Dinge  zu  bemerken:        1 

Zum  ersten  gibt  es  Eßzauber  (kireyo)^,  der  einem  in  die 
Speise  getan  wird.  Man  wird  überredet  zum  Essen  und  es  (die 
Speise  samt  dem  Zauber)  bleibt  im  Leibe  stecken,  so  daß  man 
entweder  bald  stirbt  oder  nach  wenigen  Tagen.  Es  geschieht 
auch,  daß  man  am  Leibe  siech  wird  und  ein  ganzes  Jahr  die 
Krankheit  mit  sich  herumschleppt,  bis  sie  zum  Tode  führt. 
Ein  anderer  Genußzauber,  von  dem  ich  zu  hören  pflege,  wird 
in  das  Wasser  der  Kanäle  geworfen.  Die  Leute  dort  in  der 
Landschaft,  die  das  Wasser  trinken,  sterben  dann  aus.  Davon 
wird  aber  erzählt  als  von  etwas,  das  in  früheren  Zeiten  vor- 
gekommen sei,  nicht  jetzt. 

Zum  zweiten  gibt  es  böse  Zauberei,  wobei  mit  dem  Mund: 
oder   in    Gedanken    Beschwörungsformeln    gesprochen    werden. j 

'  Die  Landschaft  Nohomo  hat  etwa  1600  —  2000  Bewohner. 
*  Hierbei   spielen    sicher   vegetabilische,   den    Zauberern   bekannt«' 
Gifte  eine  Rolle.  ! 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Eilimandjaro         209 

Wenn  du  etwa  eben  über  dem  Essen  bist,  so  kann  ein  Zauberer, 
der  dich  dabei  sieht,  sei  es,  daß  er  nahe  sei,  oder  daß  du  dich 
in  der  Hütte  befindest  oder  er,  dich  behexen,  so  daß  du 
stirbst  oder  erkrankst  Wenn  ein  Weib  ihr  Kind  säugt,  so 
kann  ein  Zauberer  das  Kind  behexen  mittels  der  Milch,  die 
es  trinkt.  Ein  Zauberer  kann  Kohlen,  Erde,  Steine  in  deinen 
Leib  hineinzaubern;  er  nimmt  eine  „Spur^'  von  dir,  etwa  von 
deinen  Haaren,  verbirgt  sie  und  du  wirst  krank  und  siech. 
Ein  Weib  „wirft"  ein  Zaubermittel,  entfernt  von  dir  (aber  so, 
daß  sie  dich  im  Auge  hat),  so  bekommst  du  Kopfweh  und 
Fieber.  Auch  die  Rinder  werden  behext.  Der  Zauberer  stößt 
nächtlicherweise  an  deine  Hütte  mit  seinem  Gesäß,  dann  kommt 
das  Zaubermittel  in  die  Hütte  in  einem  Bündelchen  und  gräbt 
sich  von  selbst  in  die  Erde.  Die  Kuh  kann  dann  nicht  mehr 
gemolken  werden;  mit  der  Milch  ist  es  vorbei.  —  Ein  anderes: 
Der  Zauberer  kann  das  Kind  behexen  in  seiner  Mutter  Leib. 
Das  Kind  wird  dann  krank  geboren.  Es  gibt  Kinder,  die  nach 
der  Geburt  nicht  den  ganzen  Unrat  entleeren  können,  denen  es 
im  Leibe  stecken   bleibt.     Das   schreibt   man   der  Zauberei  zu. 

\\  ie  stellen  es  nun  die  Leute  an,  daß  sie  sich  schützen, 
um  nicht  ganz  (von  den  Zauberern)  vertilgt  zu  werden?  Es 
gibt  dazu  drei  Wege:  a)  Vorsicht,  b)  Heilmittel,  c)  die  Medizin- 
männer, die  Einschnitte  machen  und  die  Zauberer  ausfindig  machen. 

a)  Der  Eßzauber  würde  die  Leute  vertilgen,  wenn  mau 
nicht  auf  der  Hut  wäre.  Bei  jedem  Menschen,  der  dir  Essen 
gibt,  merkst  du  auf,  ob  er  zuerst  davon  genieße.  Tut  er  das 
nicht  von  selbst,  so  sprichst  du  zu  ihm:  Danke!  Nimm  nun, 
bitte,  einen  Bissen!  Nimmt  er  zuerst  einen  Bissen  und  schluckt 
ihn  hinunter,  so  nimmst  du  die  Speise  in  Empfang  und  issest. 
Wenn  er  etwas  Schädliches  hineingetan  hat  —  tückische  Weiber, 
^e  keine  (anderen)  Zaubermittel  haben,  tun  Menstrualblut  von 
sich  hinein  — ,  so  wird  er  nicht  kosten  wollen.  Sucht  er  dich 
au  hintergehen,  so  verweigerst  du  die  Annahme  (der  Speise\ 
Eine  andere  zur  Vorsicht  dienliche  Sache:  Jeder  soll  das  Essen 

ArchiT  f.  Beligionswissen Schaft  XIV  14 


210  J-  Raum 

an  einem  Ort  aufheben,  wo  es  nicht  gesehen  wird.  Es  gibt 
Leute,  die  mischten  böse  Zaubermittel  in  das  Essen,  um  einen, 
den  sie  haßten,  damit  ums  Leben  zu  bringen;  es  (das  ver- 
zauberte Essen)  tötete  aber  ihre  eigenen  Kinder.  Man  pflegt 
den  kleinen  Kindern  auf  jede  Weise  einzuprägen,  sie  dürften 
keine  Speise  essen,  die  sie  von  jemand  erhielten,  der  nicht 
zum  Hause  gehöre,  auch  dürften  sie  sich  nicht  bei  den  Leuten 
herumtreiben.  Wenn  du  jemand  als  schlimmen  Zauberer  kennst, 
so  hältst  du  ihn  von  öfteren  Besuchen  bei  dir  ab.  Denn  wenn 
man  mit  dem  bösen  Zauberer  Freundschaft  macht,  gerade  dann 
will  er  einen  behexen. 

Gegen  einen  schlimmen  Zauberer,  der  nicht  bekannt  ist, 
wird  der  Fluchtopf ^  „geschlagen''  damit  er  aus  Furcht  vor 
dem  Pluchtopf  ablasse  von  seiner  Zauberei.  Verhält  er  sich 
darauf  nicht  ruhig,  so  gibt  man  ihm  das  Kimanganu^  zu 
trinken.  Wird  er  dadurch  überführt,  so  fürchten  sich  die 
Leute  vor  ihm  und  machen  ihm  Vorhalt. 

b)  Ein  böser  Zauberer,  der  einem  Kind  schädliche  Speise 
gegeben  hat  und  der  entdeckt  wird,  wird  gescholten.  Man 
sagt  ihm,  daß,  falls  das  Kind  sterben  würde,  er  (das  Blutgeld) 
zahlen  müßte.  Da  bringt  er  dann  ihm  bekannte  Arzneien  hervor, 
tut  sie  in  ein  anderes  Essen,  gibt  es  dem  Kind  und  es  genest. 

Aber  auch  die  Leute  selbst  kennen  viele  Arzneien,  die  sie 
nehmen,  wenn  sie  wissen,  daß  sie  behext  sind. 

c)  Ist  ein  Mensch  behext  mit  Kohlen,  Erde  oder  einem 
Knochen,  so  kann  diese  Dinge  nur  einer  der  oben  beschriebenen 
Medizinmänner  entfernen. 

Was  veranlaßt  nun  die  Leute  dazu,  schlimme  Zauberei 
zu  treiben?     Da  gibt  es  ein  Behexen  des  Menschen,  dem  man 


'  Eine  Art  magisches  Bann-  und  Ächtungsmittel.  Siehe  Globus 
Band  LXXXV  No    7. 

*  Gottesurteil  zur  Überführung  des  Schuldigen  und  Reinigung  des 
Unschuldigen.  Es  besteht  in  einer  Abkochung  von  Stechapfel,  unter 
deren  betäubendem  Eindruck  der  Schuldige  gesteht. 


Die  Religion  der  Landschaft  Moschi  am  Kilimandjaro  211 

feind  ist.  Der  Hauptgrund  aber,  weswegen  sie  einander  be- 
hexen, ist  die  Mißgunst.  Diese  ziehst  du  dir  zu,  wenn  du 
etwa  den  andern  übertriffst  an  Schönheit  des  Leibes  oder  an 
Ansehen  unter  den  Menschen,  wenn  du  mehr  Vieh  besitzest 
als  andere,  wenn  du  besser  als  andere  zu  ackern  verstehst, 
wenn  du  mehr  Kinder  hast  und  durch  .  vieles  andere  mehr. 
Ein  Weib,  die  wahrnimmt,  daß  der  Mann  die  zweite  Frau 
mehr  liebt  als  sie,  wird  neidisch.  Oder  ihre  Mißgunst  wird 
hervorgerufen  durch  den  Umstand,  daß  ihre  Mitfrau  Kinder 
hat,  sie  aber  keine.  Wenn  ein  Mann  selten  schlachtet,  und 
er  hat  eine  Mutter  oder  eine  Frau,  die  Zauberinnen  sind,  so 
wünschen  sie,  daß  er  erkranke,  damit  er  ein  Opfertier  schlachte 
und  sie  sein  Fleisch  zu  essen  bekämen. 

Wenn  es  auch  nach  alledem  so  aussieht,  als  ob  die 
Menschen  die  böse  Zauberei  liebten,  so  darf  man  doch  daraus 
nicht  schließen,  daß  diese  ihnen  etwas  Gutes  verschaffe.  Den 
Leuten  ist  die  schlimme  Zauberei  ein  Abscheu.  Man  sagt: 
Geht  ein  schlimmer  Zauberer  an  einem  Ort  vorüber,  wo  ein 
kleines  Kind  sich  befindet,  das  noch  nicht  gelernt  hat,  einen 
Menschen  zu  fürchten,  so  erkennt  es  doch  den  Zauberer  und 
fürchtet  sich  vor  ihm.  Und  oft  geschieht  es,  daß  einem  Weib, 
das  viele  Kinder  ihrer  Kameradinnen  zugrunde  gerichtet  hat, 
auch  die  eigenen  alle  sterben.  Oder  sie  selbst  erfahrt  viel 
Unglück.  Dann  sagt  man,  sie  habe  ein  Mitglied  der  Sippe 
behext  (einer  Respektsperson  durch  schlimme  Zauberei  den 
Tod  gebracht^,  das  habe  ihr  solches  angetan;  dieser  Mensch 
suche  sie  mit  Übeln  heim.  Unter  diesen  Verhältnissen  will 
ein  Teil  der  Leute  von  der  schlimmen  Zauberei  gar  nichts 
wissen,  sie  vererben  weder  solche  in  ihrer  Familie,  noch  mögen 
sie  welche  durch  Kauf  erwerben. 


14' 


n  Berichte 


Die  Berichte  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtigkeit 
für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  2  bis 
3  Jahrgängen  schließen.  Mit  Band  IX  (1906)  beginnt  die  neue 
Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen  der  Zeit 
seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß  des  betr. 
neuen  Berichts  referiert. 


1  Eeligionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909 

Von  K.  Th.  Preuß  in  Berlin 

Nordamerika 

Allgemeines.  Von  einer  Methode  der  amerfkanischen 
Forschungen  in  religionswissenschaftlichen  Fragen  der  Ethnologie 
kann  man  im  wesentlichen  nur  in  bezug  auf  die  Auffindung  neuen 
Materials  sprechen.  Hierin  nehmen  die  Amerikaner  —  andere 
Nationen  kommen  nur  für  die  Erforschung  der  Eskimo  Grön- 
lands und  ein  wenig  für  Britisch  Nordamerika  in  Betracht  — 
schon  längst  einen  Ehrenplatz  ein,  aber  so  hervorragende 
Schilderungen  wir  schon  aus  früherer  Zeit  besitzen,  so  ist  doch 
«in  Fortschritt  nach  der  Seite  eindringenderer  Beobachtung  und 
vor  allem  des  gleichmäßigeren  Wertes  alles  Erschienenen  nicht 
zu  verkennen.  Nur  in  der  Aufzeichnung  des  Textmaterials 
herrscht  noch,  mehr  als  nötig  ist,  die  englische  Sprache  statt 


K.  Th.  Preuß    Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909      213 

der  einheimischen  Idiome  vor.  Auch  wird  nicht  immer  genau 
auseinandergesetzt,  wie  die  Texte  und  Ergebnisse  zustande  ge- 
kommen sind,  inwieweit  die  einheimische  Sprache  beherrscht 
wurde  u.  dergl.  m.,  was  zur  Beurteilung  des  Inhaltes  not- 
wendig wäre.  Anerkennend  muß  hervorgehoben  werden,  daß 
außer  der  Veröffentlichung  des  Rohmaterials  mehr  als  früher 
zusammenfassende  Übersichten  gegeben  werden,  wodurch  ein 
schöner  Anfang  zu  einem  psychologischen  Verständnis  gemacht 
und  dem  Berichterstatter  die  Arbeit  erleichtert  wird.  Möchte 
nun  auch  der  Grundsatz  aufkommen,  Mythen-  und  Geschichten- 
sammlungen nie  ohne  den  Versuch  einer  Erläuterung  zu  ver- 
öffentlichen statt  der  hier  und  da  vorhandenen  „abstracts". 

Gegenwärtig  ist  die  Fülle  des  Materials,  so  viel  auch  noch 
zu  tun  bleibt,  so  gewachsen  und  das  Verlangen  nach  Über- 
sicht so  groß  geworden,  daß  wir  nunmehr  auch  moderne,  sonst 
in  jeder  alten  Wissenschaft  vorhandene  Hilfsmittel,  bekommen 
haben  bzw.  in  den  nächsten  Jahren  zu  erwarten  haben.  Ein 
solches  ist  das  ungemein  nützliche  alphabetische  Handbook 
of  American  Indians  north  of  Mexico  edited  by  Frede- 
rick Webb  Hodge  in  two  Parts.  Part  I*,  an  dessen  Her- 
stellung sich  fast  50  amerikanische  Gelehrte  seit  vielen  Jahren 
beteiligt  haben.  Es  gibt  vor  allem  über  jeden  Namen,  der  je 
auf  eine  Indianergruppe  angewandt  ist,  Auskunft,  schildert 
kurz  jeden  Stamm  und  gibt  unter  den  Stichworten  der  Kultur- 
elemente auch  vielerlei  Religiöses,  z.  B.  unter  color  symbolism 
(sehr  lehrreich),  dances,  eagle,  fasting,  feasts,  fetish,  games, 
masks,  mythology  usw.,  die  freilich  nur  einen  ganz  ungefähren 
Begriff  geben  können  und  meist  für  solche  sind,  die  der  Ameri- 
kanistik ferner  stehen.  Empfehlenswert  auch  für  Amerikanisten 
ist  hier  besonders  der  wohldurchdachte  Artikel  über  mythology 
von  Hewitt,  dem  wohlbekannten  Autor  von  „Orenda  and  a 
Definition  of  Religion".* 

*  Bureau  of  American  Eihuology  Bulletin  30,  Washington  1907 
X  u.  972  S.  »  S.  dieses  Archiv  TU  232  f. 


214  K.  Th.  Preuß 

Der  Artikel  „games"  in  dem  Handbook  stammt  von 
Stewart  Culin  und  ist  ein  aus  dem  YoUen  geschöpfter  wert- 
voller Auszug  seines  großen  Werkes  Games  of  the  North 
American  Indians^,  über  das  ich  nunmehr  zu  berichten  habe. 
In  erster  Linie  ist  es  ein  genaues  Nachschlagewerk,  geordnet 
nach  Spielarten  und  innerhalb  derselben  nach  linguistischen 
Gruppen,  wozu  noch  ein  vorzüglicher  Index  und  eine  Spiel- 
tabelle kommt.  Allein  so  nützlich  das  an  sich  wäre  und  so 
gern  man  ähnliches  auch  über  sonstige  Geräte  —  denn  es 
handelt  sich  nur  um  Spiele,  die  mit  Hilfe  von  Geräten  unter- 
nommen werden  —  und  über  irgendwelche  andere  Parallel- 
erscheinungen bei  den  verschiedenen  Stämmen  hätte,  so  muß 
man  doch  verlangen,  daß  zugleich  über  die  Art  der 
Verbreitung  und  über  den  psychologischen  Ursprung  nach- 
gedacht werde.  Und  das  hat  auch  Culin  getan.  Er  schließt 
auf  einen  religiösen  Ursprung  der  Spiele.  In  der  Einleitung 
zu  jeder  Spielgruppe  gibt  er  kurz  an,  in  welchen  Fällen  die 
betreffenden  Geräte  oder  eins  von  ihnen  nicht  zum  Spiel, 
sondern  auf  Altären,  bei  Zauberzeremonien,  als  Amulett,  als 
Schmuck  und  Maskenemblem  gebraucht  werden.  So  liegen 
zahlreiche  Geräte  auf  den  Altären  der  Hopi  und  Zuni  und  be- 
gegnen in  ihren  Zeremonien,  der  Ring  des  hoop  and  pole 
game,  bei  dem  ein  Speer  oder  dergl.  in  den  Ring  geschleudert 
wird,  liegt  auf  dem  Altar  des  Sonnentanzes  der  Arapaho  und 
bedeutet  die  Sonne,  der  Ring  mit  vier  Pfeilen  dient  auch  zur 
Krankenheilung  bei  den  Oglala  Dakota  und  bezieht  sich  auf 
die  vier  Weltteile  zwischen  Zenith  und  Nadir.  Bei  den  Navaho 
gibt  er  den  mit  ihm  berührten  Gliedern  und  besonders  dem 
Munde  des  Kranken  Kraft  und   auch   ethische  Tugenden,   und 


1  24th  Ann.  Report  of  the  Bur.  of  Ethnol,  Washington  1907  S.  1  —  809. 
Ich  ergreife  hier  die  Gelegenheit,  um  Mr.  W.  H.  Holmes,  Chief  of  the 
Bureau,  zu  bitten,  den  Anmerkungendruck  der  Reports  etwas  größer  zu 
gestalten,  da  längere  Anmerkungen  in  dem  jetzigen  Petitdruck  stets 
Augeuschmerzen  hervorrufen. 


Religionen  der  Naturrölker  Amerikas  1906—1909  215 

die  zwölf  dabei  gebrauchten  Exemplare  werden  nachher  in  der 
Dreizahl  nach  den  vier  Richtungen  fortgelegt.  Ring  und  Pfeil 
bilden  Nase  und  Mund  der  Maske  des  Hehea  Onkel  Katschina- 
Dämons  (Hopi),  Ring  und  zwei  Pfeile  den  Kopfschmuck  der 
Flötenpriester  (Hopi).  Der  genetzte  Ring  desselben  Spiels  als 
Amulett  und  Haarschmuck  ist  weit  verbreitet  (S.  427).  Der 
Netzschläger  (Rackett)  des  Ballspiels  dient  den  Missisauga- 
Indianern  (Ontario)  als  ein  Gerät,  um  damit  die  Zukunft  zu 
schauen  usw.  Auch  gibt  es  zahlreiche  direkte  Angaben  der 
Indianer  über  die  magischen  Ziele  der  Spiele  selbst.  Vertrei- 
bung von  Krankheiten,  Herbeiführen  des  Regens,  Wachstum 
von  Pflanzen  und  Tieren,  Stärkung  der  eigenen  Zauberkraft, 
guten  Erfolg  u.  dergl.  m.  Dazu  ist  die  Zugehörigkeit  der  Spiele 
zu  den  religiösen  Festen  zweifellos. 

Culin  will  aber  noch  näher  dem  Ursprung  der  Ziele  nach- 
gehen. Zu  diesem  Zwecke  geht  er  vom  Mythus  aus.  Doch 
müssen  wir  uns  vorläufig  mit  einer  summarischen  Angabe  be- 
gnügen, denn  eins  seiner  Hauptargumente,  die  Zwillingsmythe, 
will  er  erst  an  anderer  Stelle  entwickeln.  Der  Verfasser  sucht 
nämlich  den  gemeinsamen  Ursprung  der  Spiele  und  entsprechen- 
den Zeremonien  in  den  Helden,  die  durch  List  und  magische 
Spiele  ihre  Gegner  überwinden,  und  meint,  ihr  Grundtypus 
seien  der  Morgen-  und  Abendstern,  die  Patrone  des  Spiels,  die 
Herrscher  im  Osten  und  Westen,  über  Tag  und  Nacht,  Sommer 
und  Winter.  Als  konkretes  Beispiel  führt  er  die  Zwillings- 
Kriegsgötter  der  Zuüi  an,  denen  als  Herren  des  Schicksals  und 
der  Mutmaßung  in  der  Tat  die  verschiedenen  Spielgeräte  und 
zwar  je  in  der  Vierzahl  zugeschrieben  werden.  Ebenso  haben 
ihre  Waffen,  Wurfkeule,  Bogen  und  Pfeile  bzw.  Lanze  und 
Wassernetzschild  gewöhnlich  vierfache  Abzeichen,  indem  auf 
jeden  ein  Paar  kommt.  Culin  meint  nun,  die  Spielgeräte  seien 
meist  Nachbildungen  dieser  Waffen,  die  Würfelstöcke  z.  B. 
seien  Pfeilschäfte  bzw.  kleine  Bögen,  auch  die  Wurfstäbe,  die 
man  besonders  auf  Eis  und  Schnee  gleiten  läßt  (snow-snake), 


216  K.  Th.  Preuß 

seien  ursprünglich  Bögen  (bei  den  Omaha  sind  sie  wirklich 
Bögen)  oder  sie  seien  mit  den  Keulen  der  Zuni- Kriegsgötter 
zu  vergleichen,  der  genetzte  Ring  des  hope  and  pole  game 
sowie  der  Netzschläger  des  Ballspiels  sei  aus  ihrem  Wasser- 
schild hervorgegangen  usw.  Die  Folge  dieser  Meinung  ist, 
daß  Culin  nun  überhaupt  die  Verbreitung  der  Spiele  von  Süd- 
westen aus,  wo  ihre  Verwendung  in  Mythen  und  Zeremonien 
so  deutlich  ist,  über  Nordamerika  wie  auch  „vielleicht"  nach 
Süden,  nach  Mexiko  usw.  annimmt. 

Würden  wir  nun  auch  die  Meinung  des  Verfassers  dahin 
abändern,  daß  nicht  Zeremonien  und  Spiele,  wie  er  meint, 
von  den  Himmelsmythen,  sondern  alles  drei,  Zeremonien, 
Spiele  und  Mythen  aus  derselben  Ursache,  nämlich  aus  astralen 
Anschauungen  und  Riten,  den  vier  Weltrichtungen  usw.  ihren 
Ursprung  haben,  so  könnte  man  vielleicht  vor  einer  solchen 
Konsequenz  erschrecken,  doch  habe  ich  selbst  für  das  mexi- 
kanische Ballspiel  und  das  der  Vereinigten  Staaten  einen 
himmlischen  Ursprung,  die  Nachahmung  des  Sonnenlaufs,  an- 
nehmen müssen.'  Ich  glaube  aber  doch,  daß  man  die  Spiele 
und  ihre  Geräte  zunächst  nicht  sämtlich  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Zuhi- Zwillingsmythe  und  eines  südwestlichen  Aus- 
gangsortes betrachten  darf,  sondern  jedes  Spiel  an  sich  studieren 
muß,  und  dann  wird  man  wohl  auch  manchmal  den  Himmel, 
wenn  auch  nicht  die  Religion,  zur  Erklärung  entbehren  können. 

Eskimo.  In  dem  Werke  The  Eskimo  of  Baffin  Land 
and    Hudson    Bay    from  Notes    Collected    by    Captain 


'  Zeitschr.  d.  Oes.  f.  ErdJxunde,  Berlin  1905  S.  362 f.,  378f.  Auch 
die  Möglichkeit,  daß  Morgen-  und  Abendstern  in  den  Helden  nord- 
amerikanischer Mythen  zu  erkennen  sind,  halte  ich  für  gegeben,  be- 
sonders seitdem  ich  bei  den  (Jora  dieses  Brüderpaar  so  lebendig  gefunden 
habe.  So  halte  ich  jetzt  die  (a.a.O.  375 f.)  erwähnten  Brüder  der  Che- 
rokee  und  Menominee  (Manabush)  für  Morgen-  und  Abendstern,  was 
den  dortigen  Ausführungen  völlig  entsprechen  würde.  Doch  nannte  ich 
sie  die  Sonne  und  das  Feuer  in  der  Unterwelt. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906 — 1909  217 

George  Corner,  Captain  James  S.  Mutch  and  Rev. 
E.  I.  Peck  bietet  Franz  Boas'  auch  in  religiöser  Hinsicht 
eine  ausgezeichnete  Ergänzung  zu  seinen  eigenen  Beobachtungen 
in  Baffinland  und  zugleich  sehr  vieles  Neue  für  die  Zentral- 
eskimo überhaupt.  Ja  die  Unmenge  von  Tabuvorschriften  und 
Gebräuchen  im  täglichen  Leben,  zur  Erlangung  von  Nahrung 
und  zur  Abwehr  von  Krankheit,  die  erst  durch  die  eingehenden 
Untersuchungen  zutage  getreten  sind,  heben  diese  Eskimo  nun 
vor  den  andern  heraus  und  befestigen  das  Büd  der  Primitiven 
als  einer  im  höchsten  Maße  von  religiösen  Ideen  geleiteten 
Menschheit,  zumal  alle  abergläubischen  Handlungen  Gemeingut 
sind  und  nicht  von  den  Schamanen  ausgehen,  eine  so  große 
Rolle  diese  außerdem  noch  spielen.  Eine  sehr  große  Anzahl 
von  Mythen  und  Erzählungen,  freilich  nicht  im  Urtext,  und 
Schilderungen  von  wirklichen  Vorfallen  führen  besonders  gut 
in  die  religiösen  Anschauungen  ein,  während  die  kurz  ange- 
führten Tabuvorschriften  meist  das  Gefühl  erwecken,  wie  viel 
uns  noch  fehlt,  um  die  Tatsachen  zu  verstehen.  Eine  Reihe 
Erzählungen  sind  ihnen  übrigens  mit  den  Smith- Sund -Eskimo 
gemein,  wie  Boas  nachweist. 

Die  auch  sonst  verbreitete  Anschauung,  daß  menstruierende 
Frauen  und  die  Berührung  von  Leichen  den  Erfolg  auf  der 
Jagd  hindern,  ist  hier  durch  eine  besondere  Theorie  begründet. 
Solche  Leute  erscheinen  nämlich  dunkel  und  ein  Dampf  steigt 
von  ihnen  auf.  Das  ist  aber  nur  den  dadurch  unangenehm 
berührten  Seetieren  sichtbar  und  veranlaßt  sie,  sich  fern  zu 
halten.  Deshalb  müssen  die  Frauen  ihren  Zustand  und  ebenso 
Fehlgeburten  offenbaren,  damit  man  sich  vor  ihnen  hüten 
kann.  So  kommt  es  wohl,  meint  Boas  mit  Recht,  daß  die 
nachträgliche  Beichte  nicht  nur  eines  solchen  Zustandes,  sondern 
jeder  verletzten  Tabuvorschrift  das  dadurch  herbeigeführte  Miß- 
geschick sofort  wieder   aufhebt.     Auch  die  Vorschriften   nach 

'  Bulletin  of  the  Amer.  Museum  of  Nat.  Hist.  XV.  Part  1.  2.  New 
York  1907.     670  S. 


218  K.  Th.  Preuß 

erfolgter  Tötung  von  Tieren,  die  von  andern  Gegenden  eben- 
falls genugsam  bekannt  sind,  haben  zum  Teil  ihre  Theorie. 
Die  Seelen  gewisser  Seehundsarten  und  Walfische  bleiben  drei 
Tage  beim  Körper  und  alle  Tabuverletzungen  haften  an  ihr 
und  verursachen  ihr  Schmerz.  Wenn  sie  dann  herab  nach 
Sednas  Wasserreich  gehen,  werden  eben  dadurch  auch  deren 
Hände  wund,  und  sie  straft  die  Leute  durch  schlechtes  Wetter, 
Krankheit  und  Tod,  bis  das  Vergehen  gebeichtet  ist.  Bei 
Beobachtung  der  Tabuvorschriften  dagegen  lassen  sich  die  Tiere 
gern  wieder  töten,  wenn  sie  von  Sedna  wieder  emporgesandt 
werden,  und  suchen  sogar  eigens  zu  diesem  Zwecke  den  Menschen 
auf  Solche  Tabuübertretungen  sind  z.  B.  das  Entfernen  von 
Oltropfen  unter  der  Lampe,  Schütteln  der  Bettunterlage,  Ab- 
kratzen des  Eises  von  den  Fenstern.  Besonders  kompli- 
zierte Vorschriften  herrschen  für  die  Vermeidung  alles  dessen, 
was  zu  Walroß  bzw.  Renntier  gehört,  wenn  man  das  eine  bzw. 
das  andere  der  beiden  Tiere  jagt,  da  sie  nach'  einem  Mythus 
eine  Abneigung  gegeneinander  haben.  Also  wiederum  eine 
nachträgliche  Theorie.  Boas  möchte  daraus  etwas  kühn  schließen, 
daß  die  Eskimo  früher  gar  nicht  an  der  See  gelebt  haben. 
Tabuverletzungen  hängen  sich  auch  an  die  eigene  Seele  und 
machen  den  Betreffenden,  oder  im  Falle  eines  Vergehens  der 
Mutter  ihr  Kind  krank.  Die  Seelen  Verstorbener  bringen  bei 
Übertretungen  von  Tabuvorschriften  anläßlich  des  Todesfalles 
ebenfalls  starken  Schneefall,  Krankheit  und  Tod.  Die  Vergehen 
hängen  sich  an  die  Seele,  sie  muß  vom  Angakok  (Schamanen) 
aufgesucht  und  durch  blutige  Messerstiche  von  den  Anhängern 
befreit  werden. 

Im  Herbst  ist  die  größte  Zeremonie,  wenn  Sedna,  nach- 
dem die  Seelen  der  Angakut  (Plural  von  Angakok)  sie  besucht 
und  ihre  Versprechungen  und  Vorschriften  aus  ihrem  Reiche 
zurückgebracht  haben,  ihrerseits  die  Menschen  aufsucht.  Ist  sie 
nahe  genug,  so  schleudert  der  Angakok  —  angeblich  zu  ihrem 
Vergnügen  —  die  Harpune  nach  der  Mutter  der  Seesäugetiere, 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  219 

worauf  sie  schleunigst  in  ihr  Reich  zurückflieht.  Boas  meint, 
das  geschehe  in  demselben  Sinn  wie  das  erwähnte  Stechen  der 
Seele  von  Verstorbenen,  nämlich  zur  Befreiung  von  den  ihr 
anhaftenden  Übertretungen  der  Menschen.  Merkwürdigerweise 
soll  durch  Austausch  von  Weibern  ihr  Rückzug  beschleunigt 
werden.  Solch  zeremonieller  Weibertausch  kommt  hier  übrigens 
auch  bei  andern  Gelegenheiten  vor.  Am  nächsten  Tage  kommt 
die  Dienerin  Sednas  maskiert,  und  es  wird  fröhlich  gefeiert. 
Unter  anderem  fassen  die  im  Sommer  bzw.  im  Winter  Geborenen 
zusammen  je  an  ein  Strickende  und  ziehen.  Siegt  der  Winter, 
so  ist  viel  Nahrung,  im  andern  Falle  schlechtes  Wetter  zu 
erwarten.  —  Es  ist  Sitte,  sehr  viel  Amulette  zu  tragen,  die 
zum  Teil  ganz  unauffällig  an  der  Kleidung  angebracht  werden. 
Die  Spitze  eines  Renntierschwanzes,  an  den  Rock  genäht,  gibt 
z.  B.  Erfolg  auf  der  Renntierjagd.  Mit  dem  Kind  macht  die 
Mutter  die  Bewegung  des  Kayakruderns  und  Bogenschießens 
nach  dem  Essen  durch,  und  schleudert  die  Gabel  in  die  Eß- 
schüssel, was  das  Harpunieren  eines  Seehundes  bedeutet.  Da- 
durch wird  der  Knabe  ein  geschickter  Jäger. 

Über  die  nördlichsten  Bewohner  der  Erde,  die  Eskimo 
von  Cap  York  und  Smith  Sund  in  Grönland,  haben  wir  ein 
äußerst  anziehend  geschriebenes  Werk  von  dem  Mitglied e  der 
„Dänischen  literarischen  Expedition"  (1902 — 1904)  Knud 
Rasmussen,  The  People  of  the  Polar  North,  das  aus 
zwei  dänisch  geschriebenen  Werken  des  Verfassers^,  von 
G.  Herring  zusammengestellt  und  ins  Englische  übersetzt  ist.* 
Es  ist  ein  eigenartiger  Fall,  daß  hier  ein  Autor,  der  besser 
wie  die  Eskimo  selbst  Kayak  zu  fahren  und  den  Hundeschlitten 
zu  lenken  weiß,  der  fast  seine  ganze  Kindheit  in  West- 
grönland zugebracht  und  selbst  etwas  Eskimoblut  in  den 
Adern  hat,  vertraut  mit  ihrer  Sprache  und  voll  tiefen  Ver- 
ständnisses, ja  voller  Liebe  für  diese  einsamen  Menschen  uns  ihr 

'  Ihre  Titel  lauten  englisch  New  People  und  Under  the  Lash  of  the 
North  Wind.  *  London  19o8  XX  u.  358  S. 


220  K.  Th.  Preuß 

Denken  und  Fühlen  vermittelt  und  den  Schatz  ihrer  Mythen  und 
Erzählungen  vorlegt.  Infolge  dieses  dichterischen  Gefühlstones 
sind  freilich  seine  Ausführungen  nicht  immer  so  streng  wissenschaft- 
lich, wie  man  es  wünschen  möchte.  Über  diese  nördlichsten  Eskimo 
gab  es  außer  den  Bemerkungen  der  Polarfahrer  und  A.  Kroebers 
ethnologischen  Studien,  die  er  an  sechs  von  Peary  nach  New 
York  gebrachten  Eskimo  anstellte^,  keine  ausführlichen  Nach- 
richten. Sie  werden  aber  durch  Rasmussens  Tätigkeit  —  er 
hat  seit  den  Forschungen,  auf  denen  dieses  Buch  beruht,  schon 
zwei  weitere  Expeditionen  dorthin  unternommen  —  wohl  bald 
zu  den  best  bekannten  gehören.  Für  die  Religion  sind  vor 
allem  die  Mythen  und  Erzählungen  wichtig,  die  über  Tabu- 
gebräuche, Macht  der  Schamanen  u.  dergl.  mehr  aufklären  und 
—  ebenso  wie  die  Religion  überhaupt  —  mit  denen  der  zen- 
tralen Eskimo  vielfach  übereinstimmen.  Die  übrigen  Kapitel 
enthalten  allenthalben  kurze  Bemerkungen  über  Religion  und 
Schilderungen  mythischer  Denkweise  im  täglichen  Leben.  Be- 
sonders eigenartig  und  ergiebig  ist  aber  das  Kapitel  über  Amu- 
lette (S.  138  f)  und  Zaubersprüche  (S.  140  f).  Im  ersteren  Fall 
handelt  es  sich  um  eine  Menge  durchsichtiger  Tatsachen  von 
Analogiezauber.  Ein  Stückchen  eines  Herdsteins  in  die  Kleider 
genäht  gibt  langes  Leben  und  Stärke  im  Unglück,  da  es 
Generationen  hindurch  dem  Feuer  widerstanden  hat.  Frauen, 
die  den  Kopf  eines  Kittiwake  ins  Kleid  nähen,  gebären  nicht 
zu  große  Kinder,  da  der  Vogel  nur  kleine  Eier  legt  usw.  Die 
Zauberformeln,  von  denen  Rasmussen  sieben  anführt,  sind  alt  und 
feststehend  und  dienen  gegen  Krankheit,  Gefahr  und  Mißerfolg 
beim  Fang,  doch  dürfen  sie  nicht  mißbraucht  werden,  sonst 
verlieren  sie  ihre  Kraft.  So  sagt  man,  um  beim  Beschleichen 
eines  Seehunds  nicht  gesehen  zu  werden:  „Laß  mich  ver- 
schwinden zwischen  der  Erde  und  dem  Gletscher."  —  Auch 
von  den  West-  und  Ostgrönländern,  bei  denen  sich  Rasmussen 

*  The  Eskimo  of  Smith  Sund,  Bull.  Amer.  Museum  of  Nat.  Hist., 
New  York  XII  1900  S.  266—327. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  221 

vorher  und  nachher  aufgehalten  hat,   enthält  das  Werk   u.  a. 
religiös  brauchbare  Erzählungen. 

Indianer  der  Nordwestküste.  John  R.  Swanton, 
einer  der  scharfsinnigsten  und  unermüdlichsten  amerikanischen 
Beobachter,  hat  uns  in  seiner  Abhandlung  Sozial  Conditio n, 
Beliefs  and  Linguistic  Relationship  of  the  Tlingit 
Indians^  namentlich  eine  Fülle  intimer  religiöser  Tatsachen 
beschert,  teils  unmittelbare  Beobachtungen  und  Erkundigungen, 
teils  eine  Zusammenfassung  aus  den  Texten,  die  anderswo 
veröffentlicht  werden  sollen.  Das  Material  ist  von  ihm  inner- 
halb von  3  Monaten  zusammengebracht  worden. 

Wenn  die  Tlingit  auch  eine  Unmenge  allenthalben  wirkender 
Geister  haben,  die  der  Verfasser,  wie  ich  an  anderer  Stelle  erwähnte*, 
zu  der  indianischen  Auffassung  einer  unpersönlich  übernatürlichen 
Kollektivmacht  verdichten  zu  können  glaubt,  so  treten  uns  doch 
wieder  die  persönlichen  Wirkungen  in  großen  und  kleinen 
Naturobjekten,  besonders  auch  in  Tieren  als  dämonenschatfend 
entgegen.  So  bildet  diese  Abhandlung  lediglich  durch  An- 
führung von  Tatsachen  geradezu  ein  Schulbeispiel  von  dem 
extremen  Eindringen  der  Religion  in  alle  Lebensverhältnisse 
und  in  alles  Tun.  Nicht  nur  Sonne,  Mond,  den  Wind,  die 
See,  Berge,  Gletscher,  heiße  Quellen  usw.  bittet  man  um  Glück 
und  beeinflußt  man  durch  Anrede  in  ihren  spezifischen  Wirkungen, 
sondern  man  spricht  auch  den  Baum  an,  den  man  fällt,  ja 
sogar  Angelhaken  und  Leinen  für  den  Heilbuttfang,  indem  man 
sie  Schwager  und  Schwiegervater  nennt.  Uriniert  man  in 
irgend  einen  See  oder  Sumpf,  so  machen  die  Geister  einen 
schwach,  und  nur  durch  Hineinwerfen  eines  aufgeschnittenen 
Hundes  kann  man  wieder  gesund  werden.  Adler,  Kormoran, 
Grislybär,  Landotter,  Wolf,  Walfisch,  Frosch  usw.,  aber  auch 


*  26ih  Eep.  Bureau  of  Ethnol.,  Washington  1908   S.  391  —  486. 

*  Im  Anschluß  an  die  Ausführungen  von  Clodd  in  dem  allgemeinen 
Bericht  Archiv  XIII  S.  430. 


222  K.  Th.  Preuß 

Käfer,  Fliegen,  Muscheln  haben  ihre  mehr  oder  weniger  starken 
spezifischen  Kräfte,  die  durch  Ansprache  usw.  beeinflußt  werden 
können.  Eßbare  Muscheln  z.  B.  können  einen  krank  machen, 
aber  durch  Ansprache  verhindert  man  das.  Der  getötete  Grisly- 
bär wird  ganz  besonders  als  Freund  angeredet  und  behandelt, 
damit  seine  Bärengenossen  den  Jäger  nicht  töten.  Viele  Tiere 
gewähren  Glück  auf  der  Jagd.  Swanton  spricht  es  klar  aus,  daß 
alle  Wappentiere  der  Geschlechter  solche  Kräfte  besitzen,  wes- 
halb wohl  auch  die  Namen  der  Kinder  von  ihnen  genommen 
werden.  Wie  bekannt,  sind  alle  diese  Totemtiere  durch  irgend 
eine  Beziehung  zu  einem  Ahnen  zu  ihrer  Stellung  gekommen, 
aber  hier  sind  sie  bezeichnenderweise  meist  zu  einem  Ahnen, 
der  Schamane  war,  in  Beziehung  getreten.  Ein  Übergang  dazu 
scheint  die  Sitte  zu  sein,  einen  Gegenstand  (?),  den  jemand  sah, 
und  der  einem  dann  Glück  brachte,  vorn  an  die  Hauswand 
zu  malen.  Der  zauberische  Einfluß  von  Tierschnitzereien  z.  B. 
an  Angelhaken  wird  hervorgehoben.  Früher  habe  man  alle 
Schnitzereien,  die  irgendwie  einem  menschlichen  Wesen  ähnelten, 
angeredet. 

Der  Schamanismus  erreicht  bei  den  Tlingit  seinen 
Höhepunkt.  Jeder  Schamane  hat  eine  Menge  von  helfenden 
Dämonen  und  viele  Masken,  von  denen  jede  neben  einem 
Hauptdämon  noch  einen  oder  mehrere  Helfershelfer  dar- 
stellt. Solche  dämonischen  Darstellungen  um  die  Augen  der 
Maske  verleihen  z.  B  Schärfe  des  Blicks  und  befähigen 
zur  Entdeckung  feindlicher  Dämonen.  Besonders  geeignet  ist 
zur  Stärkung  solcher  Eigenschaften  der  Holzwurm,  dessen 
Fähigheit,  sich  ins  Holz  zu  bohren,  seine  Kraft  nach  jeder 
Richtung  augenscheinlich  macht.  Andere  Dämonen  stärken 
die  Rassel  des  Schamanen.  Adlerklauen,  gespaltene  Tierzungen 
und  vieles  andere  wird  zu  Schamanen  -  Zauberbündeln  ver- 
einigt. Außer  der  Heilung  von  Krankheiten,  die  meist  einer 
Behexung  zugeschrieben  wurden,  hatte  der  Schamane  auch  bei 
der  Gewinnung  der  Nahrungsmittel  und   im  Kriege   zu  helfen, 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  223 

wo  ganze  Dämonenscharen  auf  ihr  Gebot  gegeneinander  kämpften. 
Die  Krieger  mußten  sich  von  Weibern  fernhalten  und  durften 
sie  nicht  sehen.  Man  machte  Figuren  von  den  Feinden  aus 
Holz,  tötete  sie  und  band  sie  als  Gefangene  zusammen.  Solche 
Figuren  hatten  sowohl  die  Krieger  wie  ihre  Frauen.  Bei  der 
Abfahrt  brachten  letztere  ihre  Figuren  den  Männern,  die  ihnen 
dafür  die  eigenen  zuwarfen.  Fing  nun  eine  Frau  die  Gestalt 
nicht,  so  war  es  ein  Zeichen,  daß  ihr  Mann  fallen  würde.  Die 
zurückbleibenden  Frauen  trieben  Analogiezauber.  Ein  langes 
Brett  war  das  Kanu,  in  dem  die  Frauen  angeblich  saßen. 
Würde  die  Schüssel,  aus  der  alle  gemeinschaftlich  aßen,  um- 
stürzen, so  täte  dasselbe  das  Kanu  ihrer  Männer.  Zahlreich 
sind  auch  die  „Medizinen"  für  alle  möglichen  Fälle,  für  die 
Jagd,  für  die  Erlangung  von  Reichtum,  von  Liebe,  von  An- 
sehen, ja  auch  für  die  Gabe  der  Unterhaltung.  Eine  besondere 
Erklärung  haben  die  Tlingit  für  die  Geschenkfeste  (potlatch), 
die  dadurch  dem  Verständnis  überhaupt  näher  gebracht  werden. 
Solche  potlaches  bei  der  Errichtung  von  Häusern  oder  Grab- 
pfosten, bei  der  Einführung  in  die  Geheimgesellschaft  waren 
um  der  Toten  willen  da.  Bei  jeder  Decke,  die  man  weg- 
schenkte, wurde  der  Name  eines  Toten  genannt,  und  die  Decke 
kam  ihm  zugleich  zugute,  ebenso  jede  ins  Feuer  geworfene 
Gabe.  Die  Toten  wurden  bei  den  Festen  gegenwärtig  gedacht. 
Gesänge  zum  Gedächtnis  der  Toten  waren  daher  an  diesen 
Festen  sehr  zahlreich  Bei  den  Haida  dagegen  findet  sich  diese 
Beziehung  der  Potlaches  auf  die  Toten  überhaupt  nicht.  Die 
Sitte  ^der  Geheimgesellschaft  stammt  aus  dem  Süden  und  hat 
wenig  Bedeutung. 

Während  eines  zehnmonatigen  Aufenthaltes  auf  den  Königin 
Charlotte-Inseln  1900/01  hat  J.  R.  Swanton  ein  umfangreiches, 
ungemein  eindringendes  Material  zusammengebracht,  das  er  in 
drei  Werken  veröffentlicht  hat  und  das  die  Grundlage  und  auch 
wohl  den  Abschluß  für  die  Untersuchungen  über  die  Haida 
bilden  wird:   1.  Contributions   to   the  Ethnology   of  the 


224  K.  Th.  Preuß 

Haida*,  2,  Haida  Texts  —  Masset  Dialect^,  3.  Haida 
Texts  and  Myths,  Skidegate  Dialect.^  Wir  haben  nur 
das  erste  Werk  zu  betrachten,  das  besonders  die  religiösen  An- 
schauungen und  die  soziale  Organisation  mit  ihren  totemistischen 
Abzeichen  enthält.  Hier  ist  dankenswerterweise  auch  manches 
von  dem  Inhalt  der  Mythen  verarbeitet.  Swanton  unterscheidet 
1.  Wesen  der  oberen  Welt,  2.  Seewesen,  3.  Landwesen  und 
4.  Gottheiten  als  Patrone  menschlicher  Tätigkeiten.  Die 
Götter  der  oberen  Welt,  Sonne,  Mond,  Sterne,  Donnervogel, 
Winde  usw.  nehmen  wenig  Raum  in  dem  religiösen  Leben 
ein.  Auch  der  oberste  Gott  Power -of-the-Shining-Heavens, 
zu  dem  man  wegen  Krankheit  betete,  ist  nicht  populär.  Die 
übernatürlichen  Seewesen,  das  Volk  des  Ozeans,  scheint  von 
den  Seetieren  unterschieden  zu  werden,  obwohl  jedes  Tier  die 
Verkörperung  eines  solchen  übernatürlichen  Wesens  sein  kann. 
Jedoch  gibt  es  entsprechend  den  Tiergattungen  u.  a.  Völker 
von  Heringen,  Lachsen,  Fischen,  Schwarzwalen  und  besonders 
von  Schwertwalen,  die  alle  unten  auf  dem  Grunde  ihre  Städte 
haben  und  oft  wie  Menschen  erscheinen.  Sie  erhalten  als 
Opfergabe  Tabak,  Fett  u.  dergl.,  indem  man  sie  um  guten  ^ang 
bittet  Unter  den  Landwesen  nehmen  die  an  den  Mündungen 
der  Flüsse  wohnenden  „Frauen"  eine  hervorragende  Stelle  ein, 
die  die  Ergänzung  zu  den  immer  als  männlich  betrachteten 
Wesen  des  Ozeans  zu  sein  scheinen.  Entsprechend  der 
doppelten  Natur  der  Seetiere  gibt  es  ein  übernatürliches  Volk 
von  Grislybären,  schwarzen  Bären,  Wieseln,  Landottern,  Adlern, 
Kaben  usw.,  die  alle  den  Menschen  helfen  oder  schaden  können. 
Das  Käuzchen  wird  um  trockenes  Wetter  angerufen,  indem 
man  Tabak  ins  Feuer  wirft.  Auch  Bäume,  Büsche,  Stöcke, 
Steine   haben   ihre    Geistwesen.      Die    interessante  Gruppe    der 


'  The  Jesup  North  Pacific  Exp.  V  S.  1—300.     Leiden  1905. 
*  A.  a.  0.  X   S.  271—812.     Leiden    1908. 

'  Bulletin  29.     Smithsonian  Inst.  Bur.  of  Am.  Ethn.,  Washington 
1906.     448  S. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  225 

Patrongottheiten  (vgl.  Sondergötter)  hat  keine  Beziehung  zu 
natürlichen  Erscheinungen.  So  gewährte  die  „Eigentumsfrau'' 
Reichtum,  wenn  man  sie  sah.  Von  den  beiden  „die  Singer" 
genannten  Schwestern  lernte  man  Gesänge.  Es  gibt  einen 
Dämon  der  Pestilenz  oder  der  Pocken,  einen  des  gewaltsamen 
Todes,  einen  weiblichen  der  Klage,  von  dem  man  auch  die 
Trauergesänge  und  die  Trauerkleidung  lernte,  einen  Dämon 
des  Diebstahls,  der  die  Menschen  dazu  verleitet,  usw. 

Schamanen  wirken  durch  die  sie  in  Besitz  nehmenden 
Geister  der  genannten  Klassen,  doch  vererbt  sich  das  Schamanen- 
tum,  und  zwar  meist  vom  Onkel  auf  den  Neffen,  dem  er  vor 
seinem  Tode  seine  Geister  offenbart.  Die  Geister  suchen  auch 
öfter  einen  durch  lange  Enthaltung  von  Nahrung  rein  Ge- 
wordenen, um  in  ihn  einzufahren.  Aber  auch  jeder  Nicht- 
schamane  kann  seine  physische  Kraft  vermehren,  Reichtum 
erwerben  und  Erfolg  aller  Art,  z.  B.  beim  Fischfang,  im  Kriege 
und  auf  der  Jagd  erlangen,  wenn  er  sich  der  Nahrung  und 
seiner  Frau  enthält,  in  der  See  badet,  Schwitzbäder  ge- 
braucht usw.  Für  Krankenheilungen  wird  ebenfalls  nicht  nur 
der  Schamane  gebraucht,  sondern  eine  Menge  von  seltsamen 
Medizinen,  z.  B.  Wurzeln,  Muscheln,  Rinde,  stagnierendes 
Wasser  u.  dergl.,  die  unter  bestimmten  Vorschriften  herein- 
gebracht, zusammen  gekocht  und  getrunken  werden.  Ein 
wirklicher  Heilwert  ist  also  nicht  vorhanden.  Ebenso  gibt  es 
Medizinen  für  die  Schnitzkunst,  für  das  Tanzen,  für  den  Er- 
werb von  Eigentum.  Manche  Medizinen  sind  im  Besitz  be- 
stimmter Famüien,  z.  B.  ein  Liebeszauber,  ein  Mittel  jemanden 
zum  Häuptling  zu  machen  usw.,  und  dürfen  nicht  nachgemacht 
werden. 

Die  Schwangere  hatte  sich  bestimmter  Speisen  zu  ent- 
halten, sonst  würde  das  Kind  bestimmte  Fehler  bekommen. 
Sie  darf  nichts  Häßliches  sehen,  weil  es  auf  das  Kind  über- 
gehen würde.  Ebenso  müssen  die  anderen  Personen  im  Hause 
bestimmte  Rücksichten  auf  das  kommende  Kind  nehmen.    Ein 

Archir  f.  ReligionswissenBchaft  XIV  15 


226  K.  Th.  Preuß 

Mädclien  zurzeit  der  Pubertät  hat  übernatürliche  Kräfte,  wird 
lange  Zeit  (bis  fünf  Jahre)  abgesondert  gehalten  und  hat  be- 
stimmte Vorschriften  zu  erfüllen,  namentlich  in  bezug  auf 
Diät,  um  keinen  Schaden  zu  erleiden.  Von  den  Kriegssitten 
ist  bemerkenswert,  daß  die  Frauen  unter  anderen  zeremoniellen 
Handlungen  fasteten  und  in  der  Idee  eines  Analogiezaubers 
über  ihre  Kinder  herfielen  und  sie  scheinbar  zu  Sklaven 
machten,  um  das  gleiche  ihren  Gatten  zu  erleichtern.  Auch 
die  Krieger  hatten  bestimmte  Diät  zu  beobachten.  Ein 
Schamane  ging  mit  jedem  Zuge  mit,  hatte  besonders  die 
Seelen  der  Feinde  zu  töten  und  traf  nach  seinen  Beschwörungen 
allgemein  gültige  Anordnungen.  Jäger  und  Fischer  unter- 
standen ebenfalls  bestimmten  Vorschriften. 

Granz  besonders  wichtig  sind  Swantons  Untersuchungen 
über  die  Clan-  und  Familienabzeichen,  die  teils  Tiere,  teils 
Naturerscheinungen  darstellen  und  auf  den  Hauspfeilern, 
Totemsäulen,  Kanus,  Rudern,  Schüsseln,  Löffelstielen,  Masken, 
Rasseln  usw.  geschnitzt  und  gemalt  sind.  Auch  die  Gesichts- 
bemalungen  zeigen  diese  Embleme.  Swanton  hat  nun  genau  die 
Geschichte  der  einzelnen  Familien  bis  zu  dem  gemeinsamen 
mythischen  Ursprung  in  einer  der  beiden  streng  exogamischen 
Clans  verfolgt,  aus  denen  die  Haida  zusammengesetzt  sind, 
und  ebenso,  soweit  möglich,  den  Ursprung  und  die  Verteilung 
der  Abzeichen.  Das  Ergebnis  ist,  daß  die  Abzeichen,  da  sie 
auf  die  vorhin  skizzierten  übernatürlichen  Wesen  zurückgeben, 
religiöser  Natur,  etwa  in  der  Art  wie  die  persönlichen  Schutz- 
geister, sind,  daß  sie  aber  keineswegs  selbst  Ahnherren  dar- 
stellen, sondern,  wie  einige  Beispiele  zeigen,  durch  ein  banales 
Ereignis,  in  dem  das  Tier  usw.  eine  Rolle  spielt,  in  den  Be- 
sitz der  Familien  gekommen  sind.  Für  das  Verständnis  der 
Exogamie  aber,  die  uns  wegen  ihres  wohl  zweifellos  religiösen 
Ursprunges  hier  auch  interessieren  muß,  ist  es  weiter  von 
Belang,  daß  Swanton  zu  dem  Schluß  kommt,  der  Rabenclan  seien 
die     eigentlichen    Haida,     der    Adlerclan    die     später    Hinzu- 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  227 

crekommenen.  Noch  heute  verhalten  sich  die  beiden  oft  wie 
Feinde,  indem  es  z.  B.  Mann  und  Frau  nicht  darauf  ankommt, 
einander  im  Interesse  ihres  Clans  zu  verraten.  Beide  Clans 
haben  auch,  wenigstens  in  der  Theorie,  ganz  verschiedene  Ab- 
zeichen und  ebenso  verschiedene  Götter  bzw.  Dämonen,  die 
noch  heute  deshalb  als  Raben  bzw.  Adler  unterschieden 
werden.  Der  Rabenclan  hat  als  Hauptabzeichen  den  zauber- 
mächtigen Schwertwal,  der  Adlerclan  den  Adler. 

Selish.  Im  weiteren  Verfolg  der  Jesup-Expedition  sind 
wiederum  zwei  Selishstämme  von  James  Teit  untersucht 
worden.  Zunächst  sei  das  Werk  „The  Lillooet  Indians''* 
erwähnt. 

Seine  Darstellung  der  Lilluet,  die  etwas  westlich  vom 
mittleren  Fräser  wohnen  und  zum  Teil  über  ihn  hinwegreichen, 
ist  ein  sehr  erfreuliches  Werk,  da  es  uns  sehr  vieles  mitteilt, 
was  heute  vollständig  verschwunden  ist.  Heute  sind  die  Ein- 
wohner Christen,  und  in  ihren  Dörfern  befinden  sich  Kirchen; 
ihre  Kleider  und  ihre  Häuser  sind  nach  der  Art  der  Weißen 
gemacht,  die  Schamanen  verrichten  nicht  mehr  ihr  Werk,  und 
die  Feste  werden  nicht  mehr  gefeiert.  Was  wir  also  über  die 
Indianer  erfahren,  wird  meist  nach  Tradition  berichtet  Trotz- 
dem sind  die  Nachrichten  verhältnismäßig  reichlich  und  sicher 
selbst  über  Dinge,  die  20  Jahre  und  mehr  zurückliegen. 
1858  kamen  die  weißen  Minensucher  und  Priester  an.  Um 
1830  soll  schon  der  Ausdruck  chief  above  zur  Bezeichnung 
der  Gottheit  gebraucht  und  eine  Art  Sonntag  mit  Abhaltung 
von  Tänzen  gefeiert  worden  sein.  Man  möchte  gern  wissen, 
wie,  wann  und  wo  der  Verfasser  seine  Auskünfte  erlangt  hat. 
Mit  den  Eingeborenen  scheint  er  in  ihrer  Sprache  verkehrt  zu 
haben,  da  er  der  nahverwandten  Sprache  der  Thompsonindianer 
vollkommen  mächtig  ist.  Außerdem  ist  unter  den  Lilluet  der 
Tschinukjargon  sehr  verbreitet.     Texte  scheint  er  jedoch  nicht 

'  The  Jemp  North  Pacific  Expedition  II,  S.  193  —  300.    Leiden,  1906. 

15* 


228  K.  Th.  Preuß 

aufgenommen  zu  haben,  die  aufgeschriebenen  Mythen  sollen 
an  anderer  Stelle  veröffentlicht  werden.    Auch  Sprachliches  fehlt. 

Vieles  entspricht  den  Verhältnissen  bei  den  benachbarten 
Thompsonindianern.  Ursprünglich  scheint  jedes  Dorf  nur  An- 
gehörige eines  einzigen  Clans  enthalten  zu  haben.  Jeder  Clan 
gebrauchte  eine  Maske,  die  den  mythischen  Urahn  darstellte 
oder  auf  sein  Leben  Bezug  hatte.  Alle  diese  Verhältnisse 
scheinen  von  den  Küstenselish  übernommen  zu  sein,  die  sie 
ihrerseits  von  N.  empfangen  haben  mögen.  Besondere  Auf- 
merksamkeit beanspruchten  auch  bei  diesem  Selishstamm  die 
einschneidenden  Verhaltungsmaßregeln  für  die  Eltern  vor  und 
nach  der  Geburt  eines  Kindes  und  für  die  Kinder  zur  Zeit  der 
Pubertät.  Alle  diese  Vorschriften  beziehen  sich  auf  das  Wohl 
und  die  Fähigkeiten  der  Kinder.  Die  jungen  Leute  machen 
sich  z.  B.  lange  Einschnitte  am  Körper,  angeblich,  um  das 
schlechte  Blut  herauszulassen.  Auf  dem  Grabe  wurden  ein 
paar  Sklaven  des  verstorbenen  Besitzers  getötet.  Unter  den 
religiösen  Zauberhandlungen  ist  z.  B.  die  Beeinflussung  des 
Wetters  durch  das  Verbrennen  des  Felles  von  Tieren  inter- 
essant, die  das  Wetter  beherrschen.  So  wird  z.  B.  die  Kälte 
durch  den  Coyote  und  den  Hasen,  der  Schnee  durch  die  Berg- 
ziege u.  dergl.  m.  hervorgerufen.  Besondere  Tänze  wurden  ab- 
gehalten, wenn  jemand  eine  Offenbarung  vom  Herrn  des  Geister- 
reiches im  Westen  erhielt.  Solche  Tänze  waren  in  diesem  und 
jenem  Leben  äußerst  nützlich.  Es  gab  ferner  Maskentänze  der 
persönlichen  Schutzgeister,  die  erwähnten  Clantänze  und  Spuren 
der  Winterzeremonien  der  Kwakiutl-  und  Nutkastämme.  Leider 
erfahren  wir  von  den  Festgesängen  nichts.  Hat  sich  nichts 
davon  erhalten?    Masken  gebrauchten  auch  die  Schamanen. 

Den  Schluß  bildet  eine  von  Boas  geschriebene  Ergänzung 
aus  der  kurz  vorher  erschienenen  Arbeit  von  Hill-Tout, 
The  Stlatlum^,  worunter  die  oberen  Lilluet  zu  verstehen  sind. 

*  The  Journal  of  the  Änthropological  Institute  of  Great  Britain 
and  Ireland  1905,  Bd  XXXV,  S.  126—218. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  229 

James  Teit  berichtet  in  derselben  gründlichen  Weise 
noch  über  seine  Forschungen  bei  einem  andern  Selishstamm 
den  Nachbarn  der  Lilluet,  in  dem  Werke  The  Shuswap,'  Über 
ihren  gegenwärtigen  Zustand  und  die  Art,  wie  die  Forschungen 
zustande  gekommen  sind,  ist  dasselbe  zu  sagen  wie  über  die 
Lilluet.  Es  folgen  hier  jedoch  eine  große  Anzahl  Mythen- 
In  den  religiösen  Sitten  schließen  sich  die  Shuswap  viellach 
an  die  Thompson -Indianer  und  Lilluet  an.  Da  sind  zunächst 
die  Pubertätsgebräuche.  Die  Mädchen  gingen  zur  Puber- 
tätszeit, wo  sie  als  „mystery"  galten ,  in  der  Nacht  umher 
und  übten  sich  in  der  Stählung  ihrer  Kräfte.  Dasselbe  taten 
die  Jünglinge,  um  einen  Manitu  zu  bekommen.  Sie  riefen 
die  Dämmerung,  andere  Gruppen  jedoch  fast  nur  Tiere,  Waffen 
und  andere  Objekte  an.  Was  sie  im  Traume  schauten,  malten 
sie  auf  Felsen,  um  dadurch  ihren  Manitu  schneller  zu  erlangen 
oder  andere  Wünsche  erfüllt  zu  sehen.  Das  ist  zur  Erklärung 
der  so  weit  verbreiteten  Felszeichnungen  höchst  wichtig. 
Auch  gelten  alle  Felsinschriften  als  zauber kräftig.  Um  Erfolg 
in  besonderen  „Berufen"  als  Schamane,  Spieler,  Krieger  zu 
erlangen,  bevorzugten  sie  besondere  Übungen.  Z.  B.  schnitten 
sich  die  angehenden  Spieler  in  die  Zungenspitze  und  schluckten 
das  Blut,  um  Glück  zu  erlangen.  Der  Erfolg  dieser  Übungen 
war  dann  aber  auch  der,  daß  jeder  einzelne  mehr  oder  weniger 
zauberkräftig  war,  ein  Zustand,  den  wir  überhaupt  für  die 
Primitiven  als  Norm  annehmen  müssen. 

Schutzgeister  waren  besonders  Hund,  Coyote,  Grislybär, 
^Volf,  Adler,  Fuchs,  weißes  und  geflecktes  Pferd,  Otter,  Biber 
usw.,  Wasser,  Feuer,  Regen,  Blut,  Donner,  Tabak,  Tabaks- 
pfeife, Waffen  aller  Art  usw.,  Menschenfresser,  Toter,  Hungers- 
not, Skalp,  Mann,  Frau,  Knabe  usw.  Manche  hatten  mehrere 
von  diesen  Geistern,  die  wiederum  für  bestimmte  Berufe  mehr 
oder  weniger  geeignet  waren.     Wer  den  Schwan  als  Schützer 


*  The  Jesup  North  Pac.  Exp.  II,  7.  Leiden  1909  S.  443-813.  8". 


230  K.  Th.  Preuß 

hatte,  konnte  z.  B.  Schneefall  hervorrufen,  indem  er  mit 
Schwanenflaumfedern  auf  dem  Kopf  tanzte.  Sehr  bemerkens- 
wert ist  nun,  daß  die  Schützer  im  Traume  eine  bestimmte 
Bemalung,  Haartracht,  Kleidung,  Kopfbedeckung  oder  irgend- 
einen Schmuck  zu  tragen  anordneten,  oder  eine  bestimmte 
Diät  vorschrieben,  um  einen  bestimmten  Erfolg  zu  erlangen. 
Im  allgemeinen  repräsentierten  Teile  eines  Tieres,  die  man  an 
sich  trug,  z.  B.  Herz,  Huf,  Knochen,  Haar,  Schwanz  usw. 
den  ganzen  Schutzgeist,  konnten  aber  auch  für  sich  allein  ein 
selbständiger  Schutzgeist  sein.  Zu  diesen  selbständigen  Geistern 
gehörte  besonders  das  Blut.  Den  Menschenfressergeist  hatten 
nur  Schamanen,  die  sich  dann  als  solche,  z.  B.  Leichen  fressend 
und  überhaupt  wie  Verrückte  benahmen.  Einmal  im  Winter 
kamen  alle  zusammen,  und  jeder  sang  seinen  Schutzgeist- Gesang. 
Ganz  den  theoretisch  begründeten  Totengebräuchen  der  Zentral- 
eskimo (s.  oben  S.  217ff.)  entspricht  es,  daß  Trauernde  kein  frisches 
Fleisch  essen  durften,  sonst  haben  ihre  Landsleute  keinen  Erfolg 
im  Fang.  Mannigfach  waren  die  Wetterbeeinflussungen  zur 
Erlangung  von  Regen,  mildem  Wetter  oder  Kälte.  So  ver- 
ursachten die  Bergschafe,  wenn  man  sie  jagte,  kalten  Wind, 
Schnee  und  Nebel.  Dann  mußte  man  den  Schwanz  eines  Mutter- 
schafes —  bei  Widdern  war  das  Verfahren  etwas  anders  — 
im  Feuer  versengen  und  gegen  die  Sonne  richten,  dabei  zugleich 
um  gutes  Wetter  und  Sonnenschein  bitten.  Jagdtiere  wurden 
mit  Achtung  behandelt,  um  Glück  in  der  Jagd  zu  erlangen, 
der  erlegte  Bär  wurde  besungen  und  um  Hilfe  bei  der  Jagd  gebeten. 
Auch  hier  wurden  wie  bei  den  Lilluet  Tänze  auf  Botschaften 
vom  Geisterlande  hin  unternommen,  namentlich  zur  Zeit  der 
Winter-  und  Sommersonnenwende.  Diese  waren  vom  Oberhaupt 
des  Totenreiches,  dem  „Alten"  angeordnet,  um  die  Verbindung 
mit  den  Toten  aufrecht  zu  erhalten  und  ihnen  den  Aufenthalt 
dort  angenehmer  zu  gestalten. 

Im  westlichen  Teil  des  Stammes   gab   es  erbliche  Totem- 
gruppen  für  die  erste  Rangklasse,  die  Vornehmen,  und  eine  Menge 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  231 

von  nicht  erblichen  Gesellschaften  für  die  zweite  Rangklasse, 
das  gewöhnliche  Volk.  In  letztere  konnte  jeder  nach  kurzen 
Vorbereitungen  und  Fasten  eintreten,  aber  auch  die  Gründer 
der  Totemgruppen  unter  den  Vornehmen  scheinen  ihre  Totem- 
abzeichen  durch  eine  Art  Einweihung  wie  in  eine  geheime 
Gesellschaft  erlangt  zu  haben.  Solcher  Gesellschaften  des 
gewöhnlichen  Volkes  gab  es  eine  ganze  Menge,  die  je  einen 
Schützer,  meist  ein  Tier,  besaßen.  Unter  diesen  Schützern 
befanden  sich  wiederum  u.  a.  Menschenfresser,  Leichnam, 
Hungersnot,  Wind,  Regen,  Schnee  usw.  In  den  Tänzen  wurden 
die  Tiere  und  sonstigen  Dämonen  öfters  dargestellt,  zuweilen 
durch  Anwendung  von  Masken.  Im  Hundetanz  wurde  ein  Hund 
von  einem  in  Wolfsfell  gekleideten  Mann  lebendig  zerrissen  und 
gefressen.  Doch  'sind  die  Nachrichten  leider  mager.  Einfluß 
von  den  Küstenstämmen  im  letzten  Grunde  ist  wohl  zweifellos. 

Takelma  Indianer.  Enge  kulturverwandt  mit  den  nord- 
kalifornischen Stämmen  sind  die  Takelmaindianer,  die  im  süd- 
westlichen Teile  von  Oregon  saßen,  und  von  deren  spärlichen 
Resten  in  der  Siletz- Reservation  im  nordwestlichen  Oregon 
Edward  Sapir  sehr  bemerkenswerte  Angaben  über  ihre  Reli- 
gion veröffentlicht  hat  in  der  Abhandlung  Religious  Ideas 
of  the  Takelma  Indians  of  Southwestern  Oregon.^  Es 
giebt  hier  eine  Unzahl  übernatürlicher  Wesen  ohne  oberste 
Spitze.  Tiere  und  Pflanzen,  Naturphänomene  und  Himmels- 
körper wie  Sonne,  Mond,  Wind,  Schnee,  Regen,  endlich  Felsen, 
Wälder  und  Berge  sind  oder  beherbergen  solche  Wesen;  oder 
diese  oflenbaren  sich  in  den  Naturerscheinungen.  Wie  die 
Maisgöttin  der  Mexikaner  der  Mais  selbst  ist,  so  sind  die 
Eicheln,  das  Hauptnahrungsmittel,  ein  Teil  des  Fleisches  der 
Eichelfrau.  Ein  waschbärartiges  Tier  bringt  durch  Trommeln 
den  Donner  hervor.    Zaubersprüche,  bzw.  Gebetsformeln  können 

'  Journal  of  American  Folklore  XX  S.  33—49.  Boston  and  New 
York  1907. 


232  K.  Th.  Preuß 

die  Geister  beeinflussen.  Sapir  teilt  elf  von  diesen  sehr  inter- 
essanten Sprüchen  in  einheimischer  Sprache  und  Übersetzung 
mit  Erläuterung  mit.  Das  Käuzchen,  das  begierig  nach  Hirsch- 
fleisch erscheint,  und  dessen  Schrei  der  Vorbote  einer  guten 
Hirschjagd  ist,  wird  so  angeredet,  wenn  es  sich  hören  läßt: 
„Willst  du  essen?  Ich  werde  fünf  oder  zehn  Hirsche  fangen 
und  dann  wirst  du  Fett  zu  essen  haben  und  Blut  zu  essen 
haben.  Du  wünschst  zu  essen."  Dadurch  wird  das  gute  Omen 
verstärkt.  Zum  Neumond  sagt  man:  „Möchte  ich  glücklich 
sein  und  noch  eine  Weile  leben.  Selbst  wenn  man  von  mir 
sagt:  'er  starb'  möchte  ich  gerade  wie  du  wieder  aufstehen. 
Ja,  wenn  viele  üble  Wesen  dich  verzehren,  wenn  Frösche 
dich  essen  und  wenn  viele  üble  Wesen  wie  Eidechsen  dich 
aufessen,  so  gehst  du  von  neuem  auf.  Möchte  ich  es  künftig 
gerade  so  machen  wie  du."  Der  Schnee,  der  zwar  die  Hirsche 
von  den  Bergen  scheucht,  sie  aber  den  Menschen  mißgönnt, 
Avird  durch  folgende  listige  Ansprache  zum  Aufhören  gebracht: 
„Treibe  die  Hirsche  hierher,  die  schwarznackigen,  die  hinten 
auf  dem  Berge  wohnen  an  dunkeln  Stellen  unter  den  Bäumen." 
Dann  tut  er  es  nämlich  gerade  nicht  und  hört  auf  zu  fallen. 
Der  Niesende  fürchtet,  daß  ein  Abwesender  seinen  Namen  in 
Verbindung  mit  einem  Übeln  Wunsche  genannt  hat  und  spricht: 
„Wer  nennt  meinen  Namen?  Möchtest  du  von  mir  sagen: 
'mögest  du  gedeihen  und  noch  einen  Tag  vorwärts  schreiten 
(weiterleben)'.  Möchtest  du  gegen  mich  (Luft)  blasen."  Das 
Blasen  am  Anfang  und  Ende  eines  solchen  Wunsches  fördert 
zauberisch  die  Erfüllung. 

Sehr  gefürchtet  und  gehaßt  waren  die  Zauberärzte,  die 
zwar  durch  inhaltlosen  Gesang  und  Saugen  den  „Schmerz'' 
als  Krankheitssubstanz  auffanden  und  entfernten,  auch  zum 
Regenmachen  und  zur  Beendigung  des  Schneefalles  u.  dergl. 
notwendig  waren,  aber  schon  durch  den  bloßen  Willen  einen 
vergiften  konnten  oder  einen  „schössen",  weshalb  sie  gern  ge- 
tötet wurden,  wenn  man  es  zu  tun  wagte.    Männer  und  Frauen 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  233 

konnten  gleichmäßig  Schamanen  werden,  auch  ein  Schamane 
mit  weiblichen  Neigungen  wird  erwähnt.  Diese  hatten  je 
einen  oder  mehrere  Hilfsgeister,  wie  Panther,  Wolf,  Klapper- 
schlange, Sonne,  Mond,  Wind  usw.,  denen  sie  Untertan  waren, 
während  das  Volk  keine  besaß.  Doch  hatte  man  gegen  sie 
Hilfe  von  einer  zweiten  Klasse  von  Zauberärzten,  die  nur 
durch  Singen  und  Reiben  des  leidenden  Körperteils  heilten 
und  ihrerseits  niemanden  vergifteten.  Diese  hatten  als  Schutz- 
geist den  Hühnerhabicht,  die  Eichelfrau,  verschiedene  Berg- 
geister usw.  Sie  gingen  gegen  ihre  Nebenbuhler  vor,  indem 
sie  Mythen  erzählten,  in  denen  den  anderen  Schamanen  durch 
ihre  Schutzgeister,  die  Eichelfrau  usw.  übel  mitgespielt  wurde.^ 
Solche  Schutzgeister  schadeten  ihnen  noch  jetzt  durch  bloßes 
Erzählen.  Auch  konnte  der  gute  Schamane  dem  bösen,  dem 
außer  Krankheit  auch  andere  Übeltaten,  wie  das  Abfallen  der 
unreifen  Eicheln  infolge  eines  Sturmes,  in  die  Schuhe  geschoben 
wurden,  seine  Schutzgeister  für  immer  aus  dem  Munde  aus- 
treiben, indem  er  den  bösen  nackt  neben  das  Feuer  legte  und 
ihn  mit  Asche  bestreute. 

Von  periodischen  Zeremonien  wird  nur  ein  Fest  beim 
ersten  Erscheinen  von  Lachsen  und  Eicheln  im  Frühjahr  er- 
wähnt, an  dem  die  Frauen  nicht  teilnehmen  durften.  Tänze 
fanden  nur  beim  Pubertätsfest  der  Mädchen,  beim  Kriegstanz 
und  den  Riten  der  Schamanen  statt. 

Kalifornische  Indianer.  Roland  B.  Dixon,  dessen 
Darstellung  der  Maidu  uns  im  vorigen  Bericht  beschäftigte, 
hat  seitdem  seine  Untersuchungen  bei  den  zum  Shasta-Sprach- 
stamme  gehörenden  Indianern  veröffentlicht,  darunter  eine  aus- 
führliche Arbeit  über  die  eigentlichen    Shasta:    The    Shasta.* 

*  Hoffentlich  wird  der  einheimische  Text  der  Mythen,  der  auf- 
geschrieben ist,  anderswo  mitgeteilt,  da  hier  nur  die  wörtliche  Über- 
setzung gegeben  ist. 

*  BuUetin  of  the  Amer.  Mus.  of  Xat.  Bist.  XVIl,  p.  381—498. 
New  York  1907. 


234  K.  Th.  Preuß 

Was  darin  über  die  religiösen  Sitten  berichtet  wird,  stammt 
von  den  Beschreibungen  alter  Leute,  da  die  Gebräuche  selbst 
schon  in  Wegfall  gekommen  sind.  Vor  der  Geburt  eines 
Kindes  hat  nicht  nur  die  Mutter  bestimmte  Diät  zu  be- 
obachten, sondern  auch  der  Vater  darf  außer  Hirschen  nichts 
jagen,  sonst  würde  das  Kind  bestimmte  Leiden  und  Fehler 
haben,  z.  B.  Epilepsie  bei  Tötung  eines  Fasans.  Auch  nach 
der  Geburt  muß  er  fünf  Tage  allein  bleiben,  wenig  schlafen, 
schwitzen  usw.,  die  Frau  dagegen  einen  Monat.  Das  Kind 
bleibt  fünf  Tage  in  einem  Korbe  über  dampfendem  Wasser. 
Bei  einer  Totgeburt  macht  der  Vater  Einschnitte  in  seine  Arme, 
beobachtet  auch  die  Vorschriften  strenger  und  länger.  Stirbt 
das  Kind  innerhalb  von  fünf  Tagen  nach  der  Geburt,  so  hat  der 
Vater  sich  zehn  Tage  in  der  Menstruationshütte  seiner  Frau 
aufzuhalten,  muß  nackt  lange  Nachtwanderungen  unternehmen 
und  hört  Stimmen  von  Personen.  Alles  das  geschieht,  um  wieder 
Erfolg  zu  haben.  Auch  sonst  scheint  diese  Methode,  Glück 
zu  erlangen,  befolgt  zu  werden.  Im  Alter  von  10 — 11  Jahren 
werden  Knaben  und  Mädchen  die  Ohren  durchbohrt,  wonach 
sie  fünf  Tage  wenig  schlafen  und  essen  dürfen.  Besonders 
strenge  sind  die  zehn  Tage  währenden  Pubertätszeremonien 
für  das  Mädchen,  das  dazu  eine  besondere  Hütte  bewohnt, 
strenge  Diät  beobachten  muß,  wenig  schlafen  und  zu  niemand 
sprechen  darf  und  über  den  Augen  einen  Federkopfschmuck 
trägt,  so  daß  sie  nicht  aufsehen,  noch  Sonne  und  Mond  schauen 
kann.  Alle  zehn  Nächte  tanzt  das  Mädchen,  öfters  wegen  zu- 
nehmender Schwäche  von  zwei  Männern  unterstützt,  und  eine 
Menge  geladener  Freunde  und  Verwandter  mit  ihr.  Ihr  Ge- 
sicht ist  dabei  stets  —  auch  wenn  sie  in  der  Hütte  sitzt  — 
nach  Osten  gerichtet,  und  am  Mittag  nach  der  zehnten  Nacht, 
wo  der  Tanz  bis  Mittag  fortgesetzt  wird,  wird  ihr  die  Feder- 
maske allmählich  aufgerichtet  und  schließlich  nach  Osten 
geschleudert.  In  dieser  letzten  Nacht  soll  auch,  wie  bei 
den    Maidu,    allgemeine    geschlechtliche   Vermischung    erlaubt 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikaa  1906—1909  235 

sein,  während   sonst   von   der  Frau   unbedingt  Keuschheit  ge- 
fordert wird. 

Die  Seele  geht  nach  Westen  und  dann  über  die  Milch- 
straße nach  Ost€U  zum  Seelenaufenthalt.  —  Besonders  ein- 
gehend sind  die  eigenartigen  Nachrichten  über  die  Schamanen, 
von  denen  die  meisten  Frauen  sind.  Das  Gebiet  der  Shasta 
ist  voll  von  Potenzen  Axeki,  „Schmerzen",  die  im  wesent- 
lichen in  menschlicher  Gestalt  in  Felsen,  Seen,  Stromschnellen, 
in  der  Sonne,  dem  Monde  usw.  wohnen,  oder  Tiere  sind  und 
den  Menschen  Krankheit,  Tod  und  allerhand  Übel  senden. 
Diese  sind  zugleich  die  Helfer  der  Schamanen.  Wer  zum 
Schamanen  bestimmt  ist  —  meist  ist  das  Amt  erblich,  indem 
der  Helfer  erblich  ist  — ,  kann  sich  dem  Rufe  nicht  entziehen. 
Zuerst  kommen  Träume,  dann  erscheint  ihr  ein  Mann,  der  ihr 
zu  singen  gebietet.  Im  Zustande  der  Bewußtlosigkeit  lernt  sie 
den  ihr  vom  Geiste  vorgesungenen  Gesang,  weiß  dann  auch  den 
Namen  des  Helfers  auszusprechen  und  wird  kurz  darauf  von 
ihm  geschossen.  Ein  „Schmerz"  wie  ein  dünner,  an  den 
Enden  spitzer  Eiszapfen  fliegt  in  ihren  Leib,  und  sie  kann 
ihn  dann  beliebig  herausnehmen  und  hereinstecken.  Monate 
später,  wenn  die  vielen  Requisiten  besorgt  sind,  wird  ein  be- 
malter und  mit  Federn  geschmückter  Pfahl  —  oder  bei 
mehreren  Helfern  mehrere  —  errichtet,  an  dessen  Fuß  die  Geräte 
liegen,  der  Helfer  wird  gerufen,  und  nach  dreitägigen  Zere- 
monien ist  der  Schamane  fertig.  Sie  vermag  nun,  alle  „Helfer'', 
die  es  überhaupt  gibt,  zu  sehen,  und  kann  gleich  ihnen  durch 
Schießen  des  ihr  verliehenen  Schmerzes  die  Leute  krank 
machen  und  töten,  ist  aber  auch  in  jeder  Handlung,  in  der 
Diät  und  in  allem  dem  Willen  ihres  Helfers  unterworfen. 
Bei  der  Heilung  erfährt  sie,  während  sie  in  ziemlicher  Ent- 
fernung vom  Hause  des  Kranken  raucht,  von  ihrem  Helfer 
die  Umstände  des  Falles.  Im  Hause  selbst  erweicht  der  Ge- 
sang, der  nur  eine  Wiederholung  der  Worte  des  Helfers  ist, 
den   Schmerz,    und  Saugen  fördert  dann  zuerst  einen  farbigen 


236  K-  Th.  Preuß 

Kloß  und  schließlich  den  „Schmerz"  zutage,  der  in  die  glühende 
Asche  gesteckt  oder,  wenn  er  von  einem  Schamanen  geschossen 
ist,  zerbrochen  wird,  damit  dieser  stirbt.  Bei  vielen  Miß- 
erfolgen wird  die  Schamanenfrau  getötet,  da  sie  ihrem  bösen 
Willen  zugeschrieben  werden.  Besondere  Requisiten  und 
Gaben  verlangen  die  Klapperschlange  und  der  Grislybär  als 
Helfer,  wenn  der  Biß  der  betreffenden  Tiere  geheilt  werden 
soll.  Der  Schamane  ahmt  dann  den  Grislybären  nach  und 
saugt  dessen  Zunge  aus  der  Wunde.  Bei  Augenkrankheiten 
sind  besonders  Sonnen-  und  Sternhelfer  gut,  erstere  auch  bei 
Pfeil-  und  Flintenschußwunden.  Epidemien  entstehen  dadurch, 
daß  irgend  ein  Helfer  sich  selbst  oder  einen  „Schmerz"  im 
Boden  inmitten  des  Dorfes  verborgen  hat  und  von  dort  aus 
die  Leute  krank  macht.  Dann  muß  der  Helfer  des  Schamanen 
selbst  kommen  —  während  er  sonst  durch  den  Schamanen 
wirkt  —  und  den  Verborgenen  ins  Wasser  treiben. 

Außer  diesen  Zeremonien  des  Pubertätsfestes,  den  schama- 
nistischen  Riten  und  dem  Kriegstanz,  der  in  3 — 4  Nächten 
vor  dem  Auszuge  unter  Beobachtung  von  Diät  und  Schilderung 
der  zu  vollbringenden  Taten  stattfand,  gibt  es  keine  Feste 
und  Tänze.  Dagegen  kann  man,  wie  erwähnt,  nackt  auf 
Glück  ausgehen,  oder  durch  Selbstverwundung  u.  dergl.  Erfolg 
erringen.  Gesänge,  die  nur  wenige  kennen,  werden  im  Winter 
in  den  Häusern  zum  Schutz  gegen  Klapperschlangen  und 
Grislybären  gesungen.  Gebete  bzw.  Zauberformeln  helfen  im 
Kriege,  bei  der  Grislyjagd  und  bei  anderen  Gelegenheiten. 
Leider  sind  die  dafür  beigebrachten  Belege  in  ihrem  Sinne 
nicht  ganz  klar. 

Kürzlich  sind  Roland  B.  Dixons  Notes  on  the  Acho- 
mawi  and  Atsugewi  Indians  of  Northern  California'  er- 
schienen, die  ebenfalls  zu  dem  Shasta-Sprachstamm  gehören.  Es 
ist  ersichtlich,  daß  die  religiösen  Sitten  denen  der  Shasta  sehr 


*  American  Anthropologist  X  N.  S.  208—220.     Lancaster  1908. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  237 

ähnlich  sind,  weshalb  ich  nicht  näher  darauf  eingehe.  Hier 
konnten,  wenn  auch  seltener,  Männer,  die  nicht  Schamanen 
waren,  durch  Fasten,  nächtliches  Baden,  Träumen  usw. 
„Schützer"  erlangen.  Es  wäre  namentlich  zu  wünschen,  daß 
man  über  die  „nicht  ungewöhnlichen"  Mannweiber,  also  homo- 
sexuelle  Männer  (berdashes),  etwas  Näheres  erführe.  Sie  sind 
überhaupt  in  älteren  Berichten  über  Nordamerika  häufig  er- 
wähnt, ohne  daß  man  sich  ein  klares  Bild  von  ihnen  in  reli- 
giöser Beziehung  machen  kann.* 

Auch  von  den  Missionsindianem  im  südlichen  Kalifornien, 
die  seit  100  Jahren  unter  christlichem  Einfluß  leben,  haben 
sich  merkwürdigerweise  im  Munde  weniger  alter  Leute  noch 
verhältnismäßig  eingehende  Nachrichten  über  ihre  Religion 
erhalten,  die  Constance  Goddard  Dubois  1906  gesammelt 
hat  und  veröffentlicht:  The  Religion  of  the  Luiseno  In- 
dians  of  Southern  California.*  Diese  Indianer  sprechen 
einen  Shoshoni-Dialekt.  Der  Einfluß  der  katholischen  Kirche 
hat  bis  auf  den  heutigen  Tag  es  gerade  nur  zustande  gebracht, 
diiß  die  alten  Leute  den  Schleier  des  Geheimnisses,  der  über 
dem  alten  Glauben  liegt,  fallen  lassen.  Doch  nicht  mehr  als 
120  Jahre  soll  es  her  sein,  daß  diese  Zeremonien  des  gött- 
lichen Wesens  Chungichnish  von  der  Küste  her  nach  San 
Luis  Rey  kamen.  Zwei  Feste  sind  mit  dieser  Religion  ver- 
bunden, erstens  die  alle  2 — 3  Jahre  stattfindende  Einführung 
von  Knaben  in  den  Chungichnishglauben  vermittelst  des 
Trinkens  der  toloache -Wurzel  und  zweitens  die  Toten- 
zeremonien. Diese  beiden  werden  eingehend  beschrieben,  ohne 
daß  wir  zu  völliger  Klarheit  über  die  Bedeutung  der  interessanten 
Einzelheiten  gelangen.  Seit  50  Jahren  ist  das  erstere  Fest  nicht 
mehr  gefeiert  worden.   Im  Dunkeln  wird  der  Trank  aus  der  Wurzel 


*  Vgl.  Karsch   Uranismus,  Jahrb.   für  sexuelle  Zwischenstufen  III, 
S.  125  f. 

*  Univers,  of  California  Publications  in  Amer.  Ärcfioeol.  and  EthmA. 
VIII,  S.  69—188.     Berkeley  1908. 


238  K.  Tb.  Preuß 

der  bläulich -weißen  toloache- Blume  (jimson-weed,  datura  mete- 
loides)  mit  Wasser  zubereitet,  die  Knaben  knieen  vor  der  heiligen 
Steinschale  und  schlürfen  nacheinander  das  Naß.  Dann  geht  man 
zu  dem  Hauptfestplatz,  wo  die  Tänzer  auf  Händen  und  Knieen 
kriechend  und  die  Laute  von  Vögeln  und  anderen  Tieren:  von 
Habichten,  Eulen,  Raben,  Wieseln  nachahmend,  eintreffen. 
Diese  sind  die  persönlichen  Schutztiere,  wie  Dubois  sehr  wahr- 
scheinlich macht.  Dann  tanzt  man  singend  um  das  Feuer, 
die  Knaben  fallen  infolge  des  Trankes  bald  nieder  und  werden 
zum  früheren  Platz  gebracht.  Vor  dem  Auslöschen  des  ge- 
waltigen Feuers  werden  allerhand  wunderbare  Handlungen 
verrichtet:  man  stellt  sich  z.  B.  in  das  Feuer  hinein,  ohne  daß 
irgend  etwas  von  dem  Federschmuck  usw.  verbrennt.  4 — 5 
Tage  lang  kommen  die  Bewohner  je  eines  anderen  Dorfes  und 
bringen  den  Knaben  Federschmuck  und  die  wunderwirkenden 
Stöcke  und  unterrichten  sie.  Nun  wird  die  Wanawut  („Schnur") 
genannte  Nachbildung  der  Milchstraße,  wohin  nach  dem  Tode 
die  Seelen  gehen,  in  eine  fünf  Fuß  lange  Grube  gelegt,  und 
die  Knaben  müssen  auf  den  drei  runden  flachen  Steinen,  die 
in  einer  Reihe  in  die  Figur  geknüpft  sind,  von  einem  zum 
andern  springen.  Der  Zweck  ist,  sie  dereinst  von  der  Erde 
zu  befreien,  aber  auch,  ihnen  langes  Leben  zu  verleihen.  Es 
folgt  die  Anlage  einer  Zeichnung  aus  farbigem  Sande  aus  drei 
konzentrischen  Kreisen  mit  einem  Loch  in  der  Mitte.  Die 
Methode  solcher  Zeichnungen  erinnert  sofort  an  die  aus- 
gebildeten rituellen  Sandzeichnungen  der  Navaho.  Sie  be- 
deuten die  Welt  mit  der  Milchstraße,  dem  Himmel  und 
„unserem  Geist"  (der  innerste  Kreis).  Außerdem  sind  die  den 
Übertreter  der  Vorschriften  bestrafenden  Tiere,  Pflanzen  und 
Krankheiten  dargestellt.  Ein  Klümpchen  aus  gemahlenem 
Salbeisamen  und  Salz  wird  jedem  Kandidaten  in  den  Mund 
gesteckt,  der  es,  vor  der  Zeichnung  knieend  und  sie  mit  den 
Armen  umfassend,  in  das  Loch  speit,  worauf  die  Zeichnung 
von    außen    nach    innen    zerstört    und    das    Loch   zugeschüttet 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  239 

wird.  Vorher  geht  die  heilige  Unterweisung  in  seinen  Pflichten, 
die  sich  auf  Speisegebräuche,  Verhalten  zu  den  Alten  und 
praktische  Lebensregeln  beziehen.  Den  Ungehorsamen  wird 
Chungichnish  den  Bären,  den  Berglöwen,  die  Klapperschlange 
senden,  sie  zu  beißen,  sowie  stechendes  Unkraut  und  Krank- 
heit. Die  Erde  wird  den  Schuldigen  hören,  Sonne  und  Mond 
ihn  schauen. 

Die  Sandzeichnung  wird  zur  Ausführung  desselben  Ritus 
auch  gebraucht,  wenn  die  Jünglinge  die  Ameisenprobe  durch- 
machen. Hierbei  werden  Ameisen  auf  die  nackten  Körper  der 
auf  dem  Boden  Liegenden  geschüttet  und  später  mit  Xesseln 
herunter  geschlagen.  Das  erinnert  an  die  Ameisenprobe  einiger 
Guayanastämme.  Ein  Wettrennen  der  Jünglinge  folgt,  der 
Sieger  bemalt  einen  Fels.  Endlich  werden  nach  dem  Tode 
eines  solchen  durch  den  toloache- Trunk  Eingeweihten  seine 
Zeremonialobjekte    in  das  Loch  der  Sandzeichnung  vergraben. 

Ganz  anders  war  das  Pubertätsfest  für  die  Mädchen. 
Diesen  wird  ein  Tabakskügelchen  in  den  Mund  gesteckt,  das 
sie  verschlucken  müssen.  Dann  legt  man  das  Mädchen  in 
eine  durch  Feuer  vorher  erwärmte,  mit  geweihten  Zweigen 
ausgelegte  und  mit  Gesträuch  bedeckte  Grube,  in  der  sie  drei 
Tage  und  drei  Nächte  unbeweglich  liegen  bleiben  muß,  während 
in  der  Nacht  die  Männer  und  am  Tage  die  Frauen  singend 
um  die  Grube  herumtanzen.  Dann  wird  sie  herausgenommen, 
und  es  folgt  ein  Wettrennen  der  Frauen  und  Bemalung  eines 
Felsens.  Nach  einem  Monat  der  Enthaltung  von  Fleisch  und 
Salz  wird  die  Zeremonie  der  Sandzeichnung  wie  bei  den 
Knaben  abgehalten. 

Von  Trauerzeremonien  wird  das  Verbrennen  der  Bilder 
erwähnt,  was  nach  Kroeber  (im  Nachtrag)  in  unregelmässigen 
Zeiträumen  vor  sich  geht,  wenn  genügend  Leute  gestorben 
sind.  Figuren  werden  wie  im  Leben  gekleidet,  stellen  (nach 
Kroeber)  die  Toten  dar  und  werden  nach  Gesancr  und  Tanz 
verbrannt.      Als    Signal    schwingt    der    Häuptling    dabei    ein 


240  K.  Th.  Preuß 

Schwirrholz.  Eine  „andere  Form  dieser  Zeremonie'*  ist  das 
Aufrichten  eines  haushohen  Kiefernstammes,  den  man  ver- 
schiedenfarbig bemalte  und  der  den  Toten  darstellte.  Er  wurde 
mit  Körben  auf  der  Spitze  behangen  und  ganz  oben  befand 
sich  ein  Rabenbalg.  Man  erkletterte  ihn  im  Wettstreit.  Um 
ihn  tanzte  man.  Dieses  erinnert  etwas  an  die  mexikanische 
Totenzereraonie  des  Festes  xocotl  uetzi,  wo  ein  Mumienbündel 
oben  auf  der  Stange  angebunden  und  das  Bild  des  Feuergottes 
Xocotl  bzw.  ein  Vogel  auf  der  Spitze  angebracht  war.  Den 
Pfahl  erkletterte  man  und  riß  den  Gott  herab. 

Dubois  hat  auch  eine  Menge  der  bei  den  Zeremonien 
gesungenen  Gesänge  phonographisch  aufgenommen  und  weiß 
deren  Inhalt  zu  erzählen,  so  daß  wir  wohl  hoffen  dürfen,  sie 
bald  in  extenso  in  Text  und  Übersetzung  zu  erhalten.  Es 
folgen  dann  eine  Anzahl  für  die  Religion  wichtiger  Mythen, 
leider  ohne  einheimischen  Text. 

Im  Anhang  gibt  A.  L.  Kroeber  seine  unabhängig  davon 
1904  aufgenommenen  kurzen  Nachrichten  über  die  Luisenos, 
die  bemerkenswerte  Ergänzungen  bringen.  Z.  B.  gibt  "er  eine 
andere  Darstellung  der  Sandzeichnung,  die  Erde  genannt  wird, 
während  das  Loch  in  der  Mitte  der  Nabel  heißt,  der  das  Grab 
vorstellen  soll  als  Drohung  für  eine  Übertretung  der  Gebote 
durch  die  Eingeweihten.  Von  besonderen  Totenzeremonien 
führe  ich  noch  den  Adlertanz  an,  bei  dem  Leute  während  der 
Nacht  abwechselnd  um  das  Feuer  mit  einem  Adler  in  der  Hand 
tanzen,  der  in  der  Gefangenschaft  aufgewachsen  ist.  Des 
Morgens  wird  der  Adler,  der  einen  verstorbenen  Häuptling  vor- 
stellt, durch  einen  Druck  auf  das  Herz  getötet  und  dann  ver- 
brannt.    Der  Nachfolger  des  Häuptlings  veranstaltet  die  Feier. 

Weiteres  ergänzendes  Material  über  dieselben  Indianer 
bringt  Philip  Stedman  Sparkman  in  seiner  Abhandlung 
The   Culture  of  the  Luiseiio  Indians',    wovon  besonders 


1  A.  a.  0.  VIII,  S.  187—234. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906 — 1909  241 

die  wörtliche  Wiedergabe  der  Anweisimg  an  die  Knaben  und 
Mädchen  bezügKch  der  Sandzeichnung  in  den  Pubertätsriten 
hervorzuheben  ist  und  eine  neue  Darstellung  der  Zeichnung  selbst. 

Zum  großen  Teil  dieselben  Zeremonien  berührt  auch  ein 
alter  Bericht,  den  die  Missionen  1811  auf  eine  AnA'age  über 
die  Indianer  sämtlicher  Missionen  dieser  Gegend  an  die  mexi- 
kanische Regierung  in  Mexiko  schickten.  Er  ist  auszugsweise 
von  A.  L.  Kroeber  unter  dem  Titel  A  Mission  Record  of 
the  California  Indians*  aus  dem  Spanischen  übersetzt  und 
mit  Anmerkungen  versehen  worden.  Hier  wird  z.  B.  von  der 
Mission  San  Fernando  gesagt,  daß  die  Indianer  toloache 
trinken,  um  Hirsche  zu  jagen.  Sie  würden  dadurch  stark  und 
seien  zugleich  geschützt  gegen  Klapperschlangen,  Bären  und 
Pfeüe,  die  dann  nicht  in  den  Körper  eindringen  würden. 

A.  L.  Kroebers  Ethnographj  of  the  Cahuilla  In- 
dians*  zeigt  auf  den  wenigen  der  Religion  gewidmeten 
Seiten,  daß  diese  einen  Shoshonidialekt  sprechenden  Indianer 
des  südlichen  Kaliforniens  den  Missionsindianem  nahe  stehen. 
Toloache  wird  wahrscheinlich  ebenfalls  von  jedem  Knaben  ge- 
trunken. Der  Gebrauch  des  Trunkes  bringt  Reichtümer,  wohl 
wie  Kroeber  bemerkt,  weü  er  Macht  und  Erreichen  von 
Wünschen  gewährleistet.  Auch  das  „Rösten  der  Mädchen'^ 
bei  der  Pubertätsfeier  wurde  wahrscheinlich  geübt. 

Auch  von  den  Yuma  sprechenden  Diegueüoindianern  des 
südlichen  Kalifornien  haben  wir  kurze  Andeutungen  über  das 
Vorhandensein  der  bei  den  Luisenos  beschriebenen  Zeremonien, 
wie  es  zugleich  Tradition  ist,  daß  sie  vor  120  Jahren  von  diesen 
zu  den  Dieguenos  kamen.  Constance  Goddard  Dubois 
zeigt  die  Unterschiede  und  die  gegenseitige  Beeinflussung  der 
beiden  Stämme  in  ihrer  Abhandlung  Ceremonies  and 
Traditions   of  the  Diegueno  Indians'  auf.     Fremde  Züge 

'  From  a  Manuscript  in  the  Bancro/t  Library  a.  a.  0.  YIII,  S.  1 — 27. 

*  A.  a.  0.  VIII,  S.29  — 68. 

*  Journal  of  Amer.  Folklore  XXI,  S.  228  —  236. 

Archiv  f.  Religionswigseuschaft  XIV  \Q 


242  K.  Th.  Preuß 

in  den  Mythen  sind  jedoch  vorhanden  und  beruhen  auf  der  Zu- 
gehörigkeit der  Dieguenos  zu  den  Yuma,  Mohave,  Maricopa  usw. 

Was  wir  bis  jetzt  von  der  Religion  der  Kalifornischen 
Indianer  wissen,  hat  A  L.  Kroeber,  The  Religion  of  the 
Indians  of  California^  in  den  Hauptzügen  zusammengestellt, 
um  in  einem  Überblick  über  die  Tatsachen  Einheit  bzw.  Ab- 
weichungen innerhalb  Kaliforniens  festzustellen  und  Gegensatz 
bzw.  Ähnlichkeit  mit  dem  übrigen  Nordamerika  herauszuheben. 
Da  in  den  Auszügen  der  Berichte  dieses  Archivs  ohnehin  die 
springenden  Punkte  in  der  Religion  der  kalifornischen  Indianer 
hervortreten,  beschränke  ich  mich  hier  auf  wenige  Bemerkungen. 
Kroeber  hebt  mit  Recht  hervor,  daß  bei  den  Kaliforniern 
Symbolismus  und  Ritual,  wie  es  sich  auch  in  Geräten  und 
Pictographien  zeigt,  weniger  entwickelt  ist,  wie  sonst  meist 
in  Nordamerika.  An  Stelle  der  Handlungen  sind  dafür  die  ge- 
sprochenen und  gesungenen  Worte  weniger  nach  ihrer  Form 
als  nach  ihrem  Inhalt  von  besonderer  Bedeutung.  Die  Kali- 
fornier  bilden  ferner  mit  den  Stämmen  der  pazifischen  Küste  in 
den  das  Individuum  betreffenden  Sitten  bei  Geburt,  Pubertät 
und  Tod  eine  Einheit,  während  im  Osten  und  am  Atlantischen 
Ozean  mehr  öffentliche  und  Stammeszeremonien  hervortreten. 
Besonders  die  Pubertätssitten,  z.  B.  daß  das  Mädchen  nicht  den 
Kopf  mit  der  Hand  kratzen  darf,  stimmen  mit  denen  der  nord- 
pazifischen Küste  überein.  Die  große  Masse  der  Zentral- 
kalifornier  bildet  eine  Einheit.  Besondere  Gebiete  sind  aber 
der  äußerste  Nordwesten  und  der  Süden  Kaliforniens,  die  eine 
höher  organisierte  und  verwickeitere  Kultur  zeigen  als  das 
Zentrum. 

In  Kalifornien  war  das  gänzliche  Fehlen  des  Totemismus 
bisher  eine  feststehende  Tatsache.  Nun  überrascht  uns  C.  Hart 
Meriams  Abhandlung  Totemism  in  California*  mit  ge- 
nauen Angaben  über  verdchiedene  Arten   des   Totemismus   bei 

'   Univ.  of  Calif.  Publ.  in  Amer.  Arch.  and  Ethn.  IV,  S.  319—356. 
"  Amer.  Anthropologist ,  N.  S.  X,  1908,  S.  558  —  662. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  243 

einer  ganzen  Anzahl  von  Stämmen,  die  zu  verschiedenen 
Sprachgruppen  gehören.  Über  den  persönlichen  Schützer,  den 
Meriaras  ebenfalls  Totem  nennt,  haben  wir  schon  einzelnes  aus 
der  Arbeit  von  Dixon  über  die  Achomawi  und  Atsugewi  gehört. 
Solch  persönlichen  Schützer,  ein  Tier,  einen  Baum  oder  Felsen, 
sehen  die  jungen  Leute  bei  den  nördlichen  Mewuk  im  Traum, 
nachdem  sie  tagelang  umhergewandert  sind.  Die  mittleren  und 
südlichen  Mewuk  dagegen  haben  ein  erbliches  Totem,  das  sich 
vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbt  Sie  teilen  sich  in  zwei 
Klassen,  die  „Land"  und  „Wasserseite",  von  denen  die  eine 
Landtiertotems  bzw.  Bäume,  die  andere  Wassertiertotems  und 
den  Coyote  hat,  der  im  Mythus  von  jenseits  des  Meeres 
kommt.  Andere  Stämme  der  Mewangruppe  nördlich  San 
Franzisco  mit  erblichen  Tiertotems  sind  die  Oläyome,  die  nur 
Säugetiertotems  haben,  und  die  Hoökooeko  und  Olamentko, 
die  nur  Yogeltotems  besitzen.  Auch  die  Midoogruppe  und  die 
Yokut  werden  als  totemistisch  namhaft  gemacht. 

Nördliche  tShoshoni.  Robert  H.  Lowie  hat  einen 
Sommer  hindurch  (1906)  die  Shoshoni-  oder  Snakeindianer 
in  Lemhi,  Idaho,  studiert  und  berichtet  nun  unter  Zuhilfe- 
nahme der  alten  Quellen  über  diese  Indianer  überhaupt:  The 
Northern  Shoshone.^  Die  Hälfte  nehmen  Mythen  und  Er- 
zählungen ein,  die  nach  Übersetzungen  seiner  Interpreten 
niedergeschrieben  sind.  Für  unsere  Zwecke  kommen  im  wesent- 
lichen nur  die  Seiten  211 — 236  in  Betracht.  Einige  Tage  vor 
der  Geburt  eines  Kindes  enthalten  sich  beide  Eltern  des  Fleisch- 
und  Fischgenusses.  Früher  wurde  auch  neben  Pferden  das 
Weib  des  verstorbenen  Häuptlings  getötet.  Es  finden  sich 
keine  Spuren  von  Altersgenossenschaften.  Der  Sonnentanz  ist 
hier  und  da  spät  eingeführt,  der  BüfiFeltanz  z.  T.  dem  Weiber- 
tanz der  Arapaho   entnommen.     Der  Nuakintanz   wurde   Ende 


'  Anthrop.  Papers  of  the  Amer.  Mus.  of  Xat.  Hist.  II,  S.  163  —  306. 
New  York  1909. 

16* 


244  K.  Th.  Preuß 

des  Winters  veranstaltet,  um  reichliche  Nahrung,  besonders  an 
Beeren  und  Lachsen,  zu  erlangen.  Am  anderen  Orte  hieß  er 
Grastanz  und  diente  zum  besseren  Wachsen  des  Grases.  Auch 
beim  ersten  Lachsfang  fand  eine  Zeremonie  statt.  Lowie  er- 
wähnt noch  mehrere  andere  Tänze,  ohne  daß  wir  ein  Ver- 
ständnis für  sie  erlangen  können.  Bei  dem  wöhönökakin  wurde 
ein  gezahntes  Brett  mit  einem  Stock  gestrichen.  Von  diesem 
Instrument  (wöhönög)  hatte  der  Tanz  seinen  Namen.  Ähnlich 
wie  bei  den  Prärieindianern  erwarb  man  übernatürliche  Kraft 
durch  Träume,  Visionen  und  Helfer.  Man  '  unterscheidet 
zwischen  solchen  persönlichen  Helfern  büha,  die  einem  Rat 
erteilen  und  denen  man  gehorchen  muß,  und  zwischen  bloßen 
Zaubermitteln  fnadcu).  Solch  ein  büha  können  aber  auch  z.  B. 
nur  einige  Wurzeln  sein,  die  man  in  einem  Säckchen  trägt. 
Will  man  einen  Feind  töten,  so  spricht  man  zu  seiner  Medizin, 
bindet  sie  an  einen  Stein  und  wirft  sie  gegen  ihn.  Eine  regel- 
rechte Unterscheidung  von  Medizinmännern  (Schamanen)  und 
gewöhnlichen  Leuten  ist  nicht  zu  machen,  da  der  Besitz  von 
Kriegs-  oder  Heilraedizinen  nicht  spezifisch  ist.  Helfen  bei 
Krankheiten  die  gewöhnlichen  Heilmittel  nichts,  so  wird  ein 
besonderer  Medizinmann  gerufen.  Die  Theorie  ist  dann,  daß 
ein  Geist  auszutreiben  ist,  was  z.  B.  dadurch  geschieht,  daß  der 
Arzt  aus  seinen  Händen  einen  Tubus  bild^  und  durch  ihn  am 
Munde  des  Kranken  saugt,  bis  dieser  den  Geist  in  Gestalt 
eines  kleinen  Objekts  ausstößt.  Dankenswert  ist  die  kurze 
Zusammenfassung  der  mythologischen  Konzeptionen,  die  aber 
über  unzusammenhängende  Einzelheiten  nicht  hinausgehen. 

Algonkin  der  Prärien.  Im  vorigen  Bericht  konnte  ich 
über  die  zeremoniale  Organisation  und  den  Sonnentanz  der 
Arapaho  nach  den  ausführlichen  Arbeiten  von  Kroeber  und 
Dorsey  berichten,  und  jetzt  ist  ein  anderer,  ebenfalls  zu  den 
Prärieindianem  gehörender  Algonkinstamm  nach  diesen  beiden 
Richtungen  hin  untersucht  worden,  gerade  noch  zu  einer  Zeit, 


Religionen  der  Naturrölker  Amerikas  1906—1909  245 

wo  einigermaßen  ausführliche  Nachrichten  über  die  nun  schnell 
schwindende  soziale  Organisation  eingezogen  werden  konnten, 
und  wo  der  Sonnentanz  vielleicht  zum  letztenmal  —  infolge 
falscher  Berichte  des  betreffenden  Indianeragenten  an  seine 
Behörde  —  begangen  worden  ist:  George  A,  Dorsey,  The 
Cheyenne,  1  Ceremonial  Organisation,  II  The  Sundance.* 
Es  ist  dadurch  ein  schönes  Vergleichsmaterial  beschafft  worden, 
das  Dorsey  besonders  seinem  Interpreten  Richard  Davis,  einem 
Vollblutcheyenne,  verdankt.  Den  Sonnentanz  hat  Dorsey  selbst 
zweimal  vollständig  mitgemacht,  ebenso,  wie  es  scheint,  die 
Zeremonie  der  Medizinpfeile  im  November  1902.  Schade  ist 
nur,  daß  in  dem  ganzen  Buch  fast  keine  einzige  einheimische 
Bezeichnung  vorkommt,  was  man  für  weitere  Studien  schmerz- 
lich vermissen  wird.  Auch  die  in  dem  Sonnentanz  vor- 
kommenden Gesänge  sind  nicht  mitgeteilt,  obwohl  solches 
urkundliches  Material  —  allerdings  muß  zugleich  der  ein- 
heimische Text  gegeben  werden  —  vor  allem  zu  schätzen  ist. 
Die  beiden  großen  Zeremonien,  die  der  Medizinpfeile  und 
der  Sonnentanz,  gehen  von  zwei  verschiedenen  Gruppen  der 
Cheyenne  aus,  deren  Sprachen  etwas  voneinander  abweichen. 
Entsprechend  wurden  nach  den  Mythen  die  beiden  Zeremonien 
von  zwei  verschiedenen  Helden  bzw.  von  einem  solchen  mit 
zwei  verschiedenen  Namen  —  Motzeyouf  (standing  medicine) 
und  Erect  Homs  —  auf  fast  ganz  dieselbe  Weise  nach  vier- 
jährigem bzw.  viertägigem  Aufenthalt  in  oder  auf  einem  Berge 
heimgebracht,  wo  sie  ihnen  von  „der  Großen  Medizin"  und 
„dem  Rollenden  Donner"  selbst  geoffenbart  wurden.  In  beiden 
FäUen  folgen  ihnen  die  Büffel  zur  Ernährung  des  Volkes, 
nach  der  Unterweisung  von  Erect  Homs  ist  der  Erfolg  zu- 
gleich die  Erneuung  der  Natur.  Motzeyouf  brachte  vier 
Medizinpfeile  mit,  von  denen  zwei  Macht  über  die  Menschen, 
zwei    Macht    über     die    Tiere    besitzen.      Die   Zeremonie    der 

•  Field  Columbian   Museum   Publ.  99  Avthrop.  Series  IX,   Nr.  1.  2. 

Chicago  1905.     186  S. 


246  K.  Th.  Preuß 

Medizinpfeile  wird  jährlich  vier  Tage  lang  gefeiert,  indem 
jemand,  der  nachher  die  Rolle  des  Propheten  Motzeyouf  spielt, 
das  Fest  zu  veranstalten  gelobt.  Dabei  muß  jede  Familie  ver- 
treten sein,  und  für  jede  wird  ein  Stab  in  dem  für  die  Zeremonie 
errichteten  großen  Medizinpfeilzelt  niedergelegt.  Hier  werden 
die  Pfeile  enthüllt  und  eventuell  ausgebessert,  worauf  sie  an 
einem  Pfahl  vor  der  Hütte  allen  männlichen  Individuen  jeden 
Alters  zur  Schau  ausgehängt  werden,  während  man  ringsum 
die  Opfergaben  niederlegt.  Dann  wird  die  alte  Hütte  ab- 
gebrochen und  über  dem  Pfahl  von  neuem  errichtet.  Die  Pfeile 
werden  nun  dem  damit  beauftragten  Beamten  zurückgegeben 
und  der  Prophet  zieht  sich  in  sein  Zelt  zurück,  um  den 
Medizinmännern  zu  prophezeien.  Erneuuug  des  Lebens  und 
des  Mutes  sei  der  Zweck  des  Ganzen. 

Motzeyouf  hat  auch  die  soziale  Organisation  des  Stammes 
eingesetzt,  von  der  besonders  die  40  Häuptlinge  mit  ihren  vier 
alten  Medizinmännern  als  Berater  und  Führer  und  fünf  Krieger- 
genossenschaften zu  erwähnen  sind,  wozu  noch  eine  aus  neuerer 
Zeit  kommt.  Dorsey  verweist  auf  die  Ähnlichkeit  einiger  von 
ihnen  mit  entsprechenden  Gesellschaften  der  Arapaho,  aber  es 
ist  anderseits  ein  grundlegender  Unterschied  vorhanden:  sie 
sind  nämlich  nicht  nach  Altersstufen  gegliedert  und  ent- 
sprechend nicht  an  Rang  verschieden  wie  bei  den  Arapaho, 
sondern  in  jedem  Alter  kann  man  Mitglied  einer  jeden  der 
Gesellschaften  werden.  Zu  drei  Gesellschaften  gehören  auch 
je  vier  Mädchen,  meist  aus  den  Töchtern  der  44  Häuptlinge. 
Diese  Mädchen  dürfen  von  den  Mitgliedern  nicht  geheiratet 
werden.  Die  Hufrasselkrieger,  so  nach  ihren  Rasseln  genannt, 
haben  ein  als  Klapperschlange  gestaltetes  Musikinstrument  aus 
dem  Geweih  des  Wapitihirsches,  das  auf  dem  Rücken  Ein- 
kerbungen hat  und  mit  einem  Antilopenschienbein  gestrichen 
wird.  Wenn  ein  bestimmtes  Medizinkraut  gekaut  und  darauf 
geblasen  wird,  während  man  es  in  eigentümlicher  Weise  be- 
wegt, so  kommen  die  Herden  der  Jagdtiere  herbei.    Bemerkens- 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  247 

wert  ist  die  mythische  Ableitung  der  Hunde-,  Menschen-  und 
der  Wolfcresellschaft  von  solchen  Tierwesen.  In  den  Angaben 
über  die  Abzeichen  vermisse  ich  die  Unterscheidung,  was 
davon  beim  Tanz  und  was  im  Kriege  getragen  wird.  Das 
zu  wissen  ist  für  den  Zauberwert  der  Abzeichen  durchaus 
notwendig.  Femer  fehlen  die  zahlreichen  Kriegsgesänge 
gänzlich. 

Für  die  genaue  Beschreibung  des  Sonnentanzes,  den  die 
Cheyenne  „die  Hütte  neuen  Lebens''  (new  life  lodge)  nennen, 
kann  ich  auf  meinen  vorigen  Bericht  (IX,  S.  126  f.)  über  den 
Sonnentanz  der  Arapaho  verweisen,  der  infolge  des  Eindringens 
neuer  Elemente  komplizierter  ist.  Dorsey  selbst  gibt  am 
Schluß  die  Unterschiede  an.  So  haben  die  Tänzer  der  Cheyenne 
nicht  das  Gelübde  getan,  zu  tanzen,  sondern  gehören  derselben 
Gesellschaft  an,  wie  der  Mann,  der  die  Zeremonie  zu  ver- 
anstalten gelobte.  Die  Riten  im  Zelt,  das  für  die  vorbereitenden 
Zeremonien  errichtet  wird,  umfassen  nacheinander  die  Her- 
stellung von  fünf  immer  größer  angelegten  kreisförmigen  „Erden", 
die  die  wachsende  Erde  und  zugleich  den  Platz,  wo  die  Büffel, 
das  Hauptnahrungstier,  sich  wälzen,  darstellen  sollen,  während 
z.  B.  durch  die  Grasstöpsel  in  den  Augen  und  in  der  Nase  des 
Büffelschädels  das  Wachstum  der  Vegetation  befördert  werden 
soll.  Es  soll  eine  Neuschöpfung  und  Emeuung  alles  Lebens 
auf  der  Erde  bewirkt  werden.  Das  Feuer  in  dem  Haupt- 
zeremonialzelt  soll  die  Hitze  der  Sonne  vorstellen,  und  das 
Zelt  ist  nach  Osten  gerichtet,  damit  die  Sonne  darüber  ihren 
Lauf  nehme  und  alles  fruchtbar  mache.  Bei  den  Cheyenne  ist 
auch  der  Mythus  vom  Ursprung  des  Sonnentanzes  klarer 
wiederholt,  indem  der  Hauptpriester  „die  große  Medizin"  vor- 
stellt, die  die  Zeremonien  gelehrt  hat,  und  der  Held  Erect 
Horns,  der  sie  empfängt,  durch  den  Veranstalter  des  Festes 
dargestellt  wird,  der  das  Gelübde  dazu  getan  hat. 

Ergänzungen  besonders  zu  den  Kriegergesellschaft^n  der 
Cheyenne  bringt  die  Arbeit  des  kürzlich  verstorbenen  James 


248  K.  Th.  Preuß 

Mooney,  The  Cheyenne  Indians.^  Er  gibt  noch  eine 
sechste  Gesellschaft  der  „törichten  Hunde"  an,  die  von  Dorsey 
nicht  erwähnt  ist,  und  mehrere  kleinere  Gilden,  so  die  ver- 
schiedenen Arztgenossenschaften  zur  Heilung  von  kranken 
Pferden  (horse  medicine  doctors),  die  jede  ihre  besonderen 
Mittel  nebst  Tabus,  Bemalung,  Gesängen  usw.  hatten,  ferner 
die  Gesellschaft  der  „Verrückten  Tänzer",  die  während  der  Tänze 
durch  Kauen  einer  Pflanze  übernatürliche  Körperkräfte  und  Ge- 
wandtheit erwarben,  und  die  Feuertänzer,  die  durch  EinÖlung 
des  Leibes  auf  glühenden  Kohlen  zu  tanzen  vermochten.  Zu  er- 
wähnen sind  auch  die  Kameradschaften  zwischen  zwei  jungen 
Leuten  fürs  Leben,  die  füreinander  eintraten  und  Pferde  und 
anderes  Eigentum  gemeinsam  besaßen.  Gewöhnlich  gehörten 
sie  derselben  Kriegergesellschaft  an.  Von  den  vier  heiligen 
Pfeilen  wird  erzählt,  daß  sie  zur  Verehrung  ausgestellt  wurden, 
um  das  Blut  vom  Volke  abzuwischen,  wenn  ein  Cheyenne 
einen  Volksgenossen  getötet  hatte. 

Von  A.  L.  Kroebers  Werk  The  Arapaho  liegt  nun  auch 
Teil  IV  Religion^  vor.  Die  zeremoniale  Organisation,  die 
eigentlich  auch  hierzu  gehören  würde,  ist  schon  in  Teil  HI 
behandelt.  Ebenso  fehlen  die  Mythen,  die  an  anderer  Stelle 
veröffentlicht  sind.  Es  wäre  aber  wünschenswert  gewesen, 
hier  eine  Götterlehre  oder  dergleichen  zu  geben.  In  der  Haupt- 
sache besteht  dieser  Teil  demnach  in  der  Darstellung  der  Kult- 
handlungen und  namentlich  in  der  Beschreibung  von  Zeremonial- 
geräten,  die  für  den  Symbolismus,  d.  h.  die  Darstellung  über- 
natürlicher Kräfte,  wichtig  sind.  Besonders  interessant  aber 
ist  das  letzte  Kapitel  „persönliche  übernatürliche  Mächte",  das 
eine  sonst  nirgends  vorkommende  Menge  von  Amuletten  und 
„Medizinen"  nebst  Erklärungen  bietet.     Wir  werden  durch  sie 


'  Memoirs  of  the  Amer.  Anthrop.  Assoc.  I,  S.  367— 442.  Lancaster 
Pa  1907. 

»  Bull,  of  the  Amer.  Mus.  of  Nat.  Hist.  XVUI,  S.  279-464.  Vgl. 
Archiv  IX  S.  123  f. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  249 

SO  anschaulich  in  die  alle  praktischen  Tätigkeiten  umfassende 
Zauberatmosphäre  des  Prärieindianers  eingeführt,  daß  ich  damit 
als    Hauptsache    des    Ganzen    beginne.      Nach    zwei    bis    drei, 
höchstens  sieben  Tagen  Fasten,  meist  auf  Bergspitzen,  erscheint 
dem  erwachsenen  Mann  sein  Schutzgeist,  gewöhnlich  ein  kleines 
Tier  in  menschlicher  Gestalt,  das  aber  beim  Entweichen  Tier- 
gestalt annimmt.     Das  Fell  eines  solchen  Tieres  trägt  er  dann 
als  Medizinsack.      Oft    sogar    ist    der    Suchende    ein    Mann    in 
mittleren  Jahren.    Einer  hat  mehr,  der  andere  weniger  Zauber- 
kräfte   dadurch,    aber   eine    besondere   Klasse    von    Schamanen 
gibt  es  nicht     Nun  werden    aber  solche   Geister    auch    durch 
bloße  Lehre   samt   allen  Medizinen   übertragen,   meist  an  Ver- 
wandte,   aber   auch    an  Fremde,   die   dafür  zahlen.     Dann  hat 
man  nicht  nötig  zu  fasten.     Auch  gibt  es  eine  Masse  Zauber- 
mittel,    die     infolge    einer    assoziativen     Idee    wirken,    ohne 
daß     sie     wie     sonst     vom    Schutzgeiste     im     Traume    offen- 
bart   oder    während    des  Fastens    gefunden  worden  sind.     Ein 
Federkopfschmuck,    ein    Hals-,    ein    Armband    usw.   enthalten 
zuweilen    sogar   eine   ganze  Menge   solcher  Medizinen.     Einige 
Beispiele    mögen    das    Ganze   erläutern.     Ein   Medizinsack   aus 
DachsfeU,   der  einem  Manne   mit  dem  Dachse   als  Schutzgeist 
zugehörte,  enthielt  sieben  Medizinen  gegen  verschiedene  Krank- 
heiten,   ohne    daß    ein   wirklich   medizinischer  Wert  irgendwie 
wahrscheinlich   war.     Darunter  war  ein  Stein,   der  sich  in  der 
Seite  eines  Büffels  gefunden  hatte  und,  auf  Geschwüre  gelegt, 
diese    heilte,    der    Schwanz    einer    Schildkröte,    der   als    Kopf- 
schmuck getragen,    die   Gesundheit  bewahrte,    das   Herz   einer 
Schildkröte,    das    zerstoßen    und    in   Wasser    getrunken    Herz- 
schmerzen heilte.     Ein  Mann   sah  nach  dem  Fasten  jemanden 
mit    einer  Medizinhalskette   im   Kampfe,    der  von   den  Pfeilen 
nicht  getroffen  wurde.     Ein  andermal  sah  er  nach  dem  Fasten 
einen,    dem    zwei    Klapperschlangen    aus    dem    Munde   kamen. 
•  Sie  verschwanden,  und  er  stellte  fest,  daß  sie  in  seinem  eigenen 
Körper  waren.     Seitdem  hat  er  sie  in  seinem  Leibe  und  kann 


250  K.  Th.  Preuß 

Klapperschlangenbisse  heilen.  Von  allen  Klapperschlangen, 
die  er  tötet,  ißt  er  Fleisch  und  Eingeweide  roh.  In  seinem 
]\Iedizinsack  aus  Dachsfell  befand  sich  die  Figur  seines  Helfers 
aus  Fell,  genau  mit  demselben  Schmuck,  wie  er  ihn  im 
Kampfe  gesehen.  Die  ganze  Figur  wird  im  Kampfe  als  Kopf- 
schmuck getragen.  An  einem  Armband  aus  Dachsfell  befand 
sich  ein  Gopherfell,  eine  Eulenklaue,  mehrere  Schellen,  Federn, 
rote  Beeren  und  einige  Fellfransen.  Das  Dachsfell  vermehrt 
die  Schnelligkeit  des  Reitpferdes,  die  Klaue  hilft  den  Feind 
ergreifen,  die  Bewegung  der  Federn  treibt  den  Feind  fort,  die 
Schellen  stellen  den  Lärm  des  Kampfes  dar.  In  der  Not  wird 
eine  der  roten  Beeren  aufgemacht  und  gekaut.  Das  Ganze  ist 
zugleich  eine  Rassel  zur  Krankenheilung.  Wenn  man  mit  ver- 
schiedenfarbigen Bohnen  die  Seiten  einer  Stute  reibt,  so  erhält 
sie  entsprechend  farbige  Füllen.  Ein  schuppiger  Schildkröten- 
schwanz mit  Federn  wurde  im  Kampfe  auf  dem  Kopf,  auf  der 
Brust  oder  an  der  Seite  getragen.  Die  Federn  bewirken 
Schnelligkeit,  die  Schuppen  machen  unverwundbar.  Das  Ganze 
wird  ebenfalls  zum  Heilen  gebraucht. 

Von  Zeremonien  beschreibt  Kroeber  den  Sonnentanz  der 
nördlichen  Arapaho  in  Wyoming,  während  Dorseys  Beobach- 
tungen sich  auf  die  südlichen  in  Oklahoma  beziehen.  Obwohl 
Kroeber  die  Geheimzeremonien  nicht  gesehen  hat,  so  bietet 
sein  kurzer  Biöricht  doch  sowohl  in  der  Übereinstimmung 
der  ganzen  Anlage  wie  in  abweichenden  Einzelheiten  sehr 
wünschenswerte  Kriterien  und  Ergänzungen.  Kroeber  be- 
schreibt dann  einige  heilige  Stammesgeräte  (Fetische),  ohne 
daß  ihre  Wirkungen  oder  ihr  Gebrauch  genau  mitgeteilt  wird: 
die  Tabakspfeife,  das  Rad,  das  uns  schon  aus  dem  Sonnen- 
tanz bekannt  ist,  die  Medizinsäcke  usw.,  und  teilt  einige 
Gebete  und  Reden  und  vereinzelte  interessante  Anschauungen 
und  Gebräuche  mit.  Quellen  sind  von  Wasserungeheuern  be- 
wohnt, aus  deren  Maul  zuweilen  die  Quellen  herauskommend 
gedacht  werden.     Trocknet  eine  aus,   so   hat  der  Donner  das 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  251 

ungeheuer  fortgeholt,  wie  auch  der  Blitz  ins  Wasser  schlägt, 
um  es  zu  trefiPen. 

Einen  großen  Raum  besonders  unter  den  Jüngeren  nehmen 
heute  Zeremonien  ein,  die  modernen  Ursprungs,  aber  doch  aus 
indianischem  Geiste  geboren  sind.  Es  sind  einerseits  Spiele 
und  Tänze  in  Verbindung  mit  dem  bekannten  vor  etwa 
15  Jahren  unter  den  Indianern  weit  und  breit  aufgekommenen 
Geistertanz,  der  heute  nicht  mehr  existiert,  teils  der  von  den 
Kiowa  übernommene  Peyoteritus.  Sicher  ist  wohl,  daß  viele 
alte  Elemente  in  den  zahlreichen  symbolischen  Requisiten  des 
Geistertanzes  vorhanden  sind,  und  so  ist  ihre  ausführliche  Be- 
schreibung und  die  Erklärung  der  piktographischen  Elemente 
darin,  die  Kroeber  hier  bietet,  eine  reiche  Quelle  der  Belehrung. 
Dasselbe  ist  mit  den  Spielen  der  Fall,  die  mit  dem  Geistertanz 
aus  der  alten  Rüstkammer  indianischen  Geistes  hervorgeholt 
wurden.  Kroeber  beschreibt  dann  den  Krähentanz,  der  noch  vor 
der  Zeit  des  Geistertanzes  von  den  Sioux  übernommen  wurde 
und  heute  mit  Ideen  des  Geistertanzes  erfüllt  ist.  Kroeber  sah 
ihn  im  September  1899  bei  den  Arapaho.  Ursprünglich  war  er 
ein  Freundschaftstanz  zwischen  Pawnee  und  Osage.  Es  werden 
bei  ihm  Pferde  verschenkt.  Das  zeremonielle  Essen  von  Peyote 
hat  Kroeber  zweimal  beobachtet.  Diese  Kaktusart  bringt  gegessen 
besondere  Erregung,  Steigerung  der  geistigen  und  körperlichen 
Fähigkeiten  und  eventuell  Visionen  hervor,  ganz  wie  der  mexi- 
kanische Peyote.  Er  wird  nur  an  den  in  unregelmäßigen  Zwischen- 
räumen von  Wochen  stattfindenden  Festen  gregessen,  an  denen 
alte  Leute  nie  teilnehmen.  Der  Leiter  des  Festes  singt  die  ganze 
Nacht,  seine  Gesänge  beziehen  sich  auf  den  Peyote,  auf  die 
Vögel,  die  seine  Boten  sind,  und  auf  die  lange  Dauer  der  Xacht. 

Zugleich  liegt  ein  ausführlicher  Bericht  des  unermüdlichen 
Verfassers  über  einen  andern  Prairiestamm  der  Algronkin  vor: 
A.  L.  Kroeber,  Ethnology  of  the  Gros  Ventre.'    Da  dieser 


'  Anthrop.  Papers  of  the  Amer.  Mus.  of  Nat.  Hist.  I  S.  139  —  281. 


252  K.  Th.  Preuß 

Stamm  mit  den  Arapaho  sprachlich  und  kulturell  nahe  ver- 
wandt ist  und  die  Untersuchung  nach  denselben  Richtungen 
geführt  ist,  so  kann  ich  mich  hier  kurz  fassen.  Auch  hier 
beruhen  die  Angaben  meist  auf  Nachrichten,  die  von  alten 
Indianern  eingezogen  sind,  und  weniger  auf  direkter  Beobachtung. 
Hier  versuchten  nicht  alle,  sich  übernatürliche  Kräfte  zu  ver-; 
schaffen,  und  die  es  taten,  erreichten  nicht  immer  ihr  Zieli 
Auf  Bergspitzen  sowohl  wie  (^seltener)  an  Wasserläufen  fasteten 
und  „schrien"  sie,  um  einen  Helfer  zu  gewinnen,  der  dann 
entsprechend  dem  Orte  verschieden  war.  Außerdem  ist  eine 
Menge  vegetabilischer  Medizinen  gegen  Krankheiten  allgemein 
bekannt.  Die  zeremoniale  Organisation  nach  Altersklassen  ist 
der  der  Arapaho  sehr  ähnlich,  obwohl  Abweichungen  vor- 
handen sind.  Z.  B.  konnte  eine  siebente  und  älteste  Genossen- 
schaft nicht  nachgewiesen  werden.  Das  Aufsteigen  in  eine 
höhere  Stufe  durch  Abhalten  der  viertägigen  und  auch  vier- 
nächtigen Tänze  fand  statt,  wenn  der  Betreffende,  der  das  nötige 
Alter  dazu  hatte,  den  Tanz  in  einer  Notlage  gelobte.  Doch 
ist  es  hier  eigentlich  falsch,  von  sechs  Altersgenossenschaften 
zu  reden,  da  vielmehr  abweichend  von  den  Arapaho  nur  sechs 
Alterszeremonien  existierten  und  eine  drei-  bis  viermal  größere 
Zahl  von  Gesellschaften,  die  z.  T.  komische  Namen  haben 
(„Genug-essen-um-über-Nacht-auszuhalten",  „Weiße  Nasen" 
usw.),  jedenfalls  ganz  andere  als  die  Tänzer  der  sechs  Zeremonien. 
Innerhalb  dieser  vielen  Gesellschaften  wurden  die  sechs  Alters- 
tänze ausgeführt,  obwohl  die  Altersstufen  in  verschiedenen  Gesell- 
schaften verteilt  waren  und  demnach  nicht  alle  Altersgenossen 
bei  der  sie  betreffenden  Zeremonie  vereint  waren.  Ganz  klar 
erscheint  das  Verhältnis  nicht,  auch  ist  die  Organisation  schon 
lange  verfallen.  Bei  den  Tänzen  gebürdeten  sie  sich  in  ge- 
wisser Weise  wie  die  Tiere,  nach  denen  sie  ihren  Namen  haben, 
und  es  herrschte  auch  z.  T.  die  Idee,  die  Tänze  seien  von  den 
betreffenden  Tieren  gestiftet.  Die  Tänze  und  die  dabei  ge- 
brauchten Abzeichen    werden    ausführlich    beschrieben.      Auch 


Religionen  der  Xatiirvölker  Amerikas  1906—1909  253 

der  Sonnentanz,  der  nicht  zu  den  Altersklassen  gehörte,  wird 
gefeiert,  wie  bei  den  Arapaho,  Der  Tanz  hat  gleichfalls 
einige  Abweichungen,  genaue  Auskunft  über  manche  Einzelheiten 
war  jedoch  nicht  zu  erlangen. 

Siouxstämme.  Seine  Studien  des  Sonnentanzes  hat 
George  A.  Dorsey  auch  bei  den  Sioui  fortgesetzt:  The 
Ponca  Sun  Dance.^  Der  Bericht  ist  nach  einmaligem  An- 
schauen der  Zeremonie  abgefaßt,  obwohl  ein  geeigneter  Inter- 
pret sich  nicht  tinden  ließ.  Das  Fest  hatte  auch  nicht  mehr 
den  ursprünglichen  Halt  in  den  Herzen  des  Volkes.  Deshalb 
repräsentiert  sich  der  Bericht  im  Gegensatz  zu  den  sonst  so 
eingehenden  Feststellungen  des  ausgezeichneten  Beobachters 
als  ein  bloßer  Beitrag.  Ich  führe  hier  nur  einiges  wenige  an, 
was  zum  Verständnis  des  Festes  führen  kann.  Die  Zeremonie 
heißt  „Tanz  des  Sonne -Sehens".  Sie  findet  jährlich  meist  im 
Juni  oder  Juli  statt,  nachdem  die  Sonnentanzpriester  („Donners- 
leute''j  im  Frühjahr  den  Monat  bestimmt  haben.  Diese  be- 
stimmen auch  die  Tänzer,  was  für  die  Erwählten  keine  geringe 
Ehre  ist.  Der  Mittelpfahl  der  Sonnenhütte,  der  als  Feind  erspäht 
und  gefällt  wird,  scheint  als  ein  Mann,  ein  Feind,  zu  gelten, 
der  nackt  ist,  damit  die  „Große  Medizin"  ihn  sehen  kann 
Er  wird  auch  als  Brennholz  aufgefaßt,  da  es  Weidenholz  ist, 
das  schwer  zu  töten  und  reinlich  ist.  In  der  Gabelung  des 
Pfahles  ist  das  Nest  des  Donnervogels,  ein  Bündel  von  Weiden- 
zweigen, der  Regen,  Donner  und  Blitz  hervorbringt.  Der  AJtar 
scheint  Symbol  eines  Feuerherdes  bzw.  der  Sonne  zu  sein. 
Der  Büffel  darauf  (Büffelschädel)  kam  aus  dem  Innern  der 
Erde  und  brachte  die  Tabakspfeife,  der  Salbei  des  Altars  be- 
deutet das  Volk.  Im  Gegensatz  zu  den  Arapaho  und  Cheyenne 
waren  hier  vier  Zelte  für  die  vorbereitenden  Zeremonien,  und 
den  Tänzern   wurde  je  ein  rundes  Stückchen  Haut   über  dem 


'  Field    Columbian    Museum    Publ    Nr.    102.      Anthrop.   Ser.    VIT 
S.  59—88.  1905. 


254  K   Th.  Preuß 

Schulterblatt  ausgeschnitten,  das  mit  Tabak  zusammen  als 
Opfer  für  die  Sonne  am  Fuß  des  Mittelpfahls  der  Sonnenhütte 
niedergelegt  wurde. 

Besonders  interessant  ist  die  Abhandlung  von  George 
H.  Pepper  and  Gilbert  L.  Wilson,  An  Hidatsa  Shrine 
and  the  Beliefs  respecting  it.^  Über  diese  Hidatsa  oder  Gros 
Ventres,  die  von  dem  Algonkinstamm  der  Gros  Ventres  oder 
Atsina  unterschieden  werden  müssen,  haben  wir  nur  das  Werk 
von  Washington  Matthews  1877.  Überhaupt  sind  ihre  merk- 
würdigen religiösen  Gebräuche  bisher  wenig  beachtet.  Die 
Forschungen  gehen  auf  den  Rev.  Gilbert  L.  Wilson  zurück, 
der  seit  1906  unter  diesen  Indianern  weilt.  Es  handelt  sich 
hier  um  die  Beschreibung  eines  heiligen  Stammesschreins  aus 
Holz  und  eines  daneben  an  einem  Pfahle  hängenden  Medizin- 
sackes, deren  Inhalt  beschrieben  und  —  was  die  Hauptsache 
ist  —  durch  Mythen  in  seiner  Bedeutung  belegt  wird.  Die  obere 
Plattform  des  in  einer  Erdhütte  stehenden  Schreines  enthielt 
einen  Parflechesack  auf  einer  aromatischen  Wasserpflanze  (pennj- 
royal)  mit  zwei  Menschenschädeln  und  einer  hölzernen  Tabaks- 
pfeife, die  untere  einen  Büffelschädel  mit  Adlerfedern,  eine 
Schildkrötenschale  und  einen  Fächer  aus  Adlerfedern.  Außerdem 
waren  Opfergaben  vorhanden.  Die  beiden  Schädel  gehörten 
zwei  Adlern  an,  die  sich  aus  Liebe  zu  den  Indianern  von 
zwei  Mädchen  aus  zwei  verschiedenen  Stämmen,  Hidatsa  und 
Shiwaliüwa,  als  Menschen  zur  Welt  bringen  ließen.  Der  Hidatsa 
wurde  ein  großer  Medizinmann,  der  mit  Hilfe  seiner  Medizin- 
pfeife die  Feinde  in  die  Flucht  schlug,  Büffel  herbeilockte  und 
Regen  für  die  vergehende  Vegetation  herabbrachte.  Beide 
aber  gehörten  feindlichen  Stämmen  an,  was  sie  vor  ihrer  Ge- 
burt nicht  gedacht  hatten,  und  beide  faßten  den  Plan,  den 
andern  im  Kampfe  umzubringen,  den  Schädel  zu  nehmen  und 
sich  so  wieder  zu  vereinigen,  da  angeblich  jeder  es  bei  dem 
andern  besser  habe.    Schließlich  willigte  der  Shiwaliüwa  ein,  auf 

'  Memoirs  of  the  Amer.  Antfn:  Assoc.  11  S.  275  —  328.  1908. 


Religionen  der  Xaturrölker  Amerikas  1906—1909  255 

diese  Weise  mit  seinem  Freunde  vereinigt  zu  werden.  Das  geschah, 
und  später  bei  seinem  eigenen  Tode  gebot  der  Hidatsa  seinem 
Volke,  auch  seinen  Schädel  nachher  abzuschneiden  und  beide 
als  Medizinen  gegen  die  Feinde,  gegen  das  Ausbleiben  der 
Büffel,  gegen  Verdorren  der  Vegetation  und  gegen  Krankheit 
zu  benutzen  mit  Hilfe  der  Medizinpfeife,  des  Krautes  penny- 
rojal  und  heiliger  Gesänge.  Der  Büffelschädel  war  ebenfalls 
das  Erbteil  von  selten  des  Adlermannes,  den  er  zum  Herbei- 
führen der  Büffel  benutzt  hatte.  Die  Schildkröte  wurde  von 
ihm  durch  Besprengung  mit  Wasser  als  Hegenmedizin  benutzt. 
Auch  der  Fächer  aus  Adlerflügeln  diente  ihm  zum  Regenmachen, 
indem  er  mit  den  Schädeln  besprengt  wurde. 

Der  Medizinsack  enthielt  gleichfalls  eine  Menge  Objekte, 
von  denen  ich  nur  ein  Fell  eines  schwarzen  Bären  erwähne, 
der  der  Gefährte  eines  Hidatsa  war. 

Der  ausgedehnte  Symbolismus  in  Nordamerika  fuhrt  bei 
näherem  Zusehen  zu  der  Überzeugung,  daß  Tierteile  oder 
Darstellungen  von  himmlischen  Erscheinungen  ursprünglich 
immer  als  magische  Mittel  verwendet  worden  sind.  Genau 
dasselbe  ist  nun  auch  mit  Zeichnungen  der  Fall.  Daß  solche 
Ideen  von  Tieren  und  Himmelsobjekten  als  Schutzgeister 
massenhaft  existieren,  weiß  nun  heute  ein  jeder  Ethnologe. 
Aber  umgekehrt  ganze  Gruppen  von  Zeichnungen  und  Dar- 
stellungen als  Zauberschutzmittel  zu  erklären  —  diese  befreiende 
Tat  haben  wir  Clark  Wissler  zu  verdanken,  dessen  Arbeit  Some 
Protective  Designs  of  the  Dakota^  schon  im  Titel  seine 
Meinung  kundgibt.  Wir  kennen  ihn  ja  auch  bereits  (s.  den  all- 
gemeinen Bericht,  Archiv  XIII'  S.  431)  in  seiner  bahnbrechenden 
Auffassung,  daß  der  Indianer  nicht  Intelligenz  und  Fähigkeiten, 
sondern  im  wesentlichen  nur  Entlehnung  von  Macht  von  Seiten 
der  machtbegabten  Wesen  in  der  Natur  kennt.  Wissler  hat  in  der 
Schrift  eine  große  Anzahl  von  Darstellungen  auf  Schilden  und 

^  Anthr.  Papers  of  the  Amer.  Mus.  of  Nat.  Hist.  I,  S.  19—53. 
New  York  1907. 


256  K.  Th.  Preuß 

auf  den  Hemden  des  Geistertanzes  nach  den  Angaben  der 
Teton-  und  Yankton-Dakota  als  magische  Schutzmittel  erklärt, 
und  zwar  sind  die  Geistertanzhemden  nach  ihrem  Zwecke  mit 
Recht  den  Schilden  als  gleichwertig  an  die  Seite  gestellt 
worden.  Denn  die  1890  aufgekommene  Bewegung  des  Geister- 
tanzes sollte  das  alte  indianische  Leben  wieder  zurückführen, 
und  das  konnte  nur  geschehen,  wenn  die  weiße  Rasse  beseitigt 
wurde.  Gegen  Kugeln  aber  nützte  kein  Schild,  der  in  der 
guten  alten  Zeit  das  zauberkräftige  Ziel  der  Geschosse  war 
und  die  ganze  Aufmerksamkeit  des  Feindes  zwangsweise  auf 
sich  lenken  sollte,  deshalb  zog  man  Hemden  mit  Zeichnungen 
an.     Das  geschah  aus  echt  indianischem  Geist. 

Gewöhnlich  sind  es  Tierzeichnungen.  Pflanzen  und  leblose 
Objekte  sind  fast  ganz  ausgeschlossen.  Himmelserscheinungen 
aber,  die  häufig  in  den  Zeichnungen  vorkommen,  werden,  wie 
Wissler  mit  Recht  bemerkt,  ebenfalls  oft  durch  die  Tätigkeit 
von  Tieren  bewirkt.  Aus  diesen  Darstellungen  kann  man  folgern, 
welche  Naturobjekte  für  den  Indianer  besondere  Kräfte  in  sich 
schließen.  Es  ist  das,  was  sich  bewegen,  den  Ort  verändern  kann. 
Bei  allen  diesen  Zeichnungen  kommt  es  weniger  auf  direkte  Ver- 
nichtung des  Feindes  an  als  auf  bloßen  Schutz,  damit  der  Träger 
selbst  in  die  Lage  komme,  den  Feind  zu  treffen.  Auf  die  Einzel- 
heiten der  Zeichnungen  kann  ich  leider  nicht  eingehen.  Lücken- 
lose Erklärungen  der  indianischen  Gedankengänge  sind  es  natür- 
lich nicht.  Dazu  gehört  ein  ungeheures  vergleichendes  Material 
sowohl  an  Zeichnungen  wie  an  Schutzgeistideen. 

Zentrale  Algonkin.  Von  den  Fox-Indianern  sei  die 
Beschreibung  der  bei  einem  Todesfall  stattfindenden  Adoptions- 
riten erwähnt,  die  der  leider  jüngst  ermordete  William  Jones 
in  seiner  Abhandlung:  Mortuary  Observances  and  the 
Adoption  Rites   of  the   Algonkin  Foxes    of  Jowa^   gibt. 

'  Congres  Internat,  des  Americanistes,  XV'  Session  II,  S.  268—277. 
Quebec   1907. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  257 

Bei  diesen  Indianern  kann  die  Seele  nur  dann  frei  zum  Reich  der 
Schatten  wandern,  wenn  an  die  Stelle  des  NTerstorbenen  ein 
anderer  adoptiert  wird.  Das  muß  innerhalb  von  vier  Jahren  nach 
dem  Tode  geschehen,  während  welcher  Zeit  die  Seele  häufig 
aus  dem  Seelenlande  zum  Grabe  und  zu  den  Lebenden  zurück- 
kehrt. Geschieht  es  nicht,  so  muß  sie  dauernd  als  Eule 
umherwandem.  Der  Adoptierte  muß  von  demselben  Geschlecht 
wie  der  Verstorbene  und  beide  müssen  Gefährten  gewesen 
sein.  Der  Adoptierte  tritt  in  alle  Rechte  und  Pflichten  des 
Verstorbenen  ein,  ohne  seine  bisherige  Familie  aufzugeben. 
Es  werden  bei  der  Adoption  die  Lieblingsspiele  des  Ver- 
storbenen gespielt,  dann  ißt  man,  und  wenn  der  Adoptierte 
abends  vor  den  anderen  Gästen  nach  Hause  reitet,  geleitet  ihn 
der  Adoptierende  eine  Strecke  nach  Westen  zum  Zeichen,  daß 
nun  die  Seele  nach  dort  geht.  Gleichzeitig  erstirbt  die  Musik 
mehr  und  mehr,  weil  es  heißt,  auch  sie  folge  der  Seele  zur 
Geisterwelt.  Ist  der  Verstorbene  ein  Krieger,  der  eines  natür- 
lichen Todes  gestorben  ist,  dann  erscheint  der  Adoptierte  als 
Krieger,  und  nur  Krieger  werden  eingeladen.  Diese  führen 
nacheinander  mimische  Szenen  aus  ihren  Kriegstaten  auf  und 
erzählen  ihre  Taten,  einen  Krähenbalg  auf  dem  Rücken 
tragend,  wovon  die  Zeremonie  der  Krähentanz  genannt  ist 
Ist  der  Tote  im  Kampfe  gefallen,  so  muß  der  Adoptierte  ihn 
am  Feinde  rächen  und  erscheint  deshalb  bei  der  Adoption  die 
eine  Hälfte  des  Gesichtes  rot,  die  andere  schwarz  gefärbt. 
Die  rote  Farbe  bedeutet  Krieg,  die  schwarze  das  Fasten,  das 
er  durchmachen  muß,  bis  sein  Manitu  ihm  Fleisch  vorsetzt,  das 
Fleisch  des  zu  Erschlagenden,  als  Zeichen,  daß  nun  die  Zeit 
der  Rache  gekommen  ist,  und  ihm  mitteilt,  wo  der  Feind  ist. 

Irokesen.  Eine  besondere  Überraschung  bietet  uns 
Arthur  C.  Parker  mit  seiner  Arbeit  Secret  Medicine 
Societies    of    the    Seneca.^     Es    existieren    nämlich    heute 


*  Amer.  Anthropologist  XI,  S.  161—185.     1909. 

Archiv  f.  Religrionswisaenschaft  XIV  17 


258  K.  Th.  Preuß 

noch  wider  Erwarten  eine  Menge  Geheim  gesellschaften  der 
heidnischen  Seneca,  die  Parker  seit  1902  emsig  studiert  hat  unter 
Aufschreiben  ihrer  zahlreichen  Gesangestexte.  Hier  gibt  er 
nur  eine  vorläufige  Nachricht,  aus  der  aber  doch  das  Wesen 
der  Gesellschaften  hervorgeht,  die  gewöhnlich  zur  Heilung  von 
Krankheiten  und  zur  Förderung  des  Wohlergehens  im  weitesten 
Sinne  dienen.  Es  sind  meist  Tiergesellschaften,  in  denen  die 
Mitglieder  vielfach  die  Tiere  nachahmen.  Ein  Mythus  erzählt 
gewöhnlich,  wie  der  Stifter  der  betreffenden  Gesellschaft  Tiere 
bei  ihren  Riten  sah,  von  ihnen  entdeckt  und  adoptiert  wurde, 
die  Gesänge  und  Zeremonien  lernte  und  schließlich  mit  An- 
weisungen versehen  zu  seinem  Volke  zurückgesendet  wurde, 
um  die  Riten  zu  lehren.  Alle  Gesänge  und  Zeremonien  sind 
nach  Meinung  des  Verf.  alt,  da  sie  von  den  Mitgliedern  meist 
gemeinsam  gesungen  wurden  und  jede  Abweichung  vom  Alt- 
hergebrachten auf  Widerstand  gestoßen  sein  würde.  Parker  er- 
wähnt folgende  Gesellschaften:  1.  Die  Littlewater  society,  die 
schon  früher  bekannt  war.  Sie  hatte  keine  öffentlichen  Zere- 
monien und  Tänze  und  scheint  nur  soziale  Gefühle  der  Freund- 
schaft zu  pflegen  unter  Gebeten  und  Riten,  die  angeblich 
jedoch  die  Erhaltung  der  Macht  ihrer  Geheimmedizin  little 
water  powder  zum  Zwecke  haben.  2.  Die  Pygmäengesellschaft, 
die  ihre  Zeremonien  bei  vollkommener  Dunkelheit  abhalten. 
Die  kleinen  Geister,  die  überall  dem  Menschen  am  nächsten 
stehen,  und  ebenso  eine  Anzahl  Tiergeister,  die  als  geistige 
Mitglieder  der  Gesellschaft  gelten,  verlangen  die  Zeremonie. 
Ebenso  tun  das  die  Zauberdinge,  Teile  von  den  betreffenden 
Tieren,  z.  B.  Pantherklauen  usw.,  die  guten  bzw.  bösen  Einfluß 
ausüben.  3.  Die  Gesellschaft  der  Ottern,  bestehend  aus  Frauen. 
Die  Ottern  und  andere  Wassertiere  üben  großen  Einfluß  auf 
Gesundheit  und  Geschick  aus.  Mit  Wasser  besprengen  ist  der 
hauptsächlichste  Ritus.  4.  Die  Gesellschaft  der  mystischen 
Tiere.  Hierzu  werden  drei  Masken  verwendet.  Die  Maske  des 
Oberhauptes    hat    keine    Augenlöcher,    er    kann    aber    gerade 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  259 

durch  sie  alles  Verborgene  sehen.  5.  Die  Adlergesellschaft. 
6.  Die  Bärengesellschaft.  7.  Die  Büffelgesellschaft.  Nr.  5 
und  7  ahmen  Vogel  bzw.  Büffel  nach,  Nr.  6  ißt,  wie  es 
scheint,  die  Speise  (Honig  usw.)  der  Bären.  Von  den  übrigen 
erwähne  ich  nur  noch  die  Gesellschaft  der  Schwestern  der 
Dioheko,  die  den  Geistern  des  Maises,  der  Bohnen  und  Kürbisse, 
eben  den  Dioheko,  ein  Danksagungsfest  feiern.  Dadurch  wird 
eine  gute  Ernte  erzielt. 

Hoffentlich  erhalten  wir  bald  das  gesammelte  Material  in 
extenso  vorgelegt. 

Muskogee.  Frank  G.  Speck,  The  Creek  Indians  of 
Taskigi  Town^  enthält  größtenteils  religiöses  Material,  das 
sich  inhaltlich  in  manchen  Beziehungen  an  J.  Mooneys  Auf- 
zeichnungen über  die  benachbarten,  aber  stammfremden 
Cherokee  anschließt.  Wie  diese  sind  sie  ungemein  interessant, 
aber  es  ist  eben  nur  ein  Rest.  Die  Taskigi  bildeten  eine 
Stadt  der  Creek,  die  1836—40  nach  dem  Indianerterritorium 
verpflanzt  wurde,  wo  sie  ihre  politische  und  soziale  Einteilung 
bis  heute  beibehielten.  Die  folgenden  religiösen  Nachrichten 
stammen  aus  den  Jahren  1904 — 05,  stützen  sich  aber  meist 
auf  Erinnerungen  alter  Leute,  da  selbst  das  große  Erntefest 
in  den  letzten  zehn  Jahren  aufgehört  hat.  Es  mögen  nur 
noch  150  Taskigi,  und  zwar  meist  Mischlinge,  existieren;  die 
Sprache  jedoch  wird  in  alter  Reinheit  beibehalten.  Jede  Stadt 
hatte,  wie  die  Dörfer  der  Coraindianer,  einen  nach  den  vier 
Richtungen  orientierten  Platz.  In  der  Mitte  wurde  das  Feuer 
angezündet,  um  das  die  meisten  Tänze  des  zwei  Tage  dauernden 
Erntefestes  stattfanden.  In  engerem  Sinne  diente  das  Fest 
dazu,  den  Mais,  von  dem  bis  zum  Schlüsse  des  Festes  nichts 
gegessen  werden  durfte,  in  voller  Reinheit  in  sich  auf- 
zunehmen   oder,   wie   es   heißt,   die  Maisgottheit  zu  gewinnen. 


'  Memoirs  of  the  Amer.  ÄnOirop.  Assoc.  Vol.  II,  Part  2,  S.  99—164. 

Lancaster  Pa.  1907. 

17* 


260  K.  Th.  Preuß 

Dazu  wurden  auch  die  wenigen  anderen  Speisen,  die  genossen 
wurden,  ohne  Salz  gegessen,  und  am  zweiten  Tage  tranken 
die  Männer  ein  heftig  wirkendes  Brechmittel.  Außerdem  aber 
sollte  das  Fest  alle  religiösen  Potenzen  gewinnen,  günstig  ge- 
sinnten Tieren,  wie  den  Clantieren,  danken,  und  übelwollende, 
wie  das  todbringende  Käuzchen,  versöhnen,  und  für  das 
kommende  Jahr  allen  Segen  sichern.  Um  das  zu  erreichen, 
fanden  eine  Menge  von  Tänzen,  namentlich  Tiertänze  mit 
Nachahmung  der  Bewegungen  der  betreffenden  Tiere  statt,  die 
sonst  zwar  auch  vereinzelt  aufgeführt  werden  konnten,  dann 
aber  keine  allgemeine  Teilnahme  erforderten.  Die  Jagdtiere 
sollten  dadurch  veranlaßt  werden,  sich  nicht  ihrer  Tötung  ab- 
geneigt zu  zeigen,  und  die  Seelen  der  erlegten  Tiere  schneller 
zur  Wiedergeburt  auf  die  Erde  zurückkehren.  Lasciv  waren 
der  von  beiden  Geschlechtern  getanzte  Verrückten-  und  der 
Trunkenheitstanz,  die  auf  die  Fortpflanzung  Bezug  haben 
sollten.  Bekanntlich  war  auch  das  mexikanische  Erntefest  die 
Zeit  für  solche  Szenen,  die  aber  die  Fortpflanzung  der  Vege- 
tation zum  Zweck  hatten.  Bei  den  Creek  waren  außerdem  auch 
geschlechtliche  Zügellosigkeiten  erlaubt.  Zur  Probe  gibt  Speck 
die  beiden  dazu  gesungenen  Gesänge,  die  abwechselnd  vom  Vor- 
sänger und  von  den  Tänzern  gesungen  wurden.  Der  Inhalt  sind 
abgerissene  Sätze,  aus  denen  jedoch  der  sinnliche  Gedanke  zu 
erkennen  ist.  Der  Federtanz  mit  Federn  des  Reihers,  die  nur 
der  Schamane  ungestraft  zu  den  gebrauchten  Stäben  zusammen- 
setzen darf,  ist  ein  Tanz  zu  Ehren  der  weißen  Feder,  die  der 
Schutz  gegen  alles  Übel  ist.  Weiß  ist  das  Symbol  des  Friedens. 
Die  Krankheiten  werden  besonders  von  den  verschiedensten 
Tieren  gebracht,  jedes  Tier  hat  seine  bestimmte  Krankheit. 
Fieber  wird  von  den  Geistern  der  Toten  verursacht,  die  das 
Seelenland  nicht  erreichen  können.  Jedes  Tier  hat  aber  zu- 
gleich sein  Heilmittel  in  der  Pflanzenwelt,  das  irgendwie  eine 
Gedankenassoziation  mit  dem  Tier  aufweist.  Bei  der  Heilung 
werden  bestimmte  Zaubersprüche  gesungen,  die  wiederum  sehr 


Religionen  der  Natnrvölker  Amerikas  1906—1909  261 

dunkel  sind.  Die  Medizin  wird  durch  Hineinblasen  vermittelst 
eines  Tubus,  während  der  Schamane  gleichzeitig  die  Zauber- 
formel singt,  allmählich  stärker  als  die  Krankheit.  Der  Bj-iegs- 
schamane  hatte  den  Feind  durch  Riten  und  Gesänge  zu 
schwächen  und  seine  Augen  mit  Blindheit  zu  schlagen.  Die 
Clanuamen  setzte  die  oberste  Gottheit,  der  „Herr  des  At^ms", 
dem  heute  alles  zugeschrieben  wird,  dadurch  fest,  daß  er  die 
„Wesen"  in  alter  Zeit  vorbeipassieren  ließ  und  jeden  nach  seiner 
diesem  oder  jenem  Tiere  ähnelnden  Eigenart  (z.  B.  Klettern  auf 
Bäume,  Umherlaufen  usw.)  als  Panther,  Alligator,  Waschbär,  oder 
auch  als  Wind  usw.  bezeichnete  und  gebot,  daß  sie  nicht  in- 
einander heiraten  sollten.  Sonst  würden  sie  sich  nicht  vermehren. 
Gleichzeitig  hat  Frank  G.  Speck  auch  Studien  über  die 
verwandten  Chickasaw-Indianer  gemacht:  Notes  on  Chickasaw 
Ethnology  and  Folk-Lore*  Davon  sind  einige  Einzelheiten 
bemerkenswert.  Einige  ihrer  Clan-Namen  rühren  von  Ortlich- 
keiten  her,  andere  aber  von  Tieren,  von  denen  sie  nicht  ihren 
Ursprung  herleiten,  wie  Speck  meint,  sondern  die  sie,  nach  der 
angeführten  Stelle  bei  Catlin  zu  urteilen,  in  ihren  Stamm  adop- 
tierten. Wichtig  ist,  daß  das  Clan-Totemtier  und  seine  ir- 
dischen Vertreter  zugleich  Schutzgeister  der  Männer  sind.  Die 
Clans  sind  in  zwei  Gruppen  geordnet.  Krankheiten  kommen 
von  Tieren,  die  von  der  entgegengesetzten  Gruppe  gegen  sie 
beschworen  sind.  Der  Kranke  wird  zunächst  drei  Tage  lang 
dem  Schamanen  zur  Kur  überlassen,  der  die  Medizin  durch 
ein  Rohr  auf  den  Kopf  des  Patienten  bläst,  worauf  allgemeine 
Tänze  um  das  Feuer  stattfinden.  Der  erste  Tanz  wird  nach 
dem  Tier  genannt,  das  für  die  Krankheit  verantwortlich  ge- 
macht wird.  Andere  richten  sich  an  die  verschiedenen  Schutz- 
tiere um  Linderung.  Das  erste  Einsammeln  des  Maises  wird 
aUgemein  an  einem  bestimmten  Tage  durch  Fasten  usw.  ge- 
feiert.   Eine  private  Zeremonie  ist  die  Übertragung  der  schama- 


^  Journ.  of  Atner.  Folklore  XX,  S.  50—58.     190^ 


262  K.  Tb.  Preuß 

nistischen  Lehren  auf  den  Lernenden.  Dagegen  kann  die 
wirkliche  schamanistische  Macht  nur  durch  dreitägiges  Fasten 
im  Walde  von  Geistern  erlangt  werden,  die  als  Vorfahren  im 
weitesten  Sinne  gelten  und  dort  im  Walde  leben. 

Pueblo-Indianer.  Eins  der  hervorragendsten  Werke 
der  amerikanischen  Ethnologie,  das  Ergebnis  einer  Reihe  ihrer 
Forschungsreisen  dahin  seit  dem  Jahre  1879,  ist  unter  dem 
Titel  The  Zuiii  Indians,  their  mythology,  esoteric 
fraternities  and  ceremonies  von  Matilda  Coxe  Stevenson^ 
erschienen.  Es  schildert  mit  einem  Male  als  Frucht  eines 
ganzen  Menschenlebens,  was  wir  bei  den  benachbarten  Hopi 
in  einer  großen  Anzahl  von  Einzelpublikationen  haben,  und 
ist  insofern  bei  weitem  übersichtlicher  als  diese,  obwohl  auch 
hier  die  Verfasserin  in  dem  Bestreben,  alles  Gesehene  und  Ge- 
hörte mit  photographischer  Treue  und  als  Erklärung  nur  die 
wirklich  geäußerten  Anschauungen  der  Eingeborenen  zu  geben, 
dem  Leser  nicht  im  geringsten  mit  dem  eigenen  Nachdenken 
so  vieler  Jahre,  z.  B.  in  der  Scheidung  des  Wichtigen  vom 
Unwichtigen,  zu  Hilfe  kommt.  Alle  mythologisch  erklärenden 
Feststellungen  sind  dafür  nach  mehrfachen  Bestätigungen  von 
Seiten  der  Eingeweihten  zustande  gekommen.  Hier  aber  hätte 
man  gern  noch  ein  Mehr  gehabt  und  lieber  eine  Kontrolle  in 
dem  genauen  Wortlaut  diktierter  einheimischer  Texte  gewünscht 
—  je  mehr  Varianten,  desto  besser  —  und  wenn  auch  das 
Buch  dadurch  auf  den  doppelten  Umfang  angeschwollen  wäre. 
Ein  Verständnis  des  Ganzen,  soweit  das  überhaupt  möglich 
ist,  wird  nach  der  durchaus  richtigen  Ansicht  der  Verfasserin 
erst  nach  Aufnahme  der  benachbarten  bzw.  verwandten  Stämme 
zu  erwarten  sein.  Allein  die  Fülle  des  Vorhandenen  würde 
doch  schon  jetzt  manches  Ergebnis  zeitigen. 

Der  Eindruck,  den  das  in  dem  Buche  geschilderte  starke 
religiöse  Leben  —  die  materielle  Seite  nimmt  einen  ganz  ver- 


S3d  ann.  Rep.  Bureau  ofFAhnology,  Washington  1904,  S.  1—634. 


Keligionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  263 

schwindenden  Raum  ein  —  auf  den  Leser  macht,  ist  geradezu 
überwältigend.  Man  hat  hier  wieder  den  Beleg  dafür,  wie 
leicht  Nahrungserwerb,  Krankheit  und  das  Streben  nach  Nach- 
kommenschaft übernatürliche  Mittel  erzeugt.  Hier  können 
nur  einige  wenige  Einzelheiten  folgen.  Das  relative  Verständnis 
hängt  vorläufig  zum  größten  Teile  von  den  Ideen  der  Zuni 
über  ihren  und  der  Götter  mythologischen  Ursprung  ab.'  So- 
wohl die  Feste,  in  denen  eine  bunte  Mannigfaltigkeit  von  Gott- 
heiten auftritt,  wie  die  zahlreichen  Geheimgesellschaften,  die 
an  den  Festen  fungieren  und  ihrerseits  wieder  ihre  verwickelten 
Einführungszeremonien  für  neue  Mitglieder  und  Zauber- 
versammlungen haben,  gehen  auf  die  Zeiten  unmittelbar  nach 
dem  Herauskommen  der  Zuni  aus  der  Unterwelt  zurück.  Einen 
hervorragenden  Anteil  an  den  Festen  haben  die  Ahnengötter, 
die  unten  im  Wasser  eines  Sees  in  dem  „Tanzdorfe"  (Kothlu- 
waläwa)  wohnen  und  aus  den  in  der  Urzeit  darin  versunkenen 
und  dort  herangewachsenen  I\ indem  bestehen.  Ihrer  Orga- 
nisation entspricht  die  Gliederung  der  Zuni-Priester.  Um  nach 
dem  Tode  auch  dorthin  zu  gelangen,  werden  alle  kleinen 
Knaben  in  den  Orden  der  Kötikili  aufgenommen  (alle  vier 
Jahre  im  April),  indem  die  Götter  aus  der  Unterwelt  zusammen 
mit  der  „Federschlange*'  (Köloowisi)  erscheinen  und  ihren 
Hauch,  den  sie  auf  ihre  Federstäbe  abgeben,  auf  die 
Lippen  der  Kinder  übertragen.  Acht  Tage  vorher  kommt 
der  Götterbote  Tkäklo  auf  den  Schultern  der  Köyemshi, 
einer  auf  unnatürliche  Weise  zur  Welt  gekommenen  Gruppe 
der  Ahnengötter,  die  an  den  Festen  stets  hervorragend  durch 
Tänze  und  burleske  Szenen  beteiligt  sind,  ins  Dorf,  um  die 
Ankunft  der  Götter  zu  verkünden  und  die  mythische  Geschichte 
der  Zuni  -  die  hier  im  Urtext  gegeben  wird  —  mitzuteilen. 
Und  wie  die  Götter  ins  Dorf  kommen,  so  besucht  angeblich 
auch   der  Oberpriester   das   „Tanzdorf"   der  Ahnengötter.     Die 

*  Sehr    willkommen    zur   Vergleichong    sind    hier    F.  H.  Cushings 
Outlines  of  Zuni  creation  myths,  IStJ^  Bep.  Bureau  of  Eihnöl.  1896. 


264  K.  Th.  Preuß 

Ahnengötter  sorgen  für  den  Regen  —  um  den  sich  alle 
Wünsche  in  diesen  trockenen  Regionen  drehen  —  und  ihnen 
entsprechen  auf  Erden  hauptsächlich  die  Regenpriester  (äshi- 
wanni).  In  diesen  Funktionen  der  Ahnengötter  stehen  die 
Zuni  nicht  vereinzelt  da.  Sowohl  die  Katshina -Tanzgötter  der 
Hopi  werden  mit  den  Toten  identifiziert,  wie  auch  die  „Alten" 
(Verstorbenen)  der  Cora  Regengötter  sind.  Die  Regengötter 
der  alten  Mexikaner  stellte  man  sich  als  kleine  Kinder  vor, 
und  bei  den  Cora  wurden  die  kleinen  Kinder  in  Watte,  d.  h. 
in  Wolken  gehüllt,  begraben.  So  haben  wir  die  Verbindung 
mit  den  Kinder -Ahnengöttern  der  Zuni.  Auch  die  Feder- 
schlange, die  am  Morgen  der  Zeremonie  aus  einem  mit  Wolken 
gekrönten  Brett  schaut  und  Wasser  spendet,  gibt  bei  den  Hopi 
Wasser  und  verursacht  dort  eine  Flut.  Bei  den  Cora  entspricht 
ihr  die  im  Westen  bei  der  Erd-  und  Mondgöttin  wohnende 
mächtige  Schlange,  die  ebenso  wie  bei  den  Mexicano  vom 
Morgenstern  des  Morgens  erlegt  werden  muß,  damit  keine 
Flut  entsteht,  und  dann  bei  den  Cora  vom  Adler,  der  Sonne 
verspeist  wird.  Und  endlich  wohnt  in  den  altmexikanischen 
Bilderschriften  der  Mond  in  dem  Rachen  dieser  nächtlichen 
Federschlange  und  wird  mitsamt  der  Schlange  des  Morgens 
vom  Adler,  der  Sonne,  gepackt.  Und  auch  dort  ist  sie,  wie 
bei  den  Maya,  als  Wasser  bezeugt.  Sie  ist,  wie  sich  bei  den 
Cora  sicher  nachweisen  läßt,  die  als  Wasser  aufgefaßte,  per- 
sonifizierte Nacht. 

Da  wie  gesagt  die  Feste  und  Geheimgesellschaften  einmal 
durch  ihre  Zeremonien,  anderseits  durch  den  Mythus  ihres 
Ursprungs  und  nicht  ihrer  natürlichen  Entstehung  nach  ge- 
kennzeichnet werden,  so  ist  es  unmöglich,  hier  mehr  als  einige 
Momente  aus  dem  reichen  Material  anzuführen.  Genau  dem 
Sonnenstand  entsprechend  wird  die  Winter-  und  Sommer- 
sonnenwende eine  ganze  Anzahl  von  Tagen  gefeiert.  Erstere 
ist  die  Zeit  des  massenhaften  Darbringen s  von  Gebetsfedern 
(telikinawe)     besonders    für    die     Sonne.       Dazu    werden    die 


I 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906 — 1909  265 

Zwillingskriegsgötter,  die  aus  der  Umarmung  der  Sonne  und 
des  Wasserfalls  entstanden,  gefeiert,  um  als  Vermittler  bei  den 
„Regenmachern"  während  des  Jahres  zu  dienen.  Heiliges  Feuer 
wird  neu  gebohrt.  Die  Häuser  werden  gereinigt,  und  Kehricht 
und  Asche  auf  den  Feldern  vergraben  mit  den  Worten,  es 
möge  als  Maiskorn  und  Mehl  wiederkehren.  Gleich  nach  den 
Zeremonien  der  Wintersonnenwende  beginnen  die  Tänze  der 
zeugungskräftigen  Körkokshi- Ahnengötter,  die  aus  dem  ,,Tanz- 
dorfe"  (Kothluwaläwa)  heraufkommen  und  bis  zur  zweiten 
Hälfte  des  März  tanzen,  damit  Mais  und  Wohlhabenheit  in 
jeder  Beziehung  einkehre.  Bei  dem  Fest  der  Sommersonnen- 
wende ist  außer  dem  erneuerten  Darbringen  von  Gebetsfedern 
die  Regenzeremonie  der  10  Köyemshi  bemerkenswert,  die  hier 
Dümichimchi  genannt  werden.  Nackt  bis  auf  die  Schambinde 
gehen  sie  hintereinander  her,  beide  Hände  auf  die  Binde  des 
Vordermannes  gelegt,  und  werden  von  den  auf  den  Dächern 
stehenden  Weibern  mit  Wasser,  in  das  heiliges  Mehl  gesprengt 
ist,  Übergossen.  Eine  von  mir  veröfiFentlichte  antike  Schale* 
zeigt  den  Vorgang,  doch  tragen  die  Dümichimchi  dort  Phallen, 
während  die  Verfasserin  hier  ausdrücklich  angibt,  daß  die  Köyemshi 
nicht  den  „Samen  der  Zeugung"  besitzen  (S.  32.)  Ich  er- 
wähne nun  nur  noch  die  großen  Regenaufführungen  im  Herbst, 
das  größte  Fest  der  Zuni  überhaupt,  an  dem  große  Ausgelassen- 
heit und  sinnlose  Betrunkenheit  herrscht.  Da  rennen  die  Shaläko. 
die  sechs  Riesenboten  der  „Regenmacher"  von  einer  Weltgegend 
zur  andern,  denn  die  „Regenmacher*'  müssen  sich  durch  sie  mit- 
einander verständigen,  damit  es  regnen  kann.  Dazu  kommt 
dann  noch  eine  Unmenge  geringerer  Festlichkeiten,  die  z.  T. 
mythische  Vorgänge  darstellen,  z.  B.  der  alle  4  Jahre  statt- 
findende Tanz  der  Klänakwe,  eines  von  den  Vorfahren  besiegten 
mythischen   Volkes,  durch   den  ihre   Geister   versöhnt   werden 


*  S.  Phallische  Fruchtbarkeitsdämonen,    Archiv   für  Anthropologie 
N.F.  I,  S.  131/2. 


266  K.  Th.  Preuß 

sollen,  ferner  das  Regen-  und  Wachstumsfest  der  Hlähewe, 
ebenfalls  alle  vier  Jahre  gefeiert,  das  das  dritte  Erscheinen 
der  mythischen  Kornmädchen  vor  den  Vorfahren  der  Zuni  vor 
Augen  führen  soll,  u.  dgl.  m.  Endlich  haben  auch  die  vielen 
geheimen  Gesellschaften,  die  in  den  Umrissen  schon  früher  be- 
kannt waren,  ihre  Einführungs-  und  sonstigen  Riten,  abgesehen 
davon,  daß  sie  an  den  allgemeinen  Festen  ihre  Rollen  spielen,  die 
Götter  darstellen  und  zur  Mannigfaltigkeit  des  Bildes  beitragen. 

Pima.  Die  Pima  sind  sieben  Monate  lang  (1901 — 1902) 
von  Frank  Russell  gründlich  und  allseitig  untersucht  worden, 
so  daß  wir  in  seinem  Werke  The  Pima  Indians^  auch  alles 
die  Religion  betreffende  Material  vorfinden.  Es  ist  sehr  reich- 
haltig und  interessant,  obwohl  der  Verfasser  meist  aus  den 
Berichten  und  Diktaten  (?)  von  Mythen,  offiziellen  Reden  und 
Gesängen  alter  Leute  des  Stammes  schöpft,  da  sich  das  Leben 
des  Stammes  doch  schon  einigermaßen  verändert  hat,  zumal 
auch  der  beständige  Krieg  der  seßhaften  ackerbautreibenden 
Pima  mit  den  schweifenden  Apachen  aufgehört  hat,  der  dem 
ganzen  Leben  sein  Gepräge  aufdrückte. 

In  den  abergläubischen  Ideen,  die  mit  diesen  Kämpfen 
verbunden  sind,  ist  ein  ungewöhnlich  bezeichnendes  Material 
dafür  vorhanden,  daß  trotz  aller  kriegerischen  Fertigkeit,  Ge- 
wandtheit und  Abhärtung  doch  das  Hauptmoment  für  den  Er- 
folg und  Mißerfolg  in  der  Magie  lag.  Der  Verfasser,  der  von 
vornherein  gar  nicht  geneigt  ist,  Zauberei  und  Religion  auf 
Kosten  der  profanen  Momente  in  den  Vordergrund  zu  schieben, 
sagt  selbst:  „Nicht  die  Stärke  oder  Klugheit  der  Apachen 
fürchteten  sie,  noch  den  scharfen  Pfeil,  sondern  ihre  Magie", 
und  diese  muß  durch  Zeremonien  überwunden  werden.  Die 
deshalb  vor  dem  Auszug  vorgenommenen  ausgedehnten  Zere- 
monien erwähnt  Russell  nur  summarisch.    Dafür  hat  er  uns  eine 


'  Report    of  the  Bureau  of  Amer.  Ethnol.   1904/05.     Washington 
1908.     S.  1  —  389. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  267 

Anzahl  wichtiger  Kriegsreden  in  Text  und  Übersetzung  mitgeteilt, 
die  teils  vor  dem  Auszug,  teils  in  jeder  Nacht  des  Kriegszuges 
von  einem  Berufsredner  gehalten  wurden.  Darin  wird  in  Gestalt 
von  Träumen  und  Visionen  und  von  feststehenden  Tatsachen  aus- 
führlich mitgeteilt,  daß  er  den  für  den  Erfolg  notwendigen  Zauber 
von  einer  Menge  von  Dämonen  und  Tieren  aller  Art  erlangt 
habe,  während  die  Waffen  und  Kräfte  des  Feindes  harmlos  und 
weich  gemacht  werden  würden.  Die  Grundlage  für  diese  R^den 
bilden  die  Reden  der  Götter  in  der  mythischen  Zeit.  Auch 
die  Erzählung  siegreicher  Taten  hatte  darin  offenbar  einen 
Zauberzweck.^  Darauf  wurde  der  (nicht  mitgeteilte)  Kriegs- 
gesang gesungen,  während  ein  Schamane  eine  Feder  der  Eule, 
des  helfenden  Tieres,  über  ihnen  schwang,  und  dann  verkündete 
er  die  Anzahl  der  Feinde,  die  erschlagen  werden  würden.  Ein 
allgemeiner  Kriegstanz  feierte  den  Sieg.  Im  Kampfe  rotierte 
er  schnell  seinen  mit  Sonnensymbolen  geschmückten  Schild, 
um  dadurch  ihre  Zauberkraft  zur  Wirkung  zu  bringen,  und 
sprang  in  steter  Bewegung  seitlich  hin  und  her.  Wie  Raub- 
tiere und  Raubvögel  sollten  sie  nach  dem  Ausdruck  der 
Zeremonialreden  vorgehen  —  offenbar  wiederum  eine  zauberische 
Methode,  ebenso  wie  der  ganze  phantastische  Kriegsschmuck. 
Unmittelbar  nach  dem  Kampfe  aber  mußte  sich  der  siegreiche 
Krieger,  der  einen  Feind  erschlagen  hatte,  16  Tage  lang  in  der 
Zurückgezogenheit  unter  Fasten  reinigen.  Nur  einmal  kam  er 
in  der  Zwischenzeit  heim,  um  einen  Fetisch  aus  dem  Haar  des 
Erschlagenen  zu  machen,  das  er  in  Adlerdaunen  hüllte.  Würde 
er  sich  der  Reinigung  entziehen,  so  würden  seine  Glieder  steif 
werden. 

Außer  einigen  nach  einem  Kriegszug  gesungenen  und  den 
später  zu  erwähnenden  Festliedern  hat  Russell  eine  Menge  von 
Heilgesängen  in  Text  und  Übersetzung  gegeben,  die  die  Haupt- 
sache bei  der  Heilung  von  Krankheiten  bilden.    Ein  Gesang  sucht 


*  Vgl.  Preuss  Ursprung  der  Religion  und  Kunst,  Globus  Bd.  87  S.  396. 


268  K.  Th.  Preuß 

die  Diagnose,  die  darin  bestellt,  daß  ein  bestimmtes  Tier,  sel- 
tener ein  Medizinmann  oder  ein  Objekt  dia  Krankheit  verursacht 
habe,  und  zwar  hat  jede  Krankheit  ein  bestimmtes  Tier  usw. 
Dieses  wird  in  einer  Nachbildung  oder  in  Gestalt  eines  Teiles 
über  die  betreffende  Stelle  gehalten,  und  schließlich  saugt  der 
Schamane  das  Übel  aus  dem  Körper.  Eine  andere  weniger 
geachtete  Klasse  von  Medizinmännern  heilt  jedoch  durch  An- 
wendung natürlicher  Heilmittel. 

Was  bei  andern  Stämmen  an  den  Festen  vor  sich  ging, 
nämlich  die  Herbeizauberung  des  Regens  und  des  Wachstums 
der  Saaten,  wird  hier  durch  gesonderte  Tricks  einer  dritten 
Klasse  von  Schamanen  (makai)  ersetzt,  die  auf  das  überraschende 
Erscheinen  einiger  Weizenkörner  oder  von  Wasser  hinauslaufen. 
So  schüttelte  man  Weizenkörner  aus  dem  Haar  und  zauberte 
plötzlich  eine  Reihe  von  Weizenhalmen  in  verschiedener 
Größe  des  Wachstums  hervor.  Ein  Regen-  und  ein  Maisgesang 
werden  mitgeteilt.  Unter  den  Festen  kommt  besonders  das 
Erntefest  der  Früchte  des  Riesenkaktus  im  Juni  in  Betracht, 
wo  auch  andere  Früchte  reif  sind.  Bei  den  Cora  fand  ich  auch 
eine  besondere  Feier  dieser  Ereignisse  zusammen  mit  den 
Zeremonien  für  die  dann  beginnende  Regenzeit  und  die  Aus- 
saat des  Maises.  Eine  Anzahl  Zeremonien  und  tiefsinniger 
Gesänge  geben  dort  von  der  religiösen  Auffassung  des  Festes 
deutlich  Kunde.  Bei  den  Pima  jedoch  erscheint  die  Feier  nur 
noch  als  eine  heitere  Festzeit  voll  sinnloser  Trunkenheit,  deren 
Bedeutung  als  „heilige  Zeremonie"  der  Verfasser  nur  noch  zu 
ahnen  vermag.  Gesänge  dazu  scheint  es  nicht  zu  geben.  Das 
Getränk,  das  die  Cora  übrigens  nicht  kannten,  wird  aus  den 
Früchten  des  Riesenkaktus  durch  Kochen  und  einen  Gährungs- 
prozeß  hergestellt.  Bemerkenswert  ist  ferner  das  Namenfest, 
das  eine  Art  Zwangsanleihe  von  Seiten  eines  Dorfes  mit  kärg- 
licher Ernte  an  ein  reicheres  darstellt.  Vermittelst  eines  Ge- 
sanges, von  dem  der  Verfasser  leider  nur  12  von  den  70 
Strophen  mitteilt,  werden  gewissermaßen  die  Namen  der  Dorf- 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  269 

be wohner  einzeln  gefangen  und  müssen  durch  Gaben  eingelöst 
werden.  Tänze,  in  denen  die  Teilnehmer  im  Kreise,  die  Arme 
um  die  Schultern  der  Nebenleute  *(wie  bei  den  Huichol)  gelegt, 
stehen,  finden  zu  jeder  Zeit  statt,  sind  aber,  wie  aus  den  be- 
gleitenden Gesängen  zweifellos  hervorgeht,  durchaus  religiös. 
Ebenso  sind  die  Wettrennen  zauberischer  Natur,  da  in  ihnen 
jeder  Teilnehmer  einen  Ball  mit  dem  Fuße  vor  sich  herstößt, 
von  dem  geglaubt  wird,  daß  er  den  Läufer  nach  sich  zieht. 
Auch  diese,  ebenso  wie  manche  Spiele,  werden  durch  religiöse 
Gesänge  eingeleitet. 

Was  nun  die  Gottheiten  bzw.  Dämonen  anbetrifft,  so  hat 
Russell  dafür  in  den  Reden,  Gesängen  und  Mythen  (letztere  leider 
ohne  einheimischen  Text),  in  den  mitgeteilten  Auffassungen, 
Zeremonien  und  Gebräuchen  ein  ausgezeichnetes  Material  ge- 
sammelt. Jedoch  fehlt  die  psychologische  Erklärung,  die 
Charakterisierung  jeder  einzelnen  Gestalt  fast  ganz.  Auch  beim 
Lesen  der  Texte  fehlt  ein  Kommentar,  so  daß  man  trotz  der 
Kraft  und  Schönheit  zumal  der  meist  naturmythischen  Gesänge 
vor  lauter  unbeantworteten  Fragen  nicht  recht  zum  Genuß 
kommt.  Ja,  manchmal  weiß  man  nicht  einmal  genau,  bei 
welcher  Gelegenheit  der  Gesang  gesungen  wird  (S.  283  Middle 
run  song).  Der  Index  bietet  teilweisen  Ersatz  durch  den  Hin- 
weis darauf,  wo  die  zauberkräftigen  Tiere  und  sonstigen  Poten- 
zen vorkommen.  Die  Hauptgottheit  ist  die  Sonne,  die  überall 
angerufen  wird.  Sein  Weib  ist  der  viel  weniger  bedeutende 
Mond,  beider  Sohn  der  besonders  in  den  Mythen  vorkommende 
Coyote.  „Erdzauberer"  und  „älterer  Bruder"  leben  im  Osten 
und  regieren  die  Welt.  Im  Nordosten  wohnt  der  „sinkende 
Zauberer"  im  Südosten  der  „Südzauberer".  Auf  dem  Pfad  der 
Sonne  wohnen  „Blitz-",  „Donner-",  „Wind-"  und  „Schaum- 
zauberer" Der  Morgenstern  scheint  merkwürdigerweise  keine 
Rolle  zu  spielen  wie  bei  den  mexikanischen  Stämmen.  Die 
ausführliche  Schöpfungs-  und  Flutsage  ist  sehr  kraus  und  nicht 
ohne  weiteres  verständlich. 


270  K.  Th.  Preuß 

Eine  wichtige  Ergänzung  zu  dem  Werke  von  Russell  bringt 
Herbert  Brown,  A  Pima-Maricopa  Ceremony.^  Brown 
beschreibt  darin  das  Ernte-  oder  Maisfest,  das  aber  nicht  mehr 
bloß  bei  dieser  Gelegenheit,  sondern  bei  allen  wichtigen 
Stammesangelegenheiten  z.  B.  erfolgreichen  Zügen  gegen  die 
Apachen  gefeiert  wurde.  Zwei  Männer  mit  vorgebundenen, 
horizontal  stehenden  Holzphallen  treten  auf  und  stellen,  ein- 
ander gegenüberstehend  je  einen  Steinphallus  von  ca.  30  cm 
Höhe  auf  den  Boden.  Sie  kommen  mit  neun  andern 
Männern  mit  entsprechend  vorgebundenen  Holzphallen  wieder, 
die  in  zwei  Gruppen  bei  den  beiden  Steinphallen  niederkauem, 
dann  zu  zweien,  je  einer  von  jeder  Gruppe,  aufspringen  und 
die  Kohabitation  miteinander  durchmachen.  Nach  etwa  einer 
halben  Stunde  verschwinden  sie,  kommen  ohne  Phallen  wieder, 
bewerfen  einander  mit  Erde,  tanzen  um  und  durch  das  Feuer, 
um  schließlich  mit  dem  Steinphallus,  froschartig  hopsend,  zu 
verschwinden. 

Wahrscheinlich  ist  das  eine  homosexuelle  Übung  und  es 
scheint  fast,  der  Verfasser  könnte  noch  deutlicher  sein,  wenn 
er  wollte,  was  höchst  wünschenswert  wäre,  da  Ahnliches  sonst 
nirgends  festgestellt  ist.  Hier  muß  man  wirklich  sagen:  Fort 
mit  der  Prüderie,  die  das  Verständnis  einfach  ausschließt. 

Mexiko  und  Mittel  am  er  ika 

Die  mexikanische  Ethnologie  und  Archäologie  ist  wohl  die 
einzige  innerhalb  Amerikas,  wo  die  Erweiterung  und  Sichtung 
des  religiösen  Materials  Hand  in  Hand  mit  systematisch 
psychologischer  Erforschung  geht.  Wenn  auch  das  geAvonneue 
Verständnis  immer  wieder  besserer  Einsicht  weichen  muß,  so 
sind  es  doch  keineswegs  kaleidoskopartige  Bilder,  was  die  auf- 
einanderfolgenden Jahre  bieten,  sondern  eine  stufenweise  Ent- 
wicklung   mitten    durch    erkannte    und   überwundene   Irrtümer 


»  The  Ämer.  Anthrop.  VIII  1906  S.  688—690. 


I 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  271 

hindurch,  und  die  psychologischen  Erkenntnisse  wirken  wieder 
fruchtbringend  auf  die  exakte  Untersuchung  des  Materials  zu- 
rück.  Das  Schwierige  in  der  altmexikanischen  Religionswissen- 
schaft ist  die  mannigfaltige  Verwendung  volkstümlicher  Vor- 
stellungen für  augurische  Zwecke  und  geheimnisvolle  Systeme, 
wie  sie  z.  T.  in  den  Bilderschriften  vorliegen,  die  zudem  meist 
keine  alten  Kommentare  aus  der  ersten  Zeit  der  Conquista 
haben.  Daß  man  hier  nicht  mehr  ohne  Anfang  und  Ende  um- 
herirrt, ist  sowohl  dem  fortschreitenden  Eindringen  in  die 
Quellen  selbst  zu  verdanken,  wie  auch  die  bei  den  Cora,  Huichol 
und  Mexicano  aufgenommenen  Texte  und  angestellten  Beobach- 
tungen bestimmte  Richtlinien  für  die  mexikanische  Altertums- 
wissenschaft angeben,  die  heute  freilich  erst  andeutungsweise 
vorliegen. 

Das  bedeutsamste  Werk  dieses  vierjährigen  Zeitraums,  das 
nur  durch  die  skizzierte  Vereinigung  von  eindringender  Analyse 
und  von  Hypothesen  auf  Grund  psychologischen  Verständnisses 
zustande  kommen  konnte,  ist  der  zweite  Band  von  Eduard 
Seiers  „Erläuterung  zum  Codex  Borgia"^,  der  Blatt  29  —  76 
umfaßt  und  deren  erstem  Band  schon  im  vorigen  Bericht 
(IX  S.  133)  einige  Worte  gewidmet  sind.  Ein  ungemein  aus- 
führlicher Index  schließt  als  Band  III  von  152  Quartseiten 
Umfang  das  große  Werk,  in  dem  eigentlich  eine  ganze  Enzy- 
klopädie steckt,  weil  der  Verfasser  auch  alle  früher  behandelten 
Stellen  ausführlich  von  neuem  bearbeitet  und  zur  Erklärung 
außer  den  Parallelstellen  der  andern  Bilderschriften  das  ge- 
samte einschlägige  Material  heranzieht.  Einem  solchen  Werk 
kann  man  nur  gerecht  werden,  wenn  man  es  als  Ausgangs* 
punkt  für  alle  entsprechenden  Arbeiten  benutzt.  Man  wird  da- 
durch vor  manchem  Fehler  bewahrt  und  in  richtige  Bahnen 
gelenkt  werden,  selbst  wenn  man  anderer  Ansicht  ist,  denn  die 
Erwägungen  finden  in  dem  Buch  stets  auf  Grund  des  Tatsäch- 

Berlin  1906      310  S.  4«. 


272  K.  Th.  Preuß 

liehen  statt.  Viele  Partien  werden  freilich  vorläufig  nur  sehr  wenig 
zum  Verständnis  der  darin  vorkommenden  Gottheiten  und  der 
religiösen  Ideen  überhaupt  dienen,  eben  weil  sie  komplizierte 
Werke  der  Priestergelehrsamkeit  sind  und  alles,  was  darüber 
gesagt  werden  kann,  daher  auf  Hypothese  beruht.  Ich  rechne 
dazu  z.  B.  die  umfangreiche  ungemein  verworrene  Serie  Blatt 
29 — 46,  an  die  sich  der  Verfasser  ebenfalls  mit  frischem  Mute 
herangewagt  hat,  und  die  er  unter  dem  Titel  „Die  Höllenfahrt 
der  Venus"  erklärt  (S.  1 — 75)  und  vieles  andere.  Aber  auch 
diese  Teile  durchweht  eine  gegen  früher  und  noch  gegenüber 
Band  I  des  Werkes  sehr  gefestigte  Gesamtauffassung,  die  sich 
darauf  gründet,  vieles  aus  einer  Wurzel  zu  erklären,  während 
früher  viel  mehr  heterogene  Gedankengänge  die  Ausgänge  des 
Labyrinths  weisen  sollten.  Kurz  gesagt,  ist  es  die  Herrschaft 
des  Mondes,  auf  die  sich  viele  Gottheiten,  bildliche  Dar- 
stellungen, Nachrichten  und  Zeremonien  beziehen  sollen,  während 
früher  nicht  der  Ursprung  der  Gottheiten,  sondern  größten- 
teils nur  die  Zusammenstellung  ihrer  widerspruchsvollen, 
irdischen  Tätigkeit  die  höchst  unbefriedigende  und  im  Grunde 
unverstandene  Charakterisierung  abgab.  Schade  nur,  daß  nicht 
schon  Band  I  unter  diesem  Gesichtspunkte  geschrieben  ist  und 
noch  viele  Folgerungen  dieser  Mond-Lehre  zu  ziehen  bleiben. 
Statt  nun  das  Werk  selbst  durchzugehen  —  soviel  es  mir 
auch  bereits  genützt  hat  — ,  muß  ich  mich  begnügen,  im  Fol- 
genden nur  einige  Einzelheiten  daraus  anzuführen,  indem  ich 
zugleich  auf  zwei  kleinere  Arbeiten  von  Sei  er  eingehe,  die 
den  Kern  des  gebotenen  Neuen  enthalten,  nämlich  „Einiges 
über  die  natürlichen  Grundlagen  mexikanischer  Mythen"^ 
und  „Die  Sage  von  Quetzalcouatl  und  den  Tolteken  in 
den    in    neuerer    Zeit    bekannt    gewordenen    Quellen".*      In 


1  Zeitschr.  für  Ethnologie.  XXXVII.  1907.  S.  1  —  41.  Neu  ab- 
f^edruckt  in  Seier,  Gesammelte  Abhandlungen  III.    S.  806—351. 

*  Verhandl.  des  XVI.  Internat.  Amerikanisten  -  Kongresses.  1908. 
Wien  1909.     S.  129—150. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  273 

der  ersten  Arbeit  wendet  er  sich  besonders  gegen  meine  Aus- 
führungen in  einer  schon  früher  in  diesem  Archiv  IX  (S.  106) 
erwähnten  Arbeit,  „der  Einfluß  der  Natur  auf  die  Religion  in 
Mexiko  und  den  Vereinigten  Staaten"^  indem  er  für  dieselben 
Probleme  seine  Mondtheorien  als  Erklärung  bietet.  Obwohl  in 
der  Tat  im  einzelnen  Abweichungen  zwischen  uns  beiden  Tor- 
handen  sind,  so  erscheint  mir  doch  unsere  gemeinsame  Rich- 
tung, den  Xachthimmel  als  Ausgangspunkt  für  die  Gottheiten 
anzusehen,  also  die  Religion  als  eine  astrale  aufzufassen,  zu 
überwiegen.  Diesem  Standpunkt  habe  ich  besonders  in  meiner 
Arbeit:  „Der  dämonische  Ursprung  des  griechischen  Dramas 
erläutert  durch  mexikanische  Parallelen"'*  und  in  „Natur- 
beobachtungen in  den  Religionen  des  mexikanischen  Kultur- 
kreises"^  Ausdruck  gegeben,  wovon  das  letztere  bereits  einige 
Punkte  des  ersten  die  Texte  der  Cora  behandelnden  Bandes 
meines  im  Druck  befindlichen  Reisewerkes  in  einer  kurzen 
Skizze  bringt.  Auf  die  während  und  nach  meiner  Reise  darüber 
erschienenen  religiösen  Aufsätze  ganz  verschiedenartigen  Inhalts 
brauche  ich  dagegen  um  so  weniger  einzugehen,  als  auch  dieses 
Archiv  (IX,  S.  464,  XI,  S.  369  f.)  zwei  Berichte  darüber  enthält. 
Als  gelungen  muß  man  Seiers  Beweis  für  die  Mondnatur 
vieler,  wenn  nicht  aller  altmexikanischer  sogenannter  Erd- 
göttinnen anerkennen,  der  Teteoinnan  oder  Tla9olteotl,  der 
Xochiquetzal,  der  Itzpapalotl,  der  Quaxolotl  -  Chantico  usf. 
Ich  selbst  hatte  bereits  vorher  Teteoinnan  als  einen  Stern  am 
Nachthiramel  erwiesen  und  bei  den  Cora  und  Huichol  wurden 
mir  die  entsprechenden  Göttinnen  z.  T.  direkt  als  Mondgöttinnen 
bezeichnet,  was  auch  durch  die  Texte  zweifellos  bestätigt  wird. 
Sei  er  zieht  aber  nicht  in  Betracht,  was  die  Coratexte  lehren, 
daß  das  Wort  Mondgöttin  nicht  das  ganze  Wesen  der  Gt)ttheit 

'  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Erdkutide.     Berlin  1905.     S.  361  f.,  431  f. 
*    Xeue   Jahrbücher   für   das   Klass.    Altertum.      1906.      II.    Abtlg. 
Bd.  XVIII.     S.  161—193. 

»  Zeitschr.  f.  Ethnologie.     1910.     S.  793—804. 

Archiv  f.  Beligionswisseuschaft  XIV  lg 


274  K.  Th.  Preuß 

umfaßt,  sondern  eine  Beziehung  auf  den  ganzen  nächtlichen 
Himmel  in  sich  birgt.  Auf  diese  Weise  gilt  die  Göttin  als 
Vertreterin  der  Sterne,  weil  sie  der  bedeutendste  unter  ihnen 
ist  und  den  Sternen  dieselben  Eigenschaften  wie  der  Mond- 
gottheit zugewiesen  werden.  Die  400  Pulquegötter  werden 
daher  im  Mexikanischen  400  Kaninchen  (totochtin)  ge- 
nannt, weil  ihnen  als  Sternen  das  Kaninchen  zugeschrieben 
wird,  das  man  zugleich  auch  in  den  Flecken  im  Monde  sah, 
und  ebenso  stattete  man  sie  mit  dem  Halbmond  der  Göttin  als 
Nasenschmuck  aus.  Nennt  man  sie  nun  mit  Seier  Mond- 
wesen, statt  sie  nach  Analogie  der  400  (d.  h.  unzähligen) 
Mimixcoua,  der  Sterne  des  Nordhimmels,  und  der  400 
Uitznaua,  der  Sterne  des  Südhimmels,  Sterne  zu  nennen,  so  ist 
das  sicherlich  nicht  falsch,  erschöpft  aber  ihr  Wesen  nicht. 
Ein  anderer  Punkt,  in  dem  ich  von  Seier  abweiche,  ist  eben- 
sowenig nnausgleichbar.  Es  ist  die  wichtige  Frage  nach  Tollan 
und  der  Erklärung  eines  Mythus  bei  Tezozomoc,  in  dem  der 
Sonnengott  Uitzilopochtli  die  Mexikaner  auf  ihrer  mythischen 
Wanderung  nach  dem  Couatepec  bei  Tollan  führt,  dort  eine 
Stadt  bauen  und  einen  Ballspielplatz  anlegen  läßt,  aus  dessen 
mit  Wasser  erfülltem  Loche  sich  ringsum  eine  Wasserland- 
schaft ausbreitet.  Uitzilopochtli  ergreift  dann  plötzlich  seine 
Schwester  Coyolxauh,  den  Mond,  schneidet  ihr  den  Kopf  ab  und 
reißt  ihr  das  Herz  heraus,  und  ebenso  finden  sich  morgens  die 
Mexikaner,  die  auf  einmal  mit  den  400  Uitznaua  identifiziert 
werden,  ohne  Herzen.  Er  durchbohrt  das  Wasser,  und  dieses 
samt  der  ganzen  Stadt  verschwindet  in  Nichts.  Seier  hebt  nun 
mit  Recht  hervor,  daß  hier  wie  in  dem  bekannten  Sonnenauf- 
gangsmythus, —  wo  Uitzilopochtli  in  Wehr  und  Waffen  von 
seiner  Mutter  Couatlicue  auf  demselben  Couatepec  geboren  Avird 
und  sofort  die  Coyolxauhqui,  den  Mond,  enthauptet  und  zerstückt, 
die  400  Uitznaua  aber  verjagt  —  die  Vernichtung  des  Mondes  den 
längeren  Zeitraum  seines  Abnehmens  und  Verschwindens  be- 
deutet.    Anderseits  freilich  ist  es  völlig  vergebliche  Mühe,  die 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  275 

Grundlage  des  Sonnenaufganges  hinwegdisputieren  zu  wollen,  wie 
es  Sei  er  versucht.  Darauf  beruht  auch  Seiers  Erklärung  der 
im  Wasser  gelegenen  Ansiedelung  des  Mythus.  Indem  er  die 
Ansiedelung  mit  dem  Vollmonde  identifiziert,  ist  ihm  das  Wasser 
im  Loche  des  Ballspielplatzes  dasselbe  Wasser,  das  immer  in 
der  Hieroglyphe  des  Mondes  innerhalb  eines  knöchernen  Halb- 
mondes gezeichnet  ist,  und  die  Wasserlandschaft  ist  ihm  identisch 
mit  dem  See,  in  dem  die  historische  Stadt  Mexiko  liegt.  Das  Fressen 
der  Herzen  der  Mexikaner  alias  400  üitznaua  sei  ein  Portentum , 
was  doch  überhaupt  keine  Erklärung  ist.  Seier  sollte  hier  wirk- 
lich nicht  die  selbstverständliche  Unterlage  des  Sonnenaufgangs 
verlassen.  Es  ergibt  sich  dann  von  selbst,  daß  die  Ansiedelung,  die 
er  bei  Sonnenaufgang  vernichtet,  die  Nacht  mit  der  Niederlassung 
der  Sterne  und  des  Mondes  ist.  Die  Cora  fassen  den  Nachthimmel 
als  Wasser  auf.  Er  ist  tikantse  ,,das  Haus  der  Nacht",  womit 
sie  zugleich  die  Tiefe  des  Wassers  und  einen  Ort  der  Nässe 
bezeichnen.  Auch  ist  er  bei  ihnen  eine  Wasserschlange,  die 
des  Morgens  vom  Morgenstern  erlegt  und  vom  Lichthimmel, 
dem  Adler,  verzehrt  wird.  Früher  hielt  ich  diese  Wasserland- 
schaft des  Mythus  für  die  Morgenröte,  da  der  Sonnengott  sie^ 
nachdem  er  aufgegangen  ist,  zum  Abfließen  bringt,  was  aber 
für  die  Nacht  ebenso  paßt. 

Im  weiteren  Verfolg  ist  nun  Sei  er  auch  das  mythische 
Tollan  „die  Binsenstadt"  die  wässerige  Scheibe  des  Mondes 
also  identisch  mit  der  Ansiedelung  unseres  Mythus  und  ihr 
Herrscher  Quetzalcouatl  ebenfalls  der  Mond.  Er  wandert  nach 
Verlust  seiner  Herrschaft  nach  Osten,  verbrennt  sich  in  Tlapallan, 
„dem  Rotlande",  auf  dem  Scheiterhaufen,  worauf  sein  Herz  als 
Morgenstern  zum  Himmel  emporsteigt.  Dieser  Zug  ist  für 
Sei  er  gerade  mit  ein  Beweis,  daß  Quetzalcouatl  vorher  etwas 
anderes  als  der  Morgenstern,  nämlich  der  Mond,  gewesen  sein 
muß.  Meines  Erachtens  ist  aber  gerade  das  ein  gewöhnlicher 
Zug  in  Mythen,  daß  jemand  in  menschlicher  Gestalt  allerhand 
Taten  verrichtet,  die  seinem  wahren  Wesen  als  Stern,  Tier  u.  dgl. 

18* 


276  K.  Th.  Preuß 

entsprießen,  und  sich  zum  Schluß  in  seine  wahre  Gestalt  ver- 
wandelt. Von  solchen  habe  ich  sehr  viele  aufgeschrieben.  Nach 
einem  Huicholmythus  z.  B.  raubte  jemand  die  gesäten  Mais- 
körner aus  der  Erde.  Man  lauerte  ihm  auf  und  sah,  es  war 
ein  alter  Mann.  Nun  verfolgte  man  ihn,  er  flüchtete  zwischen 
die  Steine  und  wurde  zu  einem  Dachse,  die  dadurch  zu  existieren 
begannen.  Der  Mann  tat  also  das,  was  die  Dachse  zu  tun 
pflegen.  Daß  Tollan  das  Reich  der  von  Wasser  erfüllten  Nacht 
ist,  die  der  Morgenstern  beherrscht,  kann  meines  Erachtens 
keinem  Zweifel  mehr  unterliegen,  nachdem  auch  bei  den  Cora 
der  Morgenstern  ganz  ebenso  wie  Quetzalcouatl  durch  geschlecht- 
liches Vergehen  seine  Herrschaft  verliert.^  Quetzalcouatl  nähert 
sich  eben,  indem  er  nach  Osten  fliehen  muß,  wie  der  Morgen- 
stern immer  mehr  der  Sonne,  in  deren  Strahlen  er  verbrennt. 
Daß  Tollan  zugleich  auch  ciudad  del  sol  genannt  wird,  ist  eben- 
falls nicht  zu  verwerfen,  denn  Tollan  als  Nachthimmel  kann 
ebenso  im  Westen  wie  im  Osten  angenommen  werden,  wo  die 
Sonne  aufgeht.  Seier  ist  ja  auch  bereits  dazu  gekommen,  in 
einem  von  der  kürzlich  herausgegebenen  Historia  de  Colhuacan 
y  Mexico  gebrachten  Mythus  Quetzalcouatl  als  den  Morgen- 
stern, den  Vorläufer  und  Vorkämpfer  der  Sonne,  der  die  Sterne 
besiegt,  anerkennen  zu  müssen. 

Aus  alledem  geht  aber,  wie  ich  schon  hervorhob,  hervor, 
daß  Seier  mit  der  Verfolgung  der  Mondidee  durchaus  auf  dem 
richtigen  Wege  ist,  sobald  er  die  Mondgottheit  gleich  mir 
zugleich  als  den  Nachthimmel  betrachtet  und  Eigenschaften 
des  Mondes  zugleich  auf  die  Sterne  überträgt.  Auch  Xipe  und 
Tezcatlipoca  wird  er  dann  ebensowenig  wie  Quetzalcouatl  schlecht- 
hin als  Monde  einsetzen;  die  Cora-  und  Huicholtexte  zeigen 
deutlich,  daß  der  Morgen-  und  Abendstern  —  sie  werden  als 
zwei  Personen  aufgefaßt  —  diese  Gestalten  absorbiert.  Mao  kann 
sich   über   die   unzweideutigen   Angaben   in   den   ausführlichen 


»  Vgl.  auch  Archiv  XI.     S.  387  f. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906 — 1909  277 

Texten  dieser  Stämme  nicht  hinwegsetzen.  Ich  konnte  nur  an 
einem  Beispiel  etwas  eingehender  das  Gemeinsame  und  das  Ab- 
weichende der  beiderseitigen  Schriften  zeigen.  Nicht  Kritiken 
können  hier  im  Grunde  fruchten,  sondern  eingehende  alle 
Quellen  umfassende  Arbeiten  und  Ergebnisse,  die  von  vorn- 
herein einleuchten,  weil  die  Tatsachen  keine  anderen  Schlüsse 
erlauben.  Es  muß  doch  bedenklich  stimmen,  wenn  Seier  in 
Band  I  des  Codex  Borgia  Tezcatlipoca  als  untergehende  Sonne 
und  in  Band  II  auf  Grund  derselben  Tatsachen  als  Mond  er- 
klärt, ohne  einen  festen  Ausgangspunkt  zu  haben.  Vollends 
sind  Deutungen  wie  einen  Schädel  und  einen  Wasserstrom  als 
Elemente  des  Mondbildes  undiskutabel,  da  der  Mond  ein  fest- 
stehender knöcherner  Halbmond  mit  Wasser  erfüllt  ist.  Aber 
ich  möchte  schließlich  doch  darauf  hinweisen,  wie  eine  ganze 
Reihe  von  grundlegenden  Ergebnissen  schon  jetzt  sicheres 
Gemeingut  geworden  ist.  So  fällt  es  heute  vor  allem  nie- 
mandem  mehr  ein,  die  Menschenopfer  an  die  Götter  als  etwas 
anderes  denn  als  Opfer  von  Gottheiten  zu  betrachten.  Auch 
die  Erneuerung  der  Sonne  durch  das  Opfer  Tezcatlipocas  am 
Toxcatl-Fest  ist  zweifellos  und  jetzt  gibt  Seier  sogar  schon 
zu,  daß  die  geopferten  Krieger  zugleich  Sterne  sind,  während 
ich  freilich  —  und  darin  geben  mir  ebenfalls  die  Cora  Recht  — 
die  Toten  überhaupt  als  Sterne  ansehe,  die  als  solche  zugleich 
Krieger  sind.  Auch  Seiers  Identifikation  des  Morgensterns  mit 
dem  Gott  der  Kälte  ist  im  Cora  etwas  Alltägliches. 

Ein  ungemein  wichtiges  Hilfsmittel  für  die  religiöse 
Forschung  hat  uns  Seier  in  seiner  ausführlichen  Abhandlung 
„Die  Tierbilder  der  mexikanischen  und  May ahandschriften " * 
geliefert,  wozu  die  Anregung  der  Zoologe  W.  Stempel  durch 
seine  Schrift  „Die  Tierbüder  der  Mayahandschriften" -  gegeben 
hatte.      Da   alle    diese    Tiere    nachweislich    mit    Zauberkräften 


*  Zeitschrift  für  Ethnologie      1909.     S.  209—257    381—457.      1910. 
S.  29-97,  24-2—287. 

*  Zeitschrift  für  Ethnologie.     1908.     S.  704—743. 


278  K.  Th.  Preuß 

begabt  und  z.  T.  Verkleidungen  von  Göttern  sind,  d.  b.  diese 
selbst  vorstellen,  so  gewinnen  wir  durch  diese  zoologische  Be- 
handlung eine  feste  Grundlage  für  die  Deutuug  der  Szenen, 
in  denen  die  Tiere  vorkommen,  und  für  die  Angaben  der 
Autoren,  die  sich  auf  die  Eigenschaften  der  betreflPenden  Tiere 
beziehen.  Von  den  Säugetieren  bis  zu  den  Insekten  herab  ist 
da  bei  Seier  in  45  Gruppen  alles  Vorkommende  behandelt 
worden,  was  einen  deutlichen  Begriff  von  der  Wichtigkeit  der 
Tiere  in  den  religiösen  Bilderschriften  gibt.  Der  Zoologe  und 
der  Archäologe  stimmen  freilich  nicht  immer  miteinander  über- 
ein; ersterer  sucht  mehr  die  Arten,  letzterer  —  wie  es  für 
seine  Zwecke  genügend  ist  —  die  Gattung  zu  umschreiben,  und 
dieser  bleibt  durch  seine  genaue  Kenntnis  der  zeichnerischen 
Eigentümlichkeiten  und  der  Angaben  der  Alten  dem  Zoologen 
überlegen. 

Sei  er  verdanken  wir  auch  die  Bearbeitung  des  einzigen 
alten  Berichts  über  die  mexikanische  Landschaft  Mechuacan, 
die  auch  religiös  wichtig  ist,  und  die  er  unter  dem  Titel  „Die 
alten  Bewohner  der  Landschaft  Michuacan"^  veröffentlicht  hat. 
Von  diesem  Bericht,  der  Eelacion  de  las  ceremonias  y  ritos, 
pohlacion  y  göhernacion  de  los  Indios  äe  la  provincia  de  Mechuacan^, 
fehlt  aber  leider  der  erste,  die  Götter  und  Feste  behandelnde 
Teil,  und  nur  der  zweite  über  die  Eroberung  des  Landes  durch 
die  herrschende  Dynastie  und  der  dritte  mit  seiner  Schilderung 
der  Herrschaft  bis  zur  Eroberung  des  Landes  durch  die  Spanier 
ist  vorhanden.  Der  Nationalgott  des  regierenden  Geschlechts 
ist  Curicaveri,  der  wahrscheinlich  wie  Uitzilopochtli,  der  Staram- 
gott  der  Mexikaner,  ein  Sonnengott  war.  Er  erscheint  als 
Adler,   seine  Verkörperung   ist  der  König,   und   die  Mitglieder 


'  Zum  erstenmal  gedruckt  in  Seier,  Gesammelte  Abhandlungen  III 
S.  38—156.     Vgl.  meine   Besprechung  im  Globus  Bd.  95,   1909,   S.  96  f. 

'  In  Coleccion  de  documentos  ineditos  para  la  historia  de  Espaha 
Bd.  63,  1869.  Wieder  abgedruckt  (mit  Autotypien  der  farbigen  Illustra- 
tionen) Morelia  1904. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  279 

der  königlichen  Familie  nannten  sich  vaciisecha  „Adler''.  Wie 
die  Mexikanei  hatten  auch  die  Michuaque  einen  Festkalender 
von  18  zwanzigtägigen  Zeiträumen  und  5  überzähligen  Tagen, 
und  die  18  Feste  scheinen  den  mexikanischen  zu  entsprechen. 
Am  auffallendsten  ist  das  Fest  cuingo,  an  dem,  wie  am  Fest 
Üaca  xipeiializtli  (Menschenschinder)  der  Mexikaner,  mit  den 
menschlichen  Opfern  gekämpft  wurde.  Ihnen  riß  man  dann 
das  Herz  heraus  und  häutete  sie  ab,  and  andere  führten,  be- 
kleidet mit  der  Haut,  Tänze  aus.  Die  an  diesem  Feste  gefeierte 
Gottheit  ist  ein  „Gott  des  Meeres",  was  allerdings  nicht  leicht 
mit  dem  mexikanischen  Xipe  in  Einklang  zu  bringen  ist,  es 
sei  denn  auf  dem  mythischen  Umwege  des  nächtlichen  Wassers 
am  Himmel,  in  dem  Xipe  als  Morgenstern  lebt.  Ebenso  könnte 
das  Fest  der  Göttermutter  Cueravahperi,  da  es  „wo  die  Haut 
abgezogen  wird"  heißt,  mit  dem  Erntefest  in  Mexiko  korre- 
spondieren. Neben  der  Sonne  wurde  die  Mond-  und  Frucht- 
barkeitsgöttin Xaratanga  verehrt,  die  ihr  Schwitzbad  und  ihren 
Ballspielplatz  hat,  und  der  Morgenstern.  Eine  Art  Pulque- 
gott  erinnert  wegen  seines  lahmen  Beines  an  Tezcatlipoca, 
dem  ein  Bein  fehlt,  der  aber  freilich  mit  dem  Pulque  nichts  zu 
tun  hat.  Leider  hören  die  Nachrichten  immer  gerade  da  auf,  wo 
es  anfängt,  interessant  zu  werden.  Die  Leiche  des  Fürsten 
wurde  verbrannt,  aus  den  Resten  machte  man  ein  Mumien- 
bündel mit  künstlichem  Kopfe  und  setzte  es  am  Fuße  der 
Pyramide  Curicaveris  in  einem  großen  Topfe  bei.  Sklaven  und 
Sklavinnen  wurden  ihm  zur  Begleitung  mitgegeben,  indem  man 
sie  mit  Keulen  erschlug. 

Neben  alten  Berichten,  die  man  aufzuspüren  sucht,  sind 
auch,  abgesehen  von  meinen  Studien  unter  den  Indianern  der 
Sierra  de  Nayarit,  einige  deffieutigen  Stämme  auf  ihre  Zere- 
monien und  Traditionen  untersucht  worden,  in  einem  Falle, 
dem  der  Mava  sprechenden  Lacandone,  mit  ausgezeicknetem 
Erfolge.  Aber  es  sollte  darin  noch  viel  mehr  geschehen.  Selbst 
die  Beschreibung  der  Aufführungen  an  christlichen  Festen,  wie 


280  K.  Tb.  Preuß 

sie  Nicolas  Leon  in  seinem  Werke:  Los  Tarascos,  tercera 
parte^,  etnografia  post-cortesiana  y  adual  versucht  hat,  ergibt 
manche  Ausbeute.  Ich  erwähne  z.  B.  das  Allerseelenfest  {todos 
los  santos)  am  1.  November,  wo  in  der  Nacht  die  Toten  in  die 
Häuser  kommend  gedacht  werden,  um  von  den  aufgestellten 
Speisen  zu  essen.  Bei  den  Cora  kamen  wirklich  Männer,  die 
die  Toten  darstellten  und  fortwährend  den  Schrei  der  Eule 
hören  ließen,  in  die  Häuser,  um  Gaben  zu  empfangen.  Der  Tanz 
der  Weber  (tejedores),  der  am  Corpus -Christi -Tage  (14.  Juni) 
aufgeführt  wurde,  hatte  davon  seinen  Namen,  daß  man  um  eine 
Stange  tanzte,  von  der  farbige  Stricke  herunterhingen,  und  die 
Tänzer  die  Stange  mit  den  Stricken  einflochten  und  sie  wieder 
entwirrten.  Ahnliches  fand  auch  bei  den  Cora  und  Huichol 
statt.  An  der  Prozession  dieses  Festes  nahmen  bei  den  Tarasca 
auch  die  Christusfiguren  teil,  behängt  mit  allerhand  Gebäck 
und  mit  lebenden  Eichhörnchen,  Kaninchen,  Enten,  Reihern, 
Wasserschlangen  usw.  Augenscheinlich  bezog  sich  das  alles 
auf  den  nun  einsetzenden  Regen  und  die  kommende  Ernte. 
In  den  Straßen  trieb  die  „Tarasca"  ihr  Unwesen,  ein  riesiges 
Tier  wie  eine  Eidechse  und  Schildkröte,  aus  Rohr  und  Stoff- 
überzug mit  einem  Ungeheuern  auf-  und  zuklappenden  Rachen, 
das  drei  bis  vier  Männer  trugen.  Der  vorderste  hatte  einen 
Haken  an  langer  Stange,  mit  dem  er  alles  Eßbare,  auch  Kopf- 
tücher und  anderes  an  sich  raffte.  Diese  „Tarasca"  ist  nun 
—  worauf  mich  R.  Wünsch  gütigst  aufmerksam  machte  — 
interessanterweise  wahrscheinlich  mit  der  „Tarasque"  identisch, 
dem  fabelhaften  Tier,  nach  dem  die  Stadt  Tarascon  in  Daudet 
Port  Tarascon,  S.  73  der  gewöhnlichen  Pariser  Ausgaben,  ihren 
Namen  hat.  Es  heißt  dort  (S.  74):  les  Tarasconais  celebrent 
tous  les  dix  ans  une  fete,  oü  l'on  promene  ä  travers  les  rues 
un  raonstre  en  bois  et  carton  peint,  tenant  de  la  tortue,  du 
serpent  et  du  crocodile,    grossiere   et   burlesque   effigie   de   la 


•  Mexiko  1906.     S.  187  f. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  281 

Tarasque  d'autrefois  .  .  Ja,  selbst  der  Name  Tarasca  für  die 
Bewohner  von  Michuacan.  der  erst  aus  spanischer  Zeit  stammt, 
scheint  von  dort  ihren  Ursprung  zu  haben.  Merkwürdig,  aber 
nicht  ganz  aus  christlicher  Zeit  stammend,  ist  die  Zeremonie  des 
Schwimmens  des  heiligen  Petrus.  Am  24.  Juni  bei  Aufgang 
der  Sonne  wird  die  Statue  des  Heiligen  am  See  von  Patzcuaro 
ins  Wasser  geworfen,  und  die  Fischerei gerechtsame  für  die  an- 
liegenden Dörfer  werden  von  dem  Weg  abhängig  gemacht,  den  die 
Statue  zum  Ufer  zurücklegt.  Doch  sucht  man  Abweichungen 
vom  regulären  Wege  durch  Erregung  von  Wellen  vorzubeugen. 
Auch  bei  den  Cora  wurde  die  Virgen  de  los  Dolores  und  der 
heilige  Joaquin  am  Ostersonntag  in  der  Nacht  vor  Sonnenauf- 
gang im  Bach  gebadet,  während  alle  zugleich  ein  Bad  nahmen; 
in  ihre  Hände  wurde  Schilfrohr  gesteckt,  und  man  brachte  sie 
bei  den  ersten  Strahlen  der  Sonne  zurück.^ 

Über  die  Gegend  von  Zacatlän  hinab  bis  zum  Staate  Vera- 
cruz, wo  mexikanische  und  totonakische  Bevölkerung  aneinander- 
stößt, enthält  der  Vortrag  von  Adela  C.  Breton,  Survivals  of 
Ceremonial  Dances  among  Mexican  Indians^  manches  Bemerkens- 
werte. Aus  ihm  erwähne  ich  nur  die  Zeremonie  der  voladores, 
die  von  ihr  am  17,  und  18.  Januar  beobachtet  wurde.  Auf 
einen  mehr  als  20  m  hohen  Mastbaum  kletterten  fünf  Männer 
hinauf  und  setzten  sich  zu  vieren  nach  den  vier  Richtungen 
auf  ein  viereckiges  Gestell,  während  der  fünfte  in  der  Mitte 
oben  auf  dem  Baum  einen  kurzen  Tanz  ausführte.  Plötzlich 
warfen  sich  die  vier  mit  ausgestreckten  Armen  rücklings  über 
und  schwebten  kopfabwärts  rund  um  die  Stange,  immer  tiefer 
und  tiefer  herabgelassen,  indem  der  oben  gebliebene  das  Aus- 
laufen der  an  einer  Kurbel  befestigten  Stricke  regulierte.  Auf 
dem  Boden  tanzten  inzwischen  zehn  oder  elf  Männer  in  hohen 


'  Vgl.  Preuß,  Weiteres  über  die  religiösen  Gebräuche  der  Cora- 
indianer.     Reisebericht  11.     Globus  Bd.  90.     1906.     S.  168. 

*  Verhandlungen  des  XVI.  Internationalen  Amerikanisten-Kongresses 
zu  Wien  1908  S.  513—520. 


282  K.  Th.  Preuß 

Mützen  um  den  PfaM  herum.  Wer  denkt  hierbei  nicht  an  die 
Abbildung  und  Beschreibung  bei  Clavigero^,  wo  vier  Jünglinge 
als  Vögel  verkleidet,  die  volatori,  an  Stricken  rund  um  einen 
hohen  Pfahl  schwingen? 

Sehr  wichtig  sind  die  Nachrichten,  die  Wilhelm  Bauer 
unter  den  Ma9ateca- Indianern  im  nordöstlichen  Oaxaca  ein- 
gezogen und  unter  dem  Titel:  „Heidentum  und  Aberglaube 
unter  den  Ma9ateca-Indianern"  veröffentlicht  hat.^  Jeder 
Kazike  hatte  ein  heiliges  Tier,  z.  B.  Schlange,  Tiger,  Adler  und 
Kaiman,  dem  im  Gemeindehause  oder  in  der  Kirche  ein  Ehren- 
platz eingerichtet  wurde,  und  das  göttliche  Ehren  erhielt.  Die 
nächtliche  Verwandlung  in  ein  Tier  {naJmal)  wird  teils  als 
Vorzug,  teils  als  göttliche  Strafe  angesehen.  Der  Tote  schwimmt 
wie  im  alten  Mexiko  mit  Hilfe  eines  Hundes  über  einen  großen 
Strom.  Der  Hund  muß  aber  schwarz  sein.  Deshalb  wird  ihm 
ein  solcher  mit  ins  Grab  gegeben.  Er  kommt  ferner  auf  seiner 
Wanderung  durch  ein  Reich  der  Hunde,  der  Stiere,  der  Schlangen 
und  der  Vögel,  die  ihn  geleiten,  aber  eventuell  auch  beißen, 
wenn  er  sie  im  Leben  schlecht  behandelt  hat.  Angerufen  werden 
in  allen  Fällen  die  ,,  Herren  der  Berge":  bei  Krankheit,  bei  Ab- 
wendung von  Übel,  zur  Schädigung  eines  Feindes,  zum  Gedeihen 
des  Ackers,  bei  Dürre  usw.  In  der  Opfergabe  spielt  teils  die 
Sieben,  teils  die  Zehn  bzw.  die  Fünf  eine  Rolle.  Ein  Ei, 
7  Stückchen  weißer  (Hemden)  und  7  Stückchen  brauner  Rinden- 
faser (Obergewänder),  7  Federn  des  Guacamayo  (Schmuck), 
7  Kakaobohnen  (Geld)  und  7  Kopalkömer  werden  vom  Zauberer 
unter  Gebeten  in  Mais-  oder  Bananenblätter  gehüllt  und  an  der 
passenden  Stelle  vergraben.  Besondere  Widerstandsfähigkeit 
und  Unverwundbarkeit  machen  einen  zum  Zauberer.  Der  erste 
geerntete  Maiskolben  wird  als  Opfer  mit  Truthahnblut  besprengt 
und    verbrannt.     Vorher   darf  niemand   von    dem  jungen  Mais 


•  Storia  antica  del  Messico  II  1780  S.  182. 

*  Zeitschri/t  für  Ethnologie  1908  S.  867—866. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  283 

genießen.  Interessant  als  altmexikanische  Parallele  ist  das 
Schwitzhaus  in  den  Hütten  der  Ma9ateca,  wo  Dampf  zu  Heil- 
zwecken durch  Aufgießen  auf  heiße  Steine  entwickelt  wird,  das 
Werfen  von  33  Maiskörnern,  um  aus  der  Lage  der  Spitze  nach 
Sonnenaufgang  oder  nach  einem  mittleren  Korn  zu  sehen,  ob 
der  Kranke  genesen  oder  sterben  wird,  und  die  Anwendung 
eines  aus  13  Monaten  von  je  20  angeblich  nach  Tieren  be- 
nannten Tagen  bestehenden  Kalenders,  den  die  Zauberer  noch 
gebrauchen  sollen.  Leider  erfahren  wir  über  diesen  nichts 
Näheres. 

Angesichts  unserer  geringen  Kenntnisse  über  die  Götter- 
welt und  die  Religion  der  Maya  sind  die  genauen  Nachrichten, 
die  uns  Alfred  Tozzer  von  seinen  langjährigen  Studien  (1902—5) 
unter  den  Lacandone  von  Chiapas  und  den  Indianern  Yuka- 
tans  heimbrachte.  Sein  Werk  darüber  heißt:  Ä  Comparative 
Study  of  the  Maxjas  and  the  Lacandones}  Der  Schwerpunkt 
des  Buches  liegt  in  der  Darstellung  der  bei  den  Lacandone 
beobachteten  Zeremonien  nebst  der  Aufzeichnung  und  Über- 
setzung ihrer  eigenartigen  religiösen  Gesänge,  der  einzigen,  die 
bisher  aus  dem  Mayagebiet  bekannt  sind.  Durch  zahlreiche 
Fußnoten  macht  der  Yerf.  auf  die  übereinstimmenden  Stellen 
aus  den  alten  Autoren  über  die  Maya  aufmerksam,  und  man 
muß  gestehen,  daß  es  deren  eine  ganze  Menge  gibt.  Sogar 
manche  Darstellungen  aus  den  Bilderschriften  versucht  er  mit 
Erfolg  aus  den  Zeremonien  zu  erklären.  Auch  unter  den 
Götternamen  gibt  es  einige,  die  mit  den  Namen  alter  Maya- 
götter  übereinstimmen.  Aber  ihr  Wesen  enstpricht  nicht  ohne 
weiteres  den  gleichnamigen  Gestalten.  Die  Götter  der  Lacan- 
done sind  überhaupt  in  ihrem  Ursprung  und  ihrer  Entwicklung 
keineswegs  durch  Tozzers  Forschungen  klargelegt,  so  sorgfaltig 
auch  alles,  was  über  sie  bei  den  Lacandone  vorhanden  ist,  von 
ihm  erkundet  wurde. 


*  New  York  1907  XX  und  195  S.    8  •. 


284  K.  Th.  Preuß 

Der  oberste  Gott  der  Lacandone  ist  Nohotsakyum  „der 
große  Vater",  der  dritte  von  vier  Brüdern,  die  wahrscheinlich 
die  vier  Himmelsrichtungen  vorstellen,  und  von  denen  Noho- 
tsakyum  der  Osten  ist.  Die  Sonne  ist  sein  Bote,  und  die  Dä- 
monen des  Ostens  sowie  viele  Sternbilder  und  der  Donner  sind 
seine  Diener.  Die  vier  Brüder  entsprechen  vielleicht  den  Regen- 
göttern und  Liebhabern  des  Tabakrauchens  der  heutigen  Yuka- 
teken  mit  Namen  Nukutsumtsakob  oder  einfach  Yumtsakob, 
von  denen  einer  Nohotsyumtsak ,  also  ähnlich  dem  obersten 
Gott  der  Lacandone  heißt.  Bei  den  alten  Maya  hießen  die 
Regengötter  Chac  (tsak).  Akna  „Mutter"  scheint  neben  Noho- 
tsakyum  zu  stehen.  Wenn  nun  auch  Quin,  die  Sonne,  als  ein 
untergeordneter  Gott  genannt  wird  und  dessen  Gemahlin  Akna, 
der  Mond,  nichts  mit  der  genannten  Akna  zu  tun  haben  soll, 
so  ist  die  Identität  der  beiden  mit  den  oben  genannten  obersten 
zwei  Gottheiten  m.  E.  selbstverständlich,  zumal  bei  einer  Sonnen- 
finsternis gesagt  wird:  Nohotsakyum  ist  krank.  Akna  heißt 
als  Göttin  der  Geburt  Istsei  wie  die  entsprechende  Göttin  der 
Alten  und  hat  als  solche  zum  Gemahl  Aqantsob  „der  laut  rufende 
Schieläugige"  oder  Tsitsaktsob,  ein  Name,  der  bei  Landa  als 
ein  Dämon  genannt  ist,  von  dem  in  den  Cauac-Jahren  zur 
Abwendung  von  Unheil  ein  Bildnis  aufgestellt  wurde.  Der 
berühmte  Kukulkan  der  Alten  ist  auch  bei  den  Lacandone  eine 
Schlange  mit  vielen  Köpfen,  die  bei  großen  allgemeinen  Gefahren 
wie  besonders  bei  Sonnenfinsternis  getötet  und  gegessen  wird. 
Hierin  scheint  mir  das  nächtliche  Dunkel,  wie  die  Wasser- 
schlange der  Cora,  klar  hervorzutreten.  Bei  den  heutigen 
Yukateken  heißt  diese  mythische  Schlange  Quqikan,  hat  viele 
Köpfe  und  lebt  im  Himmel.  Außer  diesen  gibt  es  noch  eine 
ganze  Menge  von  geringen  Göttern. 

Durch  Opfer  und  Gebete  verehrt  werden  in  den  Ansied- 
lungen  aber  nur  diejenigen  Götter,  zu  deren  Aufenthaltsorten 
in  den  alten  Ruinen,  besonders  in  Yaxchilan  oder  an  besondern 
geographischen  Orten  eine  Wallfahrt  unternommen  ist,  von  der 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  285 

ein  den  Gott  darstellender  geschnitzter  oder  unbearbeiteter  Stein 
zurückorebracht  ist.  Doch  darf  eine  solche  Wallfahrt  nur  mit 
dem  Willen  des  Gottes  stattfinden,  was  durch  besondere  Proben 
festgestellt  wird,  die  man  auch  anwendet,  wenn  man  dem  in 
der  Ansiedelung  befindlichen  Gott  besondere  Zeremonien,  z.  B. 
die  Erneuerung  der  Räuchergeftiße  widmen  will.  Außerdem  er- 
hält  man  die  Götter  durch  Vererbung.  Das  Familienhaupt  ist 
zugleich  Priester.  Die  Zeremonien  bestehen  stets  in  Gesängen 
und  Gebeten,  die  sich  auf  alle  Vorkommnisse  von  der  Geburt 
bis  zum  Tode  erstrecken,  in  dem  Verbrennen  von  Eopal  inner- 
halb der  Räuchergefäße  und  in  der  Darreichung  von  Speise 
und  Trank  auf  die  ausgestreckte  Zunge  des  die  Räuchergefaße 
an  einer  Seite  schmückenden  Gesichts.  Dieses  ist  der  Geist  des 
Gefäßes  und  hat  die  Aufgabe,  das  Opfer  dem  im  Innern  des 
Rauch ergefäßes  unter  dem  Kopal  liegenden  Steinidol  zu  ver- 
mitteln. Dieser  Stein  ist  der  Gott,  der  außerdem  noch  gebeten 
wird,  in  Person  zu  erscheinen,  während  das  Gesicht  sein  Diener 
ist.  Außerdem  werden  bei  der  offiziell  jährlich  stattfindenden 
Zeremonie  der  Erneuerung  der  Gefäße  eine  Menge  kleiner  ebenso 
gestalteter  Räucherschalen  angefertigt,  die  ebenfalls  Dämonen 
sind  und  teils  das  Opfer  den  einzelnen  Göttern,  t^ils  dem  obersten 
Gott  Nohotsakyum  zuführen  soHen.  Auch  die  Gefäßchen  heißen 
Sil  (Gabe),  ebenso  wie  die  auf  einem  Brett  aufgereihten  Kopal- 
klümpchen  für  die  Haupträuchergefäße.  Zugleich  sind  sie  aber 
männlich  oder  weiblich  gestaltete  Diener,  die  die  Aufträge  des 
Festgebers  an  die  Götter  mit  ausführen  helfen.  Die  männlichen 
Kopalstückchen  sollen  z.  B.  in  die  Wälder  gehen  und  Wild  für 
die  Götter  erlegen,  die  weiblichen  Mais  mahlen  u.  dgl.  m.  Je 
nach  der  Größe  der  Götter  stehen  ihnen  mehr  oder  weniger 
davon  zur  Verfügung.  Mit  dem  Feuerbohrer  wird  das  Feuer 
zum  Anzünden  des  Kopals  erzeugt. 

Von  den  alten  Autoren  bezeugte  Zeremonien  sind  dann 
das  jetzt  weniger  vorkommende  Durchbohren  des  Ohres  mit 
einer  Steinpfeilspitze,  wobei  man  das  Blut  in  die  Räuchergefäße 


286  K.  Th.  Preuß 

fallen  läßt,  und  das  Neigen  des  Körpers  über  den  brennenden 
Kopal  während  des  Singens.  Auch  die  ganze  Zeremonie  des 
Erneuerns  der  Zeremonialgeräte,  die  sich  bei  den  Lacandone 
auf  die  Räuchergefäße  beschränkt,  ist  von  Landa  als  ein  Fest 
im  Monat  Chen  oder  Yax,  Dezember  oder  Januar,  für  die  Regen- 
götter Chacs,  die  Herren  des  Feldes,  bezeugt.  Die  Lacandone 
feierten  die  Erneuerung  in  den  von  Tozzer  beobachteten 
beiden  Fällen  mehr  als  einen  ganzen  Monat  lang  von  Mitte 
Februar  bis  Ende  März,  und  zwar  wird  die  Anlage  eines  neuen 
Feldes  bis  zur  Vollendung  des  Festes  verschoben.  Auch  sagt 
der  Verf.,  daß  das  Fest  von  der  Reife  der  Feldfrucht  abhängt, 
die  den  Göttern  dargereicht  werden  muß,  bevor  sie  von  den 
Menschen  genossen  werden  dürfen.  —  Das  ist  freilich  nicht 
recht  verständlich,  da  die  neue  Ernte  schon  im  Oktober  reif 
ist.  —  Die  jährliche  Erneuerung  der  Räuchergefäße,  die  ja  eben- 
falls Götter  sind,  statt  der  eigentlichen  Gottheiten  entspricht 
m.  E.  der  Idee  der  Erneuerung  der  Götter  im  alten  Mexiko. 
Die  Wendung  der  Gesichter  der  „lebenden"  Gefäße  nach  Osten, 
der  alten  „abgestorbenen"  nach  Westen  entspricht  dem  Zu- 
sammenhange des  menschlichen  Lebens  bei  den  Cora  und 
Mexicano  mit  dem  Osten  und  umgekehrt,  und  auch  sonst  dürfte 
eine  genaue  Vergleichung  der  Indianer  der  Sierra  de  Nayarit 
mit  den  Lacandone  von  Nutzen  sein.  Die  Gesänge  lehnen  sich 
enge  an  die  Zeremonien  an,  die  sie  ähnlich  wie  bei  den  Cora, 
wenn  auch  nicht  so  ausführlich,  schildern.  Dem  Verf  ist  die 
genaue  Zugehörigkeit  der  Gesänge  zu  den  Riten  festzustellen 
gelungen.  Leider  fehlt  darin  alles  Mythologische,  wie  über- 
haupt der  Verf  keine  Mythen  gesammelt  hat  Daraus  erklärt 
sich  die  geringe  Einsicht  in  die  Entstehung  der  Götterwelt. 
Kürzer  als  die  Religion  der  Lacandone  ist  die  Religion 
der  heutigen  Yukateken  ausgefallen  (S.  151 — 167).  Doch  muß 
der  Ausschnitt  genügen,  um  die  hohe  Bedeutung  des  Buches 
zu  würdigen,  das  auch  für  die  innige  Verknüpfung  der  Religion 
mit  den  täglichen  Vorkommnissen  des  Lebens  viele  lehrreiche 


,  Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  287 

Belege    bietet.      Mögen    ähnliche    intensive    Studien    auch    von 
anderer  Seite  nachfolgen. 

West-Indien.  In  diesem  Berichte  ist  ausnahmsweise 
eine  Arbeit  aus  dem  Gebiete  der  Westindischen  Inseln  zu 
erwähnen,  nämlich  von  Jesse  Walter  Fewkes,  The  Äborigines 
of  Porto  Rico  and Neigliboring  Islands^,  die  zwar  archäologischen 
Inhalts  ist,  aber  auf  S.  53 — 76  der  Einleitung  einiges  gering- 
fügige Material  über  die  alte  Religion  der  Bewohner  der 
Insel  zusammenstellt  Es  fußt  besonders  darauf,  daß  die 
Borinquenos  den  Bewohnern  der  andern  Großen  Antillen  Cuba 
und  Haiti  nahe  verwandt  waren  und  deshalb  auch  die  auf  diese 
bezüglichen  Nachrichten  für  sie  zu  verwerten  sind,  während 
anderseits  auch  Beimengungen  von  Caraiben  wahrscheinlich 
sind  und  deshalb  hie  und  da  auch  auf  ihre  auf  dem  Festland 
beobachteten  Sitten  bezug  genommen  ist. 

Südamerika 

Wie  immer  sind  auch  in  diesem  Zeitraum  die  religiösen  Ergeb- 
nisse der  Forschung  im  Verhältnis  zu  Nordamerika  gering,  da 
noch  viele  wenig  oder  gar  nicht  bekannte  Gebiete  vorhanden  sind, 
die  eine  extensive  Forschung  auf  weitem  Räume  herausfordern. 
Dabei  zersetzt  sich  aber  gerade  in  Südamerika  der  ursprüngliche 
geistige  Zustand  auffallend  schnell,  sobald  die  weiße  Kultur  mit 
ihren  Kautschukgelüsten  und  ihrem  oft  schonungslosen  Vorgehen 
über  den  Indianer  kommt.  Es  ist  daher  höchste  Zeit,  daß 
auch  hier  der  Forscher  neben  die  traditionellen  Reisen  von 
Stamm  zu  Stamm  möglichst  das  ruhige  Monate  und  vielleicht 
ein  ganzes  Jahr  währende  Studium  bei  einem  Stamme  setzt, 
zumal  auch  dort  schon  sehr  häufig  Dolmetscher  unter  den 
Indianern  der  betreffenden  Stämme  zu  finden  sind. 


'  25tb  Annual  Report  ofihe  Bureau  of  American  Ethnology  1903/Oi, 
Washington  1907  S.  1—220. 


288  K.  Th.  Preuß 

Von  der  die  südamerikanischen  Forschungen  bisher  be- 
herrschenden Tradition  aus  muß  man  es  daher  auch  verstehen, 
daß  selbst  eine  so  erfolgreiche  Expedition  wie  die  von  Theodor 
Koch-Grüuberg  in  das  Quellgebiet  des  Rio  Negro  nicht  so 
tief  in  die  Religion  der  zahlreichen  von  ihm  besuchten  Stämme 
eindringen  konnte,  wie  es  möglich  gewesen  wäre,  weil  trotz 
der  Länge  der  zur  Verfügung  stehenden  Zeit  auf  den  einzelnen 
zu  wenig  kam.  Trotzdem  haben  wir  eine  sehr  erhebliche,  ja 
für  die  Beurteilung  der  südamerikanischen  Maskentänze  als 
Tänze  von  Dämonen  gar  nicht  hoch  genug  zu  bewertende  För- 
derung unseres  religiösen  Wissens  erfahren.  Leider  haben  jetzt, 
nur  fünf  Jahre  später,  die  Kautschukhändler  das  Heim  dieser 
Indianer  vernichtet  und  sie  selbst  vergewaltigt.  Doch  beabsichtigt 
Koch  in  nächster  Zeit  auf  einer  neuen  Expedition  in  benach- 
barte Gebiete  wenigstens  der  Religion  eines  Stammes  lange 
Zeit  zu  widmen,  so  daß  wir  hoffen  dürfen,  den  Tjpus  der 
religiösen  Erscheinungen  jener  Gegend  erschöpfend  kennen  zu 
lernen. 

Das  Werk,  das  allein  von  den  Veröffentlichungen  über 
diese  Expedition  in  Betracht  kommt,  führt  den  Titel:  „Zwei 
Jahre  unter  den  Indianern"^  und  ist  nach  der  zeitlichen  Folge 
der  Ereignisse  angeordnet,  in  die  einige  rein  ethnographische 
Kapitel  eingestreut  sind,  darunter  eins  über  die  Maskentänze 
der  Kobeua,  eines  Stammes  der  Betoyagruppe  am  Rio  Caiary 
(Rio  Uaupes,  Rio  Negro).  Weitere  Maskentänze  sind  besonders 
von  den  Kaua,  einem  benachbarten  Aruakstamm  am  Rio 
Aiary  (Rio  l9ana,  Rio  Negro)  beschrieben.  Beide  Stämme 
haben  viele  Masken  und  Maskentänze  gemeinsam,  und  über- 
haupt sollen  nach  Traditionen  die  Anwohner  des  Rio  Aiary 
die  Tänze  von  denen  des  Rio  Caiary  gelernt  haben.  Umgekehrt 
macht  es  aber  der  Verfasser  wahrscheinlich,  daß  die  Kobeua 
die  Maskentänze   von   den  Aruakstämmen   übernommen   liaben. 


Berlin  1909/10.     2  Bände,  IV  u.  365  bzw.  413  S. 


i 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  289 

Koch  hat  von  ihnen  über  100  verschiedene  Masken  aus  Rinden- 
stoff mitgebracht,  die  fast  den  ganzen  Körper  verhüllen  und 
deren  Bemalung  und  sonstige  Abzeichen  zusammen  mit  den 
Bewegungen  und  den  Geräten  der  Tänzer  den  betreffenden 
Dämon  kennzeichnen.  Mehrfach  ist  er  in  der  glücklichen  Lage 
gewesen,  Maskenfesten  beizuwohnen,  während  er  sich  in  bezug 
aut  andere  Masken  die  Bewegungen  der  Tänzer  hat  vorführen 
lassen.  Danach  werden  die  Maskentänze  von  diesen  beiden 
Stämmen  nur  zur  Totenfeier,  bei  den  Kobena  neun  Tage  nach 
dem  Begräbnis,  in  einem  Falle  bei  den  Kaua  z.  B.  wenige 
Wochen  nach  dem  Tode  eines  jungen  Mannes  vorgeführt. 

Am  verständlichsten  und  auch  am  interessantesten,  weil  ähn- 
liches noch  nirgends  klar  beobachtet  worden  ist,  ist  der  Phallus- 
tanz,  an  dem  sich  alle  Masken  beteiligen  konnten.  Die  Tänzer 
tragen  große  Phallen  aus  Bast,  machen  heftige  Coitusbewegungen, 
streichen  dann  mit  der  rechten  Hand  über  die  Phallen  und 
machen  mit  der  ausgestreckten  Hand  wehende  Bewegungen, 
wie  wenn  sie  etwas  in  die  Lüfte  zerstreuten.  Der  ausströmende 
Samen  wird  überallhin  verbreitet,  in  jedem  Winkel  des  Hauses, 
am  Rande  des  Waldes,  in  der  anstoßenden  Pflanzung  und 
zwischen  den  Weibern.  Überall  soll,  wie  der  Verfasser  mit 
Recht  feststellt,  von  diesen  Dämonen  Fruchtbarkeit  verbreitet 
werden.  Daß  solches  aber  nach  einem  Todesfall  ffeschieht, 
ist  wohl,  wie  ich  schon  an  anderer  SteUe  zur  Deutung  ahn- 
lieber  phallischer  Begehungen  bei  Todesfällen  hervorgehoben 
habe^,  der  Furcht  vor  der  vernichtenden  Zauberwirkung  zu- 
zuschreiben,  die  von  dem  Toten  oder  den  dämonischen  Ursachen 
des  Todes  ausgeht. 

Den  übrigen  Maskentänzen  gibt  der  Verfasser  die  folgende  all- 
gemeine Beziehung  zum  Totenfest.  Der  Geist  des  Toten  soll  da- 
durch versöhnt  werden,  damit  er  niemand  nachholt.  Die  bösen 
Dämonen,  die  man  darstellt,  und  die  vielleicht  den  Tod  des  Yer- 


'  Ursprung  der  Religion  und  Knnst,  Globus  Bd.  86  S.  361. 

Archiv  f.  Religrionswissensohaft  XTV  19 


290  K.  Th.  Preuß 

wandten  verscliuldet  haben,  sollen  von  weiterem  Unheil  ab- 
gehalten werden.  Die  Feinde  des  Jägers,  z.  B.  der  Dämon 
Mäkukö,  der  die  Leute  mit  Giftpfeilchen  aus  seinem  Blasrohr 
erschießt,  und  der  Jaguar;  die  Schädlinge  des  Feldes,  Raupen, 
Käferlarven  und  anderes  Ungeziefer  sollen  durch  mimische 
Nachahmung  ihrer  Handlungen  und  ihres  Gebahrens  magisch 
beeinflußt  und  den  Menschen  günstig  gestimmt  werden,  in 
gleicher  Weise  auch  die  Jagdtiere  selbst,  so  daß  reiche  Jagd 
und  reiche  Ernte  werde. 

Die  Voraussetzung  dafür  ist,  daß  alle  diese  Dämonen 
in  gleicher  Weise  für  die  Jagd,  Gedeihen  und  Wachstum 
einerseits  und  für  den  Tod  anderseits  verantwortlich  sind. 
Leider  sind  wir  darüber  im  einzelnen  nicht  hinreichend  unter- 
richtet. Aus  den  Angaben  der  Indianer  über  die  einzelnen 
Gestalten  geht  vorläufig  nur  die  Beziehung  zur  Vernichtung 
von  Menschen  und  Tieren  hervor  nicht  zu  ihrer  Förderung 
und  ebensowenig  zur  Schädigung  oder  Förderung  des  Wachs- 
tums der  Felder,  während  von  einer  andern  Gruppe  nur  gesagt 
wurde,  sie  seien  gut  oder  wenigstens  harmlos,  z.  B.  der  Papagei, 
die  Hausspinne,  der  Mistkäfer,  der  Aracüfisch  usw.  So  gibt  es 
unter  den  Masken  eine  Reihe  von  riesigen  Wald-  und  Baum- 
dämonen, die  z.  B.  die  Menschen  durch  Umbrechen  der  Bäume 
oder  mit  Knütteln  töten.  Ein  großer  azurblauer  Schmetterling 
braut  in  einem  großen  Topf  die  Malaria,  eine  kleine  Blatt- 
wanze stößt  gerösteten  Pfeffer  und  streut  ihn  in  die  Luft,  wo- 
durch die  Augen  der  Arbeiter  in  den  Pflanzungen  triefäugig 
werden,  die  giftige  Vogelspinne  sammelt  „Krankheitsgift"  in 
fünf  Blattdütchen,  das  sie  im  Wald  über  den  Köpfen  der  Leute 
ausschüttet,  der  Jaguardämon  frißt  Menschen  und  Tiere,  ein 
Tauchervogel,  der  nur  von  Fischen  lebt,  frißt  alle  Fische  u.  dgl.  ra. 
Immerhin  ist  die  Gesamtanschauung  des  Verfassers,  namentlich 
auch  unter  Berücksichtigung  des  von  allen  Masken  getanzten 
Phallustanzes  und  des  Umstandes,  daß  die  Kobeua  außer  den 
genannten  Waldgeistern  andere  die  Menschen  tötende  Dämonen 


/  Religionen  der  Xaturrölker  Amerikas  1906 — 1909  291 

mit  gewaltiorem  Penis  haben  —  sehr  wahrscheinlich.  Denn  es 
lassen  sich  auch  genug  Beispiele  aus  andern  Gebieten  anführen, 
wo  die  Krankheitsdämonen  zugleich  durch  Darstellung  zur  Be- 
seitigung der  Krankheit  angehalten  werden  wie  bei  den  Iro- 
kesen. Und  so  könnten  auch  die  Dämonen,  die  Menschen  und 
Jagdtiere  vernichten,  auf  dieselbe  Weise  dazu  gebracht  werden, 
sie  zu  verschonen. 

Am  frühen  Morgen  nach  dem  Fest  werden  die  Masken 
verbrannt,  und  die  Dämonen  begeben  sich  nach  Täku,  dem 
Maskenjenseits,  oder  in  ihre,  auf  einem  andern  Gebirge  oder 
in  einer  Stromschnelle  gelegene  Wohnung. 

Masken  aus  Affenhaar  werden  von  den  Tariana  üanana 
und  andern  Anwohnern  des  Caiary-Uaupes  auch  bei  großen 
Yuruparyfesten  (dabukuri)  getragen,  an  denen  Koch  ebenfalls 
öfters,  z.  B  bei  den  Tuyuka  und  den  Tnkano  des  Rio  Tiquie 
(üaupes)  teilgenommen  und  über  die  er  neues  Material  heim- 
gebracht hat.  Die  Feste  werden  beim  Einernten  gewisser 
Palmfrüchte  gefeiert,  wobei  zugleich  Jünglinge  als  neue  Mit- 
glieder in  den  Yurupary-Bund  aufgenommen  werden,  indem  sie 
heftige  Schläge  mit  einer  Peitsche  oder  Gerte  über  Waden 
und  Bauch  empfangen,  wodurch  klaffende  Wunden  entstehen. 
Auch  die  schon  Aufgenommenen  scheinen  sich  bis  zu  einem 
gewissen  Alter  solchen  Schlägen  zu  unterwerfen.  Die  dabei 
geblasenen  großen  Flöten  sind  die  Dämonen.  Weiber  dürfen 
sie  nicht  sehen,  nehmen  aber  an  den  andern  Tänzen  des  Festes 
teil.  Der  Yurupary -Tanz  soll  zugleich  alle  Krankheiten  ver- 
treiben. Die  Dämonen  aber  sind  solche  der  Fruchtbarkeit, 
und  nach  einem  von  Koch  aufgenommenen  Mythus  der  Yahuna 
nahe  dem  Yapura  stammt  die  Paxiuba-Palme ,  aus  deren  Holz 
die  Flöten  gemacht  werden,  von  der  Asche  eines  kleinen 
Knaben,  der  Sonne,  den  die  Menschen  verbrannten.  Yurupary- 
Tänze  kommen  bei  den  Kobeua  auch  am  Totenfest  vor. 

Das  Buch  enthält  noch  eine  Menge  anderer  Tänze,  die  bei 
den  genannten  Gelegenheiten  aufgeführt  werden,  und  die  nach 

19* 


292  K.  Th.  Preuß 

ihrer  Beschreibung  interessant  sind,  deren  Natur  aber  nicht 
klar  wird,  und  ferner  Nachrichten  über  Sitten  und  Gebräuche 
namentlich  der  Kobeua,  die  erfreulicherweise  in  einem  Kapitel 
vereinigt  sind,  z.  B.  über  Zauberarzt -Kandidaten,  in  deren 
Kopf  weiße  Steinchen  hineingezaubert  werden,  über  den  Ge- 
nuß der  nach  15  Jahren  verbrannten  Totenknochen  im  Ka- 
schiri-Festtrank,  über  die  Steigerung  der  Gesichtsschärfe,  indem 
man  einem  bestimmten  kleinen  Falken,  der  durch  die  Schärfe 
seiner  Augen  bekannt  ist,  diese  aussticht  und  die  Flüssigkeit 
in  die  eigenen  Augen  träufelt,  über  die  Seele  u.  dgl.  m.  Im 
letzteren  Fall  vermißt  man  schmerzlich  die  einheimischen  Be- 
zeichnungen, da  die  Anwendung  des  Wortes  „Seele"  häufig 
Irrtümer  veranlaßt.  Sehr  viele  Stämme  haben  etwas  derartiges 
gar  nicht,  sondern  sagen  statt  dessen  „der  Tote"  wie  die  Cora 
(muitsi),  was  natürlich  ein  großer  Unterschied  ist.  Leider 
muß  ich  mich  hier  bescheiden,  aber  so  viel  ist  auf  Grund  dieses 
Buches  sicher,  daß  wir  von  dem  Forscher  noch  eingehendere 
Studien  über  die  so  äußerst  wenig  bekannte  Religion  der  Süd- 
amerikaner erwarten  dürfen. 

Über  die  livaro  an  den  drei  linken  Nebenflüssen  des 
Maraüon:  Santiago,  Morona  und  Pastaza  haben  wir  neuer- 
dings eine  recht  zuverlässige  ethnographische  Beschreibung  auf 
Grund  aller  literarischen  Quellen  und  eigener  Untersuchungen 
von  Rivet:  Les  Indiens  libaros,  etude  geogrophique,  Mstoriquc 
et  ethnograpltique^,  der  als  Arzt  der  französischen  geodätischen 
Kommission  sich  fünf  Jahre  in  Ecuador  aufhielt  und  dabei 
auch  Gelegenheit  hatte,  die  Leute  zu  beobachten  und  Nach- 
richten über  sie  einzuziehen.  Freilich  bringt  auch  seine  Studie 
nur  zum  Bewußtsein,  wie  wenig  wir  über  die  Leute  und  zumal 
über  ihr  religiöses  Leben  wissen,  dem  ein  kurzer  Abschnitt 
(XIX  S.  235 — 251)  gewidmet  ist.    Auch  sind  die  persönlichen 


'    L'anthropologie   XVIII   1907    S.  333-368,    583—618.     XIX    1908 
S.  69—87,  236—259. 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906  —  1909  293 

Ermittelungen  Rivets  nur  einige  Ergänzungen  seiner  Quellen 
bzw.  befähigen  ihn,  an  ihnen  Kritik  zu  üben. 

Ihre  einzige  Gottheit,  au  die  sie  sich  in  allen  Fällen 
wenden,  ist  Iguanchi,  der  ihnen  öfters  als  feuerspeiender  Affe 
oder  als  ein  gehörntes  Tier  erscheint  und  in  einer  Gegend  in 
den  Wirbeln  des  Amazonas,  in  Macas  z.  B.  auf  einer  Anhöhe 
lebt,  von  der  man  den  tätigen  Vulkan  Sangay  umfassen  kann. 
Dorthin  wallfahrtet  mau,  und  während  die  übrigen  tanzen,  trinkt 
derjenige,  der  mit  Iguanchi  in  Verbindung  treten  will,  das 
narkotische  natema,  den  Saft  einer  im  Wasser  gekochten  Liane, 
der  zuerst  Halluzinationen,  dann  Gefühlslosigkeit  hervorruft. 
Die  andern  ziehen  sich  zurück.  Sobald  er  wieder  zu  sich  kommt, 
steigt  er  zu  seinen  Gefährten  herab  und  verkündet  etwa  den 
Namen  dessen,  derNden  Tod  jemandes  veranlaßt  hat,  oder  den 
Ausgang  eines  Kriegszuges  u.  dgl.  m.  Die  Zauberer,  die  durch 
Kneten,  Beißen  und  Aussaugen  von  Gegenständen,  auch  durch 
Medikamente  heilen,  haben  eine  große  Bedeutung.  Sie  nennen 
zugleich  den  Namen  des  Übeltäters,  der  die  Krankheit  ver- 
ursacht hat.  Dieser  wird  dann  verfolgt.  Einige  Stämme  glauben 
an  Seelenwanderung  der  Abgeschiedenen  in  Tiere,  der  tapferen 
in  reißende,  der  feigen  in  unscheinbare  und  ekelhafte. 

Von  den  Festen  ist  nur  das  der  tsantsa,  der  bekannten 
nach  Herausnahme  der  Schädelknochen  durch  heiße  Steine  ge- 
dörrten Mumienköpfe,  ein  wenig  näher  geschildert,  obwohl  auch 
hier  der  Sinn  des  Festes  nicht  vollkommen  feststeht.  Hat  jemand 
einen  Feind  getötet,  so  muß  er  das  Fest  feiern,  sonst  läßt  ihm 
der  Tote  keine  Ruhe,  nichts  würde  ihm  mehr  geraten,  ja  er 
würde  samt  seiner  Familie  sterben.  Das  erinnert  sehr  an 
nordamerikanische  Feste  nach  der  Tötung  eines  Feindes,  z.  B. 
der  Pima,  worüber  vorher  berichtet  ist.  Auch  der  livaro  muß 
sich  nach  vorhergehendem  Trinken  von  Tabakabsud  und  nach 
mehrtägigen  Trinkgelagen  strengem  Fasten  unterwerfen  und 
sich  des  Beischlafs  enthalten.  Das  ist  für  den  livaro  über- 
haupt  ein   Mittel,  seine  Wünsche   erfüllt  zu    sehen:    daß    sein 


294  K.  Th.  Preuß 

Sohn  gesund  und  kräftig  wird,  daß  sein  Hund  gut  jagt  usw. 
Das  Fasten  dauert  bis  zwei  Jahre  und  länger,  während  welcher 
Zeit  die  Vorbereitungen  zum  Fest  getroffen,  das  Feld  bestellt 
und  geerntet,  Chicha  (bis  300  Töpfe)  hergestellt,  Wild  und 
Fische  herbeigeschafft  wird.  Beim  Beginn  des  sechs  Tage 
dauernden  Festes  endet  das  Fasten.  Die  Hauptzeremonie  ist 
der  Tanz  um  die  auf  einen  geschmückten  Pfahl  oder  an  einen 
Hauspfeiler  gehängte  tsantsa,  in  der  der  Feind  verspottet  wird, 
während  man  den  Sieger  feiert.  Doch  hat  Rivet  die  Nach- 
richt nicht  bestätigt  gefunden,  daß  ein  Alter  für  die  tsantsa 
auf  Schmähungen  von  Seiten  des  Siegers  antwortet,  bis  dem 
Kopf  schließlich  die  Lippen  vernäht  werden.  Das  Zunähen 
der  Lippen  soll  vielmehr  lediglich  zum  Ausdörrungsprozeß  ge- 
hören, damit  die  Lippen  nicht  auseinander  klaffen.  Außer  der 
Versöhnung  des  toten  Feindes  bedeutet  das  Fest  der  tsantsa 
die  Gewinnung  eines  für  alle  Lebenslagen  wirksamen  Fetisches. 
Es  wird  auch  ein  Frauenbittfest  in  Gegenwart  des  Mumien- 
kopfes erwähnt,  wenn  die  Ernte  dürftig  ausfällt  oder  die  Haus- 
tiere unfruchtbar  sind.  Ist  es  ergebnislos,  so  wirft  man  den 
Kopf  nach  Scheren  der  Haare  in  den  Wald.  Anderseits  wird 
von  jährlichen  Siegesfesten  berichtet,  an  denen  die  Köpfe  ge- 
braucht werden,  bis  sie  nach  Jahren  in  den  Fluß  geworfen 
werden.  Bei  einigen  Stämmen  scheint  der  Besitz  einer  tsantsa 
zum  Eintritt  in  die  Kriegerkaste  notwendig  gewesen  zu  sein. 
Endlich  kommen  auch  Frauen-  und  Faultierköpfe,  in  derselben 
Weise  präpariert,  als  Ersatz  der  Männertsantsa  vor,  wenn  dem 
getöteten  Feind  nicht  der  Kopf  genommen  werden  konnte. 
Von  einem  solchen  Faultierkopf,  der  jüngst  in  den  Besitz  des 
Berliner  Museums  gekommen  ist,  heißt  es  jedoch,  daß  er 
präpariert  worden  und  Anlaß  eines  solchen  Festes  gewesen  sei, 
weil  diese  Tiere  als  verzauberte  Feinde  gelten,  die  zu  vertilgen 
ein  verdienstliches  Werk  ist. 

Der  Verfasser  zählt  dann  noch  eine  ganze  Reihe  von  aber- 
gläubischen Handlungen  auf  und   meint  mit  Recht,   daß  diese 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  295 

und  die  religiösen  Ideen  ihr  tägliches  Leben  Tollkommen  beein- 
flussen. So  führen  sie  aus,  was  sie  Erfolgreiches  träumen  und 
lassen  sich  anderseits  durch  Träume  von  ihren  Absichten 
abbringen.  Gegen  Wind  und  Unwetter  ziehen  sie  mit  Geschrei 
und  Lanzen  aus  und  glauben,  die  in  der  Richtung  des  Un- 
wetters wohnenden  Feinde  rückten  an.  Der  Genuß  von  Tabaks- 
absud gilt  als  Allheilmittel,  wie  auch  das  „Fest  des  Tabaks" 
zur  Erzielung  der  Fruchtbarkeit  der  Felder  und  der  Schweine- 
herde von  dem  übermäßigen  Genuß  dieses  Mittels  seinen 
Namen  hat 

Die  wertvollen  ethnographischen  Arbeiten  von  C.  H.  de 
Goeje,  die  auf  seinen  Expeditionen  ins  Innere  von  Surinam 
beruhen,  bringen  nur  in  den  „Beiträgen  zur  Völkerkunde  von 
Surinam"*  ein  kurzes  Kapitel  über  religiöse  Verhältnisse,  das 
sich  durch  strenge  Wiedergabe  von  Einzelbeobachtungen  aus- 
zeichnet. Es  handelt  von  den  Kaliha  (Galibi).  Ojana  (Kukujana) 
und  Trio.  Von  den  Ojana  sind  besonders  die  Geräte  zur 
Vespenprobe  und  diese  selbst  bemerkenswert,  die  ziemlich  aus- 
führlich geschildert  wird. 

Ein  ergiebiges  Feld  für  das  Studium  von  mvstischen 
Medizinen  und  Zaubermitteln  ist  das  Gebiet  der  unter  europä- 
ischen Kultureinflüssen  stehenden  Bewohner  von  Peru  und 
Bolivia,  der  Quichua  und  Aymarä  und  der  Cholos.  Durch  die 
höchst  dankenswerte  Arbeit  von  Erland  Nordenskiöld,  Be- 
ceties  magiques  et  mcdicales  du  Perou  et  de  la  Bdivie^,  für  die 
er  das  Material  —  abgesehen  von  den  Belegen  aus  den  Schriften 
anderer  Beobachter  —  auf  seiner  Reise  1904/5  gesammelt  hat, 
erhalten  wir  darüber  zum  erstenmal  einen  etwas  genaueren 
Einblick,  der  die  Fülle  des  noch  Vorhandenen  und  die  Wichtig- 
keit der  heutigen  Bevölkerung  auch  für  die  Kenntnis  des  Alter- 
tums  ahnen  läßt.     Es  ist  wie  in  Mexiko  und  Zentralamerika, 

'  Int.  Arch.  für  Ethnographie  XE  S.  1—34. 

'  Journal  de  la  societe  des  americanistes  de  Paris  N.  S.  IV  1907 
S.  154—174. 


296  K.  Th.  Preuß 

wo  neben  den  Altertümern  auch  die  heutige  Bevölkerung  noch 
sehr  wichtige  Aufschlüsse  geben  könnte.  Die  Leute,  die  sich 
mit  dem  Verkauf  solcher  magischen  Mittel  dort  abgeben 
(callahuaya),  machen  kolossale  Wanderungen,  wie  es  heißt 
von  Quito  und  Bogota  im  Norden  bis  zu  den  äußersten  Grenzen 
Argentiniens  im  Süden.  So  werden  beim  Hausbau  ein  Lama- 
fötus, beladen  mit  verschiedenen  Getränken  und  Coca,  die  ver- 
schiedensten Arten  von  Zinnfiguren  und  vieles  andere  beerdigt. 
Metallobjekte  scheinen  von  den  alten  Peruanern  in  Gebäude 
eingemauert  worden  zu  sein,  wie  aus  den  Funden  hervorgeht. 
Ausräucherungen  der  Häuser,  kranker  Körperteile  und  der 
Felder,  letzteres  um  eine  gute  Ernte  zu  erlangen,  kommen  mit 
den  verschiedensten  merkwürdigen  Substanzen  vor.  Holz-  und 
Blechkreuze,  z.  T.  mit  sonderbaren  Zugaben,  z.  B.  Sonne,  Mond, 
Sterne,  Hahn,  Leiter  dienen  in  den  Häusern  gegen  den  Blitz. 
Kleine  runde  Brote  werden  gegen  Hagel  und  Donner  in  die 
Luft  geworfen.  Auch  frische  Blätter  einer  Bromeliacee,  die 
sich  ein  Jahr  lang  und  länger  ohne  Wasser  frisch  erhält, 
werden  im  Hause  gegen  den  Blitz  aufgehängt.  Ausgrabungen 
in  alten  Gräbern  verhindern  den  Regen.  Deshalb  gräbt  man 
auch  Schädel  aus  modernen  Gräbern  aus,  um  Regen  zu  ver- 
meiden. Umgekehrt  bringt  man  Regen  hervor,  indem  man 
Frösche  und  andere  Wassertiere  auf  die  Gipfel  der  Berge  legt. 
Auf  dem  peruanischen  Hochplateau  vergräbt  man  Menschenblut 
zur  Erzielung  reicher  Ernte.  Weibliche  Lasttiere  erhalten 
kräftigen  Nachwuchs,  wenn  sie  schwere  Steine  schleppen.  Die 
vielfarbigen  Pompons  an  den  Ohren  der  Haustiere  scheinen 
Amulette  zu  sein.  Pulverisierte  Schildkrötenschaleu  verbrennt 
man  neben  würmerkranken  Tieren,  um  sie  zu  heilen.  Krank- 
heiten werden  vermieden,  indem  man  an  den  Zugängen  Lebens- 
mittel als  Opfergabe  für  den  Krankheitsdämon  hinlegt.  Krank- 
heiten kommen  auch  von  den  Toten,  und  wenn  man  sie  stört, 
wird  man  krank.  Vergräbt  man  in  einem  Grabe  ein  wenig  voa 
den  Nägeln   oder  Haaren  eines  Menschen,    so  bemächtigt  sich 


\ 


/  Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  297 

der  Tote  des  Betreffenden.  Nordenskiöld  zählt  nun  eine  Menge 
äußerer  und  innerer  Mittel,  die  er  meistens  hat  bestimmen 
lassen,  gegen  bestimmte  Krankheiten  auf,  die  zum  Teil  recht 
mystisch  sind.  Gegen  Beinschmerzen  hilft  z.  B.  Einreiben  mit 
dem  Fett  eines  Jaguars,  der  früher  ein  Mensch  war  (d'un 
Jaguar,  devenu  td  par  metempsycose  apres  avoir  ete  un  komme). 
Koitierende  Paare  als  Liebeszauber  und  andere  Amulette 
werden  erwähnt,  endlich  Opfergaben  an  Coca  und  Branntwein 
an  beliebigen  Stellen,  um  Verlorenes  oder  Gesuchtes  zu  finden. 
Gewissermaßen  eine  Fortsetzung  dieser  Arbeit  für  Argen- 
tinien sind  die  schönen  folkloristischen  Abschnitte  in  dem  aus- 
gezeichneten archäologischen  Werke  Eric  Bomans  Ajdiquifes 
de  la  region  andine  de  la  republique  argetitine  et  du  desert 
d'Atacama}  In  der  Tat  findet  sich  hier  manches  Gleichartige, 
wie  auch  die  Händler  mit  Medizinen,  die  sogenannten  caUakuaga, 
hier  wie  dort  verkehren.  Aber  Boman  hat  sich  auch  tou  den 
noch  sehr  unberührten  Bewohnern  des  Dorfes  Susques  in  der 
Puna  de  Atacama  und  von  anderen  eine  Reihe  von  Anrufungen 
in  Quichua  diktieren  lassen,  die  sich  besonders  an  die  altperu- 
anische Pachamama,  die  Erde,  richten  und  erwähnt  zu  denselben 
Zwecken  unternommene  Anrufungen  an  die  nämliche  Göttin, 
die  von  Ambrösetti  aus  dem  Calchaqui-Tal  aufgenommen  sind. 
Dabei  werden  Opfergaben  an  Coca,  Chicha,  roter  Wolle  usw. 
dargebracht.  Neben  Pachamama  wird  auch  Pachatata  zuweilen 
angerufen,  worunter  Boman  den  Christengott  versteht.  Solche 
Anrufungen  und  Opfergaben  geschehen  bei  Reisen  ins  Gebirge, 
um  Ausdauer  und  wohlbehaltene  Heimkehr  zu  erzielen.  Den- 
selben Zweck  haben  die  Gaben  und  Gebete  an  Vater  Apacheta, 
die  Votivhügelchen  von  Gaben  auf  den  Höhen  der  Pässe.  Sie  sind 
zugleich  die  Altäre  für  Pachamama.  Vor  dem  Trinken  von  Chicha 
und  Branntwein  werden  einige  Tropfen  für  die  Göttin  auf  die 
Erde  gegossen.     Beim   Wollespinnen  ruft   man  die  Göttin  an, 

>  2  Bde.,  fortlaufend  numeriert,  948  S.,  8*  {Mission  scientifique  G.  de 
'^f'qui  Moni  fort  et  E.  Senechal  de  La  Grangt). 


298  K.  Th.  Preuß 

daß  der  Faden  nicht  reißt  und  die  Arbeit  schnell  von  der  Hand 
geht.  Jährlich  findet  ein  feierliches  Fest  der  Beschneidung 
der  Ohren  der  in  dem  Jahre  geborenen  Haustiere  als  Marke 
statt,  wobei  für  die  Vermehrung  der  Herde  gebetet  wird  und  die 
Ohrenteile  zusammen  mit  den  Opfergaben  auf  dem  steinernen 
Altar  in  der  Nähe  des  Hauses  vergraben  und  der  Göttin  über- 
geben werden.  Man  tanzt  unter  anderem  um  den  Altar.  Das 
Behängen  der  Ohren,  seltener  anderer  Körperteile  mancher 
Lieblings-  und  Leittiere  namentlich  unter  den  Lamas  mit  rot- 
gefärbten Wolltroddeln  ist  ebenfalls  als  ein  Opfer  an  Pacha- 
mama  aufzufassen.  Ackerbauriten  berichtet  er  aus  La  Quiaca 
an  der  argentinisch -bolivianischen  Grenze  bei  Gelegenheit  der 
jährlichen  Eröffnung  der  zu  den  Nebenkanälen  führenden 
Schleusen  am  1.  August,  wo  Pachamama  um  Segen  angefleht 
wird,  und  zur  Zeit  der  Aussaat.  Im  letzteren  Fall  wird  Pacha- 
mama durch  eine  alte  Frau  dargestellt.  Der  auszusäende  Mais 
wird  durch  Besprengen  mit  Chicha  geweiht,  Pachamama  ver- 
teilt an  jeden  Mais,  der  sofort  gesät  werden  muß.  Sie  legt 
dann  Erdklumpen  in  ein  Taschentuch,  das  sie  einem  Knaben 
umbindet.  Dieser  wälzt  sich  auf  der  Erde,  wo  der  Mais  gesät 
ist,  und  schreit  ihr  ins  Ohr:  „Pachamama!"  Dann  beerdigt 
man  die  Erdklumpen,  schüttet  Chicha  und  Cocablätter  darauf 
und  spricht:  „Pachamama,  ich  habe  dich  beerdigt.  Sei  es  zu 
glücklicher  Stunde  geschehen.  Ich  werde  mich  freuen,  wenn 
du  reif  wirst." 

Ein  Gott  der  Vicunas  und  Huanacos  ist  der  bald  männlich 
bald  weiblich  gedachte  Coquena,  der  in  der  Nacht  erscheint 
und  mit  Silber  und  Gold  beladene  Lasttiere  mit  sich  führt. 
Ihm  opfern  die  Jäger  und  fürchten  ihn  sehr.  In  den  Wasser- 
löchern wohnt  der  Pujio,  der  Krankheiten  verursacht,  indem 
er  den  Geist  des  Menschen  zurückbehält.  Darin  ähnelt  er  dem 
Wassergott  Tsakan  der  Cora.  Dem  Pujio  wird  dann  am  Wasser 
unter  Anrufung  ein  kompliziertes  Opfer  dargebracht,  indem 
man  unter  anderem  ein  trächtiges  Schaf  sehlachtet,  den  Herz- 


'  Religionen  der  Natarvölker  Amerika«  1906—1909  299 

beutel  mit  Coca  füllt  und  mit  roter  Wolle  schmückt,  den 
Fötus  mit  Körbchen,  in  denen  Coca  ist,  beladet  und  Fötus 
samt  Herzbeutel  am  Wasser  begräbt.  Nun  wird  der  Geist 
zurückgerufen.  Auch  wenn  jemand  sich  maßlos  erschreckt, 
ruft  man  den  Geist  zurück.  Dazu  kommen  noch  eine  Reihe 
anderer  Gebräuche. 

Von  besonderem  Interesse  ist  eine  Arbeit  \on  R.  E.  Lat- 
cham,  Ethndogy  of  the  Araucanos^,  die  trotz  der  nun  weit  fort- 
geschrittenen Christianisierung  und  Veränderung  der  Lebens  weise 
dieser  tapferen  Indianer  verhältnismäßig  reichliche  Nachrichten  be- 
sonders über  ihr  religiöses  Leben  bringt  auf  Grund  eines  drei- 
jährigen Studiums  der  Stämme  des  Cautintales  und  an  einigen 
Stellen  der  Provinz  Malleco.  In  einzelnen  Fällen  sind  auch  ältere 
Nachrichten,  jedoch  meist  ohne  Quellenangabe,  herangezogen. 

Ihre  Dämonen  sind  Naturwesen  von  konkreter  Form,  die 
teils  in  ein  und  denselben  Naturerscheinungen  wirken,  teils 
alle  möglichen  Objekte  zu  zeitweiligem  Aufenthalt  haben  können 
und  nach  Belieben  sichtbar  oder  unsichtbar  sind.  Auch  der 
Menschen  eigenes  Selbst  (piUi),  das  im  Traume  sich  loslöst, 
ist  körperlich,  aber  den  Menschen  unsichtbar.  Die  Pilli  selbst 
können  einander  sehen  und  sehen  auch  die  zur  Erde  zurück- 
kehrenden Toten  {am),  die  von  den  Pilli  unterschieden,  aber 
ebenso  körperlich  aufgefaßt  werden.  Als  oberster  Gott  gilt 
Pillan,  der  Donnergott,  der  zugleich  als  Feuerbringer  in  den 
Vulkanen  haust  und  die  Erdbeben  hervorbringt.  Jetzt  ist  er 
durch  Ngunemapun,  den  Herrn  der  Erde,  ersetzt,  der  nach 
Latchams  Meinung  mit  ihm  identisch  ist,  aber  in  alten  Quellen 
nie  erwähnt  wird.  Sehr  wichtig  ist,  daß  er  als  einer  und  viele 
aufgefaßt  wird.  Die  gefallenen  Krieger  gehen  in  ihm  auf  und 
kämpfen  als  Wolken  im  Gewitter,  über  das  man  sich  freut, 
wenn  es  sich  nach  Norden  zieht,  denn  dann  werden  die  Geister 
der  Spanier  von  denen  der  Araucaner  zurückgedrängt.    Andere 

'  Journal  of  the  Änthrop.  Institute  of  Great  Britain  XXXIX  1909, 
S.  334—370. 


300  K.  Th.  Preuß 

Dämonen  sind  der  Wirbelwind,  der  als  Eidechse  erscheint,  der 
Mond,  die  Frau  der  Sonne,  die  als  gute  Göttin  mit  ihrem  Licht 
die  üblen  Geister  verscheucht,  während  die  Sonne  merkwürdiger- 
weise keine  Bedeutung  hat;  ferner  der  Wassergott  in  Gestalt' 
einer  Wildkatze  mit  einem  in  eine  Klaue  endigenden  Schwanz, 
dem  alles  Übel  zugeschrieben  wird,  das  dem  Indianer  im  Wasser 
zustößt.  Der  Dämon  des  Nebels  erscheint  als  Schaf  mit  dem 
Kopf  eines  Kalbes  und  hinten  als  Seehund,  Chonchonyi,  ein 
böser  Dämon  in  Gestalt  eines  menschlichen  Kopfes,  dessen 
Ohren  als  Flügel  dienen,  schwebt  um  die  Wohnungen  der 
Kranken  und  saugt  wie  eine  Art  Vampyr  ihr  Blut,  der  Basilisk 
Terursacht  Fieber  und  Tod,  indem  er  Speichel  aus  seinem  Opfer 
herauszieht,  und  Pihuechenyi,  die  „geflügelte  Schlange",  saugt 
das  Blut  nächtlicher  Schläfer  im  Walde.  Zusammen  mit  übel- 
wollenden Dienern  Pillans,  den  Huecavus,  die  in  jeder  Gestalt 
auftreten  können,  und  den  Cherruve,  die  als  Schlangen  mit 
Menschenhäuptern  erscheinen  und  die  Kometen  und  Stern- 
schnuppen mit  ihrer  schrecklichen  Vorbedeutung  von  Tod  und 
Unglück  verursachen,  ergibt  sich  so  eine  unendliche  Menge 
von  Dämonen,  denen  jedwedes  Ungemach  des  täglichen  Lebens 
zugeschrieben  wird.  Deshalb  gilt  auch  der  Ruf  und  das  Ge- 
baren vieler  Tiere  als  unheilverkündend  und  ist  z.  B.  imstande, 
die  Teilnehmer  eines  Kriegszugs  zu  sofortiger  Umkehr  ins 
Lager  zu  veranlassen.  —  Die  Toten  gehen  nach  Westen  und 
treten  von  der  Insel  Mocha  ihren  Zug  an,  wohin  sie  durch 
gewisse  Dämonen,  die  sich  in  Walfische  bzw.  Kanus  verwandeln, 
übergesetzt  werden. 

Über  einen  den  Gottheiten  gewidmeten  Kult  wird  nichts 
gesagt,  nur  daß  man  in  den  Zeiten  großen  Unglücks,  von 
Krankheit,  Dürre  und  Hungersnot  Opfer  darbrachte.  Auch 
wird  nichts  darüber  berichtet,  daß  sie  dargestellt  wurden.  Die 
niederen  Dämonen,  die  Krankheiten  verursachen,  werden  von 
den  Zauberern,  die  zu  ihnen,  besonders  den  Huecavus,  in  Be- 
ziehung stehen,  verjagt,  oft  unter  Anrufung  der  höheren  Gott- 


Religionen  der  Naturvölker  Amerikas  1906—1909  301 

heiten.  Diese  Naturobjekte  können  dem  Menschen  in  mystischer 
Weise  nützlich  sein,  besonders  indem  man  Fell  und  Kopf 
wilder  Tiere  trägt:  das  des  Puma  verleiht  Stärke,  das  des 
Fuchses  Schlauheit,  das  der  Schlange  ungesehenes  Beschleichen 
der  Feinde.  Adlerfedern  machen  schnell  und  furchtlos  beim 
Angriff  usw.  Das  Amt  des  Zauberers,  von  denen  es  drei 
Klassen  gibt,  wird  genauer  geschildert,  namentlich  die  Art,  wie 
das  den  Tod  verursachende  Gift  durch  Herausnahme  der  Gallen- 
blase festgestellt  und  zugleich  der  betreffende  Dämon  oder  die 
Person  zur  Strecke  gebracht  wird,  was  vor  dem  Begräbnis 
geschehen  muß.  Sowohl  Latcham  in  bezug  auf  die  Araucano 
wie  auch  Rivet  für  die  livaro  wollen  durchaus  Spuren  von 
Totem ismus  aufdecken,  m.  E.  ohne  Erfolg.  Es  sieht  fast  so 
aus,  als  ob  die  Anwendung  des  Wortes  Totemismus,  wenn 
auch  dadurch  nichts  zur  Erklärung  beigetragen  wird,  eine  ge- 
wisse Befriedigung  erweckt.  Es  ist  schon  zu  einer  Art  Fetisch 
geworden.  Latcham  hätte  sich  besondere  Verdienste  erworben, 
wenn  es  ihm  gelungen  wäre,  die  Beschwönmgen  und  Gesänge 
der  Zauberer  in  der  Ursprache  festzuhalten.  Gegenwärtig  wird 
wohl  derartiges  kaum  noch  möglich  sein. 

Neger.  Es  ist  ein  glücklicher  Gedanke,  auch  die  Neger 
von  Brasilien  in  den  Bereich  der  religiösen  Betrachtung  zu 
ziehen,  wie  es  der  Abbe  Etienne  Ignace  in  der  Arbeit  Le 
feiichisme  des  negres  du  Bresü^  getan  hat  Er  beschäftigt  sich 
besonders  mit  den  Negern  der  Staaten  Rio  Janeiro  und  Bahia. 
In  der  Tat  erkennt  man  auf  den  ersten  Blick  das  im  Verhältnis 
zur  Indianerbevölkerung  Fremdartige  in  der  vorgeführten  Reli- 
gion. Da  der  Verf.  weder  Spuren  indianischer  Ideen  darin  auf- 
führt, noch  auf  Beeinflussung  der  Indianer  dadurch  eingeht,  so 
sei  mit  diesem  Hinweise  der  Berichterstattung  Genüge  geschehen. 

*  Anthropos  ITI  1908  S.  881—904. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Moderuer  Totenkult 

Meinem  Freunde,  Dr.  Edgar  von  Pickardt-Riga,  verdanke  ich 
den  Hinweis  auf  eine  interessante  Stiftung  des  verstorbenen  Provisors 
Julius  Friedrich  Stoppenhagen  -  Riga  vom  13.  August  1886.  Nach 
den  Statuten  werden  die  Einkünfte  der  Stiftung  unter  die  nächsten 
Verwandten  verteilt,  bis  auf  einen  Rest,  der  für  eine  jährliche 
Erinnerungsmahlzeit  verwendet  werden  soll.  Paragraph  11  der 
Statuten  bestimmt  darüber  folgendes:  „Zur  Erfüllung  testamen- 
tarischer Vorschrift  des  Testators  ist  jährlich  am  22.  Juli  als  an 
seinem  Geburtstage  eine  Erinnerungsfeier  an  ihn  zu  veranstalten, 
an  welcher  seine  Verwandten  und  näheren  Bekannten,  jedoch  nicht 
über  40  an  der  Zahl,  teilnehmen  dürfen.  Zu  den  Kosten  einer 
solchen  Feier  sind  nach  dem  Willen  des  Testators  von  den 
Stiftungsrevenüen,  ehe  dieselben  zur  Verteilung  gelangen,  zehn 
Prozent  vorweg  abzunehmen  und  dem  Ausrichter  des  Festes  .  .  . 
zu  behändigen."  Der  Testator  soll  nach  weiteren  Mitteilungen 
Pickardts  den  Wunsch  geäußert  haben,  daß  es  bei  der  Erinnerungs- 
feier so  fröhlich  wie  möglich  hergehe  und  bei  Anwesenheit  von 
Jugend  auch  getanzt  werde.  Die  Feier  selbst  vollzieht  sich  in  der 
Weise,  daß  die  beteiligten  Personen  an  einem  Tisch  Platz  nehmen, 
auf  dem  die  Photogi-aphie  des  Testators  aufgestellt  ist.  Darauf 
hält  einer  der  älteren  Herren  eine  kleine  Ansprache,  in  der  er 
auf  den  Zweck  des  Zusammenkommens  hinweist  und  die  An- 
wesenden auffordert,  sich  zu  Ehren  des  Verstorbenen  von  ihren 
Plätzen  zu  erheben.  Die  Anregung  zu  den  an  antike  Testamente 
erinnernden  Bestimmungen  erhielt  der  Testator  durch  eine  Zeitungs- 
notiz, derzufolge  ein  englischer  oder  amerikanischer  Arzt  dieselben 
Bestimmungen  getroffen  haben  sollte. 

Dazu  vergleiche  man  folgendes:  Nach  einer  Londoner  Korre- 
spondenz des  Berliner  Tageblatt  vom  17.  April  1910,  auf  die  ich 
durch  Alexander  Graf  zu  Dohna  aufmerksam  gemacht  werde,  ver- 
machte   der    Farbenhändler    W.  D.  Barnett    der   Londoner  Maler- 


Mitteilungen  und  Hinweise  303 

gesellschaft  sein  ganzes  Vermögen  im  Werte  von  einer  Million 
Mark  mit  der  Bedingung,  „die  Gesellschaft  solle  auf  ewige  Zeiten 
an  seinem  Geburtstag  ein  Festessen  veranstalten  und  seinen  Grab- 
stein gleichfalls  auf  ewige  Zeiten  erhalten."  Diese  Bedingung  ver- 
anlaßte  die  Testamentsbehörde,  das  Testament  für  ungültig  zu  er- 
klären; die  Malergesellschaft  ging  der  Erbschaft  verlustig,  gelangte 
aber  schließlich  auf  Umwegen  doch  noch  in  den  Besitz  des  Geldes 
und  wird  nun  das  Geburtstagsessen  auf  ewige  Zeiten  veranstalten. 

Durch  die  Freundlichkeit  des  Herrn  Dr.  M.  Stübel  in  Dresden 
besitze  ich  ferner  Mitteilungen  über  eine  ähnliche  testamentarische 
Bestimmung  aus  den  1880er  Jahren,  erlassen  von  einem  Herrn 
Schreiber,  der  vormals  dem  Korps  Saxonia  zu  Leipzig  angehörte. 
Der  betr.  Satz  lautet  folgendermaßen:  „Ich  mochte  mein  Andenken 
bei  den  Mitgliedern  (des  Korps)  wahren  und  setze  deshalb  dem 
NX.  (ebenfalls  einem  Sachsen)  eine  jährliche  Rente  von  350  M. 
mit  der  Verpflichtung  aus,  diese  Rente,  welche  sich  überdies  jedes 
Jahr  um  3  Mark  erhöhen  soll,  zugunsten  der  Saxonia  zu  ver- 
wenden, und  zwar  indem  alljährlich  mindestens  ein  dem  Betrag 
des  Vermächtnisses  entsprechendes  Mahl  bzw.  Nachtmahl  samt 
Zubehör  zu  meinem  Andenken  ausgerichtet  und  von  dem  Be- 
trag des  Vermächtnisses  bezahlt  werden  soll."  Dazu  erhielt  ich 
folgende  weitere  Angaben :  ,,  Dieses  .  . .  Mahl  findet  alljährlich  im  Mai 
statt.  Während  der  Suppe  klopft  der  Älteste  ans  Glas,  mit  ihm 
erheben  sich  alle  übrigen.  Er  fordert  auf,  zum  Gedächtnis  des 
Korpsbruders  Schreiber  das  Glas  zu  leeren ;  das  geschieht  unter 
tiefem  Stillschweigen,  man  setzt  sich  wieder  und  nun  beginnt  ein 
fideles  Diner,  das  sich  in  keiner  Weise  von  andern  unterscheidet. 
Die  Bestimmung  des  Tages  ist  willkürlich,  da  Sehr,  nichts  darüber 
bestimmt  hat.  Zur  Teilnahme  an  dem  Mahl  sind  alle  diejenigen 
Mitglieder  der  Saxonia  berechtigt,  die  am  Sachsenstammtisch  in 
der  Au  regelmäßig  teilnehmen.  Sehr,  war  ein  regelmäßiger  Be- 
sucher desselben."  — 

Ich  benutze  die  Gelegenheit,  zu  dem  Buche  von  Wilhelm 
Schmidt,  Geburtstag  im  Altertum  (Relgesch.  Vers.  u.  Vorarb.  VII 1 , 
Gießen  1908),  das  die  antiken  Parallelen  der  vorstehend  ge- 
schilderten Bräuche  zuletzt  ausfühi-lich  behandelt,  eine  Einzelheit 
nachzutragen.  S.  58  bemerkt  Schmidt,  daß  wir  seines  Wissens  von 
einer  öffentlichen  Geburtstagsfeier  lebender  Angehöriger  eines  Für- 
sten, nirgends  etwas  erführen.  Da  möchte  ich  auf  das  Psephisma 
von  Notion  hinweisen,  in  dem  nach  Brückners  einleuchtender  Er- 
klärung und  Ergänzung  eine  Geburtstagsfeier  des  Athenaios,  eines 
Bruders  des  Königs  Eumenes  II.  von  Pergamon,  erwähnt  wird 
(Österr.  Jahresh.  IX  1906,  Beibl.  S.  57fF.).  L.  Deubner 


304  Mitteilungen  und  Hinweise 

Volkskundliches 

Ein  sehr  schätzenswertes  bibliographisches  Hilfsmittel  bietet 
die  zum  zweiten  Mal  erscheinende  Bibliography  of  Anthropo- 
logy  and  Folklore  (1907),  compiled  by  N.  W.  Thomas,  London 
1908.  Sie  umfaßt  ausschließlich  Erscheinungen  innerhalb  des 
britischen  Reiches  und  verarbeitet  nicht  weniger  als  197  Zeit- 
schriften. Der  Stoff  ist  geographisch  angeordnet.  Beigegeben 
ist  ein  reichhaltiger  Sachindex,  sowie  unter  dem  Titel  Analysis 
eine  Zusammenfassung  der  Hauptwoi-te  des  Index  unter  eine  Reihe 
von  Oberbegriffen,  wie  Religion,  Sociology,  Folklore,  wodurch  die  Über- 
sicht über  das  Vorhandene  erleichtert  wird.  Karl  Knortz  ver- 
einigt in  seinem  Buch:  Der  menschliche  Körper  in  Sage, 
Brauch  und  Sprichwort,  Würzburg  1909,  sehr  disparates,  lose 
aneinandergereihtes  Material  für  die  Bedeutung  von  Kopf,  Haar, 
Gesicht,  Auge,  Ohr,  Nase,  Mund,  Zunge,  Zähne,  Arm,  Hand, 
Finger,  Rücken,  Bauch,  Fuß,  Blut,  Aussatz  und  Knochen  im 
Volksglauben.  Die  Brauchbarkeit  des  Büchleins  leidet  darunter, 
daß  literarische  Nachweise  und  Register  fehlen.  Der  um  die 
Erforschung  der  südslawischen  Volkskunde  verdiente  Friedrich 
S.  Krauß  veröffentlicht  einen  starken  Band:  Slawische  Volks - 
forschungen,  Leipzig  1908.  Nach  einem  einführenden  Kapitel, 
das  die  Haupttatsachen  der  politischen  und  kulturellen  Vergangen- 
heit der  Südslawen,  insbesondere  die  Türkisierung  ihrer  Sprache 
und  Literatur  behandelt,  folgen  zwei  umfangreiche  Abteilungen 
mit  reichem  volkskundlichen  Material.  Die  erste  enthält  Abhand- 
lungen über  Hexen,  Waldfrauen,  rückkehrende  Seelen,  Vampir,  m 
Werwolf,  Mar,  Menschenfleischessen  und  Liebeszauber,  die  zweite  ^ 
eine  beträchtliche  Anzahl  der  folkloristisch  und  für  die  Geschichte 
der  epischen  Volksdichtung  wichtigen  Guslarenlieder  mit  metrischen 
Übersetzungen.  Jedem  Liede  ist  eine  Einleitung  vorausgeschickt, 
die  den  Leser  mit  dem  historischen,  seltener  mythischen  Hinter- 
grunde bekannt  macht;  erkläi*ende  Noten  folgen  nach.  Ein  sehr 
ausführliches  Sachregister  macht  den  Beschluß.  Die  russischej 
Heldensage  behandelt  Rudolf  Abicht  in  einer  Breslauer  Habi- 
litationsschrift ( 1 907).  Er  beginnt  mit  allgemeinen  Ausführungen  übel 
die  Entwickelung  der  phantastischen  epischen  Bylinendichtung  unc 
betont  die  Bedeutung  von  Novgorod  für  die  Bewahrung  dei 
Bylinentradition  und  die  Ausprägung  der  Form,  in  der  jen< 
Dichtungen  auf  uns  gekommen  sind.  Wichtig,  von  allgemeinei 
Gesichtspunkten  aus,  ist  die  Bemerkung,  die  Bylinen  seien  nichi 
Teile  eines  Ganzen,  sondern  eine  'im  Fluß  befindliche  Masse,  die 
im  Begriff  ist,  sich  um  die  Person  des  Fürsten  Vladimir  von 
Novgorod  zu  kristallisieren'.  S.  21  findet  man  ein  Verzeichnis 
von    Bylinensammlungen.      Es   folgt   eine    kuijs    skizzierte    Analyse 


Mitteilungen  und  Hinweise  305 

der  Svetogor-Samson-Sage  nebst  Abdruck  aller  dazu  gehörigen 
Texte.  Eine  sorgfältigere  Begründung  der  vorgetragenen  Auf- 
fassungen wird  meistens  vermißt.  Eine  neue  Folge  russischer 
Volksmärchen  aus  der  Sammlung  A.  N.  Afanassjews  bietet  in 
geschickter  Übersetzung  Anna  Meyer,  Wien  1910.  Eine  kleine 
Broschüre  von  F.  W.  Brepohl,  Die  Zigeuner  nach  Geschichte, 
Religion  und  Sitte,  Göttingen  1909,  verfolgt  den  Zweck,  zu 
kultureller  Erziehung  der  Zigeuner  anzuregen,  und  gibt  in  dieser 
Absicht  einen  kurzen  Überblick  über  die  Sckicksale  und  Eigen- 
tümlichkeiten dieses  Volkes.  Derselbe  Verfasser  bespricht  in  seiner 
Schrift  Aus  dem  Winterleben  der  Wanderzigeuner,  Seege- 
feld  1910,  Leben  und  Sitten  der  Zigeuner,  wobei  ein  paar  interessante 
Bräuche  erwähnt  werden.  Auch  hier  läuft  die  Schilderung  in 
einige  programmatische  Zeilen  aus.  Bemerkungen  über  die  Ver- 
wendung von  Würfeln  zum  Zwecke  des  Orakels  findet  man  in 
der  sorgfältigen  Königsberger  Dissertation  von  Franz  Semrau, 
Würfel  und  Würfelspiel  im  alten  Frankreich,  Halle  1909, 
S.  20  f.  Die  vollständige  Arbeit  erscheint  in  den  Beiheften  zur 
Zeitschr.  f.  roman.  Philol.,  Heft  23. 

Maraunenbof  Ii.  Deubner 


Berichtigung.  Herr  Salomon  Reinach  macht  mich  darauf 
aufmerksam,  daß  ich  in  meinem  Aufsatze  über  die  Lupercalia 
(Archiv  f.  Rel.  XIII)  S.  482,2  das  Wort  louis-cerviers  falsch  ver- 
standen habe.  Es  bezeichne  vielmehr  'die  großen  Wölfe,  die  auch 
Hirsche  angreifen'.  Ähnlich  seien  die  luperci  (=  lup-hircij  als 
wackre  Wölfe  aufzufassen,  die  nicht  nur  Schafe,  sondern  auch  den 
Bock  angriffen.  Ich  vermag  diese  Ansicht  nicht  zu  teilen,  zumal 
lateinische  Analoga  fehlen. 

Sodann  war  ebd.  S.  501  für  die  Beziehung  des  Spruches 
k'Qicpog  usw.  auf  eine  Milchtaufe  Reinach  zu  zitieren  (jetzt  Cultes, 
mythes  et  religions  LI  129  f.),  der  diese  Deutung  zuerst  ausgesprochen, 
jedoch  zugunsten  der  Beziehung  auf  einen  Milchtrank  verworfen  hat. 

Endlich  stellt  Herr  Reinach  einen  Aufsatz  über  rituelles 
Lachen  =  Wiedergeburt  (vgl.  Archiv  S.  501)  in  nahe  Aussicht. 

L.  Deubner 

Zum  Argeer-Opfer.  Die  neue  Ausgabe  von  Varro,  De  lingua 
latina  (rec.  G.  Goetz  et  Fr.  Schoell,  Lipsiae  1910)  ist  auch  für 
den  Religionsforscher  von  größtem  Werte:  nicht  nur  wegen  der 
neuen  textlichen  Grundlage,  die  dieser  für  die  römische  Religion 
wichtigen  Quellenschrift  zuteil  geworden  ist,  sondern  auch  wegen 
der  reichen,   häufig   auf  religionsgeschichtliche    Abhandlungen   hin- 

Arehiv  f.  Beligioniwissenschsft  XIV  20 


306  Mitteilungen  und  Hinweise 

weisenden  Adnotationes.  Unter  diesen  findet  sich  auf  S.  250 
in  Bezug  auf  die  sacraria  der  Argei  (zu  S.  15,20)  die  Bemer- 
kung: Quod  recentioris  aetaiis  colorem  prae  se  ferunt  formae  longe 
plurimae,  cum  Wissowa  et  aliis  ita  interpretamur,  ut  sacra  Argeorum 
non  tarn  vetusta  esse  quam  multis  videbantur  statuamus.  So  wert- 
voll die  sprachliche  Beobachtung  ist,  ich  benutze  die  Gelegenheit 
wiederum  (vgl.  Neue  Jahrb.  1904,  S.  669^)  zu  fragen,  warum 
nicht  aus  der  Beteiligung  der  Pontifices  und  der  Trauer  der 
Flaminica  auf  ein  zugrunde  liegendes  altrömisches  Fest  geschlossen 
werden  darf,  über  das  sich  später  ein  'griechischer'  Brauch  setzte. 
Es  wird  hier  wie  so  oft  richtiger  sein,  ein  Nebeneinander  von 
Altem  und  Neuem  anzunehmen,  als  einander  widerstrebende  Tat- 
sachen von  einem   Gesichtspunkte  aus  zu  erklären.  L.  D. 


Anthropophyteia 

Nützlich    scheint    mir    ein    kurzer    Hinweis    auf    den    vierten 
Band  der  Zeitschrift,  die  unter  diesem  Titel   erscheint   (Anthropo- 
phyteia.  Jahrbücher  für  Folkloristische  Erhebungen  und  Forschungen 
zur    Entwickelungsgeschichte    der    geschlechtlichen    Moral,    heraus- 
gegeben von  Dr.  Friedrich  S.  Krauß,  Leipzig  1907).     Krauß    gibt 
hier  gerade    auch   für   den   Religionsforscher   außerordentlich    wert- 
volle    reichhaltige     Materialien     zur     Entwicklungsgeschichte     der 
sexuellen  Moral.     So  sei  auf  die  interessanten  Artikel  von  Nitrovic 
über  seinen  Besuch  bei  einer   Zauberfrau   in   Norddalmatien    sowie 
über    Zeitehen  ^    in    Norddalmatien    und    den    Aufsatz    von    Krauß 
über  die    Zuchtwahlehe    in    Bosnien    hingewiesen.     Ganz    besonders 
wertvoll    ist    der    ausgezeichnete    Artikel    des    Herausgebers    über 
Erotik  und  Skatologie  im  Zauberbann  und  Bannspruch  (S.  160/226).j 
Mit    Recht    glaubt    Krauß    mit    diesem    Aufsatz    einen     wichtiger 
Beitrag  zur  Erforschung  „ursprünglichster    religiöser  Grundvorstel-j 
lungen  der  Menschheit"  zu  liefern.     Zweifellos  bestehen  innige  Be^ 
Ziehungen  zwischen  Erotik  und  der  Religion,  wenngleich  man  den- 
jenigen   Forschern    nicht    beistimmen  kann,    welche    das    religiös« 
Fühlen  einzig  und  allein  auf  die    sexuelle    Grundlage  zurückführet 
wollen.     Wir   erhalten   hier   die    verschiedenartigsten    interessanter 
Materialien  aus  dem  südslavischen  Volksglauben.     Die  Zauberfrav 
welche  einen  Segensspruch  gegen   Beschreien   sagt,   vollbringt  ein< 
Kulthandlung,  für  die  sie  Bezahlung  nicht  fordert,   wonngleich  sifl 

'  Über  Stundenehen  s.  desselben  Verfassers  Buch  „Das  Geschlecht 
leben  in  Glauben,  Sitte  und    Brauch    der   Japaner",    Leipzig    1907,    ds 
auch  bedeutsame  Auskunft  über  japanischen  Phalluskult  enthält  und  de« 
japanischen  Fuchskult   zu  europäischem  Glauben  bezüglich  der  Katze^ 
in  Parallele  stellt. 


Mitteilungen  und  Hinweise  307 

Geschenke  nicht  ausschlägt,  gerade  so  wie  unsere  Sympathie- 
doktoren. Die  Feuerstätte  bildet  das  Heiligtum  des  Hauses.  Daher 
gilt  der  Schwur  bei  ihr  als  unverbrüchlich,  auch  gilt  sie  als  un- 
verletzliches Asyl.  Sodomie  gilt  beim  Volk  nicht  als  Sünde  oder 
gar  Verbrechen.  Die  den  Hagelschlag  verursachenden  bösen  Geister 
sucht  man  durch  Entblößung  zu  vertreiben,  ebenso  zu  verhindern, 
daß  böse  Augen  ein  junges  Fohlen  oder  Kalb  beschreien.  Schon 
diese  kargen  Angaben  zeigen,  wie  mannigfach  die  über  primitiven 
religiösen  Zauberglauben  beigebrachten  Materialien  sind.  Die 
Anthropophyteia  wird  bald  eine  unentbehrliche  Quelle  für  religions- 
geschichtliche Forschungen  bilden. 

Berbn  Albert  Hellwig 

Christi  Himmelfahrt 

Die  Münchener  Neuesten  Nachrichten  vom  21.  Mai  1909 
(Nr.  235)  bringen  folgende  interessante  Mitteilung:  „Vor  etwas 
über  hundert  Jahren  pflog  man  in  München  zu  Christi  Himmelfahrt 
einen  uralten  und  gar  seltsamen  Brauch.  Da  wurde  am  Vor- 
abend des  Festes  ein  als  Teufel  maskierter  öffentlicher  Spaßmacher 
•von  anderen  als  Druden  vermummten  und  mit  Krücken,  Besen 
und  Ofengabeln  bewaffneten  Witzbolden  durch  die  damals  noch 
winkeligen  und  schmutzigen  Stadtgassen  gejagt,  unter  argem 
Gejohle  in  Pfützen  und  Misthaufen  gehetzt,  bis  der  so  Gepeinigte 
vor  der  Hofburg  angekommen  war.  In  derselben  wurde  er,  wie 
dies  ja  ganz  gerecht  war,  sehr  reichlich  bewirtet  und  seiner  Teufels- 
hülle entledigt.  Die  Hülle  wurde  alsdann  mit  Heu  und  Stroh 
ausgestopft  und  zur  Frauenkirche  verbracht,  woselbst  man  diese 
Teufelspuppe  über  Nacht  an  einem  Stricke  aus  einem  Turmfenster 
hängen  ließ.  Am  Himmelfahrtsnachmittag  selbst  zog  man  in  der 
Frauenkirche  vor  der  Vesper  ein  Bild,  das  den  Heiland  darstellte, 
in  das  Gewölbe  hinauf.  War  dies  geschehen,  so  wurde  das  Volk 
mit  brennendem  Werg  und  Oblaten  beworfen.  Alsdann  schleuderte 
man  auch  den  gehörnten,  schwarzbemalten  Teufel,  dem  eine  rote 
Zunge  heraushing,  vom  Frauenturm  auf  die  gaffende  Menschen- 
menge herab,  um  welchen  sich  dieselbe  sogleich  arg  balgte.  Später 
trug  man  dann  diese  Teufelsmaske  zum  Isartor  hinaus  und  ver- 
brannte die  höllische  Puppe  auf  der  Höhe  des  Gasteiges,  damit 
der  böse  Feind  der  Stadt  nichts  Übles  zufügen  könne.  Gegen  das 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  verschwand  dieser  von  Hans  Sachs  in 
ulkigen  Versen  besungene  Alt-Münchner  Volksgebrauch.  In  einigen 
oberbayerischen  Dörfern  kann  man  diese  Sitte  noch  heutzutage  in 
ähnlicher   Weise  beobachten." 

Erlangen  L.  Curtius 

20* 


308  Mitteilungen  und  Hinweise 

Magische  Steine 

In  der  Revue  des  Traditions  populaires  XXVI  (1910)  234 
stellt  L.  Jacquot  einige  Beispiele  zusammen  von  dem  an  gewisse 
Steine  sich  knüpfenden  Aberglauben,  daß  unfruchtbare  Frauen,  die 
über  dieselben  gleiten,  dadurch  die  Fähigkeit  des  Kindersegens  er- 
werben. Als  Daten  werden  solche  Orte  in  Bordj-Meuaiel  (Arrond. 
Tizi-Uzu  im  Algerischen),  an  der  tunesischen  Küste  und  in  Anthy 
(Haute  -  Savoie)  angeführt.  Wir  fügen  diesen  Beispielen  noch 
solche  aus  Arabien  hinzu.  Zunächst  eines  aus  der  Prophetenstadt 
Medina.  Ostlich  vom  Friedhof  Bekl 'al  gharkad  befindet  sich  eine 
Moschee,  die  den  Namen  masdschid  al-hagMa  (Maultier -Moschee) 
daher  führt,  weil  in  ihr  außer  dem  Abdruck  vom  Arm  des  Pro- 
pheten auch  ein  solcher  vom  Huf  des  Maultiers  Duldul  gezeigt 
wird,  das  Mohammed  vom  Mukaukis,  dem  ägyptischen  Machthaber, 
zusammen  mit  der  Koptin  Maria  als  Geschenk  erhielt.  Der  mek- 
kanische  Autor  'Abdalkädir  al-Fäkihl  (1513 — 1574)  berichtet 
in  seiner  Schrift  über  die  Pilgerfahrt  nach  Medina  {Husn  al- 
tawassul  fi  zijärat  afädäl  al-rusul,  gedruckt  in  der  Eegierungs- 
druckerei  zu  Mekka  1316  d.  H.  a.  ß.  der  Medina- Monographie  von 
al-Samhüdi)  183:  „In  derselben  Moschee  ist  ein  Stein,  auf  dem 
der  Prophet  gesessen  habe;  wenn  sich  eine  (unfruchtbare)  Frau' 
auf  diesen  Stein  setzt,  so  wird  sie  zur  Empfängnis  fähig  durch 
die  Segnung  des  Sitzens  auf  demselben."  Richard  Burton,  der 
in  seiner  Beschreibung  der  Prophetenstadt  auch  diese  Moschee  er- 
wähnt (als  masdjid  hanu  Zafar  oder  Tifr)  berichtet  auch  über, 
jene  abergläubische  Tradition  mit  der  Bemerkimg:  /  cannot  sayX 
whether  tliis  valuable  stone  he  still  at  tlie  mosque  und  fügt  die] 
Mitteilung  hinzu,  daß  ein  ihm  befreundeter  Herr  Lorking  in  seinem] 
Garten  in  Alexandrien  eine  verstümmelte  Sphinx  besessen  habe,] 
„der  dieselbe  Wirkung  zugeeignet  wurde"  [A  Pilgr Image  fo  Mecca] 
and  Medina,  Tauchnitz  edition  vol.  1401,   1874,  II   187). 

Die    Professoren    der   Dominikanerschule    St.    Etienne    in    Je-j 
rusalem,  J aussen  und  Savignac,  berichten  in  ihrem  vor  kurzem] 
erschienenen  Werke  Mission  archeologique  en  Arabie  (Paris   1909)1 
p.  470    aus    Ma%n    von    einem    als    Heiligenort    verehrten    Felsei 
Umm    Dschedei'^ah,  daß    unfruchtbare   Frauen   durch   diesen   Felsei 
Empfängnisfähigkeit   zu  erlangen  glauben.     Pour  cela  il  leur  suffi 
de  se  frotter  contre  la  pierre  oii  de  se  passer  sur   le  corps  an  pt 
de   terre  prise    au  pied   de    la    rocke;    elles  concevront    ensuitc    in- 
faiUihlement.     Die  Verfasser  verweisen  in  der  Anmerkung  für  ähn- 
lichen   Volksaberglauben    auf   P.  Sebillot    Le  Folk-lore   de  France\ 
I  p.  338  ff.      Aus    der    neueren    Literatur    gehört   wohl    dazu    noch] 
der   Abschnitt   Les   pierres   fccondantes   et    le    cuUe  des  pierres    in 
P.   Saintyves'     Les    vierges ■  mores    et   les   naissances    miracfidemesi 


Mitteilungen  und  Hinweise  309 

(Paris,  Nourrj,   1908),  das   mir    nur   dem    Titel    nach    aus   biblio- 
graphischen Übersichten  bekannt  ist. 

Budapest  I.  O-oldziher. 

Zu  Archiv  XIII  S.  153:  Verbot  des  Knochenzerbrechens. 
Als  weitere  Daten  für  das  Vorkommen  desselben  Brauches  in  Völker- 
kreisen, die  ethnographisch  voneinander  weit  abstehen,  können 
folgende  angeführt  werden: 

Lubbock,  Origin  of  Civilization^  271  »»  Die  Entstehung  der 
Civilisation  usw.  (Jena  1875)  304  (aus  Tanner's  Xarraüve  of  a 
capüvity  among  the  North  American  Indians),  vom  Jajjdfestopfer 
der  Algonkin:  Another  rule  at  the  same  feast  is  that  not  a  bone 
r; /■  fhe  victim  must  te  hroken. 

Dieselbe  Regel  gilt  beim  Totenmahle  der  Tigre,  worüber  wir 
dem  neuen  Werk  von  E.  Littmann  {PubUcations  of  the  Princeton 
Exiiedition  to  Abyssinia;  Vol.  II:  Tales,  Customs,  Names  and  Dirges 
of  the  Tigre  tribes,  Leiden  1910,  p.  262)  folgende  Mitteilung 
entnehmen:  Of  the  cowes  that  are  killed  they  da  not  break  the 
bones  that  are  generaUy  broken  in  order  that  the  bones  of  the  dead 
be  not  broken  i.  e.  they  fear  that  the  relatives  of  the  dead  might  die. 

Budapest  I.  Qoldsiher 

Zu  Archiv  12,  147  (Schwimmendes  Kruzifix).  An  der 
angeführten  Stelle  wies  ich  auf  die  Sage  von  einem  schwimmenden 
Kruzifix  in  Norwegen  und  auf  einige  andere  ähnliche  Erzählungen 
hin.  Das  ursprünglich  Gemeinsame  aller  dieser  ist,  daß  da,  wo 
das  Heiligtum  angetrieben  ist,  ein  Kultus  entsteht.  Inzwischen 
ist  mir  ein  weiterer  solcher  Fall  bekannt  geworden,  auf  den  ich, 
da  er  an  einer  wohl  den  meisten  Lesern  dieser  Zeitschrift  nicht 
zugänglichen  Stelle  sich  findet,  kurz  hinweisen  möchte.  In  einem 
Aufsatz:  ^En  fest  für  Mare  della  neve'  in  der  norwegischen  Zeit- 
schrift Samtiden  21,  41 5  ff.  (1910)  erzählt  Am  und  Heiland  von 
der  wunderbaren  Errettung  des  am  Fuße  des  Vesuv  gelegenen 
Städtchens  Torre  Annunziata  vor  dem  Lavastrom,  der  sich  am 
8.  April  1906  aus  dem  Vesuv  ergoß.  Sie  geschah,  indem  man 
das  Bild  der  Maria  della  neve  dem  Strom  entgegenhielt.  Über 
die  Herkunft  dieses  Bildes  berichtet  er  folgendes:  Im  14.  Jahr- 
hundert sahen  einige  Fischer  der  Stadt  in  der  Nähe  der  Insel 
Revigliano  eine  Kiste  schwimmen,  die  sich  allmählich  dem  Strande 
der  Bucht  von  Torre  Annunziata  näherte.  Wo  der  Fluß  Sarno 
ins  Meer  fällt,  trieb  sie  an.  Als  man  die  Kiste  öffnete,  fand  man 
ein  Bild  der  Mutter  Gottes  mit  dem  Jesukind  auf  dem  linken 
Arm.       Einige    Fischer    von    Castellamare .    die     Augenzeugen    des 


310  Mitteilungen  und  Hinweise 

Vorfalls  gewesen  waren,  wünschten  den  kostbaren  Schatz  um  jeden 
Preis  von  den  Fischern  von  Torre  Annunziata  zu  erwerben.  Es 
entstand  ein  Streit,  der  aber  zugunsten  der  Fischer  von  Torre 
entschieden  wurde.  Seinen  Namen  erhielt  das  Bild,  weil  es  am 
5.  August  gefunden  worden  war,  und  dieser  Tag  war  der  Maria 
ad  nives  geheiligt,  weil  an  ihm  jenes  bekannte  Schneewunder  in 
Rom  im  Jahre  352  stattgefunden  haben  soll,  dem  zu  Ehren  die 
Kirche  der  Maria  auf  dem  Esquilin  gebaut  wurde,  da,  wo  der 
Schnee  gefallen  war.  Die  Maria  della  neve  wurde  zur  Schutz- 
patronin der  Stadt,  und  jetzt  wird  auch  der  8.  April,  der  Tag  der 
Errettung,  jährlich  durch  ein  großes  Fest  begangen.  Die  Ähnlich- 
keit dieser  italienischen  Legende  mit  der  norwegischen  ist  Heiland 
aufgefallen  und  er  weist  ausführlicher  auf  diese  hin.  Weitere 
Parallelen  wären  erwünscht. 

Heidelberg  B.  Kahle 

Zum  Nerthuskült 

In  seiner  bekannten  Schilderung  des  Umzuges  der  Göttin 
Nerthus  berichtet  Tacitus  (Germania  cap.  40),  wie  nach  be- 
endetem Umzug  der  Wagen  nebst  den  Tüchern,  die  ihn  bedeckt 
hatten,  sowie  die  Göttin  selbst,  d.  h.  wohl  ihr  Bildnis  im  See 
gebadet  werden.  Die  Sklaven,  die  den  Dienst  versehen  haben, 
werden  im  See  ertränkt.  Man  vergleicht  jetzt  ziemlich  allgemein 
den  Umzug  selbst  mit  deutschen  Frtihlingsumzügen  zur  Erlangung 
der  Fruchtbarkeit  und  sieht  in  der  erwähnten  Prozedur  des  Badens 
und  Ertränkens  einen  Regenzauber.^  Gegen  die  Erklärung  der 
Schlußhandlung  als  eines  Regenzaubers  wendet  sich  nun  neuerdings 
R.  M.  Meyer ^,  wenngleich  seine  Begründung,  daß  der  Regenzauber 
überall  einen  fröhlichen  Charakter  zu  haben  und  durchaus  weder 
Priester-  noch  Menschenopfer  zu  fordern  scheine,  vielleicht  doch 
nicht  ganz  stichhaltig  ist.  Man  wird  den  Gedanken  nicht  ganz 
abweisen  können,  daß  dem  heut  lustigen  Scherz  des  Bespritzens, 
Untertauchens  des  Pfingstbutzen,  der  Pfingstlümmel  usw.  doch 
ursprünglich  ein  altes  Opfer  zugrunde  lag.  So  mag  vielleicht  im 
Ertränken  der  Sklaven  ein  Regenzauber  vorliegen,  aber  damit  ist 
das  Waschen  des  Wagens,  der  Tücher,  der  Gottheit  resp.  ihres 
Bildes  noch  nicht  erklärt.  R.  M.  Meyer  spricht  als  Vermutung  aus, 
daß  die  ganze  Feier  durch  eine  Reinigungszeremonie  beendet  worden 
sei.     Und  ich  glaube,  wenn  wir  einmal  das  Ertränken  der  Sklaven 

»  Mogk,  Germ.  Myth  -  S.  188  ff.  (Pauls  Grdr.),  Germ.  Myth.  S,  17  ff. 
(Samml.  Göschen);  E.  H.  Meyer,  Myth.  d.  Germ.  S.  420  ff.;  P.  Herrmann, 
Deutsche  Myth.*  S.  279  ff.,  Golther,  Handb.  d.  germ.  Myth.  S.  456  ff.;  v.  d. 
Leyen,  Deutsch.  Sagenb.  I,  204  ff  *  Altgerm.  Religionsgesch.  S.  206. 


*        Mitteilungen  und  Hinweise  311 

beiseite  lassen  wollen,  daß  er  recht  hat.  Auch  in  der  Vermutting, 
daß  ein  legog  ydfiog  vorausgegangen  sei,  stimme  ich  ihm  zu. 
Nach  ihm  habe  ein  Sklave  diesen  vollzogen,  der  an  Stelle  des 
Priesters  getreten  sei;  ursprünglich  habe  man  den  Priester  getötet. 
Aber  Tacitus  spricht  von  Sklaven  in  der  Mehrheit,  aber  nur  von 
einem  Priester.  Nun  könnte  man  annehmen,  daß  der  Bericht 
ungenau  sei.  Wenn  wir  aber  sehen,  daß  nach  dem  über  ein  Jahr- 
tausend späteren  Bericht  (Flateyjarbok  1,337  ff.)  vom  Umzug  des 
Gottes  Frey  in  Schweden,  der  als  Sohn  der  mit  der  Nerthus 
identischen  Njord,  auch  ihr  selbst  der  Hauptsache  nach  ursprünglich 
wesensgleich  gewesen  sein  wird,  eine  Priesterin  den  Gott  begleitet, 
und  wenn  diese,  freilich  nicht  vom  Gott,  sondern  von  dem  vom 
Volk  für  diesen  angesehenen  Norweger  Gunnar,  schwanger  wird, 
was  die  Leute  als  glückliches  Zeichen  der  Herablassung  des  Gottes 
ansehen,  so  werden  wir  nur  schwer  annehmen,  daß  so  früh  schon 
im  Kultus  der  Göttin  ein  Sklave  als  Ersatzmann  die  heilige 
Handlung  vorgenommen  habe.  Tacitus  nennt  die  Nerthus  terra 
niatcr,  und  wir  haben,  wie  R.  M.  Meyer  a.  a.  0.  S.  205  richtig 
bemerkt,  gar  keinen  Grund  an  der  Deutung  dieses  Namens  zu 
zweifeln,  wenngleich  mir  seine  Einschränkung,  sie  sei  ^Göttin  der 
Saatfelder'  etwas  gekünstelt  erscheint.  Mit  Recht  hat  man  auch 
dafür,  daß  man  im  Kult  der  germanischen  Erdgöttin  den  tc^ög 
yü^ioq  kannte,  auf  den  bekannten  altenglischen  Segensspruch  hin- 
gewiesen, z.  B.  P.  Herrmann  a.  a.  0.  S.  27»5,  285: 

Heil  dir  Erde,  Menschenmutter, 

Werde  du  fruchtbar  in  Gottes  Umarmung, 

Fülle  mit  Frucht  dich,  den  Menschen  zum  Nutzen! 

Mit  dem  Umzug  der  Nerthus  hat  man  femer  den  der  Kybele,  der 
in  Rom  am  27.  März  stattfand,  verglichen.^  Wie  der  Wagen  der 
Nerthus  wurde  der  ihre  von  Priestern  gezogen,  und  es  wurde  die 
Göttin  nach  beendetem  Umzug  mitsamt  dem  Wagen  nach  der 
Mündung  des  Flusses  Almo  in  den  Tiber  gefahren  und  dort  ge- 
waschen. Nach  der  anfänglichen  Trauer  über  den  Tod  des  ent- 
mannten Attis  war  Freude  eingetreten,  denn  der  Jüngling,  der 
Geliebte  der  magna  maier,  war  zu  neuem  Leben  erwacht  und  hatte 
die  heilige  Hochzeit  mit  der  Göttin  vollzogen. 

Man  hat  auch  dieses  Bad  als  einen  Regenzauber  ansehen 
wollen.  Auf  das  Verfehlte  dieser  Erklärung  hat  bereits  H.  Hepding 
in  seinem  Buch  'Attis,  seine  Mythen  und  sein  Kult'*  S.  216  hin- 
gewiesen. Auch  die  sonst  übliche  Deutung  dieser  Zeremonie  'als 
Reinigun,'  der  Göttermutter  nach  der  Todesfeier  in  ihrem  HeiligtTim' 

>  Vgl.  E.  M.  Meyer  a.  a  0.  S.  208,  P.  Herrmann  a.  a.  0.  S.  286. 
*  Religionsgesch.  Versuche  u.  Vorarb.  I. 


312  Mitteilungen  und  Hinweise        * 

verwirft  er  und  hält  den  Hergang  für  'einen  Lustrationsritus,  wie 
wir  ihn  auch  in  anderen  Kulten  und  Mythen  nach  dem  heiligen 
Beilager  des  Götterpaares  finden'. 

Diese  Erklärung  nun  erscheint  mir  nach  dem  eben  heraus- 
gekommenen Buch  von  E.  Fehrle,  'Die  kultische  Keuschheit  im 
Altertum'^  als  keinem  Zweifel  mehr  zu  unterliegen.  Auf  Grund 
eines  reichhaltigen  Materials  zeigt  Verf.,  daß  die  Auffassung,  die 
geschlechtliche  Beiwohnung  verunreinige  die  Beteiligten,  weithin  — 
nicht  nur  bei  den  Völkern  des  klassischen  Altertums  —  verbreitet 
war.  Von  der  so  ei-worbenen  Unreinheit  müssen  sowohl  Menschen 
wie  Gottheiten  sich  reinigen.  In  einer  Anzahl  von  Kulten, 
besonders  bei  Fruchtbarkeitsriten,  spielt  die  heilige  Hochzeit  eine 
Rolle.  Göttern  werden  Priesterinnen,  Göttinnen  Priester  beigegeben, 
mit  denen  man  glaubte,  daß  die  Gottheit  das  Beilager  vollziehe. 
Dann  aber  mußte  die  Gottheit  wieder  rein  werden.  So  wurde  'das 
alte  Bild  der  Göttin,  des  Herabildes  am  Feste  der  Tonaia  auf 
Samos,  jedes  Jahr  zum  tSQog  yaiiog  ans  Meer  gebracht.  Zum 
Schluß  der  Feier  wird  die  Göttin,  d.  h.  ihr  Bild,  im  Meere  ge- 
reinigt und  wieder  in  ihr  Heiligtum  zurückgebracht'  (S.  173,  vgl. 
142  f.).  'Mit  der  Waschung',  fährt  Verf.  fort,  'wird  die  Befleckung 
durch  das  Beilager  von  der  Göttin  genommen'.  Hierher  gehört 
aber  auch,  wie  schon  Hepding  wollte,  die  Waschung  der  Kybele, 
deren  Pest  man,  wie  wir  gesehen,  mit  dem  der  Nerthus  in  Parallele 
gesetzt  hat.  Man  findet  noch  weiteres  Material  bei  Fehrle,  der 
die  Hauptpunkte  dieser  Riten,  wie  folgt,  zusammenfaßt    (S.  176): 

'Das  Bild  einer  Göttin  wurde  ohne  die  übliche  Gewandung 
in  feierlicher  Prozession  ans  Meer  oder  an  einen  Fluß  gebracht, 
dort  bereitete  man  ihm  ein  Brautlager,  setzte  ihm  ein  Mahl  vor, 
sang  und  tanzte,  ganz  wie  bei  Hochzeiten,  ließ  es  auf  einige  Zeit 
allein,  „während  man  den  Besuch  des  Gatten  annahm"  (Nilsson, 
Gr.  F.  48),  dann  wurde  es  gebadet  und  heimgeführt.  Nur  durch 
einen  iSQog  ydfiog  erklären  sich  ungezwungen  alle  Vorgänge  und 
der  mysteriöse  Charakter  dieser  Feste'. 

Wenn  wir  es  auch  bei  den  antiken,  von  Fehrle  behandelten, 
Begehungen  und  Umzügen  durchweg  mit  lokalen  Kulten  zu  tun 
haben,  während  nach  Angabe  des  Tacitus  die  Prozession  der 
Nerthus  sich  über  eine  ganze  Landschaft  erstreckt,  so  dürfte  dies 
doch  von  minderer  Wichtigkeit  sein.  In  den  Hauptzügen  stellt 
sich  das  Fest  der  Nerthus  durchaus  zu  diesen  griechischen.  So 
dürfte  wohl  also  die  Vermutung,  daß  es  sich  auch  bei  ihm  um 
einen  tsQog  ydfiog  und  die  dadurch  bedingte  Reinigung  handelt,  zur 
Gewißheit    geworden    sein,    soweit    man     in     diesen    Dingen    von 


»  RGW  Bd  VI. 


Mitteilungen  und  Hinweise  313 

Gewißheit  sprechen  darf.  Freilich  ist  damit  noch  nicht  die  Er- 
tränkung  der  Sklaven  erklärt.  Doch  wäre  es  ja  immerhin  möglich, 
daß  sich  mit  der  Haupthandlung  auch  ein  Regenzauber  verbunden 
hätte,  solche  Verknüpfungen  verschiedener  Riten  zu  einem  Ganzen, 
sind  ja  nichts  Ungewöhnliches  (vgl.  z.  B.  den  Aufsatz  von  L.  Deubner 
Lupercalia,  in  diesem  Archiv  XIII,  481  ff.).  Man  braucht  nicht  alles 
aus  einem  Gesichtspunkt  heraus  zu  erklären. 

Heidelberg  B.  Kahle ' 

Exsuperatorins 

In  seiner  Untersuchung  über  den  luppiter  summus  exsupe- 
rantissimus  hat  Cumont*  auch  die  Titel  des  Commodus  Exsupe- 
ratorius  und  Invictus  als  religiöse  Ehrennamen  verstanden.  Der 
Kaiser  hätte  sich  in  dem  Wahnsinn  seiner  letzten  Tage  auch  diese 
Eigenschaften  des  syrischen  Bei  und  des  syrischen  Sol  beigelegt. 
Aber  die  Stellung  dieser  Titel  in  der  Reihenfolge  der  Monats- 
namen, die  Commodus  damals  ersonnen  hat',  fühlt  auf  einen 
ganz  anderen  Gedankenkreis.  Sie  heißen:  Hercules,  Romanus,  Ex- 
superatorius ,  Amazonius,  Invictus,  Felix,  Pius.  Aus  dem  Hercules 
früherer  Jahre  war  Commodus  völlig  zum  Gladiator  geworden  und 
gedachte  am  I.  Januar  des  Jahres  19:^  das  Konsulat  als  Gladiator 
anzutreten.  Auf  diese  beiden  Phasen  seines  Wahnsinnes  gehen  die 
Titel.  Invictus  ist  ein  altherkömmlicher  Ehrenname  des  Herkules 
und  der  durch  sein  Relief  so  bekannte  Gladiator  aus  der  Zeit  des 
Trajan  heißt  (Dessau  5088) :  Marcus  Antonius  Exochus.  Erst  Caracalla, 
der  sich  selbst  zum  Sonnengott  gemacht  hat,  heißt  in  dem  Sinne,  wie 
Cumont  will,  Invictus.  Die  Orientalisierung  der  Religion  auch  im 
Westen  des  Reiches  ist  eben  die  politische  Tat  der  Severe  gewesen.^ 

Heidelberg  A.  v.  Domasze'w^ski 


Zur  Chadhirlegende.  In  den  Aufsätzen  über  die  Chadhir- 
legende  in  diesem  Archiv  XIII  S.  92 ff.,  161  ff.  polemisiert  Herr  Israel 
Friedländer  an  verschiedenen  Stellen  gegen  zwei  Arbeiten  von  mir 
über  dasselbe  Thema  in  der  Zeitschr.  f.  Assyriologie  VII  (1892), 
S.  104ff.,  VIII  (1893),  S.  263ff.  Es  sind  beide  Studentenarbeiten, 
und  ich  würde  eine  Ablehnung  ihrer  Schlüsse  nicht  tragisch  nehmen. 
Aber  Herr  Friedländer  gibt  sie  unrichtig  wieder  und  bekämpft 
Dinge,  die  in  ihnen  nicht  stehen. 


*  pOiese  MiszeUe  ist  wohl  das  letzte,  was  der  treue  Mitarbeiter  des 
Archivs,  dessen  frühen  Tod  auch  wir  beklagen,  geschrieben  hat.  R.  Wünsch] 

*  In  dieser  Zeitschrift  9,  322.  »  Heer  Philologus  Suppl.  9,  166. 
'  Religion  des  römischen  Heeres  S.  59. 


314  Mitteilungen  und  Hinweise 

Zu  S.  96.  —  Zk.  VII,  S.  lOö  wird  von  mir  nicht  der  Zu- 
sammenhang der  Chadhirlegende  mit  der  Eliassage,  sondern  die 
Identität  ihrer  Träger  verneint 

Zu  S.  110.  —  Die  Fassung  des  letzten  Absatzes  ZA.  VII, 
S.  116  schließt  die  Annahme  aus,  daß  in  ihm  der  Name  Hasver 
direkt  auf  Chasisatra  zurückgeführt  werde.  Es  ist  da  ausdrücklich 
von  der  späteren  Form  der  Chadhirlegende  die  Rede  und  als 
Mittelglied  zwischen  Chadhir  und  Hasver  wird  die  Aussprache  von 
Chadhir  mit  gezischtem   d   angenommen. 

Zu  S.  206.  —  Es  ist  unrichtig,  daß  die  Erzählung  im  Tal- 
mudtraktat Tamid  von  mir  als  Original  der  Lebensquell  sage  im 
Pseudokallisthenes  hingestellt  wird.  ZA.  VII,  S.  111  unten  sage 
ich  ausdrücklich:  „Natürlich  kann  die  [babylonische]  Sage  in  den 
Pseudokallisthenes  unabhängig  vom  Talmud  hineingekommen   sein". 

S.  232,  x\nm.  4  ist  es  Herrn  Friedländer  „unbegreiflich,  wie 
Lidzbarski  (Zeitschrift  für  Assyriologie  VIII,  264  unten)  den 
Propheten  für  diese  Namenserklärung  verantwortlich  machen  kann." 
An  der  angeführten  Stelle  wird  niemand  für  die  Erklärung  des 
Namens  Chadhir  verantwortlich  gemacht.  Weder  in  ihr  noch  in  der 
angeführten  Tradition  (Bokhäri  ed.  Krehl,  IT,  S.  355)  ist  von  einer 
Erklärung  des  Namens  die  Rede. 

Greifswald  M.  Lidzbarski 


Berülirungszauber 

In  dem  Dialog  Theages,  der  unter  den  Schriften  Piatons  steht, 
aber  sicher  unecht  und  erheblich  jünger  ist,  findet  sich  eine  merk- 
würdige Notiz  über  die  sokratische  Lehrmethode  (130  d).  Man 
lernte  ganz  von  selbst,  wenn  man  sich  nur  in  demselben  Hause 
wie  der  Meister  aufhielt,  noch  besser  im  selben  Zimmer,  noXv  8e 
fiaXcöra  Kai  tcXeiöxov  ineötöovv,  OTtore  naQ  avrbv  ae  iia&oifii]v 
ixo^evog  Gov  %al  amofievog.  Die  Weisheit  des  Sokrates  ging  also 
durch  unmittelbare  Berührung  am  besten  auf  die  Schüler  über. 
So  sehr  die  Nachricht  den  wii-klichen  Tatsachen  widerspricht,  so 
verdient  sie  doch  Beachtung  als  Zeugnis  füi-  antiken  Aberglauben. 
Sie  tritt  in  unmittelbare  Beziehung  zu  einer  Erzählung  im  Mar- 
tyrium des  hl.  Polykarpus,  das  Pionius  im  2.  Jahrb.  n.  Chr.  schrieb: 
0T£  ÖE  ij  TtvQcc  TjTot^dö&t]  ^  wird  da  gesagt,  ccTto&tfiEvog  iavxm 
Ttdvxa  rcc  ifidna  xal  kvaag  rrjv  ^covr}v  ETteiQccro  Kai  vtioXveiv  iav- 
Tov,  fir}  nQOTEQOv  rovro  notcöv  öid  t6  cceI  ekuötov  x&v  niOx&Vx 
Citovddi^Eiv^  ü6xt.g  xdfiov  xov  ^^corog  avxov  aipt]xai.  Der  hl.  Poly- 
karp  hat  also  jede  Entblößung  seines  Körpers  bei  Lebzeiten  ver- 
mieden, weil  er  nicht  wollte,  daß  die  Frommen  ihn  leiblich  be- 
rührten;    sie    suchten     (wie    schon    Eduard    Schwartz    gelegentlich 


Mitteilungen  und  Hinweise  315 

bemerkte)  die  unmittelbare  Berührung  zweifellos,  weil  sie  so  der  Heilig- 
keit des  Bischofs  teilhaftig  zu  werden  hofften.  Die  Sache  hat  auch  des- 
halb ein  Interesse,  weil  dieser  Glaube  noch  heute  im  Orient  lebendig 
ist.  Wellhausen  „Reste  arabischen  Heidentums"  S.  105  gibt  Belege. 
Wien  I<-  Hadermacher 

Yolkskundliches  aus  Rußland 

I.  So  lange  der  Leichnam  noch  im  Hause  ist,  stellt  man  auf  das 
Fensterbrett  eine  Tasse  mit  Wasser  zur  Reinigung  der  Seele  des 
Verstorbenen  (Dahl,  Russische  Sprichwörter  I,  275,  cfr.  S.  Eitrem. 
Hermes  und  die  Toten,  p.  43). 

II.  Die  Großmssen  glauben,  daß  die  Seele  eines  „gewöhn- 
lichen" Menschen  durch  das  Fenster  hinausgeht.  Man  öffnet  da- 
her, wenn  jemand  im  Sterben  liegt,  die  Fenster  (cfr.  Zeitschr.  d. 
Vereins  f.  Volkskunde  1 909,  p.  400).  Die  Seele  eines  Zauberers 
oder  einer  Hexe  tragen  die  bösen  Geister  durch  eine  Öffnung  in 
der  Zimmerdecke  hinaus  (Ethnographische  Übersicht,  Moskau,  1896. 
2  —  3,  p.  178). 

in.  Beim  Heraustragen  einer  Leiche  wird  Wasser  nach- 
gegossen, und  das  Zimmer,  wo  die  Leiche  ausgestellt  war,  gekehrt 
(aus  Gouvem.  Olonjetzk  bei  P.  Schein,  Der  Großrusse  in  seinen 
Liedern,  Bräuchen,  Sitten  etc.,  S.  Petersb.,  1900,  p.  778,  cfr.  den- 
selben Brauch  in  Nordthüringen,  bei  R.  Reichardt  i.  d.  Zeitschr.  d. 
Vereins  f.  Volkskunde,  XIII.     H.  4  u.  S.  Eitrem  a.  a.  0.,  p.  43*). 

Starodub  Or.  Janiewitsch 

Volksknndliches  ans  der  Ukraine 

In  seinem  Schriftchen  „Ukrainisches  Geheim  wissen  und 
Zauber",  Charkow  1909  (das  als  Sonderabdruck  aus  der  Fest- 
schrift zu  Ehren  des  Prof  Sumzow  erschienen  ist),  schildert  der 
durch  seine  Arbeiten  über  die  ukrainische  Volkskunde  (in  der  Zeit- 
schrift ,.Kiewskaja  Stariua")  wohlbekannte  W.  Miloradowitsch  inter- 
essante Beobachtungen  des  Volkslebens  im  Bezirk  Lubni  (Gouvem. 
PoltavaX  Es  wird  vielleicht  nicht  ohne  Interesse  sein,  hier  einige 
Proben  aus  dem  vom  Verfasser  gesammelten  Stoffe  zu  geben. 

a)  Es  herrscht  noch  bis  jetzt  unter  den  Bauern  der  weit- 
verbreitete Wahn,  daß  gewisse  Einwohner  des  Dorfes  mit  Hilfe 
bestimmter  Gebete  oder  der  Heiligenbilder  (besonders  der  Mutter 
Gottes),  die  Flammen  der  Feuersbrunst  „abführen"  können.  Als 
solche  erscheinen  in  jedem  Dorfe  die  nach  dem  Glauben  des 
Volkes  ,.von  magischen  Kräften  erfüllten"  Bauern  (oder  Bauers- 
frauen,   die  als  Pügerinnen  die  Höhlenklöster  in  Kiew  besuchten), 


316  Mitteilungen  und  Hinweise 

der  Dorfpriester,  der  Soldat.  Sogar  einmal  wurde  ein  Offizier  von 
den  Bauern  als  Zauberer  betrachtet.  Der  mit  magischer  Kraft 
begabte  Bauer  erscheint  während  der  Feuersbrunst  mit  dem  Bilde 
(ikona)  der  Mutter  Gottes,  geht  dreimal  um  das  brennende  Haus 
herum,  und  die  Flammen  (oder,  wie  das  Volk  sagt,  das  Feuer- 
wetter), werden  „auf  das  Wasser  abgeführt".  (Die  Flammen  der 
Feuersbrunst  erlöschen,  wenn  man  Vaterunser  vom  Ende  bis  zum 
Anfang  sagt.)  Ein  bloßes  Erscheinen  des  Dorfpriesters  stillt  die 
Feuersbrunst,  da  die  Bauern  fest  überzeugt  sind,  daß  der  „ba- 
tüschka"  (so  nennen  die  Kleiarussen  den  Dorfpriester)  ein  dazu 
bestimmtes  Gebet  kennt. 

Der  Soldat  (moskälj),  der  schon  in  den  Volksmärchen  als 
Diener  des  Teufels  oder  des  Drako  erscheint  (Afanasiew,  Russische 
Volksmärchen,  Band  II,  120a,  157),  gilt  auch  jetzt  in  jedem  klein- 
russischen Dorfe  für  einen  Hexenmeister.  „Als  das  Feuer  beim 
Gordij  (Eigenname)  ausbrach  (lesen  wir  bei  Miloradowitseh,  p.  4), 
so  kam  der  „moskalj"  herbeigelaufen,  winkte  nur  mit  der  Hand, 
und  die  Flammen  zogen  ans  Ufer." 

b)  Um  günstige  Entscheidung  des  Richters  herbeizulühren, 
fängt  die  Bauersfrau  einen  Frosch,  näht  ihm  das  Maul  mit  roter 
Wolle  zu  und  spricht:  das  Maul  näh  ich  gut  zu,  damit  mir  alles 
günstig  ist,  damit  ich  mich  nicht  fürchte,  damit  der  Firstenbalken, 
Bänke  und  das  ganze  Gericht  auf  meiner  Seite  sind.  Den  Frosch 
hält  die  Bäuerin  9  Tage  in  einem  neuen  Kruge,  bis  der  Frosch 
krepiert,  dann  zerschlägt  sie  den  Krug,  nimmt  den  Frosch  heraus 
steckt  ihn  in  den  Busen  und  sagt:  Ins  Gericht  gehe  ich,  und  mit 
der  rechten  Hand  drücke  ich.  Meine  rechte  Hand  ist  unter  mir, 
und  das  ganze  Gericht  ist  auf  meiner  Seite. 

Man  spricht  diese  Beschwörungsformel  in  den  Fällen,  wenn 
man  sich  wirklich  schuldig  fühlt,  und  das  Froschmaul  wird  mit 
roter  Wolle  zum  Binden  der  inimica  ora  der  Zeugen  zugenäht 
(gleich  wie  bei  Ovid  F.  II,  578  das  Maul  der  Maena,  cfr.  R.  Wünsch 
in  der  Berl.  phil  Woch.  05,  Sp.  1079,  auch  A.  Abt,  Die  Apologie 
d.  Apuleius  v.  Madaura  u.  d.  antike  Zauberei,  p.  69,  3). 

c)  Wenn  ein  Bauenamädchen  den  Geliebten  sich  herbeizaubern  < 
will,    so    schneidet    sie    ihren    Zopf   ab,  verbrennt   das  Haar  undj 
beräuchert  damit  den  Geliebten.     Auch  wird  der  Liebeszauber  mit 
den  Haaren  noch  auf  folgende  Weise  getrieben:  das  Mädchen  reißt' 
dem  Geliebten  einige  Haare  aus,  verbrennt  sie   mit  den  ihrigen 
auf   einer  Karwochkerze,    nimmt   die  Asche  zusammen,    und    trägt 
sie  im  Busen.     Die  Liebe  wird  auch  mit  Hilfe   des  Schweißes  er- 
zwungen: man  gibt  z   B.  ein  Konfekt  oder  einen  Apfel,    den  man 
unter    der  Achsel    getragen,    zu  essen,    oder    man    schneidet  einen 
Apfel    auf  und   gießt   einige  Tropfen  Blutes  vom  Daumen    hinein, 


Mitteilungen  und  Hinweise  317 

dann  gibt  man  den  Apfel  dem  Geliebten  zu  essen  (cfr.  E.  Kuhnert, 
Zauberwesen  im  Altertum  und  Gegenwart,  Nord  und  Süd  92, 
H.  276,  p.  330).  Auch  einigen  Speisen  wird  eine  zauberkräftige 
Wirksamkeit  zugeschrieben.  So  z.  B.:  man  nimmt  Hirsenmehl  aus 
9  Mühlen  und  Wasser  aus  9  Brunnen  und  kocht  eine  Grütze 
(kub'sch),  die  man  dem  Geliebten  zu  essen  gibt  Als  „Mittel  zum 
Liebeszauber"  verwertet  man  die  Erde  von  der  rechten  Fußspur, 
^lan  beschüttet  mit  dieser  Erde  die  Person,  deren  Liebe  man  er- 
zwingen will.  Mit  den  Knochen  der  Fledermaus  wird  der  Liebes- 
zauber auf  folgende  Weise  getrieben:  man  vergräbt  eine  lebendige 
Fledermaus  in  einem  Ameisenhaufen.  Dabei  soll  man  den  Pfiff 
der  Fledermaus  nicht  hören  (ihr  Pfiff  betäubt  den  Menschen),  das 
Umdrehen  ist  auch  verboten  (denn  wer  sich  umdreht,  der  wird 
gleich  auf  der  Stelle  hilind).  Wenn  die  Ameisen  die  Fledermaus 
aufgegessen  haben,  so  nimmt  man  die  Knochen  und  sucht  da  eine 
„Gabel"  und  eine  „Harke"  aus.  Wenn  man  den  Geliebten  mit 
der  .,Harke"  berührt,  so  wird  er  sein  Leben  lang  lieben,  von  der 
Berührung  des  Geliebten  mit  der  „Gabel"  hört  die  Liebe  auf.* 
Starodub  Or.  Jauiewitsch 

Zu  den  Mysterienbräuchen* 

In  den  Katechesen,  welche  der  Taufe  vorangingen,  wurde  von 
den-  Bischöfen  und  Geistlichen  der  alten  Kirche  gewissenhaftes 
Schweigen  über  die  Sakramente  der  Taufe  und  Eucharistie  beobachtet. 
An  dem  feierlichen  Tauftage  sollten  die  Täuflinge  durch  das  Er- 
lebnis überrascht  werden,  und  erst  nach  Taufe  und  erstem  Abend- 
mahl wurde  dann  in  den  Unterweisungen  der  Weißen  Woche  die 
Erklärung  der  Sakramente  nachgeholt-  So  hat  es  Kyrillos  in 
Jenisalem,  so  Ambrosius  in  Mailand  und  Maximus  in  Turin  gehalten. 
Sehr  lehrreich  finde  ich  die  Äußerung  des  Ambrosius  darüber,  de 
mysieriis  1,2  p.  408  f.  ed.  Maurin.:  Nunc  de  mysteriis  dicere 
tempus  admonet  aiqtie  ipsam  sacranientorum  rationem  edere:  quam 
ante  baptismum  si  putassemus  insiniiandam  nondum  inUiaiis,  pro- 
didisse  iiotius   (vgl.  Kyrillos  Prokatech.  12)   quam  edidisse  jaesüma- 

*  Über  den  Zauber  mit  der  vvxnQig  cfr.  A.  Dieterich  Pap. 
Magica  Mu^ei  Lugd.  Bat.,  p.  785  **.  Man  vgl.  auch  bei  G.  F.  Abbott, 
Macedonian  Folklore,  p.  110:  ,  But  of  all  animals  the  luckiest  is  the  bat, 
and  happy  is  he  who  keeps  a  bat's  bone  about  bis  person.  So  much 
80,  that  people  remarkable  for  their  luck  are  figuratively  said  to  carry 
such  a  talisman   (f;u£t  to  xoxxaXo  ttjs  wx^sgidag). 

-  [Diese  Miszelle  fand  sich  in  A.  Dieterichs  Nachlaß  (auch  die  Über- 
schrift stammt  von  Usener  her).  Ich  drucke  sie  ab,  weil  ich  meine,  daß 
sie  für  die  wichtige  Frage  imd  Ähnlichkeit  und  Unähnlichkeit  heidnischer 
und  christlicher  Mysterien  von  Bedeutung  sein  kann.  R.  Wünsch] 


318  Mitteilungen  und  Hinweise 

remur,  deinde  quod  inopinantihus  melius  se  ipsa  lux  mysteri- 
orum  infuderit  quam  si  eam  sermo  aliquis  praecucurrisset. 

H.  Usener  f 

Krähen  als  Dämonen  bei  den  Römern 

In  der  Mnemosyne  XXXVII  1909  S.  322f.  hat  J.  Vürtheim 
die  verdorbene  Stelle  bei  CatuU  XXV  4 f.  behandelt.    Er  liest: 

Idemque  Thalle  turbida  rapacior  procella 
cum  diva  mulier  alites  ostendit  oscitantes. 

Zur  Erklärung  wird  auf  Horaz  Carm,  III  27,  11  (oscinem 
corvum  prece  suscitabo)  verwiesen,  wo  die  Krähe  als  Regenprophet 
erscheint.  Die  diva  midier  wird  in  Verbindung  gebracht  mit .  den 
Divae  Corniscae,  die  zu  Rom  in  der  Nähe  von  S.  Pietro  in  Montorio 
ihren  Kultort  hatten  (Fest  p.  64  M;  CIL  I  814):  eine  „Krähenfrau", 
die  an  diesem  Ort^  der  urspininglich  Krähengöttinnen  gehört  hatte, 
ihre  Vögel  Regen  und  Sturm  vorausverkünden    ließ. 

Königsberg  Pr.  R.  Wünsch 

Moderner  Flnchzanber 

Paul  Perdrizet  in  Nancy  übersendet  in  liebenswürdiger  Weisfr 
der  Redaktion  des  Archivs  eine  Nummer  des  Temps  vom  19.  März 
1910,  in  der  das  unten  folgende  Zaubergebet  einer  modernen  Frau 
wiedergegeben  ist.  Das  Dokument  veranlaßte  den  Ehemann,  die 
Scheidungsklage  einzureichen.  Es  sei  hier  als  interessantes  Ana- 
logen zu  ähnlichen  Fluchgebeten  wiedergegeben,  die  aus  den  ver- 
schiedensten  Ländern  und  Zeiten  bekannt  sind. 

„Grand    saint   Exterminus,  je    te    conjure    d'aller   tourmenter 
Farne  et  Tesprit  de  Mme  Fernande  X . . .,  demeurant  a  Paris ,    par 
les  cinq  sens  de  la  nature;    qu'elle    soit   tourmentee,    obsedee    par 
le    besoin   de    quitter    son    mari...    Ainsi    soit-il!   —  Grand   saint 
Exterminus,   je    te    conjure    d'aller   tourmenter  l'esprit  du  mari  de 
Mme    X . . .    par    les    cinq    sens    de    la    nature.  —  Qu'il    ne  puisse 
vivre  sajis  moi.   —   S'il  dort,  qu'il  ne  songe  qu'a  moi;  qu'il  n'aime 
que  moi  affectueusement . . .    Que  sa  femme  le  quitte!  Reunis-nous, 
grand  saint  Extei-minus  . . .  Ainsi  soit-il!  —  Grand  saint  Exterminus J 
je  te  conjure  d'aller  tourmenter  l'esprit  de  mon  mari  par  les  cinqf 
sens  de  la  nature.    Qu'il  n'ait  qu'une  idee:  me  donner  de  l'argenttj 
—  Grand    saint    Exterminus,    toi    dont    le    pouvoir    est    si    grand,! 
reunis-moi    a  Thomme    que   j'aime,   je  t'en  conjure.    Ainsi  soit-il!" 

Eine  Parallele  aus  deutschem  Volksglauben  brachte  die 
Hartungsche  Zeitung  1911  No  62,  Abendblatt,  1.  Beilage.  Zu 
Anfang    dieses   Jahres    wurde    in   Königsberg  Pr.  polizeilich  gegen 


MitteiluDgen  und  Hinweise  319 

eine  gewerbsmäßige  Wahrsagerin  vorgegangen,  die  mit  Hilfe  des 
sechsten  und  siebenten  Buches  Mosis  allerhand  Zauberei  trieb. 
Wenn  es  sich*  darum  handelte ,  den  Geliebten  zur  Rückkehr  zu  seinem 
Mädchen  zu  veranlassen,  so  gebrauchte  sie  folgende  Formel:  ^ch 
lege  Dir  dies  alles  auf  die  Glut,  vür  Dein  Sund  und  Übermut,  ich 
lege  Dir  auf  Lung,  Leber  und  Herzen,  es  sollen  Dich  ankommen 
große  Schmerzen,  und  sollen  Dich  alle  Adern  krachen,  Todes- 
schmerzen will  ich  Dir  machen,  bis  Du  reumütig  zu  mir  zurück- 
kehrst und  meine  Liebe  erwiderst,  wie  Du  von  mir  gegangen. 
Dieses  alles  schwöre  ich  beim  Fürst  der  Nacht  und  Grauen.'  Das 
ist  im  Kern  nicht  verschieden  von  den  Formeln,  die  bei  Theokrit 
Simaitha  gegen  den  ungetreuen  Delphis  spricht. 

Königsberg  Pr.  K.  Wünsch 

Der  Zauberer  Dardanns 

Die  antike  Literatur  über  diesen  Magus  hat  E.  Wellmann 
in  der  Real-Encyclopädie  von  Pauly-Wissowa  Band  IV  S.  2180 
zusammengestellt.  Hinzugefügt  werden  muß,  daß  A.  Dieterich 
Papyrus  magica  musei  Lugdunensis  Batavi,  Jahrb.  f.  klass.  Philol. 
Suppl.  BdXVI  S.  750,  754  (in  den  demnächst  erscheinenden  Kleinen 
Schriften  S.  3,  6)  über  denselben  Archegeten  der  Zauberei  gehandelt 
und  darauf  aufmerksam  gemacht  hat,  daß  in  dem  Pariser  Zauber- 
papyrus noch  ein  Rezept  unter  seinem  Namen  erhalten  ist  (V.  1716 
^Lcpog  JaqSdvov).  Eine  der  wichtigsten,  aber  wie  es  scheint,  noch 
nicht  völlig  geklärten  Stellen  über  ihn  ist  Plinius,  Nat.  hist.  XXX  9 : 
Democritits  ApoUohecJien  Coptiten  et  Dardanum  e  Phoenice  inlustravit 
toJutninibus  Dardani  in  sepulchrum  eins  petitis.  unklar  sind  hier 
die  letzten  Worte.  J.  A.  Fabricius  (Bibliotheca  Graeca  I*  S.  20) 
las  qttaesüis  und  interpretierte:  quaesiiis  tarn  anxie,  ut  et  ipsum 
sepulchrum  eius  adire  non  diihitaverit.  Dieterich  paraphrasiert : 
Dardani  magi  volmnina  ex  eins  septdcro  petiisse  fertur,  und  sagt 
in  der  Anmerkung  dazu:  Jiic  sensus  Sit  oportet  loci  .  .  quamqaum 
libri  plcrljue  tradunt  '.  .  in  sepulcrum  .  .',  unus  tantum  codex  'a 
sepulcrd* .  Wellmann  scheint  dieselbe  Änderung  des  Textes  vor- 
zunehmen, da  er  sagt,  Demokritos  habe  den  Dardanus  'aus  seinem 
Grabe  aufgestöbert'.  Ebenso  liest  R.  Reitzenstein  Poimandres 
S.  163  sepulcro.  Aber  ehe  man  ändert,  versuche  man,  mit  dem 
Überlieferten  auszukommen.  Die  Stelle  besagt,  daß  Demokrit  die 
Schriften  des  Dardanus  kommentiert  habe,  nachdem  sie  in  dessen 
Grab  geholt  worden  seien.  Das  ist  eine  jener  kurzen  Notizen, 
wie  sie  so  zahlreich  bei  Plinius  stehen,  eiu  kurzes  Exzerpt  aus 
einer  längeren  Erzählung.  Sie  kann  nur  so  gelautet  haben,  daß 
Demokrit  die  Schriften  des  Dardanus  sammelt,  sie  mit  sich  in  das 


320  Mitteilungen  und  Hinweise 

Grabmal  ihres  Autors  nimmt  und  dort  kommentiert.  Was  er 
damit  bezweckt,  ist  klar:  der  Geist  des  Magus  lebt  in  seinem 
Heroon  weiter  und  vermag  dort  am  besten  dem  Adepten  den  ge- 
heimen Sinn  der  eigenen  Bücher  zu  offenbaren.  Das  ist  derselbe 
Glaube,  der  auch  meint,  daß  die  Heroen  aus  ihren  Gräbern  heraiis 
prophezeien.  Strabo  VI  p.  284  sagt  beim  Heroon,  also  beim  Grabe 
des  Kalchas  ivayl^ovßi  S^avra  fielccva  ngtov  ot  (lavxevo^svoi; 
mehr  Literatur  gibt  Deneke  in  Roschers  Mythologischem  Lexikon 
I  2485.  Pythagoras  verweilt  dreimal  neun  Tage  in  der  Idäischen 
Höhle  beim  Grabe  des  Zeus  (Porph.  Vit.  Pyth.  17):  doch  wohl,  um 
Offenbarungen  vom  Geiste  des  hier  begrabenen  Gottes  zu  empfangen. 
Dieser  Zug  ist  auf  Demokritos,  als  ihn  die  spätere  Philosophen- 
legende zum  Wundermann  stempelte,  sinngemäß  übertragen  worden. 
Wir  besitzen  sogar  noch  die  Vorläufer  der  Erzählung,  die  Plinius 
voraussetzt.  Antisthenes  hatte  von  Demokrit  berichtet  (Diog.  Laert. 
TX  38)  -jjöxßt  .  .  Ttomlkcog  Soki^cc^slv  rag  cpavzaöLag,  £Qrjfid^cov  iviore 
Kai  xotg  XDccpOLg  ivöiarQißcov:  er  hielt  sich  an  den  Orten  auf,  die 
der  Volksglaube  mit  Dämonen  und  Gespenstern  bevölkert,  um  sich 
die  Furcht  vor  diesen  unsaubern  Geistern  abzugewöhnen.  Dies 
Motiv  findet  sich  bei  Lukian  weiter  ausgebildet:  weil  Demokritos 
nicht  an  Gespenster  glaubt,  verlegt  er  seine  Studierstube  in  ein 
Grabmal  vor  den  Toren  von  Abdera,  wohl  um  ungestört  zu  sein 
(Philops.  32  Ka&eLQ^ag  iavrbv  slg  iivrj^a  £%(o  TtuAcöv  kvravd-a  öuriXsi 
yQatpcov).  Eine  ähnliche  Erzählung  mag  dem  Vorgänger  des  Plinius 
den  Gedanken  eingegeben  haben,  das  namenlose  Grab  bei  Abdera 
durch  den  Tumulus  des  Dardanus  in  Phönizien  zu  ersetzen  und  denj 
Demokrit  dort  Schriftstellern  zu  lassen  voluminibus  in  sepulcnmi  petitis. 
Königsberg  Fr.  R.  Wünsch 

Zu  Useners  Weihnachtsfest,  das  uns  die  sorgende  Haudj 
Hans  Lietzmanns  jetzt  eben  in  zweiter  Auflage  bescheert  hat,  be-j 
merke  ich,  daß  die  ursprüngliche  Fassung  des  bei  der  Jordantaufe 
vernommenen  göttlichen  Wortes  (S.  40  ff.)  auch  in  die  byzantinische] 
Schule  gedrungen  ist.  Wiederholt  liest  man  in  den  Scholien  zu] 
Dionysios  Thrax  (z.  B.  Gram.  gr.  III  p.  190  f.)  als  Musterbeispiel  :| 
KvQiog    tlnt    nqög    fie    vtog    (lov    el  ßv.  lym    arjfisgov    y^yivtjKcc    6s. 

Königsberg  Pr.  R.  Wünsch 


[Abg08chlo88eii  am  35.  März  1911] 


,o. 


I  Abhandlimgeu 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum 

Von  I.  Scheftelowita  in  Cöln  a.  Rh. 

[Schluß] » 

8  Ursprung  der  jüdischen  Vorstellung,  daß  die  Seligen 

in  dem  messianischen  Reich  Fische  genießen. 

Die  Idee  von  dem  einen  Fische,  dem  Leviatan,  der  zu 
gleicher  Zeit  mit  dem  Messias  auftritt,  ist  eine  durch  die 
Astrologie  beeinflußte  jüngere  Weiterbildung  der  alttestament- 
lichen  Vorstellung,  die  im  Ezechiel  zum  Ausdruck  gelangt, 
daß  nämlich  im  messianischen  Weltreiche  die  bevorzugte  Speise 
der  Seligen  in  Fischen  bestehen  wird.*  Auch  der  Midras 
Jalqüt  zu  Jerem.  9  sieht  in  dem  Fischgenuß  ein  charak- 
teristisches Merkmal  der  Heilszeit:  „Seitdem  die  Israeliten  aus 
dem  Heiligen  Lande  verbannt  sind,  sind  auch  unzählige  Arten 
von  Fischen  verschwunden,  die  erst  nach  der  Erlösung  Israels 
in  der  messianischen  Zeit  wieder  zurückkehren  werden."  Also 
bestimmte  Arten  von  Fischen  bilden  die  Speise  des  Heils. 
Darum  sind  Fische  auch  auf  den  im  Abschnitt  6  (oben  S.21ff.)  er- 
wähnten alten  jüdischen  Grabsteinen  abgebildet. 

Worauf  beruht  nun  die  Vorstellung,  daß  die  Seligen  im 
messianischen  Reiche  Fische  genießen? 


^  Siehe  oben  S.  Iff. 

'  Gemäß  einem  späten  Midras  wird  in  der  messianischen  Zeit 
eine  Wasserquelle  vom  Hause  des  Ewigen  ausgehen,  „um  für  das  Volk 
Israel  die  Fische  zu  mehren"  (vgl.  Jellinek  Bet-Bammidrasch,  übers,  von 
A.  Wünsche  Aus  Israels  Lehrhallen  III,  Leipzig  1908  p.  138). 

Archiv  f.  Beligionswigaenschaft  XIV  21 


322  I-  Scheftelowitz 

Der  Glaube  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  und  die 
Vorstellung  über  das  Leben  der  Einzelseele  nach  dem  Tode 
ist  älter  als  der  Glaube  an  die  Wiederauferstehung  in  der 
messianischen  Zeit.  Manche  Vorgänge,  die  sich  ursprünglich 
auf  das  Schicksal  der  Einzelseele  nach  dem  Tode  bezogen 
hatten,  sind  sekundär  auf  die  messianische  Zeit  der  Wieder- 
auferstehung übertragen  worden.  Ursprünglich  wurde  ange- 
nommen, daß  das  Geschick  der  Seele  gleich  nach  dem  Tode  ent- 
schieden würde,  aber  durch  die  sekundäre  messianische  Idee  ent- 
stand die  Vorstellung,  daß  sie  erst  bei  der  Wiederauferstehung 
den  wahren  Lohn  oder  die  gerechte  Strafe  erhalte.  Zu- 
weilen sind  aber  noch  vereinzelte  ältere  Anschauungen  neben 
den  entsprechenden  jüngeren  bestehen  geblieben.  So  findet 
gemäß  dem  Judentum  und  dem  Parsismus  nicht  nur  nach  dem 
Tode  eines  jeden  Menschen,  sondern  auch  in  der  messianischen 
Zeit  ein  göttliches  Gericht  statt.  Also  Vorgänge,  die  ur- 
sprünglich gleich  nach  dem  Tode  eintraten,  werden  auf  das 
Weltenende  verlegt.  Folgendes  Beispiel  soll  dieses  besonders 
klar  machen.  In  der  alten  Zarathustra- Religion  und  im 
späteren  Parsismus  ist  die  Cinvat- Brücke  das  charakteristische 
Merkmal  des  göttlichen  Gerichts  nach  dem  Tode  der 
Einzelseele.  Diese  Richterbrücke,  welche  über  die  Hölle 
ausgespannt  ist,  muß  jede  Seele  überschreiten.  Der  Seele  des 
Frommen  erscheint  sie  breit  und  bequem,  da  seine  guten 
Werke  im  vergangenen  Leben  ihm  helfen^,  dagegen  ist  sie 
für  den  Gottlosen  so  eng  und  haarscharf  wie  „die  Schneide 
eines  Rasiermessers",  so  daß  er  unrettbar  in  den  Schlund  der 
Hölle  hinabstürzt.'''  Diesen  altpersischen  Gedanken  von  der 
Richterbrücke  hat  nun  das  spättalmud Ische  Judentum  aus  dem 
Parsismus  entlehnt,  ihn  jedoch  mit  dem  messianischen 
Weltgericht   verknüpft.     So    heißt   es    im    Midras^:   „In  der 

'  Dädistän  ^  Dinlk,  cap.  34.  »  Vgl.  Grdr.  Iran.  Fhil.  II,  684  f 

•''  Jdlqut  zu  Jes.  c.  60.    Aus  dem  Judentum  hat  dann  der  Islam  diese 

VoiBtellung  von  der  Höllenbrücke  übernommen.  In  der  mohammedanischen 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  323 

messianisclien  Zeit  versammelt  Gott  alle  Nationen,  und  deren 
Götzen  erhalten  auf  Befehl  Gottes  Bewegung  und  Leben,  um 
alsdann  gegen  ihre  Anbeter  zu  zeucren.  Darauf  müssen  alle 
Nationen  über  eine  lange  Brücke  schreiten,  die  über  die  Hölle 
gespannt  ist  und  nach  dem  Paradiese  führt.  Für  die  Gott- 
losen, die  den  Fuß  darauf  setzen,  wird  die  Brücke  so  schmal 
wie  ein  dünner  Faden,  so  daß  sie  alle  in  die  Tiefe  der  Hölle 
hinabstürzen.  Dagegen  führt  Gott  selbst  die  frommen  Isra- 
eliten hinüber." 

Diese    Vorstellung    von    dem    Schicksal    der    Einzelseele 
nach  dem   Tode    ist    im   Judentum   etwa   im  3.   oder   4.  Jahr- 


Eschatologie  wird  sie  folgendermaßen  geschildert:  „Die  Höllenbrücke  ist 
schmal  wie  die  Schärfe  des  Eisens  oder  Schwertes,  glatt  und  schlüpfrig, 
an  ihren  Seiten  stehen  Engel  mit  Hakenstangen  und  rufen:  Bei  Gott 
Heil,  Heil!  Dann  ziehen  die  Menschen  hinüber,  schnell  wie  der  Blitz, 
der  Vogel,  der  Wind.  Und  manche  werden  heil  gerettet,  manche  ver- 
wundet, aber  doch  gerettet,  die  andern  jedoch  fallen  hinabgeworfen  in 
die  Hölle"  (vgl.  R.  Leszynsky  Mohammedanische  Traditionen  über  das 
jüngste  Gericht  1909  p  41).  Die  Vorstellung  von  der  Seelenbrücke 
ist  bei  mehreren  primitiven  Religionen  nachweisbar.  Nach  dem  Glauben 
der  Eingeborenen  der  malaiischen  Halbinsel  muß  die  Seele  nach  dem 
Tode  auf  ihrer  Wanderung  nach  dem  Paradiese  einen  gewaltigen  See 
passieren,  über  den  eine  große,  hölzerne  Brücke  geschlagen  ist.  Ein 
Riese  von  schrecklichem  Aussehn  bewacht  diese  Brücke.  Die  Seelen 
der  Frommen  gelangen  unbehindert  hinüber,  dagegen  stürzen  die  Seelen 
der  Bösen,  durch  den  schrecklichen  Blick  des  Riesen  entsetzt,  in  den 
kochenden  See.  Daher  begraben  die  Eingeborenen  ihren  Toten  häufig 
auf  Balken,  vermittels  deren  seine  Seele  den  See  glücklich  passieren 
möge  (vgl.  W.  W.  Skeat  und  Ch.  0.  Bladgen  Pagan  races  of  the  Malay 
Peninsula  II  1906  p.  208  und  217).  Auch  nach  der  Snorri  Edda  {Gyl- 
faginning  cap.  49,  übers,  von  H.  Gering  p.  345)  ist  die  Unterwelt  von 
der  Erde  durch  einen  Strom  getrennt,  über  den  eine  Brücke  geschlagen 
ist,  die  von  einer  göttlichen  Kriegerin  bewacht  ist.  Auf  den  Andamanen 
besteht  die  Seelenbrücke  aus  einer  Rohrbriicke,  bei  den  Tcheremissen 
aus  einer  Seilbrücke,  auf  Xyas  aus  einer  Katzenbrücke,  in  Mikronesien 
aus  einer  Tanzbrücke  (vgl.  A.  Bastian  Ethnol.  Xotizblatt,  Berlin  1901 
p.  94  f.).  Die  Chinesen,  die  ebenfalls  an  einen  Totenstrom  glauben, 
opfern  dem  Toten  ein  papierenes  SchifiF  und  zwei  papierene  Brücken 
(W.  Grube  Zur  Pekinger  Volkskunde,  Berlin,  Museum  für  Völkerkunde 
1901  p.  45;  E.  Diguet  Les  Annamites,  Paris  1906  p.  200  . 

21* 


324  I-  Scheftelowitz 

hundert  n.  Chr.  sekundär  mit  der  Idee  vom  Weltgericht  der 
messianischen  Zeit  verschmolzen.  Ebenso  wird  wohl  auch  der 
Fischgenuß  im  messianischen  Reiche  auf  das  ursprüngliche 
Fischmahl  der  Seligen  nach  ihrem  Tode  zurückgehen. 

Der  Fisch  kommt  im  Seligenmahl  mancher  Religionen 
vor.  Die  südamerikanischen  Indianer,  die  ebenfalls  die  Vor- 
stellung von  einem  Leben  im  Jenseits  haben,  kennen  die 
Seligenmahlzeiten,  die  aus  Fischen  und  Fleischspeisen  be- 
stehen. „Wie  auf  Erden  gute  und  böse  Menschen  nebenein- 
ander leben,  so  auch  im  Jenseits.  Eine  moralische  Vergeltung 
gibt  es  nach  dieser  älteren  Auffassung  nicht."  „Sie  glauben, 
daß  alle  Menschen  ohne  Unterschied  ewige  Vergnügungen 
nach  dem  Tode  genießen  werden,  und  daß  die  hienieden  be- 
gangenen Handlungen  auf  den  zukünftigen  Zustand  nicht  den 
mindesten  Einfluß  haben".  Zu  den  Lieblingen  der  Götter 
gehören  sowohl  die  Zauberer  als  auch  die  Häuptlinge  und 
tapferen  Helden.  Sie  weilen  in  einem  paradiesischen  Gefilde, 
das  von  klaren  Bächen  bewässert  wird;  köstliche  Feigenbäume 
wachsen  dort  in  Fülle,  und  viel  Wild,  Fische  und  Honig 
stehen  jedem  zu  Gebote.  Alle  Verstorbenen  befinden  sich  dort 
bei  ihren  Vorfahren,  und  als  Speise  werden  ihnen  Fische 
und  Wildbret  sehr  reichlich  vorgesetzt.^ 

Nach  den  Vorstellungen  der  Giljaken  (Sibirien)  ernähren 
sich  die  Abgeschiedenen  im  Jenseits  hauptsächlich  von  Fischen 
und  Bären.  Dem  Toten  werden  sogar  Fische  und  Tabak  ins 
Grab  mitgegeben.^ 

'  Vgl.  Th.  Koch  Zum  Änimismus  d.  südamerik.  Indianer,  Leiden 
1900  S.  122  f.  und  130.  Man  könnte  zwar  vermuten,  daß  hier  der  Fiscb 
keine  bevorzugte  Speise  wäre,  sondern  ebenso  wie  bei  den  irdischen 
Mahlzeiten  zu  den  gewöhnlichen  Gerichten  gehöre.  Allein  bei  Lebzeiten 
vermeidet  der  Indianer  ängstlich  Fische  zu  genießen  (siehe  unten  Ab- 
schnitt 10). 

*  V.  Schrenck  lieisen  und  Forschungen  im  Amurlunde,  Petersburg 
ISe.")  Bd  III  763,  767,  769.  Auch  die  Insulaner  der  Torresstraße  (Austra- 
lien) nehmen  an,  daß  die  Seelen  der  Toten  rohe  Fische  essen,  Reports 
of  the  Cambridge  Anthrop.  Exped.  to  Torres  Straits,  Vol.  V,  p.  89  und  357. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  325 

Auch  der  thrakisch-phrygische  Sabazioskidt  kannte  ein 
Seligenmahl  im  himmlischen  Paradies.  In  der  Gruft  des 
heidnischen  Sabazios- Priesters  Vincentius  und  seiner  Gattin 
Vibia  sind  zwei  solche  Mahlbilder  aufgedeckt  worden. 
Wilpert^  setzt  sie  in  das  4.  Jahrhundert.  Vincentius  ist 
darin  als  Mitglied  des  Kollegiums  der  sieben  frommen  Priester 
(septem  pii  sacerdotes)  bei  einem  Opfermahle  im  Ornate 
dargestellt.  Letztere  lagern  am  Boden.  Vorn  im  Halbkreis 
liegen  acht  Brötchen  um  vier  auch  auf  dem  Boden  stehende, 
mit  Speisen  gefüllte  Schüsseln.  Eine  von  diesen  vier  Schüsseln 
enthält  einen  Fisch,  dagegen  sind  in  zwei  anderen  verschiedene 
Braten.  Die  Männer  halten  Weinbecher  in  der  Hand,^  Das 
andere  Bild  der  Vincent iusgruft,  das  sich  dem  Eingang  gegen- 
über an  der  Fondwand  befindet,  zeigt  die  Verstorbene  in  der 
Seligkeit.  Links  ist  die  Einführung  der  Vibia  durch  das  Tor 
zum  Seligenmahle ,  rechts  das  Gelage  der  Seligen  und  Vibia 
mitten  unter  den  Gästen  zu  erblicken.  „Im  Halbrund  stehen 
zwei  Schüsseln  im  Rasen,  die  eine  mit  etwas  wie  einem  hohen 
Kuchen,  die  andere  mit  einem  Fische.  Im  Vordergrund  kommt 
ein  Aufwärter  eilfertig  von  links  her  und  trägt  auf  den  vor- 
gestreckten Händen  eine  Schüssel  mit  Geflügel  herbei.  Ganz 
rechts  steht  eine  schlanke  Amphora,"'  Th.  Eisele  folgert  aus 
diesen  Darstellungen,  „daß  der  auch  in  der  altchristlichen 
Kommunion  übliche  Genuß  von  Brot,  Wein  und  Fisch  den 
Mysten  mit  der  zuversichtlichen  Hoffnung  eines  unvergäng- 
lichen Lebens  erfüllt  hat".^ 

^  Wilpert  B.  Malerei  d.  Katakomben  Roms.     1903. 

*  Dieses  Bild  findet  sich  auch  bei  P.  Wendland  D.  hellen.-römische 
Kultur  S.  186. 

'  L.  V.  Sybel  Christi.  Antikel  S.  201  f.  Über  den  Sabazioskult  vgl. 
6.  Wissowa  Religion  und  Kultus  der  Römer,  München  1902,  S.  314  f. 

*  Neue  Jahrb.  f.  klass.  Alt.  1909,  S.  636.  Auch  die  alten  Etrusker 
glaubten  an  ein  SeUgenmahl,  vgl.  Müller -Wieseler  Denkmäler  antiker 
Kmst  I  S.  LXIV  Nr.  334-335.  Auch  in  den  Abbildungen  hettitischer 
Seligenmahle  haben  der  weingefiillte  Kelch  und  Brote  eine  hohe  Be- 
deutung.    Aus  den  Darstellungen  dieser  Seligenmahle,  die  A.  H.  Sayce 


326  I-  Scheftelowitz 

Das  Seligenmahl  ist  ein  Überrest  jenes  uralten  Aberglaubens, 
sieb  durch  die  Verzebrung  eines  göttlichen  Wesens  in  Gestalt 
von  Tieren  zu  heiligen  und  unvergängliche  Kratt  zu  gewinnen. 
Zwecks  der  eigenen  Heiligung  aßen  es  erst  die  Priester,  wobei 
sie   ein   strenges   Zeremoniell   einhielten.      „Man   verzehrt    das 


Proceedings  of  the  Society  of  Bibl.  Archaeology  XXXII  (1<.)10)  p.  253—254 
gegeben  hat,  will  ich  einzelne  Beispiele  anführen:  On  one  of  the  most 
interesting  Hittite  monuments  founcl  at  Marash  is  a  representation  of  a 
goddess  seated  opposite  her  priest  uho  wears  the  same  dress  as  the  deity 
and  is  drinking  out  of  a  cup,  white  a  communion  table  Stands  beticeen 
them  with  three  wafers  of  hread  and  a  chalice  of  wine  upon  it.  —  On 
another  Marash  monument  the  goddess  with  the  young  god  in  her  Jap 
appears  alone  on  the  left  side  of  the  table,  which  has  the  usual  six  wafer- 
hreads  arranged  on  either  side  of  a  chalice.  —  On  a  broken  monument 
discovered  on  the  side  of  the  ancient  Malatia  tve  again  have  the  commu- 
nion-table  with  ivafer-bread  and  cup,  the  goddess  being  seated  on  one  side 
of  it  and  the  worshipper  in  the  same  dress  as  the  goddess  seated  on  the 
other,  in  the  act  of  drinking  the  wine.  Im  Mithraskult  genossen  die 
Mysten  ebenfalls  geweihtes  Brot  und  Wein  (vgl.  D.  Grill  Die  persische 
Mysterienreligion  im  römischen  Reiche.,  Tübingen  1903  p.  50 f).  Doch 
der  junge  Mithraskult,  der  wegen  seines  monotheistischen  Zuges  wohl 
vom  Judentum  beeinflußt  ist,  kann  diesen  Brauch  vom  Judentum  ent- 
lehnt haben.  Bereits  in  vorchristlicher  Zeit  hat  das  Judentum  einen 
starken  Einfluß  auf  Kleinasien  ausgeübt,  was  schon  daraus  hervorgeht, 
daß  das  Fürstenhaus  des  am  Tigris  gelegenen  parthischen  Vasallen- 
staates Adiabene  um  20  n.  Chr.  zum  Judentum  übertrat  (vgl.  H.  Graetz 
Gesch.  d.  Juden  III  4.  p.  403  flF.).  Die  in  dieser  Fiirstenfamilie  vorkommen- 
den Namen  wie  Izates,  Monobazus  sind  persischen  Ursprungs. 
Jüdischer  Volksglaube  hat  sich  schon  in  vorchristlicher  Zeit  sogar  bis 
nach  dem  Kaukasus  hin  verbreitet  (vgl.  A.  v.  Löwis  of  Menar,  Archiv  f. 
Rel.-Wiss.  Xn,  520);  F.  Cumont  Die  orientalischen  Religionen,  Leipzig 
1910  p.  76 f.).  „Die  mithrische  Religion  entstand  im  wesentlichen  aus 
einer  Kombination  der  römischen  Glaubensvorstellungen  mit  der  semi- 
tischen Theologie  und  in  zweiter  Linie  mit  gewissen  Elementen,  die  den 
einheimischen  Kulten  Kleinasiens  entlehnt  waren"  (Cumont  p.  173 f.). 
Auch  in  der  Eschatologie  der  buddhistischen  Chinesen  spielen  Kelch 
und  kleine  runde  Brote  eine  wichtige  Rolle.  Buddha  vermag  die  in 
der  Hölle  schmachtenden  Seelen  zu  erlösen,  wenn  er  ihnen  einen  ge- 
füllten Becher  und  einen  Korb  mit  kleinen  runden  Broten  zum  Genüsse 
darreicht  (vgl.  W.  Grube  Zur  Pekinger  Volkskunde  in  Veröff.  d.  Kgl.  Mus. 
f.  Völkerk.     Berlin  1901  p.  79). 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Cbristentnm  327 

Fleisch  eines  als  göttlich  angesehenen  Tieres  und  glaubt  sich 
so  mit  dem  Gotte  selbst  zu  identifizieren  und  an  seinem  Wesen 
und  seinen  Charaktereigenschaften  teilzunehmen"  (F.  Cumont, 
Die  orientalischen  Religionen,  Leipzig  1910  p.  83). 

Der  Fisch  als  Speise  der  Seligen  findet  nun  in  folgendem  seine 
Erklärung.  Einzelne  Naturreligionen  erblickten  in  den  Fischen 
Verkörperungen  göttlicher  Kräfte,  weshalb  man  sie  auch  nicht 
essen  durfte.  Höchstens  war  im  diesseitigen  Leben  den 
Priestern,  den  „reinen"  Menschen,  der  Fischgenuß  gestattet; 
das  profane  Volk  durfte  allenfalls  zur  Opfermahlzeit  den  Fisch 
gebrauchen.  Denn  die  Naturvölker  glaubten,  daß  sie,  wenn 
sie  ein  solches  göttliches  Tier  verzehrten,  hierdurch  mit  gött- 
lichen Kräften  erfüllt  würden*,  die  aber  durch  den  profanen 
Menschen  entweiht  würden.  Infolge  solcher  den  Fischen  inne- 
wohnenden geheimnisvollen  Eigenschaften  behaupten  die  Ur- 
einwohner von  Zentral -Borneo,  daß  die  Menschen  erst,  nach- 
dem sie  Fische  gegessen  hatten,  zu  sprechen  begannen.' 
Gemäß  dem  altindischen  Glauben  haben  sich  manche  Fische 
als  Verkörperungen  hilfreicher,  rettender  Gottheiten  den 
Menschen  offenbart.  Den  Brahmanen  ist  der  Genuß  der 
meisten  Fischarten  verboten.  Außer  den  Schuppenfischen  sind 
ihnen  nur  vier  andere  Fischspezies  erlaubt,  nämlich  der  Sim- 
hatunda,  Rohita,  Päthina  und  Räjiva.^  In  manchen 
Gegenden  Indiens  gibt  es  Teiche  mit  heiligen  Fischen.  Der 
König  Bhartari  von  Benares  hatte  sogar  einen  Fisch,  der 
ihn  über  alles,  was  in  den  „drei  Welten"  vorging,  in  Kenntnis 
setzte.  Die  Fische  sind  nach  der  indischen  Sage  aus  der  Ehe 
der  Nvmphe  Adrikä  mit  dem  Könige  üparichara  hervor- 
gegangen.*   Auch  in   einer  Gegend  Burmas  werden  Fische  für 


'  Vgl.  J.  G.  Frazer  The  golden  Bough,  London  1900,  Vol.  II, 
S.  365  f.  *  JuynboU  Archiv  f.  ReUgionsic.  IX   p.  269. 

'  Vgl.  Manu  Dhartnas.  5,  16;  Yäjnavalkya  1,  177—178. 

*  W.  Crooke  Populär  Religion  and  Folk-lore  of  Northern  India  II 
(Westminster  1896)  p    253. 


328  I-  Scheftelowitz 

heilig  gehalten,  weshalb  sogar  der  Fischfang  dort  strengstens 
untersagt  ist.^ 

Bei  den  verschiedensten  Völkern  genossen  daher  die 
Fische  ursprünglich  eine  gewisse  göttliche  Verehrung.  Die 
alten  Perser  verehrten  eine  bestimmte  Fischart,  nämlich  den 
Arzuvä,  dessen  Oberhaupt,  wie  die  Parsi- Überlieferungen  be- 
richten, von  dem  göttlichen  Vohumanö  in  die  Ahuramazda- 
Religion  eingeweiht  ist,  damit  er  alle  übrigen  Fische  derselben 
Art  belehre.  Dafür  ist  aber  dem  Zarathustra  vorgeschrieben 
worden,  alle  Anhänger  eindringlich  zu  mahnen,  diese  Fische  zu 
schützen  und  ihnen  nicht  nachzustellen  und  sie  nicht  zu  töten.^ 

Den  Britanniern  waren  alle  Fische  heilig.  Im  südwest- 
lichen Teile  Britanniens,  am  nördlichen  Ufer  des  Flusses 
Sabrina,  zu  Lydney  Park  ist  ein  Tempel  des  keltischen  Gottes 
Nodon  aufgedeckt   worden,  auf  dessen  Mosaikfußboden  neben 


^  Vgl.  John  Anderson  Ä  report  on  tJie  expeditions  to  Western  Yunan, 
Calcutta  1871  p.  201  f.,  ferner  in  seinem  Werke  Mandalay  to  Momien, 
London  1876  p.  24  (worauf  mich  Dr.  W.  Foy  aufmerksam  machte). 

^  Zädsparam  c.  22,  3—6,  Binlcard  c.  24,  7,  Bundehis  14,  26.  Eine 
andere  mittelpersische  Überlieferung  berichtet,  daß  Ahuramazda  zwei 
gewaltige  Fische  erschaffen  habe,  nämlich  den  Fisch  Ariz,  welcher  „das 
größte  unter  den  Geschöpfen  Ahuramazdas"  ist  (Bundehis  18,  5)  und 
den  Fisch  Väs  Pancäsadvarän ,  unter  dessen  Schutz  besonders  alle  Ge- 
schöpfe des  Wassers  stehen  (Bundehis  18,  7 — 8).  —  Das  Verbot,  Fische 
zu  genießen,  kann  auf  verschiedene  Gründe  zurückgehen:  1.  weil  sie 
für  Verkörperungen  göttlicher  Kräfte  gehalten  werden;  2.  weil  sie  teils 
Darstellungen  von  Ahnengeistern  sind  (s.  u.  Abschnitt  10)  und  3.  weil  sie 
teils  als  Totem  gelten  Der  Totemismus  herrschte  besonders  bei  den 
amerikanischen  Stämmen  vor.  Unter  den  Yuchis  gibt  es  einen  Clan, 
der  nach  seinem  Totemtier  ,, Fisch"  heißt  und  den  Fisch  auch  verehrt 
(vgl.  J.  G.  Frazer  Toteniism,  London  1910,  Vol.  IV,  312).  Aus  diesem 
Grunde  vermieden  die  Navahoes  ängstlich  jede  Berührung  mit  den 
Fischen  (vgl.  J.  G.  Frazer  Totemism  III,  245 f.).  Die  Delawaren  opferten 
ihrem  Totem-Fisch  auch  kleine  Brotstücke  in  Gestalt  von  Fischen 
(vgl.  Frazer  Totemism  Vol.  I,  14).  Über  den  Fisch-Totemismus  in  Neu- 
Guinea  vgl.  Frazer  Vol.  IV,  277—283,  ferner  bei  den  Insulanern  der 
Torresstraße,  vgl.  Bepoi'ts  of  the  Cambridge  Anthrop.  Exped.  to  Torres 
Straits  Vol.  V  1904,  164  f.,  192  und  PI.  V— VI. 


J 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  329 

einer  kleinen  Inschrift  Darstellungen  von  allerlei  großen  und 
kleinen  Fischen  zu  sehen  sind.  Dieser  Gott  Xodon  (Nudd) 
ist  als  der  Beherrscher  der  Gewässer  angebetet  worden*; 
darum  hat  auch  ein  römischer  Flottenführer,  der  in  Britannien 
stationiert  war,  den  Fußboden  jenes  Tempelraums  dem  Nodon 
dediziert.  Auf  einer  dort  gefundenen  halbmondförmigen,  dünnen 
Erzplatte,  die  fünf  Zacken  an  der  Außenseite  hat  und  für  ein 
Diadem  des  Gottes  oder  des  Nodon -Priesters  angesehen  wird, 
ist  nun  die  auf  einem  Viergespann  stehende  Gestalt  eines  bart- 
losen Gottes  mit  vierzackiger  Krone  dargestellt.  Die  vier 
Seerosse*  sprengen  nach  rechts  und  links.  In  den  äußersten 
Ecken  sieht  man  zwei  fischschwänzige  Götter  mit  den  Vorder- 
füßen von  Rossen,  von  denen  der  rechts  befindliche  in  jeder 
Hand  ein  Ruder,  der  links  stehende  in  der  Rechten  einen 
Anker,  in  der  Linken  eine  ^Juschel  hält.  Ein  zweites,  kleineres 
Stück  eines  ähnlichen  Zierrats,  das  gleichfalls  dort  gefunden 
ist,  zeigt  einen  fischschwänzigen  Gott  mit  Keule  und  Anker 
und  einen  Fischer  mit  spitzer  Mütze,  welcher  mit  der  Angel 
einen  Lachs  aus  dem  Wasser  zieht.'  Dio  Cassius*  berichtet 
nun  von  den  Britanniem:  „Sie  genießen  keine  Fische,  obgleich 
diese  in  jener  Gegend  außerordentlich  zahlreich  sind."  In  den 
keltischen  Sagen  erscheint  der  Lachs  als  der  Träger  der 
Weisheit.^  Im  alten  Irland  wurden  heilige  Fische  wie  Forellen, 
Lachse,  Aale  in  besonderen  Quellen  verehrt.  Noch  in  neuester 
Zeit  wurden  Forellen  in  manchen  Gegenden  Irlands   nicht   ge- 


'  Wood-Martin  Traces  of  the  eider  faiths  of  Irdand,  London  1902, 
Vol.  I,  347. 

'  Über  göttliche  Seerosse  in  der  irischen  Mythologie  vgl.  Wood- 
Martin,  Yol.  II,  377  f. 

*  Vgl.  E.  Hübner  Das  Heiligtum  des  Nodon  in  Bonner  Jahrb.  1879, 
S.  29-46.  *  Epitome  XXVI,  12. 

=  John  Rhys  Lectures  an  the  Oriffin  and  Grotcth  of  Seligion,  London 
1888,  S.  553;  Wood-Martin  Traces  II,  108  f.  Die  gefleckten  Forellen  sind 
in  manchen  Gegenden  Irlands  für  heilig  gehalten,  vgl.  Lady  Wilde  Ancient 
Legends  of  Ireland,  London  1888  S.  238  f. 


330  I-  Scheftelowitz 

gessen,^  Da  die  keltischen  Ureinwohner  noch  zur  Zeit,  als 
die  Angelsachsen  nach  England  kamen,  keine  Fische  genossen, 
so  bezeichneten  sie  die  fremden  Eindringlinge  mit  dem  ver- 
ächtlichen Ausdruck  „Fischesser".  Als  die  größte  Erniedrigung 
empfand  ein  besiegter  irischer  Volksstamm,  wenn  sein  über- 
legener Gegner  ungestraft  die  dem  irischen  Stamme  heiligen 
Fische  fangen  ließ  und  sie  verzehrte.^  Wasserdämonen  in  Ge- 
stalt von  Aalen  kommen  in  den  irischen  Sagen  häufig  vor.^ 

Auch  die  Germanen  haben  gewisse  Fische  göttlich  ver- 
ehrt. Der  altnordische  Gott  Vali  stand  im  Zeichen  der  Fische. 
Der  sächsische  Gott  Hruodo  befindet  sich  auf  einem  Fische.* 
Der  germanischen  Göttin  Berchta  (Perchta)  waren  Fische,  be- 
sonders Heringe,  heilig,  die  ihr  geopfert  wurden.''  Gemäß  dem 
altdeutschen  Volksglauben  ziehen  am  Vorabend  des  St.  Nikolaus- 
tages die  Geister  Berchta  und  Wodan,  Spenden  verteilend  und 
Opfergaben  heischend,  durchs  Land.  Da  nun  der  Perchta  Fische, 
dem  Wodan  aber  Pferd  und  Eber  geweiht  waren,  so  erinnern 
die  aus  Lebkuchen  hergestellten  Fische,  Pferde  und  Schweine, 
die  als  Nikolaus-Gebäck  in  Deutschland  vorkommen,  an  die 
altgermanischen  Opfergaben.  In  manchen  Gegenden  der  Schweiz 
wird  am  Nikolaustage  von  einem  kostümierten  Burschen  ein 
Lebkuchen- Fisch  in  jedes  Haus  am  Wege  hineingetragen.^ 
Wegen  seiner  Heiligkeit  ist  der  Fisch  neben  dem  Pferde  und 
dem  Eber  häufig  auf  altgermanischen  Kunstgegen ständen  zur 
Darstellung  gebracht,  so  auf  altnordischen  Messern  der  Bronze- 


'  Wood -Martin  Traces  of  the  eider  faiths  of  Ireland,  London  190-2, 
II,  108  f.  . 

*  Wood-Martin  Traces  11,  113.  Nach  Plutarch  (De  Is.  72)  hatte  ein 
ägyptischer  Gau  seine  Feindschaft  gegen  einen  Nachbarstamm ,  der  den 
Hund  verehrte,  dadurch  bekundet,  daß  er  dem  Hunde  verehrenden 
Feinde   zum  Ärger  ein  paar  Hunde  schlachtete  und  verzehrte. 

»  Wood-Martin  Traces  I,  379. 

*  Verh.  Beil  Ges.  f.  Änthrop.  1884  p   37 

»  J.  Grimm  Deutsche  Mijthol*  III  (1878)  p.  29;  I  (1876)  p.  226. 
«  M.  Höfler  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  Bd.  12,  82  und  199. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  331 

zeit  und  auf  altnordischen  goldenen  Trinkhörnern. ^  Auch  auf 
einer  heidnisch -germanischen  Graburne,  die  in  Holstein  auf- 
gedeckt ist,  sind  neben  einer  menschlichen  Figur  ein  Pferd, 
zwei  Eber  und  ein  Fisch  zu  sehen.^  Der  Nickelmann  erscheint 
in  der  deutschen  Sage  als  halb  Fisch  und  halb  Mensch,  und 
seine  Nahrung  bilden  die  Fische.^ 

Die  Griechen  hatten  ebenfalls  ursprünglich  eine  religiöse 
Scheu  vor  gewissen  Fischen.  In  den  heroischen  Zeiten  hat  man 
keine  Fische  gegessen  (Lobeck  Aglaophamus  p.  248  ff.).  Die 
homerischen  Helden  haben  Fische  nur  im  äußersten  Notfalle  ge- 
nossen (Stengel  Hermes  XXU  p.  98).  Diodoros,  der  Sizilier,  be- 
richtet*: Die  Nymphen  schufen  der  Artemis  zu  Gefallen  in  Sizilien 
die  große  Quelle  Arethusa,  die  stets  fischreich  war;  diese  Fische 
waren  aber  noch  zu  der  Zeit  Diodoros'  heilig,  und  wenn  ein 
Mensch  es  wagte,  einen  derselben  zu  essen,  ward  er  schwer 
von  der  Göttin  heimgesucht.  Auf  Münzen  von  Syrakus  ist 
der  Kopf  der  Nymphe  Arethusa  dargestellt,  der  von  vier 
Fischen  umgeben  ist.^  Nur  den  Priestern  war  es  gestattet, 
die    heiligen  Fische   zu    genießen.      Eine   ähnliche  Quelle  Are- 


*  Sophus  Müller  Nord.  Altertumskunde  I  (1897),  465  Fig.  245; 
n,  154—155.  *  Verh.  Berl.  Ges.  f.  Anthrop.  1877  p.  31  f. 

'  Kuhn-Schwarz  NorddeutscJie  Sagen  Nr.  197,1. 

*  Diodoros  BijSlioO-Tjxrj  'Iötoqixt]  Vc.  3,5  (ed.  F.  Vogel,  Lipsiae  1890, 
Vol.  II  p.  7):  'Ofioiwg  dh  xal  %arci  ttjv  vf^eov  ravxr^v  ävelvat,  rag  Xvftxpag 
tavras  X'^Q'^^ofiivag  ty  'A^i(ii8i  \isyi6xr\v  jtTiyriV  Tr}v  övo^atouivriv 
'Agi^ovaav.  Tavrr,v  S'  ov  uövov  xcctoc  rovg  ocQxcciovg  xQÖvovg  Ijueiv  (isydXovg 
xal  noXXovg  ixQ'vag,  aXlä  xai  xaxa  zrjv  Tj^srSQav  TjXixiav  dutufvsir 
eviißaivsi,  rovTOvg,  isgovg  ovtag  xal  ä9ixT0vg  äv^gaTioig'  i^  av  itolXäxig 
ztvöp  xata  rag  TtoXBiiixug  Tisgiöräeiig  (fayövrav,  TtugaSo^ag  ijrfffjjfiTjra  ro 
9'tlov  xal  iisydXaig  ßvucpogatg  TisgisßaXB  rovg  roXfiriaavrag  ngoasviyxaed'ai. 

^  Vgl.  Müller -Wieseler  Denkmäler  antiker  Kunst  I  Taf.  16  Xr.  78; 
Taf.  12  Nr.  197.  Nymphen  mit  Fischen  kommen  auf  Münzen  häufig 
vor,  Tgl.  Imhoof-Blumer,  Tier-  und  Pflanzenbilder  auf  Münzen  und 
Gemmen,  Taf.  VIT,  5;  XIII,  2—3.  Auf  den  Münzen  von  Kyzikos  ist 
gewöhnlich  ein  Thunfisch  abgebildet,  vgl.  Imhoof-Blumer  Taf.  VIT,  7—10; 
XIII  10,  28,  37.  Heilige  Fische  werden  inschriftlich  erwähnt,  vgl. 
Dittenberger  Syll.  inscr.ll.  501  Nr.  364:  P.  Stengel  D.  griech.  Kultusalter- 
tümer  -  p.  20,  35,  85. 


I 


332  I-  Scheftelowitz 

thusa  gab  es  auch  bei  Chalkis,  deren  Fische  nur  von  den 
Priestern  gegessen  werden  durften.'  Die  heiligen  Fische  in 
den  Seen  bei  Eleusis  waren  den  Griechen  verboten.  Die 
Priester  des  Meergottes  Poseidon  aßen  überhaupt  keine  Fische.^ 
Auf  griechischen  Silbermünzen  ist  Poseidon  dargestellt,  der 
gewöhnlich  in  seiner  Hand  einen  Fisch  hat.^  Die  Etrusker 
scheinen  gleichfalls  gewissen  Fischen  göttliche  Verehrung  ge- 
zollt   zu    haben;    denn    unter    den    vorhandenen    etruskischen 


^  Vgl.  H.  Hepding  Attis,  RGW  I,  1903,  S.  189.  Der  Delphin  galt  in 
gewissen  Gegenden  Griechenlands  als  heilig.  Nach  Plutarchs  Schilderung 
wurde  er,  wenn  er  zufällig  in  ein  Fischernetz  geraten  war,  wieder  frei- 
gelassen. Oppian  aus  Kilikien  (um  175  n.  Chr.)  berichtet  sogar,  daß  es 
eine  Sünde  wäre,  einen  Delphin  zu  fangen.  „Wer  vollends  einen  töte, 
der  sei  so  schlimm,  wie  einer,  der  Menschen  mordet,  er  dürfe  sich  keinem 
Altare  mehr  nahen  und  die  bösen  Folgen  seines  Verbrechens  treffen  so- 
gar noch  seine  Angehörigen."  Der  Delphin  wird  noch  heutzutage  in  der 
Türkei  und  in  Italien  nicht  gefangen,  sondern  ebenso  wie  der  Storch 
geschont  (vgl.  Otto  Keller  Tiere  des  klassischen  Altertums,  Innsbruck  1887 
p.  234  und  429  Anm.  273), 

*  Vgl.  Dölger  Eöm.  Quartalschr.  23,  158  f. 

''CO.  Müller  -  Oesterley  Denkmäler  der  alten  Kunst  II  Taf.  VII 
Nr.  77 — 79.  Auf  antiken  Denkmälern  wird  Poseidon  zuweilen  durch  den 
Fisch  bezeichnet,  wenn  er  sein  Element  verläßt,  teils  um  den  Versamm- 
lungen der  Götter  beizuwohnen,  teils  um  sich  Sterblichen  liebevoll  zu 
nahen  (vgl.  L.  Urlichs,  Jahrb.  d.  Vereins  v.  Altertumsfreunden  Rheinl.  VI 
1842,  I  S.  59).  Also  scheinen  die  Priester  Poseidons  die  Fische  nicht 
deshalb  verehrt  zu  haben,  weil  sie  unter  Poseidons  Schutz  sind,  sondern 
weil  sich  durch  sie  die  Gottheit  offenbart.  Poseidon  war  der  Thunfisch 
geweiht  (Athen.  VII,  66,  Aelian  N.  A.  XV,  6).  Poseidon  selbst  bringt 
Thunfische  dem  Zeus  dar  (Athen.  VIII,  36).  II.  16,  407:  IsQog  l%Q'vs  scheint 
demnach  nicht  „der  schnelle",  sondern  „heilige  Fisch"  zu  bedeuten. 
Neben  dem  Delphin  waren  in  Griechenland  noch  andere  Arten  Fische 
heilig.  Als  uqos  l%Q'vs  wird  vor  allem  der  Pompilus  bezeichnet  (Athe- 
naeus  VII,  18—21;  Aelian  N.  A.  VIII,  28,  XV,  23;  Plutarch  Symp.  VIII,  8, 
Suidas  unter  lbqov  lx%-vv\  ferner  der  Fisch  Kobios  (.Athen.  VII,  18), 
Leucus  (Athen.  VII,  20),  Anthias  (Athen.  VII,  17).  Der  Fisch  Boax  war 
dem  Hermes  (Athen.  VII,  27;  12(5),  der  Citharus  dem  Apollo  (Athen.  VII, 
27;  126),  der  Phalaris  und  Chrysophrys  der  Aphrodite  geweiht  (Athen.  VII, 
126;  136).  Die  Fische  SmariB,  Maenis  und  Triglis  bildeten  die  Opfer- 
speise der  Hekate  ('ExaTrjs  ß^äniaxa  Athen.  VII,  92;  126;  VIII,  57). 


Das  Fiachsymbol  im  Judentum  und  Christentum  333 

Münzen  findet  sich  ein  Quadrans  von  Hatria,  in  Picenum:  die 
Typen  sind  zwei  verschiedene  Arten  von  Seefischen.^  Da  bei 
den  Indern,  Persern,  Kelten,  Germanen  und  Griechen  Fische  heilig 
waren,  so  scheint  dieses  auf  eine  indogermanische  Sitte  hin- 
zuweisen, daß  man  aus  abergläubischer  Scheu  sich  des  Genusses 
des  Fisches  bzw.  mancher  Fischarten  enthielt.  Ebenso  ver- 
abscheuen die  Siahposch  in  Kafiristan  den  Genuß  der  Fische, 
obwohl  ihre  Flüsse  reich  an  denselben  sind.  Auf  der  uralten 
Anschauung,  daß  Fische  eine  Götterspeise  seien,  beruht  der 
Brauch  der  Katschinzen  Südsibiriens,  keinen  Fisch  zu  essen, 
denn  sie  glauben,  daß  das  böse  Prinzip  im  Wasser  wohnt  und 
Fische  verzehrt  (R.  Andree,  Ethnograph.  Parallelen,  Stuttgart 
1878,  p.  125).  Der  Giljake  dagegen  verehrt  die  Schwertwale, 
die  ihm  alle  möglichen  Tiere  des  Meeres  zujagen,  als  seine 
Wohltäter;  er  betrachtet  sie  als  „die  Untergebenen  wirklicher 
Gottheiten."  Daher  tötet  der  Giljake  nie  einen  solchen  Fisch, 
„vielmehr  beerdigt  er  sogar  dessen  ans  Ufer  gespülten  toten  Körper 
in  feierlicher  Weise"  (L.  Sternberg,  Arch.  f.  Rel.-Wiss.  VIII,  251  f.).« 
Dieser  Brauch  herrschte  also  bei  den  Völkern  der  verschiedenen  Erd- 
teile, so  auch  bei  den  Negern  Afrikas  und  den  Indianern  Amerikas. 
„Eine  der  Gottheiten,  deren  Kulte  in  den  religiösen  Gepflogen- 


'  C.  0.  MüUer-Oesterley  a.  a  0.  I  Taf.  LXIII  Nr.  329.  Die  etrus- 
kiscben  Töpfe  und  Trinkschalen  sind  an  ihren  Füßen  gewöhnlich  mit 
Fischen,  die  einen  Menschenkopf  haben,  verziert  (F.  Jännicke  Grundn'ss 
der  Keramik,  Stuttgart  1879  p.  184).  Ebenso  sind  auf  einem  etruskischen 
Halsbande  vier  fischartige  Wesen  mit  menschlichen  Köpfen  zu  sehen 
(P.  A.  Kuhn  Gesch.  d.  Plastik  I.  Halbband    1909)  p.  105  und  Fig.  Nr.  142). 

'  Gemäß  der  polynesischen  Mythologie  ist  der  Gott  Tinirau  König 
der  Fische.  Sein  Lieblingstier  ist  der  Walfisch,  von  dessen  lebendigem 
Kör^ier  er,  so  oft  er  ein  herrliches  Mahl  bereitet,  einige  Fleischstücke 
ausschneidet,  da  sie  sehr  schmackhaft  sind.  Der  Zauberer  Kae,  der  mit 
List  den  Wal  tötet,  wird  von  Tinirau  mit  dem  Tode  bestraft  (vgl.  George 
Grey  Polynesian  Mythology,  London  1855  p.  90;  W.  W.  Gill  Mt/ths  and 
Sotigs  from  the  South  Pacific,  London  1876  p.  91:  E.  Shortland  Traditions 
and  Superstitions  of  the  New  Zealanders*,  London  1856  p.  64  fF.).  Das 
Fleisch  des  Walfisches  ist  hier  also  eine  beliebte  Götterspeise 


1 


334  I-  Scheftelowitz 

heiten  des  Jevhe- Ordens  in  Togo  vereinigt  sind,  ist  ein  Meer- 
gott, dessen  Abzeichen  der  Hai  ist'^,  weshalb  auch  der  Haifisch 
dort  verehrt  wird.^  Ehemals  stand  auf  die  Erlegung  eines 
solchen  Fisches  die  Todesstrafe.  Der  Fisch  ist  ihnen  als 
Nahrung  verboten.  Viele  würden  eher  verhungern,  als  daß 
sie  davon  kosten  würden.  „An  der  Goldküste  ist  das  Fisch- 
essen einzelnen  Personen  an  bestimmten  Tagen  oder  überhaupt 
verboten.  Die  Mitglieder  des  Jevhe- Ordens  haben  sich  des 
Fisches  Adepe  zu  enthalten.  Die  Wadschaggas  verschmähen 
den  Fisch  als  Nahrungsmittel."  Das  typische  Fischvolk,  d.  h. 
„die  Leute,  die  sämtlich  Fische  verehren,  sind  die  Batlapi,  ein 
Betschuanen- Stamm  in  der  Gegend  von  Kuruman".  „Die  Ver- 
ehrung des  Schwertfisches  beschränkt  sich  auf  die  Guineaküste." 
Der  Guinea-Neger  fängt  ihn  deshalb  aus  heiliger  Scheu  vor 
diesem  Fisch  nie  absichtlich.  Wenn  sie  aber  doch  zufällig 
in  seinen  Besitz  geraten,  verzehren  sie  ihn  erst  dann,  nachdem 
sie  sein  Schwert  herausgeschnitten  haben,  das  sie  trocknen 
und  als  Fetisch  betrachten.  „Außer  der  eigentlichen  Makrele 
verehrt  man  an  der  Guineaküste  einen  Fisch,  namens  Bonito, 
Bonite",  der  mit  dem  Thunfisch  verwandt  ist.^ 

Bei  den  Baele  (Afrika)  darf  der  Mann  gleich  nach  seiner 
Geschlechtsreife  weder  Fische  noch  Geflügel  essen.  Auch  in 
den  benachbarten  Ländern  des  Sudan  sind  diese  Nahrungsmittel 
den  Männern  untersagt  (L.  Frobenius,  Masken  und  Geheimbüude 
Afrikas  p.  2l7).  Dem  Quimbe-Orden  in  Kongo  sind  viele  Arten 
von  Fischen  verboten  (Frobenius,  Masken  p.  50).  Die  Neusee- 
länder glauben,  daß  die  Fische  Abkömmlinge  von  Göttern 
seien.^     Bei  jedem  Fischfang  bringen  sie  den  ersten  Fisch  den 

'  Der  Hai  ist  auch  der  Fetisch  der  Neu-Kalabaresen  (Westküste 
Afrikas),  vgl.  R.  Karutz  Afrikanische  Hörner masken,  Lübeck  1901    p.  82. 

*  Vgl.  J.  Weißenborn  Ticrkult  in  Afrika  in  Internat.  Arch.  f.  Ethno- 
graphie 1905,  S.  128 — 129.  Auch  die  Zulus  essen  keine  Fische,  vgl. 
J.  6.  Frazer  Totemism,  Vol.  IV,  London  1910,  304. 

*  E.  Shoi-tland  Traditions  of  the  Neu-  Zealanders-  1856  p.  59;  John 
White  Ancient  history  of  the  Maori,  Wellington  1887,  Vol.  I,  59  ff. 


Das  Fischsymbol  im  Jadeatam  und  Christentum  335 

Göttern  dar.  Ihr  Hauptgott  Mawe  ernährt  sich  hauptsächlich 
von  Fischen  und  Menschenfleisch.'  Haifische  halten  die  Neu- 
seeländer für  göttliche  Wesen.  Gemäß  einer  Sage  haben  manche 
Priester  vom  Haifisch  überirdisches  Wissen  erlangt.'  In  Neu- 
Guinea  glaubt  man  an  Wassergeister  in  Gestalt  von  Fischen.' 
Es  werden  Haifische  und  andere  Fische  den  Göttern  als  Opfer 
dargebracht*  Auf  den  Karolinen  wurde  der  Gott  Maui  in 
einer  Fischgestalt  verehrt.^  Auf  Kusaie  und  den  Marianen 
hält  man  Aale  für  heilig.'"'  Die  Eingeborenen  von  Hawai 
glaubten  an  einen  Fischgott  mit  Namen  Kuula,  der  sich  nur 
von  Fischen  ernährte.  So  oft  er  Fische  fing,  opferte  er  zunächst 
den  ersten  Fisch  dem  obersten  Gott.  Gewisse  Arten  von  Fischen, 
welche  als  die  Untertanen  des  Fischgottes  betrachtet  wurden, 
wurden  ursprunglich  von  den  Eingeborenen  göttlich  verehrt.^ 
Erst  in  neuerer  Zeit  haben  diese  Ureinwohner  allmählich  den 
Aberglauben  überwunden,  aber  noch  heute  weihen  sie  nach 
jedem  Fischfang  den  ersten  Fisch  dem  Gott  Kuula.**  Der  ehe- 
malige Lieblingsfisch  dieses  Gottes,  eine  Art  Meeräsche,  wird 
noch  heute  vielfach  ängstlich  gemieden.  Schwangeren  Frauen 
ist  es  strengstens   verboten,  ihn  zu  berühren,   da   man  glaubt. 


'  J.  S.  Polack  Manners  and  customs  of  the  New  Zedlanders,  London 
1840  Vol.  I  17  und  277. 

*  Polack  Manners  I,  243 f.;  272.  Auf  den  Sunda-Inseln  wurde  dem 
Haifische  jährlich  eine  Jungfer  geopfert  (J.  A.  Robertson  Magellan's 
voyage  11,  Cleveland  1906)  p.  226. 

'  C.  G.  Seligmann  Jlelanesians  of  British  Xeic-Guinea ,  Cambridge 
1910,  183  u.  307.  Daher  kommt  der  Haifisch  in  der  melanesischen 
Ornamentik  häufig  vor  {^Globus  82,154). 

^  G.  A.  J.  Vandersande  Nova  Guinea,  Leiden  1907  Vol.  IH.  291. 
Bei  den  Tubetubes  und  Koita  (Britisch  Neu-Guinea)  sind  gewisse  Fische 
den  Frauen  (besonders  den  schwangeren)  und  den  Kindern  verboten, 
Seligmann  Melanesians  of  British  New  Guinea  p.  84.  139.  491.  580.  Bei 
den  südöstlichen  Stämmen  Neu-Guineas  dürfen  nur  alte  Männer  gewisse 
Fische  essen,  Seligmann  p.  681  Anm. 

"  Schirren  Die   Wandersageyi  der  Xeuseeländer,  Riga  1S56  p.  7<'. 

^5  Dumont  d'Crville   Voyage  de  VÄstroIabe,  Paris  1830  T.  V,  121. 

'  Th.  G.  Thrum  Hawaiian  Folk-tales,  Chicago  1907  p.  215 f.,  269. 

®  Thrum  Hawaiian  Folk-tahs  227  und  270. 


336  I-  Scheftelowitz 

daß  es  die  schlimmsten  Folgen  für  das  Kind  samt  der  Mutter 
haben  könnte.  Auch  die  Kinder  dürfen  diesen  Fisch  nicht 
essen,  solange  sie  noch  nicht  gehen  können.^  Ein  König,  der 
sich  einst  gegen  den  Fischgott  vergangen  hatte,  wurde  der 
Sage  nach  von  einem  Fische,  den  er  essen  wollte,  erwürgt.^ 
Haifische  werden  noch  heute  in  Hawai  als  göttliche  Wesen 
angesehen.^  Auch  bei  den  Eingeborenen  Borneos  waren  ehe- 
mals gewisse  Fische  heilig.  Während  der  in  jeder  Saatzeit 
stattfindenden  drei  neuntägigen  Festperioden  dürfen  menstruie- 
rende Frauen  gewisse  Arten  Fische  nicht  genießen.'^ 

Ahnlich  wie  die  Perser  glaubten  die  Indianer  von  Peru, 
daß  eine  bestimmte  Art  Fische  vom  himmlischen  Fisch  ab- 
stammte, der  für  die  Erhaltung  seiner  Nachkommen  eifrig 
Sorge  trägt.  Daher  halten  dort  manche  Stämme  die  Sardine 
für  heilig,  manche  den  Glattrochen,  manche  den  Wal-  und  Haifisch, 
manche  den  Groldfisch.^  „In  short,  they  had  whatever  fish  was 
most  serviceable  to  them  as  their  gods.""  Die  erhaltenen  alt- 
peruanischen Gefäße  sind  darum  häufig  mit  Reliefdarstellungen 
von  Fischen  versehen.  Außerdem  sind  dort  Fische  aus  Gold, 
Silber,  Kupfer  und  Bronze  gefunden  worden  (vgl.  Globus  1910, 
p.  276).  Fischgötter  fanden  sich  auch  im  peruanischen  Tempel 
des  Pachacamac.^  Bei  den  Maya -Völkern  (Amerika)  waren 
gewisse  Fische  den  Gottheiten  heilig.  Fische  sind  ihnen  auch 
als  Opfer  dargebracht  worden."* 


1  Thrum  p.  271  f.  *  Thrum  p.  228  f.  ='  Thrum  p.  255  f. 

*  A.  W.  Nieuwenhuis  Quer  durch  Borneo  1904  Bd  I  p.  324. 

°  In  deutschen  Märchen  verleiht  der  Goldfisch  dem  Fischer  und 
allen,  die  von  diesem  Fische  ein  Stück  erhalten,  eine  Fülle  Gold  (vgl. 
W.  Grimm  Gesamrn.  Märehen  Nr.  85).  Allerdings  kann  in  den  deutscheu 
Märchen  der  Goldfisch,  wie  Wundt  Völkerpsychologie  (Leipzig  1909)  Bd  II 
Teil  3  p.  111  annimmt,  vermöge  seiner  Goldfarbe  die  Zauberkraft  ausüben. 

»  J.  G.  Frazer  The  golden  Bough,  London  1900,  Vol.  II,  S.  410;  .T. 
G.  Müller  Gesch.  der  amerik.  ürreligionen'',  Basel  1867  p.  366. 

'  J.  G.  Müller  Gesch.  der  amerik.  Urrelig.  j).  366. 

**  Vgl.  Tozzer  und  Allen  Animal  figurea  in  the  Maya  Codices,  in  Papers 
of  Fedbody  Museum,  Cambridge  Mass.  Vol.  IV  (1910)  p.  308  und  PI.  5—6. 


Das  Fischsjmbol  im  Jadentam  und  Christentum  337 

Das  bisher  angeführte  Material  belehrt  uns,  daß  bei  den 
rerschiedensten  Völkern  Fische  ursprünglich  heilig  waren  und 
höchstens  gottgeweihte  Personen  wie  Priester  sie  im  diesseitigen 
Leben  essen  durften.  In  den  Mysterienkulten  wurde  darum  der 
Fisch  die  heilbringende  Speise.  Während  sich  sonst  die  Anhänger 
der  phrygischen  Götter  vollständig  aller  Fischnahrung  enthielten^, 
gebrauchten  die  Mysten  des  phrygischen  Mysterienkultes  den 
Fisch  bei  ihren  geweihten  Mahlen  als  eine  Heilsspeise.  Auf 
einem  römischen  Mysterienrelief  sieht  man  „den  Fisch  nicht 
nur  auf  dem  Tisch,  sondern  auch  als  Speise  beim  mystischen 
Mahle  auf  einer  Schüssel  in  der  Mitte  des  Speisesofas".  „Ein 
der  Tracht  der  dargestellten  Personen  nach  dem  phrygischen 
Kulturkreis  angehöriges  Relief"  zeigt  uns  eine  brennende 
Lampe,  einen  Widder,  einen  Stier,  einen  Raben  und  einen 
großen  Fisch.-  Auf  einer  der  phrygischen  Mater  magna 
geweihten  Inschrift  finden  sich  neben  anderen  Sümbildem  ein 
Fisch  und  ein  Becher,^  Heilige  Mahle,  bei  denen  man 
Fische  verzehrte,  gibt  es  auch  in  den  syrischen  Kulten  (vgL 
F,  Cumont,  Die  orientalischen  Religionen  übers,  v.  Gehrich, 
Leipzig  1910,  284).  „Indem  der  Gott  zu  seiner  Tafel  zu- 
läßt, gewäErt  er  ihm  Zutritt  zu  seiner  Freundschaft."*  Daher 
ist  der  Fisch  nicht  nur  im  phrygischen  Sabazioskult,  sondern 
auch  in  manchen  alten  Religionen  zur  Speise  der  Seligen  im 
Jenseits    geworden,    dessen    Genuß    göttliche    Kräfte    verleiht; 

•  Vgl.  H.  Hepding  Attis,  RGW  I  1903,  S.  156. 
-  H.  Hepding  Atiis,  S.  180,  Anm. 

Vgl.  A.  Harnack  Texte  u.  Unters.  XU,  4b,  1895,  S.  27. 

*  W.  Robertson  Smith  D.  Beligion  d.  Semiten,  übers,  v.  Stube,  S.  204. 
Auch  bei  den  Hettitem  herrschte  die  Vorstellung,  daß  man  durch  das 
Opfermahl  in  Gemeinschaft  trete  mit  der  Gottheit,  vgl.  Sayce  Proceed. 
of  the  Soc.  of  Bibl.  Archaeol.  1906  p.  95.  Bei  den  Hettitem  schienen 
ebenfalls  gewisse  Fische  verehrt  zu  sein.  Auf  einem  Zylinder  ist  die 
Huldigungsszene  eines  geflügelten  Gottes  mit  menschlichem  Körper  und 
dem  Kopfe  eines  Stieres  dargestellt,  der  zu  seiner  Rechten  einen  Fisch 
trägt,  vgl.  Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  Vart  dam  l'antiquite  IV  (Paris 
1884)  p.  773  Fig.  386. 

Archiv  f  ReligionswisseDScbaft  XIV  "  22 


338  I-  Scheftelowitz 

denn  die  Seligen  sind  ja  die  ständigen  Freunde  der  Götter. 
Nun  haben  auch  die  Semiten  ursprünglich  gewisse  Fische  gött- 
lich verehrt.  Überreste  davon  hat  besonders  der  syrische  Derketo- 
Atargatis-Kult  aufbewahrt.'  Den  Syrern  war  der  Fisch  heiligt, 
weshalb  sie  ängstlich  jeden  Fischgenuß  mieden.^  Nur  den 
Priestern  war  es  gestattet,  Fische  zu  essen.  Der  Göttin 
Derketo  wurden  aber  täglich  Fische  auf  dem  heiligen  Opfer- 
tische vorgesetzt,  die  später  von  den  Priestern  verzehrt  wurden."* 


^  Gegen  den  syrischen  Kult,  in  welchem  besonders  zwei  Tiere, 
der  Fisch  und  die  Taube  göttlich  verehrt  wurden  (vgl.  Cumont  Die 
oriental.  Religionen,  Leipzig  1910,  137  f.),  wendet  sich  Michas  Tanhümä, 
Paresä  Söfetim:  An  jedem  Tage  kränkt  ihr  Gott,  ihr  verehrt  teils  die 
Taube,  teils  den  Fisch,  teils  die  Steine.  Über  den  syrischen  Kult  der 
Steine  siehe  Cumont  p.  137  und  282  Nr.  29.  Der  Name  der  syrischen 
Göttin,  der  von  den  Griechen  als  Derketö  und  Atargatis  überliefert  ist, 
wird  von  Rob.  Eisler,  Philologus  68,  192  mit  aram.-talm.  tir'atä  'Riß, 
Einsturz'  (s.  G.  H.  Dalmann  ^ram.  Wth.  1901,  S.  428)  zusammengebracht, 
was  mir  nicht  einleuchtet.  Über  die  Etymologie  von  Atargatis  s.  Bau- 
dissin  in  Herzogs  Bealencycl.  d.  prot.  Tkeol.  IP  p.  173  f. 

*  Vgl.  Diodoros  II  c.  4,  3 :  Sio  Kai  rovg  lyvgovg  (lixQ'-  '^^^  *'^*'  <ijr6';u6e'9'at 
Tovxov  xov  ^dov  (rov  /;^'9'i5os)  Kai  riiiäv  rovg  ix^'vg  d>g  d'eovg.  „Von  Smyrna 
bis  an  den  Euphrat  haben  wir  Nachrichten  über  heilige  Fische,  die  in 
besonderen  Teichen  gehegt  wurden,  dem  Volke  untersagt  und  nur  der 
Gottheit  als  heilige  Opfer  dargeboten,  von  den  Priestern  als  Opferspeise 
verzehrt  werden  durften"  (Dölger  Böm.  Quartalschr.  23,  171);  vgl.  auch 
F.  Cumont  Die  oriental.  Religionen,  Leipzig  1910,  138.  Noch  heute 
gibt  es  in  Kleinasien  Orte,  in  denen  es  verboten  ist,  „die  als  heilig 
geltenden  Fische  zu  fangen;  und  man  glaubt,  daß  der,  welcher  von 
ihnen  essen  würde,  dem  Tode  verfallen  sei"  (F.  Cumont,  ebenda 
S.  283 — 284.)  In  Smyrna  sind  heilige  Fische  inschriftlich  bezeugt 
(Dittenberger  Sylloge  11*  Nr.  584). 

'  Vgl.  Ficker  S.  B.  Preuß.  Ale.  Wiss.  1894,  S.  101  f.;  Athenäns  VI  I, 
37;  W.  Robertson  Smith  D.  Religion  der  Semiten,  Freiburg  1899 
p.  133—136. 

*  Ficker  a.  a.  0.  S.  107;  A.  Dieterich  Eine  Mithrasliturgie  S.  40  ff  — 
Einige  in  den  Balkanländern  gefundene  Votivtäfelchen,  die  den  ersten 
christlichen  Jahrhunderten  entstammen  und  auf  den  samothrakischen 
Mysterienkult  zurückgehen,  kennen  ebenfalls  den  Fisch.  „Hier  ist  der 
Fisch  immer  und  immer  wieder  allzudeutlich  als  die  heilige  Speise  eiiu 
Mysterienkultes    hervorgehoben"    (Dölger    Böm.    Quartalschr.   23,    170. 


Das  Fischsymbol  im  Jndentnm  und  Christentnm  339 

Daß  die  Israeliten,  bevor  sie  sich  zum  Monotheismus  empor- 
gerungen hatten,  den  Fischkult  gekannt  hatten,  beweist  das 
Verbot  (5.  Mos.  4,  15):  „die  Form  irgendeines  Fisches,  der 
im  Wasser  ist,  zu  verehren".  Auch  das  biblische  Verbot,  alle 
Fische,  die  keine  Schuppen  und  Flossen  haben,  zu  genießen 
(3.  Mos.  11,  9 — 10),  da  sie  „unrein"  wären,  scheint  aus  Opposition 
gegen  die  heidnischen  Kulte  der  verwandten  Nachbarvölker 
hervorgegangen  zu  sein,  die  solche  Fische  für  heilig  hielten 
und  bei  gewissen  Götterfesten  aßen.^    „Man  verbot  den  Genuß 


Dölger  sucht  eingehend  nachzuweisen,  daß  die  Mahlszenen  auf  diesen 
Täfelchen  aus  dem  syrischen  Kult  entlehnt  sind  (Böm.  Qitartalschr 
23,  180  f.).  Fischopfer  wurden  auch  dem  römischen  Gott  Volcanus 
dargebracht  (G.  Wissowa  Religion  u.  Kultus  d.  Sömer,  München  1902, 
S.  185).  Ebenso  sind  in  China  Fischopfer  gewöhnlich  (K.  Faulmann 
Kuhurgesch.,  Leipzig  1881,  S.  258).  Über  Fischopfer  bei  den  Griechen 
vgl.  die  Zeitschrift  Hermes  XXII,  97  ff.  Auch  auf  einem  assyrischen 
Zylinder  ist  ein  Fischopfer,  das  man  zu  Ehren  einer  Gottheit  dar- 
bringt, veranschaulicht  (s.  British  Museum  Nr.  89,470).  Er  ist  ab- 
gebildet in  Tramactions  of  the  Oxford  Intern.  Congr.  history  of  Eelig. 
Toi.  U,  S.  184.  Über  babylonische  Fischopfer  siehe  Dölger  in 
seinem  IX0YC  I. 

'  Der  Alexandriner  Philo,  der  bestrebt  ist,  den  Wortsinn  der  bib- 
lischen Gesetze  allegorisch  zu  deuten,  hält  nun  die  mit  Flossen  und 
Schuppen  versehenen  Fische  für  ein  Symbol  der  Selbstbeherrschung: 
„Auch  diese  (reinen  Wassertiere)  kennzeichnet  Mose  durch  zwei  Merk- 
male, Flossen  und  Schuppen:  Tiere  ohne  diese  beiden  oder  eines  davon 
verbietet  er.  Der  Grund  dafür  soll  recht  genau  angegeben  werden.  Die 
Tiere  ohne  diese  beiden  Merkmale  oder  eines  von  ihnen  werden  von  der 
Strömung  mitgerissen  und  vermögen  der  Gewalt  des  Strudels  keinen 
Widerstand  zu  leisten;  die  dagegen,  die  beide  (Merkmale)  besitzen, 
weichen  aus,  stemmen  sich  mit  der  Kopfseite  entgegen  und  führen  den 
Kampf  gegen  ihren  Widerpart  mit  unbezwinglichem  Eifer  und  Wagemut, 
80  daß  sie  den  Stoß  mit  einem  Gegenstoß  -und  die  Verfolgung  mit  einem 
Angriff  erwidern  und  an  unwegsamen  Stellen  breite  Wege  zur  bequemen 
Flucht  zu  bahnen  wissen.  Auch  diese  Tiere  sind  Symbole.  Die  zuerst 
erwähnten  (Fische  ohne  Flossen  und  Schuppen)  sind  Symbole  einer  ge- 
nußsüchtigen Seele,  die  andern  aber  Symbole  einer  Seele,  welche  Selbst- 
beherrschung und  Selbstzucht  liebt.  Denn  der  Weg  zum  Genüsse  ist 
abschüssig    und    sehr    bequem    und    bewirkt    eher    ein    Gleiten    als    ein 

22* 


, 


340  I-  Scheftelowitz 

des  Fleisches  von  Tieren,  die  bei  anderen  semitischen  Stämmen 
für  heilig  galten,  und  deren  Fleisch  beim  Kultus  von  ihren 
Gottheiten  verzehrt  wurde.  Ähnliche  Bestimmungen,  die  direkt 
gegen  heidnische  Kultusgebräuche  gerichtet  waren,  sind  in 
christlicher  Zeit  den  aus  dem  Heidentum  hervorgegangenen 
Gläubigen  eingeschärft  worden,  um  sie  von  der  Teilnahme  an 
den  Götzenopfermahlzeiten  abzuhalten.  So  verbot  Simeon  Stylites 
seinen  bekehrten  Sarazenen,  Kamelfleisch  zu  essen,  weil  dies 
den  Hauptbestandteil  der  Opfermahlzeiten  der  Araber  bildete, 
und  der  Genuß  von  Pferdefleisch  wurde  den  Germauen  zu  einer 
Zeit  verboten,  wo  das  Essen  desselben  noch  ein  Akt  des  Odin- 
kultus war."^  Dem  wohl  ursemitischen  Glauben  gemäß  durften 
also  nur  gottgeweihte  Personen  gewisse  Fische  essen.^  Die  bei  den 


Schreiten;  steil  dagegen  ist  der  Weg  zur  Selbstbeherrschung  und  wohl 
mühselig,  aber  höchst  lohnend"  (vgl.  PJiilos  Werke  in  deutsch.  Übers., 
hrsg.  V.  Leopold  Cohn,  Breslau  1910  Bd  II,  p.  278—279). 

'  A.  Dillraann  Exodus  u.  Leviticus',  Leipzig  1897,  S.  529.  Aber  das 
biblische  Verbot  kann  auch  davon  herrühren,  weil  die  Fische  ohne 
Schuppen  und  Flossen  die  meiste  Ähnlichkeit  mit  den  Schlangen  haben 
und  deshalb  für  eine  Art  Schlangen  gehalten  wurden.  So  essen  auch 
die  Eingebornen  Tasmaniens  keinen  Fisch  mit  Schuppen,  ja  sie  be- 
rühren dieselben  nicht  einmal  (H.  Ling  Roth  Ahorigines  of  Tasmania, 
Halifax  1899  p.  62).  In  der  'Ixd-voficcvreia  der  Ehsten  bedeuten  die 
schuppenlosen  Fische  Unheil  (J.  Grimm  Deutsche  Mythol.  *  IT,  933).  Es 
gibt  sogar  Naturvölker,  die  sämtliche  Fische  wegen  ihrer  Glätte  als 
Schlangen  auffassen  und  sie  deshalb  überhaupt  nicht  genießen,  wofür 
sich  unten  in  Abschnitt  10  Belege  finden.  Die  Schlange  wurde  bei  den 
verschiedensten  semitischen  Völkern  für  heilig  gehalten,  so  bei  den 
Babyloniern,  Arabern,  Äthiopiern  und  Phöniziern  (vgl.  W.  Baudissin  in 
Herzogs  Real-Enc.  f.  prot.  Theol.*  V,  7).  Sie  war  auch  bei  den  Griechen 
heilig  (M.  W.  de  Visser  Die  nicht  vienschengestaltigen  Götter  der  Griechen, 
Leiden  1903  p.  164flF.;  170fiF.).  Über  den  Schlangenkult  vgl  C.  St.  Wake 
Serpent-Worship ,  London  1888;  C.  F.  Oldham  The  sun  and  the  serpentp'l 
London  1905. 

*  Auch     in     Phönizien     sind     gewisse     Fische     verehrt    worden.! 
Auf   einer    phönizischen    Münze    hält   der   Gott   Dagon    in   jeder    Handj 
einen  Fisch   (vgl.  Imhoof-Blumer   Tier-  und  Pflanzenbilder  auf  Münzer 
und  Gemmen,  Taf.  XHI,  33—34).    Selbst  auf  punischen  Münzen   siehtj 
man  den  Fisch  (besonders  den  Thunfisch);    vgl.  Imhoof-Blumer  Taf.  VI,| 


Das  Fischsymbol  im  Judentnm  und  Christentum  341 

Indianern  und  im  phrygischen  Kult  sich  findende  Vorstellung, 
daß  im  Jenseits  alle  Seligen  au  dieser  Götterspeise  teilhaben, 
wird  auch  bei  den  Semiten  bestanden  haben.  Dieser  Gedanke 
hat  sich  noch  in  den  ünterströmungen  des  israelitischen  Glaubens 
erhalten,  nach  welchem  der  Fisch  die  Speise  der  Seligen  ist 
und  auch  an  den  religiösen  Festen  die  bevorzugte  Speise  bildet. 
Die  auch  bei  den  Persern  und  Indianern  sich  findende  uralte 
Vorstellung  von  dem  Oberhaupt  der  Fische,  dem  niemand  nach- 
stellen kann,  hat  sich  wohl  noch  von  ursemitischer  Zeit  her  in  den 
Unterströmungen  des  altisraelitischen  Glaubens  in  der  Gestalt  des 
Leviatan  erhalten,  den  Gott  dazu  geschafi'en  hat,  daß  er  lustig  im 
Meere  tummele  (Ps.  104,  2{j)}  Sein  Genuß  ist  den  Menschen  im 
diesseitigen  Leben  versagt.     Kein  Sterblicher  kann  ihn   töten. 


48,  VII,  4  und  VIII,  32).  Über  die  Verehrung  des  Ziegenfisches  in  phö- 
nizischen  Städten  vgl.  W.  Schultz  Memtion  II,  58.  HeiHge  Fischteiche 
gab  es  bereits  bei  den  Sumerern,  vgl.  L.  \V.  King  History  of  Sumer  and 
Akhad,  London  1910  p.  268.  Dem  sumerischen  Gott  des  Wassers,  Enki, 
wurden  gewisse  Fische  dargebracht  (L.  W.  King  History  p.  128  f.).  Den 
Assyrern  war  es  verboten,  an  gewissen  Tagen  Fische  zu  genießen.  Wer 
aber  dagegen  handelte,  wurde  von  den  Göttern  mit  Krankheit  bestraft 
(E.  C.  Thompson  Semitic  Magic,  London  1908  p.  141). 

'  Die  im  Talmud  Bäbä  Baträ  73  b  erwähnte  Anschauung,  daß  es 
zwei  Leviatan  gebe  (siehe  oben  p.  49),  geht  auf  Jes.  27, 1  zurück,  wo 
„Leviatan  die  flüchtige  Schlange"  und  „Leviatan  die  gekrümmte  Schlange" 
erwähnt  werden.  Die  Auffassung  vieler  primitiver  Völker,  daß  Fische 
eine  Art  Schlangen  seien,  scheinen  auch  ursprünglich  die  Hebräer  gehabt 
zn  haben.  Wegen  seines  fischartigen  Wesens  kann  Leviatan  mit  einer  Angel 
gefangen  werden  (Hiob  40,  25).  In  der  jüdischen  Überlieferung  gilt  er 
als  ein  Dag  'Fisch'  {l^d^vg,  vgl.  oben  p.  6  Anm  ).  Nach  einem  späten 
Midras  ruht  „das  große  Meer  Okeanos,  welches  die  Welt  umgabt,  auf 
den  Floßfedem  des  Leviatan"  (Midras  Konen  übers,  v.  Aug.  Wünsche, 
Aus  Israels  Lehrhallen  III,  Leipzig  1909  p.  187).  Dieser  gewaltige  Fisch, 
dessen  Grösse  400  Parasangen  beträgt,  würde  alle  übrigen  Fische  ver- 
schlingen, wenn  Gott  es  nicht  so  eingerichtet  hätte,  daß  er  im  Monat 
Tebet  sein  Haupt  schüttelt,  wodurch  die  Fische  von  Schrecken  ergriffen, 
davoneilen  (Midras  Konen,  übers,  v.  A.Wünsche  a.  a.  0.  III,  198).  Die 
japanische  Mythologie  kennt  auch  einen  ungeheuren  Fisch,  der,  so  oft 
er  sich  bewegt,  Erdbeben  verursacht  (B.  H.  Chamberlain  Things  Japanese, 
London  1902  p.  127). 


342  I-  Scheftelowitz 

Erst  am  Ende  der  Welt  wird  er  von  Gott  geschlachtet  werden 
und  den  Seligen  zur  Speise  vorgesetzt.  Sekundär  ist  er  dann 
mit  dem  Messias  in  Verbindung  gesetzt  worden. 

Dölger  nimmt  an,  daß  der  christliche  'J;f^'Uff- Heiland 
seinen  Ursprung  im  syrischen  Kulte  habe.  Ihm  erscheint 
dieses  christliche  Sinnbild  „als  eine  auch  im  Interesse 
der  Missionstätigkeit  außerordentlich  nahe  gelegene  Opposition 
gegen  heidnische  Bräuche,  speziell  des  Atargatiskultes  .  .  . 
Dieses  scheint  die  richtige  Lösung  zu  sein.  Vom  Standpunkt 
der  Missionierung  jener  Gegenden  könnte  es  manchem  vielleicht 
sogar  verständlich  erscheinen,  daß  man  Jesus  den  eigentlichen 
sehr  großen  'Ix^vg  nannte,  um  die  Erinnerung  an  den  in  einer 
Legende  genannten  Sohn  der  Atargatis  aus  dem  Volksbewußt- 
sein zu  verdrängen,  —  trug  doch  dieser  Sohn  der  Atargatis  selbst 
den  Namen  'Ix&vg  (Athenaeus  VIII,  37)."^  Diese  Hypothese 
Dölgers  ist  unhaltbar.  Gerade  die  Aberkios- Inschrift  und  die 
Grabschrift  von  Autun,  welche  am  ausführlichsten  Kunde 
von  der  urchristlichen  Idee  des  'I%9vg  geben,  enthalten,  wie 
ich  bereits  nachgewiesen  habe,  jüdische  Vorstellungen  über 
den  messianischen  Fisch.  Außerdem  bietet  nicht  einmal  der 
bloße  Name  'Ix&vs  einen  Anhaltspunkt,  denn  die  Überlieferung 
des  Athenaeus,  daß  der  Sohn  der  syrischen  Derketo- Atargatis 
7%'9'vs  hieß,  liefert  nicht  die  geringste  Gewähr  dafür,  daß  dieser 
Gott  in  der  Tat  diesen  griechischen  Namen  geführt  habe.  Die 
Syrer  sind  Semiten,  und  auch  ihr  Kult  ist  semitisch.  Ebenso 
wie  nun  der  Name  seiner  Mutter  Derketo(-Atargatis)  nicht 
griechisch  ist,  so  wird  auch  ihr  Sohn  einen  rein  semitischen 
Namen  geführt  haben,  der  wohl  von  Athenaeus  ins  Griechische 

*  H,  Dölger  Rom.  Quartalschr.  23,  173.  Bereits  Bergh  van  Eysinga 
Z.  D.  M.  6.  60,  210—212  will  'Ixd'vs  mit  Derketo  in  Verbindung  bringen. 
Derketo  gebiert  den  'IxQ'vs\  „die  befruchtende  und  belebende  Kraft  der 
alten  Meeresgottheit,  wie  sie  im  Fische  symbolisiert  war,  konnte  leicht 
auf  das  Wiedergeburt  und  Auferstehung  wirkende  Christentum  übertragen 
werden".  Auch  nach  S.  Reinach  Cultes,  Mythes  III  (1908)  p.  43  if.  soll 
der  syrische  Fischkult  das  Ichthys- Symbol  erzeugt  haben. 


Das  I'ischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  343 

durch  ^x^^S  übersetzt  ist.  Die  Derketo  ist  nach  Diodoros* 
eine  Fischgöttin,  die  das  Gesicht  eines  Weibes,  aber  den  Körper 
eines  Fisches  hat.  Folglich  wird  auch  ihr  Sohn  eine  Fisch- 
gestalt gehabt  haben.  Dieser  wird  sicherlich  rerwandt  sein 
mit  den  übrigen  semitischen  Fischgottem.  So  wurde  der 
babylonische  Gott  Ea  von  alters  her  in  halber  Fischgestalt 
dargestellt,  und  noch  Sanherib  warf  als  Opfer  für  ihn  einen 
goldenen  Fisch  und  ein  goldenes  Schiff  in  die  See.*  Die  Ver- 
ehrung des  Ziegenfisches  ist  für  phönizische  Städte  nach- 
gewiesen worden.  „Den  Gott,  welchen  die  Phöniker  und  Libyer 
als  Ziegenfisch  darstellten  und  verehrten,  nannten  die  Hellenen, 
nur  eine  Seite  seines  Wesens  erfassend,  Poseidon  (Herodot  II, 
50;  IV,  188)«  (Wolfgang  Schnitz  im  Memnon  II  [1908]  p.  58). 
Der  Name  des  Hauptgottes  der  Philister,  Dägön  ist  von  däg 
„Fisch"  abgeleitet. 

9  Der  Fisch  als  Symbol  des  Schutzes  gegen  Dämonen 
und  als  glückbringendes  Zeichen 
Auf  der  weit  verbreiteten  Vorstellung,  daß  den  Fischen 
göttliche  Kräfte  innewohnen,  beruht  auch  der  uralte  Aberglaube, 
daß  schon  der  bloße  Anblick  der  Fische  heilsam  wirke.  Der 
Fisch  ist  bei  den  verschiedensten  Völkern  das  Sinnbild  des 
Schutzes  gegen  böse  Geister;  er  ist  zugleich  ein  Abwehrzauber 
und  auch  ein  glückverheißendes  Zeichen.  Diese  Anschauung 
ist  wohl  auch  in  Babylonien  zu  belegen.  Ein  babylonisches 
Relief  aus  Bronze  veranschauKcht  eine  Beschwörungsszene. 
Zwei  Priester,  die  ebenso  wie  der  Fischgott  Ea  in  eine  Fisch- 
haut gehüllt  sind,  stehen  an  dem  Bette  eines  Kranken,  um  die 
Dämonen,  welche  nach  babylonischer  Auffassung  als  Krank- 
heitserreger gelten,  auszutreiben.^ 

'  Diodoros  II,  4,  2:   i]v  ovouä^ovaiv  ot  Zvqoi  Jsqxstovv.    avrri  6h  zb 
Hhv  TtQoecoTCOv  ?;i;£i  yvvaixog,  ro  d'  aXXo  ccöfia  Ttäv  Ix^^vog. 

*  Vgl.  C.  P.  Tide  Gesch.  d.  BeJigioti  im  Altert,  Gotha  1896  p.  152. 

*  Siehe  K.  Frank  Babylon.  Beschwörungsrelief,  Leipzig  1908  {Leipz. 
setnit.  Stud.  III,  3);  Perrot  und  Chipiez  Eistoire  de  Vart  dans  l'antiquite  II, 


344  I-  Scheftelowitz 

Gemäß  dem  ägyptischen  Totenbuclie  (cap.  15  Zeile  24)  ist 
es  für  die  Seele  des  Verstorbenen  von  hoher  Wichtigkeit  den 
Fisch  Ant  anzublicken.^  Auf  einer  ägyptischen  Gemme  ist  ein 
Priester  in  langem,  faltigem  Gewände  abgebildet,  der  ebenso 
wie  der  Gott  Horus  auf  einem  Krokodile  steht  und  mit  der 
linken  Hand  einen  Fisch  über  seinem  Haupte  hält.  Mit  der 
rechten  Hand  macht  er  eine  Geberde,  als  ob  er  irgend  eine 
Beschwörung  vornehme  (vgl.  Imhoof- Blumer,  Tier-  u.  Pflanzen- 
bilder  auf  Münzen  und  Gemmen  Taf.  XXII,  48).  Fischfiguren 
aus  Elfenbein  und  Bronze  wurden  im  alten  Ägypten  vielfach 
als  Amulette  verwendet,  weshalb  sie  auch  am  Munde  entweder 
ein  Loch  haben  oder  mit  einem  Ring  versehen  sind,  um  sie 
anhängen  zu  können.^  Im  alten  Reiche  wurden  daher  auch 
Wände  mit  Fischbildern  verziert."  Altägyptische  Geföße  sind 
mit  Fischen,  daneben  mit  den  heiligen  Vögeln,  Krokodilen 
oder  Skorpionen  versehend  Das  Berliner  Kgl.  Museum  besitzt 
ein    Steingefäß   in    Form    eines    Fisches   (s.  Ausführl.  Verz.  d. 


Paris  1884  p.  364  Fig.  162,  —  Diese  Darstellung  erinnert  an  eine  Gemme,  in 
welche  ein  mit  einer  Fischhaut  bekleideter  Mann  eingraviert  Ist,  der 
in  seiner  Linken  ein  Lustrationsgefäß  hält  und  seine  Rechte  zu  irgend- 
einem Gestus  erhebt.  Dölger  {Böm.  Quartalschr.  23,  151)  glaubt,  daß 
hier  ein  babylonischer  Priester  dargestellt  sei,  der  am  Kraukenbett 
Beschwörungen  vornehme;  allein  diese  Darstellung  erinnert  vielmehr  an 
das  Ea-Oannes  Relief  aus  Kujundschik  (siehe  die  Abbildung  bei  A.  Jeremias 
Das  A.  T  im  Lichte  des  alten  Orient  p.  29,  andere  Ea- Abbildungen  in 
Fischhaut  bei  Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  l'art  II  p.  65  Fig.  9;  501 
Fig.  224).  Über  babylonische  Priester  im  Fischgewand  vgl.  auch  Dölger 
Der  Fisch  in  den  semitii'chen  Eeligionen  des  Morgenlandes  1910.  Über 
die  weitverbreitete  Anschauung,  daß  Krankheiten  durch  Dämonen  her- 
vorgerufen werden,  die  in  eine  Person  hineingefahren  sind,  vgl.  M.  Bartels 
Ztschr  d.  Ver.  f.  Volkskunde  V,  Iff.;  B.  Kahle,  ebenda  p.  194 if;  F.  J.  Dölger 
Der  Exorzismus  im  altchristlichen  Taufritual,  Paderborn  1909. 
1  Vgl.  E.  A.  W.  Budge  The  Book  of  the  Dead,  London  1909 

*  Vgl.  J.  Capart  Primitive  Art  in  Egypt  (transl.  hy  A.  S.  Griffith) 
London  1905  p.  191—193;  85  u.  87  Fig.  57.  Wilkinson  und  S  Birch 
Manners  and  customs  of  the  ancient  Egyptians  III,  341  —  42,  London  1878. 

^  J.  Capart  Primitive  Art  in  Egypt  p.  143. 

*  J.  Capart  p,  111  —  112 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Chriatentam  345 

ägypt.  Altert,  des  Kgl.  Mus.  Berlin  2.  Aufl.  1899  Nr.  16025). 
Zahlreiche  Vasen  in  Fischform  sind  auch  sonst  erhalten.*  Selbst 
altägyptische  Kästchen  und  Körbe  haben  oft  die  Fischgestalt 
oder  sind  mit  Fischen  geschmückt.- 

Von  den  Ägyptern  scheinen  die  Juden  diesen  Brauch 
sehr  spät  übernommen  zu  haben,  denn  erst  im  3.  Jahrhundert 
n.  Chr.  taucht  dieser  Aberglaube  in  der  jüdischen  Literatur 
auf,  der  im  Talmud  durch  Rabbi  Jöhanan  Ben-Napehe  (3.  Jhdt.), 
Rabbi  Haninä  (3.  Jhdt )  und  dessen  Sohn  Jose  Bar-Haninä 
eine  jüdische  Färbung  erhielt. 

Xach  diesen  Männern  hat  Jakob  in  seinem  Segen,  den 
er  seinen  beiden  Enkeln  erteilt  hat  (1.  Mos.  48,  IG:  „Sie  mögen 
wie  Fische  zahlreich  sein'*),  deshalb  einen  Vergleich  mit  den 
Fischen  gebraucht,  um  hierdurch  anzudeuten,  daß,  ebenso  wie 
Fische  durch  das  Wasser  bedeckt  und  infolgedessen  vor  jedem 
„bösen  Blick"  sicher  sind,  so  auch  die  Nachkommen  Josefs, 
nämlich  die  Israeliten,  vor  jedem  „bösen  Blick'  geschützt"  sind.* 
Auf  Grund  dieser  Anschauung  hielt  sich  der  wegen  seiner 
außergewöhnlichen  Schönheit  berühmte  Rabbi  Johanan  gefeit 
gegen  das  „böse  Auge".^  Im  Talmud  heißt  es:  „Wer  in  eine 
Stadt  kommt  und  fürchtet,  daß  ein  „böser  Blick"  ihm  schaden 
könnte,  der  nehme  den  Daumen  der  Rechten  in  die  linke 
Hand   und    den  Daumen   der  Linken   in   die   rechte  Hand   und 


1  J.  Capart  p.  129. 

*  Wilkinson  und  S.  Birch  Manners  and  customs  of  the  ancient  Egyp- 
tians  II,  13—16;  J.  Capart  Primitive  Art  in  Egypt  p.  191. 

^  Dieser  Glaube,  daß  gewisse  Menschen  oder  Dämonen  die  Kraft 
besitzen,  durch  bloßes  Anblicken  von  Personen  und  Tieren  Schaden  zu- 
fügen zu  können,  findet  sich  bei  zahlreichen  Völkern,  bei  den  Babyloniem, 
Indern,  Persem,  Ägyptern,  Juden,  Germanen,  Griechen,  Römern,  Chi- 
nesen, Tibetanern,  Indianern,  Negern  und  Südseeinsulanem,  darunter 
also  bei  Völkern,  die  niemals  in  Verbindung  mit  den  alten  Kulturen 
standen;  vgl.  S.  Seligmann  Der  böse  Blick,  Berlin  1910. 

*  Talm.  Beräköt  20  a;  55  b;  Bäbä  Baträ  118b,  Babä  MesCä  84  a; 
Sota  36b,  Midr.  Jalqfit  zu  1  M.  48;  Pesiqtä  zutartä  1  M.  48,  16;  Rasi 
zu  1  M.  48,  16,  3Iidr.  Agadä  ed.  Buber  1894  p.  108.      '""  Beräköt  20  a. 


346  I-  Scheftelowitz 

spreche:  Ich  X,  der  Sohn  X's,  bin  ein  Nachkomme  Josefs, 
über  den  kein  böser  Blick  Macht  hat,  denn  ein  Nachkomme 
Josefs  gleicht  den  Fischen  und  ebenso  wie  die  Seefische  vom 
Wasser  bedeckt,  vor  dem  „bösen  Blick"  geschützt  sind,  so 
sind  auch  die  Nachkommen  Josefs  gegen  den  „bösen  Blick" 
gefeit."^  Im  Zöhär  (Paresa  Debärim)  und  in  Sebi  Hirs  Jerabmiels 
Nahelat  Sebi  (Paresa  Debärim)  wird  erzählt,  daß  ein  sehr 
gelehrtes  Kind  die  höchste  Bewunderung  mehrerer  Rabbiner 
erregte.  Die  verwitwete  Mutter  dieses  Kindes,  die  dieses  bemerkt, 
bittet  sie  daher,  mit  einem  guten  Auge  auf  es  zu  blicken.  Da 
sagte  das  Kind:  „Ich  fürchte  mich  vor  keinem  bösen  Blick, 
denn  ich  bin  der  Sohn  eines  mächtigen  Fisches,  und  die  Fische 
fürchten  sich  vor  keinem  bösen  Blick.  Israel  wird  ja  gemäß 
dem  Segensspruch  Jakobs,  den  er  seinen  Enkeln  erteilt  hatte, 
mit  Fischen  verglichen."  Auch  das  Tierkreisbild  „der  Fische" 
soll  andeuten,  daß  kein  böser  Blick  und  kein  Gestirn  über 
die  Israeliten  Gewalt  habe.^  Teile  eines  Fisches  (Herz  und 
Leber)  wehren  nach  Tobit  6,  18  und  8,  1 — 3  die  Dämonen  ab.^ 
Ebenso  wird  in  Macedonien  derjenige,  der  von  Dämonen  be- 
sessen ist,  durch  die  Drüsen  eines  Fischkopfes  geheilt,  indem 
er  damit  ausgeräuchert  wird,  wodurch  die  Dämonen  heraus- 
getrieben werden  (C.  R.  Thompson  Semitic  Mogic,  London  1908 
p.  LVII). 

Als  ein  magisches  Heilmittel  gegen  den  bösen  Blick  dient 
der  Fisch  bei  vielen  Völkern.  „Im  Vogtland  läßt  man  am 
Weihnachtsabend  die  beschrienen  Tiere  Heringsköpfe  essen; 
in  Pommern  legt  man  einen  Hering  unter  das  Futter  eines 
beschrienen  Pferdes.  Isaac,  der  Araber,  empfiehlt  die  Galle 
und  die  Eingeweide  eines  Fisches,  namens  Zagami."^  Der  Fisch 
gilt  besonders  als  ein  Abwehrmittel   gegen  dämonische  Kräfte 


'  Berakot  55  b.  *  Pesiqtu  Rabbati,  Pisqä  20. 

'  Über    die     hebr.    Version     der    Tobit -Legende    vgl.    M.    Gaster 
Proc.  of  the  Soc.  of  Bibl.  Arch.  Vol.  XIX,  37. 

*  S.  Seligmann  D.  böse  Blick,  Berlin  1910,  Bd.  I  p.  292. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  347 

„In  Otranto  schützen  die  Zähne  von  Haifischen,  in  Silber  gefaßt, 
vor  dem  bösen  Blick."  In  Italien  ist  noch  heute  ein  krummer 
Fischzahn  ein  sehr  häufiges  Amulett,  das  man  auch  an  Ohr-  und 
Fingerringen  sieht.^  Bei  den  Arabern  in  Tunis  dient  eine 
Fischfigur  über  dem  Ladeneingang  als  Schutz-  oder  Glücks- 
zeichen. Dort  herrscht  auch  die  Sitte,  „am  1.  April  alle 
Glückwunschkarten  mit  dem  Glückszeichen  des  Fisches  zu  ver- 
senden/' Daher  sind  auch  in  Syrien  Türen  häufig  mit  der 
Überschrift  IXQYE  versehen.- 

Hier  ist  also  der  Fisch  ein  Schutzmittel  gegen  dämonische 
Gewalten.  Hierauf  könnte  wohl  die  talmudische  Anschauung 
beruhen,  daß  der  Genuß  von  Fischen  sehr  heilsam  sei,  weshalb 
er  besonders  den  Kranken  angeraten  wurde.  „Der  Fisch  ist  ein 
Heilmittel  für  das  kranke  Auge."^  „Durch  den  Genuß  kleiner 
Fische  gedeiht  und  nimmt  schnell  zu  die  Körperkraft  des 
Menschen.''^ 

Dieser  Glaube,  daß  der  Fisch  den  Schutz  versinnbildliche, 
ist  weit  verbreitet.  Nach  indischer  Auffassung  ist  es  für  den 
Kranken  ein  günstiges  Zeichen,  wenn  sein  Bote,  der  zum  Arzt 
gesandt  ist,  unterwegs  Fische  sieht.^  In  Indien  gehört  der 
Fisch    zu    den    glückbringenden    Vorzeichen.      Der   plötzliche 


'  S.  Seligmann  D.  böse  Blick  Bd.  II  p.  117  und  136;  Journ.  of  the 
Antrop.  Inst.  39,  402. 

*  Vgl.  Dölger  in  seinem  IXQYC  I  Excurs  p.  425.  Ebenso  ist  in  Xord- 
indien  über  den  Türen  von  Mohammedanern  und  Hindus  häufig  ein  Fisch  ge- 
malt. Auch  das  Wappen  des  ehemaligen  Königshauses  Üd  bildete  ein 
Fisch,  Tgl.  Crooke  Populär  religi&n  and  folk-lore  of  Xarthem  India  1,  47. 
Herr  Dr.  Foy  macht  mich  aufmerksam,  daß  auch  in  Brüssel  zum  1.  April 
Karten  mit  Fischbildern  versandt  werden. 

'  Nedärim  54  b.  Nach  Tobit  cap.  11  heilt  die  Gralle  des  Fisches 
das  Augenleiden. 

^  'Abödü  zärä  29a,  Beräköt  40a;  44b;  57b;  vgl.  auch  Testam.  d. 
12  Patriarchen  VI:  „Wenn  aber  ein  Kranker  da  war  oder  ein  Greis,  so 
kochte  ich  Fische  und  bereitete  es  gut  zu  und  brachte  allen  denen,  die 
es  nötig  hatten."  ^  Vgl.  Zachariae    Wiener  Z.  K.  M.  18,  306 


348  I-  Scheftelowitz 

Anblick  eines  Fisches  bedeutet  stets  etwas  Günstiges.  „Wer 
am  Morgen  einen  Rohita -Fisch  sieht  oder  berührt,  für  den  ist 
dies  ein  unübertreffliches  Glückszeichen.  Wer  eine  Reise  an- 
tritt und  dabei  Fische  sieht,  wird  glücklich  heimkehren.  Auch 
wer  im  Traume  Fische  sieht,  wird  Glück  haben.  Wer  sie  im 
Traume  ißt,  erlangt  Wohlstand  und  Gesundheit."^  Zum 
Schutze  gegen  böse  Dämonen  werden  in  Indien  noch  heute 
Fische  an  die  Wände  der  Häuser  gemalt.^     Die  Kolhs  bringen 

1  Pischel  S.  B.  Fr.  Äk.  W.  1905,  .527. 

^  Vgl;  Crooke  Populär  religion  and  folk-lore  of  Northern  India  II, 
254.  In  China  unrl  Japan  ist  der  Fisch  das  verbreitete  Symbol  der  Er- 
lösung aus  Not  und  Schuld.  Besonders  wird  hierzu  die  Figur  des 
Karpfens  genommen  (vgl.  W.  Anderson  Catalogue  of  a  Collection  of 
Japanese  and  Chinese  Paintings,  London  1886  p.  164  und  Plate  2—3: 
W.  V.  Seidlitz  Gesch.  d.  Japan.  Farbenholzschnitte ,  Dresden  1910  p.  201  . 
Daher  sieht  man  dort  gewöhnlich  Abbildungen  von  Karpfen,  wie  sie  gegen 
einen  Wasserfall  anspringen,  was  mir  Herr  und  Frau  Museumsdirektor 
Professor  Adolf  Fischer,  Cöln,  die  sich  mehrere  Jahre  in  China  auf- 
gehalten haben,  mitgeteilt  haben.  Die  Japaner  haben  besonders  bei 
dem  am  5.  Mai  stattfindenden  „Knabenfest"  alle  Häuser  und  Straßen 
mit  derartigen  Karpfenbildern  geschmückt,  die  den  Knaben  Schutz  und 
Ausdauer  verleihen  sollen  (vgl.  B.  H.  Chamberlain  Things  Japanese, 
London  1902  p.  91  und  160).  Japanische  Gefäße  sind  häufig  mit 
Fischen,  besonders  mit  Brassen  oder  Karj^fen  bemalt  (vgl.  Aug.  W.  Franks 
Japanese  Pottery,  London.,  South  Kensington  Museum  p.  17).  In  der  alt- 
chinesischen Ornamentik  sieht  man  oft  eine  Fratze,  deren  Hörner  in 
fisch  artige  Geschöpfe  verwandelt  sind  (vgl.  W.  v.  Hoerscheimann  Ent- 
wicklung altchinesischer  Ornamentik,  Leipzig  1907  p.  21).  „Wir  haben 
es  ursprünglich  wohl  mit  demselben  Motiv  zu  tun,  welches  bei  den  ver- 
schiedensten Völkern  auf  früher  Kulturstufe  eine  so  große  Rolle  spielt 
bei  religiösen  Kulten  und  hauptsächlich  als  Schreckmittel  im  Kampf: 
ein  Dämon  schreckt  die  Feinde  vom  Schilde  des  Kämpfenden  her" 
(Hoerscheimann,  ebenda  p.  19).  Ebenso  wie  auf  den  chinesischen  und 
japanischen  Darstellungen  die  Fische  gegen  den  Strom  schwimmen,  so 
sind  auch  auf  dem  Fragment  eines  sumerischen  Reliefs  zwei  Fische 
dargestellt,  die  zur  rechten  und  zur  linken  Seite  eines  in  zwei  Strömen 
sich  ergießenden  Springbrunnens  gegen  den  Strom  anspringen  (vgl.  King 
History  of  Sumer  and  Äkkad  p.  69  Fig.  21).  Da  derartige  Springbrunnen 
ein  heiliges  Symbol  des  sumerischen  Gottes  Gudea  und  des  babylonischen 
Heros  Gilgamesch  bilden  (King  p.  48  und  p.  75 f.  nebst  Fig.  p.  72  b),  so 
haben  auch  die  Fische  eine  sinnbildliche  Bedeutung. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  349 

auf  ihrem  Hause  das  Abbild  eines  Fisches  an,  um  sich  vor 
dem  „bösen  Blick"  zu  schützen. 

Auch  im  alten  Persien  scheint  die  Vorstellung  verbreitet 
gewesen  zu  sein,  daß  die  Fische  vor  bösen  Dämonen  schützen. 
Die  älteren  Pehlevi- Schriften  berichten,  daß  Ahuramazda  deo 
Baum  Gökam,  aus  dessen  Saft  der  göttliche  Trank  Höm 
gewonnen  wird,  der  bei  der  Totenauferstehung  die  Seligen 
beleben  werde,  in  dem  See  Varkas  gepflanzt  habe.  Ahriman 
aber,  der  besondere  Feind  dieses  Höm,  setzte  eine  dämonische 
Eidechse  in  den  See,  um  die  Pflanze  zu  verderben.  Doch  zur 
Abwehr  dieser  Kröte  schuf  Ahuramazda  10  Fische,  durch 
welche  der  Höm  beständig  umkreist  wird.  Gern  wünscht  die 
Kröte  diese  himmlischen  Fische  zu  verschlingen,  aber  sie  kann 
es  nicht,  obgleich  sie  bis  zur  Auferstehung  stets  danach 
Gelüste  hat.^ 

Von  einer  alten  heiligen  Quelle  in  Irland  herrschte  die 
Sage,  daß  Kranke,  welche  das  Glück  hatten,  in  derselben 
einen  Lachs  oder  Aal  zu  erblicken,  genesen  würden.* 

Man  hielt  es  für  ein  günstiges  Omen,  wenn  zu  einem, 
der  am  Wasser  stand,  Fische  heranschwammen. 

Der  ältere  Plinius  Secundus^  bestätigt  dieses.  Er  erzählt: 
„Als  Augustus   im    Sizilischen    Kriege    am    Strande    wandelte, 

^  Bundehis  c.  18;  Meni  xard  c.  30.  Die  Kröte  galt  nicht  nur  bei 
den  Persem,  sondern  auch  bei  den  Germanen,  Südslaven  und  Giljaken 
als  ein  dämonisches  Tier;  J.  Grimm  Deutsche  Myth.*  III,  199;  F.  S.  Kraus 
Slav  Volksforsch.  1908,  59;  v.  Schrenck  Beisen  iiwl  Forsch,  im  Amur- 
lande III,  75.S. 

'  W.  G.Wood -Martin  Traces  of  the  eider  faiths  of  Ireland  (1902) 
n  p.  92.  Hier  könnte  auch  die  Vorstellung  zugnmde  liegen,  daß  der 
Fisch  gleichsam  das  Übel  des  Menschen  verschlingt  und  damit  in  der 
Tiefe  verschwindet.  So  heißt  es  in  einem  assyrischen  Gebete:  „daß  der 
Fisch  meinen  Schmerz  wegtragen  möge,  daß  der  Fluß  ihn  fortbringe" 
(R.  C.  Thompson  Semitic  Magic,  London  1908  p.  186). 

'  Historia  naturalis  IX,  55.  Ähnlich  berichtet  Athenaeus  Till,  9, 
daß  der  König  Antigonus  in  den  Fischen,  die  ihm  der  Feldherr  des 
""'  'omaeus  als  Geschenk  zusandte,  eine  Andeutung  erbb'ckte,  daß  er 
»  das  Meer  herrschen  werde. 


350  I-  Scheftelowitz 

sprang  ein  Fisch  aus  dem  Meere  ihm  vor  die  Füße,  was  die 
Wahrsager,  obwohl  sich  gerade  damals  Pompeius  für  einen 
Sohn  des  Neptunus  erklärt  hatte,  so  auslegten:  Es  würden 
diejenigen,  Welche  jetzt  das  Meer  beherrschten,  dem  Kaiser 
bald  zu  Füßen  liegen."  Bei  verschiedenen  Völkern  wurden 
Fische  als  Augurium  verwendet.  So  war  nach  Plinius  (Hist. 
nat.  XXXT,  22)  zu  Limyra  in  Lycien  eine  fischreiche  Quelle, 
bei  der  sich  die  dortigen  Bewohner  Rat  holten.  Fraßen  die 
Fische  die  Speisen,  die  man  ihnen  bei  dieser  Gelegenheit  zu- 
warf, auf,  so  war  dieses  ein  glückverheißendes  Vorzeichen.  „Ver- 
sprechen die  Fische  aber  keinen  günstigen  Ausgang,  so  werfen 
sie  die  Speisen  mit  den  Schwänzen  zurück."  „In  der  Quelle 
des  Apollo,  den  man  den  Syrer  nennt,  bei  Myra  in  Lykien  werden 
die  Fische  durch  dreimaliges  Flöten  zum  Abgeben  einer  Vor- 
bedeutung herbeigelockt.  Nehmen  sie  das  ihnen  zugeworfene 
Fleisch  begierig  an,  so  ist  dieses  ein  günstiges  Zeichen  für  die 
um  Rat  fragenden  Leute,  schlagen  sie  es  mit  dem  Schwänze 
zurück,  ein  schlimmes"  (Plinius,  Hist.  nat.  XXXII,  17).  Diese 
lykischen  Fischorakel  werden  von  Aelianus  (VII,  5;  XII,  1) 
und  Athenaeus  (VIII,  8)  noch  ausführlicher  behandelt.  Dieser 
Brauch  herrschte  auch  in  Indien.  So  gibt  Kausika  Sütra  (47, 
37  —  38)  an,  daß  man,  wenn  man  einen  Feind  vernichten  will, 
dessen  Speiseüberreste  in  einen  fischreichen  Teich  werfen  soll. 
„Wenn  die  Fische  in  Menge  darauf  zuschwimmen,  so  ist 
der  Feind  vernichtet."'  Nach  dem  Glauben  der  Nuforesen 
(Neu -Guinea)  wird  der  Schiffer  durch  einen  in  die  Höhe 
springenden  Fisch  rechtzeitig  vor  Gefahr  gewarnt  und  kehrt 
schleunigst  um  (Ztschr.  f.  Ethnol.  VIII,  187).  Die  Ehsten 
stellen  zum  Zwecke  der  Weissagung  drei  aneinandergereihte 
Körbe  in  ein  fischreiches  Gewässer.    Kommen  in  den  mittelsten 


'  Vgl.  die  Übersetzung  bei  Caland  Altindisches  Zauberrittial, 
Amsterdam  1900  p.  164.  In  der  germanischen  Mythologie  besitzen  die 
Wassergeister,  die  halb  Mensch,  halb  Fisch  sind,  die  Gabe  der  Weis- 
sagung, vgl.  Golther  Handbuch  d.  german.  Mythologie  1895  p.  146  u.  149. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  351 

Korb  schuppige  Fische,  so  bedeutet  dieses  für  sie  etwas  Glück- 
liches (J.  Grimm,  Deutsche  Mythol.^  II  933). 

Deshalb  ist  es  ganz  erklärlich,  daß  der  Altar  der  Rettung 
und  Schutz  verleihenden  Siegesgöttin  (Dea  Victoria)  im 
Bonner    Museum    Fischbilder    und    Delphine    aufweist.^     Der 

'  Vgl.  C.  J.  Rhen.  380;  Katal.  d.  Kgl.  Museums  vaterl  Altert. 
Bonn  1876,  S.  28,  77.  Dieser  Altar  der  Victoria  ist  zu  Alteburg  bei 
Cöln,  wo  einst  eine  römische  Flottenstation  war,  gefunden  und  etwa 
um  200  n.  Chr.  errichtet  worden.  Tgl.  H.  Lehner  ProvinziaJmuseum  in 
Bann  1905,  I,  Taf.  32,  1—2,  Joseph  Klinkenberg  Das  römische  Cöln 
(=  Kunstdenkmäler  der  Rheinprorinz  hrsg.  von  P.  Giemen  Bd.  VI, 
Abteil.  2,  Düsseldorf  1906)  Taf.  XIV  nebst  Beschreibung  p.  369:  „Der 
Altar  der 'Viktoria,  1,97  m  hoch,  0,82  m  breit  und  0,60  m  tief,  der 
größte  römische  Altar  Kölns.  Das  Gesims,  aus  flacher  Hohlkehle  und 
starker  Plinthe  bestehend,  ist  ringsherum  mit  einem  aus  sich  durch- 
schneidenden Kreisen  gebildeten  Ornament  geschmückt;  darüber  befindet 
sich  auf  der  Schauseite  ein  Bukranion  zwischen  zwei  Delphinen,  die  in 
der  Schnauze  eine  kleine  Scheibe  halten  und  je  eine  Rosette  an  den 
Ecken,  auf  der  Rückseite  in  der  Mitte  ein  Fisch,  in  der  rechten  Ecke 
ein  Eberkopf,  in  der  linken  wahrscheinlich  wieder  ein  Fisch.  Das 
Hauptfeld  der  Vorderseite,  das  mit  einem  Spiralomament  umgeben  ist, 
trägt  in  mageren  Lettern  die  ehemals  rot  gefärbte  Inschrift:  Deae 
jVictoriae  Sacrum.  Die  drei  übrigen  Seiten  sind  in  ein  oberes  und 
ein  unteres  Feld  geteilt.  Das  obere  Feld  der  Rückseite  zeigt  zwei 
mit  dem  Kopfe  nach  unten  gerichtete,  bei  der  ersten  Schwanzflosse 
durch  einen  Querstab  verbundene  Delphine,  zwischen  denen  sich  ein 
dritter  kleinerer  Fisch  befindet;  das  untere  Feld  einen  nach  links  pro- 
filierten Stier  mit  schief  stehendem  Lorbeerbaum  hinter  sich.  Das  obere 
Feld  der  beiden  Seitenflächen  enthält  Opfergeräte,  rechts  Opferwasser 
und  Opferbeil,  links  Opferbecken  und  Opferschale,  das  untere  nach  der 
Schauseite  hin  profilierte  Opferdiener  mit  den  über  ihnen  dargestellten 
Geräten  in  der  Hand."  Prof.  H.  Lehner  in  Bonn  nimmt  an,  daß  die 
römische  Flottenstation,  die  wohl  dieses  Denkmal  der  Viktoria  gesetzt 
habe,  in  ihrem  Fahnenzeichen  vielleicht  Delphine  gehabt  hätte  und  sie 
daher  statt  ihres  Namens  nur  ihr  Abzeichen  auf  diesem  Stein  angebracht 
hätte.  Allein  dann  hätte  man  erwartet,  daß  diese  Zeichen  der  Dedikanten 
auf  der  Vorderseite  gleich  unter  der  Inschrift  ständen.  Die  Delphine 
und  Fische  scheinen  hier  vielmehr  Symbole  des  Schutzes  zu  sein.  Del- 
phine, die  sich  einem  Schiffe  zeigten,  wurden  von  den  Schiffern  als  ein 
günstiges  Vorzeichen  angesehen  (vgl.  Find.  Pyth.  4,  29;  Eurip.  Hei.  1467, 
El  433).  Auch  die  Schutz  verleihende  Göttin  Athene  erscheint  häufig 
in  Verbindung  mit  Fischen  (vgl.   Imhoof-Blumer     Tier-   und  Pflanzen- 


352  I-  Scheftelowitz 

Fisch  ist  ja  das  Symbol  des  Schutzes;  dagegen  war  der  Delphin 
bei  den  klassischen  Völkern  das  Sinnbild  der  Rettung.  Die 
Fische  und  Delphine  im  Gefolge  der  Dea  Victoria  sollen  an- 
deuten,  daß   diese   Göttin   Schutz   und  Rettung  verleiht.      Die 


hilder  auf  Münzen  und  Gemmen,  Taf.  III,  29  —  30,  VI,  46)  oder  mit 
Delphinen  (Imboof-BIumer,  Taf.  I,  7,  VII,  11),  wie  gewöhnlich  Apollo 
mit  dem  Delphin  dargestellt  wird  (vgl.  Imhoof-Blumer  Taf.  XIIl,  1). 
Die  Delphinfigur  wurde  als  Amulett  verwendet  (0.  Keller  Tiere  d.  Mass. 
Altert.  1887  p.  217).  Der  Delphin  ist  häufig  auf  Gemmen  von  Siegel- 
ringen abgebildet  (vgl.  Imhoof-Blumer,  Taf.  XX,  15— 34,  XXI,  8,  XXIV,  19, 
femer  Bonn.  Jahrb.  9,  26;  17,  132).  Auch  die  Sammlung  Niessen,  Cöln, 
besitzt  solchen  Ring.  Sie  dienten  dem  Träger  gleichsam  als  Amulett. 
Darum  wurden  mit  Delphinfiguren  Gürtelschnallen  (Bonn.  Provinzial- 
museum  Nr.  2352),  Helme  (Imhoof-Blumer  p.  27),  Schilde  (0.  Keller  Tiere 
p.  217)  und  auch  Messergrifi'e  (Sammlung  Niessen,  Cüln)  verziert.  Sie 
kommen  häufig  auf  Münzen  vor  (Imhoof-Blumer  z.  B.  IV,  25 — 27,  V, 
11 — 12,  26;  VIII,  44).  Daher  wurden  auch  bronzene  oder  steinerne 
Delphinfiguren  dem  Toten  ins  Grab  mitgegeben,  um  sie  hierdurch  wohl 
vor  den  Leichendämonen  zu  schützen  (vgl.  Bonn.  Provinzialmuseum  Nr.  4842 
und  6071,  J.  Klein  Bonn.  Jahrb.  Bd.  101  p.  104  Fig.  4,  ferner  Bonn. 
Jahrb.  57,  226.  Einen  Tondelphin  besitzt  die  Sammlung  Niessen,  Cöln). 
Ein  bei  Waldfischbach  aufgedeckter  spätrömischer  Sarkophag,  worin  die 
Asche  aufbewahrt  war,  ist  mit  einem  Relief  verziert,  welches  zwei 
einander  zugekehrte  Delphine  darstellt  {Bonn.  Jahrb.  77,  78  f.).  Dieses 
Tier  ist  auch  auf  heidnisch -römischen  Grabsteinen  häufig  abgebildet 
(0  Keller,  Tiere  p.  231).  Selbst  in  den  christlichen  Katakomben  sind 
zuweilen  Epitaphien  mit  Delphinen  verziert  (De  Rossi  De  christianis 
monumentis  I  X@YN  exhibentibus  in  Spicilegium  Solesmense  III  (1855)  Fig. 
Nr  45,  72,  79,  80;  V.  Schnitze  D.  Katakomben  1877  p.  330).  Auf  Toten- 
lampen sind  ebenfalls  häufig  Delphine  abgebildet  (Sammlung  Niessen, 
Cöln).  Selbst  die  Fläschchen  und  Kästchen,  die  man  dem  Toten  beilegte, 
sind  mit  Delphinen  geschmückt.  Derartige  Glasfiaschen  besitzt  das 
Walraf-Richartz-Museum,  Cöln  (z.  B.  Nr.  186—187;  303—304).  Gewöhnlich 
sind  die  HandgrifTe  solcher  Kästchen  aus  zwei  Bronzedelphinen  gebildet 
(z.  B.  Walraf-Richartz-Museum,  Cöln  Nr.  629  und  940,  Bonn.  Provinzial- 
museum Nr.  6001  und  6513).  Auch  im  Stadtmuseum  zu  Remagen  und 
in  der  Sammlung  Niessen,  Cöln,  findet  sich  derartiges.  Zur  Disch'schen 
Sammlung  gehörte  ein  kleines  Glastrinkhorn  mit  zwei  aufgeschmolzenen 
kleinen  Delphinen  (Aus  'm  Weerth  Bonn.  Jahrb.  71,  125).  Römische 
Gläser  in  Form  von  Delphinen  sind  häufig  {Ärch.  Ztg.  1876  Fig.  203). 
Sicherlich  sind  auch  Delphinfiguren  zuweilen  rein  dekorativ  verwendet 
worden.     Die  Sammlung   Niessen,   Cöln,    besitzt   auch    einen  gallischen 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  353 

Wotjaken  (Rußland)  opfern  dem  Glücksgotte  Vorsud  zwei 
Hechte,  damit  er  das  Glück  der  Familie  und  der  Kinder  yer- 
mehre  (J.  Wasiljev,  Heidnische  Gebräuche  der  Wotjaken,  Hel- 
singfors    1 902  p.  7  l  f.). 

Daher  wurden  im  Altertum  Fisch figuren  als  Amulette  benutzt.* 
Im  alten  Griechenland  wurde  sehr  häufig  der  Fisch  als  Schild- 
Eimer  mit  Delphinhenkel  (aus  dem  1.  oder  2.  Jahrhundert),  über 
römische  Eimer  mit  „Delphinattachen"  aus  dem  2.  Jhdt  vgl.  H.  Willers 
yene  Untersuchungen  über  die  römische  Bronzeindustrie,  Hannover  1907. 
Unter  den  bei  Dieuze  (Lothringen)  aufgedeckten  römischen  Steintrümmem 
gibt  es  auch  Steine  mit  Delphinen  im  Relief  (Anz.  d.  germ.  Xational- 
museums  1893  p.  102).  Diese  Tiere  sind  schon  auf  den  ältesten  grie- 
chischen Gefäßen  abgebildet  (Jännicke  Gesch.  d.  Keramik  1900  p.  136). 
Auch  auf  den  Vasen  der  Chinesen  findet  man  häufig  Delphine  (Coenen 
Bonn.  Jahrb.  57,  226).  Auf  einer  mykenischen  Gemma  sind  zwei  Delphine 
(Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  Vart  T.  VI  p.  854  nebst  p.  ><47  Fig.431,2i. 
Ein  in  Dellis  (Algerien)  ausgegrabener  heidnisch -römischer  Sarkophag 
weist  auf  der  rechten  und  linken  Seite  des  Deckels  je  drei  Delphine 
auf  {Anndles  Archeol.  T.  18  Paris  1858  p.  166).  Heidnisch  -  römische 
Totenlampen,  die  zu  Karthago  aufgedeckt  sind,  sind  häufig  mit 
Delphinen  versehen  (vgl.  Revue  Arch.  3.  Ser.  T.  XXXÜl  1898  p.  232). 
Eine  von  diesen  Lampen  weist  sogar  sieben  Delphine  auf  (J?et*tt€  Arch. 
3.  Ser.  T.  XXXVllI  p.  24—26).  In  römischen  Brandgräbem  der  Rhein- 
provinz sind  häufig  Glasflaschen  gefunden ,  deren  Halsansatz  oder  Henkel 
mit  einem  Delphin  verziert  sind  (vgl.  Bonn.  Jahrb.  Bd.  110  p.  60  Nr.  40; 
p.  61  Nr.  46;  Bd.  114/115  p.  4U6  Nr.  35c;  p.  416  Nr.  57k;  Bd.  116  p.  155 
Nr.  84).  Auch  auf  der  etruskischen  Hängelampe  von  Cortona  ist  ein 
WeUenmotiv  mit  Delphinen,  während  in  der  Mitte  der  Lampe  sich  ein 
Gorgonenhaupt  befindet  (P.  A.  Kuhn  Gesch.  d.  Plastik  I.  Halbbd  1909 
p.  105  nebst  Fig.  Nr.  142).  Wenn  in  der  älteren  nordischen  Eisenzeit 
„auf  einer  mit  Bildern  bedeckten  Schmuckplatte  aus  dem  Thorsberg- 
funde und  auf  dem  Silberbecher  von  Nordrup  Delphine  zu  sehen 
sind  .  .  so  sind  diese  Bilder  unzweifelhaft  entlehnt"  (S.  Müller  Nord. 
Altertumskunde  1898  Bd  II,  94). 

'  Auf  einem  kleinen  Amulett  aus  undurchsichtigem  Glase,  das  in 
einem  altgriechischen  Grabe  der  mykenischen  Periode  gefunden  wurde, 
ist  ein  Fisch  zu  sehen,  vgl.  Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  Vart  dam 
l'antiquite  T.  VI  (Paris  1894)  p.  557  Fig.  243  und  p.  945.  Auch  alt- 
griechische Dolche  der  mykenischen  Periode  sind  zuweilen  mit  Fisch- 
zeichnungen versehen,  vgl.  Perrot  und  Chipiez,  Histoire  T.  VI  p.  782  und 
PI.  XVII. 

Archiv  f.  Religionawissenscbaft  XIV  23 


354  I-  Scheftelowitz 

zeichen  angebracht.^  Fischfiguren  trugen  Griechen^  und  Römer  zu- 
weilen als  Gewandnadel  (fibula).  Eine  solche  römische  Fibel 
aus  Erz,  die  die  Form  des  Fisches  hat,  ist  auch  zu  Bretzen- 
heim  bei  Mainz  gefunden  worden.^  In  Japan  wird  der  Fisch- 
kopf als  Talisman  verwendet.*  Japanische  Helme,  die  teils 
Fischbilder  aufweisen,  teils  eine  fischförmige  Gestalt  haben, 
sind  schon  im  8.  Jhdt.  n.  Chr.  nachweisbar.^  In  Surinam,  dem 
holländischen  Guayana  (Südamerika),  wird  der  obere  Teil  eines 
Fischkopfes  als  Amulett  verehrt.  Man  trägt  ihn  gern  als 
Manschettenknöpfe,  Anhängsel  an  der  Uhrkette  u.  dgl.  Sie 
legen  dem  pulverisierten  Gehörorgan  der  Fische  heilbringende 
Kräfte  bei." 

Hölzerne  Fischfiguren,  die  besonders  den  Karpfen  darstellen, 
dienen  bei  den  Giljaken  (Sibirien)  als  Amulett.'  Die  Ostjaken 
(Sibirien)  glauben,  daß  solche  Fischfiguren  besonders  beim  Fisch- 
fang hervorragendes  Glück  bringen.'' 

Plinius  Secundus"  berichtet,  daß  man  in  seiner  Zeit  als 
Talisman  „Götter  an  den  Fingern  trägt".  Daher  hat  man, 
wie    Clemens    Alexandrinus    überliefert,    Siegelringe    getragen. 


'  Vgl.  SchaafFhausen  in  Bonn.  Jahrb.  1884,  S.  168. 

*  Vgl.  Revue  Ärch.  Serie  4  T.  XIV  (1909)  p.  103. 

*  Vgl.  L.  Lindenschmit  Die  Altertümer  unserer  heidn.  Vorzeit  II 
(Mainz  1870),  Heft  7  Taf.  IV,  14.  Fränkische  Gewandnadeln  aus  der 
Merowingerzeit  haben  häufig  die  Gestalt  von  Fischen,  vgl.  Lindenschmit 
Handbuch  d.  deutschen  Altert.  1889  Taf.  XXIII  zu  p.  4.51—455. 

■*  Deguchi  in  Journ.  Anthr.Soc.  Tokyo  XXIY,  227.  Ebenso  kommen 
Fischamulette  in  Burma  vor  (Journ.  of  the  Anthrop.  Inst.  39,  402).  Auf 
dj^se  beiden  letzten  Zeitschriften  bin  ich  durch  Herrn  Museumsdirektor 
Dr.  W.  Foy  aufmerksam  gemacht  worden. 

^  Vgl.  Histoire  de  l'Art  du  Japon,  Paris  1900  p.  30  u.  p.  165 

«  Z.  f.  Ethn.  25,  158. 

'  L.  V.  Schrenck  Reisen  und  Forschungen  im  Amurlande,  Peters- 
burg 1895  Bd  III,  747. 

"  F.  R.  Martin  Sibirica,  Stockholm  1897  Taf.  21  Fig.  7. 

°  Historia  naturalis  II,  21.  Auch  die  Misnä  'Abödä  zärä  1,  8  be- 
richtet von  dem  heidnischen  Brauch,  auf  Schmuckgegenständen,  wie  auf 
Halsketten,  Nasenringen,  Fingerringen  Götzenbilder  darzustellen. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Omstentum  355 

auf  deren  Steinen  auch  der  Fisch  als  glückbringendes  Symbol 
abcrebildet  vrar}  Selbst  die  ältesten  Christen  wandten  das 
Fischamulett  zum  Schutz  gegen  Dämonen  an.  Ein  alter 
Fischtalisman  aus  Bronze  trägt  die  Inschrift  Z^ZAIZ  („du 
mögest  schützen").'  Demselben  Zweck  hat  auch  folgende 
Gemme'  gedient,  auf  der  man  zwischen  zwei  Fischfiguren 
lesen  kann: 


*  Vgl.  Clemens  Alexandrinus  Paedagogus  III,  1;  Hans  Schmidt 
Jona  (Göttingen  1907,  S.  160);  Dölger  Eöm.  Quartalschr.  23,  16.  Über 
einen  Siegelring  mit  dem  Bilde  eines  Karpfen  vgl.  Imhoof-Blumer, 
Tier-  und  Pflanzenbüder  auf  Münzen  und  Gemmen,  Leipzig  1889, 
Taf.  XXIII,  12.  Auch  die  Sammlung  Niessen,  Cöln,  besitzt  einen  aus 
dem  4.  Jahrhundert  stammenden  eisernen  Siegelring  mit  Speckstein, 
worauf  ein  Karpfen  abgebildet  ist.  Über  dem  Fisch  steht  der  Name 
TITU(8),  unter  demselben  LIB(ertu8).  Ebenso  hat  die  römische  Sammlung 
der  Utrechter  Universität  eine  Gemme  mit  einem  Fisch  (Jahrb.  d.  Vereins 
V.  Altertumsfreunden  im  Eheini.  9,  26)  Bereits  auf  mykenischen  Gem- 
men erscheint  der  Fisch  (vgl  E.  Babelon  La  gravure  en  Pierres  fines 
Paris  1894  p.  85  Fig.  54).  Eine  Bronzemünze,  die  das  Brustbild  des 
Kaisers  Commodns  zeigt,  hat  auf  der  Rückseite  einen  Fisch  mit  offenem 
Rachen.  Darüber  steht  C(ae8ar)  I(mperator)  C(ommodus)  A(ntoninus). 
Der  Fisch  soll  hier  wahrscheinlich  jeden  bösen  Zauber  vom  Kaiser  ab- 
wehren (vgl.  Imhoof-Blumer,  Taf.  M,  45).  Besonders  waren  Gemmen 
mit  FischbiJdem  im  Altertum  ein  sehr  beliebtes  und  daher  weitverbreitetes 
Amulett.  Eine  zu  Rhodos  gefundene  Gemme  zeigt  einen  Fisch  (Berliner 
Antiquarium,  Gemmen,  Inventar  4462).  A.  Milchhöfer  Anfänge  d.  Kunst 
in  Griechenland,  Leipzig  1883  p.  84  erwähnt  solche  mit  Fischen  oder 
Delphinen,  die  aus  vorchristlicher  Zeit  stammen.  Im  Kopenhagener 
Museum  ist  eine  uralte,  auf  Kreta  ausgegrabene  Gemme,  die  auf  der 
einen  Seite  einen  Fisch,  auf  der  andern  Seite  zwei  Fische  zeigt  {Yerh. 
d.  Berliner  Ges.  f.  Anthropol.  1887  p.  702)  Die  Fischfigur  dieser 
kretischen  Gemme  hat  nun  große  Ähnlichkeit  mit  einzelnen  auf  germa- 
nischem Boden  gefundenen  Fischdarstellungen  'auf  Fingerringen,  die  in 
der  Nieder-Lausitz  und  in  Landsberg  a.  Warthe  ausgegraben  sind  und 
wohl  aus  vorchristlicher  Zeit  stammen  (vgl.  Verh.  d.  Berliner  Ges.  f. 
Anthrop.  1884  p.  42  und  205;  1887  p.  702). 

*  F.  X.  Kraus  Beal-Enc.  I,  518;  F.  Becker  Die  Darstellung  Jesu 
Christi  unter  dem  Bilde  des  Fisches,  Breslau  1866  S.  96. 

'  Vgl.  F.  X.  Kraus  Beal-Enc.  I,  517  und  519.  Unter  den  antiken 
Funden,  die  man  in  den  Katakomben  gemacht  hat,  gibt  es  auch  eine 
tiefe  Schale,  auf  deren  Rand  ein  schwimmender  Fisch  gemalt  ist,  vgl. 

23* 


356  I-  Scheftelowitz 

IX 

2JSITHP 

&Y 

Bisher  hat  man  den  Fisch  in  diesen  altchristlichen  Fisch- 
amuletten fälschlich  mit  Christus  in  Beziehung  gebracht. 

Der  Fisch  als  dämonenabwehrendes  Zaubermittel  und  als 
Symbol  des  Glückes  war  also  bei  den  verschiedensten  Völkern 
ursprünglich.  Die  Juden  haben  diesen  Glauben  von  den  Ägyp- 
tern erst  sehr  spät  entlehnt^  und  umgestaltet;  ebenso  haben 
die  ältesten  Christen  an  dieser  heidnischen  Anschauung  noch 
festgehalten.  Dieser  Glaube,  daß  der  Fisch  Glück  bringe,  hat 
sich  aus  uralten  religiösen  Vorstellungen  entwickelt.  Man  hielt 
die  Fische  teils  für  Verkörperungen  göttlicher  Kräfte,  teils  für 
Darstellungen  der  Ahnengeister,  die  ihren  geliebten  Nach- 
kommen Schutz  verleihen.  Der  Fisch  war  aber  auch  seit 
uralter  Zeit  das  Sinnbild  der  Fruchtbarkeit.  Daraus  konnte 
sich  nun  sekundär  ebenfalls  das  Symbol  des  Glückes  ent- 
wickeln, denn  reicher  Kindersegen  galt  bei  den  ältesten  Kultur- 
völkern als  ein  Zeichen  des  göttlichen  Segens,  also  als  ein 
Glück,  Der  Fisch  nun,  der  den  Kindersegen  versinnbildlichte, 
wurde  daher  auch  für  ein  glückverheißendes  Vorzeichen  angesehen. 

Ebendieselben  primitiven  Vorstellungen  werden  es  auch 
hauptsächlich  bedingt  haben,  daß  unter  allen  heiligen  Tieren, 
die  in  den  altertümlichen  Religionen  göttliche  Kräfte  ver- 
körperten, gerade  der  Fisch  die  Seligenspeise  in  den  orientalischen 
Kulten  wurde.  Der  messianische  Fisch  hat  sich  dann  aus 
derartigen  primitiven  Ideen  in  besonderer  Weise  entwickelt. 

De  Waal,  Rom.  Quart.  18,  311  und  314.  Dieses  scheint  nur  anzudeuten, 
daß  diese  Schale  nur  für  Fische  bestimmt  ist,  denn  Plinius,  Hist.  nat. 
XXXV,  1C2  berichtet,  daß  man  bei  Gastmählern  ganz  besondere  Schüsseln 
für  Fische  hatte. 

*  Über  die  Kulturbeziehungen  Altägyptens  zum  Auslande  vgl. 
A.  Wiedemann  Bonn.  Jahrb.  91,1  ff.;  A.  Furtwängler  Bonn.  Jahrb.  107,37 ff.; 
108/109  p.  239 ff.;  R.  Wünsch  Antikes  Zaubergerät  awi  Pergamon,  Berlin 
190.Ö  p.  .30  f. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  357 

10  Die    Fische  als   Darstellungen  von   Ahnengeistern. 

Viele  alten  Völker  glaubten,  daß  die  Seele  eines  ver- 
storbenen Menschen  in  den  Körper  eines  Fisches  eingeht,  wes- 
halb man  den  Geuuß  der  Fische  ängstlich  mied.  Nur  an  den 
Totenfesten  war  es  gestattet,  Fische  zu  essen,  da  man  auf 
diese  Weise  glaubte,  mit  den  Seelen  der  geliebten  Verstorbenen 
in  Beziehung  zu  treten.  So  konnte  nach  dem  Glauben  der 
alten  Ägypter  die  menschliche  Seele  eine  ganze  Reihe  von 
Gestalten  annehmen.  Sie  konnte  nicht  nur  als  Vogel,  Schlange, 
Krokodil  und  Blume  erscheinen,  sondern  in  der  jüngeren 
ägyptischen  Zeit  auch  als  Fisch  auftreten.  Auf  einen  ägyp- 
tischen Sarkophag  der  hellenistischen  Zeit,  wahrscheinlich  der 
römischen  Kaiserzeit,  ist  folgendes  Bild  gemalt:  Auf  der 
löwengestaltigen  Bahre  liegt  die  Mumie.  Während  sonst  über 
der  Mumie  die  Seele  des  Toten  gewöhnlich  in  Gestalt  des 
Seelenvogels  erscheint,  ist  „an  dessen  Stelle  nun  hier  ein  Fisch 
dargestellt,  und  zwar,  wie  die  Ümrißlüiie  des  Maules  zeigt, 
der  Oxyrrhynchos".  Ein  ebenfalls  aus  Ägypten  stammender 
hölzerner  Oxyrrhynchos- Fisch,  auf  dem  u.  a.  das  Totengericht 
dargestellt  ist,  findet  sich  im  Berliner  Museum.  In  der  Spät- 
zeit Ägyptens  sind  oft  rechteckige  Plättchen,  auf  denen  ein 
Fisch  abgebüdet  ist,  gefunden.^  Den  Ägyptern  war  der  Genuß 
von  Fischen  verboten^,  aber  am  Totenfeste,  an  welchem  mau 
mit  den  Seelen  der  Verstorbenen  in  Verbindung  zu  treten 
suchte,  pflegte  man  beim  religiösen  Mahle  Fische  zu  verspeisen. 
Nach  einem  Berichte  des  Plutarch^  verzehrten  alle  Ägypter 
am  neunten   des   ersten  Monats   vor   ihrer  Haustüre  einen   ge- 


*  Vgl.  W.  Spiegelberg  Ärch.  f.  Beligionstc.  12,  575;  vgl.  auch  Nash 
in  Proceed.  Soc.  Bibl.  Ärch.  25  S.  112.  * 

*  Vgl.  Herodot  2,  37 ;  A.  Erman  Aegypten  S.  327.  In  dem  Toten- 
buche heißt  es :  „Nicht  fing  ich  Fische  in  ihren  Weihern"  (A.Wiedemann 
D.  JReligion  d.  alten  Ägypter,  Münster  1890  p.  133). 

'  De  Iside  et  Osiride  c.  7;  vgl.  auch  S.  Birch  Manners  and  customs 
of  the  ancient  Egyptians  London  1878  Vol.  11,  118—120;  III,  340flF. 


358  I-  Scheftelowitz 

bratenen  Fisch,  während  die  Priester,  die  keine  Fische  essen 
durften,  am  selbigen  Tage  Fische  vor  der  Haustür  als  Opfer 
verbrannten.  Auch  Clemens  von  Alexandrien  (Protrept.  II 
39,  5)  erwähnt,  daß  in  manchen  Gegenden  Ägyptens  der  Fisch 
verehrt  werde:  „Die  Syeniten  verehren  den  Fisch  Phagros,  die 
Bewohner  von  Elephantine  aber  den  Fisch  Maiotes,  in  ähn- 
licher Weise  die  Einwohner  von  Oxyrrhynchos  den  Fisch,  der 
nach  ihrem  Lande  den  Namen  trägt."  ^  Das  ohen  beschriebene 
Bild  auf  dem  ägyptischen  Sarkophag  beweist,  daß  der  Oxyr- 
rhynchos als  Seelenfisch  verehrt  wurde.  Die  gleiche  Rolle 
werden  auch  die  anderen  von  Clemens  aufgezählten  Fische  ge- 
spielt haben.  „Daß  manche  Ägypter  Fische  mit  göttlichen 
Ehren  bedachten"  berichtet  auch  der  um  140  n.  Chr.  lebende 
christliche  Apologet  Aristides.^  Ägyptische,  dem  Totenkult 
dienende  Gefäße  aus  der  Zeit  der  Ptolemäer,  die  teils  auf  dem 
Boden  der  Totengruft  aufgestellt,  teils  mit  Schnüren  an  den 
Wänden  aufgehängt  sind,  sind  besonders  mit  Fischen  auf 
Lotosblumen  bemalt.^  Auch  Darstellungen  von  Männern,  die 
mit  ihren  beiden  Händen  einen  großen  Fisch  tragen,  sieht 
man  häufig  in  solcher  Totengruft  (vgl.  S.  Birch  Manners  and 
customs  of  the  ancient  Egyptians  Vol.  IH  p.  11 9.  Fig.  374). 
Die  afrikanischen  Völker  Wanika,  Wakamba,  Galla,  Somali, 
nach  deren  Glauben  die  Seele  nach  dem  Tode  die  Gestalt  einer 
Schlange    annimmt^,   essen   keine  Fische,   denn   sie   halten    sie 

'  Vgl.  F.  J.  Dölger  Rom.  Quartalschr.  23,  156.  Derartige  Fische  aus 
Bronze  sind  auch  gefunden  worden,  vgl.  Wilkinson  und  S.  Birch  Manners 
and  customs  lU,  341  f. 

*  Vgl.  Dölger  a.  a.  0.  —  Diese  ägyptische  Sitte  soll  nach  Dölger 
{Rom.  Quartalschr.  23,  158)  „eine  Art  Wegebereitung  für  das  christlich 
euchariatische  Fischsymbol  gewesen  sein,  so  daß  sie  dessen  leichteren 
Eingang  wenigstens  in  der  ägyptischen  Provinz  ermöglichte". 

"  Vgl.  Ft  Jaennicke  Geschichte  der  Keramik,  Leipzig  1900,  p.  73  u, 
p.  74  Fig  6. 

"  Vgl.  J.  Lippert  Seelenkult,  Berlin  1881  p.  38,  und  Wundt  Völkei- 
Psychologie  II,  Teil  2  p  61  f.  „An  die  Schlange  reiht  sich  schließlich  noch 
der  Fisch  an,   der   vermöge   seiner  Schuppenhaut  für  eine  naive  Auf- 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  359 

für  Schlangen.  „Der  Gallaknabe  Djilo,  welchen  Richard  Bremer 
nach  Deutschland  mitbrachte,  war  selbst  hier  nicht  dazu  zu 
bewegen,  Fische  zu  essen.  Dieser  Widerwillen  gegen  den  Fisch 
ist  bei  den  meisten  schwarzen  Stämmen  Südafrikas  (nicht  aber 
bei  den  Hottentotten)  vorhanden,  und  als  Grund  fuhren  sie  an,  daß 
die  Fische  Schlangen  seien.  Die  Leute  gehen  darin  so  weit, 
daß  sie  sich  sogar  scheuen,  Fische  anzufassen,  und  häufig  kommt 
es  vor,  daß  schwarze  Dienstboten  lieber  ihre  Herrschaften  auf- 
geben, als  sich  zwingen  lassen,  diese  Tiere  zuzubereiten" 
(R.  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  p.  125).^  Die  Nupi  (Nufi) 
verehren  die  Geister  der  Verstorbenen  in  Gestalt  von  Fischen, 
Schlangen  oder  AflFen.^ 

Die  Anschauung,  daß  die  Menschen  nach  ihrem  Tode 
Fische  werden,  herrscht  in  Australien*  und  Ozeanien.  Daher 
hausen  nach  der  Ansicht  der  Australier  in  den  Gewässern  zahl- 
reiche Wasserdämonen.^  Gemäß  einer  Sage  der  Insulaner  der 
Torresstraße  wurde  der  Mann  Amdua,  der  Erfinder  der  Fisch- 
angel, nachdem  er  viele  Fische  gefangen  hatte,  unmittelbar 
nach    der    Fischmahlzeit    selbst     in    einen    Fisch    verwandelt.^ 


fassung  mit  jener  wiederum  zusammenfließen  kann,  während  er  sich 
überdies  durch  seine  rasche  Beweglichkeit  zum  Seelenträger  eignet" 
(Wundt  a.  a.  0.  p.  62).  Die  Seelenschlange  ist  im  Germanischen  (vgl. 
E.  H.  Meyer  Mythol.  d.  Germanen  1903  p.  79),  und  im  Griechischen 
(E. Rohde Psyche*!,  136, 142, 196;  M.W. deVisser  Die  nicht menschengestaU. 
Götter  der  Griechen,  1903  p.  169 f.;  Wide  Archiv  XTI,  221  ff.)  vorhanden. 
^  Vgl.  auch  Th.  Paulitschke  Eihnographie  Nordost- Afrikas,  Berlin 
1895  p.  211.  Auch  nach  dem  Glauben  der  Bantuvölker  ist  es  verboten, 
Fische  zu  essen  oder  sie  anzurühren,  da  sie  Seelenschlangen  seien,  vgl. 
J.  G.  Frazer  Totemism,  London  1910,  Vol.  II,  382.  Die  Akiküyu  (Britisch- 
Ostafrika)  enthalten  sich  gänzlich  des  Fischgenusses,  da  sie  hierdurch 
rituell  unrein  würden  (Routledge  Aliiiiyu,  London  1910  p.  50). 

*  F.  Bastian  Die  deutsche  Loango-Exped.  I  p.  113. 

'  Vgl.  Westgarth  Australia  felix,  Edinburg  1848,  S.  93.     Auf  diese 
Stelle  hat  mich  Dr.  W.  Foy  aufmerksam  gemacht. 

*  E.  B.  Tylor  Primitive  Ctdture  II  (London  1903)  p.  209. 

'•  Reports  of  the  Cambridge  Anthropol  Exped.  to  Torres  Straits  Vol.V 
Cambridge  1904)  p.  104—106. 


360  I-  Scheftelowitz 

Wenn  diese  Insulaner  den  Fisch  Dugong  fangen,  so  geben  sie 
gewisse  Teile  von  dem  Fisch  einem  zauberkundigen  Priester, 
da  sie  sonst  sterben  würden.^  Deshalb  scheinen  die  Ozeanier 
ursprünglich  keine  Fische  gegessen  zu  haben.  Denn  nach 
einem  alten  melanesischen  Mythos  hat  der  Geist  Togaro 
die  Fische  beschützt  und  den  Menschen,  der  Fische  zu 
fangen  wagte,  getötet.^  Der  Haifisch  und  der  Wal  werden  in 
Polynesien  noch  heute  für  heilig  gehalten.^  Folgende  uralte  Sitte 
beruht  auf  diesem  Glauben,  daß  die  Ahnengeister  Fischgestalten 
annehmen.  Der  Melanesier  legt  seinen  Toten,  den  er  besonders 
lieb  hatte,  in  die  hohle  Figur  eines  Bonito- Fisches  oder  eines 
Bootes,  die  dann  wasserdicht  verschlossen  wird.  Diesen  fisch- 
förmigen  Sarg  hängt  er  dann  an  den  Wänden  seines  Hauses 
auf.  Jahrelang  bleibt  dieser  wohlverschlossene  Sarkophag  auf 
diese  Weise  in  dem  Hause,  bis  er  endlich  an  einem  großen 
Leichenfest  begraben  wird.  Zuvor  wird  noch  der  Fischsarg 
geöffnet  und  der  Schädel  nebst  dem  Kinnbacken  des  Toten 
abgeschnitten,  in  die  hölzerne  Form  eines  Fisches  gelegt  and 
an  den  Wänden  des  Hauses  angebracht,  da  dann  der  mächtige 
Geist  des  Verstorbenen,  der  in  diesen  Überresten  weilt,  die 
Hütte  schützt.*  Solche  hölzerne  Fischfiguren,  die  einen  Schädel 
in  sich  bergen  und  auf  den  Salomo- Inseln  im  Hause  auf- 
gehängt werden,  enthält  das  British  Museum  (vgl.  British 
Museum,  Handbook  to  the  Ethnographical  Cöllection  1910  p.  133 


^  Reports  of  the  Cambridge  Anthrop.  Exped.  V,  389.  Auf  der  Insel 
Nagir  (Torresstraße)  darf  der  Knabe,  der  nach  seiner  Pubertät  in  den 
Stamna  aufgenommen  wird,  zwei  Monate  lang  bestimmte  Fische  nicht 
genießen  (Reports  V,  212). 

^  Vgl.  R.  H.  Codrington  The  Melanesians,   Oxford    1891,    S.  371  f. 

'  Vgl.  E.  B.  Tylor  Primitive  Culture  II,  London  1903  p.  232. 

*  Vgl.  R.  H.  Codrington  'Hie  Melanesians  S.  261— 262.  In  manchen 
Orten  der  Neu  -  Hebriden ,  Salomo -Inseln,  Admiralsinseln  und  Neu- 
Britanniens  werden  die  Leichname  in  den  See  versenkt  (vgl.  British 
Museum,  Handhook  to  the  Ethnograph.  Cöllection  1910  p.  184),  ebenso 
im  Süden  von  Neumecklenburg  (A.  Kraemer  in  seinem  am  3.  April  1911 
gehaltenen  Vortrag  zu  Cöln)  und  auf  den  Tobi-Inseln  (Seidel  (rZofcus  88,15). 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  361 

Fig  112).  Hölzerne  Fische,  die  sonst  im  Tempel  oder  bei 
den  Totenfesten  aufgestellt  werden,  sind  besonders  in  Nord- 
Neamecklenburg  und  auf  den  Salomo- Inseln  häufig.^ 

In  Neu- Guinea  wurden  Ahnenfiguren  in  Formen  von  aus- 
gestopften Fischen  als  schutzverleihende  Heiligenbilder  an  den 
Wänden  der  Häuser  aufgehängt.  Hölzerne  Fische  und  Kroko- 
dile befinden  sich  auch  in  Tempeln.^  Ursprünglich  hatten  die 
Särge  der  Eingeborenen  der  Marquesas- Inseln  die  Gestalt  eines 
makrelenartigen  Fisches,  des  Utu.  Die  Schnüre  des  Sarges 
hießen  schlechthin  „Gräten".  Ein  anderer  Teil  an  den  Enden 
des  Sarges  führte  den  Namen  „Kiemen  des  Utu -Fisches".  Der 
Utu-Fisch  ist  ein  Verwandter  des  Bonito- Fisches  und  gilt  noch 
heute  bei  den  Eingeborenen  als  taba  und  wird  selbst  von  den 
Priestern  nicht  gegessen,  sondern  wird  nur  den  Göttern  ge- 
opfert.^ Nach  dem  Mythus  der  Insulaner  der  Torresstraße 
kamen  einst  die  beiden  Heroen  Waiat  und  Naga  aus  einem 
Flusse  und  lehrten  die  Menschen  den  Totentanz  mit  Fisch- 
masken.^  Es  herrschte  nämlich  bei  vielen  primitiven  Völkern 
die  Anschauung,  daß  die  Maskierten  von  Ahnengeistern  be- 
sessen seien.^ 

Die  Malaien  glauben,  daß  Flüsse  und  Seen  von  Geistern 
bewohnt  seien.  Manche  Fische  werden  von  ihnen  änsrstlich 
gemieden,  da  sie  Dämonen  verkörpern.®  Bei  den  Achehnes 
(Sumatra)  werden  gewisse  Fische  für  heilig  gehalten.    So  ent- 

'  Derartige  Formen  besitzt  das  Rautenstrauch-Joest-Museum  zu  Cöln. 

*  Gr.  A.  J.  Vandersande,  Nova  Guinea  Vol.  III  (Leiden  1907)  p.  148 
und  303,  ferner  PI  XXI U  Fig.  1  und  2. 

'  K.  V.  Steinen  EthnoL  Xotizblatt,  1899  p.  22— 24,  wo  sich  auch  zwei 
Bilder  befinden;  F.W.Christian  Eastem  Pacific  Land^,  London  191U,  206. 

*  Reports  of  the  Cambridge  Änthrop.  Exped.  to  Torres  Straits  V, 
54  und  343 f.,  wo  auch  .Abbildungen  von  Fischmasken  sind. 

*  L.  Frobenius  Masken  und  Geheimbiinde  Afrikas,  Halle  1898  p.  214f. 
Die  Vorstellung,  daß  die  Seelen  der  Verstorbenen  in  Tiere  übergehen, 
ist  besonders  für  die  Herkunftsgebiete  der  Tiermasken  erwiesen  Tgl. 
R.  Karutz  Afrikan.  Hörnermasken,  Lübeck  1901  p.  86). 

«  W.  W.  Skeat  Malay  Ma^ic,  London  1900  p.  279  und  306  f. 


362  I-  Scheftelowitz 

hält  sich  mancher  Stamm  des  Genusses  des  Fisches  Alu-alu. 
Diese  heiligen  Fische  werden  in  Beziehung  zu  verstorbenen 
Heiligen  gesetzt.  Die  meisten  Heiligen  sind  in  der  Nähe  eines 
Flusses  oder  des  Meeres  beigesetzt  und  deren  Gräber  sind  von 
heiligen  Wal-  und  Haifischen  beschützt.  Es  herrscht  die  Sage, 
daß  diejenigen  Schiffer,  welche  den  beigesetzten  Heiligen  keine 
Verehrung  zollen,  von  einem  riesenhaften  Glattrochen  in  Ge- 
fahr gebracht  werden.^  Bei  den  Jakunern  (auf  der  malaiischen 
Halbinsel)  ist  es  den  Eltern  verboten,  gewisse  Fische  zu  essen, 
solange  ihre  Kinder  noch  nicht  gehen  können.  Sie  meinen, 
daß  bei  Nichtbeachtung  dieses  Verbotes  die  Kinder  von  ge- 
wissen Krankheiten  heimgesucht  würden.^ 

In  der  oben  S.  50  f.  erwähnten  indischen  Erzählung  von 
der  Wiedergeburt  des  Königs  Padmaka  als  Rohita-Pisch 
könnte  noch  ein  Rest  der  uralten  Anschauung  liegen,  daß  die 
Seele  in  den  Körper  eines  Fisches  übergeht.  Auch  folgender 
indischer  Brauch  scheint  damit  in  Zusammenhang  zu  stehen. 
In  dem  Särasvata- Teich  am  Himalaja  befinden  sich  die  heiligen 
Fische,  namens  Mrikunda,  bei  deren  Fütterung  man  den 
Manen  verstorbener  Verwandten  Spenden  darbringt.^  Auch  bei 
den  Giljaken  (Sibirien)  herrschte  ursprünglich  die  Vorstellung 
vom  Seelenfisch.  Sie  meinen,  daß  die  Ertrunkenen  in  Fische 
oder   Wassertiere   verwandelt   werden.^     Jeder   Leichnam  wird 


*  C.  S.  Hurgronje  Äehehnese  (Vol.  I,  51,  II,  301  f.).  Ebenso  gibt  es 
in  der  Nähe  von  Tripolis  (Afrika)  einen  Teich  mit  heiligen  Fischen,  die 
von  den  Mohammedanern  verehrt  und  sorgfältig  gefüttert  werden,  indem 
sie  glauben,  daß  in  den  Fischen  verstorbene  Heilige  verkörpert  sind  (Wood- 
Martin  Traces  of  the  Eider  faiths  of  Ireland  Vol.  II,  London  1902  p.  111). 

*  W.  W.  Skeat  und  Ch.  0.  Bladgen  Pagan  races  of  the  Malay 
Peninsula  Vol  I    1906  p.  21. 

»  E  T,  Atkinson  Himulayan  Gazetteer  (Allahabad  1883)  II,  880,  775. 
Im  Anfang  der  Kausitaki  Brahm.Upan.  heißt  es  betreffs  der  Wiedergeburt  der 
Seelen:  „der  wird  hier  als  Wurm  oder  Schmetterling  oder  Fisch  oder  Vogel 
oder  Löwe  oder  Eber  oder  Schlange  oder  Tiger  oder  Mensch  wiedergeboren". 

*  L.  V.  Schrenck  Reisen  und  Forschungen  im  Amurlande  III  (Peters- 
burg 1895)  p.  762  und   764. 


Das  Fischeymbol  im  Judentum  und  Christentum  363 

mit  dem  Meere  oder  dem  Strome  in  Beziehung  gebracht,  in- 
dem er  mit  dem  Kopfe  zum  Meer  oder  zum  Flusse  gerichtet, 
beigesetzt  wird.^  Die  Giljaken  glauben  an  Geister  mit  Fisch- 
köpfen und  menschlichen  Armen  und  Beinen,  welche  sich  von 
rohen  Fischen  ernähren.  Ein  Ermordeter  nimmt  eine  solche 
Geistergestalt  an.^ 

Dieser  Glaube  findet  sich  auch  bei  den  Indianern  x\merikas. 
Die  Seelen  der  Medizinmänner  werden  nach  dem  Tode  in 
Fische  verwandelt.  Daher  muß  man  sich  hüten,  Fische  zu 
töten,  da  diese  sich  rächen,  indem  sie  „den  Lebenden  holen".' 
,,Um  dieser  Gefahr  vorzubeugen,  muß  der  Medizinmann  des 
Dorfes  stets  dabei  sein,  wenn  die  Tiere  getötet  werden,  und 
muß  sie  einsegnen;  dann  erst  kann  jeder  unbeschadet  von 
dem  Fische  essen."  Bei  einigen  Indianerhorden  des  Gran-Chaco 
besteht  die  Trauer  um  den  Toten  darin,  daß  sie  sich  des 
Fischgenusses  vollständig  enthalten/ 

Auch  in  der  Religion  der  bereits  ausgestorbenen  Maya- 
Völker  in  Amerika  kommt  der  Seelenfisch  vor.  In  manchen 
Bildern  der  Maya- Handschriften  sind  verschiedene  Fische  „auf 
die  Nase  und  auf  andere  Körperteile  sitzender  Menschen  zu- 
strebend dargestellt".  „Vermutlich  beziehen  sich  diese  Bilder  auf 
die  Lehre  von  der  Seelenwanderung."^ 

Die  Collas  Peru)  betrachteten  die  Fische  eines  Flusses 
als  ihre  Brüder,  weil  ihre  Vorfahren  ursprünglich  aus  dem- 
selben Flusse  entstanden  wären.®  Nach  der  Mythologie  der 
Indianer   Neu -Englands    hat    der    allmächtige    Gott    Glooskap 


'  L.  V.  Schrenck  Reisen  III,  776. 

*  L.  V.  Scbrenck  Reisen  III,  751  f. 

^  Th.  Koch  Zum  Animismus  der  südamerikanischen  Inditmer, 
Leiden  1900,  S.  14. 

*  Th.  Koch  a.  a.  0.  S.  75,  Dagegen  nährten  sich  die  Imos  wäh- 
rend der  Trauerzeit  „nur  von  Fisch  und  einer  Art  Kuchen";  wohl  des- 
halb, um  durch  den  Fischgenuß  mit  dem  Toten  in  Verbindung  zu  bleiben. 

^  W.  Stempell  Ztschr.  f.  Ethnol.  1908,  S.  735. 

"  J.  Gr.  Müller  Gesch.  d.amerih.  Urreligionen,  2.  Aufl.   Basel  1867  p.  366. 


364  I-  Scheftelowitz 

aus  Menschen  die  Fische  entstehen  lassen.  Mächtige  Zauberer 
hat  dieser  Gott  in  eine  Art  große  Fische  verwandelt.^  Daher 
findet  man  in  den  prähistorischen  Gräbern  Neu-Englands  häufig 
Walfischfiguren  aus  Stein.^  Die  vorgeschichtlichen  Grabhügel 
der  Ureinwohner  Wisconsins  (Nordamerika)  weisen  häufig  die 
Form  eines  Fisches  auf.  ^  Die  Schuswap-Indianer  (Britisch- 
Columbia)    essen  keine  Schellfische.^ 

Von  dem  ursprünglichen  Seelenfisch  bei  den  Germanen 
scheinen  noch  manche  Sagen  Zeugnis  abzulegen.  Gemäß  einer 
thüringischen  Sage  hatte  ein  Bauer  aus  einer  Quelle  einen 
großen  einäugigen  Fisch  gefangen  und  in  seine  Tasche  gesteckt. 
Zu  seinem  großen  Entsetzen  rief  auf  dem  Wege  nach  dem 
Dorfe  der  Fisch:  „Nimm  den  Einäugigen  nicht  mit,  sonst 
kostet's  dich  das  Leben".  Da  kehrte  der  Bauer  um  und  über- 
gab den  unheimlichen  Fisch  wieder  seinem  Elemente.^  Gemäß 
den  deutschen  Sagen  hausen  in  Flüssen  und  Seen  Wassergeister, 
welche  gewöhnlich  die  Gestalt  eines  Fisches  haben.  ^  Darauf 
könnte  auch  die  primitive  Glaubensvorstellung  vieler  Völker 
wie  auch  der  Germanen  begründet  sein,  daß  die  Menschen  aus 
dem  Wasser  stammen  und  ihre  Seelen  nach  dem  Tode  wieder 
ins  Wasser   zurückkehren.'      In   der  germanischen  Mythologie 


^  Ch.  G.  Leland  Algoquin  legends  of  New  England,  London  1884 
p.  119  und  126. 

^  W.  K.  Moorehead  Prehistoric  Implements,  Cincinnati  1900  p.  120  f. 

'  J.  A.  Lapham  Antiquities  of  Wisconsin,  Washington   1885  p.  67. 

*  Memoir  of  the  American  Museum  of  natural  history,  New  York, 
Vol.  II  p.  513. 

»  Reichhardt  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde  Bd  12,  68. 

®  Grimm  Deutsche  Sagen  Nr.  54;  ders.  Kinder-  u.  Hau^närchen 
Nr.  19;  Schambach- Müller  Niedersächsische  Sagen  Nr.  86tf.,  Gander 
Niederlausitzer  Volkssagen  (Berlin  1894)  Nr.  151  f.,  Kuhn  Märkische  Sagen 
u.  Märchen  p.  '270  und  274;  Weinhold  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde 
Bd  6,  123;  Drechsler  ebenda  Bd  11,  203 f.;  Gomme  Ethnology  in  folklore 
92  f.,  101. 

^  Vgl.  Mogk  in  Grdr.  d.  Germ.  Phil  III,  296;  Drechsler  Ztschr.  d. 
Ver.  f  Volkskunde  Bd  11  (1901)  p.  201  f. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  365 

nimmt  der  zauberkundige  Mensch  zuweilen  die  Gestalt  eines 
Walfisches  an.^ 

Mit  diesem  uralten  Glauben,  daß  die  Seele,  wenn  sie  den 
Körper  verläßt,  die  Gestalt  eines  Fisches  annimmt,  scheint 
auch  der  babylonische  Brauch  zusammenzuhängen,  daß  der 
Arzt  im  Fischgewand  einem  Kranken  den  bösen  Dämon  aus- 
zutreiben sucht.  Die  primitiven  Völker  nahmen  nämlich  an,  daß 
Krankheiten  dadurch  entstehen,  daß  die  Seele  vorübergehend 
den  Körper  verläßt  und  ein  böser  Dämon  in  den  Körper 
gefahren  ist.  Zur  Genesung  des  Kranken  muß  man  daher 
bestrebt  sein,  die  eigene  Se^le  in  den  Körper  wieder  zurück- 
zubringen und  den  bösen  Dämon  auszutreiben.*  Durch  die 
fischartige  Gestalt  des  Arztes  wird  nun  der  Krankheitsdämon 
verscheucht.  Selbst  in  der  jüdischen  Kabbalistik  findet  sich 
der  Gedanke,  daß  die  Seelen  der  Frommen  nach  ihrem  Tode 
die  Hülle  eines  Fisches  annehmen  (vgl.  Michel  Epstein,  Sefer 
qisur  sene  lühöt  habberit,  Fürth  5492  [1732]  Bl.  56  a).  Doch 
hier  ist  er  sicherlich  sekundär  aus  den  im  Abschnitt  1  er- 
örterten Vorstellungen  hervorgegangen. 

Diese  uralte  Vorstellung  von  dem  Seelenfisch  hat  sich 
wohl  aus  der  bei  vielen  Naturreligionen  sich  findenden  Idee 
entwickelt,  daß  die  Seele  des  Verstorbenen,  um  in  das  Land 
der  Seligen  zu  gelangen,  einen  gewaltigen  Ozean  passieren 
müsse.^    Darauf  geht   auch    die  Sitte  mancher   Völker  zurück, 


'  E.  H.  Meyer  Mythologie  der  Germaneti,  Straßburg  1903  p.  3iO. 

*  Vgl.  Juynboll  Arch.  f.  Beligionsw.  IX,  272,  R.  Andrea  Ethn.  Par. 
X.  F.  1  ff. 

'  Bereits  die  alten  Babvlonier  hatten  die  Vorstellung,  daß  „die 
Wasser  des  Todes"  die  Seele  vom  Jenseits  trennen.  ..Nicht  gab  es,  o  Gil- 
games,  je  eine  Überfahrt,  und  keiner,  der  seit  Alters  anlangt,  geht  über 
das  Meer.  Über  das  Meer  ging  Samas.  der  Gewaltige,  außer  Samas  wer 
geht  hinüber?  Schwierig  ist  die  Überfahrt,  beschwerlich  sein  Weg  und 
tief  sind  die  Wasser  des  Todes,  die  ihm  vorgelagert  sind",  Zimmern 
Keilinschr.  tt.  AU.  Test.'  p.  575  f.  637  Anmerk.  5.  Ein  Eesiduum  vom 
ursemitischen  Totenfluß  ist  im  A.  T.  Hiob  26,  ö;  II.  Sam.  22.5  enthalten,  vgl. 
auch  Ps.  18,  5.  In  talmudischer  Zeit  wurde  er  Uqinös  (griech.  'SlxBavög) 
genannt,    vgl.    Midr.   Tanchumd,  Abscbn.   Hajje   Särä:    .,Der  Uqinös   ist 


366  I  Scheftelowitz 

den  Leichaam  iü  einem  Boote  oder  in  einer  hohlen  Fischfigur 
fest  einzuschließen  oder  ihn  auf  brückenartigen  Balken  zu 
begraben,  oder  den  Leichnam  in  die  See  zu  versenken.  Die 
Seele  des  Verstorbenen  kann  also  in  der  Gestalt  eines 
Fisches  ins  Lichtland  hinübergelangen.  Auf  dieser  Anschauung 
beruht  auch  der  uralte,  weitverbreitete  Brauch,  dem  Toten 
eine  Fischfigur  ins  Grab  beizulegen.  Daneben  werden  wohl 
auch  die  in  Gräbern  gefundenen  Fische  dazu  gedient  haben, 
die  Leichendämonen,  die  sich  auf  den  Begräbnisplätzen  auf- 
halten, vom  Grabe  fern  zuhalten.  Daher  findet  man  in  römischen 
Brandgräbern  häufig  Amulette  (vgl.  E.  Schmidt  Bonn.  Jahrb.  47, 
89;  Kropatscheck  Rom.- Germ.  Korrespondenzblatt  1909,  S.  246^.). 
Selbst   in    den    christlichen   Katakomben   liegen    oft  Amulette 


das  Totenmeer."  Auch  nach  dem  Glauben  der  Indianer  muß  die  Seele 
auf  ihrem  beschwerlichen  Wege  ins  Jenseits  über  einen  gewaltigen  Strom 
setzen,  der  sehr  schwer  passierbar  ist,  Th.  Koch  Zum  Änitnismus  d. 
südamerik.  Indianer,  Leiden  1900  p.  10;  119.  Die  Vorstellung  vom 
Totenstrom  war  bei  den  primitiven  Völkern  der  ganzen  Welt  verbreitet, 
vgl.  Schoolcraft  Indian  tribes  I,  321;  III,  229;  D.  Shortland  Traditions 
and  Swperstitions  of  the  New  Zealanders^,  London  1856  p.  151  f. ;  W.W.  Skeat. 
und  Ch.  0.  Bladgen  Pagan  races  of  ihe  Malay  Peninsula  II  (1906)  p.  208; 
L.  Frobenius  Weltanschauung  der  Naturvölker  (1898)  p.  13 f.;  46;  Snorri- 
Edda  Gylfaginning  cap.  49;  E.  Rohde  Psyche'*^  I,  305 f.;  A.  Wiedemann 
Die  Religion  der  alten  Ägypter  p.  50 ;  W.  Grube  Zur  Pekinger  Volksktinde 
(1901)  p.  45;  E.  Diguet  Les  Annamites,  Paris  1906  p.  200.  Deshalb  wird 
bei  den  Nordstämmen  Zentralaustraliens  der  Holzsarg  in  unmittelbarer 
Nähe  des  Wassers  beigesetzt  (vgl.  B.  Spencer  und  F.  J.  Gillen  The  northern 
tribes  of  Central  Australia,  London  1904  p.  553  f.).  Infolge  der  Vorstellung, 
daß  die  Seele  auf  einem  Boote  über  den  Strom  gelangt,  werden  die 
Toten  entweder  in  Booten  begraben  oder  es  wird  ihnen  die  Figur  eines 
Bootes  beigelegt  (vgl.  0.  Gruppe  Griech.  Mythol.  II,  1906  p.  1651  An- 
merk.  1;  Schoolcraft  Indian  tribes  I,  321;  III,  229).  Ebenso  wie  die 
Wikinger  ihre  Toten  in  Booten  begraben  (vgl.  Zentralbl.  f.  Änthropol. 
Bd  16,  45),  haben  auch  die  Indonesier  das  „mit  der  Seele  befrachtete 
Canoe"  ins  Meer  geschoben  (A.  Bastian  Ethnol.  Notizblatt  l'JOl  Bd.  II,  94". 
Dieses  geschieht  auch  in  Tahiti  (Wilson  Missionsreise  i>. Sil),  &u{  Amhrjm, 
auf  den  Anachoreten,  Neu- Britannien,  den  Nikobaren,  auf  Aaru.  Auf 
Timor-Laut,  Süd-Nias  und  den  Barbar-Inseln  hat  der  Sargkasten  zum 
Teil  die  Form  eines  Bootes,  während  auf  das  Grab  die  Figur  eines  Bootes 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  367 

neben  den  Toten  (vgl.  Aus  'm  Weerth  Bonn.  JaJirb.  Bd.  76, 
1883  S.  74),  ebenso  auch  in  fränkischen  Gräbern  {Anz.  d. 
germ.  Nationalmuseums  1895,  S.  65).  Erst  in  jüngerer  Zeit 
wurde  ein  den  Toten  beigelegter  Fisch  das  Symbol  der 
Seligenspeise. 

Schon  F.  X.  Kraus  ^  weist  darauf  hin,  daß  solche  Fisch- 
formen, wie  sie  häufig  in  den  Katakombengräbem  vorkommen, 
auch  in  heidnisch -römischen  Gräbern  gefunden  worden  sind, 
„wie  1829  in  einem  Capuanischen  und  in  einem  Falle  zu 
Girgenti".  Ein  römisches  Brandgrab,  das  zu  Cöln  aufgedeckt 
ist,  enthielt  eine  Glasflasche  in  Form  eines  Fisches,  „an  der 
Schnauze  zugeschmolzen".  Die  Augen  dieses  Glasfisches  sind 
„durch  Tropfen  aus  azurblauem  Glase  markiert;  vorn  am 
Bauche  sind  zwei  kleine  farblose  Vorderflossen;  hinten  ist  die 
durch    den    Flaschenhals    geteilte    Schwanzflosse;    die   Vorder- 


gesetzt wird  (L.  Frobenius  Weltanschauung  der  Naturvölker  p.  13  f.).  An 
der  Ostküst«  Neu  -  Britanniens  pflegt  man  die  Leiche  eines  Häuptlings 
in  ein  Boot  zu  legen,  welches  mit  Steinen  beschwert  eine  Strecke  weit 
ins  Meer  hinausgetrieben  wird  und  dann  mit  seinem  Inhalt  in  die  Wasser- 
tiefe  versenkt  wird.  Die  Hinterlassenen  stehen  am  Strande  und  begleiten 
das  Eanoe  mit  ihren  betäubenden  Klagen,  bis  es  in  der  Meerestiefe  ver- 
schwindet (R.  Parkinson  Im  Bismarck  -Archipel ,  Leipzig  1887  p.  102). 
Ebenso  gleiten  die  Seelen  der  Dajak  im  Totenschiff  ins  Jenseits  Frobenius 
Weltanschauung  der  Naturvölker  p.  136'.  Die  Chinesen  und  Annamiten 
opfern  dem  Toten  ein  papiernes  Schiff  und  zwei  papieme  Brücken 
(W.  Grube  Zur  Pekinger  Volkskunde,  Berlin,  Museum  f.Völkerk.  1901  p.45; 
E.  Diguet  Les  Annamites  p.  200).  Die  Vorstellung  von  der  Seelenbrücke 
ist  bereits  im  Anfange  des  Abschnitts  8  behandelt.  Eine  Verschmelzung 
des  Seelenbootes  mit  dem  Seelenfisch  liegt  in  folgendem  vor:  Viele  in 
Gräbern  zu  Syros  (einer  Insel  der  Zykladen)  gefundenen  Vasen  enthalten 
das  Bild  eines  Bootes,  auf  dessen  Bug  ein  Fisch  ruht  {Revue  Arch.  Ser.  4 
T.  XIII,  1909  p.  326f.).  Ähnlich  kommt  zuweilen  in  Ozeanien  und  Afrika 
das  Seelenboot  in  Verbindung  mit  dem  Seelenvogel  vor  (vgl.  L.  Frobenius 
Weltanschauung  der  Naturvölker,  Weimar  1898\  Aus  dem  primitiven 
Glauben  vom  Totenstrom  hat  sich  somit  die  Vorstellung  vom  Seelenboot, 
Seelenfisch  und  von  der  Seelenbrücke  entwickelt. 

"  Borna    sotter.-,  Freibnrg  1879,    S.  492;    vgl.    auch    Kraus    Real- 
encycl.  I,  518. 


368  I-  Scheftelowitz 

flössen  und  die  beiden  Teile  der  Schwanzflosse  sind  aus 
gepreßten  Glasstücken  angesetzt".  Dieses  Grab  stammt  aus 
der  Zeit  des  Kaisers  Alexander  Severus.^  In  Römergräbern  zu 
Cöln  sind  häufig  Glasfische  gefunden,  so  z.  B.  ein  Glasfisch, 
dem  Augen  und  Flossen  augefügt  sind  (vgl.  Dalton  Catalogue 
of  Early  Christ.  Äntiq.  of  tJie  British  Museum  Nr.  6ö3),  oder 
ein  Glasgefäß  in  Form  eines  Delphins,  dessen  Schwanzflosse 
gleichzeitig  einen  mit  Glasfäden  umsponnenen  Korb  bildet 
(Sammlung  Niessen  zu  Cöln).  Das  Wallraf-Richartz- Museum 
zu  Cöln  besitzt  einen  vom  Deckel  einer  römischen  Graburne 
abgebrochenen  Glasknopf,  auf  welchem  Fische  dargestellt 
sind.  Dieser  Glasknopf  diente  als  Deckelgriff  und  gehört  zu 
den  Cölner  Funden.  Einen  ebenfalls  von  einem  Aschenurnen- 
rdeckel  herrührenden  knopfartigen  Glasgriff  besitzt  die  Sammlung 
Niessen,  Cöln.  Auf  dem  Knopfe  sind  zwei  Fische  und  ein 
Skorpion  dargestellt.  Aus  'm  Weerth  Bonn.  Jahrh.  76  S.  76 — 78 
berichtet  über  drei  in  Römergräbern  der  Rheinprovinz  ge- 
fundene Glas  -  Phiolen ,  „die  sich  dadurch  auszeichnen,  daß 
auf  ihrem  Mantel  ein  Skorpion  und  zwei  horizontal  überein- 
ander schwimmende  Fische  angebracht  sind".  Diese  Fläschchen 
scheinen  wohl  zur  Aufbewahrung  von  Medizin  gedient  zu 
haben,  die  vermittels  dieser  äußeren  heilbringenden  Symbole 
den  Krankheitsdämon  verscheuchen  soll.  Der  Skorpion  findet 
sich  häufig  auf  heidnisch -römischen  Totenlampen  (s.  Bmm. 
Jahrh.  63,  94}  und  auf  Amuletten  (s.  Imhoof- Blumer  Ticr- 
und  Pflanzenbilder  auf  Münzen  und  Gemmen,  Taf.  XV,  18; 
XXII,  44;  XXIV,  14).  Schon  ein  altkananitisches  Amulett 
(wohl  aus  1500  v.  Chr.)  ist  mit  dem  Skorpion  versehen  (vgl. 
E.  Sellin  Teil  Tdanek,  in  Denkschr.  d.  Wiener  Akad.  1904 
Nr.  3  S.  42  und  111).    Auf  ägyptischen  Amuletten  sind  Skor- 


'  Vgl.  Poppelreuter  und  Hagen  in  Bonner  Jahrb.  1906,  Taf.  XXIV, 
43  und  p.  414  Nr.  481.  Dieser  Glasfisch  befindet  sich  im  Wallraf-Richartz- 
Museum,  Cöln. 


Das  Fisch svmbol  im  Judentum  und  Christentum  369 

pione  sehr  häufig  (vgl.  J.  Capart  Primitive  art  in  Egypt, 
London,  1905  S.  192).^ 

Viele  in  Kreta  bloßgelegten  altgriechischen  Sarkophage  der 
mykenischen  Periode  sind  mit  Fischbildern  verziert.'  Ebenso  ist  in 
einem  altgriechischen  Grabe  zu  Vaphio  ein  goldner  Fisch  gefunden  ' 

Unter  den  Geräten,  die  man  zu  Vettersfelde  in  der  Nieder- 
lausitz gefunden  hat  und  die  aus  dem  funftea  vorchristlichen 
Jahrhundert  stammen,  befindet  sich  ebenfalls  ein  Fisch,  aus 
starkem  Goldblech  getrieben.^  Diese  Geräte  sind  einst  einem 
Toten  mit  in  die  Grabume  gelegt  worden  und  sind  altgriechische 
Arbeiten.  Der  Fisch  „war,  wie  es  scheint,  an  eine  ebene 
Unterlage  von  Holz  und  Leder  befestigt.  Das  Ganze  hat  durch 
Feuer  mehrfach  gelitten.  Der  Fisch  gleicht  dem  Thunfisch, 
doch  ist  er  als  Ornament  frei  behandelt.  Auf  dem  oberen 
Teile  des  Fischleibes  sind  ein  Panther,  ein  Eber,  ein  Löwe,  ein 
Hirsch  und  ein  Hase  dargestellt,  auf  dem  unteren  Teil  Fische 
und  voran  ein  Triton,  der  in  der  Rechten  einen  Delphin  hält". ' 

Ursprünglich  ist  also  auch  den  klassischen  Völkern  der 
Seelenfisch  nicht  fremd  gewesen.  Die  von  Plutarch  Symp.  VUI, 
8,  7  (s.  Diels,  Fragm.  der  Vorsokr.  I  -  p.  14  Z.  15)  überlieferte 
Ansicht  des  altgriechischen  Philosophen  Anaximander,  daß 
die  Menschen  ursprünglich  aus  den  Fischen  entsprungen  wären, 
könnte  ebenfalls  auf  der  uralten  Vorstellung  beruhen,  daß  die 
Fische  die  Seelen  der  Ahnen  verkörpern.® 


*  Auf  der  Sinai -Halbinael  läßt  der  Araber  seinen  Sohn  einen  an- 
gebrannten Skorpion  verschlingen  in  dem  Glauben,  daß  dieses  ihn  un- 
verwundbar mache  gegen  giftige  Kriechtiere  (^V.  E.  Jennings-Bramley 
Palestine  Exploration  Fund  1906  p.  197). 

*  Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  l'art  dans  l'antiquite  T.  VI  (1894) 
p.  456  Fig.  171;  930  Fig.  490. 

*  Perrot  und  Chipiez  Histoirr-  de  l'art  T.  VI,  1024  nebst  Fig.  p.  106. 

*  Vgl  A.  Furtwängler  Der  Goldfund  von  Vettersfelde,  Berlin  1883. 
Dieser  Fisch  ist  im  Kgl.  Museum  zu  Berlin 

•  *  Vgl.  Schaaffhausen  in  Bonner  Jahrb.  1884,  .^.  167. 

*  Vgl.  auch  Rob.  Eisler  Weltenmantel  und  Himmelszelt ,  München 
1910  p.  673  Anm.  5.     Nach  Arrian,  ludic.  31,  6  war  bei  Gedrosien  eine 

Archiv  f.  BeligioDswissenschaft  Xr\"  24 


370  I-  Scheftelowitz 

Die  ältesten  etruskischen  Aschengefäße,  die  frühestens  aus 
dem  9.  Jhdt.  v.  Chr.  stammen,  sind  teils  mit  Fischen,  Vögeln 
oder  Löwen  bemalt.^ 

Da  Einflüsse  der  ägyptischen  Kultur  an  allen  Gestaden 
und  Inseln  des  Mittelmeeres  nachgewiesen  sind,  nimmt  es  nicht 
wunder,  daß  in  den  verschiedensten  Ländern  des  Mittelländi- 
schen Meeres  häufig  Fische  auf  den  besonders  für  den  Toten- 
kult bestimmten  Vasen  und  Bechern  dargestellt  sind.  Ebenso 
wie  das  ägyptische  Skorpionamulett  dahin  gewandert  ist,  könnte 
auch  der  Seelenfisch  der  klassischen  Völker  von  Ägypten  be- 
einflußt sein.  Derartige  Fische  sind  zahlreich  in  Mykene^,  in 
der  vorisraelitischen  Periode  Kanaans^  und  im  phönizischen 
Cypern^  ausgegraben  worden. 

Selbst  unter  der  vorgeschichtlichen  Bevölkerung  von  Malta, 
welche  dort  noch  vor  der  Niederlassung  der  Phönizier  gewohnt 
hatte,  hat  der  Fisch  die  gleiche  Rolle  gespielt.  In  den  vor 
einigen  Jahren  entdeckten  Begräbnisstätten  hat  man  einen 
tönernen    Fisch    ffefunden.^     Auch   im    Grabe   des   Buddha   zu 


Insel,  auf  der  eine  Nereide  wohnte,  die  jeden,  welcher  dahin  verschlagen 
wurde,  in  einen  Fisch  verwandelte  und  dann  ins  Meer  warf. 

^  Vgl.  F.  Jaennicke,  Geschichte  der  Keramik,  Leipzig  1900  p.  168. 
Vom  9.  Jhdt  bis  zum  4.  Jhdt  v.  Chr.  besteht  der  Reliefschmuck  dieser 
Gefäße  „in  Friesen  und  Medaillons  mit  Vögeln,  Löwen,  Panthern, 
Sphinxen,  Hirschen,  Fischen,  Kentauren,  Fratzen,  zähnefletschenden 
Masken  . . .  Genien  und  Göttern"  (F.  Jaennicke  p.  169). 

*  Vgl.  Jaennicke  Gesch.  d.  Keramik  p.  139;  C.  Schuchhardt  Schlie- 
manns  Ausgrabungen,  Leipzig  1891  p.  242  u.  305  f.  Besonders  goldene 
Vasen  und  Becher  sind  mit  Fischen  verziert,  Perrot  und  Chipiez  Histoire 
de  l'art  dans  Vantiquite  T.  Vr  p.  920,  Fig.  474;  924;  930  Fig.  491;  960 
P^ig.  628;  Ed.  Baumann  AUgem  Gesch.  d.  bildend.  Künste  P  p.  47.  Fisch 
auf  einem  böotischen  Tongefäß  vgl.  Baumann  Allgevi.  Gesch.  P  p.  52. 

»  Vgl.  G.  Sellin^Tei/-  Taanek  in  Denkschr.  d.  Wiener  Akad.  52  (1905), 
J.  Benzinger  Hebr.  Archaeol.^  (1907)  p.  235,  P.  Thomsen  Palästina  und 
seine  Kultur,  Leipzig  1909  p.  54. 

*  Perrot  und  Chipiez  Histoire  de  l'art  dons  Vantiquite  T.  111  Paris 
1886  p.  701. 

*  Vgl.  A.  Mayr  Ztscfn:  f.  Ethnol.  1908,  638. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  371 

Piprävä  in  Indien  wurde  eine  Kristallbüchse  gefunden,  die  etwa 
aus  dem  Jahre  480  v.  Chr.  stammt.  Der  Griff  des  Deckels  dieser 
Büchse  hat  nun  die  Gestalt  eines  Fisches.^ 

In  China  weisen  die  Innenwände  der  alten  Steinsarkophage, 
die  aus  der  Hau- Dynastie  stammen  und  besonders  in  der  Pro- 
vinz Schantung  bloßgelegt  sind,  eine  Fischfigur  auf.  Zur  Zeit 
dieser  Han-Dynastie  (um  206  v.Chr.  bis  221  n.Chr.)  war  China 
noch  nicht  vom  Buddhismus  beeinflußt.*  Gewisse  Fische,  wie 
der  Fisch  Shang,  werden  in  China  ängstlich  gemieden,  da  sie 
Dämonen  verkörpern  sollen.  Nach  einer  alt€h inesischen  Sage 
wurde  derjenige,  der  einst  einen  großen  Fisch  gefangen  hatte, 
von  nächtlichen  Traumerscheinungen  geängstigt  und  von  Un- 
gemach heimgesucht.  Erst  als  er  den  Fisch  wieder  ins  Wasser 
warf,  hörte  dieses  auf.^  Hier  liegen  Überreste  von  der  primi- 
tiven Vorstellung  des  Seelenfisches  vor.^ 

Gemäß  dem  Zauberritual  vieler  primitiver  Völker  kann 
man  die  Seele  seines  Feindes  in  einem  Fische  verkörpern 
und  sie  so  fangen  und  vernichten.  Der  Malaie,  der  seinen 
fern  weilenden  Feind  vernichten  wollte,  stach  mit  einer  Xadel 
einem   Fische   die   Augen    aus,    indem    er   dabei   eine    Zauber- 


"  Vgl.  Pischel  in  Sitz  Ber.  Fr.  Äk.  Wiss.  1905,  S.  526  f.  Abbildung 
bei  R.  Pischel  Lehen  und  Lehre  Buddhas,  Leipzig  1906  p.  45  und 
Niemojewski  Gott  Jesus,  München  1910,  p.  239,  Fig.  56. 

-  Dieses  teilte  mir  Herr  Prof.  Adolf  Fischer,  Direktor  der  ost- 
asiatischen Abteilung  des  Kunstmuseums,  Cöln,  und  seine  Frau  Ge- 
mahlin mit,  die  sich  jahrelang  in  China  aufgehalten  hatt«n  und  solche 
Steinsarkophage  in  Augenschein  genommen  hatten. 

'  Vgl.  J.  J,  M.  de  Groot  The  religious  System  of  China,  Leiden  1907, 
Vol.  V  p.  646  —  647. 

^  Gemäß  dem  primitiven  Seelenglauben  verwandelt  sich  zuweilen 
die  Seele  des  Verstorbenen  in  einen  Dämon,  der  dann  die  Überlebenden 
in  nächtlichen  Erscheinungen  quält  oder  Krankheit  und  anderes  Un- 
gemach über  sie  bringt,  vgl.  Wundt,  Völkerpsychologie  II.  Teil  2  p.  68. 
Auf  den  Philippinen  herrscht  der  Aberglaube,  daß  verstorbene  Kinder 
als  Dämonen  in  Gestalt  von  Fischen  fortleben  können  (vgl  Journal  of 
American  Folk-lore  vol.  19  (1906)  p.  200). 

24* 


372  I-  Scheftelowitz 

formel  hersagt.^  Wenn  der  Neuseeländer  einen  Raubvogel 
(z.  B.  Habicht)  erblickt,  der  einen  Fisch  fest  gepackt  hat 
und  ihn  nicht  mehr  fallen  läßt,  so  sieht  er  hierin  ein 
gutes  Omen,  daß  er  etwas  Feindliches  besiegen  werde." 
In  altgermanischen  Grräbern  von  Schleswig  und  Mecklenburg 
sind  Amulette  gefunden,  die  einen  Vogel  darstellen,  der  in 
seinen  Krallen  einen  Fisch  hat."  Auch  auf  altgriechischen 
Gemmen,  die  als  Amulette  benutzt  sind,  ist  ein  gleiches  Motiv 
verwendet.  So  erblickt  man  auf  einer  Gemme  einen  mit  Bein- 
kleidern verseheuen  Mann,  der  einen  großen  Fisch,  den  er  mit 
der  Angel  gefangen  hat,  in  die  Höhe  zieht. ^  Auf  einer 
andern  antiken  Gemme  ist  ein  Mann  dargestellt,  der  mit  seiner 
Angel  einen  Fisch  gefangen  hat  und  ihn  nun  in  kniender 
Stellung  in  sein  Gefäß  legt.^  Nur  infolge  der  älteren  Vor- 
stellung, daß  die  menschliche  Seele  sich  in  einem  Fische  ver- 
körpert, konnte  diese  Idee  aufkommen,  in  dem  Fische  die 
Seele  seines  Feindes  zu  sehen.  So  erklärt  sich  auch,  daß  bei 
den  Römern  einem  Fisch  der  Mund  zugenäht  wurde,  wenn  man 
den  Mund  des  Feindes  zum  Schweigen  bringen  wollte  (Ov.  Fast. 
II  578).  Der  Seelenfisch  begegnet  uns  hauptsächlich  im  Toten- 
kult. Sehr  häufi.g  sind  gerade  die  Lämpchen,  die  man  gemäß 
dem  heidnischen  Brauch  der  klassischen  Völker  dem  Toten  mit- 
gab, mit  P^ischbildern  verziert.  In  einem  heidnisch -römischen 
Steinsarkophag  zu  Calcar  am  Niederrhein  wurden  die  Asche 
des  Verstorbenen,  eine  Tonschale  und  eine  Bronzelampe  vor- 
gefunden. Die  Lampe  stellt  einen  Fisch  dar,  unter  dessen 
erhobener   Schwanzflosse    ein    kleiner    delphinartiger    Fisch    in 

»  W.  W.  Skeat  Malay  Magic,  London  1900  p.  310. 

*  Polack  Manners  and  customs  of  the  Neiv  Zealanders,  li^ndou 
1840  Vol    I,  267. 

'  S.  Müller  Nord.  Altertumskunde  II  (1898)  p.  94  und  159. 

*  Imhoof- Blumer  Tier-  u.  Pflanzenbilder  auf  Münzen  u.  Oemmen 
1889  Taf.  XXIII  Nr.  14;  Perrot  u.  Chipiez  Histoire  de  l'art  T.  VI  (Paris 
1894)  p.  8Ö1   Fig.  432,4. 

*  Imhoof-Blumer  Tier-  u.  Pflanzenbilder  Taf.  XXIII  Nr.  16. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  373 

bogenförmiger  Krümmung  so  angebracht  ist,  daß  dadurch  ein 
Öhr  zum  Durchstecken  des  Fingers  beim  Tragen  gebildet  ist 
(vgl.  Jahrb.  d.  Ver.  v.  Altert,  i.  Eheini.  Bd  29/30  p.  142—144  u. 
Taf.  II).  Eine  fischgeformte  Totenlampe  aus  Bronze  besitzt 
auch  das  Bonner  Provinzialmuseum  (Nr.  ü  1317).  Auf  Toten- 
lampen sieht  man  zuweilen  Delphine  abgebildet  (Sammlung 
Nieasen,  Cöln).  Unter  den  antiken  Denkmälern  der  Cölner 
Privatsammlungen  findet  sich  eine  römische  Hängelampe  in 
Fischform  ^au8  Bronze),  zugleich  zum  Hinstellen  eingerichtet. 
Sie  soll  in  Meckenheim  bei  Bonn  in  einem  Grabe  gefunden 
sein.^  Eine  ebenfalls  römische  Lampe  besitzt  die  Hamburger 
Altertümersammlung.  In  der  Mitte  dieser  Lampe  ist  ein  Fisch. 
Dem  klassischen  Stil  gemäß  ist  der  umlaufende  Rand  mit 
konzentrischen  Kreisen  und  Blättern  versehen.*  Ein  heidnisch- 
römisches Brandgrab,  das  zu  Cöln  ausgegraben  ist,  enthielt 
eine  gehenkelte  Lampe,  auf  deren  Zierplatte  „zwei  einander 
zugekehrte  Delphine"  wie  beim  Funde  in  Novaesium'  dargestellt 
sind.^  Daß  der  ursprüngliche  Sinn  dieses  uralten  heidnischen 
Seelenfisches  den  Römern  noch  bekannt  war,  ist  kaum  an- 
zunehmen. Dieser  Brauch  hatte  sich  gleichsam  wie  ein  Fossil 
erhalten. 

Trotzdem  die  jüdischen  und  urchristlichen  Fischsymbole 
sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  aus  solchen  primitiven  Vor- 
stellungen entwickelt  hatten,  haben  die  Fischbilder,  die  in  alt- 
jüdischen und  urchristlichen  Sarkophagen  gefunden  werden,  eine 

*  Bonner  Jahrb.  1877,  S.  113. 

-  Vgl.  Banner  Jahrb.  1878,  S.  96.  Zwei  andere  römische  Tonlampen 
in  Fischform,  die  das  Walkaf-Richartz  Museum,  Cöln,  besitzt,  beschreibt 
A.  Kisa  in  Bonn.  J.  Bd.  93,  48  Nr.  66  und  p.  49,  Xr.  73.  Kisas  Be- 
hauptung, „die  Fischform  sei  altchristlichen  Lampen  eigentümlich  mit 
Beziehung  auf  die  symbolische  Bedeutung  des  Namens  'Ixd'vg''  ist  durch 
meine  Untersuchung  hinfällig  geworden. 

'  Vgl.  Bonner  Jahrb.  1904,  S.  364,  5. 

*  Vgl.  Poppelreuter  und  Hagen  in  Bonner  Jahrb.  1906,  Taf.  XXI,  6. 
L  ber  eine  andere  Totenlampe  mit  zwei  Delphinen  siehe  Bonn.  Jahrb 
61,  104. 


374  I-  Scheftelowitz 

vollständig  veränderte  Bedeutung  erlangt.  In  einem  Skelettgrab  aus 
der  Zeit  des  römischen  Kaisers  Constantius,  das  zu  Cöln  aufgedeckt 
und  wohl  christlich  ist,  fand  man  einen  doppelhenkligen  Pokal  mit 
aufgelegten  Fischen.  Dem  Glaskörper  sind  „hohl  gebildete  Fische 
vermittels  Glases  aufgelötet;  jeder  einzelne  ist  für  sich  allein 
geblasen;  die  Augen  sind  aufgesetzt,  die  Flossen  gepreßt  und 
angesetzt."^  Es  handelt  sich  wohl  um  ein  Erzeugnis  der 
gleichen  Fabrik,  von  welcher  ein  ähnliches]  Exemplar  1870 
in  einer  altchristlichen  Begräbnisstätte  des  4.  Jahrhunderts 
zu  Pallien  in  Trier  ausgegraben  ist.^  Ein  derartiger  Becher 
mit  aufgelegten  Fischen  ist  in  den  Katakomben  von  S.  Callisto 
aufgedeckt  und  ist  in  der  Glassammlung  des  Vatikans  zu 
sehen.^  jjEin  Becher  mit  einem  aufgelegten  Fisch  befindet 
sich  im  Berliner  Antiquarium,  ein  Bruchstück  mit  zwei 
Fischen  und  der  Inschrift  Bibe  zeses  wurde  in  Ostia  gefunden." 
Die  Inschrift  dieses  Glases  erinnert  an  die  bereits  oben  S.  26 — 27 
beschriebenen  jüdischen  Weinbecher.  „Im  römischen  Kunst- 
handel sollen  noch  andere  ähnliche  Stücke  aufgetaucht  sein."^ 
Ein  weiteres  Fragment,  das  zu  Cöln  gefunden  ist,  besitzt  die 
Sammlung  vom   Rath  zu  Cöln. 


'  Vgl.  Poppelreuter  und  Hagen  in  Bonner  Jahrb.  1906,  Taf.  XXV,  60. 
Ein  Skelettgrab  braucht  nicht  auf  christlichen  Ursprung  hinzuweisen, 
denn  in  der  Rheinprovinz  sind  häufig  Römerleichen  in  einfachen  Holz- 
särgen bestattet  gefunden,  vgl.  Bonner  Jahrb.  Bd.  99,  22.  Übrigens  war 
seit  dem  dritten  Jhdt  des  römischen  Kaiserreiches  die  Beerdigung  die 
vorwiegende  Begräbnisform  der  Römer  (vgl.  S.  Reinach  Orpheus,  Leipzig 
1910  p.  98j.  Über  ein  anderes  altchristliches  Glas  aus  dem  Anfang  des 
4.  Jahrhunderts,  das  in  Cöln  gefunden  ist,  vgl.  Poppelreuter  Ztschr. 
f.  Christi.  Kumt  1908,  S.  67-76. 

*  Vgl.  Hettner  Illustrierter  Führer  durch  d.  Provinzialmuseuni  in 
Trier  1903  S.  111.  Es  ist  ein  „Becher  aus  weißem  Glas,  an  welchem 
hohle  Fische  angeschweißt  sind".  Die  Altertumssammlung  der  St.  Marcus- 
Kathedrale  zu  Venedig  besitzt  eine  antike,  wohl  aus  urchristlicher  Zeit 
herrührende  Kristallvase  in  Fischform,  deren  ursprüngliche  Verwendung 
unbekannt  ist  {Amiales  Archeol,  Paris  1861  T.  XXI,  341  Nr.  87). 

»  Vgl.  F.  X.  Kraus  Realencycl.  T,  S.  617. 

*  Vgl.  A.  Kisa  Die  müihcn  Gläser,  Bonn  1899,  S.  69. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  375 

Solche  Becher  mit  den  aufgelegten  Fischen  sind  jüdisch- 
christlichen Ursprungs. 

Die  Juden  der  hellenistischen  Zeit  hahen  dem  Toten  häufig 
nicht  nur  seinen  „Becher  des  Segens",  durch  dessen  richtigen 
Gebrauch  er  sich  nach  dem  Ausspruch  des  Talmud  schon  bei 
Lebzeiten  das  ewige  Leben  erwirbt,  mit  ins  Grab  gelegt, 
sondern  auch  eine  Lampe,  weshalb  man  zuweilen  in  jüdischen 
Katakomben  Lampen  und  Becher  findet.  Dieses  hat  sich  aus 
einem  uralten  Brauch  entwickelt,  der  bei  allen  antiken  Völkern 
vorherrschte.  „Als  Regel  von  der  altkananitischen  bis  zur 
spät-israelitischen  Zeit  haben  die  Funde  gezeigt,  daß  man  den 
Toten  Tongefäße  mit  ins  Grab  gab:  Lampen,  Schalen,  Krüge, 
Amphoren".*  Der  Talmud  ist  daher  bestrebt,  diese  uralte  Sitte, 
dem  Toten  Gefäße  beizulegen,  einzuschränken.  In  Sanhedrin 
48a  und  Semähöt  P.  9  heißt  es,  daß  man  die  Leidtragenden 
möglichst  davon  zurückhalten  soU,  dieses  zu  tun.  Die  Misnä 
Beräköt  8,  6  (Talmud  Beräköt  53  a)  erwähnt,  daß  man  zu  Ehren 
des  Toten  Lampen  anzündete  und  zur  Beseitigung  des  Leichen- 
geruchs wohlriechende  Gewürze  neben  den  Toten  legte.  Der 
Becher  sollte  wohl  dem  Toten  gleichsam  als  „Becher  der  Tröstung" 
dienen,  den  man  einer  altjüdischen  Sitte  entsprechend  einem 
Trauernden  darreichte  (vgl.  Pesiqtä  Rabbäti  ed.  Friedmann^ 
Wien  1880,  Bl.  I38b).  Der  jüdische  „Becher  des  Segens"  ist 
zuweilen  auch  mit  Fischbildern  verziert  gewesen,  da  man  ja  in 
den  Fischen  die  Speise  der  Seligen  im  Jenseits  sah.  Die  Ur- 
christen,  die  auch  den  „Becher  des  Segens"  (tcoxi^qiov  t^j 
svXoyCas)-  von  den  Juden  übernommen  hatten,  gaben  ihn  dem 
Toten  ebenfalls  ins  Grab.    Selbst  ihre  Seelenlampen  ließen  sie 


•  J.  Benzinger   Hebr.  Archäologie   2.  Aufl.    Tübingen  1907,  S.  128. 

*  Vgl.  1.  Kor.  10,  17.  Siehe  oben  p.  25 f.  Ein  weiterer  Beleg  aus 
dem  X.  T.,  daß  die  Urchristen  den  Sabbat-  und  Teättag-Qiddus  noch 
ausübten,  ist  Apostelgesch.  20,  7:  'Ev  dk  rfi  fiiä  z&v  eaßßdztov  6vvr]yfuv<av 
rivLwv  xlaöcci  aprov;  vgl.  ferner  Luc.  22,  19.  20;  Matth.  26.  26.  27;  Marc. 
14,   22.  -23. 


376  I-  Scheftelowitz 

mit  Fischfiguren  versehen.  So  sind  im  Schnütgen-Museum  zu 
Cöln  zwei  altchristliche  Tonlämpchen,  die  mit  einer  Fischfigur 
verziert  sind  und  aus  dem  4.  Jahrhundert  stammen.  Eins  ist 
in  Rom,  das  andere  in  Nordafrika  gefunden.  Eine  bei  Brühl 
gefundene  fischgeformte  Lampe  aus  Ton,  auf  deren  Bauch  ein 
Kreuz  ist,  aus  dem  4.  Jahrhundert  stammend,  ist  im  Bonner 
Provinzialmuseum  (Nr.  15911).  Die  jüdisch -populäre  An- 
schauung von  dem  gewaltigen,  reinen  Fisch,  dem  Leviatan,  der 
beim  Anbruch  der  messianischen  Zeit  der  einzige  Fisch  sein 
wird  (vgl.  oben  p.  40  Anmerk.),  ist  also  auch  ins  Urchristentum 
übergegangen.  Daher  übersetzt  Theodotion  (um  160  n  Chr.) 
Psalm  74,14  der  jüdischen  Auslegung  gemäß:  „Du  gibst  ihn 
(denLeviatan)  zur  Speise  dem  messianischen  Volke  (Aaö  tö  iöxärtp). 

11  Fische  als  Symbol  der  Fruchtbarkeit 

Da  sich  Fische  schnell  vermehren,  so  versinnbildlichen 
sie  bei  den  verschiedensten  Völkern  Fruchtbarkeit,  Überfluß 
und  Kindersegen.  So  segnet  Jakob  seine  beiden  Enkel,  die 
Söhne  Josefs,  mit  den  Worten:  „Sie  mögen  wie  Fische  zahl- 
reich sein  in  der  Mitte  des  Landes."'  Auf  Grund  dieser  An- 
schauung lehrte  Rabbi  Bar  Kappärä  im  Talmud^:  „Man  möge 
eine  Frau  am  fünften  Tage  in  der  Woche  ehelichen,  da  Gott 
an  diesem  Tage  bei  der  Weltschöpfung  die  Fische  mit  den 
Worten  segnete:  Seid  fruchtbar  und  mehret  euch."  Auf  diesem 
Fischsyrabol  beruht  auch  folgender  alter  Hochzeitsbrauch  der 
Juden  Großpolens,  der  aus  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
belegt  ist:  die  Juden  Großpolens  pflegen  unmittelbar  nach  be- 
endigter Hochzeitszeremonie  ein  Fischessen  zu  geben,  welches 
den  speziellen  Namen  Se'üdat  dägim  „Fischmahlzeit"  führt.* 
Schon  aus  dem  Talmud  Semähöt  (Pereq  8  und  14)  ist  ersichtlich, 
daß  beim  Hochzeitsmahl  der  Fisch  eine  Hauptspeise  bildete. 


■  1.  Mos.  48,16.         *  Ketaböt  6a;  Jalqüt  zu  1.  Mos.  1,  Abschn.  16. 
*  S.  Moses  Isseries  in  seinem  Kommentar  zum  Sulhan  'Aruk:  Jöre 
de'ä,  Abschn.  391;  Abraham  Danzig  Hohnat  ädäm,  Abschn.  161,2. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  377 

Ein  altindisches  Ritualbuch*  erwähnt  eine  ähnliche  Hoch- 
zeitssitte Das  neuvermählte  Brautpaar  steigt  bis  zum  Knie 
ins  Wasser  und  fängt  mit  einem  neuen  Gewände,  dessen  Saum 
nach  Osten  gerichtet  ist,  Fische,  wobei  es  einen  Brahmanen- 
Schüler  fragt:  „Was  siehst  du?"  Der  Gefragte  antwortet  dann: 
„Söhne  und  Vieh".  Hier  versinnbildlichen  offenbar  die  Fische 
den  Kindersegen  und  die  zahlreiche  Vermehrung  des  Viehes. 

Zur  Brautaussteuer  der  Chinesen  gehört  ein  Glasbehälter 
mit  Goldfischen,  denn  die  Fische  bedeuten  in  China  Überfluß. 
Mit  der  größten  Vorsicht  werden  diese  Fische  in  das  neue 
Heim  getragen,  damit  sie  durch  das  Schütteln  nicht  leiden, 
denn  stirbt  ein  Fisch,  so  gilt  dieses  für  ein  böses  Omen.^  Bei 
den  Mandschu  werden  dem  Brautpaare  Fische  als  Speise  gereicht 
mit  dem  Wunsche:  „In  Hülle  und  Fülle  möge  euch  Glück 
sein.'"'^  Auf  den  Hervey  Inseln  (Ozeanien)  wird  bei  einer  Hoch- 
zeit ein  roher  Fisch  zum  Bräutigam  herangebracht;  dann  wird 
der  Fisch  auf  einem  menschlichen  Körper  in  würfelförmige 
Stücke   zerlegt  und  vom  Bräutigam  vollständig  roh  gegessen.'' 

„In  seiner  Schilderung  der  Hochzeitsfeierlichkeiten  in  Fez 
erzählt  Leo  der  Afrikaner  (Africae  descriptio,  Lejden  1632, 
S.  326),  daß  der  Ehemann  gewöhnlich  am  siebenten  Tag  nach 
der  Hochzeit  eine  große  Menge  Fische  kauft  und  sie  durch 
seine  Mutter  oder  irgendeine  andere  Frau  auf  die  Füße  seiner 
Gattin  werfen  läßt."''  Dieses  soll  den  Wunsch  ausdrücken, 
daß  ebenso,  wie  die  Fische  sich  schnell  und  stark  vermehren, 
auch    das   neuvermählte  Ehepaar   viele  Kinder   erhalten    möge. 

Die  Symbolik  des  Fisches  in  geschlechtlichen  Dingen  ist 
sogar    dem   klassischen   Altertum    bekannt.      Sie    ist    auch    in 

'  Baudhäyana  Grhyasütra  1.  13. 

*  W.  Grube  Zur  Pekinger  Volkskunde  (Berlin,  Museum  für  Volks- 
kunde 1901)  p.  36. 

'  W.  Grube  Zur  Pekinger  Volkskunde  p.  2'.  Über  den  Fisch  als 
Symbol  des  Überflusses  in  China  vgl.  Grube,  ebenda  p.  1.39—141;    147. 

*  W.  W.  Gill  Life  in  the  Southern  Isles,  London  1876  p.  60. 

*  Zachariae  in   Wiener  Z.  K.  M.  18,  306. 


378  I-  Scheftelowitz 

pompejanisclien  Gemälden  z.  B.  in  der  Casa  del  Centenario  zur 
Darstellung  gebracht.^ 

Fische,  besonders  die  sich  schnell  vermehrenden  Heringe, 
waren  der  germanischen  Göttin  Berchta  (Percht),  der  Beschützerin 
des  Ackerbaus,  heilig  und  wurden  ihr  an  ihren  Festen  geopfert. 
Sie  hat  den  Bauern  „auf  ewige  Zeiten  ein  Gericht  Fische  und 
Habergriitze  verordnet,  sie  zürnt,  wenn  es  einmal  unterbleibt", 
indem  sie  demjenigen,  der  andere  Speisen  an  ihrem  Festtage 
zu  sich  genommen  hat,  den  Leib  aufschneidet  (J.  Grimm, 
Deutsche  Mythol.'^  I,  226;  lU,  29)..  Bei  den  nordischen  Völkern 
war  der  Fisch  der  Freyja,  der  Göttin  der  Fruchtbarkeit  und 
der  Liebe,  geweiht.  Ihr  haben  die  Skandinavier  am  sechsten 
Tage  der  Woche  Fische  geopfert  (R.  M.  Lawrence  Magic  of 
the  horse-shoe,  Boston  1899  p.  259). 

Die  keltisch -germanischen  Muttergottheiten  scheinen  in 
ihrer  Eigenschaft  als  Spenderinnen  der  Fruchtbarkeit  durch 
Fische  versinnbildlicht  zu  sein.  Viele  Funde  aus  dem  3.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  haben  klargelegt,  daß  im  Jülicher  Land,  in 
der  Eifelgegend  und  am  Rhein  zwischen  Cöln  und  Bonn  diese 
keltisch -germanischen  Muttergottheiten  (Matres  bzw.  Matronae) 


^  Vgl.  Dölger  Eö7n.  Quartalschr.  28,  109.  Nach  einem  lettischen 
Märchen  bewirkt  der  Genuß  von  Fischen  bei  weiblichen  Wesen  Schwanger- 
schaft (vgl.  V.  V.  Andrejanoff  Lettische  Märchen  21  f.).  „Die  Fischmahlzeit 
bei  der  Hochzeit  ist  auch  für  die  Griechen  durch  die  Fragmente  Epicharms 
and  einschlägige  Vasenbilder  (Lenormant- Witte  Elite  mon.  ceram.  IIF, 
pl.  XIV  cf.  S.  45)  und  durch  ein  Fragment  aus  dem  Ps.  Hesiodeischon 
Kriv-nog  yä^iog  bezeugt"  (Brief!.  Mitteilung  von  Rob.  Eislei").  Eine  hoch- 
archaische böotische  Vase  weist  das  Bild  einer  Göttin  mit  einem  Fische 
im  Mutterleibe  auf  (Rob.  Eisler,  Philologus  Bd.  68,  203).  Eine  ähnliche 
Darstellung  findet  sich  auf  einem  syrischen  Achatsiegel,  siehe  Abbildung 
im  Corp.  1.  Sem.  P.  11.  Tom.  1  Paris  1889  Tab.  VI,  78  u.  Textband  S.  83  Nr.  78. 
Der  Fisch  ist  gleichsam  das  Symbol  der  weiblichen,  gebärenden  Natur- 
kraft, wenn  sich  nach  Ovid  Metamorph.  III,  331  und  IV,  44 f.  Aphrodite 
und  die  große  syrische  Göttin  in  einen  Fisch  verwandeln.  Mehrere  Fische 
waren  der  Aphrodite  geweiht  (Athen.  VII,  126,  136).  Auch  der  Geburts- 
göttin Hekate  waren  gewisse  Fische  heilig,  die  man  ihr  als  Üpferspeise 
vorsetzte  ('Exoctt]?  ßgäiiaroc,  vgl.  Athen.  VII,  92;  126;  VIII,  ö7). 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  379 

verehrt  wurden^,  die  in  den  Inschriften  verschiedene  echt 
germanische  Beinamen  haben.  In  Boun  ist  ein  ziemlich  gut 
erhaltener  Votivaltar  der  göttlichen  Mütter  Aufaniae  aufgefunden 


'  Deae  matres  wurden  auch  in  Sizilien  verehrt,  vgl.  Diodoros 
Bibliotheca  histor.  IV  c.  80.  Zum  Matronenkult  vgl.  M.  Siebourg  West- 
deutsche Ztschr.  1888  p.  99fiF.;  Ihm,  Bonn.  Jahrb.  Bd  83,  1—200.  Über  die 
germanischen  Muttergöttinnen  vgl.  besonders  F.  EaufFmann  Ztschr.  d.  Ter. 
f.  Volkskunde  1892  p.  24  f.  Auch  die  Etymologie  ihrer  Namen  deutet 
vielfach  darauf  hin,  daß  sie  Schutzgottheiten  der  ländlichen  Fluren  und 
Spenderinnen  der  Fruchtbarkeit  seien.  So  bedeutet  Autania  'die  Überfluß 
Habende':  got.  uQö  'Überfluß'  (vgl.  Much  Ztschr.  f.  Deutsch.  Alt.  35,  317 f.). 
Daß  die  Matrona  Atufrafineha  nicht  keltisch  sein  kann,  geht  aus  dem 
Laute  f  hervor,  der  dem  Urkeltischen  mangelt.  Das  Wort  geht  auf  alt- 
germ.  *Atu-fräfineia  'Saaten  fördernd'  zurück.  Zu  atu-  vgl.  got.  at-i?k8 
'Saat',  ahd.  a^zisk  'Saatfeld',  as.  ät  'Speise',  ags.  set.  Altgerm.  *fräfineia: 
altgerm.  fra-aQan,  ags.  seQan  'wirken,  tun',  vgl.  ahd.  afalon  'rührig  sein', 
aisl.  afla  'rührig  sein',  lit.  apstus  'reichlich'.  Von  demselben  Verb  ist 
auch  die  german.  Matrona  Aflia  abgeleitet  .vgl.  Much  Ztschr.  f.  Deutsch. 
Alt.  35,  316).  Das  Suffix  -neha  neben  -hena  kommt  in  den  germanischen 
Matronennamen  häufig  vor  (vgl.  Ihm  B.J.  83,  31 — 32).  Schon  F.  Kaufi"- 
mann  hat  Ztschr.  d.  V.  f.  Volkskunde  2.  38  dargelegt,  daß  in  diesen  Suffixen 
„das  h- Zeichen  epigraphisch  als  Trennungszeichen  der  Vokale  ohne 
selbständigen  Lautwert  verwendet  ist",  so  daß  eigentlich  die  german. 
Endung  -neia,  -iena  vorliegt.  So  sind  auch  verständlich  Schreibungen 
wie  Vallabneihiabus  {B.J.93,  251  —  252)  neben  Vallabneiabus  (.B. /.  93, 
252),  femer  Fahineihae  {B.J.  102,  180  f.)  neben  Fachinehae  {B.  J.  96  97 
p.  157  f. :  got.  fahe{)S  'Freude',  faginön  'sich  freuen'  vgl.  zur  Etymol.  auch 
.B.J  103,  108).  Andere  Matronennamen  sind  Udravarinehae  (pl.),  B.J. 
105,  86  f.,  Westdeutsche  Z.  Korr.  Bl.  Bd  U  (1895)  Nr.  1.  Die  Bedeutung 
ist  „Euter  schützend":  ags.  üder,  ahd.  ütar  'Euter',  femer  got.  warjan, 
ahd.  wei^jan  'schützen',  ags.  warian  'wahren'.  Daneben  ist  die  Form 
Cdrovarinebae  belegt  {Westdeutsche  Z.  Korr.  Bl.  Bd  25,  102).  Die 
Matrona  Garmangaba  soll  nach  v.  Grienberger  Ztschr.  f.  Deutsch.  Alt. 
38,  189  f.  grata  donatrix  bedeuten,  indem  er  Garman  mit  deutsch 
gern,  gr.  jjjäpts  zusammenstellt.  Allein  Garman  wird  eher  zu  isl.  gormr 
'Schlamm,  Dünger",  ags.  gor  'Mist,  Dünger',  ahd.  gor  'Mist,  Dünger'  ge- 
hören, so  daß  diese  Göttin  die  'Düngergeberin'  heißt.  Auc'n  die  alt- 
indische Glücksgöttin  Sri,  die  vom  Landmann  angefleht  wird,  heißt 
Karisini  'die  Düngerreiche'  (vgl.  Scheftelowitz  Apokryphen  des  Bgveda 
1906  p.  73  Vers  9).  Matrona  Gavadia  {B.  J.  83, 33)  bedeutet  'schön  gekleidet': 
ahd.  gawätjan,  giwätan  'kleiden,  bekleiden',  ags.  weet  'Gewand.  Kleid'. 
Dasselbe  bedeutet  auch  die  Matrona  Gavasia  ( Westdeutsche Z.  Korr.  BL  Bd  -25, 


380  I-  Scheftelowitz 

worden.  „Die  über  dem  Sims  angebrachte  Bekrönung  der 
Ära  läuft  an  ihren  beiden  äußeren  Enden  in  Schneckenrollen 
aus,  welche  an  der  Vorderseite  mit  Rosetten  geschmückt  sind. 
In  der  Mitte  erhebt  sich  von  vorn  und  hinten  eine  Giebelspitze, 
deren  Verzierung  höchst  einfach  gehalten  ist.  Ganz  in  der 
Mitte  ruht  auf  der  Bedachung  eine  oblonge,  wahrscheinlich 
einen  Opfertisch  bezeichnende  Platte,  auf  der  ein  Fisch  mit 
weitgeöffnetem  Munde  liegt."  Da  nun  diese  Muttergöttinnen 
auf  den  bisher  bekannten  Votivdenkmälern  als  Spenderinnen 
der  Fruchtbarkeit  und  als  weibliche  Schutzgottheiten  der  länd- 
lichen Fluren  bezeichnet  werden,  so  ist  es  sehr  wahrscheinlich, 
daß  der  Fisch  die  Fruchtbarkeit  symbolisieren  soll.^ 

Im  ehemaligen  Ceylon  glaubt  der  Bauer,  dessen  Acker  es 
an  genügender  Bewässerung  mangelt,  durch  das  Bild  eines  in 
einer  Zisterne  ruhenden  Fisches  eine  gute  Ernte  zu  erzielen 
(H.  Parker  Ancient  Ceylon,  London  1909  p.  514). 


101):  got.  gawasjan,  ahd.  gawerian  'bekleiden'.  Matronae  Berhuia-henae 
[Westdeutsche  Z.  Korr.  Bl.  Bd.  25,  161):  altgerm.  *berhuiä-  'glänzend', 
was  ebenso  gebildet  ist  wie  der  germanische  Matronenname  Vatnia 
(got.  watö,  an.  vatu  'Wasser',  vgl.  Much  Ztschr.  f.  Deutsch.  Alt.  35,  317). 
*berhuiä  got.  bairhts  'hell,  strahlend',  mhd.  breheii  'plötzlich  und  stark 
leuchten'  ai.  bhräs  'glänzen'.  Das  Suffix  -hena  steht,  wie  bereits  oben 
ausgeführt  ist,  für  germ.  *jenä.  Zu  dieser  von  den  Römern  gebrauchten 
Schreibweise  vgl.  auch  die  bei  Tacitus  Ann.  4,  73  erwähnte  germ.  Göttin 
Baduhenna  (badu  'Kampf').  Über  die  l'-tymologie  anderer  Matronen- 
namen vgl.  F.  KaufFmann  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde  2,  24-46,  Much 
Ztschr.  f.  Deutsch.  Alt.  31,  354f.;  35,  315 flf.  und  ;^74f.;  v.  Grienberger  da- 
selbst 35,  388f.;  36,  314  f.).  Über  die  Aufaniae  vgl.  Lehner  5.  J.  119.  300ff. 
1  Vgl.  J.  Klein  Bonner  Jahrb.  1879,  Bd  67,  66  f;  Ihm  B.  J.  83,  186. 
Auf  einem  anderen  Matronendenkmal,  das  im  Mannheimer  Museum  auf- 
bewahrt ist,  ist  ein  Sessel,  auf  dem  die  Matronen  sitzen,  mit  Delphinen 
geschmückt.  Durch  die  Delphine  sollen  wohl  diese  Göttinnen  als 
Beschützerinnen  charakterisiert  werden;  vgl.  F.  Hang  Archaeol. 
Ztg  XXXIV,  1876,  S.  61.  Delphine  sieht  man  zuweilen  auch  auf  den 
Seiten  von  Matronensteinen  (vgl.  M.  Ihm  Bonn.  Jahrb.  83,  50).  Die 
germanische  Göttin  Nehalennia  ist  mit  einem  Delphin  dargestellt,  Corp. 
Inscr.  Rhen.  28.  Zur  Etyniol.  von  Nehalennia  vgl.  I^uch  Ztschr.  f. 
Deutsch.  Alt.  35,  324 ff.;  Datter  Ztschr.  /'.  Deutsch.  Alt.  31,  208. 


Das  Fischsymbol  im  Jadentiun  und  Christentum  381 

Auf  einer  zu  Tiryns  gefundenen  Scherbe  (frühestens  aus 
dem  8.  Jhdt.  vor  Chr.)  ist  ein  Fisch  zwischen  den  Beinen  eines 
Pferdes  in  der  Richtungr  nach  der  Schamgegend  gemalt  Da 
auf  diesem  Bilde  auch  das  Hakenkreuz  ^^Svastika\  das  Symbol 
einer  alten  Gottheit,  sichtbar  ist,  so  wollte  man  wohl  durch' 
ein  derartiges  Bild  die  Fruchtbarkeit  der  Herde  erwirken.^ 

Bereits  auf  Zeichnungen  der  prähistorischen  Renntierzeit 
scheinen  Fische  als  Symbol  der  Fruchtbarkeit  abgebildet  zu  sein. 
So  z.  B.  auf  einem  Geweihfragment  aus  der  Grotte  von  Lortet, 
wo  sechs  vorzüglich  gezeichnete  Fische  zwischen  den  Beinen 
von  drei  Renntieren  gezeichnet  sind,  welche  wahrscheinlich  deutlich 
auf  den  symbolischen  Sinn  der  Fruchtbarkeit  der  Herde  hinweisen 
sollen.^      Solche   Fisch bilder    werden   wohl    als    ein    magisches 

'  Vgl.  C  Schuchhardt  Schliemanns  Ausgrabungen,  Leipzig  1891  p.  163. 
Das  Hakenkreuz  ist  auch  in  Troja  und  Mykenä  aufgedeckt,  vgl.  C.  Schuch- 
hardt a.  a.  0.  p.  89  u.  275;  K.  v.  d.  Steinen  Prähistorische  Zeichen  und 
Ornamente  in  Festgruß  an  Bastian  1896  p.  250  ff. ;  S.  Reinach  Revue  Arch. 
Ser.  3  T.  XL  (l'.<02)  p.  373—386.  Es  ist  nicht  nur  in  Indien,  sondern  auch 
im  alten  Gallien  ein  religiöses  Zeichen  (vgl  J.  L.  Courcelle-Seneuil  Les 
dieux  gnulois  d' apres  les  tnonuments  figures,  Paris  1910  p.  70  f.  Fig.  23; 
p.  86  Fig.  31— 3->;  p.  118  Fig.  57).  Über  das  Hakenkreuz  als  Grund- 
zeichen des  westsemitischen  Alphabets  vgl.  W.  Schultz  in  Memnon 
Bd  III,  2.  Hakenkreuze  existieren  auch  bei  den  amerikanischen  Urein- 
wohnern, vgl.  A.  K.  Hein  Kreuze,  Haienkreuze  in  Amerika,  Wien  1891: 
Berue  d'Ethnol.  T.  IV,  Paris  1885  p.  14 ff.  Femer  ist  das  Svastika  als 
heilbringendes  Zeichen  aufgedeckt  in  den  prähistorischen  Funden  Böotiens 
{Bevue  Arch.  4.  Ser.  T  XIV  1909  p.  103),  der  iberischen  Halbinsel 
{Bevue  Arch.  4.  Ser.  T.  Xlü  1909  p  30  und  32;  T  XIV  p.  120f.^„  Ungarns 
(S.  V.  Torma  Ethnograph.  Analogien,  Jena  1894  p.  37).  Das  Hakenkreuz 
kommt  auch  bei  den  Germanen  der  jüngeren  Eisenzeit  vor.  .,In  den 
meisten  Fällen  muß  das  Hakenkreuz  nach  der  Art,  wie  es  angebracht 
ist,  als  ein  heiUges  glückbringendes  und  schützendes  Zeichen  aufgefaßt 
werden'-  (S.  Müller  Nord.  Altertumskunde  H,  196).  Ein  heidnischer,  in 
der  Altmark  gefundener  Speer  war  mit  dem  Hakenkreuz  versehen 
(L.  Lindenschmit  Handbuch  d.  deutschen  Altertumskunde,  Braunschweig  1889 
p.  167.  Fig.  58).  Über  das  Svastika  vgl.  auch  M  Hoernes  Urgeschichte 
der  bildenden  Kun.st  1898  p  337-341. 

-  Vgl.  M  Hoernes  Urgesch.  d.  bildenden  Kunst,  Wien  1898,  S.  15. 
Hier  könnten  die  Fischfiguren  auch  ein  glückverleihendes  Symbol  sein. 
In  der  prähistorischen  Zeit  hat  man  auch  Fetische  in  Fischform  verehrt. 


382  1-  Scheftelowitz 

Mittel  für  schnelle  Vermehrunoj  der  Herde  oregolten  haben. 
Also  bei  den  verschiedensten  Völkern  können  ähnliche  Sitten 
und  Anschauungen  ganz  unabhängig  voneinander  entstehen. 
„Es  gibt  Fälle,  wo  eine  verführerische  Ähnlichkeit  .  .  .  den 
Gedanken  an  Abhängigkeit  nahelegt,  während  es  doch  ganz 
natürlich  ist,  daß  unter  ähnlichen  Voraussetzungen  der  religiösen 
Vorstellungswelt  und  unter  ähnlichen  Bedingungen  des  Zeit- 
bewußtseins verwandte  Gedankengänge  erzeugt  werden.''^ 

12.  Jüngere  Vergleiche  mit  Fischen  im  Judentum 
a)  Der  Vergleich    bei   Habakük    1,  14:   „Und   du   machst 
den  Menschen  gleich   den  Fischen   des  Meeres"   bedeutet  nach 
Rabbi    Semüel^,    der    im    Anfang    des    3.  Jahrhunderts    lebte, 

So  hat  ein  in  Archangelsk  (Rußland)  gefundener  Flintstein  die  Gestalt 
eines  Fisches  (vgl.  Jean  Capart  Trimitive  Art  in  Egypt,  London  1905 
p.  154).  Aus  der  prähistorischen  Zeit  sind  uns  auch  sonst  noch  Fisch- 
dai  Stellungen  erhalten.  Diverses  ceuvres  d'art  de  Vepoque  magdcdenienne 
representent  des  poissons  graves  ou  en  faible  relief,  parfois  admirahhinent 
reproduits.  Parmi  ces  representations ,  nous  pouvons  euer  de  la  localite 
typique  de  la  Madeleine:  un  poisson  de  la  famille  de  cyprins,  probable- 
ment  une  carpe,  grave  sur  un  fragment  de  pointe  de  sagaie  en  corne  de 
renne  (British  Museum),  et  un  poisson  ouvert  ou  decharne  laissant  voir 
la  colonne  vertebraJe  et  les  aretes,  grave  sur  plaque  de  schiste  (Museum 
de  Paris).  Laugarie- Basse  a  donne  plusieurs  figurcs  de  poissons,  entre 
autres  un  brocket  sur  corne  de  renne  et  une  t'ruite  (collection  Massenat), 
un  poisson  qui  semble  etre  un  squalius,  grave  sur  une  müchoire  de  renne 
(Museum  de  Paris).  Su/r  une  des  canines  d'ours  retirees  de  la  grotte 
Duruthy  (Landes),  on  voit  un  poisson  qui  paratt  bien  etre  un  brächet 
(Musee  du  Mans).  Knfm  sur  le  remarquable  bdton  de  commandement  de 
la  grotte  de  Montgaudier  (Charentc),  nous  trouvons  d'un  cöte  une  truite, 
ou  saumon,  parfaitement  caracterisee  non  seulement  par  sa  forme  generale, 
mais  encore  par  les  points  dont  eile  est  tachetee  ä  la  partie  superieure  de 
son  Corps,  et  du  cote  oppose  deux  anguilles  ayant  les  faces  ventrale  et 
dorsale  bordees  de  nageovns  continues.  Gabriel  und  Adrien  de  Mortillet 
Le  Prehistorique,  origine  et  antiquite  de  l'homme,  Paris  1900  p.  425.  Auf 
einem  Granitblock  zu  Smolensk  (Rußland)  ist  ein  aus  prähistorischer 
Zeit  stammendes  Bild  eines  Fisches  dargestellt,  Verhandl  d.  Berl.  (res. 
f.  Anthrop.  1877  p.  16. 

'  H.  Holtzmann  Arch.  f.  Eeligionsw.  XII,  386  f. 

*  Talmud  'Ahödä  zärä  8  b  u.  4  a. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  383 

folgendes:  „Wie  bei  den  Fischen  im  Meere  der  größere  den 
kleineren  verschlingt,  so  ist  es  auch  bei  den  Menschen; 
wenn  nicht  die  Furcht  vor  der  Regierung  wäre,  so  würde 
der  Größere  den  Kleineren  verschlingen."  Einen  ähnlichen 
Gedanken  spricht  auch  der  Kirchenvater  Cyrill  von  Alexandrien 
aus.  Der  Satz  Hosea  4,  3:  „Selbst  die  Fische  des  Meeres  ver- 
gehen" bezieht  sich  nach  Cyrill  ^  auf  die  Menschen,  die  sich 
nach  Art  der  Fische  gegenseitig  zu  verschlingen  trachten. 
b)  In  einem  unter  kabbalistischem  Einflüsse  entstandenen, 
mittelalterlichen  hebräischen  Werke  über  altjüdische  Gebräuche 
heißt  es':  „Man  pflegt  am  Neujahrsfeste  Fische  zu  essen;  dieses 
soll  andeuten,  daß  sich  unsere  guten  Handlungen  mehren  mögen, 
wie  die  Fische,  welche  fruchtbar  und  zahlreich  sind;  ferner 
weil  die  Fische  keine  Augenlider  haben  und  ihre  Augen  stets 
oö'en  sind,  um  so  die  ofi'enen  Augen  des  Himmels,  d.  i.  die 
große  Barmherzigkeit  Gottes  zu  erwecken,  denn  siehe  nicht 
schläft,  noch  schlummert  der  Hüter  Israels  (Ps.  121,4).  Aus 
demselben  Grunde  pflegt  man  am  Xeujahrstage  auch  an  einen 
Fluß  zu  gehen,   worin    sich  Fische   befinden,   um    die    ofi'enen 

1  Cyrillus  in  Oseam  4,  3  (In  XII  Prophetas)  Ingolstadii  1607,  S.  126: 

„Eos  qui  imbecilliores  velut  deglutiunt:  mutua  enim  devoratione  pisces 
imprimis  gaudent".  Die  ältesten  Kirchenväter  haben  bekanntlich  häufig 
jüdische  Quellenschriften  eingehend  studiert  und  daraus  Gedanken  ent- 
nommen, so  auch  Tertullianus,  der  um  200  n.  Chr.  lebte.  Letzterer  wendet 
sich  {Libellus  de  spectaculis  reo.  Klussmann,  Kudolstadt  1876)  in  der 
Peroratio  cap.  30  an  diejenigen,  welche  an  heidnischen  Schauspielen  Ge- 
fallen hatten,  und  sagt,  daß  dagegen  den  Frommen  ein  überwältigendes 
Schauspiel  am  Tage  des  letzten  Gerichtes  dargeboten  würde.  Ähnlich 
heißt  es  auch  in  Midras  Rabba  zu  3.  Mos.  13,  3.  Eine  andere  ron  Ter- 
tullian  dem  Judentum  entlehnte  Vorstellung  ist  bereits  in  Abschnitt  1 
behandelt. 

-  Michel  Epstein  Sef'er  qisür  sene  lühöt  hdb-berit,  Fürth  5492 
[1732]  Bl.  73  a.  Ähnlich  in  dem  aus  dem  16.  Jahrhundert  stammenden, 
ebenfalls  kabbalistischen  Werke  Hemdat  haj-jümim,  Abschn.  Seder 
miqeräöt  belel  Bös  haxsänöh;  ferner  Mahzör  fiel  Bös  hassänäh,  Amster- 
dam 5541  Bl.  85  b  Komm.  In  Thüringen  ist  es  Sitte,  am  Xeujahrstage 
Fische,  besonders  Karpfen,  zu  essen  (Mitteilung  des  Herrn  Museums- 
direktors Dr.  W.  Foy). 


384  I-  Scheftelowitz 

Augen  des  Himmels  zu  erwecken,  ferner  weil  wir  mit  lebenden 
Fischen  zu  vergleichen  sind,  welche  plötzlich  in  ein  Netz  ge- 
fangen werden.^  Daher  beeile  man  sich  Buße  zu  tun."  Auch 
Isaak  Lurja  (16.  Jahrhundert)  sagt:  Man  soll  Fische  am  Sabbat 
genießen,  weil  sie  keine  Augenlider  haben  und  dadurch  die 
göttliche  Vorsehung  veranschaulichen.^ 

Diese  kabbalistische  Auffassung,  daß  das  offene  Auge  des 
Fisches  uns  mahnen  solle,  Buße  zu  tun,  erinnert  an  einen 
ähnlichen  buddhistischen  Brauch  in  China.  In  den  Vorhallen 
der  dortigen  buddhistischen  Tempel  und  Klöster  hängt  ein 
langer,  hölzerner  Fisch  in  gewöhnlicher  Größe.  Nun  wird  in 
einem  chinesisch -buddhistischen  Werke  auf  die  Frage,  warum 
in  den  Buddhaklöstern  ein  hölzerner  Fisch  aufgehängt  wäre, 
folgende  Antwort  gegeben:  „Der  Fisch  schließt  niemals,  weder 
bei  Tage  noch  bei  Nacht,  die  Augen.  So  werden  auch  die- 
jenigen, die  ihren  Lebenswandel  zu  erneuern  wünschen,  bei 
Tage  und  bei  Nacht  ihres  Lagers  vergessen,  bis  sie  den  Pfad 
der    Vollkommenheit    erreichen."^     Sowohl    in    dem    jüdisch- 

^  Vgl.  Kölielet  9, 11.  Ähnlich  Talmud  Sanhedrin  81b:  „Ebenso  wie 
die  Fiscbe,  welche  durch  die  Angel  plötzlich  gefangen  werden,  kennt 
der  Mensch  nicht  seine  Stunde  [des  Todes]."  Auch  bei  Homer  werden 
die  von  unerwarteten  Feinden  plötzlich  getöteten  Menschen  mit  Fischen 
verglichen,  die  unvermutet  durch  die  Harpune,  Angel  oder  das  Netz 
ihren  Tod  finden   (Od.  X,  124;  XU,  251  ff.;  XXII,  384 ff,;  11.  XVI,  406 ff.). 

*  Lurjas  Tikkünim,  cap.  über  Sabbat,  vgl.  H.  Graetz  Gesch.  d.Jud.^ 
Bd  9  S.  421.  Lurjas  Ausdruck  „göttliche  Vorsehung"  bedeutet  dasselbe 
wie  die  Phrase  ,,das  offene  Auge  des  Himmels"  im  obigen  Zitat,  denn 
„das  offene  Auge  Gottes  ruht  vermittels  der  Vorsehung  über  Israel" 
heißt  es  bei  Michel  Epstein  S'efer  qisur  scne  lühöt  hab-herit  Bl.  73a 
Dieses  geht  auf  Jerem.  32,  19  zurück:  „Dessen  Augen  offen  sind  über 
alle  Wege  der  Menschen,  jedem  nach  seinem  Wandel  nach  der  Frucht 
seiner  Handlungen  zu  lohnen."     Vgl.  auch  Hiob  14,  3. 

'  Vgl.  0.  Frauke  bei  Pischel  Sitz.  B.  Fr.  Ak.  Miss.  19wö,  S.  528. 
Im  Reichsmuseum  zu  Leiden  ist  ein  aus  Japan  stammender  hölzerner 
Fisch,  der  angeblich  beim  buddhistischen  Gebet  verwendet  wird,  worauf 
mich  Herr  Dr.  W.  Foy  aufmerksam  macht.  Auch  in  Korea  hängen  in 
buddhistischen  Klöstern  hölzerne  Fische  (The  National  Geographical 
Magazine  1908  Vol  XIX  p.  501). 


I 


Das  Fiscbaymbol  im  Judentum  and  Christentum  385 

kabbalistischen  als  auch  in  dem  chinesischen  Werke  sind  für 
alte  Bräuche,  deren  ursprünglicher  Sinn  in  Vergessenheit  ge- 
raten ist,  neue  Erklärungen  gegeben.  Daß  die  gleichen  Illu- 
sionen sich  bei  den  verschiedensten,  weit  voneinander  lebenden 
Rassen  wiederholen  können,  liegt  in  der  Gleichartigkeit  des 
psychologischen  Vorganges  aller  Menschen  begründet. 

Nachträge  und  Berichtigungen 

S.  4 f.  Herr  J.  J.  Kahan,  em.  Lehrer  am  Institutum  DeUtzschianum, 
macht  mich  freundlichst  aufmerksam,  daß  in  Talmud  Qiddusin  25a 
Gelehrte  verschiedener  Beanlagung  mit  heißen  und  kalten  Fischen 
verglichen  werden.  Allein  diese  Deutung  ist  zweifelhaft.  Die 
Rabbinen  sagen  in  Qiddusin  25  a  zu  Rabbi  Hsmenünä,  als  er 
keinen  großen  Scharfsinn  an  den  Tag  legte:  „Du  solltest  nicht 
Hamenünä  heißen,  sondern  Qamünä'^  Ein  Kommentator  i^Tösafist) 
des  12.  Jhdts  meint  nun.  Hamenünä  stehe  hier  für  ham-nünä 
('warmer  Fisch'),  während  Qamunä  in  qar-nünä  f kalter  Fisch') 
zu  zerlegen  sei.  Allein  der  im  11.  Jhdt  lebende  ältere  Kommen- 
tator Rasi  kennt  diese  Auslegung  nicht. 

Zu  S.  9.  Im  Lalitavistara  (ed.  Lefmann  S.  92,18)  sagt  Buddha  von  sich: 
„Der  Yemichter  von  Alter  und  Tod,  der  beste  der  Ärzte  werde 
ich  sein,  das  höchste  Wesen". 

Zu  S.  10  Z.  12  ff.  Bereits  im  Midras  Jona  wird  das  Grab  mit  dem  Fisch, 
der  den  Jona  verschlungen  hatte,  verglichen:  „Der  Bauch  des 
Fisches  ist  die  Unterwelt,  weil  es  heißt  (Jona  2,  3):  'Aus  dem 
Bauche  der  Unterwelt  habe  ich  gefleht'.  Jona  befand  sich  im  Bauche 
des  Fisches,  der  von  der  hl.  Schrift  als  Bauch  der  Unterwelt  bezeichnet 
wird ,  drei  Tage  und  drei  Nächte.  Das  sind  die  drei  Tage ,  die  die 
Seele  im  Grabe  zubringt  .  .  .  Nach  Verlauf  von  drei  Tagen  richtet 
Gott  die  Seele  .  .  .  Ebenso  wie  auf  Gottes  Geheiß  der  Fisch  den 
Jona  ans  Land  spie,  so  werden  in  der  messianischen  Zeit,  wenn 
die  im  Staube  Ruhenden  erwachen,  alle  Gräber  die  Toten,  die  in 
ihnen  sind,  ausspeien"  (vgl.  Jellinek  Bet  Ham-midrasch  I  p.  104f.). 

S.  15  Z.  25  statt  'Identifizierung*  lies  'Verbindung'. 

S.  20  Z.  17  ff.  Das  Schwanzstück  des  Thunfisches  galt  im  Altertum  als 
ein  Leckerbissen  (vgl.  L.  Lewysohn  Zoologie  des  Talmuds,  Frank- 
furt a.  M.  1858  p.  254). 

S.  22.     Anmerk.  3:  lies  n^üTr. 

S.  23.  Anmerk.  2.  Die  Anschauung,  daß  bei  der  Wiederauferstehung  die 
Posaune  ertönen  wird,  findet  sich  auch  im  N.  T.,  vgl.  Matth.  24,  31 ; 
1.  Kor.  15.  52;  1.  Thess.  4,  16.  Auch  in  der  german.  Mythologie 
ertönt  yor  Beginn  des  Weltuntergangs  Heimdalls  Hörn  (vgl. 
A.  Olrik,  Altnord.  Geistesleben  1909  p.  267 f.;  468). 

Archiv  f.  Beligiouswissenschaft  XXV  26 


386  I-  Scheftelowitz 

S.  27  Z.  4—5  lies:  lim  üiob  •^'^m  NiTon. 

Zu  S.  35  letzte  Zeile  vgl.  auch  Talm.  Beräköt  18  a:  „Die  Frommen 
werden  nach  ihrem  Tode  die  Lebenden  genannt". 

Zu  S.  39  f.  Der  S.  39  f.  geschilderte  Kampf  des  Behemct  mit  dem  Fisch- 
ungeheuer Leviatan  hat  nichts  zu  tun  mit  dem  im  babylonischen 
Gilgamesch-Epos  erwähnten  Zweikampf  des  Marduk  mit  dem 
Drachen  Tiamat.  Drachenkämpfe,  die  an  die  babylonische  Dar- 
stellung erinnern,  finden  sich  in  den  Mythologien  der  ver- 
schiedensten Völker;  s.  E.  Siecke,  Drachenkämpfe,  Myth.  Bibl.  I  1. 
So  kämpft  der  altindische  Gott  Indra  mit  dem  Wasserdrachen 
Vrtra  (z.  B.  Rgveda  I  33,  13;  51,  4;  52,  8;  61,  10;  63,4;  80,  2—13; 
II  11,  8,  18)  und  im  altenglischen  Epos  Beowulf  mit  dem  Wasser- 
ungeheuer Grendel.  In  der  altgermanischen  Mythologie  kämpft 
Siegfried  mit  dem  Drachen,  ferner  Dietrich  von  Bern  mit  dem 
Meerriesen  Ecke  (vgl.  K.  Müllenhoff  in  Haupts  Ztschr.  f.  D.  Alt. 
Bd.  VII  423  flf.).  In  der  nordischen  Mythologie  bekämpft  der  Gott 
Freyr  den  Meerriesen  Beli.  Man  vergleiche  ferner  Thors  Kämpfe 
mit  der  Midgardschlange.  Sowohl  Beowulf  als  auch  Thor  sterben, 
nachdem  sie  den  Drachen  besiegt  haben,  an  den  Wunden,  die 
ihnen  der  besiegte  Drache  geschlagen  hat  (vgl.  K.  Simrock,  Hdbch. 
d.  Deutsch.  Myth.  5.  Aufl.  p.  192  f.).  Diesen  Zug  haben  sie  ztilallig 
mit  dem  messianischen  Kampf  des  Behemöt  und  Leviatan 
gemeinsam.  Auch  in  der  deutschen  Sage  besiegt  Winkelried  den 
Lindwurm,  stirbt  aber  selbst,  vom  Drachenblut  vergiftet  (Gebrüder 
Grimm,  Deutsche  Sagen  Nr.  217).  Im  Griechischen  besiegt  Herakles 
die  lernäische  Hydra.  Über  weitere  Drachenbesieger  vgl.  E.  Sidney 
Hartland,  Legend  of  Perseus  Vol.  III. 

S.  41.  Auch  nach  dem  ägyptischen  Glauben  bestimmten  die  Gestirne 
das  Schicksal  der  Menschen.  Vermittels  der  Astrologie  konnte  man 
das  Geschick  vorausbestimmen.  ,,  Hierauf  beruht  der  Gedanke,  Horos- 
kope aufzustellen,  öfters  wird  derartiger  Berechnungen  in  Ägypten 
gedacht  und  späte  Papyri  enthalten  Sphären,  d.  h.  Tabellen,  mittels 
deren  man  die  Schicksale  der  Menschen  aus  gegebenen  Größen, 
dem  Geburtstage  und  Ähnlichem  berechnen  konnte"  (A.  Wiede- 
mann,  Die  Religion  der  allen  Ägypter,  Münster  1890  S.  140 f.). 

Zu  S.  43.  Nach  Jätaka  I,  51,  3 f.  war  in  dem  Momente,  als  Buddha  in 
den  Mutterleib  eintrat,  ein  unermeßlicher  Glanz  in  der  Welt 
sichtbar  (vgl.  auch  Lalitavistara  ed.  Lefmann  51,  7).  Bei  der  Ge- 
burt Buddhas  ,, erglänzte  die  Sonne  in  ungewöhnlicher  Weise, 
mit  lieber  Fhimme  leuchtete  unbewegt  das  Feuer"  (A^vaghosa, 
Buddhacarita  I,  41).  —  Mit  der  Geburt  Abrahams  ging  gemäß 
einem  Midras  ein  gewaltiger  f-tern  auf,  der  vier  andere  Sterne 
am  Himmel  verschlang.  Die  Sterndeuter  brachten  diesen  ge- 
waltigen  Stern   mit   Abraham   in  Verbindung  {Sammlung  kleiner 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  387 

Midraschim  You  Ch.  M.  Horowitz,  Berlin  1881  T.  1  S.  43f.).  Antike 
und  christliche  Analogien  gibt  A.  Dieterich  (in  seinen  demnächst 
erscheinenden  Kleinen  Schriften  S.  277). 

S.  46.  Die  12  Tierkreisbilder  werden  in  Verbindung  mit  den  12  Monaten 
auch  in  Pirqr-  Rabbi  Eli'ezer  cap.  6  aufgezählt. 

S.  47.  Gemäß  einem  späten  Midrds  erscheint  der  Messias  im  zwölften 
Monat,  nämlich  am  20.  Adar  {Apolal.  des  Elias  in  Jellinek, 
Bet  Hamviidrasch  III,  6«). 

^.  49.  Nach  Professor  F.  Peiser  ist  das  Wort  "jir  in  der  Psalmstelle  72, 17, 
auf  welcher  die  talmudische  Auslegung  beruht,  verderbt. 

S.  50.  Im  Jalqut  hameqiri  I  (zu  den  Psalmen)  ed.  Buber,  ßerditschew 
1899  Abschn.  86  werden  7  Namen  für  Messias  aufgezählt,  worunter 
ebenfalls  Jinon  erwähnt  wird. 

S.  323  Anm.  Der  Badaga  in  den  Nilgiribergen  (Ostindien)  glaubt  an 
eine  „Fadenbrücke",  die  ins  Jenseits  führt  (R.  Andree  Ethno- 
graphische Parallelen  N.  F.  27).  Auch  die  Ureinwohner  Amerikas 
nahmen  einen  breiten  Totenstrom  an,  der  die  diesseitige  Welt 
vom  Jenseits  trennte.  Nach  der  Anschauung  der  nordamerikanischen 
Indianer  wurde  er  durch  einen  langen  Balken  überbrückt,  über 
den  jede  Seele  schreiten  muß.  Während  die  Seelen  der  Tapferen 
und  Guten  ungehindert  hinübergelangen,  fallen  die  Seelen  der 
Feiglinge  und  Schlechten  in  den  Strom  hinab  (Peter  Jones  History 
ofthe  Ojebicay  Indians,  London  1861  p.  102f.).  Nach  dem  Glauben 
der  südamerikanischen  Indianer  erreicht  man  entweder  mittels 
einer  Brücke  oder  eines  Bootes  oder  eines  Flosses  aus  Spinngeweben 
die  Unterwelt.  An  der  Grenze  des  Jenseits  stellt  sich  der  Seele  des 
Araukaners  (Südamerika)  ein  böses  altes  Weib  feindselig  entgegen, 
um  ihr,  wenn  sie  unterliegt,  ein  Auge  auszustechen  (Th.  Koch 
Änimismiis   der   südamerikanischen  Indianer,  Leiden  1900  p.  129). 

S.  330.  Heringe  und  Haberbrot  ist  die  herkömmlichste  Speise  des  Thor 
(K.  Simrock,  Handbuch  d.  deutschen  Mythol.®  Bonn  1887,  270). 
Karpfen  und  süßer  Brei  war  die  Lieblingsspeise  der  Berchta 
(K.  Simrock  a.  a.  0.  p.  395). 

S.  336.  Auch  die  Cherokees  (Amerika)  glaubten  an  Fischgottheiten 
(7"'  Ännual  Report  of  the  Bureau  of  Americ.  Ethnol.  1885/86 
Washington  1891  p.  340).  Nach  der  Anschauung  der  Ojebway 
Indianer  hausten  in  den  Fischen  göttliche  Geister  (Peter  Jones 
History  ofthe  Ojebtcay  Indians  p.  104). 

S.  347.  Das  Bild  des  Hechtes  schützt  das  Haus  in  Oldenburg  vor  Schaden 
(S.  Seligmann  D.  böse  Blick  1910  11,  122).  Bei  Krankheiten  der 
Kinder  und  des  Viehes  binden  die  Kirgisen  Fischzähne  um  dieselben 
(R.  Karutz  Unter  Kirgisen  und  Turkmenen,  Leipzig  1911  p.  133). 
In  der  Mark  herrscht  der  Glaube,  daß  derjenige,  der  das  ganze 
Jahr  hindurch  Glück  haben  will,  am  Neujahr  Heringe  essen  muß. 

25* 


388  I-  Scheftelowitz 

Zu  diesem  Zwecke  genießt  man  im  Wittenbergischen  Heringssalat, 
in  der  Lausitz  und  in  Steiermark  Karpten  am  Neujabr  (K.  Simrock 
Handbuch  der  deutschen  Mythol.''  p.  549  f.).  Auch  in  Thüringen 
pflegt  man  an  diesem  Tage  Karpfen  zu  essen  (Mitteilung  des 
Herrn  Dr.  W,  Foy).  Nach  dem  altdeutschen  Kaleader  begann  das 
Jahr  mit  d  em Winteranfange,  nämlich  dem  Martinstage  (11.  November). 
An  diesem  sogenannten  Jahresanfänge  wurden  von  den  Kindern 
gebackene  Fische  nebst  Kuchen  eingesammelt  (K.  Simrock,  Hdbch 
d.  deutsch.  Mythol.**  p.  564  und  551).  Der  Aprilfisch  als  Glücks- 
zeichen ist  französisch.  Fische  werden  zum  1.  April  in  Belgien 
auch  aus  Schokolade  oder  als  Bonbonniere  zugestellt  (Mitteilung 
des  Herrn  Dr.  W.  Foy)  Diese  französische  Sitte  hat  sich  auch 
in  Tunis  eingebürgert.  Was  im  Sternzeichen  der  Fische  gepflanzt 
wird,  gedeiht  nach  dem  mecklenbui-gischen  Volksglauben.  Im 
Erzgebirge  hält  man  die  im  Zeichen  der  Fische  geborenen  Kinder 
für  glücklich  (A.  Wuttke  Deutscher  Volksaberglaube  \  p.  88).  Gemäß 
dem  Talmud  Ketüböt  61a  erhält  ein  Kind  ein  schönes  Äußere,  wenn 
die  Mutter  während  ihrer  Schwangerschaft  große  Fische  ißt. 

S.  349 f.  Der  Talmud  Sanhedrin  66a  bestätigt,  daß  Fische  als  Augurium 
benützt  wurden:  In  den  Bewegungen  der  Fische  sahen  die  Cherokees 
(Amerika)  ein  Omen  (7''«  Annual  Beport  of  the  Bureau  of  Amerika 
Ethnol.  1885/86  Washington  1891  p.  336).  Auf  einer  zu  religiösen 
Festen  verwendeten  Maske  derHopi-lndiauerist  ein  Fisch  auf  dem  Ge- 
sichte gemalt.  Dieses  Fischbild  soll  die  göttliche  Kralt  besitzen,  den 
erwünschten  Regen  zu  bringen  (^i'A  Annual  Beport  of  the  Bureau 
ofAmeric.  Ethnol.  1899/1900  Washington  1903  p.  113 f  und  PI.  LXU). 

Zu  S.  352  Anmerk.  Das  römisch  -  germanische  Zentralmuseum  Mainz 
besitzt  eine  römische  Gewandnadel,  die  aus  zwei  aneinandergefügten 
Delphinen  besteht  (Nr  0  5560).  Fundort  Donapentele,  Ungarn. 
Über  römische  Vasen  mit  Delphinbildern,  die  in  Frankreich  ge- 
funden sind,  vgl  Joseph  Dechelette  Les  vases  ceramiques  omes  de 
la  Gaule  Bomaine,  Paris  1904  T.  II  p.  150  f.  Auf  einer  antiken 
Lampe  sind  zwei  gegeneinander  herabstürzende  Delphine  dar- 
gestellt (Bonn.  Jahrb.  61,  1877,  104). 

S.  354.  Römische  Gewandnadeln  in  Fischgestalt  sind  in  Mainz  und  im 
Litnea-Castell  ürspring  gefunden  worden  (Römisch-Germ.  Zentral- 
museum, Mainz  Nr.  1385  und  20727,  vgl.  0.  v.  Sarwey  und 
K.  Fabricius,  D.  obergerm.-raetische  Limes  des  Bömerreiches,  Heidel- 
berg 1905  Lief.  XXIV  Taf  IV  Nr.  23).  Ein  fränkisches  Schwert 
aus  dem  6.  Jhrt  n.  Chr.,  gelunden  zu  Andernach,  ist  mit  zwei 
Fischbildern  versehen  (Proviuzialmuseum  Bonn,  Kopie  im  Römisch- 
Germ,  Zentralmuseum,  Mainz).  Die  Mirmillonen,  eine  Art  römischer 
Gladiatoren,  trugen  Helme,  auf  deren  Spitxe  ein  Fisch  zu  sehen 
war  (Schol.  Juvenal  8,200).    Da  Fische  gegen  böse  Einflüsse  schützen. 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  389 

wurde  der  Fisch  hänfig  bei  den  Römern  als  Töpfermaake  genommen 
(vgl.  W.  Ludovici  Stempelnamen  römischer  Töpfer  von  meinen 
Aiisgrabu/ngen  in  Rheinzabem  1904  p.  88;  ders.  Stempelbilder 
römischer  Töpfer  aus  meinen  Ausgrabungen  in  Rheinzabern  1905 
p  93,  199,  208,  229:  ders  Römische  Töpfer  in  Rheinzabem  1908 
p.  81—83).  Deshalb  sind  auch  Fische  auf  antiken  Vasen  abgebildet, 
vgl.  Joseph  Dechelett«  Les  vases  ceramiques  ornes  df  la  Gaule 
Romaine  T.  II  p  151).  —  Die  mykenische  Keramik  weist  „den  vor 
Bämtlichem  andern  Zierrat  beliebtesten  Tintenfisch  mit  seinen 
funkelnden  Glotzaugen  und  den  riesig  sich  anschlängelnden  Fang- 
armen" auf  (F.  Höber  Griech.  Vasen,  München  1909  p.  11).  J.  de 
Mot,  TJie  decU-fish  in  ancient  art  {Rec.  ofPast,  Washington  l'.nO  IX, 
:i76 — 278)  notes  devil-fish  in  Mycenean  art.  This  creature  .  .  .  fur- 
nished  to  the  art  of  the  Egean  Archipelago  some  characteristic  images 
(Translat.  by  H.  M.  Wright  from  the  original  article  in  Bull,  du 
Mus  Roy.  d.  Arts  Decor.  et  Industr.  Bruxelles  i:>07),  vgl.  American 
Anthropologist  Vol.  XII  p.  645.  Der  Eskimo  glaubt,  daß  kleine 
Walfischfiguren  aus  Holz  oder  Elfenbein  ihm  Glück  gewähren 
{18">  AnnuMl  Report  of  the  Bureau  of  Americ.  Ethnöl.  1896'97 
Washington  1899  p.  439  f ).  Bei  den  Sinhalesen  schützt  ein  Fisch- 
bild vor  Mißerfolgen;  es  kommt  häufig  auf  alten  sinhalesischen 
Vasen  vor  (A.  K.  Coomaraswamy  Mediaeval  Sinhalese  Art  1908, 
p.  88.  226,  Fig.  69  u.  137;  PI.  I  u.  XXV,  2). 

S.  358.  In  Ägypten  hat  man  daher  manchen  Fisch  wie  A>"iijMtes  mumifiziert 
(vgl.  Lortet  und  Gaillard  Archives  du  Museum  de  Lyon  T.  VIII — IX). 

S.  359.  Auch  die  Angoni  (Britisch  Zentralafrika)  rühren  keine  Fische 
an  (A.  Werner  The  natives  of  British  Central  Africa,  London 
1906  p.  95  f.). 

S.  360.  Über  den  fischförmigen  Sarg  auf  den  Salomo-Inseln  vgl.  auch 
Globus  Bd.  86  (1904)  p   368. 

S.  364.  Die  Cherokees  (Ameriki)  essen  nur  mit  Widerstreben  Fische, 
da  sie  glauben,  daß  der  Geist  des  toten  Fisches  sich  an  ihnen 
rächt  und  sie  mit  Krankheiten  heimsucht.  Daher  rührt  der  Kranke 
überhaupt  keinen  Fisch  an  (7'*  Annual  Rep.  of  the  Bureau  of 
Americ.  Ethnol.  p.  330 ;  lO'fi  Ann.  Rep.  of  the  Bureau  of  Americ. 
Ethnöl.,  Washington  1900  p.  307).  Auf  der  Wand  eines  in  Hon- 
duras bloßgelegten  vorhistorischen  Grabgewölbes  ist  ein  Fisch 
gemalt.  Ein  anderes  vorhistorisches  Indianergrab  in  Honduras 
enthielt  in  der  Totenurne  eine  kleine  Fischfigur  neben  13  anderen 
kleinen  Tierfiguren  und  vier  menschlichen  Figuren.  Da  jede 
Figur  ein  Loch  zum  Anhängen  hat,  so  scheinen  sie  als  Amulette 
gedient  zu  haben  {19f'  Annual  Report  of  the  Bureau  of  Americ. 
Ethnol.  Washington  1900  P  II  p,  667  und  683  f.).  Ebenso  sind 
in    den  vorhistorischen  Gräbern    der  Florida -Halbinsel   und    auch 


390  I-  Scheftelowitz 

sonst  in  den  östlichen  Gegenden  der  Vereinigten  Staaten  fisch- 
geformte Tontöpfe  gefunden  worden  (5ö"«  Ann.  Eeport  of  the 
Bureau  of  Americ.  Ethnol.,  Washington  1903  p.  85.88.95  und 
PI.  XXIII;  124  nebst  PI.  XCVII).  Eine  frappante  Parallele  zu 
diesen  Erscheinungen  finden  wir  in  den  griechischen  und  römischen 
Gräbern.  In  der  Oberpfalz  glaubt  man,  daß  die  armen  Seelen 
als  kleine  schwarze  Fische  fortleben,  die  nicht  gefangen  werden 
können  (A.  Wuttke,  Deutscher   Volksaberglaube  ^  479). 

S.  365.  Diese  weitverbreitete  Vorstellung  von  dem  Seelenfisch  hat  in 
manchen  Gegenden  die  Juden  beeinflußt.  Gemäß  einer  jüdischen 
Sage  des  16.  Jhrts,  die  im  Ma'ase  Hasem  berichtet  wird,  sprang 
aus  dem  Kopfe  eines  Fisches,  den  die  Tochter  des  Rabbi  Lurja 
für  den  Sabbat  zubereiten  wollte,  ein  Geist  heraus  und  fuhr  in 
das  Mädchen  ein,  so  daß  sie  betäubt  niederfiel  (vgl.  Mitteil.  d.  Ges. 
f.  jüd.  Volkskunde,  1898  Heft  II,  56).  Eine  andere  jüdische  Sage 
aus  Rawitsch  berichtet,  daß  einst  ein  Köchin  im  Hause  des  dortigen 
Rabbi  Fische,  die  sie  soeben  in  den  Topf  gelegt  hatte,  klagen 
hörte.  Der  Rabbi  ließ  daraufhin  den  Fisch  auf  dem  Friedhofe 
begraben  {Mitteil.  d.  Ges.  f.  jüd.  Volksk.  1898  Heft  1  p.  69). 

Zu  S.  366  Anmerk.  Auch  nach  der  Auffassung  südamerikanischer  Stämme 
konnte  die  Seele  mittels  eines  Nachens  über  den  Totenstrom  über- 
gesetzt werden  (Th.  Koch  Animismus  der  südamerik.  Indianer  p.  129). 
Die  Neger  im  Togogebiet  kennen  gleichfalls  das  Totenschiff  und 
den  Totenfährmann,  der  die  Seelen  über  den  breiten  Totenfluß 
bringt,  weshalb  man  dem  Toten  Scheidemünzen  als  Fährgeld  ins 
Grab  mitgibt  {Globus  1902  p.  187).  Die  Malaien  legen  Figuren 
von  Booten  auf  das  Grab  (Ratzel  Völkerkunde  2,483).  Aus  dem- 
selben Grunde  wird  in  manchen  bergischen  Orten  der  uralten 
Sitte  entsprechend,  den  Grabhügeln  die  Form  von  Schiffen  ge- 
geben (Schell  Arch.  f.  Religionstv.  IV,  317).  In  Indien  legte  man 
auf  das  Grab  Rohr  hin  mit  den  Worten:  „Dieses  Rohr  besteige 
als  Fahrzeug;  auf  dem  Rohre  gehe  den  Weg;  mit  dem  Rohr- 
fahrzeug fahre  hin,  fahre  vorwärts,  fahre  hinauf"  (H.  Oldenberg, 
Bei.  d.  Veda  545  Anm.  2).  Nach  Atharvaveda  XVIII,  8  halten  sich 
die  Abgeschiedenen  in  der  See  auf,  vgl.  R  V.  X,  16,3;  56,7; 
58,  7.  Auch  die  Buddhisten  glauben  an  den  Totenfluß,  über 
den  die  Seele  mittels  eines  Bootes  hiniibergelangt  (R.  Andree, 
Ethn.  Farall.  N.  F.  28).  Bei  den  Katschin,  die  an  der  chine- 
sisch-birmanischen Grenze  wohnen,  existiert  ebenfalls  das  Seelen- 
boot (Andree  E.  P.  N.  F.  27).  Die  Shans  nehmen  dasselbe  an, 
daß  die  Seele  mittels  eines  Bootes  vom  Seelenfährmann  über 
den  Strom  gesetzt  wird.  Deshalb  wird  dem  Toten  ein  Geldstück 
als  Fährgeld  beigegeben  (Leslie  Milne  Shans  at  home  1910,  59;  90). 
Die  Japaner  legen  den  Seelen  ihrer  Verstorbenen,  die  sie  einmal 


Das  Fischsymbol  im  Judentum  und  Christentum  391 

im  Jahre  am  Latemenfeste  auf  kurze  Zeit  zu  sich  ins  Haus  zu 
laden  pflegen,  am  dritten  Tage  Speise  und  Zehrgeld  in  ein  stroh- 
geflochtenes Schiffchen  und  setzen  es  mit  papierenen  Segeln  aufs 
Wasser,  daß  es  hinaus  in  die  See  treibe  (F.  Rock  Globus,  Bd  95, 
239).  Da  man  auch  als  Vogel  über  den  Strom  gelangen  kann,  so 
scheint  sich  auch  die  Idee  des  Seelenvogels  gebildet  zu  haben. 
In  den  deutschen  Märchen  trägt  der  Vogel  Greif  über  den  Strom 
(K.  Simrock,  Handb.  d.  deutschen  Mythol.  *  p.  255).  Über  den 
Seelenvogel  vgl.  v.  Xegelein  Globus  Bd.  79,  357  f.,  G.  Weicker  Der 
Seelenvogel  in  d.  alten  Literatur  u.  Kunst  1903 ;  J.  Goldziher,  Globus  83 
p.  301  ff.  Auf  Nuguria  wird  die  Seele  zum  Seevogel  (G.  Thilenius 
Ethnogr.  Erg.  atis  Melanesien  I,  67). 

S.  369.  Der  Skorpion  war  ein  Schutzmittel  gegen  dämonische  Einflüsse. 
Daher  findet  er  sich  auf  antiken,  in  Italien,  Sizilien  und  Afrika 
gefundenen  Zaubemägeln,  Lampen,  Amuletten  und  Gemmen. 
Eine  byzantinische  Medaille  aus  versilbertem  Kupfer  ist  ebenfalls 
mit  einem  Skorpion  verziert  (S.  Seligmann  D.  böse  Blick  II  132, 
151  f.,  206,  313f.;  Bonn.  Jahrb.  61,  110;  63,  94).  Ein  mykenisches 
Amulett  aus  Gold  in  Gestalt  eines  menschlichen  Herzens  zeigt  in 
Relief  einen  Skorpion,  eine  Schlange,  Spinne,  Hand,  Spirale  und 
einen  Stern  (F.  v.  Duhn  ^rcA. /'.  J?e/.Vn,  273).  In  den  aufgedeckten 
Favissae  eines  altgriechischen  Heiligtums  zu  Knosos  sind  Abdrücke 
von  Gemmen  zahlreich  vertreten,  welche  Skorpionen,  Fische, 
Löwen  und  Vögel  darstellen  (vjjl.  G.  Karo  Arch.  f.  Bei.  VÜI,  147). 
Ebenso  befinden  sich  auf  einem  zu  Gezer  (Palästina)  gefundenen 
Siegel  Skorpione,  Fische  neben  Antilopen,  Vügeln  usw.  (Gress- 
mann  Ältorientalische  Texte  und  Bilder  11  1909  p.  107  Abbild.  217). 

S.  372.  Zwei  spätrömische  Bronze-Amulette,  die  in  Ungarn  gefunden 
sind,  haben  die  Form  eines  Raubvogels,  der  mit  seinen  Krallen 
einen  Fisch  festhält  und  mit  seinem  Schnabel  darauf  beißt  (im 
Besitze  des  Rom  -Germ.  Zentralmuseums,  Mainz  Nr.  0  4292).  Eine 
altdeutsche  wohl  aus  dem  8.  Jbdt  stammende  Türverzierung  aus 
Pfaffenhofen  zeigt  uns  dasselbe  Motiv:  Zwei  Vögel,  die  im  Schnabel 
je  einen  Fisch  haben  (Rom. -Germ.  Zentralmuseum,  Mainz).  Auf 
mehreren  römischen  Vasen  ist  ein  Mann  abgebildet,  der  mit  der 
Angel  einen  Fisch  fängt  (J.  Dechelette  Les  vases  ceramiques, 
Paris  1904  T.  II,  152).  Schon  bei  Homer  (II.  16,  406  ff.)  wird  der 
unterliegende  Feind  mit  einem  Fische  verglichen,  den  man 
mittels  der  Schnur  und  der  ehernen  Angel  aufwärts  aus  den 
Fluten  gezogen  hat  und  der  nun  seinen  Geist  aufgeben  muß. 
Da  der  Fisch  die  Seele  eines  Menschen  in  sich  bergen  kann,  so  wird 
er  im  Zauber  als  Ebenbild  des  Feindes  gedacht.  Indem  nun  der 
Zaubernde  dieses  Ebenbild  seines  Feindes  unschädlich  macht,  glaubt 
er  hierdurch  den  Feind  selbst  zu  treffen.   Auf  einem  altbabylonischen 


392  I.  Scheftelowitz 

Siegel  trägt  eine  Person  in  der  Linken  zwei  Fißche  an  einer  Schlinge, 
während  die  Rechte  einen  Stab,  woran  eine  Schildkröte  hängt, 
über  der  Schulter  hält  (Gros  Nouvelles  fouilles  de  Tello  32  ff.)- 

S.  376.  Bei  den  sephardischen  Juden  in  Serajevo  ist  es  Brauch,  daß  die 
Verwandten  eines  neuvermählten  Paares  dessen  neues  Heim  auf- 
suchen und  jeder  von  ihnen  nacheinander  Fische  zu  den  Füßen 
der  Braut  niederlegt,  über  welche  dann  die  Braut  hinüberhüpfen 
muß  {Globus  1891  p.  128). 

S.  378.  In  einer  buddhistischen  Sekte  wird  die  Yoni  („der  Mutterleib") 
versinnbildlicht  durch  zwei  an  ihren  Schwänzen  fest  zusammen- 
gefügte Fische,  die  derart  einander  zugebogen  sind,  daß  sie  eine 
Herzform  bilden,  die  aber  an  den  beiden  Köpfen  eine  schmale 
Öffnung  zum  Innern  bat  {Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society 
Vol.  XVIII,  p.  392  T.  II).  Der  Liebesgott  heißt  bei  den  Indem 
auch  „der  den  Fisch  als  Symbol  hat"  {minaketu,  tmnadhvaja, 
mlnalänchana,  mlnänka  (Böhtlingk  Sskr.  Wtb.  V,  81  f.,  Vaijanyanti 
ed.  Oppert  p.  5  V.  54,  Benfey  Pancatantra  II,  184).  Der  Fisch 
versinnbildlicht  hier  die  Fruchtbarkeit.  Nach  einer  indischen 
Legende  wurde  ein  Fisch  gekocht.  l'ie  Kuh,  die  die  Fisch- 
suppe trank,  die  Dienerin,  die  von  dem  Fische  naschte  und 
die  Königin,  die  den  Fisch  aß,  gebaren  sämtlich  nach  neun 
Monaten  ein  Kind  (De  Gubernatis  Tiere  in  der  indogerma- 
nischen Mythologie  1  cap.  3).  Eine  genaue  Parallele  hierzu  bietet 
das  in  der  Anmerkung  mitgeteilte  lettische  Märchen.  —  Im 
Mittelalter  glaubte  man,  daß  der  Genuß  von  Fischen  die  Zeu- 
gungskraft fördere.  Der  im  11.  Jhdt  lebende  Bischof  Burchard 
von  Worms,  der  eine  Sammlung  kanonischer  Verordnungen  über 
Bußen  zusammenstellte,  erwähnte  den  Brauch,  daß  die  Ehefrauen, 
wenn  sie  die  Zeugungspotenz  ihres  Mannes  und  seine  Libido 
erhöhen  wollten,  ihm  Fische  zu  essen  gaben  (Burchard  io«  communes, 
Cöln  1560  p.  200V  Die  Suaheli  vergleichen  die  Braut  in  der  Hoch- 
zeitshymne mit  einem  Fischnetz.  „Jeder  Fisch  pflegt  darin  hinein- 
zugehen" (C.  Veiten  Sitten  u.  Gebräuche  d.  Suaheli  1908,  126).  Der 
altbabylonischen  Göttin  der  Fruchtbarkeit,  Istar,  pflegte  man  7  Fische 
zu  opfern  (H.  Zimmern  Babylon.  Hymnen  2.  Ausw.  1911  p.  16). 

S.  379.  Über  den  Matronenkult  vgl.  auch  Ihm  in  Roschers  Lex.  d.  Gr. 
und  Köm.  Mythol.  Bd.  II  Sp.  2464-2479. 

S.  381  Anmerk.  Gefäße  mit  Hakenkreuzen  verziert  sind  ferner  gefunden 
worden  zu  Canosa  (M.  Mayer  Keramik  d.  vorgeschichtl.  Apuliens, 
Mm.  Mitt.  XIX,  1904  p.  291),  zu  Thera  (E.  Pfuhl  Ath.  Mitt.  XXVIII, 
190S  p.  120  Beil.  XI  Fig.  5  a),  zu  Kurgan  in  Transkaukasien,  Verh. 
d.  Berl.  Ges.  /.  Anthrop.,  Ethnol.  1902  p.  174f.  und  184 f  Svastika 
auf  Götter  darstellenden  Masken  der  Hopi- Indianer  {21*'>  Rep.  of 
tht  Bureau  of  Americ.  Ethn.     Washington  1908  p   114  PI  L). 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods 

Von  Konrat  Ziegler  in  Breslau 

Moveai  JJuQi^d^iv,  aotörjßtv  xkeiovöcci 
devxe,  JT  ivvinexE^  6<pixsQov  ncaio'  vfivtiovöai' 
ov  re   Sicc   ßgorol  av(Jp£g   ouäig   a(paxoi  xe   <paxoi  rf, 
gifcol  t'  ccqqtjxoC  xe  Jibg  (lEyaXoio  EKrjXi. 
6  QEa  (H£v  yccQ  ßgiccEt^  ^ia  Se  ßgidovxa  x'^XinxEi^ 
oEia   ö'   aQitriXov   (iivv&Ei  xal   aSrjXov  äi^Ei. 
QEia  ÖE  r'   id'vvEi  öKoXibv  xal  ayrfVOQU  KaqtpEi 
ZiEvg  vipißQEHExrjg^  og   vniqxcaa  Scofiaxa  vaiEi. 
vtXv^L  iSav  ai(ov  t£,   Sinri   d'   i^vvE   ^iiiiaxag 
10  xvvr\'   iyio  Se  xf,  Uigar}^  ix'jqxv^ia  fjiv&rjaaifirjv. 

OvK  ciga  fiovvov  iriv  ^EgiScav  yivog  .  .  . 

Bis  vor  17  Jahren  Leo  seine  'Hesiodea'^  veröflfentlichte, 
haben  ziemlich  allgemein  diese  Verse  für  unecht,  d.  h.  für 
einen  der  jüngeren  Teile  des  Lehrgedichts  gegolten.  Leos 
glänzende  Darlegungen  haben,  wie  es  scheint  ebenfalls  ziem- 
lich allgemein,  einen  Umschwung  zugunsten  des  Proömiums 
herbeigeführt-;  ob  mit  Recht,  soll  im  folgenden  zunächst 
untersucht  werden. 

Der  Zweifel  an  der  Authentizität  des  Proömiums  ist  be- 
kanntlich sehr  alt.  Praxiphanes,  der  Theophrastschüler,  war 
der   erste,    der  es  tilgte,    und    zwar    neben    anderen   Gründen' 


*  Göttinger  Index  scholarum,  Sommersemester  1894. 

*  So'  halten  es  für  echt  Rzach  in  beiden  Ausgaben,  v.  Wilamo- 
witz  in  der  Einleitung  zu  Aischylos'  Agamemnon  und  neuestens  Ed.  Meyer 
im  Genethliakon  für  Robert,  Berlin  1910,  S.  159 f.;  vor  Leo  a.  a.  0.  auch 
Kirch  hoff  Hesiods  Mahnlieder  an  Perses,  Berlin  1889,  S.  38. 

'  Denn  auf  noch  andere  Gründe  als  den  genannten  äußeren  ist 
man  nach  dem  Wortlaut  ovrog  (seil.  Praxiphanes)  ^dvToi  xai  ivtvxfiv 
(pr}6iv  ä-XQooiyiiä6x(p  rä  ßißXioo  xal  ccQxoiiiva  .  .  .  (Proklos  praef.  II  3 
Gaisford)  doch  wohl  zu  schließen  berechtigt? 


394  Konrat  Ziegler 

deswegen,  weil  er  ein  Exemplar  der  '^ Werke'  in  die  Hand 
bekommen  hatte,  in  dem  das  Gedicht  ohne  die  Musenanrufung 
sogleich  mit  dem  Vers  o-öx  uqu  ^ovvov  erjv  .  .  .  begann.  Dem 
Verdikt  des  Praxiphanes  haben  Aristarch  und  das  übrige  Alter- 
tum —  siehe  die  Belege  in  Rzachs  großer  Ausgabe  (1902) 
—  zugestimmt,  auch  Hesiods  Landsmann  Plutarch,  wie  Leo 
scharfsinnig  aus  seinen  Worten  quaest.  conviv.  736  E  aöavrog 
dh  tä  TCQcbxa  xcbv  "E^ycov  'ovk  äga  ^ovvov  srjv  .  .  .'  erschlossen 
hat.  Als  vierter  Zeuge  von  Bedeutung  figuriert  Tansanias, 
der  bei  Beschreibung  des  Helikons  in  einem  Exkurs  über 
Hesiod  berichtet  (IX  31,  4),  die  Anwohner  des  Helikon  wollten 
nur  die  'Werke  und  Tage'  als  echtes  Werk  des  Dichters  an- 
erkennen, und  auch  diese  nur  ohne  das  Proömium,  das  sie 
für  einen  späteren  Zusatz  erklärten  unter  Berufung  auf  eine 
am  Musenquell  verwahrte,  dem  staunenden  Besucher  vor- 
gezeigte uralte  Bleitafel,  auf  der,  so  ergänzt  man  selbst- 
verständlich, nur  die  Erga,  und  ohne  das    Proömium    standen. 

Leo  sucht  diese  vier  Zeugnisse  —  um  von  den  anderen, 
minder  gewichtigen  zu  schweigen  —  auf  das  eine  des  Praxi- 
phanes zu  beschränken,  indem  er  Aristarch  auf  dem  Zeugnis 
des  Praxiphanes,  auf  Aristarch  die  folgenden  fußen  läßt  und 
in  dem  Bericht  des  Pausanias  von  der  alten  Bleitafel  nur  eine 
ausführlichere  Version  der  Praxiphanesnotiz  erkennt  als  die 
uns  in  verblaßtem  Zustande  bei  Proklos  erhaltene. 

Dies  alles  zugegeben  —  man  vergesse  freilich  nicht,  daß 
es  nur  eine  Hypothese,  eine  Möglichkeit  neben  anderen  ist; 
wenn  das  Proömium  jung  ist,  kann  sehr  wohl  mehr  als  ein 
altes,  nicht  interpoliertes  Exemplar  in  diesem  und  jenem  ver- 
gessenen Winkel  noch  aufgetaucht  sein  — ,  so  bleibt  doch 
immer  die  Hauptsache  bestehen:  das  Zeugnis  des  Praxiphanes 
über  das  Vorhandensein  einer  alten  Überlieferung  der  Erga, 
die  das  Proömium  nicht  kennt,  und  ich  vermag  keinen  Grund 
zu  finden,  weshalb  wir  der  Versicherung  des  Praxiphanes  miß- 
trauen   sollten.     Leo    tut    es   auch    gar  nicht  oder  äußert  sich 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  395 

wenigstens  nicht  darüber.  Damit  ist  die  Sache  fast  schon 
entschieden:  wenn  das  Proömium  echt  war,  wie  hätte  es  vor 
Praxiphanes  wegfallen  sollen?  Wer  hätte  vor  Praiiphanes 
jene  Verse  athetieren  und  —  um  von  der  Bleitafel  und  ihrer 
nur  hypothetischen  Zurückprojizierung  in  die  Zeit  des  Praxi- 
phanes  abzusehen  —  eine  Ausgabe  ohne  sie  machen  soUen, 
die  dann  Praxiphanes  zu  Gesicht  bekam?  Denn  von  einer 
äußerlichen  Verstümmelung  jenes  ßißlCov  wird  ja  nicht  ge- 
redet. Ich  meine,  wer  das  Proömium  für  echt  hält,  muß 
notwendigerweise  das  ccTCQooi^uCaörov  ßißkCov  des  Praxiphanes 
für  eine  Fiktion  dieses  Gelehrten  erklären.  Und  wenn  wir 
das  annehmen  wollten,  wie  wäre  er  dazu  gekommen,  so  etwas 
zu  fingieren?  Doch  nur,  wenn  er  aus  inneren  Gründen  das 
Proömium  für  unecht  hielt  und  ein  handfestes  äußeres  Argu- 
ment für  seine  Meinung  schaffen  wollte.  Unsere  Sache  wäre 
es  auch  dann  noch,  erst  nach  diesen  inneren  Gründen  des 
alten  Kritikers  zu  forschen,  ehe  wir  über  ihn  zur  Tages- 
ordnung übergehen  dürften.  —  Doch  ich  glaube  nicht,  daß 
diese  Hypothese,  der  einzige  gangbare  Ausweg  für  die  Ver- 
teidiger des  Proömiums,  Liebhaber  finden  wird. 

So  sprechen  allein  schon  die  äußeren  Momente  bei  ge- 
nauerer Erwägung  zum  mindesten  stark  belastend  gegen  unsere 
Verse.  Doch  den  Ausschlag  geben  Überlegungen  anderer  Art, 
wie  sie  gewiß  (vgl.  S.  393  Anm.  3)  auch  für  Praxiphanes  und 
Aristarch  mitbestimmend  wirkten:  bedenken  wir  auch,  daß 
insbesondere  der  Pergamener  Krates  nicht  ohne  starke  Gründe 
dem  Urteil  seines  verhaßten  Gegners  in  Alexandreia  beigetreten 
wäre. 

Ich  sehe  zunächst  vom  Inhalt  ab.  Er  ist  es  ja,  den  Leo 
zur  Verteidigung  seiner  These  verwendet  hat,  und  zweifellos 
ist  ihm  der  Nachweis  geglückt,  daß  das  Proömium  aufs  beste 
zu  dem  folgenden  Gedicht  paßt,  und  daß  es  also  seinem  Ge- 
dankeninhalt  nach  sehr  wohl  von  dem  Dichter  der  Erga  her- 
rühren könnte.     Man  lese  das  Nähere   bei  ihm  selbst  a.  a.  0. 


396  Konrat  Ziegler 

S.  15f.  nach.  Aber  daß  es  deswegen,  weil  ein  feiner  innerer 
Zusammenliang  existiert,  von  dem  Autor  des  Gedichts  herrühren 
müsse,  ist  kein  bindender  Schluß.  Daß  das  Schöne  und 
Passende^  "^echf  sein  müsse,  ist  eine  Meinung,  die  wir  wohl 
nicht  minder  ungern  aufgeben  als  der  alte  Goethe  den  Glauben 
an  Lucretia  und  Mucius  Scaevola,  aber  daß  wir  es  müssen, 
lehrt  ja  beispielsweise  die  Homerkritik  auf  jeder  Seite.  Warum 
sollte  nicht  ein  Rhapsode  oder  antiker  Editor  die  Situation 
ebenso  feinsinnig  begriffen  und  so  sinnreich  interpoliert  haben, 
wie  es  uns  der  moderne  Erklärer  verstehen  gelehrt  hat?  Muß 
jeder  Tälscher'  ein  Klotz  sein?  Sicherlich  kann  ein  passender 
Sinn  nicht  eine  Stelle  schützen,  die  wir  durch  zwingende 
Gründe  anderer  Art  für  interpoliert  zu  halten  genötigt  werden. 
Und  es  existieren  Gründe,  die  es  erweisen,  daß  das  Prooemium 
der  Erga  nicht  eher  als  in  der  zweiten  Hälfte  des 
fünften  Jahrhunderts  entstanden  sein  kann.  Es  sind  dies 
Gründe  formeller  Natur. 

Betrachten  wir  nämlich  einmal  den  stilistischen  Bau  der 
fraglichen  Verse,  so  gewahren  wir  in  ihnen  eine  Kunst  oder 
vielmehr  eine  Künstelei,  geradezu  ein  Raffinement  im  voll- 
bewußten Gebrauch  rhetorischer  Mittel  und  Mittelcheu,  wie  es 
in  diesem  Umfange  und  in  dieser  Ausbildung  vor  der  Zeit, 
da  die  griechische  Kunstrede  sich  zu  entwickeln  begann,  un- 
erhört und  undenkbar  ist.  Jedem,  der  mit  dem  Augenmerk 
auf  diese  Dinge  die  Verse  durchliest,  müssen  sie  in  die  Augen 
springen.  Da  steht  gleich  in  den  ersten  beiden  Versen  der 
über  drei  lange  Silben  sich  erstreckende  Reim  nXslovöav  -^ 
v[^v£Cov6ai^,   dessen  Absichtlichkeit  aus  der  durch    ihn  herbei- 


'  Von   diesem    Lobe   ausnehmen    muß  icli  doch  den  (von  verschie 
denen    Editoren    allein    fj[etilgten)  Vers  10.     üen  Sprung,   mit  dem  hier 
zum  Thema  übergeleitet  wird,   muß   trotz  Leos  Interpretation  (vgl  jetzt 
auch  Ed.  Meyer  a.  a    0.  S.  393  Anm.  2)  jeder  unbefangene  Leser  oder 
Hörer  als  höchst  abrupt  empfinden. 

*  In  mancher  Ausgabe  freilich  kann  man  lesen  xXfTovoai  r^  vfivei- 
oveai ! 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  397 

geführten  höchst  gequälten,  bombastischen  Konstruktion 
äoLdfjöiv  yjMovöai  .  .  swinaxe  .  .  v^ivsCovöai  erhellt,  die  durch 
das  billige  Auskunftsmittel  eines  Epithetons  zu  ^Ca  —  ...  xal 
£1  xC  6B  aXXoL  OL  iußQÖvxTqxoi  Tcoirjxai  xaXovöi,  y.al  (idXiöxa 
öxuv  a%0QG)6i  Ttfjb^  rä  (isxqw  xöxa  yccg  «utoü  JtoXvävvuog 
yivöuevog  vmoiCdsig  xb  nl:txov  xov  nsxgov  xccl  ävuTcXrjQoi^  x6 
xsxw^S  "^ov  Qv&^ov  spricht  Lukians  Timon  zu  Zeus  -  oder 
auf  tausend  andere  Weisen  ohne  Mühe  zu  erleichtern  war. 
Unter  den  sowieso  im  ganzen  verschwindend  wenigen  Reimen 
im  Homer  und  Hesiod^  findet  sich  nicht  ein  so  auffallendes 
Beispiel  wie  hier  in  den  Einleitungsversen;  um  derartigem  zu 
begegnen,  müssen  wir  uns  schon  zum  Platonischen  Agathon, 
dem  Gorgiasjünger  (Conviv.  197  DE),  und  seinen  stilistischen 
Nachfolgern  begeben,  aus  denen  das  Markanteste  bei  Xorden, 
Kunstprosa  832  ff.  beisammensteht.  Dort  findet  man  auch  zu 
den  sogleich  im  folgenden  besprochenen  stilistischen  Eigen- 
tümlichkeiten des  Proömiums  reichlichstes  Vergleichsmaterial 
und  bewegt  sich  überhaupt  in  verwandten  Sphären.  Nach  dem 
Reim  x).sIov6ul  '^  vfivsCovöcci  ist  man  wohl  auch  —  ohne  daß 
ich  dies  bestimmt  behaupten  möchte  —  in  den  Versen  5/6 
Xakmxu  ~  aei,£i  und  7/8  otccQtpsi,  '^  vaUi  beabsichtigte  Par- 
echesen  zu  erkennen  berechtigt;  ßgidsi  ~  ynvv^ti  -^  Idijvu 
im  Versinnern  (p/6/1)  drängen  sich  mit  ihrem  Gleichklang 
auf,  wenn  man  die  Verse  laut  deklamiert,  worum  ich  jeden 
Leser  bitten  möchte. 

Mit  vorläufiger  Übergehung  von  Vs.  3/4  sehen  wir  nun 
die  Verse  5 — 8  an,  deren  wohlberechnetes  Schema  leicht  durch- 
sichtig ist: 

Qea  fiev  yccQ  ßQidet^        oiu  de  ßQiäovta  j(^akiTtX£i, 
QEta  d'  ccqI^ijXov  ^tvv&eL        -/.al  dörjXov  ai^ei, 
Ö£La   di  X    id'vvai.  ay.oki6v        Kai  ccyi]vOQa  ■Ko.qcpu 
Zfvg  vrl^ißQEfiixrjg,  ög   vneQvcaa  datfiara  vaUt. 

'  Das  Einzelmaterial  bei  Otto  Dingeldein  Der  Reim  bei  den 
Griechen  und  Bömern  Leipzig  1892,  S.  16 ff.;  im  übrigen  natürlich 
Nordens  Kunstprosa  U  810ff. 


398  Konrat  Ziegler 

Wir  haben  zwei  Halbverse,  jeder  eingeleitet  durch  die 
Kurzform  Qsa,  und  zwei  Ganzverse,  jeder  eingeleitet  durch  die 
Vollform  Qsla;  und  die  Ganzverse  sind  vollkommene  iööxcoXa 
mit  denselben  Haupt-  und  Nebenzäsuren: 

Den  metrischen  Einschnitten  entsprechen  die  Sinnes- 
einschnitte (nach  der  vierten  Hebung),  und  die  einander  ent- 
sprechenden zweiten  Hälften  der  beiden  Verse  haben  in  sechs 
von  ihren  sieben  Silben  die  gleichen  Vokale: 

Kai     ccörjXov     cc    i   ^  ai 
Kcci     äyrjvoQ     a  KaQcp  sl. 

Kann  das  Zufall  sein?  Ist  es  nicht  subtilste  Berechnung 
und  Klügelei?  Kann  ^Hesiod'  so  gedichtet  haben?  Er  kann 
ebensowenig  dieser  Künstler  sein,  wie  der  folgende,  nach 
dem  oben  angeführten  Lukianischen  Rezept  aus  abgedroschenen 
Homerfloskeln  elend  zusammengestoppelte  Flickvers 

Zevg  vilM-ßQSfiirrjg,  dg  viti^raxa  öto^ara  valet 

vom   Dichter   der   Erga    stammen   kann.^      Nein,    sondern   die 

Geistesverwandten  dieses  Dichters  waren   die  Männer,   die    die 

Verse  ,      ,        ,  „  <,  ,     ^ 

xo   fisv  TtaQSQyov   tqyov   cog  Ttoiovfie^a, 

rb  d'  eQyov  wg  nccQEQyov  iKTiovovfi£9a 

Nvficpai  fA£v  iuLqovGlv^  ors  ÖQvag  6(ißQ0g  cci^si' 
Nv^cpai  ö'  av  KkaiovGiv,  ors  ÖqvgIv  ovTiixt  (pvXXcc 

machten,  und  die  hießen  Agathon  und  Kallimachos. 

Wer  sich  von  der  bewußten  Kunst  des  Proömiumdichters 
in  diesen  Versen  überzeugt  hat,  wird  auch  meiner  Auffassung 

*  Wie  Norden  in  seinem  Hesiodseminar  (Sommer  1904)  bemerkte, 
der  darum  diesen  Vers  für  sich  athetierte.  Aber  man  darf  ihn  ebenso- 
wenig tilgen  wie  Vs.  10,  wenn  man  nicht  die  bewußte  Komposition 
2  -|-  (2  -f  2  X  2)  -)-  2  =  10  zerstören  will  Der  Flickvers  mußte  hinein,  um 
(offenbar  im  Anschluß  an  das  Proömium  der  Odyssee  wie  bei  Nonnos) 
die  Zehnzahl  voll  zu  macheu,  und  weil  die  drei  Verse  6 — 7,  um  in  das 
sonst  durchgeführte  Zweiersystem  zu  passen,  noch  eine  Ergänzungszeile 
brauchten. 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Heaiods  399 

der  Verse  3/4  Glauben  schenken.  Um  nicht  erst  von  dem 
höchst  kunstvoll  durchgeführten  epanaphorischen  Chiasmus, 
mit  dem  die  Verse  gebaut  sind,  zu  sprechen  —  'durch  Zeus 
die  sterblichen  Menschen,  ungenannte  und  genannte,  namhafte 
und  namenlose  durch  den  großen  Zeus'^  — ,  so  glaube  ich  in 
diesen  Versen  die  bekannte  etymologische  Deutung  des  Namens 
Zeus  wiedergegeben  zu  finden,  welche  den  Akkusativ  ^Cu  mit 
der  Präposition  öüc  identifiziert.  Sie  ist  alt,  denn  sie  steht 
schon  im  Piaton,  Kratylos  396  AB:  äxsxväi  ydg  iöriv  olov 
Xöyog  TÖ  Tov  zlibg  bvona'  duX6vT££  dh  avxb  dixfi  ol  (liv  rä 
ixtQG)  iiiQSL^  ol  dh  TÖ  irsQG)  'iQ(oyLt&a'  ol  ^lev  yuQ  Zijva,  ol 
dh  Aiu  xuXov6iv  övvti&e^isva  d'  tlg  sv  drjXol  Trjv  (pvöiv  tov 
"ö-fotj,  o  Öii  jtgoörjxeiv  cpa^hv  övo^ccri  Oic>  xs  tlvai  änegycctB- 
6&ca'  ov  yuQ  söxiv  ijiilv  xal  xoig  c'ckXoig  näöiv  öötLg  iöxiv 
ai'xLog  iiäXXov  tov  ^f^v  ij  6  agxav  t«  •/.al  ßaöiXavg  xäv 
xccvtav.  GvußttCvsi  ovv  ÖQ&äg  övo^id^sö^aL  ovxos  6  ^sbs  slvaij 
dl'  bv  ^Tjv  äsl  TcäGL  tolg  täöLV  vxc'coyei.  ditCXrjXtai  dh  dija^ 
ci67ceQ  Xsyco,  dv  öv  xb  bvoiia,  xq)  zlii  x(cl  tö  ZrjvC.  Dieselbe 
Etymologie  tragen  Aristoteles,  Zenon,  Comutus,  der  Rhetor 
Aristides^  vor.    Nicht  umsonst  decken  sich  in  dem   Proömium 

die  Versanfänge 

2  6s  vre  /iia  iwinexs  .  .  . 

3  ÖV  T£    öiä  ßQOxol  uvdQsg  .  .  ., 

und  damit  kein  gebildeter  Leser  diese  'Feinheit'  übersehe, 
wird  bedeutungsvoll  hinweisend  in  der  das  öv  xe  diä  noch 
einmal    aufnehmenden    Epanapher    der    Name    des    Gottes    in 

*  Wo  fände  man  bei  einem  alten  Dichter  zwei  solche  Antithesen 
wie  acparol  xe  (paxoi  re  QTjxoi  x'  aggrtxoi  rs  nebeneinander?  Auch  daß 
alle  vier  Worte  in  der  hier  gebrauchten  Bedeutung  a:ra|  sipTifit »'«  sind, 
nur  für  die  Antithese  geprägt  und  nur  durch  sie  verständlich,  verdient 
angemessene  Beachtung. 

*  Bei  diesem  die  scharfe  und  klare  Fassung  (1  9  Dind.  =  II  345 
Keil):  .  .  .  xaö-ö  ciixtm(isvol  xivag  övo/iafoftfv,  xaxä  tavxriv  xriv  xQ^^tiv 
(Jebb;  x^gav  codd.)  rf/g  cpavfjg  ö^cort'uov  avxbv  iTtoii^Causv  xät  rfis 
aixiug  örd/iaTi,  ^ia  TtQOCuyoQEveavTag,  insidriTCSQ  di'  avxbv  u-xavxa. 
yi'/vsxai  .  .  . 


400  Eonrat  Ziegler 

einer  dem  fraglichen  Akkusativ  stammverwandten  Form 
wiederholt:  ov  xb  dtä  ~>  z/tög  ^sydloio  s'xrjti.  Damit  emp- 
fängt diese  übrigens  sehr  entbehrliche  Anapher  doch  noch 
eine  andere  Bedeutung  als  die  einer  bloßen,  wenn  auch  wirk- 
samen rhetorischen  Spielerei.  —  Als  wesentliche  Stütze  meiner 
Auffassung  kann  ich  nicht  unterlassen  zu  erwähnen,  daß  ein 
anderes  ehemaliges  Mitglied  von  Nordens  Hesiodseminar  (vgl. 
S.  398  Anm.  1),  Dr.  Paul  Linde,  damals  ebenfalls,  gänzlich  un- 
abhängig von  mir,  die  Beziehung  der  Verse  auf  jene  Etymo- 
logie erkannt  hat. 

Ich  bin  mit  der  stilistischen  Betrachtung  des  Proömiums 
zu  Ende.  Wenn  irgendwo  stilistische  Momente  allein  ein 
Erzeugnis  des  Schrifttums  zu  datieren  gestatten,  so  sind  wir 
hier  berechtigt  zu  behaupten,  daß  diese  rhetorische  Filigran- 
arbeit nicht  eher  als  in  den  Tagen  der  Gorgias  und  Thrasy- 
machos  möglich  war,  und  zwar  sind  es  ja  vorzugsweise  die 
bekannten  gorgianischen  Figuren,  in  deren  überreichlichem 
Gebrauch  unser  Proömiumdichter  sich  gefällt.  Ich  meine, 
die  stilistischen  Argumente  allein  müßten  genügen,  um  meine 
Datierung  zu  stützen.  Allein  mit  ihnen  vereinigen  sich  ja  die 
anfangs  aufgeführten  äußeren  Gründe,  das  Zeugnis  des  Praxi- 
phanes  über  das  djCQOOLiiCaöTov  ßißXiov,  die  helikonische  Blei- 
tafel und  das  verwerfende  Urteil  Aristarchs  und  der  anderen^, 
und  endlich  tritt  noch  ein  gewichtiges  Indiz  hinzu,  das  uns 
die  Sprachstatistik  in  die  Hand  gibt:  Witte  (Singular  und 
Plural,  Leipzig  1907,  S.  151  f.)  hat  gezeigt,  daß  der  Plural 
doidfiöLv  bei  einem  frühen  Epiker  undenkbar  ist,  und  zwar 
ist  hier  die  Statistik  völlig  lückenlos  und  ein  wandsfrei.*    Zum 

'  Das.    meine    ich    nun    doch,    nicht    allein  auf  jenes  Zeugnis  de» 

Praxiphanes  sich  gestützt,  sondern  auch  ähnlichen  Erwägungen  wie  di« 

meinigen  Raum  gegeben  haben  wird. 

*  Ich  wiederhole  Wittes  Statistik: 

Homer:  Singular  2.'jmal,  Plural      — 

Hesiod:  „         H    „    ,       „        Krga  1 

Hörn.  Hymnen:     „         83    „    ,       „        Imal 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  401 

Schluß  noch  die  Bemerkung,  daß  auch  V.  2  öcpatSQOs  mit  Be- 
ziehung auf  die  zweite  Person  wie  hier  dem  homerischen  und 
überhaupt  dem  epischen  Sprachgebrauch  bis  auf  die  Alexan- 
driner (Apollonios  und  Theokrit)  fremd  ist,  weshalb  die  Stelle 
von  den  Grammatikern  besonders  glossiert  wird  mit  Hinweis 
auf  die  vorhandenen  Zweifel  an  der  Echtheit  (s.  Rzachs 
Apparat). 

So  schließen  sich  Überlieferung,  Stil  und  Sprachform  zu 
dem  Beweis  des  jungen  Ursprungs  der  Verse  zusammen.  Ihr 
Verfasser  ist  ein  Zögling  der  gorgianischen  Rednerschule,  der 
sich  auch  den  sprachphilosophischen  Bestrebungen  seiner  Zeit 
nicht  verschlossen  hat  und  mit  diesem  Rüstzeug  daran  ge- 
gangen ist,  das  Hesiodeische  Gedicht  um  ein  Proömium  zu 
bereichem.  Warum?  Das  liegt  auf  der  Hand:  weil  ihm  der 
Vers  ovx  ccqu  fiovvov  srjv  ebensowenig  als  geeigneter  Anfang 
eines  Epos  erschien  wie  uns.  Denn  mit  gleichem  Maß  wie 
Tig  dh  ßCog,  tC  öh  xsQnvbv  äzeQ  iQvOfig  ^AtpQodCTTjg  oder 
'Ergo  sollicitae  tu  causa,  pecunia,  vitae'  läßt  sich  das  Epos 
freilich  nicht  messen. 

Die  oben  gegebene  Datierung  'zweite  Hälfte  des  fünften 
Jahrhunderts'  bezeichnet  natürlich  nur  den  frühesten  terminus; 
wahrscheinlich  tut  man  besser,  noch  um  mehrere  Jahrzehnte 
herunterzugehen,  allerdings  nicht  zu  weit,  denn  zu  Praxi- 
phanes'  Zeit  ist  das  Proömium  in  der  Vulgärüberlieferung  ja 
schon  fest  geworden. 


Vielleicht  wundert  sich  mancher  Leser  dieser  Zeitschrift 
schon,  was  eine  solche  rein  philologische  Erörterung  im  Archiv 
für    Religionswissenschaft    zu    suchen    habe.      Sie    hat   in  ihm 

[in  dem  zweifellos  jungen  Stück  vom  Xio^  äoidög,  h.  Apoll.  173,.  'Außer- 
dem finden  wir  den  Singular  bei  Theognis  251.  791;  Stesichoros  fr. 
44,  1;  Alkaios  39,  4  und  Simonides  31,  2.  40,  3;  Erinna  6,  7.  Der 
Plural  ist  zuerst  bei  Xenophanes  fr.  6,4,  öfter  bei  Bakchylides 
(6,  14.  12,  230.  fr.  4,  2)  und  Pindar  belegt.' 

ArchiT  f.  Relisrions Wissenschaft  XIV  26 


402  Konrat  Ziegler 

Heimatsrecht  wegen  der  religionswissenschaftlichen  FolgeruTuren, 
die  man  aus  der  Echtheit  oder  Unechtheit  des  Proömiums, 
das  ja  eine  Musenanrufung  und  einen  kurzen  Hymnus  auf 
Zeus  als  höchsten  Richter  darstellt,  zu  ziehen  berechtigt  ist. 
Es  handelt  sich  um  Folgerungen  von  zweierlei  Art,  um 
sachlich -kulturhistorische  und  um  formell -literarische.  Was 
erstlich  den  Gedankeninhalt  des  Proömiums  angeht,  so  ist 
nur  der  negative  Schluß  gegeben,  daß  man  es  nicht  zur 
Charakterisierung  der  religiösen  Stimmung  im  griechischen 
Mutterlande  während  der  archaischen  Zeit  benutzen  darf 

Etwas  eingehender  will  ich  mich  mit  den  Schlüssen  be- 
fassen, die  wir  für  die  Stilgeschichte  der  Musenanrufungen 
aus  der  erkannten  Unechtheit  des  Proömiums  gewinnen. 
Durch  die  Ausmerzung  dieser  Verse  werden  wir  nämlich  von 
der  Notwendigkeit  entbunden,  sie  als  eine  höchst  lästige  Aus- 
nahme innerhalb  dieser  Stilgeschichte  zu  registrieren  und  nur 
nolens  volens  aus  dem  besonderen  Charakter  des  frommen 
Sängers  zu  erklären:  was  sehr  bedenklich  blieb  für  jeden,  der 
weiß,  was  ^Stil'  in  der  religiösen  Poesie,  mehr  noch  als  sonst 
in  der  griechisch-römischen  Literatur,  bedeutet,  und  wie  wenig 
der  scheinbar  freieste  Künstler  sich  seinen  Gesetzen  zu  ent- 
ziehen vermag,  noch  auch  beabsichtigt. 

Die  typische  Form  der  Musenanrufung  im  Epos  ist  die 
einfache  Bitte  an  die  Muse,  sie  solle  dies  oder  das  singen^ 
oder  die  Frage,  ^sage  mir,  wie  das  geschah':  (ifjvLv  aside  dsci 
—  ccvÖQa  iioL  evvsjts  Mov6a  —  sötcbte  vvv  ^ol  Movöai  usw., 
und  wie  Homer  haben  es  mit  unwesentlichen  Abweichungen 
alle  gehalten.  Es  ist  festes  Stilgesetz.^  Die  Bitte,  daß  die 
Muse  selbst  oder  gar  der  ganze  Chor  sich  zu  dem  Dichter 
hinbemühen  solle,  ist  dem  frühen  epischen  Stil  fremd,  wie 
überhaupt   in    der    älteren    Zeit    der    betende    Mensch    an    den 

^  Das  umfangreiche  Einzelbelegmaterial  hierfür  wie  für  die  fol- 
genden Aufstellungen  hotte  ich  später  in  einem  umfassenderen  Rahmen 
vorzulegen.     Hier  begnüge  ich  mich  mit  Andeutungen. 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  403 

Gott  nicht  das  Ansinnen  stellt,  er  solle  auf  seinen  Ruf  er- 
scheinen, wie  sehr  er  auch  von  der  Vorstellung  beherrscht 
ist,  daß  der  Gott  nur,  wenn  er  nah  ist,  helfend  oder  Schaden 
bringend  wirkt.  Herbeigerufen  wird  der  Gott  nur  zum  Fest 
von  der  ganzen  Gemeinde  oder  ihren  Vertretern.  Das  gilt 
auch  für  die  Musenanrufungen.  Zur  Siegesfeier,  zum  heiligen 
Fest  werden  sie  selbst  zu  erscheinen  geladen,  sei  es  nur  zu 
ihrer  eigenen  Ehre  als  hochgehaltene  Gäste,  sei  es  als  Fest- 
chor zu.ai  Preise  des  Gottes,  dem  die  Feier  gilt.  Letzteres 
insbesondere  ist  ein  rö^o^  des  offiziellen  Festhymnus,  wie  er 
sich  am  deutlichsten  —  um  von  anderen  Beispielen  hier  zu 
schweigen  —  in  den  delphischen  Hymnen  ausspricht.  Ich 
zitiere  nach  der  Ausgabe  von  Crusius  im  Philologus  LHI 
Suppl. : 

h.  Delph.  IIB,  2  xf'x/lv^'  'EXtxöJva  ßa^vöevögov  cu  Aa[x£W  Jibg] 
i[^Qt]ßQ6fiov  &vyarQ£g  £V(oXs\voi],  (i6Xs\x]s  avvofiaifiov  Tva 
Oolßov  (oöaiai  (lik'iiJtjxe  iQvßeoKÖfiav  .  .  . 

h.  Delph.  III,  '2  Tr'  knl  zrjXiöKOTiov  xav^ös  IlaQvaöaiav^  öixÖQvcpov 
'/.ketxl'v  vfi\ii>  cpiXciv^  lo  (piXai\  Tluqiöiq^  dt  vicpoßöXovq 
n\a.yovg  KaxiXccyiixi\   (liXnsxs   öe   üv&ioi'   «[rajtra  .  .  . 

fg.  8  (p.  83  Cr.)  ^EX]iKiovi6[£g  ^ATtoXXatva]  xbv  £vXvQctv\.  .  . 
Man  erkennt  sogleich  zwei  bedeutsame  Übereinstimmungen 
gerade  dieser  delphischen  Hymnen  mit  unserm  Proömium. 
Die  Musen  werden  (wie  zwar  in  andern  Hymnen  auch)  zur 
Verherrlichung  eines  anderen  Gottes  herbeizitiert  und,  wird 
begründend  hinzugefügt,  eines  verwandten  Gottes:  ^öXsrs 
övvo^ui^ov  Iva  oolßov  aöalöi  jueA^/^Tf  ^^  äoidf}6iv 
xXsLovßai,  dsvta.  /iC  swinexB.  öcpirsgov  ^areo'  vnvuovöai. 
Die  Ähnlichkeit  ist  überraschend.^  Aber  um  so  verschiedener 
ist,    was    folgt:    auf   den    delphischen    Steinen    wirkliche    aus- 

'  Aber  hoffentlich  konstruiert  deswegen  niemand  einen  direkten 
Zusammenhang.  Angesichts  des  gänzlich  unzureichenden  Materials 
—  unseru  Besitz  an  wirklichen  Kulthymnen  kann  man  ja  leicht  an  den 
Fingern  herzählen  —  hat  man  sich  solcher  Gedanken  von  vornherein 
zu  entschlagen. 

26* 


404  Konrat  Ziegler 

geführte  Hymnen  auf  den  Gott,  welche  die  Musen  gewährend 
den  frommen  Sänger  lehrten,  im  Pseudo-Hesiod  wird  mit  ein 
paar  Versen  ein  Anlauf  dazu  gemacht,  aber  sogleich  folgt, 
kurz  abbrechend  —  denn  die  Dekas  ist  voll  —  der  Über- 
gang zum  Epos.  Waren  zu  diesen  acht  Versen  die  Musen 
nötig?  Denn  die  'Werke  und  Tage'  zu  singen  sind  sie  ja 
nicht  gerufen  worden!  Das  ist  kein  Scherz;  man  muß  hier  so  naiv 
fragen.  Für  die  Frühzeit  hat  man  nicht  mit  verwaschenen 
Übertragungen  und  psychologischen  Schleichwegen  zu  rechnen. 
Wir  sehen  jetzt  klar.  Unser  Proömium  ist  ein  im  echten 
lyrischen  Kulthymnenstil  begonnenes  Preislied  auf  den  Zsvg 
GsiiCöTLOs.  Selbst  wenn  kein  anderer  Grund  uns  dazu  nötigte, 
könnten  wir  nach  dem  eben  skizzierten  Sachverhalt  ein  solches 
schwerlich  an  der  Spitze  des  Epos  stehen  lassen  und  für  das 
S.  Jahrhundert,  oder  wie  wir  sonst  sagen  wollen,  einen  solchen 
Synkretismus  der  poetischen  Stile  hinnehmen.  Religiöse 
Lyrik  und  Epos  sind  für  damals  und  noch  lange  getrennte 
Gebiete,  das  zeigen  am  einleuchtendsten  die  sogenannten 
homerischen  Hymnen,  die,  so  sehr  hier  ein  Hinneigen  zu 
jenem  Gebiet  durch  den  Stoff'  nahegelegt  wurde,  doch  durchaus 
den  epischen  Stil  gewahrt  haben.  Streicht  man  die  paar 
stereotypen  Einleitungs-  und  Schlußfloskeln,  so  bleibt  nichts 
außer  den  göttlichen  Trägern  der  Handlung,  was  die  'Hymnen' 
von  den  xXda  avögav  unterscheidet. 

Das  Stilgesetz,  das  einen  Hesiod  binden  mußte,  hat  dem 
rhetorisierenden  Versifikator  des  ausgehenden  5.  oder  an- 
gehenden A.  Jahrhunderts  natürlich  keine  Kopfschmerzen  mehr 
gemacht.  Er  hat  den  feierlichen  Stil  des  Kirchenliedes,  das, 
längst  aus  seinem  engen  Kreis  herausgetreten,  alljährlich  über 
die  Bühne  des  Euripides  und  noch  mehr  des  Aristophanes 
wandelte,  ohne  ästhetische  Skrupeln  auf  das  Proömium  des 
Epos  übertragen. 

Man  könnte  einwenden,  daß  in  dieser  Rechnung  nicht 
genügend    auf   den    subjektiven    Charakter    des    Hesiodeischen 


Das  Proömium  der  Werke  und  Tage  Hesiods  405 

Gedichtes,  auf  die  dadurch  bedingten  Unterschiede  vom  Home- 
rischen Epos  und  auf  die  offene  Möglichkeit  einer  größeren 
Annäherung  an  den  lyrischen  Stil  Rücksicht  genommen  sei, 
wie  sie  z.  B.  in  der  vielfältigen  Berührung  Hesiods  mit  der 
Elegie  des  Solon  oder  Theognis  zum  Ausdruck  komme.  Das 
wäre  partiell  zuzugestehen,  und  so  könnte,  wollte  man  nur 
auf  dem  Boden  der  hymnischen  Stilgeschichte  den  Beweis 
gegen  die  Echtheit  des  Proömiums  führen,  hier  vielleicht 
eine  Lücke  bleiben.  Um  so  ersprießlicher  ist  es  für  die  Sache, 
daß  durch  die  einwandfreien  rein  philologischen  Beweismittel 
auch    nach   dieser   Seite   hin   völlige  Klarheit   geschaffen  wird. 

Nachtrag. 
Durch  einen  freundlichen  Hinweis  Gerckes  komme  ich  noch  recht- 
zeitig  zur   Kenntnis    des  Würzburger   Programms   (zugleich    Münchener 
Dissertation)   von  Stephan  Martin,    Das  Proömium    zu    den  Erga  des 
Hesiodos,    1898,    um    auf   diese    hochwichtige    Ergänzung    meiner    Aus- 
f  hrungen  nach  der  Seite  der  einzelsprachlichen  Forschung  aufmerksam 
machen  zu   können.     Diese   gründliche  Arbeit,    die   mit  Unrecht   völlig 
unbeachtet  und  unbesprochen  geblieben  ist  —  bis  auf  eine  Registrierung 
Bzachs  iBursians  Jahresbericht  usw.  Bd.  100,  S.  139 f.),  der  sie  mit  ein 
paar  unzulänglichen  Argumenten  abtun  zu  können  meint  — .  untersucht 
Wort  für  Wort  den  sprachlichen  Bestand  des  Proömiums  und  führt  den 
Kachweis,   daß   in   diesen   wenigen    Versen    eine    ganz    unerhörte    Zahl 
unhesiodischer,  unepischer,  unbedingt  junger  Erscheinungen  nach  Wort- 
wahl und  Wortgebrauch  vorliegt.     Mag  Martin  einige  Male  im  Übereifer 
zu   weit   gegangen,    mögen    einige   seiner  Beanstandungen    zu    streichen 
sein,  es  bleibt  eine  so  kompakte  Menge  schon  im  einzelnen  bedeutsamer, 
in  ihrer  Vereinigung   unanfechtbarer   sprachlicher  Argumente  gegen  die 
frühe  Entstehung   des  Proömiums,    daß    Martins  Datierung   „frühestens 
nach  Pindar"    das  mindestens  Zuzugestehende,    sein  Versuch,   es  bis  in 
den  Anfang  der  Alexandrinerzeit  hinabzurücken,  allerdings  doch  wohl  mit 
Rücksicht  auf  Praxiphanes    zu  weit   gegangen  ist.      Mit  Sicherheit  darf 
man  aber  das  4.  Jahrhundert  nennen.    Ich  bitte  jeden  Leser,  den  meine 
Ausführungen  noch  nicht  völlig  überzeugt  haben  sollten,  Martins  Schrift 
zur  Hand  zu  nehmen. 

Noch  nicht  zugänglich  ist  mir  die  Gießener  Dissertation  von 
W.  Fuß,  Versuch  einer  Analyse  von  Hesiods  "Egya  xal  H^Uqui,  1910. 
Aber  das  Proömium  kann  keine  Analyse  mehr  retten. 


Religio  und  Snperstitio 

Von  W.  F.  Otto  in  München 

Die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  gibt  mir  wohl  die  Be- 
rechtigung, im  Anschluß  an  meine  Ausführungen  in  dieser 
Zeitschrift  XII  533  ff.  einige  wenige  ergänzende  Bemerkungen 
zu  machen.  Einige  Arbeiten,  die  seit  der  Veröffentlichung  meines 
Aufsatzes  erschienen,  oder  mir  erst  nachträglich  bekannt  ge- 
worden sind,  haben  mir  Veranlassung  gegeben,  meine  Beweis- 
führung von  neuem  zu  prüfen,  mich  da  und  dort  schärfer  zu 
fassen.  Vor  allem  aber  wurde  mir  bewußt,  daß  ich  an  meh- 
reren Stellen  statt  kurzer  Andeutungen  ausführliche  Begrün- 
dungen hätte  geben  sollen,  um  durchaus  verstanden  zu  werden, 
oder  na,heliegende  Einwände,  die,  ich  gestehe  es,  mir  heute 
noch  ebenso  geringwertig  erscheinen  wie  damals,  von  vorn- 
herein zu  entkräften. 

Mein  Aufsatz,  dessen  Manuskript  bereits  längere  Zeit  vor 
dem  traurigen  Hinscheiden  Albrecht  Dieterichs  eingesandt 
worden  ist,  war  völlig  druckfertig,  als  die  Transadions  of  the 
third  international  congress  for  the  history  of  religions  er- 
schienen, deren  zweiter  Band  (Oxford  1908)  S.  ]69ff.  eine 
Abhandlung  von  W.  Warde  Fowler  enthielt:  The  latin 
history  of  the  word  '^Religio'.  Leider  habe  ich  erst  lange  nach 
dem  Erscheinen  meiner  eigenen  Untersuchung  von  dieser 
Arbeit  Kenntnis  erhalten.  Ich  freue  mich,  konstatieren  zu 
können,  daß  Fowler,  dessen  Aufsatz  sich  durch  Klarheit  der 
Beobachtung  und  Feinheit  der  Bemerkungen  auszeichnet,  in 
allem  Wesentlichen  derselben  Meinung  ist  wie  ich,  nur  daß  er 
es  ablehnt,  zu  der  Frage  der  Etymologie  Stellung  zu  nehmen, 
mit  der  Bemerkung  jedoch,  daß  sein  eigenes  Gefühl  ebenso 
wie  das  Conways  dazu  neige,  Ciceros  Etymologie  von  relegcre 


Religio  und  Superstitio  407 

ZU  billigen.  Er  unterscheidet  zwei  Bedeutungsgruppen,  von 
denen  die  erste  die  bei  weitem  ältere,  ja  die  ursprüngliche  sei, 
die  nämlich,  in  der  sich  das  natürliche  Gefühl  des  Römers 
angesichts  des  Ungewöhnlichen  und  Übernatürlichen  ausspreche; 
diesen  Sinn  habe  das  Wort  empfangen  zu  einer  Zeit,  in  der 
es  noch  keine  staatlichen  Priesterschaften  und  Religions- 
ordnungen gab,  um  jenes  Gefühl  zu  beschwichtigen.  In  zweiter 
Linie  und  später  werde  mit  religio  die  Haltung  des  Staats- 
bürgers gegenüber  dem  Übernatürlichen  gemeint,  das  nunmehr 
ohne  Furcht  oder  Zweifel  in  der  Gestalt  der  anerkannten 
Staatsgötter  vorgestellt  und  richtig  verehrt  werden  kann. 
Religio  ist  also  ursprünglich  und  in  erster  Linie  ein  Gefühl, 
genauer  das  Gefühl  von  heiliger  Scheu,  Ängstlichkeit,  Zweifel 
oder  Furcht,  das  angesichts  von  etwas  Außergewöhnlichem, 
Unerklärlichem  im  menschlichen  Gemüte  hervorgerufen  wird. 
Daß  diese  Bedeutung  die  ursprüngliche  ist,  geht  daraus  hervor, 
daß  sie  nicht  bloß  in  der  ältesten  Literatur  die  allein  vor- 
kommende ist,  sondern  für  die  ganze  Dauer  der  römischen 
Literatur  neben  der  zweiten  bestehen  geblieben  ist.  Indem  ich 
es  dem  Leser  selbst  überlasse,  von  der  kurzen  Geschichte  des 
Wortes,  wie  sie  Fowler  gezeichnet  hat,  Kenntnis  zu  nehmen, 
möchte  ich  nur  darauf  aufmerksam  machen,  daß  dieser  kaum 
den  Versuch  macht,  den  Bedeutungsübergang  vom  Gefühl  des 
Menschen  zur  Kulthandlung  usw.  zu  erläutern.  Seltsam  bleibt 
es  für  mich,  daß  sich  Fowler  trotz  der  richtigen  Einsicht  in 
die  Grundbedeutung  nicht  entschließen  konnte,  aus  den  gram- 
matisch möglichen  Etymologien  die  dieser  Bedeutung  am 
meisten  entsprechende  auszuwählen. 

Ganz  im  Gegensatz  nun  zu  meinen  Ausführungen  und  den 
auch  ihm  unbekannt  gebliebenen  Fowlers  bestreitet  M.  Kobbert 
De  verborufn  'religio'  atque  'religiosus'  usu  apud  Romanos 
quaestiones  seledae  (Königsberger  Dissert.  1910),  daß  mit 
religio  ursprünglich  ein  Gefühl  gemeint  gewesen  sei  und  von 
dieser  Grundbedeutung  alle  anderen  abgeleitet  werden  müßten. 


408  W  F.  Otto 

Diese  fleißige  Untersuchung  kommt  zu  einem  Resultat, 
das  der  früher  herrschenden  Meinung  nahesteht,  in  einem 
wichtigen  Punkte  aber  von  ihr  abweicht.  Sie  ist  mir  ein 
willkommener  Anlaß,  mich  noch  einmal  über  das  Problem  der 
religio  zu  äußern;  sehe  ich  doch  deutlich,  welche  Überlegungen 
dem  Verfasser,  und  vielleicht  vielen  anderen  mit  ihm,  verwehren, 
sich  meiner  Auffassungsweise  anzuschließen. 

Gerade  wie  ich  (a.  a.  0.  S.  .'>44)  erkennt  er  in  der  religio^ 
die  beispielsweise  einem  Orte  eigen  ist,  ein  Tabu.  Scheinbar 
gegen  mich,  bemerkt  er  sehr  richtig,  daß  diese  religio  eine 
Eigenschaft  des  Ortes  selbst  bedeute.  Dann  aber,  meint  er, 
dürfen  wir  nicht  von  einem  Hegriffe  ausgehen,  dessen  ur- 
sprünglicher Sinn  eine  menschliche  Gemütsbewegung  ist,  son- 
dern müssen  nach  einer  Erklärung  suchen,  die  den  in  Frage 
stehenden  Begriff  von  Dingen  oder  Beschaffenheiten  der  Außen- 
welt seinen  Ausgangspunkt  nehmen  läßt.  Nun  aber  besitzen 
wir  nur  zwei  etymologische  Möglichkeiten;  verwirft  man  die 
ciceronische  Erklärung,  so  bleibt  nur  die  des  Lactanz  übrig: 
religio  von  reUgare.  Auf  diese  Etymologie  führt  uns  denn  der 
Verfasser  wieder  zurück.  Was  nun  aber,  fragt  er,  ist  bei  der 
religio  —  d.  h.  Gefährlichkeit,  Tabu  —  eines  Ortes  oder  Tages 
das  Bindende,  und  was  das  Gebundene?  Ort  und  Tag  können 
natürlich  nicht  das  Gebundene  sein,  wohl  aber  das  Gemüt  des 
Menschen.  Nun  bezeichne  religare  bei  näherem  Zusehen  vor- 
nehmlich dasjenige  Binden,  durch  das  der  gebundene  Gegen- 
stand zurückgehalten  werde,  und  so  sei  mit  religio  nichts 
anderes  gemeint,  als  das  Tabu,  das  gewissen  Orten,  Tagen, 
Handlungen  anhafte  und  durch  das  der  Mensch  zurückgehalten, 
gehemmt  werde  sacris  scilicet  vincidis  eins  menti  iniectis. 
Späterhin  sei  dieser  Begriff,  der  also  ursprünglich  auf  den 
Menschen  allein  Bezug  gehabt,  mit  der  Vorstellung  von  dem 
Orte  selbst  enger  verwachsen,  so  daß  man  nicht  mehr  an  eine 
Wirkung  dachte,  die  von  dem  Orte  auf  das  menschliche  Gemüt 
ausgeht,  sondern  nur  noch  an  eine  dem  Orte  selbst  anhaftende 


Religio  und  Superstitio  409 

Eigensctaft  (S.  60  f).  An  einer  früheren  Stelle  (S.  37)  drückt 
er  sich  so  aus:  religio  ist  ursprünglich  eine  lex  sacra,  die  den 
Menschen  zurückhält,  etwas  zu  tun;  aus  diesem  Begriff  ist 
dann  nachträglich,  wenn  auch  schon  in  alten  Zeiten,  der  einer 
lex  Sacra,  die  etwas  zu  tun  gebietet,  hervorgegangen.  1 

Also  religio  soll  die  Hemmung  oder  Abwehr  sein,  die  von 
etwas,  das  Tabu  ist,  ausgeht  oder  ausgeübt  wird;  sie  soll  das 
Tabu  selbst  sein  quo  homo  ipse  religatur.  Bleiben  wir  einmal 
hier  stehen.  Ein  Tabu  verbindet  nicht,  sondern  es  trennt, 
stößt  ab.  Der  ^  erfasser  weiß  das  sehr  wohl.  Er  setzt  des- 
halb hinter  religatur:  aiqve  impedifur.  Ich  muß  diesen  Zusatz 
als  unerlaubt  bezeichnen,  ebenso  wie  die  kurz  vorhergehende 
Erklärung  (S.  60):  continet  enim  vox  religare  notionem  revin- 
ciendi,  impediendi ,  arcendi.  Kobbert  selbst  hat  auf  derselben 
Seite  eine  Übersicht  der  Gebrauchsweisen  von  religare  gegeben, 
aus  der  jeder  sehen  kann,  daß  dies  Verbum  fast  immer  be- 
deutet „etwas  an  etwas  anbinden,  festbinden"  (was  natürlich 
den  Erfolg  hat,  daß  es  nicht  davon  loskommt),  zuweilen  „ein 
Vielfältiges  zusammenbinden"  (z.  B.  Haare  in  einen  Knoten), 
„etwas  Offenes  zubinden"  (z.  B.  eine  Blase).  Andere  Neben- 
bedeutungen kommen  gar  nicht  in  Betracht.  Nun  soll  natür- 
lich nicht  geleugnet  werden,  daß  ein  Wort,  das  ursprünglich 
„an  etwas  festbinden''  bedeutete,  im  Verlaufe  der  Entwicklung 
in  der  Sprache  die  Bedeutung  des  Hemmens,  Zurückhaltens 
bekommen  konnte.  Aber  das  ist  tatsächlich  bei  religare 
nicht  geschehen,  weder  früh  noch  spät.  Wo  findet  sich  denn 
die  Bedeutung  impedire,  arcere,  die  Kobbert  seiner  Definition 
hinten  anfügt?  Nirgends  kommen  wir  über  die  Bedeutung 
des  Anbindens,  Festbindens  hinaus.  Jede  naive  Auffassung 
mußte  die  religio  loci,  wenn  das  Wort  mit  religare  in  Zu- 
sammenhang gebracht  wurde,  so  auffassen,  als  ob  der  Ort  an 
sich  bände,  fesselte  —  das  Gegenteil  des  Tabu.  Lactanz  hatt« 
Sprachgefühl  genug,  um  zu  schreiben:  hoc  vinculo  pietatis 
ohstricti   deo   et   religati   sutmis   (inst.  div.  IV  28).     So   richtig 


410  W.  F.  Otto 

also  Kobbert  den  ursprünglichen  Sinn  der  religio  loci,  diei, 
actionis  entwickelt  hat  als  den  eines  Tabu,  das  dem  Menschen 
verwehrt,  diese  Dinge  in  Gebrauch  zu  nehmen,  so  wenig  ist 
es  ihm  gelungen,  diesen  Sinn  mit  der  Herleitung  des  Wortes 
von  religare  zu  verbinden  ^ 

Aber  selbst  wenn  er  recht  hätte,  wenn  das  Wort  etymo- 
logisch betrachtet  „Hemmung",  „Abwehr",  „Verbot"  bedeutet 
haben  könnte,  läßt  sich  daraus  die  tatsächliche  Gebrauchsweise 
wirklich  so  leicht  ableiten,  wie  er  glaubt? 

Es  ist  doch  nicht  gleichgültig,  daß  bei  aller  Verschieden- 
heit der  Bedeutungen,  die  das  Wort  im  Verlauf  der  Zeiten 
angenommen  hat,  eine  Bedeutung  durch  die  ganze  Latinität 
hindurch  geblieben  ist  —  eben  die,  die  ich  für  die  ursprüng- 
liche halte  — :  die  Bedeutung  der  „Gewissensbedenken"  oder 
der  „Gewissenhaftigkeit".  So  wird  religio  gerade  an  den 
ältesten  Stellen  der  Literatur,  bei  Plautus  und  Terenz  (ohne 
notwendigen  Bezug  auf  „religiöse"  Dinge)  gebraucht.  Die 
kurzen  Erklärungen,  die  ich  (S.  533 f.  des  angeführten  Auf- 
satzes) diesen  Stellen  beigefügt  habe,  sprechen  wohl  für  sich, 
und  ich  darf  es  mir  (und  dem  Leser)  ersparen,  auf  die  ge- 
wundenen Umdeutungen  Kobberts  (S.  42 ff.)  näher  einzugehen, 
zumal  Fowler  in  dem  oben  angeführten  Aufsatz  gerade  diese 
Seite  der  Bedeutung  ausführlich  besprochen  hat.  Man  kennt 
doch  den  iudex  religiosus,  den  gewissenhaften,  der  achthat, 
nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  urteilt,  man  kennt  die 
aures  teretes  et  religiosae  ÄUicorum  (Cic.  orat.  27).  Dieselbe 
religio  verlangt  man  auch  von  dem  Arzte,  zu  dem  man  Ver- 
trauen haben  soll  (Plin.  nat.  bist.  XIX  128).  Genau  so  ist  es 
bei  superstitio,  das  nach  meiner  Meinung  ursprünglich  „Auf- 
regung",  eventuell   „Angsterregung"   bedeutet.     Auch  hier  ist 


*  Bei  Marcell.  Emp.  15,  11  liegt  gewiß  nicht,  wie  Kobbert  meint, 
irgendeine  Urbedeutung  von  religio,  die  uns  veranlassen  könnte,  das 
Wort  mit  religare  in  Zusammenhang  zu  bringen,  vor,  sondern  religio 
bedeutet  hier  „Behexung",  „Zauber '. 


Religio  und  Saperstitio  411 

die  Bedeutung  der  „Ängstlichkeit"  immer  geblieben.  In  „reli- 
giösen" Dingen  ist  eine  nimia  religio',  siiperstitio.  Aber  auch 
der  Arzt  kann  nimia  religio  haben  (Plin.  a.  a.  0.).  So  kann 
auch  der  Redner  superstitiose  handeln,  der  sich  mit  allzu 
großer  Gewissenhaftigkeit  und  Ängstlichkeit  an  den  von  ihm 
selbst  einstudierten  Wortlaut  hält  (Quintil.  inst.  X  6,  5).  Selbst 
ein  Grammatiker  kann  im  Definieren  eines  Begriflfes  super- 
stitiostis:  allzu  ängstlich  auf  Vollständigkeit  und  absolute 
Unterscheidung  bedacht  sein  (Gell.  I  25,  10).  Weiter,  wie 
unzählige  Male  ist  religio  direkt  synonym  mit  den  Worten, 
die  „Angst"  bedeuten!  Hat  Kobbert  wirklich  etwas  getan,  um 
verständlich  zu  machen,  wie  diese  verbreitete  Bedeutung  aus 
der  eines  Verbotes  sich  entwickeln  konnte?  Aber  er  be- 
anstandet bei  mir,  es  sei  nicht  einleuchtend,  daß  die  Begriflfs- 
entwicklung  den  umgekehrten  Weg  gegangen,  von  der  Emp- 
findung, vom  Abstrakten  zum  Konkreten,  von  der  Furcht 
zum  gefürchteten  Gegenstand  einer-  und  zu  der  aus  ihr  ent- 
springenden  Handlung  anderseits.  Das  bringt  mich  auf  den 
Hauptpunkt. 

Eine  Ausdrucksweise  wie  religio  loci,  womit  eine  Qualität 
des  Ortes  gemeint  ist,  kann  allerdings  einer  Erklärung  be- 
dürftig scheinen,  wenn  religio  ursprünglich  nichts  anderes  war 
als  ein  psychischer  Zustand  des  Menschen.  Ich  will  auch 
gleich  Stellen  anführen,  aus  denen  nach  Kobberts  Ansicht 
optime  apparet,  daß  die  religio  dem  Orte  anhaftet.  Verg.  Aen. 
Vin  349  iayyi  tum  religio  pavidos  ierrebat  agrestis  dira  loci. 
Sen.  epist.  12,  3  (specus)  animum  tuum  quadam  religionis  sit- 
spicione  percutiet.  Wenn  religio  „Scheu",  „Furcht",  „Bedenk- 
lichkeit" eines  Menschen  bedeutet,  wie  kann  man  dann  sagen 
religio  terret  oder  religionis  snspicio? 

Formido  und  metus  bedeuten  doch  gewiß  menschliche 
Gemütszustände,  und  doch  bezeichnen  beide  auch  eine  Vor- 
richtung, mit  der  man  die  Tiere  erschreckt.  Dafür  könnten 
viele   Analogien   gebracht    werden.     Ich    beschränke    mich  auf 


ll 


412  W.  F.  Otto 

etwas  unserer  Frage  Naheliegendes.  S.  537  habe  ich  zum 
Vergleich  mit  religio  die  Worte  öißsiv,  6sßs6d-ai  {öoßdo}) 
herangezogen.  Der  Zustand  dessen,  der  ösßsi,  öeßercci,  wird 
mit  ösßas  bezeichnet.  Dies  Wort  verdient  tatsächlich  in  mehr 
als  emer  Hinsicht  mit  religio  verglichen  zu  werden.  Es  be- 
deutet „Scheu":  ösßag  ^'  6%si  siöoQÖavra.  Aber  gleichzeitig 
wird  auch  der  Gegenstand,  angesichts  dessen  der  Mensch 
Scheu  empfindet,  mit  Gsßag  bezeichnet.  Iß  6sßag  i(iol  (idyv- 
örov,  'Ayd^s^vov  avai,  redet  Klytaimestra  ihren  Gatten  an 
(Eur.  Iph.  Aul.  633).  Der  furchtsame  Mädchenchor  in  Aisch. 
Hiket.  755:  ov  ^ij  rgiaCvccg  tccöÖs  xal  &Eä)v  ösßr}  dsCöavxsg 
-^/xöv  X^LQ^  ccTCÖöxavTai.  Ebenda  82:  söTt  8a  tccctc  tioXbiiov 
xeiQOiiivoig  ßcofibg  ccQijg  (pvydöiv  Qv^a,  daiiiövcov  ösßag.  Hier 
ist  also  ösßccg  ;,die  Scheu"  ganz  deutlich  objektiviert,  und  wie 
es  oben  hieß:  religio  terrebat,  so  hier  ösßrj  deCßavreg.  Ja  noch 
weiter  läßt  sich  der  Gebrauch  von  ösßag  mit  dem  von  religio 
vergleichen.  Ich  habe  S.  535  aus  einer  verlorenen  Rede  des 
alten  Cato  den  Satz  zitiert:  miror  andere  atque  religio7iem  non 
teuere,  statuas  deorum  .  .  .  signa  domi  pro  sitppellectile  statuere^ 
Cato  ist  indigniert,  daß  man  Keckheit  genug  besitze  und  die 
religio  einen  nicht  zurückhalte,  so  frevelhaft  mit  den  Götter- 
bildern umzugehen.^  Damit  vergleiche  man  Aesch.  Eum.  690 tf., 
wo  es  vom  Areopag  heißt:  iv  öe  rq)  ösßag  äöräv  (poßog  xs 
Gvyysvrig  xb  fii)  cidixstv  6xri6Bi.  —  Nach  Kobbert  S.  37  und 
47  ist  die  Formel  religio  est  (aliquid  facere)  gleichbedeutend 
mit  nefds   est.      Das    ist    an    sich    wenig   wahrscheinlich.     Die 

'  Kobbert  tadelt  mich,  S.  45,  1,  daß  ich  mit  Jordan  80  geschrieben, 
während  doch  nirgends  gesagt  werde  religionem  tenere,  sondern  immer 
nur  religione  teneri,  und  deshalb  sei  aus  M,  der  gegen  die  anderen  codd. 
religione  bietet,  mit  Änderung  des  tenere  in  tenerei  zu  lesen:  religione 
non  tenerei,  wie  Hertz  vorgeschlagen.  Seltsam!  Vier  Seiten  später 
zitiert  er  selbst  Liv  27,  25,  7  MurceUafm  aliae  atque  aliae  obiectae  animo 
religiones  tnebant. 

*  Wie  Kobbert  in  der  religio  dieser  Stelle  eine  ler  sacra  sehen 
kann  (S.  45,  1),  ist  mir  völlig  unbegreiflich. 


Religio  und  Superstitio  413 

Stellen,  die  datür  angeführt  werden,  ergeben  für  jede  vor- 
urteilslose Auffassung  den  Sinn:  „es  ist  bedenklich".  Kobberts 
erstes  Beispiel  zwingt  sogar  zu  dieser  Auffassung:  Liv.  VI  i^T,  4 
religio  erat,  an  Stelle  eines  verstorbenen  Zensors  einen  anderen 
zu  wählen;  deshalb  dankt  auch  der  überlebende  ab;  allein 
auch  eine  zweite  Zensorenwahl  erweist  sich  als  ungültig;  nun 
sieht  man  von  einer  dritten  Neuwahl  ab,  denn  sie  zu  ver- 
anstalten war  religiosum,  weil  die  Götter  eine  Zensur  für  dies 
Jahr  offenbar  nicht  wünschten.  Wer  wollte  hier  an  Stelle 
von  religiosum:  nefas  setzen?  Das  Nächstliegende  dürfte  doch 
wohl  sein,  die  Ausdrücke  religio  est  und  religioni  est  für  gleich- 
bedeutend zu  halten.^  In  dem  letzteren  erkennt  natürlich  auch 
Kobbert  die  Gemütsbewegung.  Sie  werden  auch  tatsächlich 
völlig  parallel  verwendet:  z.  B.  Fest.  p.  285  religioni  est  quibits- 
dam  porta  Carmetüali  egredi  und  Sueton  Aug.  6  huc  introire 
nisi  necessario  et  caste  religio  est.  Gerade  der  letzte  Satz  be- 
weist nach  Kobbert  p.  4."^,  daß  sein  religio  est  nicht  einen 
menschlichen  Affekt,  sondern  eine  lex  quae  letat  bedeute.  Hätte 
er  gelesen,  wie  Sueton  in  der  zweiten  Hälfte  des  Satzes  fort- 
fährt, so  wäre  ihm  klar  geworden,  daß  er  für  das  Gegenteil 
spricht.  Der  ganze  Satz  lautet  nämlich:  huc  introire  .  .  .  religio 
est  concepta  opinione  veteri.  quasi  temere  adeuntibus  Iwrror 
quidam  et  metus  obiciatur,  sed  et  mox  confirmata  (durch  eine 
nächtliche  Spukgeschichte).  Eine  religio,  die  opinione  conci- 
pitur  und  durch  ein  Ereignis  confirniatur,  ist  doch  wohl  ein 
„Bedenken"  und  kein  „Gesetz".  Aber  noch  weiter:  die  oben 
angeführte  Liviusstelle  sagt,  daß  es  religio  erat,  einen  Zensor 
an  Stelle  eines  gestorbenen  zu  wählen.  Im  vorhergehenden 
Buch  {V  31,  G)  hatte  Livius  den  Grund  dafür  angegeben: 
C.  luliiis  censor  decessit.  in  eins  locum  M.  Cornelius  suff'ectus. 
quae  res  postea  religioni  fuit,  quia  eo  lustro  Borna  est  capta: 
nee   deinde   unquam    in   demortiii  locum   censor  sufßcitur.     Man 

'  Vgl    z.  B.   pwhr    est    >eferre  und  pudori  est  narrare,  beides  von 
Ovid  (met.  XIV  18  und  VII  687)  in  ganz  gleicher  Bedeutung  gebraucht. 


414  W.  F.  Otto 

sieht,  daß  zwischen  religio  est  und  religioni  est  kein  wesent- 
licher Unterschied  des  Gedankens  ist.  Auch  mit  diesem  Aus- 
druck vergleichen  wir  ösßag:  Ilias  XVIII  178  fordert  Iris  den 
Achill  auf,  zum  Schlachtfeld  zu  gehen,  damit  der  Leichnam 
des  Patroklos  nicht  in  die  Hände  der  Feinde  falle:  aAX'  äva, 
[ir]d'  sxi  xslöo'  Geßccg  da  6s  d^v^bv  IrJöd^co,  licet Qozkov  Tgafißi 
xvölv  iiilmqO'Qa  ysveö&ai.  Ahnlich  wird  alS&g  iöxi  gebraucht: 
Aesch.  Agam.  948  sagt  Agamemnon,  es  sei  bedenklich,  über 
so  prächtige  Teppiche  hinzuschreiten,  wie  Klytaimestra  sie  für 
ihn  auf  den  Boden  gebreitet:  'nal  tot6de  /t'  eiißaivovd-''  äXovQ- 
ysöLv  d'S&v  fir]  tls  TtQoöco&sv  'ö^^arog  ßdloi  (pd^ovog.  TCoXXii 
yaQ  aldcog  sliiarocpQ'OQHV  (überliefert  öcoiiatocpQ^OQslv)  %o6lv 
GrsCßovra  nXovxov  ccQyvQcavi^xovg  v(pdg. 

Oben  habe  ich  von  dem  Übergang  abstrakter  Worte  in 
konkrete  Bedeutung  gesprochen.  Wie  fern  dem  Verfasser  — 
und  leider  vielen  Philologen  —  das  Verständnis  dieser  Sprach- 
erscheinung ist,  zeigen  seine  Ausführungen  S.  41.  Nach 
meiner  Erklärung  geht  die  Bedeutung  omen,  prodigium,  die 
religio  bisweilen  annimmt,  natürlich  aus  von  der  Grundbedeu- 
tung „Scheu",  „Bedenklichkeit".  Sed  qua  ratione  id  ftat,  non 
satis  explicatur  wirft  Kobbert  ein.  Schon  oben  ist  auf  formido 
und  metus  hingewiesen  worden,  die,  obgleich  sie  doch  ur- 
sprünglich und  immer  Affekte  des  Menschen  bezeichnet  haben, 
dennoch  zugleich  einen  Gegenstand  bedeuten,  der  Schrecken 
einjagt.  Bedeutet  dsl^a  nicht  auch  das,  was  in  Schrecken 
setzt?  Aesch.  Cho.  524:  Klytaimestra  fährt  auf  ex  t'  övsiQoi- 
xö)v  xal  vvxxLJild'yxxov  ÖEi^dxcov.  Ist  nicht,  um  ein  Beispiel 
aus  anderer  Sphäre  zu  gebrauchen,  ö^rg  das  Sehen  und  zu- 
gleich der  Anblick  und  das  „Gesicht?"  o^ftg  eWvjjo/  kommen 
in  das  Schlafgemach  der  lo  und  reden  zu  ihr  (Aesch.  Prom. 
645).  Doch  das  sind  ein  paar  Beispiele  für  eine  Sprach- 
erscheinung, die  geradezu  die  Regel  ist.  Wenn  Icgio  von 
altersher  nicht  mehr  „das  Auswählen",  sondern  „das  Aus- 
gewählte" (vgl.  optio  den  Chargierten,  sogar  maskulinisch   ge- 


Religio  und  Superstitio  415 

worden,  wie  der  podestä)  bedeutet,  wie  sollte  es  aufßLllig 
sein,  daß  das  nach  meiner  Meinung  etymologisch  damit  ver- 
wandte (*relegio)  religio  neben  der  immer  gebliebenen  Grund- 
bedeutung „Bedenken",  „Scheu"  auch  dasjenige  bezeichnet,  auf 
das  sich  Bedenken  und  Scheu  beziehen?  Nach  Kobberts 
Meinung  dagegen  bedeutet  religio,  wenn  es  gleich  omen  ist, 
auch  wieder  interdidum  vd  praeceptum.  Dies  interdictum  wird 
durch  das  omen  gegeben;  allmählich  aber  ist  es  zur  Bezeichnung 
des  Omens  selbst  gebraucht  worden.  Ob  der  Begriff  des  Be- 
denkens, des  Scheuerregenden  oder  der  des  Verbotes  dem 
Omen  näher  kommt,  möge  der  Leser  selbst  entscheiden. 

Es  hieße  eine  starke  Geduldsprobe  vom  Leser  erwarten, 
wollte  ich  alle  Einzelheiten,  mit  denen  Kobbert  seine  These 
zu  erweisen  sucht,  vornehmen.  Sie  sind  meist  der  Art,  wie 
die  S.  43  aufgestellte  Behauptung,  das  Verbum  obicere  bei 
Plaut.  Merc.  881  (religionem  illic  <jni^  obiecit)  beweise,  daß 
rdigionem  extrinsecus  in  hominem  invadere,  also  kein  Affekt 
mit  dem  Worte  gemeint  sein  könne.  Schade,  daß  nach 
römischer  Ausdrucksweise  furor,  libido,  terror,  metus  usw. 
homines  invadunt,  und  daß  nicht  bloß  religio,  sondern  auch, 
wie  jedes  Lexikon  lehrt,  metus,  terror,  spes,  dolor  usw.  alicui 
öbiciuntur.  Häufig  braucht  man  nur  an  unser  „Gewissen"  zu 
denken,  um  sofort  zu  sehen,  wie  wenig  die  Argumentation 
Kobberts  wirklich  beweist.  S.  46  macht  er  im  Anschluß  an 
den  vorhin  besprochenen  Ausdruck  rdigio  est,  der  eine  Warnung 
enthält,  auf  Fälle  aufmerksam,  wo  diese  oder  ähnliche  Aus- 
drucksarten im  Gegenteil  ein  Gebot  enthalten  (Plin.  n.  h.  XXXV  3 
scrobem  repleri  vario  genere  friigum  rdigio  est  ac  terrae  piamen- 
tum),  und  meint,  es  sei  völlig  klar,  daß  hier  der  Begriff  der 
Scheu  den  syntaktischen  Zusammenhang  sowohl,  wie  den  Sinn 
zerstöre;  es  handle  sich  um  eine  Weisung,  die  von  außen  an 
den  Menschen  herantrete,  nicht  aus  ihm  selbst  entstanden  sein 
könne.  Zum  Beweis  führt  er  Stellen  wie  Cicero,  Cluent.  159 
und  pro  Font.  3  an,  wo  es  heißt:  rdigio  cogit.     In   der  ersten 


416  W.  F.  Otto 

Stelle  wird  das  Ideal  eines  guten  Richters  gezeichnet;  dazu 
gehört,  daß  er  nie  an  seine  Privatwünsche  denkt,  sondern  nur 
daran  quid  lex  et  religio  cogat.  Die  Stelle  ist  von  Kobbert 
schon  S.  39  besprochen  worden;  es  heißt  dort,  daß  religio  hier 
nur  als  lex  aufgefaßt  werden  könne,  und  das  gehe  unwider- 
sprechlich  schon  allein  aus  dem  Verbum  cogere  hervor.  Nun, 
ich  denke  doch,  daß  das  „Gewissen"  manchen  Menschen 
„zwingt",  etwas  zu  tun  oder  zu  lassen.  Oder  ist  es  etwa  un- 
lateinisch, von  conscientia,  verecundia,  pudor,  metus,  timor  usw. 
zu  sagen,  daß  sie  cogunt?  Was  soll  aber  außerdem  neben  lex 
religio  an  unserer  Stelle  anderes  bedeuten  als  „Gewissen- 
haftigkeit*'? Gerade  vom  Richter  wird  ja  doch  immer  aus- 
drücklich fides  und  religio  verlangt,  und  man  spricht  lobend 
von  einem  iudex  religiosus,  wie  auch  von  einem  testis.  Was 
da  gemeint  ist,  zeigt  Ciceros  Aufforderung  an  die  Richter  ein 
paar  Zeilen  vorher:  religioni  potius  vestrae  quam  odio  pareatis. 
Ist  das  nicht  deutlich  genug?  Und  doch  beweist  nach  Kobbert 
S.  39  das  bei  religio  auch  sonst  vorkommende  Verbum  parere, 
daß  es  sich  da  immer  um  leges  handle.  So  heißt  es  in  der- 
selben Rede  121  suae  potius  religioni  quam  censorum  opinioni 
paruerunt.  Und  damit  ja  kein  Zweifel  bleibe,  was  mit  religio 
gemeint  ist,  steht  direkt  vorher  (121)  iudiciis  eorum,  qui 
iurati  statuere  maiore  cum  religione  et  diligentia  dehuerunt. 
Auf  dasselbe  führt  für  unsere  Frage  pro  Font.  3:  difficile  est 
eum,  qui  magistratui  pecimiam  dederit,  non  aut  induci  odio  ut 
dicat,  aut  cogi  reKlig^ione.  Wenn  endlich  Kobbert  noch 
Statius  silv.  V  praef.  anführt,  so  möge  der  Leser  selbst  über 
den  Satz  urteilen:  uxorcm  enim  vivam  amare  voluptas  est, 
defunctam  religio.  Alle  die  hier  besprochenen  Stellen  sollen 
nach  Kobbert  beweisen,  daß  der  Begriff  religio  nicht  von  einem 
Gemütszustande  ausgegangen,  sondern  etwas  einer  lex  ähnliches 
sei.  Um  nun  wieder  zu  der  Pliniusstelle  zurückzukehren,  so 
zeigt  sie  allerdings,  daß  religio  est  auch  einmal  einen  Antrieb, 
nicht  wie   sonst   eine  Warnung,   enthalten   kann.     Wir  haben 


Religio  und  Superstitio  417 

es  hier  natürlich  mit  derjenigen  Bedeutung  von  religio  zu  tun, 
die  sie  dem  ciiltus  und  ritus  naherückt.  Wenn,  wie  Kobbert 
annimmt,  eine  Art  von  lex  gemeint  wäre,  so  bliebe  völlig  un- 
faßbar, wie  derselbe  Ausdruck,  der  sonst  nach  Kobberts  Defi- 
nition den  Sinn  von  nefas  est  hat,  plötzlich  das  gerade  Gegen- 
teil bedeuten  könnte.  Gehe  ich  dagegen  von  relegere^  „acht 
geben",  „beachten",  „bedenken"  iivn  Gegensatz  zu  neg-legere) 
aus,  so  erklärt  sich  alles  von  selbst.  Wie  viel  kann  uns  schon 
allein  unsere  eigene  Sprache  lehren I  Wenn  ich  mich  „be- 
denke" angesichts  irgendeiner  Sache  oder  Handlungsweise,  so 
kann  das  dazu  führen,  daß  die  Sache  selbst  ein  „Bedenken" 
zu  enthalten  scheint,  ich  mich  also  vor  ihr  in  acht  nehme; 
oder  aber,  ich  komme  dazu,  sie  zu  „beachten"  observare,  und 
diese  „Beachtung"  observatio  wird  selbst  eine  Handlungs- 
weise (vgl.  Val.  Max.  I  1,  8  quo  minus  religionibus  suus  ienor 
simqiie  observatio  redderetur).  Ich  „bedenke"  eine  Sache,  und 
der  Erfolg  ist,  daß  in  mir  ein  „Bedenken"  aufsteigt:  oder 
aber,  der  Erfolg  ist  der,  den  sich  Papageno  wünscht:  „wenn 
die  Götter  uns  bedenken,  unsrer  Liebe  Kinder  schenken", 
den  sich  so  mancher  wünscht,  wenn  er  gern  im  Testamente 
„bedacht"  sein  möchte;  „es  ist  unser  treuer  Rat,  väterliches 
Bedenken  und  Verordnung,  daß  .  .  ."  sagt  der  Landes vater 
(Grimms  Wörterbuch).  Wir  sehen  also,  wie  leicht  die  Be- 
deutung des  Ritus  und  des  Kultus   aus  dem  Grundbegriff  des 

1  Es  ist  gewiß  nicht  angängig,  das  von  Gell.  IV  9,  1  aus  einem 
alten  Vers  angeführte  religens  als  dichterische  bzw.  etymologische  Fiktion 
abzutun.  Charakteristisch  ist  die  Ausdrucksweise  Jordans  in  Prellers 
Rom  Myth.  P  128  Anm. :  „wohl  jedenfalls  eine  etymologische  Er- 
findung". Aus  Ciceros  "Worten  d.  nat.  deor.  11  72  geht  hervor,  daß  für 
ihn  ein  Wort  relegere  jedenfalls  nichts  Unwahrscheinliches  enthielt,  und 
wenn  es  bei  dem  alten  Dichter  wirklich  „Augenblicksschöpfung"  ge- 
wesen sein  sollte  (Solmsen  bei  Kobbert  p.  58,  1),  warum  sollte  sein 
Sprachgefühl  nicht  gerade  das  geschaffen  haben,  was  zu  seiner  Zeit 
schon  außer  Gebrauch  gekommen,  ehemals  aber  gebräuchlich  gewesen? 
Doch  wozu  der  ganze  Skeptizismus  bei  einem  Worte,  das  doch  schon 
Nigidius  Figulus  ex  antiquo  carmine  zitiert  hat? 

Archiv  f.  ReUgionswissensehftft  XTV  27 


418  W.  F.  Otto 

relegere  erklärt  werden  kann,  und  wie  verständlich  der  Gebrauch 
in  der  Pliniusstelle  oben  ist.^  Dies  zur  Erläuterung  meiner 
im  ersten  Aufsatz  S.  537  gemachten  Bemerkungen,  die  Kobbert 
künstlich  und  gezwungen  erschienen  sind. 

Wie  einfach  von  demselben  Grundbegriffe  aus  solche  Aus- 
drucksweisen wie  sepulcrum  religione  tenetur,  populus  religione  obli- 
gatur,  religio  aliquem  impedit  usw.  verstanden  werden  können,  wird 
jeder  selbst  erkennen.  Kobbert  dagegen  hat,  soviel  ich  sehe,  nichts 
getan,  um  zu  erklären  oder  Analoga  dafür  beizubringen,  daß  ein 
Begriff,  der  ursprünglich  etwa  nefas  oder  lex  bedeutet  hat,  zur  Be- 
zeichnung eines  Gemütszustandes  verwandt  worden  sein  könnte. 
Worte  für  „Scheu",  „Ehrfurcht",  „Sorge"  usw.  werden  in  den  alten 
Sprachen  ganz  allgemein  auch  zur  Bezeichnung  der  Gegenstände 
dieser  Affekte  verwandt;  wo  aber  solche,  die  ein  Verbot  oder  ein 
Gesetz  bezeichneten,  in  die  Bedeutung  der  Gemütsbewegungen 
der  Furcht,  des  Bedenkens,  des  Zweifels  übergegangen  wären, 
wüßte  ich  wenigstens  nicht  zu  sagen. 

Aber  der  Verfasser  sagt  uns  ja  glücklicherweise  ganz 
offen,  von  welcher  vorgefaßten  Meinung  ausgehend  er  zu  seinen 
Aufstellungen  gelangt  ist.  Er  sagt  S.  53:  iam  per  se  verisi- 
milius  est  religionem  primiim  externis  rebus  adhaesisse,  posiea 
demum  in  hominum  animis  esse  collocatam.  Coniectare  enim 
licet  in  sermone  Jiominum  eas  notiones,  quibus  hominum  natura 
exprimitur,  omnino  tunc  demum  ortas  esse,  cum  lingwi  iam 
magis  esset  exculta.  Wenn  damit  eine  unerforschliche  barba- 
rische Urzeit  gemeint  ist,  so  mag  es  sich  hören  lassen.  Für 
unsere  Forschung  sollte  es,  denke  ich,  genügen,  daß  die  Kate- 
gorie des  Abstraktums  zum  indogermanischen  Gemeinbesitz 
gehört.  Natürlich  stützt  sich  Kobbert  auf  Useners  Abstrakten- 
theorie.  In  den  Götternamen  S.  364  ff.  erkennt  Usener  mit 
vollem  Rechte  gegen  Frühere  das  Alter  und  die  Bedeutung 
der    abstrakten    Gottesbegriffe   an.      Aber    er    meint    (S.  370), 

*  Übrigens  ebenso  Liv.  X  37,  16  ut  aedem  etiam  ßeri  senatiis  iu- 
beret  .  .  .  in  religionem  venit. 


Religio  und  Superstitio  419 

sie  seien  in  Wahrheit  als  Adjektiva  zu  verstehen,  und  S.  371 
wirlt  er  die  Frage  auf,  „ob  die  Sprache  überhaupt  ursprüng- 
liche Abstrakta  besitzt,  d.  h  ob  die  Wortbildungen,  welche  zur 
Bezeichnung  abstrakter  Begriffe  dienen,  zu  diesem  Zweck  ge- 
schaffen sind  oder  ihre  Wertung  erst  nachträglich  erhalten 
haben".  Seiner  Meinung  nach  ist  das  letztere  der  Fall.  Was 
Üsener  des  weiteren  ausführt,  gehört  zu  den  Irrtümern,  gegen 
die  man  trotz  aller  Verehrung  des  großen  Mannes  nicht  blind 
sein  darf.  Es  mag  genügen,  auf  die  Abhandlung  über  das 
indogermanische  Abstraktum  bei  Brugmann,  Grundriß  IP  1,  628 
zu  verweisen,  wo  natürlich  auch  die  Bemerkung  über  die 
„Leichtigkeit"  nicht  fehlt,  „mit  der  die  Abstrakta  überall  in 
Sachbedeutung  hinüberschwanken".  Ganz  unbegreiflich  aber 
ist  es,  wie  Kobbert  üsener  die  Worte  nachsprechen  kann,  daß 
in  Ausdrücken  wie  cpoßog  siefiXd^sv  noch  die  alte  Bedeutung 
durchschimmere,  noch  eine  letzte  Erinnerung  daran  vorliege,  daß 
q)6ßog  zuerst  ein  Gott  („der  Scheucher")  gewesen  und  dann  erst  die 
Gemütsbewegung  (vorher  die  Handlung  des  Fliehens)  geworden. 
Es  ist  überflüssig,  an  das  lateinische  invadere  (oben  S.415)  zu  er- 
innern. Soll  dasselbe  gelten  für  11.  XVII 157  olöv  t'  {(isvog  noXv&aQ- 
6sg,  atQOnov)  ävdgag  iöSQXsrai  oln:£gi  JcdtQTjg  ävÖgaöi  dvd^svseOöi 
xövov  xal  drjoiv  sd'svto?  Auch  für  ycod'og,  si-eog,  ixi^vfiCa,  die 
siöegxovrai?  Ebenso  bei  sie^tCmco.  Wer  wollte  aus  Ilias  IX  436 
inel  xoXog  äfiTießs  &vfip  auf  einen  alten  Gott  schließen?  Oder 
aus  dem  lateinischen  timor  incessit  animos?  ^Vir  wissen  ja, 
daß  06ßog  wirklich  ein  entsetzlicher  alter  Gott  gewesen  ist. 
Aber  das  hindert  nicht,  zu  glauben,  wie  die  Sprachwissen- 
schaft verlangt,  daß  er  eben  von  der  Flucht  und  dem  für  sie 
charakteristischen  Affekt  seinen  Namen  erhalten  hat,  als  ihr 
Erreger,  gerade  wie  der  doch  gewiß  auch  alte  "Egcog  von  der 
Liebesleidenschaft  benannt  ist,  und  nicht  umgekehrt.  Daß  die 
Alten  dem  Wesen,  von  dem  sie  glaubten,  daß  es  die  entsetz- 
liche Krankheit  des  Davonlaufens  errege,  richtiger,  das  sie 
eben  im  entsetzten  Davonlaufen,   dann   im  Schreck   überhaupt 

27* 


420  W.  F.  Otto 

erlebten,  keinen  anderen  Namen  gegeben  haben,  als  eben  den 
der  „Flucht",  des  „Schreckens",  ist  ebensowenig  zu  yerwundern, 
als  daß  sie  die  Gröttin  der  Fieberkrankheit  nach  diesem  Körper- 
zustand JEehris  genannt  haben.  Der  Zustand  des  Menschen, 
den  die  Sprache  abstrakt  bezeichnen  muß,  ist  nach  alter  An- 
schauung etwas  Reales,  das  von  außen  her  als  Ganzes  über 
ihn  kommt  und  ihn  überwältigt. 

Wir  befinden  uns  hier  wirklich  an  der  Schwelle  der 
Religion.  Ich  stimme  Marett  völlig  zu,  wenn  er  sagt  (Pre- 
animistic  religion,  in  The  Threshold  of  Religion,  London  1909, 
S.  13):  Of  all  English  words  Awe  is,  I  think,  the  one  that 
expresses  the  fundamental  Beligious  Feeling  most  nearly.  Aive 
is  not  the  same  thing  as  "pure  funk".  "Primus  in  orhe  deos 
fecit  timor"  is  onlij  true  of  we  admit  Wonder,  Admiration, 
Interest,  Respect,  ever  Love  perhaps,  to  he,  no  less  than  Fear, 
essential  constituents  of  this  elemental  mood.  Wer  nil  admiratur, 
ist  nicht  mehr  religiös.  Sollte  nicht  schon  allein  unser  Wort 
„Wunder"  lehren,  wie  wenig  der  Vorwurf  des  Gekünstelten, 
den  Kobbert  meiner  Ableitung  des  Begriffes  religio  im  Sinne  von 
omen,  prodigium  macht,  zutrifft?  Das  „Wunder",  das  des  Glaubens 
liebstes  Kind  ist,  was  ist  es  anderes,  als  unsere  „Verwun- 
derung"? „Das  nimmt  mich  wunder"  sagen  wir,  und  ähnlich 
schon  das  Mittelhochdeutsche.  Wir  brauchen  diesem  „Wunder" 
nur  eine  kleine  Nuance  von  Ängstlichkeit  zu  geben,  so  sind 
wir  bei  dem  römischen  in  religionem  venit.  Genau  ebenso  ist 
es  natürlich  mit  dem  griechischen  &avfia:  &av^a  idiöd-ui, 
d-ccvficc  /x£  £%£t,  -d-av/ia  noiEl6%-al  tivog  usw.;  was  der  Zauberer 
vollbringt,  sind  %-aviiaxa.  Der  nächsthöhere  Grad  dieses 
„Wunders"  ist  im  lateinischen  superstitio,  und  so  haben  es  die 
Römer  selbst  beurteilt.  Dem  entspricht,  daß  ich  das  Wort  auf 
eine  Stufe  mit  ^xtfratftg  gesetzt  habe. 

Es  wäre  ungemein  lohnend,  einmal  eine  große  Anzahl 
verwandter  und  unverwandter  Sprachen  danach  zu  befragen, 
wie    in    ihnen    die    Begriffe    der    Achtung,    Ehri'urcht,  Scheu 


Religio  und  Snperstitio  421 

schließlich  Frömmigkeit  bezeichnet  worden  sind  Ich  hin  über- 
zeugt, daß  meine  Meinung  von  religio  dadurch  nur  in  helleres 
Licht  gesetzt  werden  würde.  Gerade  die  Doppelseitigkeit,  die 
die  religio  nach  meiner  Auffassung  hat,  ist  für  eine  Reihe 
ähnlicher  Begriffe  in  anderen  Sprachen  charakteristisch.  Oben 
ist  auf  6sßE6d-ai,  ösßag,  uldslöd-cci,  uiöäg  hingewiesen  worden. 
Der  uralte  Begriff'  der  alÖäg  ist  mit  dem  der  religio  in  mancher 
Beziehung  verwandt.  Er  enthält  etwas  Negatives  und  zugleich 
etwas  Positives,  genau  wie  religio.  Dias  XXIV  90  aldeo[iai 
öt  alöytö^  ad aväxoiöLV.  Aesch.  Cho.  899  nvXdörj,  xC  dgaöcj; 
juijTf'p'  uidsöd-ä  xtsvsiv;  dann:  Öei  Q^sovs  (liv  ösßaöd'ai^  yoveag 
de  Tt/iÄj/,  :iQ£Gßvr£QOvs  aidtte&ai  und  vieles  andere.  Das  sind 
alles  Nuancen  von  relegere.  Man  vergleiche  die  verwandten 
Sprachen  (Walde,  Latein,  etymol.  Wörterbuch*  S.  18).  Ver- 
wandt scheint  gotisch  aistan,  ga-aistan:  Luk.  18,  4  jdbai  .  . 
mamian  ni  aista  [al  .  .  .  ovdh  avd'gaxot'  ivroano^ai  —  wenn 
ich  nach  keinem  Menschen  etwas  frage  i.  Mark.  12,  6  qißands 
ßatei  gariistand  sunu  nieinana  (ivrgaxi^öovTai  xbv  vlov  [tov  — 
sie  werden  meinen  Sohn  scheuen).  Hier  haben  wir  das  ovx 
ccXeysLv,  non  rdegere,  neglegere  (vgl.  auch  das  ähnliche  respi- 
cere:  Cornelius  Severus  bei  Sen.  suas.  6,  2 6  nee  lubrica  fata 
deosque  respexit).  Wenn  mit  diesen  Worten  wirklich  ahd.  erüj 
marrucinisch  aisos  (den  Göttern),  oskisch  aisusis  (sacrißciis)  usw. 
zusammenhängen,  so  paßt  das  wiederum  vortrefflich.  Mit 
aidonai  wird  endlich  auch  altind.  ide  „verehre,  preise,  flehe 
an"  verglichen.  Man  sieht,  wie  gut  alles  zusammenstimmt. 
Überall  haben  wir  Analoga  zu  relegere  und  religio. 

Zum  Schluß  seien  noch  ein  paar  Worte  im  Anschluß  an 
meine  Ausführungen  über  super  st  itio  a.  a.  0.  S.  548  ff.  ge- 
stattet. Ich  gehe  hier  von  dem  Begriff  der  Aufregung  aus, 
setze  superstitio  der  sxözaöig  gleich,  mache  aber  insofern  einen 
Unterschied,  als  ich  in  superstitio  denjenigen  geringeren  Grad 
von  Erregung  erblicke,  bei  welchem  die  Seele  nicht  den  Körper 
geradezu  verläßt,  sondern  nur  in  die  Höhe  dringt,  so  daß  der 


422  W.  F.  Otto       Religio  und  Superstitio 

Aufgeregte  etwa  das  Klopfen  des  Herzens  in  der  Kehle  zu 
spüren  glaubt  und  nachher  von  seiner  Seele  aussagt,  sie  habe 
auf  den  Lippen  geschwebt  und  wäre  beinahe  entflohen.  Die 
Aufregung  ist  für  den  Propheten  wie  für  den  Abergläubigen 
bezeichnend.  In  ersterem  Sinne  wird  superstitio  von  den 
ältesten  Schriftstellern  gebraucht,  im  letzteren  von  den  meisten 
übrigen.  Daß  es  richtig  ist,  von  dem  Begriff  der  Erregung 
auszugehen,  lehrt  dieselbe  Erwägung,  wie  bei  religio:  auch 
superstitio  bezeichnet  die  Ängstlichkeit  überhaupt,  ohne  not- 
wendigen Bezug  auf  das  Übernatürliche;  ein  gewissenhafter 
Mensch  ist  religiosus  und  wird  als  solcher  gelobt,  wer  aber 
die  Grewissenhaftigkeit  bis  zur  ängstlichen  Kleinlichkeit  be- 
treibt, ist  superstitiosus  und  wird  getadelt  (s.  oben  S.  411). 

Als  ich  meinen  ersten  Aufsatz  niederschrieb,  war  mir  die 
Schrift  von  A.  Hahn  De  superstitionis  natura  ex  sententia 
vrterum,  imprimis  Bomanorum  (Breslauer  Universitätsprogramm 
1840)  unbekannt.  Den  Hinweis  darauf  verdanke  ich  R.  Wünsch. 
Hahn  gibt  eine  recht  nützliche  Zusammenstellung  der  für  die 
Geschichte  von  superstitio  charakteristischen  Schriftsteller- 
zeugnisse, verfehlt  aber  das  Verständnis  der  Herkunft  und 
Entwicklung  des  Wortes  völlig.  Nach  ihm  sollen  super stitionss 
zuerst  res  coelestes  et  divinae,  velut  prodigia  v  c.  .  .  .  quae  coe- 
litus  divinitusque  dbieda  vel  obstita  putarentur  gewesen  sein, 
benannt  de  rebus  super  stantibus.  Vgl.  dazu  Progr.  1854,  wo 
Hahn  S.  4,  4  die  nach  seiner  Meinung  ursprüngliche  Bedeu- 
tung von  superstitio  deutsch  wiedergibt  mit:  „Üb  er  Stellung  = 
das  Setzen  eines  Höheren  über  sich  und  die  Natur".  Darum 
sei  bei  Plautus  der  superstitiosus  der  divinus  oder  vateSj  der 
die  Himmelszeichen  zu  deuten  wisse.  Nachdem  aber  einmal 
der  Staat  aus  der  Menge  der  durch  dieses  „Überstellen" 
„Setzen  eines  Höheren  über  sich"  entstandenen  Götter  einen 
bestimmt  umgrenzten  Kreis  ausgewählt  und  den  gesamten 
Gottesdienst  gesetzlich  geregelt  hatte,  wurde  superstitio  zu 
etwas  Tadelnswertem  und  bezeichnete  ein  ITbermaß  von  religio. 


Die  älteste  griecMsche  Zeitreclmung 
Apollo  und  der  Orient 

Von  Martin  P.  NÜBSon  in  Lund 

Zu  den  Problemen,  die  nie  eine  volle  Lösnng  erhalten 
können,  weil  die  Überlieferung  der  ausschlaggebenden  Faktoren 
zu  sehr  fragmentarisch  ist,  gehört  die  Frage  von  der  Schuld, 
in  welcher  die  ältere  griechische  Kultur  gegenüber  dem  Orient 
steht.  Die  Frage  ist  aber  von  einem  solchen  grundlegenden 
Gewicht,  daß  sie  immer  wieder  zum  Gegenstand  der  Erörterung 
und  der  Forschung  gemacht  werden  muß,  damit  sie  so  allseitig 
wie  möglich  beleuchtet  werden  kann;  nur  so  ist  zu  hoflfen,  daß 
sie  vorwärtsgebracht  werde. 

Der  neuhumanistischen  Auffassung,  nach  der  die  Griechen 
die  unvergänglichen  Früchte  ihrer  geistigen  und  künstlerischen 
Arbeit  auf  völlig  eigenem  und  selbständigem  Boden  geschaffen 
haben,  steht  in  dem  sog.  Panbanylonismus  das  andere  Extrem 
gegenüber.  Die  argen  Übertreibungen  dieser  Richtung  dürfen 
uns  nicht  den  Blick  dafür  verdunkeln,  daß  auch  die  ältere 
entgegengesetzte  Auffassung  die  Selbständigkeit  der  griechischen 
Kultur  zu  hoch  eingeschätzt  haben  kann.  Niemand  hat  z.  B. 
bezweifelt,  daß  Thaies  seine  astronomischen  und  mathematischen 
Kenntnisse  aus  dem  Orient  geholt  hat,  mehr  wurde  aber  nicht 
zugestanden;  die  ionische  Naturphilosophie  und  der  orphische 
Mystizismus  sollten  trotz  aller  Anklänge  autochthon  griechisch 
sein.  Schon  Gomperz  hat  demgegenüber  in  seinen  griechischen 
Denkern  auf  den  wahrscheinlichen  Einfluß  orientalischer  Spe- 
kulationen auf  das  Denken  der  Griechen  hingewiesen,  und 
jetzt  hat  Robert  Eisler  in  seinem  Buch  über  Weltenmantel 
und  Himmelszelt  neben  vielem  Verfehlten  mit  der  Gewißheit, 
die  auf  diesem  Gebiet  möglich  ist,  wie  es  mir  scheint,  nach- 


424  Martin  P.  Nilsson 

gewiesen,  daß  der  Orphizismus  und  die  ionisclae  Naturphilosophie 
der  persisch -babylonischen  Spekulation  viel  verdanken.  Die 
Bedeutung  des  Nachweises  liegt  vor  allem  darin,  daß  er  uns 
zeigt,  daß  der  orientalische  Einfluß  nicht  nur  die  Forscher  und 
die  Weitgefahrenen  getroffen  hat,  wie  man  früher  meinte, 
sondern  auch  in  den  breiten  Schichten  des  Volkes  mächtig 
gewesen  ist.  Das  hätte  doch  längst,  wer  den  Monumenten 
nicht  völlig  fremd  gegenüber  steht,  beherzigen  sollen.  Die 
korinthische  Vasengattung  wird  in  der  Mitte  des  7.  Jahrhunderts 
herrschend  und  verdrängt  die  sog.  protokorinthische  Gattung, 
die  in  ihrer  nüchternen  Zierlichkeit  und  Akkuratesse  das 
Zeugnis  von  ihrer  Entstehung  aus  rein  griechischem  Geist 
trägt  und  in  ihrer  Art  solche  Meisterstücke  wie  die  kleine 
Kanne  aus  der  Sammlung  Chigi  geschaffen  hat.^  Jene  Sphinxe, 
Greifen,  Panther,  Löwen  usw.,  die  die  korinthischen  Vasen 
schmücken,  stammen  aus  dem  Orient,  und  die  ganze  Manier, 
die  ermüdende  Einförmigkeit  der  aneinander  gereihten  Tiere 
und  die  fast  völlige  Bedeckung  des  Grundes  mit  Füllornamenten» 
deuten  auf  die  Erzeugnisse  der  orientalischen  Teppichweberei 
als  ihre  Vorbilder  hin.  Jene  Vasen  zeigen  uns  eine  orien- 
talische Modeströmung,  die  um  diese  Zeit  Griechenland  über- 
schwemmt und  auch  hinab  zu  den  breiten  Schichten  des  Volkes 
drängt;  denn  die  korinthischen  Vasen  sind  ein  Massenartikel. 
Die  Frage,  ob  Griechenland  in  noch  älterer  Zeit  Einflüsse 
von  den  großen  Kulturländern  des  Ostens  empfangen  hat, 
drängt  sich  mit  Notwendigkeit  hervor,  und  ist  mehrfach  bejaht 
worden.  Schon  in  prähistorischer  Zeit,  sogar  in  der  Steinzeit 
hat  man  die  Spuren  der  orientalischen  Einwirkung  wahr- 
zunehmen geglaubt.  Es  steht  aber  hiermit  eigentümlich,  nicht 
nur  in  Griechenland.  Während  in  griechischer  Erde  ägyptische 
Gegenstände  des  zweiten  vorchristlichen  Jahrtausends  und  in 
Ägypten   zahlreiche   mykenische  Vasen  gefunden   worden  sind. 


*  Ant.  Denkm.II.  Tf  44/6 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     425 

können  wir  solche  handgreifliche  Zeugen  von  der  Verbindung 
mit  dem  babylonischen  Kulturkreise  nicht  aufzeigen.  Es 
scheint,  als  ob  Babylonien  mehr  Ideen  exportiert  hat,  und 
diese  tragen  nicht  das  made  in  Babylonia  so  deutlich  auf- 
geprägt, daß  es  von  der  Nachwelt,  die  erst  aus  zersplitterten 
und  dürftigen  Fragmenten  sich  ein  Bild  von  der  Gedanken- 
welt und  geistigen  Kultur  der  verschiedenen  Völker  zusammen- 
suchen muß,  unmittelbar  erkannt  wird. 

Um  so  wichtiger  ist  es,  daß  abgesehen  von  den  Fällen, 
wo  ein  Einfluß  Babyloniens  nur  vermutet  wird,  ein  solcher  in 
einem  Falle  in  der  kretisch  -  mykenischen  Periode  konstatiert 
werden  kann.  Jene  Bronzebarren,  die  in  nicht  geringer  Zahl 
an  mehreren  Stellen,  z.  B.  in  H.  Triada,  gefunden  worden  sind, 
haben  ein  durchschnittliches  Gewicht  von  einem  babylonischen 
Talent;  daß  dieses  Gewicht  absichtlich  gewählt  ist,  erhellt 
daraus,  daß  auch  Barren,  welche  die  Hälfte  oder  das  Viertel 
eines  Talentes  wiegen,  gefunden  worden  sind.  Die  Übernahme 
des  babylonischen  Gewichtes  von  den  Griechen  ist  also  schon 
in  der  Bronzezeit  erfolgt.^ 

Es  ist  längst  vermutet  worden,  daß  die  Fristen  von  sieben 
Tagen  usw.  und  die  damit  zusammenhängende  große  Rolle  der 
Siebenzahl  in  der  Religion  und  sonst  auf  den  Orient  zurück- 
gehe, obgleich  die  Übernahme  von  den  Griechen  in  sehr  früher 
Zeit  geschehen  sein  müßte.*  Zur  Zeit  ist  man  aber  von  dieser 
Annahme  zurückgekommen  und  nimmt  am  liebsten  einen 
selbständigen   griechischen   Ursprung    an.      Dieser   Standpunkt 


•  Es  ist  das  Verdienst  Svoronos'  die  Bedeutung  dieser  Funde  in 
seinem  für  die  Entstehung  des  Geldes  grundlegenden  Aufsatz  im  Journ. 
d'arch.  tiumism.  9  (1906)  153  S.  geschildert  zu  haben. 

*  F.  V.  Andrian  Die  Siebenzahl  im  Geistesleben  der  Völk^  (Mitt.  der 
anthropol.  Ges.  in  Wien  XXXI 1901  S.  225  ff.)  kommt  nach,  einer  Musterung 
der  Beispiele  aus  allen  Erdteilen  zu  dem  Resultat,  daß  eine  besondere 
Bedeutung  der  Siebenzahl  im  größten  Teil  von  Afrika.  Amerika  und 
Australien,  ja  sogar  bei  einigen  europäischen  Völkern  fehlt,  und  daß 
sie  sich  von  Mesopotamien  nach  verschiedenen  Richtungen  ausgebreitet  hat. 


426  Martin  P.  Nilsson 

wird  vor  allem  von  Röscher  in  seiner  ausführlichen  Unter- 
suchung von  der  Rolle  der  Sieben-  und  der  Neunzahl  in 
Kultus,  Mythologie,  Zeitrechnung  und  Philosophie  vertreten;^ 
um  so  größer  ist  meine  Pflicht,  die  Schuld  anzuerkennen, 
in  der  ich  für  die  folgenden  Bemerkungen  bei  dem  von 
Röscher  mit  unermüdlichem  Fleiße  und  Sorgfalt  gesammelten 
Material  stehe. 

Die  hebdomadischen  Fristen  dürfen  aber  nicht  in  ge- 
künstelter  Isolierung  betrachtet  werden,  sondern  müssen  auf 
ihren  Platz  in  dem  Zusammenhang  eingestellt  werden;  daher 
müssen  sie  nicht  nur  mit  den  mit  ihnen  zunächst  kon- 
kurrierenden enneadischen  Fristen,  sondern  auch  mit  den 
anderen  Weisen  der  Zeitrechnung  in  dem  ältesten  Griechenland 
verglichen  werden. 

Der  griechische  Monat  ist  ein  von  dem  Mond  abhängiger 
wirklicher  Mondmonat,  welcher  durch  die  Einschaltung  eines  drei-^ 
zehnten  Monats  in  gewissen  Jahren,  oft  auf  willkürliche  WeiseJ 
mit  dem  Sonnenjahr  ausgeglichen  wird.  Ein  Monat  in  dieser 
zwölf-  bzw.  dreizehnmonatigen  Jahr  ist  in  verschiedenen  Jahrei 
im  Verhältnis  zu  den  natürlichen  Jahreszeiten  einem  Wechselt 
unterworfen,  der  recht  beträchtlich  ist  und  bis  zu  einem  vollen 
Monat  betragen  kann.  Der  griechische  Monat  war  daher  im  Gegen- 
satz zu  unsrem  rein  konventionellen  Monat  sehr  wenig  geeignet, 
einen  Zeitpunkt  zu  bestimmen,  der  von  den  natürlichen  Jahres- 
zeiten abhängig  war.  Hierzu  hat  man  ihn  auch  ursprünglich 
nicht  und  später  nur  in  beschränktem  Maß  gebraucht.  Schon 
vor  vielen  Jahren  habe  ich  die  Bedeutung  des  Umstands  her- 
vorgehoben, daß  im  ältesten  Griechenland  die  Zeit  auf  zwei 
verschiedene  Weisen  bestimmt  wird,  teils  nach  den  Monaten, 
teils  nach  den  Auf-  und  Untergängen  der  Gestirne.*  Die  erst- 
erwähnte Art  ist   hieratisch    und    offiziell.     Selten   werden  die 

•  Röscher  Abh.  der  sdchs.  Ges.  der  Wiss.,  phil.-hist.  Kl.  XXI  Nr. 
IV,   XXIV  Nr.  I  und  VI. 

*  Stud.  de  IHonysüs  atticis,  Dias.  Lund  1900.  S.  1  ff. 


Die  älteste  griechische  Zeitrechmmg,  Apollo  und  der  Orient     427 

Monate  nur  beziffert,  sonst  sind  fast  alle  —  einige  behaupten 
alle  —  nach  irgendeinem  Fest  benannt.  Daß  die  Monatsrechnung 
auch  im  offiziellen  Gebrauch,  z.  B.  in  der  Verwaltung  und  in  der 
Ansetzung  der  Volksversammlungen,  vorkommt,  beruht  darauf, 
daß  jede  offizielle  Handlung  eine  religiöse  Weihe  hat. 

Die  Zeitbestimmung  nach  den  Auf-  und  Untergängen 
der  Gestirne  scheint  zunächst  poetisch  zu  sein,  da  sie  uns 
vornehmlich  aus  Hesiod  und  Vergil  bekannt  ist.  Das  ist  aber 
ein  Irrtum;  sie  ist  die  praktische  Rechnung  derjenigen  Leute, 
deren  Beschäftigungen  sich  nach  den  natürlichen  Jahreszeiten 
richten  müssen,  der  Bauern  und  der  Schiffer.  Da  Hesiod  für 
Ackerbau  und  Seefahrt  praktische  Ratschläge  geben  will, 
bezeichnet  er  die  Zeit  nach  den  Auf-  und  Untergängen  der 
Gestirne  —  für  ihn  ist  es  kein  poetisches  Stilmittel;  dazu  wird 
es  erst  durch  seine  Autorität  bei  den  Späteren.  Es  war  das 
einzige  Mittel,  die  von  den  natürlichen  Jahreszeiten  bedingten 
Zeitpunkte  zu  bezeichnen,  da  die  heliakischen  Auf-  und  Unter- 
gänge der  Gestirne  sich  so  unmerklich  verschieben  —  um  einen 
Monat  in  zweitausend  Jahren  — ,  daß  die  Verschiebung  erst 
von  einer  sehr  ausgebildeten  Beobachtungsmethode  bemerkt 
werden  kann.  Hiermit  verbindet  sich  natürlich  die  Beobachtung 
der  Zugvögel  und  anderer  Naturerscheinungen,  wie  die  Bauern 
bis  in  die  späteste  Zeit  sie  gehandhabt  haben.  Bei  Hesiod 
finden  sich  zahlreiche  Zeitbestimmungen  dieser  Art.  Op.  v.  448 
*VT  otv  ysQÜvov  (pcovifV  ixaxov6T}g  vpö&ev  ix  vscfscov  iviavöia 
xsxXrfyvCrjg,  486  ^/xog  xöxxvt  xoxxv^ti  dgvbg  sv  :iixä).oi6i  xh  arpörov, 
568  TÖv  ÖB  /teV  {^Aqxxovqov)  OQ^oydi]  Ilavdiovlg  cagto  x^^^^^i 
571  dXV  otcöt  av  (psgsoixog  aarö  ;i;d^ovöj  ä[i  tpvra  ßccCvT}, 
582  i}nog  ds  ffxoAv/itdg  t'  avQ^si  xal  rjxsxa  xixxit  dsvögtcj 
ig)B^6^£vog  Xi,yvQi]v  xaxafivhx'  aoidi]v,  679  ^.uog  öi]  xb  ng&xov, 
o6ov  X  ijcißäea  xogavr]  i'jjvog  iTCoCijSsv,  x666ov  %ixaX''  ävögl 
(pavtjTj  iv  xQccdi^  dxQoxdxrj. 

In  späterer  Zeit  kehrt  dasselbe  wieder:  Zeugen  sind  die 
Kaiendarien,  welche  für  jeden  Tag  des  Jahres  die  heliakischen 


428  Martin  P.  Nilsson 

Auf-  und  Untergänge  der  Gestirne,  gewöhnlich  ,  auch  wie  der 
schwedische  Almanach  noch  im  Anfang  des  vorigen  Jahr- 
hunderts die  Witterung  und  dazu,  wenn  auch  selten,  die  An- 
kunft der  Zugvögel  verzeichnen.  Ein  solches  Kalendarium  muß 
auf  das  reine  Sonnenjahr  eingestellt  sein,  weil  die  Tage  der 
Mondmonate  in  jedem  Jahr  des  Schaltzyklus  verschieden  fallen. 
Die  in  Handschrift  auf  uns  gekommenen  bezeichnen  daher  die 
Tage  nach  dem  ägyptischen  oder  julianischen  Kalender  oder 
gar  nach  den  Tierkreiszeichen,  worin  sich  die  Sonne  befindet.^ 
Anders  waren  die  zu  öffentlichem  Gebrauch  in  der  älteren 
Zeit  ausgestellten  sog.  Parapegmata  eingerichtet,  wovon  sich 
die  Reste  zweier  Exemplare  in  Milet  gefunden  haben.^  Die 
Tage  sind  nicht  angegeben;  anstatt  dessen  sind  in  den  Stein 
Löcher  gemacht,  in  denen  Täfelchen  eingelassen  werden  konnten, 
die  den  Tag  des  Mondmonates  in  dem  laufenden  bürgerlichen 
Jahre  nach  dem  Bedarf  bezeichneten.  Daher  erklärt  sich  das 
griechische  Wort  für  Kalender  naQOinriyn,a.  Die  milesischen 
Kalender  stammen  aus  dem  zweiten  vorchristlichen  Jahrhundert, 
aber  schon  in  der  Kalenderreform  des  Meton  war  es  der 
springende  Punkt  einen  Zyklus  zu  schaffen,  nach  dem  das 
Verhältnis  zwischen  dem  bürgerlichen  lunisolaren  Jahr  und 
den  Auf-  und  Untergängen  der  Gestirne  sich  regelte.  Das 
berühmte  von  Meton  im  Jahr  432  in  Athen  aufgestellte 
Parapegma  enthielt  sowohl  die  Auf-  und  Untergänge  der 
Gestirne  wie  Wetterprognosen  und  hat  viele  Nachfolger 
gefunden.^ 

'  Herausgegeben  von  C.  Wachsmuth,  Lydns  liher  de  ostentis  et 
calendaria  graeca  omnia,  2.  Aufl.  1897. 

*  Die  milesischen  Parapegmenfragmente  sind  herausgegeben  und 
besprochen  von  Kehm  Sitz.-Ber.  der  Berliner  Äk.    1904,  S.  92fiF.  u.  752  JSF. 

■'  Diod.  XII  36  iv  Si  rote  elgritisvois  ?r«ci  xä  aavga  tr]v  ütco- 
xaxäßtaaiv  ytoistrai  xal  xaO'ctTrep  iviavTOV  rivog  (isyäXov  tov  &vcixvxlia(ibv 
Xatißdvsi  ....  doxst  dk  ö  «ivjjp  ovros  iv  ry  nQOQQi'jSsi  xal  ngoyQatpy 
TuvTTf)  9av(ia<ftätg  inirsrsvx^vai.  rä  yccQ  cißtQU  ti}*  ts  xlvriaiv  xal  rag 
ini6r](ia6iag  noielrai  evncfävag  ry  ygatpfj.  Lber  die  Nachfolger  Metona 
i^chol.  zu  Arat.  v.  752  oi  Sh  iiträ  Mirwva  &ctqov6^oi  xai  Ttivaxag  iv  tatg 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     429 

Nachdem  also  diese  Art  den  Zeitpunkt  zu  bestimmen  in 
ihrer  richtigen  Bedeutung  für  das  praktische  Leben  gewürdigt 
worden  ist  —  es  mußte  geschehen,  da  man  sich  einseitig  dem 
lunisolaren  Kalender  zuzuwenden  pflegt  —  muß  auch  eine 
Frage  gestellt  werden,  die  vielen  vielleicht  absurd  vorkommt: 
welche  Art  der  Zeitbestimmung  ist  die  älteste  und  ursprüng- 
lichste in  Griechenland?  Die  Bestimmung  nach  dem  heli- 
akischen  Aufgang  findet  sich  schon  in  der  llias  X  25  flP. 

TOI'  6'  ö  ^'f'^wv  ügiafiog  JtQcbzog  Tdiv  otp^akuoiöiv 
7ca(i(paivov9^   mg  x    aßrig.   inieav^ivov  neöioio. 
og  QU  t"   OTCcoQtjg  sloiv,  ccQttfi^oi   di  oi  avyai 
(paivovxai  noXXoißiv  ,u£t'  ccötquöi   vtrKxbg  ä(iokym. 
Ol'  xs  xvv'  ^Slagicavog  tTcixlrjöiv  xakiovaiv' 
XauTtQOXcaog   usv   o  y    iGxi^  ■mly.ov  öi  xs   öf^ua   xsxxrKxai 
'Aui  xs  ipsQSt  TtoXXbv  :tvqsxov  ösiXoiöi  ßQOxoiaii'. 

Ein  moderner  Leser,  der  nur  an  den  Glanz  des  an  dem 
nächtlichen  Himmel  strahlenden  Sternes  denkt,  verkennt  die 
düstere  und  unheilschwangere  Stimmung  des  Bildes  gründlich. 
Erst  wenn  man  sich  die  kniärmaöCa  des  Siriusaufganges,  die 
die  Zeit  der  größten  Hitze  und  des  Siechtums,  die  sein  Früh- 
aufgang am  Anfang  der  Fruchtlese  heraufführt,  vergegen- 
wärtigt, wird  man  dem  treffenden  Bilde  gerecht.  Wie  Sirius 
in  der  Morgendämmerung  des  Hochsommers  auf  dem  Himmel, 
so  tritt  nun  Achill  auf  dem  Schlachtfeld  hervor,  alle  andern 
verdunkelnd  und   das  Verderben  heraufführepd.'    —  Als  Odys- 

7i6Xb6iv  Id'Tixav  Ttsgl  xä>v  xov  T,liov  negttpoQ&v  tmv  ivvsaxaidBxasxTiQtScav, 
8x1  xad''  ixaSxov  iviavxov  zoiööSs  Iötki  ;|^£tf(di}v  xal  xoiövSs  fap  xal  xoiovde 
Q'dQOg  xal  xotövds  (fd-ivöncagov  xal  roioids  cvEftoi  xal  nollu  ngog  ßico- 
tpsliels  jrpstaj  xcbv  avd'gäTtav. 

'  Es  ist  kaum  verständlich,  daß  dies  hat  verkannt  werden  können, 
ganz  besonders,  da  Homer  selbst  durch  die  Worte  og  qä  x  d-xatgrig 
slaiv  andeutet,  daß  er  den  heliakischen  Frühaufgang,  der  die  Zeit 
der  Fruchtlese  einleitet,  im  Sinn  hat,  und  die  unheilvolle  Bedeutung  des 
Siriusaufganges  stark  hervorhebt.  Es  kann  nur  dadurch  erklärt  werden, 
daß  der  moderne  Mensch  von  den  Sternen  nur  einen  allgemeinen  Begriff 
wie  von  Dekorationen  des  Nachthimmels  sich  macht  und  ihre  genaue 
Beobachtung  zum  Zweck   der  Zeitbestimmung,   wie  sie  allen  primitiven 


430  Martin  P.  Nilsson 

seus  von  der  Insel  der  Kalypso  heimwärts  segelt,  steuert  er 
nach  den  Pleiaden,  dem  „spät  untergehenden  Bootes",  dem  großen 
Bären  und  Orion.  Daß  diese  Art  der  Zeitbestimmung  erst  bei 
Hesiod  in  geläufigem  Gebrauch  vorkommt,  liegt  klärlich  nur 
an  dem  Stofi"  des  Epos,  das  sich  in  anderen  Kreisen  bewegt. 
Was  nun  die  Monate  betriffb,  wird  ein  Monatsname  von 
Hesiod  erwähnt,  Lenaion  op  v.  504.  Schon  diese  vereinzelte 
Erwähnung  ist  an  und  für  sich  befremdlich,  dazu  kommt,  daß 
der  Name  ein  ionischer  ist;  man  versteht,  daß  viele  Kritiker 
den  Vers  oder  die  ganze  Partie,  worin  dieser  Name  vorkommt, 
als  eine  Interpolation  oder  eine  Zudichtung  haben  ausscheiden 
wollen  Dem  sei,  wie  es  mag;  sicher  sind  die  Monatsnamen 
ziemlich  jungen  Ursprungs.  Sie  wechseln  in  den  verschiedenen 
Städten  sehr,  und  wo  es  bei  stammverwandten  und  benach- 
barten eine  Übereinstimmung  gibt,  ist  diese  immer  nur  partiell; 
einige  Namen  sind  gegen  andere  vertauscht,  und  nicht  selten 
bezeichnet    derselbe    Name    verschiedene    Monate.^     Aus    dem 


Verhältnissen  eigen  ist,  verlernt  hat.  Unter  den  Philologen  hat  die 
Diskussion  über  die  Bedeutung  des  Wortes  vv^rbg  aiioXyä)  beigetragen 
den  Blick  für  das  Sachverhältnis  zu  verschleiern.  Unbeschadet  der 
Etymologie  muß  das  Wort  sich  der  von  dem  Zusammenhang  geforderten 
Bedeutung  fügen,  und  die  ist  hier 'in  der  (Morgen)dämmerung'.  Die  Be- 
deutung Dämmerung  ist  ferner  notwendig  X  317  f.,  wo  das  Wort  die 
Zeit,  in  welcher  der  Abendstern  erscheint,  bezeichnet,  und  8  841,  wo 
Penelope  träumt,  während  die  Freier  in  See  stechen,  um  Telemachos 
aufzulauern  (d  786  {livov  S'  inl  iejisgov  iX9sLv).  An  den  beiden  übrigen 
Stellen  Ä  17'2ff.  und  O  324 tf.  handelt  es  sich  um  den  Überfall  der  Raub- 
tiere auf  eine  Herde;  die  Tiere  gehen  bald  nach  dem  Sonnenuntergang  auf 
Raub  aus.  Auch  diese  Stellen  können  sich  der  als  notwendig  erschlossenen 
Bedeutung  fügen,  sagen  aber  weder  für  noch  gegen  sie  etwas  aus.  Wie 
alle  er.starrten  Formeln  wird  auch  diese  bald  verblaßt  sein;  Hymn. 
Hom.  III  7  ist  die  anschauliche  Bedeutung  geschwunden. 

'  Wir  wissen  in  Wirklichkeit  viel  weniger  Sicheres  über  die  Ent- 
sprechungen der  verschiedenen  Kalender  als  die  Zusammenstellung  der 
Fasti  an  die  Hand  zu  geben  scheinen.  Denn  wenn  derselbe  Monats- 
name in  den  Kalendern  zweier  Städte  begegnet,  wird  er  ohne  weiteres 
auf  dieselbe  Stelle  des  Jahres  verlegt.  Diese  Voraussetzung  ist  aber 
trügerisch;  besonders  in  den  dorischen  Fasti  führt  die  Namensgleichheit 


( 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  and  der  Orient     431 

Zustand  der  Kalender  kann  man  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
Monatsnamen  frühestens  erst,  nachdem  die  Inseln  des  Agäischen 
Meeres  und  die  Küste  Kleinasiens  von  den  Griechen  kolonisiert 
worden  sind,  entstanden  sind.  Die  Übereinstimmungen  zwischen 
den  verschiedenen  Kalendern  beruht  hauptsächlich  darauf,  daß 
bei  stammverwandten  Völkern  die  Feste,  nach  denen  die  Monate 
benannt  wurden,  die  gleichen  waren,  zum  Teil  vermutlich  auch 
auf  einer  Ausgleichung  zwischen  Städten,  die  miteinander  in 
lebhaftem  Verkehr  standen.^  Es  fehlen  also  die  Monatsnamen 
nicht  zufällig  bei  Homer;  zu  seiner  Zeit  bestanden  sie  noch  nicht. 
Es  gibt  aber  bei  ihm  eine  Monatszählung  ohne  Namen,  die 
an  mehreren  Stellen  gebraucht  wird;  daneben  werden  oft  neun- 
und  sieben(sechsHägige  Fristen  erwähnt.  Hieraus  hat  man 
geschlossen,  daß  Homer  und  mit  ihm  die  griechische  Urzeit 
einen  Monat  kannte,  der  in  drei  Dekaden  oder  in  vier  Wochen 
eingeteilt  werde.  Ehe  wir  das  Bindende  dieses  Schlusses  an- 
erkennen, muß  doch  der  Grund  der  Monatsrechnung  untersucht 
werden;  es  besteht  nämlich  für  uns  sehr  leicht  die  Gefahr, 
daß  das  Kalenderschema  und  die  Aufteilung  der  größeren 
Zeitperioden  in  kleinere,  die  sich  in  jene  zahlenmäßig  ein- 
fugen, den  Blick  von  dem  physischen  und  sichtbaren  Grund 
abzieht,  von  welchem  die  Monatsrechnung  ausgeht,  nämlich 
der  wechselnden  Gestalt  des  Mondes.  Wenn  man  verstehen  will, 
wie  die  Zeit  in  der  Urzeit  berechnet  wurde,  muß  man  nach 
dem  Himmel  und  den  Himmelskörpern,  nicht  nach  den  Ziffern 
und  auf  das  Papier  schauen.  Der  abstrakten  Vorstellungs weise  von 
dem  Kalenderwesen,  die  unsere  völlig  konventionelle  und  papierne 

sehr  oft  in  die  Irre;  vgl.  meine  Untersuchnngen  zu  einigen  dorischen 
Kalendern  Btdl.  de  V  acad.  des  sciences  de  Danemark  1909  S  121  flF.  Aber 
auch  in  den  ionischen  Fasten  kommen  Diskrepanzen  vor,  z.  B.  entspricht 
dem  Apaturion  bald  Pyanopsion,  bald  Maimakterion,  dem  Artemision 
bald  Elaphebolion,  bald  Munychion. 

*  Ein  deutlicher  Fall  ist  die  Aufnahme  des  dorischen  Monat» 
Panamoa  in  einige  ionische  Kalender  (Delos  nnd  Priene),  in  Böotien  und 
Thessalien:  dabei  wechselt  der  Platz  sehr. 


432  Martin  P.  Nilsson 

Zeitrechnung  bei  uns  hervorruft,  hat  die  Linguistik  einen  Vor- 
schub geleistet,  indem  die  Wörter  für  Mond  auf  die  Wurzel 
ma  messen  zurückgeführt  werden ;  schon  für  das  indogermanische 
Urvolk  sollte  so  der  Mond  „der  goldene  Zeiger  auf  dem  Ziffer- 
blatt des  Himmels"  gewesen  sein 

Zugrunde   liegen   die   wechselnden    Gestalten  des    Mondes, 
wie   er   auf  dem  Himmel  erscheint.     Diesen  Ursprung   zeigen 
noch     die    griechischen     Ausdrücke    y.riv    a£^6iisvog    Hes.  op. 
V.  773  (lörcc^svog)  und  /ii)v  (pd'ivcov  „der  zunehmende  (hervor- 
tretende)"* und  „der  abnehmende  Mond",  wie  iiriv  etymologisch  .j 
Mond  entspricht.     Diese  Zweiteilung  des  Mondumlaufes  ist  die, 
zunächstliegende  und  natürliche;^  sie  hat  sich  bis  in  die  hesio-*! 
deische   Zeit   und   wohl  länger   bewahrt.     Hesiod  folgt  ihr  anl 
einer  Stelle,  die  schon  von  Hermann  angemerkt,  nachher  aber 
vergessen  zu  sein  scheint.'"'    Der  Vollmond  aber,  der  in  seinem 
vollen    strahlenden    Glanz    fast    die    ganze   Nacht    durch    am 
Himmel  steht,  muß  dem  Menschen  einen  sehr  starken  Eindruck 
machen   und    sich   kräftig  von   der  schwachen  Sichel  des  ver- 
schwindenden oder  des  erst  hervortretenden  Mondes  unterscheiden; 
der  Vollmond  tritt  so  zwischen  dem  zu-  und  dem  abnehmenden 
Monde   als  charakteristische  Erscheinung  ein.     So  entsteht  die 
Dreiteilung  des  Monats  von  selbst,  wie  jede  Erscheinung  ganz 

^  (t^v  leväyiBvos  ist  in  demselben  realen  Sinn  zu  verstehen.  TU? 
6  S'  ißdo^os  ^CTTjusi  (islg  (war  hervorgetreten)  ist  dasselbe,  was  in  einer 
für  unseren  gerade  auf  diesem  Gebiete  durch  viele  Abstraktionen 
abgestumpften  Sinn  vernehmlicheren  Weise  Hymn.  Hom.  III  11  heißt 
8iv.axog  \lsIs  oigavä  i6xrjQiv,to,  der  Mond  stand  am  Himmel.  Es  be- 
deutet also  den  auf  dem  Himmel  hervortretenden  Mond. 

*  Vgl.  die  schwedischen  Ausdrücke  tür  die  beiden  Hälften  des 
Mondumlaufes:  ny,  wörtlich  die  Zeit  des  neuen,  d.  h.  des  zunehmenden 
Mondes,  und  nedan,  die  des  schwindenden  Mondes. 

*  0.  Schrader  ürgesch.  u.  Sprachvergl.^  II  S.  229 ff.,  Röscher 
a.  a.  0.  XXI  S.  7.  Die  Hauptzeugnisse  sind  bei  Homer  der  Formelvers 
TO*  (ihv  (pQ'ivovtos  iir}vos  rov  i'  iatafiivoto,  für  Hesiod  op.  v.  780 
Urivog  d'  ietaiiivov  TpKJxatJexarrjv,  der  eine  fortlaufende  Rechnung  der 
Tage  des  zunehmenden  Mondes  voraussetzt. 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     433 

natürlich  in  Zunahme,  Kulmination  und  Abnahme  zerfällt 
Die  Dreiteilung  muß  sehr  alt  sein,  obgleich  der  sprachliche 
Ausdruck  für  das  zweite  Drittel  erst  geprägt  worden  ist,  nach- 
dem das  Wort  /irjv  zu  der  Bedeutung  Monat  übergegangen  ist :  es 
heißt  fii^v  n£6(5v,  iiiööog,  nicht  :tkri^c3v.  Da  sich  aber  sehr 
früh  das  Bedürfnis  fühlbar  machen  mußte  die  Zeit  nicht  nur 
auf  ein  Ungefähr,  sondern  auf  den  Tag  zu  bestimmen,  mußte 
der  Monat  in  drei  gleiche  Teile  zerfallen,  also  die  27  Tage, 
während  deren  der  Mond  gewöhnlich  sichtbar  ist,  in  drei 
Perioden  von  je  9  Tagen,  oder  wenn  die  Tage,  während  deren 
der  Mond  nicht  sichtbar  ist,  mitgerechnet  werden  wie  in  Griechen- 
land, in  drei  Dekaden.  Die  Neunzahl  spielt  bekanntlich  bei 
Homer  und  in  der  griechischen  Religion  wie  bei  den  meisten 
indogermanischen  Völkern  eine  bedeutende  Rolle.* 


*  Röscher  hat  a  a.  0.  XXI  S.  47  die  Aufmerksamkeit  auf  einen 
tiefgreifenden  Unterschied  in  der  Zählung  der  hebdomadischen  und  der 
enneadischen  Fristen  gelenkt.  Während  es  bei  diesen  heißt  .,neun  Tage  durch, 
aber  an  dem  zehnten  geschah  es",  heißt  es  bei  jenen  „sechs  Tage  durch,  aber 
an  dem  siebenten  geschah  es".  Man  muß  Röscher  beistimmen,  wenn  er  der 
genauen  Analogie  zu  folgen  und  sechstägige  Fristen  anzuerkennen  ab- 
lehnt; denn  die  typischen  Zahlen  sind  eben  sieben  und  neun.  Es  ist 
also  ein  Unterschied  in  der  Zählung  zu  konstatieren:  bei  der  Neunzahl 
wird  der  Wendetag  der  typischen  Zahl  zugerechnet  (9-|-l),  bei  der 
Siebenzahl  wird  er  in  ihr  mit  eingerechnet;  es  kommt  also  auf  den 
bekannten  Unterschied  zwischen  der  antiken  und  der  modernen  Zählxmgs- 
weise  heraus.  Welche  Art  die  ursprünglich  griechische,  sogar  indoger- 
manische ist,  ist  nicht  zweifelhaft,  wenn  man  sich  z.  B.  nur  der  allgemeinen 
Ansetzung  der  Schwangerschaft  zu  zehn  Monaten  erinnert.  Neun  voUe 
Monate  wird  das  Kind  getragen,  wenn  der  zehnte  eintritt,  wird  es  geboren, 
also  im  zehnten  Monat:  es  heißt  zehnmonatig  (vgl.  z.  B.  Hymn.  Hom.  HI 
11  oben  S.  432  Anm.  1).  In  Babylonien  wird  der  Wendetag  mit  ein- 
berechnet: es  heißt  z.  B.  ,. sechs  Tage  und  sieben  Nächte",  s.  Hehn  a. 
a.  0.  S.  41.  Man  kann  sich  keinen  besseren  Beweis  für  den  fremden 
Ursprung  der  Siebenzahl  wünschen.  Die  beiden  Zählungsweisen 
können  unmöglich  ursprünglich  nebeneinander  bestanden  haben, 
da  dies  nur  zu  heilloser  Verwirrung  hätte  führen  können  und  sie  eigent- 
lich einander  ausschließen. 

Es  stellt  sich  aber  eine  weitere  Frage  ein:  wie  sollen  diese 
Perioden  von  einer  typischen  Zahl  -j-  1  aneinandergereiht  werden?     Soll 

Archir  f.  Religionswissenachaft  XIV  28 


434  Martin  P.  Nilsson 

Die  Viertelung  ist  dagegen  keine  so  natürliche  Einteilung 
wie  die  Dreiteilung.  Die  typische  bildliclie  Darstellung  des 
Mondes  ist  entweder  die  Sichel  des  zu-  oder  abnehmenden 
Mondes  oder  das  Rund  des  Vollmondes;  typische  Bilder  der 
Viertelphasen  des  Mondes  existieren  nicht;  in  unsrem  modernen 
Kalender  sind  solche  nur  als  graphische  Übersetzungen  der 
Wocheneinteilung  geschaffen  worden  Es  liegt  in  der  Natur 
der  Sache,  daß  die  siebentägige  Woche  nicht  auf  der  unmittel- 
baren Beobachtung  des  Himmels  beruht,  sondern  eine  zahlen- 
mäßige Einteilung  einer  Zeitperiode  von  bestimmter  Länge  ist. 

Nun  gibt  es  bei  Homer  siebentägige  Fristen;  sie  treten 
in  der  Monatsrechnung  früh  auf,  indem  der  siebente  Tag  des 
Monats  dem  Apollo  geheiligt  ist;  die  Siebenzahl  breitet  sich 
immer  mehr  aus  und  beherrscht  schließlich  die  Spekulation 
vollständig,  wie  die  von  Röscher  gesammelten  Stellen  zur 
Genüge  beweisen.  Auch  in  dem  Orient  hat  die  Siebenzahl 
eine  alles  überragende  Bedeutung  — ~auch  dafür  hat  Röscher 
eine  Menge  Beispiele  beigebracht  —  und  hat  sich  der  Monats- 
rechnung bemächtigt.  Hierbei  ist  es  natürlich  unzulässig,  die 
fortrollende  Woche,  deren  Tage  nach  den  Planetengöttern 
benannt    sind,    heranzuziehen,    wohl    aber   den    assyrisch-baby- 

der  Wendetag  usw.  in  die  neue  Periode  mit  einberechnet  werden  und 
zugleich  den  Anfangstag  dieser  darstellen?  Wenn  die  Periode  in  ein 
bereits  feststehendes  Schema  eingefügt  werden  soll,  tritt  dieser  Fall  ein, 
wie  das  dritte  Jahr  der  Trieteris  zugleich  der  Anfang  der  nächsten  ist, 
d.  h.  daß  die  Periode  in  Wirklichkeit  zwei  Jahre  umfaßt.  Es  läßt  sich 
aber  auch  denken,  daß  der  Wendetag  außerhalb  der  Reihe  für  sich 
stehen  bleibt  und  also  in  die  neue  Periode  nicht  einbegriffen  wird.  So 
ist  der  Wendetag  des  Monats,  die  ivr]  Kai  via,  der  letzte  Tag  des 
Monats,  nicht  der  erste,  wenn  auch  die  Auffassung  geschwankt  hat; 
denn  sonst  ist  Hes.  op.  v.  770  kaum  zu  verstehen.  Dies  Verhältnis  gibt 
wohl  einen  Fingerzeig,  wie  aus  der  typischen  Neunzahl  die  Dekadenein- 
teilung des  griechischen  Monats  entstanden  ist.  Der  Wendetag  ist  zu- 
gerechnet worden.  Begünstigt  wurde  dies  dadurch,  daß  nur  so  eine 
gleichmäßige  Einteilung  des  Monats  sich  schafiTen  ließ;  denn  die  An- 
setzung  eines  besonderen  Interluniums  durchbrach  die  erwünschte 
Gleichm  äßigkeit. 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  xind  der  Orient     435 

Ionischen  Monat,  in  welchen  das  siebentägige  Schema  fest 
eingefügt  worden  ist,  so  daß  jeder  siebente  Tag,  der  7.,  14., 
21.  und  28.  ein  besonderen  religiösen  Geboten  und  noch  mehr 
Verboten  unterstehender  Tag,  ein  Sühnetag,  Schabattu,  ist, 
gleichwie  auf  den  siebenten  Tag  des  griechischen  Monats  die 
Sühnungs-  und  Reinigungsfeste,  deren  sich  Apollo  angenommen 
hatte,  verlegt  wurden.' 

Vielleicht  i.st  jemand  geneigt  zu  behaupten,  daß  da,  wo 
zwei  typische  Zahlen,  die  kein  einfaches  Verhältnis  zueinander 
haben,  konkurrieren,  die  eine  doch  am  wahrscheinlichsten  von 
außen  eingeführt  worden  sei.  Das  wäre  aber  nur  eine  vage 
Vermutung,  und  die  Last  des  Beweises  fällt  hier  dem  zu,  der 
einen  fremden  Ursprung  behauptet.  Die  Sache  liegt  auch 
nicht  so  einfach,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  erscheinen  könnte. 
Denn  obgleich  beide  Zahlen  Ruhepunkte  in  der  Zählung  der 
Monatstage  sind,  waltet  der  Unterschied  ob,  daß  die  enneadische 
Frist  eine  Zeiteinteilung  ohne  andere  Bedeutung  ist,  während 
der  siebente  Tag  vorwiegend  einen  religiösen,  lustralen  Charakter 
hat.  Vor  der  Zeit,  die  für  die  eventuelle  Entlehnung  der 
siebentägigen  Fristen  in  Frage  kommen  kann,  ist  das  babylonische 
Gewicht  nach  Griechenland  gekommen,  und  nach  dieser  Zeit 
haben  die  Griechen  von  Babylonien  die  Einteilung  des  Tages 
in  zwölf  Stunden  und  wenigstens  einige  der  Zeichen  des 
Zodiakus  übernommen.*  Es  kommen  also  noch  andere  Momente 
hinzu,  und  die  Frage  kann  so  gestellt  werden:  Ist  es  wahr- 
scheinlicher, daß  in  Griechenland  zwei  typische  Zahlen  selb- 
ständig entstanden  und  miteinander  konkurrierend  auf  die 
Zählung  der  Monatstage  verwendet  worden  sind,  oder  daß  die 
Siebenzahl  von  Babylonien  entliehen  ist,  wo  diese  Zahl  auch 
für  die  Zählung  der  Monatstage  verwendet  wird  und  vor  allem 
religiöse    und    superstitiöse  Bedeutung    hat,    besonders   da    die 

'  S.  besonders  J.  Hehn  Siebenzahl   und  Sabatt  bei  den  Babyloniern 
und  im  alten  Testament  (Leij.ziger  semit.  Studien  II  5). 
*  Boll  Sphaera  S.  181  ff. 

28» 


436  Martin  P.  Nilsson 

Grriechen  sowohl  vor  wie  nach  der  für  diese  Entlehnung  in 
Frage  kommenden  Zeit  gerade  von  demselben  Lande  Zahlen- 
systeme und  Einteilungen  von  Gewicht  und  Zeit  entliehen 
haben?  Es  scheint  mir,  daß  die  Antwort  nicht  zweifelhaft 
sein  kann. 

Es  gibt  aber  noch  einen  Grund,  der  für  den  babylonischen 
Ursprung  der  lunisolaren  Zeitrechnung  im  allgemeinen  spricht. 
Die  älteste  Monatsrechnung,  die  auf  der  unmittelbaren  Beob- 
achtung des  Mondes  beruhte,  mußte  notwendig  eine  fort- 
rollende sein,  die  in  keinem  gebundenen  Verhältnis  zu  dem 
Sonnenjahre  stand;  es  diente  dazu,  durch  die  Zahl  der  Monate 
und  die  Phasen  des  Mondes  kürzere  Fristen  anzugeben.  Zu 
der  Bestimmung  solcher  Zeitpunkte,  die  von  dem  natürlichen 
Jahr  abhängig  waren,  Jahreszeiten  u.  dgl.,  diente  die  Beob- 
achtung gewisser  Naturerscheinungen  besonders  der  heliakischen 
Auf-  und  Untergänge  der  Gestirne,  welches  das  vollkommenste 
Mittel  hierzu  ist.  Später  ist  der  Mondmonat  mit  Not  und 
Mühe  in  Verbindung  mit  dem  Sonnenjahr  gebracht  worden  und 
verdrängt  allmählich  die  Berechnung  nach  den  Gestirnen  trotz 
des  Übelstandes,  daß  die  Entsprechung  mit  dem  natürlichen 
Gange  des  Jahres  sehr  mangelhaft  ist:  jene  andere  Rechnung 
hat  sich  daher  immer,  besonders  bei  den  Bauern  und  den  See- 
fahrern gehalten.  Der  lunisolare  Kalender  ist  seinem  Ursprung 
nach  religiös:  erst  nachdem  er  auf  dem  religiösen  Gebiet  die 
volle  Herrschaft  gewonnen  hat,  ist  er  in  das  bürgerliche  Leben 
eingeführt  worden.     Dies   ist  verhältnismäßig   spät   geschehen'; 

'  Die  Verse 

&XX'  oTs  TStQcctov  ijJ^sv  ho^  Kocl  iltl'jXvQ'OV  ^QUl 
^ir]väv  cp&ivövrav,  tcsqI  6'  i'jfiata  itöXX'  izeXiC^T] 
kehren  wieder  r  152  f.  und  <a  142f.;  x  469f.  ist  der  erste  Vers  etwas 
anders,  x  469  f.  und  üj  142  f.  fehlt  der  zweite  Vers  in  vielen  Hss.  und 
wird  auch  von  den  meisten  Editoren  eingeklammert.  Im  r  fehlt  er 
zwar  nur  in  einer  Hs.  (cod.  Augustanus);  da  aber  die  Erzählung  von 
dem  Gewebe  der  Penelope  in  od  eine  wörtliche  Übertragung  aus  r  ist, 
ist  es  nicht  ersichtlich,  warum  er  in  u  fehlen  sollte,  wenn  er  ursprüng- 
lich in  T  gestanden  hätte.     Der  Vers  wird  ursprünglich  auch  in  x  gefehlt 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     437 

in  Athen  hat  es  Solon  durchgeführt^.  Erst  dadurch,  daß 
die  Monatsrechnung  mit  dem  Sonnenjahr  ausgeglichen  wird, 
wird  sie  zu  einer  wirklichen  Zeitrechnung,  und  nun  erst 
können  die  Monate  Eigennamen  erhalten.  Das  Mittel,  wo- 
durch dies  bewirkt  wird,  die  Ansetzung  von  Jahren  mit 
verschiedener  Zahl  von  Monaten,  d.  h.  die  Einschaltung  eines 
dreizehnten  Monats  in  gewissen  Jahren,  ist  aber  gar  nicht  so 
einfach  und  selbstverständlich,  auch  wenn  man  annimmt, 
daß  die  Schaltung  anfangs  willkürlich  ohne  irgendein  System 
vorgenommen  wurde;  man  braucht  dazu,  wenn  ein  praktischer 
Erfolg  möglich  sein  soll,  eine  bestimmende  und  weitreichende 
Autorität.  Die  Entdeckung  ist  schon  früh  in  Babylonien 
gemacht  worden,  wo  wenigstens  die  jüngeren  Monatsnamen  auf 
die  Beschäftigungen  der  Jahreszeit  hindeuten.  Es  ist  kaum 
glaubhaft,  daß  die  Griechen  von  selbst  auf  dieses  System  ver- 


haben,  aber  hier  zuerst  eingefügt  worden  sein  und  seinen  Weg  auch  zu 
den  anderen  Stellen  gefunden  haben.  Das  iTiiilv^ov  agai,  ist  die  ältere 
Weise  nach  den  Jahreszeiten  zu  rechnen;  das  {irjväv  (f^ivovzav  ist  von 
irgendeinem  Jüngeren  hinzugefügt  worden,  der  die  lunisolare  Rechnung 
nicht  vermissen  wollte. 

*  Diog.  Laert.  12,11  rj^iaös  ts  rovs  'A^rivuiovq  ras  ■fniigug  xccra 
«clijVTjv  ccyBiv.  Plut.  Solon  25  Iviot  di  tpaaiv  Idicag,  iv  ols  hga  xal  ^vaiai 
nsgiixovxai^  xvgßsig,  a^ovag  dh  tovs  aXXovg  divofi.äed'ai,.  Bekk.  An.  1 
p.  86  s.  V.  Fsvieia  wird  I^öXav  iv  zolg  ä^oet  durch  die  Vermittlung 
Philochoros'  zitiert.  Es  ist  also  dadurch  geschehen,  daß  Solon  Opfer- 
fasti  der  wohlbekannten  Art,  von  der  wir  viele  Beispiele  in  den  In- 
schriften besitzen,  aufgestellt  hat.  Da  er  durch  diese  jede  Unsicherheit 
in  der  Zählung  beseitigte,  konnte  die  Monatsrechnung  auch  zum  all- 
gemeinen bürgerlichen  Kalender  werden.  Seine  Gesetzgebung  auf  dem 
religiösen  Gebiet  ist  aber  noch  umfassender  gewesen,  vgl.  Plut.  Solon  23 
tig  (liv  ys  tu  Ti/tTj/tara  rä>v  9v6i,&v  Xoyi^STUt  itgoßccrov  xal  dQaxiiijv  dvrl 
ficdijtvov  und  ccg  yäg  iv  rm  ixxaLdsxaTtp  xäv  &^6v(ov  ögi^si  Ti(icig  zmv 
ixxgizav  legBicov  xtX.  Diese  muß  unter  dem  Beistand  des  delphischen 
Orakels  zustande  gekommen  sein ;  auch  wenn  die  beiden  Orakel  in  Kap.  9 
u.  14  spätere  Erfindungen  sind,  spricht  für  enge  Beziehungen  Solons  zu 
Delphi  die  von  Aristoteles  verbürgte  Nachricht,  daß  er  den  Beschluß 
eingebracht  hat,  wodurch  die  Amphiktyonen  den  Krieg  gegen  Kirrha 
ankündigten  (a.  a.  0.  Kap.  11). 


438  Martin  P.  Nilsson 

fallen  sind,  besonders  da  sie  schon  ein  für  das  praktische 
Leben  viel  geeigneteres  System,  die  Zeiten  des  Sonnenjahres 
zu  bestimmen,  besaßen. 

Wie  schon  gesagt  ist  der  lunisolare  Kalender  hieratiscb. 
Dies  wird  dadurch  bewiesen,  daß  fast  alle  Monate  nach  den 
Pesten  und  nicht  wie  in  Babylonien  wenigstens  zum  Teil  nach 
den  Beschäftigungen  der  Jahreszeit  benannt  sind,  und  ferner 
dadurch,  daß  die  Feste  ihrer  Lage  nach  an  einen  bestimmten 
Tag  des  Monats  gebunden  sind.  Dies  ist  für  viele  Feste  sehr 
wenig  bequem,  nämlich  für  alle  diejenigen,  die  wegen  des 
Ackerbaues  gefeiert  werden  und  also  von  der  Jahreszeit  ab- 
hängig sind.  Wegen  der  wechselnden  Lage  des  Monats  im 
Sonnenjahr  kann  es  vorkommen,  daß  z.  B.  ein  Vorerntefest  wie 
die  Thargelien  erst  während  oder  nach  der  Ernte  gefeiert  wird. 
Der  hieratische  Kalender  hat  jedoch  die  natürliche  Affinität 
der  Feste  mit  den  Beschäftigungen,  denen  sie  gewidmet  sind, 
zu  besiegen  vermocht. 

Die  Bindung  der  Ackerbaufeste  an  einen  bestimmten  Tag 
des  Mondmonats  widerspricht  schnurstracks  der  Bestimmung 
der  verschiedenen  Beschäftigungen  des  Ackerbaus  nach  den 
Auf-  und  Untergängen  der  Gestirne  und  kann  nicht  ursprünglich 
sein.  Sie  ist  von  dem  religiösen  Charakter  der  Monatsrechnung 
bedingt,  das  heißt,  daß  erst  mit  der  Monatsrechnung  die  Lehre 
von  der  Bedeutung  der  Tage  des  Monats  aufgekommen  ist. 
Ein  Anhang  zu  den  "^Werken'  des  Hesiod  sind  die  'Tage',  eine 
Liste  dessen,  was  an  den  verschiedenen  Tagen  des  Monats 
getan  und  vermieden  werden  soll.  Es  schwebt  über  diesem 
Teil  der  Geist  eines  ängstlichen,  bigotten  Aberglaubens,  dessen 
letztes  Wort  ist  vnsQßaöias  dXeeCvav  v.  828.  Die  Forderungen 
des  praktischen  Lebens,  welche  die '  Werke'  nüchtern  und  sach- 
gemäß darlegen,  wiegen  dagegen  federleicht.  Während  die 
'Werke'  die  Ernte  bei  dem  Frühaufgange  der  Plejaden  vorzu- 
nehmen empfehlen  (den  19.  Mai  julianisch),  schreiben  die 'Tage' 
vor,    sie   an    dem    elften    und    zwölften  Tag    des  beweglichen 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     439 

Monats  vorzunehmen  I     Das  Anhängsel    wird    daher    allgemein 
dem  Hesiod  aberkannt,  es  ist  aber  gar  nicht  jung.^ 

Der  Glaube  an  die  besondere  Bedeutung  der  verschiedenen 
Monatstage  hat  auch  die  Götter  in  sein  Bereich  gezogen,  und 
zwar  so,  daß  einem  Gott  ein  bestimmter  Tag  zu  eigen  gemacht 
wird.  Dieser  Tag  sollte  eigentlich  allmonatlich  wiederkehren, 
und  Spuren  davon  finden  sich  auch.  Die  ältesten  Zeugnisse 
über  die  Göttergeburtstage  reden  nur  von  dem  Tag  im  Monat,  nicht 
von  dem  Jahrestag.*  In  der  Regelung  des  Tempeldienstes,  d.  h.  in 
dem  engsten  Gebiet  des  Kultus,  haben  die  allmonatlich  wieder- 
kehrenden Handlungen  eine  große  Rolle  gespielt,  wie  noch  er- 
sichtlich ist,  obgleich  wir  gerade  über  diese  Einzelheiten  sehr 
schlecht   unterrichtet    sind.'     Auch  hier    hat  die  Zählung   der 

'  Die  Tage'  v.  765 — 828  sind  kein  einheitliches  Stück,  wie  schon 
der  doppelte  Anfang  und  der  doppelte  Schluß,  in  den  dazu  zwei  Sprich- 
wörter eingelegt  worden  sind,  zeigen.  Die  Annahme  einer  gewollten 
Kegelmäßigkeit  in  der  Tagefolge  ist  das  einzige  Hilfsmittel  der  Analyse. 
V.  770 — 784  enthalten  Tage  von  dem  1.  bis  zum  16.  der  Reihe  nach  auf- 
gezählt. V.  785—804  erwähnen  folgende  Tage  in  dieser  Ordnung  6.  8 
20.  10.  14  4.  5  :  darauf  folgen  v.  805—818  mit  dem  17.,  19.,  29.  Tag, 
wobei  jedoch  v.  809,  der  den  4.  erwähnt,  entfernt  werden  muß.  Es 
besteht  also  eine  richtige  Reihe,  die  durch  eine  Zwischenpartie  unter- 
brochen wird,  und  daß  diese  Partie  eine  Einlage  ist,  wird  durch  ihren 
besonderen  Charakter  bestätigt.  Während  sonst  allerlei  Beschäftigungen 
erwähnt  werden,  bezieht  sich  die  Einlage  fast  nur  auf  das  Geschlechts- 
leben, schreibt  den  Tag  für  die  Eheschließung  vor,  bestimmt  die  Be- 
deutung der  Geburtstage  der  Menschenkinder,  nennt  ferner  die  Tage, 
an  welchen  die  Haustiere  kastriert  werden  sollen,  womit  eine  andere 
Vorschrift  über  die  Zähmung  der  Tiere  verbunden  wird.  Es  scheint 
also  dies  eine  von  den  gleichartigen  Versen  782 ff.  veranlaßte  Einlage 
zu  sein,  die  die  Tagewählerei  unter  einen  bestimmten  Gesichtspunkt 
gestellt  hat.  In  dem  Folgenden  sind  wie  gesagt  v.  809  und  femer 
v.  819—821  auszuscheiden;  die  letzteren  sprechen  von  dem  4.  Tag  und 
sind  sprachlich  nicht  in  Ordnung  zu  bringen.  Ks  bleibt  dann  eine  der 
Reihe  nach  geordnete  Liste  übrig;  ob  die  Einlage  viel  jünger  ist,  läßt 
sich  nicht  sagen.  Sehr  groß  wird  der  Unterschied  nicht  sein;  beide 
sind  wie  desselben  Geistes  so  wohl  auch  derselben  Zeit  Kinder 
*  W.  Schmidt  Geburtstag  im  Altertum  (RGW  VE  1)  S.  12  f 
'  Belege  für  allmonatliche  Kulthandlungen  sind  an  und  für  sich 
spärlich.     Solche    sind  die  bekannten  ini^iivia    der    Exechtheusschlange 


440  Martin  P.  Nilsson 

Monatstage  die  genaue  Observanz  in  den  Kultus  eingeführt. 
Bezeichnend  sind  die  heortologischen  Gesetze  Piatons,  de  leg. 
VIII  p.  828 ;  die  Monate  werden  auf  die  zwölf  Hauptgötter 
verteilt,  denen  allmonatliche  Opfer  gebracht  und  Feste  gefeiert 
werden  sollen.  Das  ist  eine  Schematisierung  der  vorhandenen 
Tendenzen.  Die  Gesetzgebung  über  die  Feste  soll  nach  Piaton 
im  Einverständnis  mit  dem  delphischen  Orakel  geschehen. 
Auch  das  ist  bezeichnend;  denn  da  wir  wissen,  welche  Rolle 
Delphi  später  in  der  Regelung  des  Kultus  gespielt  hat,  kann 
es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  der  delphische  Gott  in  der  vollen 
Jugendkraft  seines  Einflusses,  als  er  sich  zu  der  ausschlag- 
gebenden religiösen  Autorität  in  Griechenland  aufgeschwungen 
hat,  in  dieser  Beziehung  eine  noch  größere  Bedeutung  gehabt 
hat.    Von  dieser  Regelung  ist  die  Bestimmung  der  Kultuszeiten, 

auf   der  Akropolis,    Hdt.    VIII  41 ;    die  Opfervorschrift  für  Herakles    im 
Kynosarges  rcc  8h  ini^'^via  Q-vsTca  6  iBQSvg  ^etcc  rmv  Ttagccdixav,  Athen.  VI 
234  E  (BGH  VIII  1884  S,  378  Nr.  8  gehört  einem  kleinasiatischen  Kultus  an). 
An  dem  Todestag  des  Agamemnon    feiert  Klytämestra  mit  Chören    und 
Opfern   d'solöiv   ^(ifiriv'  Iequ  rotg  6(oxriQioig,    Soph.  Elektra  v.  281;     das 
zeugt  nicht  nur  für  Totenopfer,    sondern  auch  für  andere  allmonatliche 
Begehungen.     Bezeichnend    ist,    daß    nach    dem  Ausweis    der    delischen 
Rechnungsurkunden  das  Heiligtum  jeden  Monat  gereinigt  wurde.  Hierzu 
kommen  die  Vereine,  die  sich  zu  einer  allmonatlichen  Feier  zusammen- 
schlössen (Poland  Gesch.  des  gr.  Vereinswesens  S.  252f.)  und  die  Geburts- 
tagsfeier   in    dem  späteren  Herrscherkultus,    die    sehr    oft  jeden  Monat 
begangen  wurde  (Schmidt  a.  a.  0    S   14),  gerade  wie  die  Geburtstage    der 
Götter  ursprünglich  auf  den  Monatstag,  nicht  auf  den  Jahrestag  bestimmt 
sind.   Von  einem  Freigelassenen  wird  festgesetzt  6xs(pavovta  Sh  xarcc  (liiva 
vov^r}VLa    xal    kßdo^ia)    tccv    ^iXovoe    sinova    (die    apollinischen  Tage!), 
Wescher  -  Foucart   Inscr.  de  Delphes   Nr.  142.     Die   Kultusbeamten,    die 
die  allmonatlichen  Handlungen  besorgen,  hießen    int(n]vioi.     Der  Name 
entspricht    zwar   mitunter    den    attischen    Isgonotoi    (Hesych    s.  v.)    undi 
bezeichnet  manchmal  später  Beamte,    die    eine  jährliche  Feier  besorgeaj 
{Gr.  Feste  S.  78  A.  3),  und  natürlich  auch  nichtreligiöse  Beamte  (Prytaneaj 
OGl^  229  Z.  30  mitNote,  andere  Belege  im  Index  zu  SIG  *  und  in  Herwerdenftj 
Lex.Suppl.^;  hinzuzufügen  ist  Arch.  Am.  1906  S.  16,  Milet,  aus  dem  5.  Jahr-J 
hundert).     Der  Name  kann  doch  nicht  mißverstanden  werden  und  zeugt! 
für  die  monatliche  Regelung  des  Kultus.     Dem    entspricht,    daß  häufigJ 
ini,iir']viot,  unter  den  Beamten  der  Vereine   vorkommen,  s  Poland  a.  a.  0.1 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     441 

d.  h.  ihre  Bindung  an  den  lunisolaren  Monat,  der  ein  großer  Teil 
von  Solons  Gesetzgebung  gewidmet  war,  ein  Hauptstück. 

Neben  den  monatlichen  Opferhandlungen  mußten  aber  die 
alten  großen  Jahresfeste  ihre  überragende  Stellung  behaupten, 
weil  die  allmonatliche  Wiederkehr  einer  Feier  allzuhäufig 
war,  um  sie  zu  einem  großen  Fest  zu  machen.  Sie  haben 
ihren  Einfluß  so  geltend  gemacht,  daß  der  Tag  eines  bestimmten 
Monats,  natürlich  desjenigen,  in  den  das  Hauptfest  des  Gottes 
fiel,  besonders  geheiligt  wurde.  ^  Die  Bestimmung  des  Tages 
in  dem  betreffenden  Monat  war  aber  von  dem  dem  Gotte 
heiligen  Monatstag  abhängig.  Auf  diesen  Tag  wurden  die 
Feste  des  Gottes  verlegt,  an  dem  Fest  geschah  die  Epiphanie 
des  Gottes,  und  der  Tag  der  Epiphanie  wurde  von  selbst  zum 
Geburtstag  des  Gottes,  gerade  wie  die  älteste  Kirche  den 
Geburtstag  des  Heilands  am  Epiphanientag  feierte. 

Leider  ist  unsere  Kenntnis  des  griechischen  Festkalenders 
sehr  mangelhaft,  jedoch  sind  die  bekannten  Data  sehr  belehrend. 
Die  Feste  sammeln  sich  mit  einer  auffallenden  Dichtigkeit  um 
zwei  kurze  Perioden,  den  6.,  7.  und  den  10. — 14.  (16),  besonders 
aber  um  den  1 2.-    Auf  diesen  Tag  fallen  mit  vereinzelten  Aus- 

*  Vgl.  A.  Mommsen  Feste  der  Stadt  Athen  S.  Iff.,  Gruppe  Gr.  Myth. 
S.  938  A.  4.  Es  ist  eine  Verkennung  des  Sachverhalts,  wenn  behauptet 
wird,  daß  alle  Feste  ursprünglich  monatlich  gewesen  sind;  man  über- 
sieht die  Tatsache,  daß  viele  der  großen  Feste,  vor  allem  die  Ackerbau- 
feste,  ihrem  Zweck  nach  nur  einmal  im  Jahr    gefeiert  werden    können. 

*  Ich  gebe  eine  Liste  der  dem  Datum  nach  bekannten  Feste,  wobei 
Unbedeutenderes  und  Vereinzeltes  ausgelassen  ist.  5  Genesia.  —  S.Opfer 
an  Artemis  Agrotera  (das  Marathonfest),  Eisiteria  der  Artemis  in  Mag- 
nesia a.  M.,  Opfer  an  Agathos  Daimon  in  Böotien,  an  Poseidon  Phyt- 
almios  auf  Rhodos.  —  7.  die  ApoUonfeste,  s.  o.  —  8.  Theseia.  —  10.  Opfer 
an  Demeter,  Köre,  Zeus  Buleus  auf  Mykonos,  an  Dionysos  Baccheus  da- 
selbst, an  Hera  auf  Kos.  —  11.  Fest  des  ZeusSoterin  Telmessos. — 
12.  Lenäen,  Anthesterien,  die  großen  Dionysien  (?),  Dionysia  auf  Deloe, 
Opfer  an  Dionysos  Leneus,  Zeus  Chthonios  und  Ge  Chthonia  auf  Mykonos, 
Thesmophoria,  Skirophoria,  Fest  des  Zeus  Machaneus  auf  Kos,  des  ZeusSoter 
in  Magnesia  a.  M  ,  Kronia,  Charitesia,  zwei  Poseidonfeste  in  Sinope.  -  1 4.  oder 
16.  Dipolia.  —  16.  Synoikia,  Munychia. —  20.  Fest  des  Zeus  Batromios  auf 
Kos.    —    23.  Diasia.  —   25.  Plynteria.    —   28.  Panathenaia.    —    30.  Chal- 


442  Martin  P.  Mlsson 

naiimen  die  dem  Tag  nach  bekainnten  Feste  für  Dionysos,  für 
die  Thesmophoriengötter  und  Poseidon;  die  Zeusfeste  sind 
dagegen  mehr  zerstreut.  Es  sind  also  besonders  die  Tage  vor 
dem  Vollmond  mit  Festen  besetzt,  und  es  ist  zu  bemerken, 
daß  die  meisten  dieser  Feste  dem  Wachstum  und  dem  Acker- 
bau gelten.  Zugrunde  liegt  die  weit  verbreitete  Vorstellung,  daß 
alles,  was  gedeihen  und  zunehmen  soll,  während  des  zunehmenden 
Mondes  vorgenommen  werden  soll;  daher  wird  der  zwölfte  Tag  des 
Monats  von  Hesiod  als  der  allerbeste  Tag  füralle  Geschäfte,  be- 
sonders für  das  Einheimsen  der  Ernte  genannt.  Er  ist  auch  ganz  be- 
sonders mit  Festen  besetzt;  der  Zusammenhang  ist  unverkennbar. 

Die  andere  Periode  umfaßt  den  6.  und  7.  Tag;  von  diesen 
beiden  ist  aber  der  6.  weniger  bedeutend;  für  diesen  Tag 
kennen  wir  nur  zwei  Artemisfeste  und  ein  paar  unbedeutende 
Opfer.  Um  vieles  wichtiger  ist  der  siebente,  auf  welchen  alle 
Apollonfeste,  deren  Tag  überliefert  ist,  verlegt  sind :  Thargelien, 
Pyanopsien  und  Delphinien  in  Athen,  Kameen  in  Kyrene  und 
Sparta;  die  Epiphanie  und  die  Geburt  des  Apollo  wurden  au] 
diesem  Tag  in  Delphi  und  auf  Delos  begangen;  die  Hebdomaial 
in  Milet  waren  sicher  ein  Fest  des  Apollo,  und  der  Name 
lehrt,  daß  der  staatliche  Teil  des  Festes  auf  den  7.  verlegt  sein 
mußte  ^;  noch  zu  erwähnen  sind  ein  Opfer  an  Apollon 
Hekatombeus  auf  Mykonos  und  die  Delien  auf  Kos.  Die  Opfer, 
die  aus  Gründen,  die  unten  dargelegt  werden  sollen,  an  anderen 
Tagen  des  Monats  dem  Apollo  dargebracht  werden,  sind  derart, 
daß  sie  die  Regel,  daß  der  7.  der  besondere  Kulttag  des 
Apollo  ist,  gar  nicht  umstoßen,  und  dieser  Tag  hat  für  ihn 
keia.  —  Wo  ein  Fest  sich  über  mehrere  Tage  erstreckt,  ist  der  Hochtag. 
wo  dieser  bekannt,  sonst  der  Anfangstag  angesetzt.  Für  die  Belege  sind 
Mommsens  Feste  der  IStadt  Athen  und  meine  Griech.  Feste,  Index  I 
einzusehen;  nachzutragen  ist  für  das  Datum  der  delischen  Dionysien 
Bull,  de  corr.  hell.  XXXIV  1910  S.  177. 

'  Die  Hebdomaia  sind  uns  nur  aus  den  Satzungen  der  milesischen 
Molpoi  bekannt  (Sitz.-Ber.  der  Berliner  Ak.  1904  S.  622),  die  den  8., 
9.  und  10.  feiern;  der  7.  fällt  bei  der  Gilde  aus,  weil  an  diesem  Tag 
die  staatliche  Feier  stattfand.     Vgl.  meine  Griech,  Feste  S.  170f. 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     443 

eine  ganz  andere  ausschließliche  Gültigkeit  als  die  Tage  der 
anderen  Götter  für  sie:  denn  diesen  kann  ein  Fest  auch  an 
einem  anderem  Tag  gefeiert  werden,  dem  Apollo  eigentlicli  nur 
an  dem  7.  Hieraus  folgt,  daß  die  Verbindung  zwischen  einem 
Gott  und  einem  Monatstag  von  Apollo  ausgegangen  und  auf 
dem  Weg  der  Analogie  auf  die  anderen  Götter  ausgedehnt  worden 
ist;  daß  also  die  Tagewahl  und  Apollo  eng  verbunden  sind.  Es  ist 
bemerkenswert,  daß  die  Feste  des  Apollo  nicht  wie  die  anderen 
Feste  eine  Vorliebe  für  die  Zeit  kurz  vor  dem  Vollmond  zeigen. 
Dies  besagt  mit  anderen  Worten,  daß  Apollo  und  die 
siebentägige  Frist  eng  verbunden  sind.  Dies  bestätigt  bekannt- 
lich Hesiod,  der  ihn  an  dem  7.  geboren  werden  läßt,  das 
beweisen  Beinamen  wie  ißdöfniog,  ißdofiaytTag^iemer  seinGeburts- 
tag,  der  in  seinen  beiden  Kultcentra  auf  den  7.  verlegt  wird  — 
die  Geburtstage  der  anderen  Götter  spielen  in  der  Überlieferung 
eine  untergeordnete  Rolle  und  sind  z.  T.  aus  sehr  durchsichtigen 
Gründen  erfunden,  z.  B.  ist  Artemis  an  dem  Tag  vor  dem 
Zwillingsbruder,  am  6.,  Athena,  die  XQiro'yeveia,  am  o.  geboren. 
Röscher  hat  mit  zahlreichen  Beispielen  nachgewiesen,  wie  die 
Siebenzahl  die  größte  Rolle  in  der  Mythologie  und  dem  Kultus 
des  Apollo  und  in  allen  Sühnzeremonien  spielt.  Die  grund- 
legende Tatsache  ist  die  Verbindung  ApoUos  mit  dem  7. 
Monatstag:  von  hier  ausgehend  ist  die  Siebenzahl  zu  ihrer 
herrschenden  Bedeutung  gelangt:  daß  sie,  wie  Röscher  nach- 
gewiesen hat,  in  der  Heilkunst  eine  so  große  Bedeutung  hat, 
beruht  darauf,  daß  Apollo  ursprünglich  der  große  Heilgott  ist. 
Apollo  hat  aber  noch  andere  Verbindungen  mit  der  Monats- 
rechnung. Der  erste  Tag  des  Monats  war  ihm  heilig;  er  heißt 
deswegen  vov^r^viog.  An  einem  Apollonfest  am  Neumonds- 
tage überwältigt  Odysseus  die  Freier^;  am  ersten  wie  am 
siebenten  Tag  jeden  Monats  werden  in  Sparta  dem  Apollo 
Opfer  dargebracht,    und   Apollon  Numenios    erhält    auf   Delos 

*  V.  Wilamowitz    Born.   UnUrs.  S.  54,  Ed.  Meyer  Hermes  27  (1892) 
377,  W.  Schmidt  Geburtstag  S.  88. 


444  Martin  P.  Nilsson 

ein  Opfer  am  ersten  Lenaion. ^  Auch  der  20.  war  dem  Apollo 
heilig-,  es  wurde  ihm  ein  Fest  gefeiert  und  er  sollte  an  diesem 
Tag  geboren  sein  und  trug  den  Namen  shdSLog.  Es  zeigt 
dies,  wie  eng  das  Band  zwischen  dem  Gott  und  der  Monats- 
rechnung  geknüpft  ist.  Er  führte  mit  sich  den  7.  als  seinen 
heiligen  Tag;  da  aber  die  Teilung  des  Monats  in  vier  sieben- 
tägige Wochen  nicht  durchdringen  konnte,  weil  sie  einer 
älteren  Dekadenrechnung  von  praktischer  Art  begegnete,  sind 
dennoch  die  Anfangstage  der  Hauptabschnitte  des  Monats  dem 
Schutz  des  Apollo  unterstellt  worden  mit  Ausnahme,  soweit 
wir  wissen,  des  Anfangstages  der  zweiten  Dekade,  der  dem 
eigensten  Tag  des  Apoll  zu  nahe  kam. 

Es  besteht  ein  tiefer  und  enger  Zusammenhang  zwischen 
dem  Reinheits-  und  Sühnverlangen,  das  den  Kern  und  die  Trieb- 
kraft der  apollinischen  Religion  bildet,  und  der  ängstlichen 
Beobachtung  der  günstigen  und  ungünstigen  Tage.  Die  Tabu- 
vorschriften bei  Hesiod  v.  724 — 764  sind  eine  vollständige 
äußere  und  innere  Parallele  zu  der  Tagewahl  v.  765 — 828. 
In  Griechenland  hat  es  wie  bei  allen  Völkern  seit  unvordenk- 
lichen Zeiten  Tabus  und  Regeln  gegeben,  und  solche  sind  wie 
in  die  hesiodeische  so  in  die  pythagoreische  Sammlung  auf- 
genommen worden.  An  diese  hat  sich  die  apollinische  Religion 
angeschlossen,  obgleich  sie  nicht  direkt  zu  ihr  gerechnet  werden; 
die  'Tage'  bei  Hesiod  sind  von  Zeus,  nicht  von  Apollo.     Wir 

>  Vgl.  Usener  Rhein.  Mus.  XXXIV  (1879)  421,  welcher  ein  inake- 
donisclies  Grabepigramm,  Kaibel  Nr.  518,  Philochoros  und  die  Zahlen- 
mystik der  pythagoreischen  Schule,  die  nicht  die  VII  sondern  die  I 
als  apollinisch  behandelt,  anführt.  Usener  hat  wohl  im  Sinn  Philoch. 
fr.  181  ^i,X6xoQog  dh  iv  t&  Jtepi  ijfisQäv  ^HXlov  x«i  'Ajt6XX<javog  X^yst 
wbrrjv  (ttjv  tvrjv).  Die  fVrj  muß  aber  zu  Philochoros'  Zeit  der  letzte  Tag 
des  Monats  gewesen  sein,  und  gewöhnlich  schließt  man  aus  der  Stelle, 
daß  auch  dieser  dem  Apollo  heilig  gewesen  ist.  Weniger  Gewähr  hat 
es,  daß  auch  der  Vollmondtag  dem  Apollo  gefeiert  sei.  Plut.  Üion  c.  23 
berichtet  von  einem  dem  Apollo  an  einem  Vollmondtag  begangenen 
Fest;  dieses  war  aber  von  ^Äufälliger  Art  und  beweist  keinesfalls,  daß 
dieser  Tag  dem  Apollo  geweiht  war. 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     445 

kennen  die  apollinische  Religion  fast  nur  in  ihrer  späteren 
geläuterten  Form.  Für  ihren  ursprünglichen  Charakter  ist  es 
belehrend  sich  zu  vergegenwärtigen,  mit  welch  engen  Banden 
man  Apollo  mit  dem  Stifter  der  Schule,  die  die  Zahlenspeku- 
lation und  die  Regelung  des  menschlichen  Lebens  in  allen 
Einzelheiten  nach  superstitiösen  Maximen  am  weitesten  getrieben 
hat,  zu  vereinigen  versucht  hat.  Schon  Aristoxenos  sagt,  daß 
Pythagoras  die  meisten  seiner  ethischenLehrsätzevonThemistokleia 
in  Delphi  erhalten  hat'  —  es  ist  dies  ein  typischer  Name  für 
eine  Orakelpriesterin.  Sein  eigener  Name  ist  ein  redender,  der  ihn 
als  das  Sprachrohr  des  delphischen  Gottes  hinstellt.*  Seine 
Mutter  wird  Pythais  genannt,  und  obgleich  man  sogar  aus 
einer  Äußerung  des  Heraklit  seinen  Vater  Mnesarchos  kannte, 
dichtete  man,  daß  er  in  Wirklichkeit  von  Apollo  gezeugt  sein 
sollte.^  üsener  hat  die  Aufmerksamkeit  darauf  gelenkt,  daß 
die  Pythagoreer  Gottesnamen  mit  Zahlen  gleichzusetzen  pflegten, 
und  daß  die  Gleichung  auf  das  Hauptfest  des  Gottes  ge- 
gründet war.*  Das  ist  die  konsequente  Weiterentwicklung 
von  dem  apollinischen  Siebenten. 

Das  spezifisch  Apollinische  wurde  aber  von  einer  etwas 
anderen  Seite  gefaßt.  Wer  jene  alten  Regeln  übertrat,  setzt« 
sich  der  Gefahr  aus,  die  die  Übertretung  eines  Tabu  immer 
mit  sich  führt.  In  jeder  primitiven  Religion  wird  dieser  Zu- 
stand als  ansteckend  gefaßt  und  kann  durch  gewisse  Handlungen 
getilgt  werden.  Indem  nun  die  Anschauung  von  dem  Miasma 
und  der  Befleckung  stärker  wird  und  die  Notwendigkeit  der 
Sühnung  betont  wird,  entsteht  jener  der  apollinischen  Religion 
eigentümliche  Geisteszug.  Wenn  Stengel  die  Kathartik  der 
urgriechischen  Zeit  abspricht,  so  ist  dies  an  und  für  sich  unrichtig, 
insofern  Sühnehandlungen  (z.  B.  die  Thargelien)  immer  vor- 
gekommen sind;  aber  es  ist  dem  richtigen  Gefühl  entsprungen, 

'  Aristoxenos  bei  Diog.  Laert.  VUI,  8. 

*  R.  Eisler  Weltenmantel  inid  Himmelszelt  S.  6«2 ;  er  vergleicht  tretfend 
Ttvlayögai.       »  Porphyr,  vita  Pyth.  2.        *  Bhein.  Mus.  LVIII  (1903)  S.  356. 


446  Martin  P.  Nilsson 

daß  die  Kathartik  erst  durch  den  Siegeszug  Apollos  in  System 
gebracht  und  zu  einer  Macht  geworden  ist.  Apollo  ist  zu  dem 
Gotte  aller  Sühne  in  der  griechischen  Religion  geworden,  nicht 
nur  der  Mordsühne,  sondern  auch  der  Sühne  im  kleinen.  Wer 
dies  erkennt,  versteht  die  Macht,  die  die  apollinische  Bewegung 
über  die.  Gemüter  ausgeübt  hat.  Das  Sühnebedürfnis  wirkte 
auf  die  Beobachtung  der  Übertretungen,  diese  auf  die  Wahr- 
nehmung der  superstitiösen  Regeln  zurück.  Was  früher  los- 
gerissene Stücke  des  Volksglaubens  gewesen  waren,  wurde 
durch  die  Notwendigkeit  der  Sühne  zu  einem  System,  das 
noch  durch  neue  Elemente  wie  die  Tagewahl  erweitert 
wurde.  So  regelte  es  das  Leben  der  Menschen  bis  in  Einzel- 
heiten hinein  und  machte  sich  durch  formalistische  Scheu  und 
Angst  die  Gemüter  Untertan.  So  hat  jene  Bewegung,  die  mit  Recht 
als  die  apollinische  Religion  bezeichnet  werden  kann,  obgleich  sie 
mehr  als  das  dem  Apollo  spezifisch  Gehörige  umfaßt,  ihren 
mächtigen  Griff  nach  den  Menschen  im  Anfang  der  griechischen 
Geschichte  getan.  Sie  schafft  berühmte  Zentra,  von  welchen 
aus  sie  sich  missionierend  verbreitet,  was  in  der  griechischen 
Religion  sehr  selten,  aber  für  die  apollinische  bezeichnend  ist. 
Die  Läuterung  und  Hebung  der  apollinischen  Religion 
von  diesem  stark  primitiven  Standpunkte  zu  der  Höhe,  auf 
der  wir  sie  z.  B.  bei  Aischylos  finden,  ist  eine  der  glänzendsten 
Taten  des  griechischen  Geistes;  die  Schlacke  ist  dem  Orphi- 
zismus  und  anderen  Sekten  zugeworfen  worden.  Das  Glück 
Griechenlands  ist  es  gewesen,  daß  die  Verbindung  der  ver- 
wandten Elemente  wieder  in  die  ursprünglichen  Teile  zerfiel; 
die  Tabus  und  superstitiösen  Regeln  setzten  sich  in  dem  niederen 
Aberglauben  fort,  denn  die  Griechen  waren  nicht  superstitiÖB 
genug,  um  in  allen  Kleinigkeiten  formelle  Sühne  zu  erheischen; 
daher  ist  der  Sühnegott  von  jenen  Quisquilien  freigeworden. 
Dagegen  hat  er  den  anderen  Teil,  die  Sühnezeremonien  in 
wirklich  bedeutenden  Fällen  wie  bei  der  Mordsühne,  der 
Reinigung   der   Städte,    dem    Abwenden    schädlicher   Einflüsse 


Die  älteste  griechische  Zeitrechnung,  Apollo  und  der  Orient     447 

von  den  Äckern  behalten.  Indem  die  Griechen  so  die  ihnen 
angeborene-  Abneigung  gegen  die  Deisidaimonie  auch  hier 
betätigt  haben,  haben  sie  Apollo  zu  dem  machen  können, 
was  er  dem  späteren  Griechentum  ist.  Vor  uns  st^ht  er 
in  dieser  verklärten  Gestalt,  der  alten  Zeit  müssen  wir  aber  nicht 
diesen,  sondern  ihren  eigenen  weit  primitiveren  Maßstab  anlegen. 
Apollo  ist  der  Patronus  der  Monats rechnung,  er  ist  wie 
kein  zweiter  mit  einem  besonderen  Monatstag,  dem  siebenten, 
verbunden;  hiervon  ist  die  Tagewahl  nur  eine  Weiter- 
entwicklung; die  Beobachtung  der  besonderen  Bedeutung  der 
Monatstage  stimmt  vortrefflich  zu  dem  eben  geschilderten 
Charakter  der  apollinischen  Bewegung.  Wie  stimmt  aber  dieser 
Zusammenhang  mit  dem  orientalischen  Ursprung  von  der 
Bedeutung  der  Siebenzahl,  den  ich  wahrscheinlich  zu  machen 
gesucht  habe?  Nun  ist  es  eine  Annahme,  die,  seitdem  v.  Wila- 
mowitz  dafür  eingetreten  ist,  immer  mehr  an  Boden  gewonnen 
hat.  daß  Apollo  kein  einheimisch  griechischer  Gott  ist,  sondern 
aus  Kleinasien  eingewandert  ist;  zu  den  von  ihm  dargelegten 
Gründen  habe  ich  in  meinen  Griechischen  Festen  einen  neuen 
zu  fügen  gesucht,  indem  ich  auf  einige  heortologische  Tat- 
sachen hingewiesen  habe,  die  nur  auf  diese  Weise  eine  Er- 
klärung finden.  Der  Regel  nach  kommen  die  großen  religiösen 
Bewegungen  von  auswärt«  nach  Griechenland,  und  die  apol- 
linische macht  keine  Ausnahme.  Von  ihrem  Heimatslande 
muß  sie  die  treibenden  Kräfte,  die  Sühneforderung  und  die 
Beobachtung  gewisser  Regeln  und  Tage  mit  sich  geführt  haben; 
in  Griechenland  ist  sie  mit  einheimischen  verwandten  Elementen 
verschmolzen  und  hat  so  die  Gemüter  sich  Untertan  gemacht. 
Kleinasien  ist  aber  eine  Etappe  auf  dem  Wege  nach  Babylonien. 
Ich  denke,  die  beiden  Hypothesen  stützen  einander  gegenseitig. 

Es  läßt  sich  so  aus  den  Fragmenten  der  Überlieferung 
von  den  Bewegungen  der  Frühzeit  ein  Bild  erschließen,  das 
auf  bestimmtem  Gebiet  eine  Schuld  der  griechischen  Kultur  an 


448  Martin  P.  Nilsson 

die  babylonische  wahrscheinlich  macht.  Die  Griechen  kannten 
seit  altersher  das  Sonnenjahr,  dessen  Zeiten  durch  gewisse 
Naturerscheinungen  und  recht  früh  durch  die  wegen  ihrer 
Genauigkeit  hierfür  besonders  geeigneten  heliaki  sehen  Auf-  und 
Untergänge  der  Gestirne  bezeichnet  wurden,  und  einen  an 
das  Sonnenjahr  nicht  gebundenen  Mondmonat,  der  nach  den 
typischen  Phasen  des  Mondes  in  zwei,  später  drei  Teile  zerlegt 
wurde,  wobei  als  typische  Zahl  die  Neun  im  Spiel  war.  Die  anders 
geartete  und  berechnete  typische  Zahl,  die  Sieben,  die  in  Baby- 
lonien  religiös  bedeutsam  ist,  und  die  siebenten  zu  tabuierten  Tagen 
gemacht  hat,  verbreitete  sich  von  dort  zugleich  mit  dem  ge- 
bundenen Monat  (dem  lunisolaren  Kalender),  in  den  sie  als 
Schabattu^  fest  eingefügt  war,  westwärts  und  hat  sich  in  Klein- 
asien an  einen  Gott  geheftet,  der  sich  der  religiösen  Regelung 
des  menschlichen  Lebens  besonders  durch  Reinigungen  hingab, 
den  Apollo.  Vermöge  seines  Charakters  hat  dieser  Gott  sich 
auch  Griechenlands  bemächtigt,  indem  er  an  verwandte  ein- 
heimische Glaubenssätze  anknüpfte.  Diese  a  potior!  apollinisch 
genannte  Bewegung,  deren  werbende  Kraft  in  der  Forderung 
von  skrupulöser  Genauigkeit  in  dem  Betragen  der  Menschen 
gegen  die  Götter  liegt,  hat  zuerst  die  Beobachtung  auf  den 
heiligen  Tag  des  Gottes,  den  siebenten,  und  ferner  auf  die 
Bedeutung  anderer  Monatstage  gerichtet,  und  dai-um  wurden 
die  Feste  auf  bestimmte  Monatstage  festgelegt.  So  hat  der 
lunisolare  Kalender  zuerst  auf  dem  religiösen  Gebiet  gesiegt, 
und  von  dort   ist   er  in  bürgerlichen  Gebrauch   eingedrungen. 


^  Gegen  die  Annahme,  daß  der  lunisolare  Kalender  babylonischen 
Ursprungs  ist  und  daß  die  Heiligung  des  Siebenten  dem  babylonischen 
Schabattu  entspricht,  könnte  jemand  einwenden,  warum  nur  der  7.  und 
nicht  auch  die  übrigen  Schabattus,  der  14.,  21.,  28.  übernommen  worden 
sind.  Die  Antwort  ist  die,  daß  die  religiöse  Viertelung  die  ältere 
praktische  Dreiteilung  nicht  zu  verdrängen  vermochte,  und  daß  die 
Grundzahl  leichter  durchdringt  als  die  Multipeln ,  die  ihre  Bedeutung 
aus  der  Grundzahl  herleiten. 


AAIBAKTEi: 

Von  O.  Inunlsoh  in  Gießen 

1 

Das  rätselliafte  Wort,  mit  dem  wir  uns  beschäftigen  wollen, 
war  eine  Bezeichnung  für  die  Toten,  so  viel  kann  aus  der  zu 
entwirrenden    Überlieferung    gleich'   vorweggenommen  werden. 

Eine  Schwierigkeit,  die  schon  die  Mehrzahl  der  Alten 
vom  richtigen  Wege  fortgelockt  hat,  ist  zunächst  dadurch  ent- 
standen, daß  gleich  beim  ältesten  der  offenbar  nur  sehr  spär- 
lichen Zeugnisse,  über  die  man  verfügte,  bei  Hipponax  (fr. 
102  B),  eine  andere  Bedeutung  vorlag.  Da  hieß  das  Wort 
Essig.  Orion  30,  14:  äXißa^  6  vsxQog,  zagä  tö  lißdöa  xal 
vyQÖTfjta  firi   sxiiv.    %6xi  xagä  'IxxavaxxL  xal  ixi  tov  otovg.^ 

Dem  Hipponax  verdankte  das  glossematische  Wort 
Callimachus  in  dem  Hinkiambus  fr.  88  Sehn.,  aus  dem 
Artikel  äXCßag  im  Etym.  Genuinum,  den  de  Stefani  (Et.  Gud. 
p.  87)  unter  Nach  Weisung  der  Parallelüberlieferung  so  dar- 
bietet: alCßag'  6  vexgbg  6  ^rjgög,  (lij  %x(ov  voxCda  xal  Xißdda 
xvvd-  oi  yäg  t,ävxsg  vygoL  aXCßag  dh  xal  tö  5tog  xivdg  <pa0i. 
KaklCfiaxog  -^ß^^^y  olov  aUßavxu  xCvovxsg 

xagd  TÖ  /ti^  XeCßs6&aL  xal  Gnivöse^ai. 

Obwohl  man  hier  nicht  mit  Bentley  olvov  äXlßavxa^ 
schreiben  darf,  so  hat  der  große  Philologe  doch  sicherlich  das 

*  Die  Bedeutung  Essig  kennt  u.  a.  auch  Herodian  2,  656,  5  und 
30  L.  (er  sichert  die  Betonung  als  Paroxytonon).  Irrtümlich  behauptet 
Enstath  zu  i  201,  daß  hinsichtlich  der  Betonung  älißag  und  aXixgag 
(richtig  äXtXQÜs)  zusammengehörten;  vgl.  Schwabe  zu  Ael.  Dion.  et 
Paus.  fr.  32. 

*  Es  ist  wohl  olov  oi  äXißavra  zu  schreiben,  mit  scriptura  plena  statt 
mlLßuvra  oder  ulißavra  (nicht  mit  Bergk  und  andern  nlißavra;  vgl. 
«»v^^ca^rot  bei  Herodas  4,  33,  wozu  jetzt  aus  den  nach  Einreichung  des 

Archiv  f.  KeUgiosawiaaanschaft  XTV  29 


450  0.  Immisch 

Richtige  getroffen,  wenn  er,  die  Grammatikererklärung  bei- 
seite schiebend,  die  ursprüngliche  Bedeutung  vsxqos  auch  in 
dem  Gebrauche  des  Wortes  für  'Essig'  fordert.  Der  Essig  ist 
ein  vinum  mortuum.  Diese  Auffassung  blickt  gelegentlich 
auch  noch  aus  den  Notizen  der  Alten  selbst  durch,  sie  hat 
aber  vor  der  anderen,  wonach  der  Essig  aXCßag  heißt,  weil  er 
zu  keiner  'Spende'  dienen  kann,  den  Kürzeren  gezogen.  So 
ist  bei  Suidas  unter  äUßag  sicher  zu  schreiben:  7}  dXCßag  xal 
TÖ  8|og,  ocTcb  tov  ^rj  XsCßsöd-uL,  <^>  ort  vBvsxQcaiiivog 
otvög  söTiv.  Denn  obwohl  r)  auch  in  der  von  Gaisford  be- 
seitigten Wiederholung  der  Worte,  hinter  öi,£Cdiov,  fehlt,  so 
lesen  wir  doch  unter  Kt^q  richtig:  xal  t6  ö^og  ds  aXCßavtcc 
g)tt6iv,  ort  vEvsxQca^Bvog  olvög  s6ti.  Übrigens  knüpft  auch 
diese  Deutung  an  Xißdg  an^,  nur  nicht  im  Sinne  von  Spende. 
Das  lehrt  Eustath  zu  X  202:  ort  xal  6  öi,vg  olvog  äXCßag 
xal  avxog  ixaXetto,  Xöyco  dQL^vtrjtog  (i.  e.  acute,  ingeniöse), 
ov  naQa  6tsQrj6iv  Xißädog  ro6ovrov  (om  vsvsxQCOfisvog),  äXXä 
scagä  ro  /ii^  XsCßeöd^ai  iv  67Cov8alg.  Bei  Photius  (p.  74,  25 
Reitzenstein)  ist  bezeichnenderweise  die  Möglichkeit  der  ersten 
der  zwei  Auffassungen  ganz  ausgeschaltet. 


Aufsatzes  veröffentlicliten  Jamben  des  Callimachus  selbst  zahlreiche 
Krasenbeispiele  zu  fügen  wären,  aber  neben  scriptura  plena;  vergl. 
oi  ixitai  275.  Die  Aspiration  wie  bei  Herodas  schwankend).  Es 
brauchte  nur  olov,  welche  Lesung  gegen  das  von  Bentley  bevorzugte 
olvov  jetzt  als  authentisch  gelten  kann,  mit  abgekürzter  Endung  ge- 
schrieben zu  werden,  so  war  haplographischer  Ausfall  des  Artikels  oi 
ungemein  naheliegend  (in  der  Korruptel  ißr\iavol  cz  liegt  das  zutage). 
Die  Länge  der  ersten  Silbe  in  aXißavra,  an  die  außer  Bentley  auch 
Lobeck  glaubte  (path.  proll.  289),  wird  dadurch  ausgeschlossen,  daß  die 
Grammatiker  zur  Erklärung  a  privativum  verwenden.  Wäre  dabei,  was 
Lentz  (Herod.  II  666)  für  möglich  hielt,  an  Fälle  wie  u9dvatog  gedacht, 
80  hätte  Herodian  ScUßag  schwerlich  mit  'A(psidas  und  'Axä^ag  zusammen- 
gestellt. 

*  Der  tatsächliche  Ursprung  der  Bezeichnung  oivog  äXißag  oder 
vsvsxQa}[iivog  wird  ein  ganz  anderer  sein.  Den  Alten  war  nicht  un- 
bekannt, daß  im  Essig  trotz  seines  derptrov  die  'Essigälchen'  auftreten, 
oxwArjxsg,  Ol  yiyvovtai  ix  zfjg  tibqI  to  S^og  IXvog  (Aristot.  «.  ^mov  iar.  562  b  4). 


AXißavxig  451 

Stand  äXCßag  'Toter  Wein',  'Essig",  wie  nach  Callimachus' 
Nachahmung  und  nach  dem  Orionartikel  doch  wohl  mit 
Sicherheit  anzunehmen  ist,  schon  bei  Hipponax  ohne  den 
Zusatz  olvog,  so  war  das  Wort  schon  damals,  in  lonien  we- 
nigstens, seiner  eigentlichen  Bedeutung  entfremdet.  Dazu 
stimmt  gut,  daß  die  Toten  weder  in  den  erhaltenen  Resten 
der  epischen  Poesie  cüCßavrsg  heißen^,  trotz  des  schönen  hexa- 
metrischen Tonfalls,  noch  in  den  Resten  der  archaischen 
Lyrik.  Man  darf  das  betonen,  da  die  Grammatiker  offenbar 
nach  Belegen  auf  der  Suche  gewesen  sind  Die  einzigen 
zwei  Belege  aus  älterer  Literatur,  die  es  noch  gibt,  finden 
ich  in  Attica,  bei  Sophocles  und  Plato.  Der  erste  der  beiden 
bedarf  aber  einer  genaueren  Feststellung. 

In  fr.  903  (2.  Aufl.)  hat  Nauck,  wie  seine  Vorgänger 
auch,  dem  Dichter  mit  Unrecht  das  Wort  zugeschrieben. 
Weil  der  Hesychartikel  äUßag,  worin  Sophocles  gar  nicht 
genannt  wird,  unter  anderen  Bedeutungen  auch  von  einem 
Berge  des  Namens  spricht*,  darf  man  noch  lange  nicht  einen 
zweiten  Hesychartikel  damit  verbinden,  wonach  bei  Sophocles 
ein  Berg  ^AXvßag  vorkam.  Man  soll  in  dunkler  Überlieferung, 
solange  es  geht,  Getrenntes  getrennt  halten.  Hier  fordern  es 
sowohl  die  sicheren  homerischen  Namen  'AXvßij  und  ^AXvßag, 
wie  Herodians  Nebeneinanderstellung  von  ccXißag  und  ^^iv/Saj 
(1,  bo,  14  L.).  —  Ganz  anders  steht  es  dagegen  mit  Soph. 
fr.  722  (2.  Aufl.).  Hier  hat  Nauck  umgekehrt  dem  Dichter 
zu  wenig  gegeben  und  ihn  um  das  entscheidende  Wort  bringen 
wollen.  Eustath  erläutert  zu  0  284,  wie  Achill  mit  Mut  er- 
füllt wird.  Der  Held  fühlt  es  selber,  wie  er  ÖLsgä  nodl 
xad-'  "O^rjQov  (t  43)  ^  x^^P^r  yövv  xarä  Ssöxqlxov  (14,  70) 


^  Auch  aus  den  später  zu  behandehiden  Worten  Piatos  (Eep.  Hl 
387 B)  folgt  nicht  notwendig,  daß  Plato  eine  bestimmte  oder  gar  eine 
'homerische'  Dichterstelle  im  Auge  hatte,  an  der  das  Wort  vorkam. 

*  Wobei  obendrein  zweifelhaft  ist,  ob  ögog  nicht  für  ö^og  ver- 
schrieben ist. 

29* 


452  0-  Immisch 

€xov  ßaivEi,  xal  ovnco  dsog  elg  ccXCßavta  xaransöelv  uvtbv 
l&vTi  no8l  xQfoiievov,  äg  q)if}6i  2Joq)oxXf}g.  Nauck  will  nur 
^&vtL  Ttodl  %QG}yisvog  als  sophocleiscli  gelten  lassen  (warum 
dann  nicht  t,Givxi  %o8C  allein?).  Daß  dies  nicht  richtig  ist, 
lehrt  die  nähere  Betrachtung  eines  viel  genannten  Stückes 
aristarchischer  Homerinterpretation,  seiner  Auffassung  des 
Wortes  di8Q6g  (vgl.  Lehrs,  Arist^  47 ff.).  Es  heißt  nach  ihm 
■^lebendig',  und  zwar  ist  dabei  das  Leben  als  das  (Warm)- 
feuchte  im  Gegensatz  zum  (Kalt)trockenen  genommen.  Schon 
für  Aristarch  waren  deshalb  duQog  und  ccUßag  eng  verbundene 
Kontrast  Wörter;  vgl.  Scholl,  g  201  (wo  Aristarchs  Name  für 
die  Gleichung  diSQog  =  ^&v  genannt  ist):  6  ^av,  cog  ix  tov 
svuvtCov  ccXCßavrsg  ol  vsxqoC  (H).  ^(3v  iQQa^isvcag  xal  Ixficc- 
dog  ^srsj(,G}V.  ri^v  iisv  yccQ  ^coriv  vygotrjg  xal  d^SQ^aßCa  6vv- 
s^st,  tov  ÖS  d-dvatov  tl^vxQotifjg  xal  ^rjQaeCa.  od^Bv  xal  dXi~ 
/3avT5g  ol  vsxQOi,  Xißdöog  (itj  (istsxovtsg  (PQV).  Diese  Lehre 
ist,  wie  wir  noch  sehen  werden,  die  herrschende.  Auch  Eustath, 
dem  dadurch  das  Wort  dXlßag  so  vertraut  wurde,  daß  er  es 
in  seiner  eigenen  Kunstprosa  verwandte^,  hat  sie  mehrfach: 
außer  an  der  Stelle  mit  dem  Sophocleszitat  auch  zu  ^201, 
X  202,  H  239. 

Wie  kam  aber  Aristarch  zu  dieser  Verkoppelung  des 
homerischen  mit  einem,  wie  wir  sahen,  durchaus  unhomerischen 
Worte?  Die  'i,riQa6la  alles  Toten  hätte  doch  auch  an  anderen 
Ausdrücken,  etwa  an  ß(ov  d^aXetjv,  oder  wenn's  nicht  Homer 
sein  mußte,  an  dem  Avaivov  XCd-og  der  'Frösche'  erläutert 
werden  können  (vgl.  Didymus,  Schol.  ran.  186.  194  nebst 
Eust.  zu  ^  201).  Aristarchs  Verhalten  erklärt  sich  aber  sofort, 
wenn  er  seine  Interpretation  auf  irgendeine  alte  Autorität 
stützte,  und  eben  diese  hat  uns  Eustaths  Sophocleum  wirklich 
erhalten.  Betrachtet  man  daraufhin  die  Worte  genauer,  so  ist 
doch  klar,  daß  Sophocles  mit  ^(ovtl  nodl  Homers  dtsQö  aadl 

'  In  der  Lobrede  auf  den  Märtyrer  Demetrius  c.  28  (p.  172  Tafel): 
rovtov  mg  sinatv  &XlßavTa,  to  roi»  ftägtvgog  y^lror,  x.tl. 


AhßavTfg  453 

geradezu  parapkrasiert,  ganz  nach  Aristarchs  Sinne,  und  die 
so  merkwürdige  Gegenüberstellung  mit  dem  Worte  aXißa^ 
findet  sich  desgleichen  vor,  wenn  wir  nur  alle  Worte  Eustaths 
für  den  Tragiker  in  Anspruch  nehmen.  Auf  die  Herstellung 
der  Verse  selbst  wird  man  verzichten  müssen,  um  so  mehr,  als  es 
vielleicht  gar  nicht  Trimeter  waren.  Die  oben  (S.  449,  Anm.  2) 
schon  erwähnte  falsche  Messung  der  Anfangssilbe  ist  nicht 
der  einzige  Grund,  weshalb  die  im  Pariser  Thesaurus  1,  1,  1467 
vorgeschlagene  Fassung  unannehmbar  ist  (ovaro  dios  ig 
äXCßavra  xaxaaeöHv  avrbv  xodi  ^ävti  .  .  .  x9<^P^^vov).  Im 
Prinzip  hat  aber  der  Urheber  dieses  Versuches  die  Ausdehnung 
des  Zitates  gegen  Nauck  sicher  richtig  beurteilt.'  Das  dürfen 
wir  zuversichtlich  behaupten,  da  sich  unsere  Ansicht  noch  von 
ner  anderen  Seite  her  auf  das  erwünschteste  bestätigen  läßt. 
In  den  von  Eustath  mitgeteilten  Worten  ist  nämlich  der 
Ausdruck  elg  aXCßavra  xarcczsOslv  an  sich  höchst  auffällig, 
sowohl  das  Verbum,  wie  namentlich  auch  der  Singular  des 
Substantivs.  Hätte  man  das  rein  für  sich  zu  erklären,  so 
läge  es  nicht  fem,  ja  es  wäre  eigentlich  das  Natürliche,  in 
dem  dunklen  Worte  vielmehr  einen  roxog  iv  "Aidov  zu  sehen. 
Und  in  der  Tat,  eben  diese  Möglichkeit  taucht,  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  in  der  Grammatikerüberlieferung  öfter  auf. 
Bald  ist  unbestimmt  von  einem  ronog  die  Rede,  einmal  von 
einem  Berg,  öfter  von  einem  Fluß,  wohl  einer  Art  Feuerfluß, 
denn  die  Vorstellung  der  lebensfeindlichen  %r^Qa6la,  der  Mangel 
an  Xißäg,  beherrscht  auch  diese  Ausdeutung.  Ihr  Entstehen 
ist,  wenn  auch  ihre  Richtigkeit  zweifelhaft  bleiben  muß,  nach 
der  SophoclessteUe  jedenfalls  völlig  verständlich,  die  dann 
natürlich  den  fraglichen  Ausdruck  slg  ciXCßcana  xccraxeöelv 
notwendig  mitumfassen  mußte.  Die  lokale  Deutunsr  von 
aXCßas  kann  dagegen  nicht  entstanden  sein  aus   dem  anderen 

'  Richtig  auch  Wagner  fr.  797  und  Dindorf  fr.  751.  Hören  läßt 
es  sich,  wenn  man  mit  Brunck  ovnca  dt'os  auf  Eustaths  Rechnung  setzen 
will;  vgl.  Ellendt-Genthe,  Lex.  Soph.  27. 


454  0.  Immisch 

Zeugnis,  das  den  Alten,  wie  uns,  aus  der  älteren  Literatur 
allein  noch  zur  Verfügung  gestanden  zu  haben  scheint  (vgl, 
unten  S.  455,  Anm.  2).  Bei  Plato^(Rep.  III  387B/C)  ist  kein 
Anlaß,  dXCßavTsg  anders  als  vsxqoC  zu  deuten.  Er  zählt  ver- 
werfliche övofiata  dsLvu  r£  xal  (poßsgd  auf:  Kwxvtovg  te  xal 
UTvyag  xul  ivEQOvg  xal  dXißavxag  xal  alla,  o6a  rovxov  xov 
TVÄOv  övoiia^ofisva  (pgCttsiv  dii  noui  Sag  oXitai  ndvrag  xovg 
dxovovtag}  Wie  immer  man  über  evsqol  denkt,  mag  man  es 
von  svsQ&siv)  her  als  inferi  fassen  oder  es  mit  den  Alten  an 
SQa  ^Erde'  anknüpfen,  so  viel  ist  klar,  die  vier  Beispiele 
ordnen  sich  zu  zwei  Paaren,  zwei  Bezeichnungen  von  lokalem 
Charakter  und  zwei  für  die  Toten  selbst.  Wie  zwingend  das 
ist,  lehrt  am  besten  die  Scholienüberlieferung,  aus  der  hervor- 
geht, daß  man  den  Versuch,  dXCßavxag  auch  bei  Plato  lokal 
zu  erklären,  wohl  oder  übel  aufgeben  mußte.  Parisinus  A  hat 
das  Scholion^:  ivsQovg  xovg  vsxQOvg^  dxb  xov  ev  xfi  SQa,  o 
iöxiv  yfi,  xsiöQ-ai.  dXißavxag  8e  xonovg  iv  "AlSov  slvai 
fivd'svovxaL,  diä  xijv  T^g  Xißadog  dfisd'sh,Cav  xäv  vExgmv 
(ebenso  natürlich  Venetus  t,  der  nur  noch  xal  vor  ^vdsvovxai 
einschiebt).     Die  anderen  Quellen  haben   dagegen   den  zweiten 

*  Ficinus  übersetzte  aXißavtag  mit  nihil  gustantes  (die  nichts  libiert 
bekommen).  Nicht  wenige  Platohss.  verdeutlichen  die  Etymologie  durch 
die  Orthographie  äXsißavras,  selbst  Allt  haben  so  von  erster.  Hand. 
Doch  steht  die  Kürze  der  zweiten  Silbe  durch  das  Callimacheum  fest. 
—  Das  vielbesprochene  und  schon  in  jungen  Hss.  mit  Konjekturen  be- 
dachte mg  oi'srat  kann  hier  unerörtert  bleiben. 

*  Es  ist  wohl  ohne  weiteres  einleuchtend,  daß  diese  Fassung  sich 
erklärt  aus  der  Abhängigkeit  von  Cornutus  ^tciSq.  34  p.  235  G.:  ivTuv^sv 
vnovor]riov  xal  rohg  aXißccvrag  (iBfivd-sva&ai  <!JT6novg'^  iv  "Jiäov  Fivai 
{sloi  codd.),  diä  ri}v  rfjg  XißdSog  aiLsO-s^iav  t&v  vexQwv.  Die  Verbesserung 
wird  durch  den  Vergleich  mit  dem  Platoscholion  gefordert.  Lang  tilgt 
die  ganze  Stelle  mit  Unrecht.  Beachtenswert  ist  übrigens,  daß  Proclus 
(1,  118,  13  Kroll)  sich  über  &Xißavrag  ausschweigt.  Desgleichen  meidet 
das  Wort  die  Vorlage  Plutarchs  (der  es  selber  ganz  gut  kennt)  in  der 
von  Plato  abhängigen  Erörterung  in  der  Schrift  nmg  öei  rbv  vbov  noir]- 
fiuT(av  ccKo-vsiv  17Bff.  Das  Timaeusglossar  in  seinem  jetzigen  Zustande 
versagt  auch. 


AXißavTSS  455 

Satz  so:  äUßavrug  ds  ronovg  kv  "AiÖov  ri  xal  avrov^  rovg 
vsxQOvg  voTjtsov,  diä  xiiv  tfig  hßddog  dpLS&stCuv.  Die 
lokale  Auffassung  war  eben  bei  der  Platostelle  gar  zu  un- 
natürlich. Entstanden  ist  sie,  das  wird  man  zugpben  müssen, 
sicherlich  nicht  durch  Plato,  sie  stammt  demnach  höchst- 
wahrscheinlich aus  der  offenbar  als  sehr  wichtig  erachteten 
Sophoclesstelle.' 

Mag  nun  auch  zweifelhaft  bleiben,  in  welchem  Sinne  der 
Tragiker  dXCßag  als  nomen  ordnum  verwandte,  der  bei  ihm 
vorhandene  Gegensatz  zu  ^cai^t  (d.  h.  disgä)  noSC  zeigt  jeden- 
falls, daß  die  Deutung  „ohne  hßdg"  bis  auf  Sophocles  zurück- 
seht.- 


'  Man  beachte,  daß  auch  in  der  lexikographischen  Überlieferung 
ein  Doppelartikel  umläuft:  uXißavrsg  oder  aXLßavxag  (zu  Plato)  und 
uXißas  (zu  Sophocles). 

*  Eb  genügt,  die  Zeugnisse  dafür  in  der  Anmerkung  zusammen- 
zustellen, so  daß  das  schon  Angeführte  ergänzt  wird.  Zu  Didymus  (fr. 
248  Schm.)  und  Comutus  inidg.  34,  beide  schon  erwähnt,  tritt  der 
Arzt  Athenaeus  Ton  Attalia  und  seine  Schule  bei  Galen  ■x.  xgäßBap 
1,  3  (I,  522  K.).  Es  folgt  Plutarch  3«.  conv.  8,  10,  736  A  (zitiert  von 
Eustath  zu  ^  201)  und  aqua  an  ignis  utiiior  2,  956  A.  Erwähnt  sei 
auch  der  Scherz  Lucians,  der  einen  infernalischen  Demagogen  Kgaviav 
Hixslsriavos  Nfxvßisvg  qpi?Ä^^  'AXißavTiöoi  nennt  (Xecyom.  20).  Die 
Scholien  und  Lexika  sind  meist  schon  angeführt.  Bei  Hesych  imter 
aXißag  erscheint  neben  einem  rätselhaften  vsxQÖg  j]  ßgov^og  auch  Ttora- 
(t,6g  und  oQog  (falls  das  letztere  nicht  o|os  ist).  Das  Gewöhnliche  hat 
er  unter  aXißavteg  und  diagöv.  Alle  drei  Bedeutungen  (vsxQÖg,  noray^bg 
iv  "AiSov.  ö|os)  stehen  bei  Suidas  unter  äXißag  und  in  Bekkers  Aneed. 
376,  21,  sowie  in  Reitzensteins  Photius  74,  25.  Ein  Unterweltsfluß,  der 
80  heißt  ano  zov  a-narra  ^r^gcclvtiv  xal  .UTjdf  lißäda  i/«tr  (also  wohl  ein 
Feuerstrom)  im  Et.  M.  unter  Kaxvrög  und  (neben  dem  Essig)  bei  Suidas 
unter  Kj]q,  auch  in  Rabes  Lucianscholien  43,  3flF.  Die  Tradition  der 
Etymologika  und  Zugehöriges  im  übrigen  geordnet  von  de  Stefani  an 
der  oben  S.  449  genannten  Stelle.  Die  Sache  gehörte  nicht  nur  in  den 
Artikel  cdißag  selbst;  vgl.  Et.  Gud.:  älißag  Ttaocc  rö  Xißäda  xal  v'/qö- 
Tr\ra  ui]  ixsiv.  xal  sig  tö  'A^a  xal  Zawvoi  xal  'TyiTig  und  demnach 
unter  afta  bei  Orion  und  i'/itj?  bei  Orion,  Et.  Gud.  und  Magn.  — 
Schließlich  sei  der  Vollständigkeit  halber  noch  angeführt,  daß  der  Aus- 
druck auch  ins  Lateinische  übergegangen  ist:  abantes  mortui  (mg. 
recentissima  manu  alibantes  et  alia   quaedam  quae  legi  non  potuerunt. 


456  0.  Immisch 

2  1 

Ist  nun  diese  antike  Deutung  möglicli?  Tovg  vsxQovg 
avaCvsöd-ai  xal  aXCßavtag  slvai^  wie  Didymus  sagt,  stimmt  an 
sich  gut  zu  den  Vorstellungen,  daß  die  Toten  die  Trockenen, 
Dorrenden,  Durstigen  sind;  vgl.  Gruppe,  Gr.  Myth.  II  831. 
Die  Wortbildung  —  privatives  a  und  Suffix  ani  am  Stamme 
von  Xslßa  — ,  diese  zunächst  außerordentlich  befremdliche 
Bildung  würde  man  hinnehmen  müssen.  Denn  angeknüpft  an 
Muster  wie  ddä^ag  äxä^iag,  wo  aöaiiutog  äxtt[iarog  vermitteln 
konnten^,  haben  wir  ein  ziemlich  genaues  Analogen  in  zweij 
homerischen  Namen,  in  ^sCdag  {N  691)  und  dem  schon  von 
Herodian  mit  ccXCßag  zusammengestellten  ^Afpsiöag  (o  305). 
Die  Differenz  zwischen  st  und  dem  durch  Callimachus  füi 
ttXCßag  gesicherten  t  fällt  kaum  ins  Gewicht.  Die  durch- 
gefühlte Bedeutung  schloß  in  dem  einen  Falle  (ganz  ab-Tj 
zusehen  von  der  Menge  andrer  Namen  mit  Osid-)  die  Namens- 
bildung an  (psCdoiiai,  cpsudd),  (peidcolTJ  an,  in  dem  anderen 
Falle  konnte  verständlicherweise  der  Zusammenhang  weniger] 
mit  XeCßß)  selbst  als  mit  Xißdg,  XCßog,  Xißgög  usw.  naheliegend] 
sein.  Denn  'ohne  Spende'  war  ja  bei  der  Sitte  der  Toten-j 
spenden  sinnlos",  erfordert  war  'ohne  (Lebens)saft'.  Man  kann 
schließlich  auch  das  nicht  gegen  die  Analogie  von  'Aq)eLdag\ 
einwenden,  daß  dies  Wort  insofern  andersartig  sei,  als  es  eine] 
ausgesprochen  aktive  Bedeutung  habe,  der  'Nichtsparer'  oder 
'Verschwender'.  Diese  Interpretation,  das  sei  nebenher  be- 
merkt, ist  schon  deshalb  höchst  unwahrscheinlich,  weil  sie  fast] 

cod.  Sang.  912;  quos  (qd  Vat.)  greci  elibantes  appellant,  codd.  Casain.! 
218  et  Vat.  1469,  saec.  X)  C  Gl  L  IV  201.  Ferner  in  den  Exzerpten  aus] 
Glossarien  des  IX.  und  X.  Jahrh.  abantes  mortui  quos  greci  alibantesl 
(vi  aliuantes,  aliquantes)  appellant  ibid.  V486.  Des  Lucilius  abzet  (absens^ 
Marx  681)  hat  nichts  mit  der  Glosse  zu  tun  (Goetz  C  Gl  L  VI  1, 11). 

*  Vgl.  Brugmann  Griech.  Gramm.'  §  214. 

*  Vermutlich  deshalb  lesen  wir  im  Et.  M.  unter  üXißavTug  den] 
ganz  vereinzelten  Einfall:  aiXoi  <^rovf>-  diä  nsviav  cctd(pove  (wohlj 
nachlässig  für  ScenovSovg). 


AXißavTBg  45*T 

mit  Notwendigkeit  zur  Textänderung  führt  Odysseus  fingiert 
ein  Personale:  vibs  ^AtpsCöavtog  noXvni]y.ovC8ao  avaxrog,  av- 
räo  ifioC  "/  övo/i'  iGTiv  'EjtTJQitos-  Wer  hier  unter  ^Atpsldus 
den  'Verschwender'  versteht,  kann  freilich  den  'Leidenreich' 
als  Vater  nicht  gebrauchen,  sondern  wünscht  einen  'Güter- 
reich' zu  haben  und  wird  deshalb  im  Anschluß  an  Cobet 
UoXvTia^fiovCdao  ändern  (ygl,  Cauer,  Grundfragen'  148).  War- 
um aber  soll  'Acpsidag  nicht  'ün verschont'  heißen,  passiv  und 
zuständlich  wie^ASd^ag,'j4xä(iag?  Auf  'Un verschont'  führt  auch 
'E:ti]Qirog,  das  doch  wohl  der  'Bestrittene',  'Bekämpfte'  be- 
deutet. Also  auch  semasiologisch  steht  der  Name  'AcpsCdag 
für  ein  ccXCßag,  im  antiken  Sinne  aufgefaßt,  mit  hinreichender 
Analogie  ein.  Die  Bildung  selbst,  so  au^llig  sie  sein  mag, 
wir  müßten  sie  hinnehmen.  Dennoch  wird  jeder  das  Gefühl 
haben,  daß  etwas  Künstliches  und  Unbefriedigendes  in  dieser 
antiken  Lehre  steckt.  Das  liegt  einmal  daran,  daß  mit  keißa, 
Xißdg  nicht  der  richtige  Ausdruck  für  die  Sache  gewählt  wäre. 
In  der  Bedeutung  'Spende'  ist  es  völlig  unmöglich,  und  'Naß', 
*  Feuchtigkeit'  kann  darin  nicht  in  jenem  gleichsam  vitalisti- 
schen  Sinne  stecken,  der  doch  vorausgesetzt  wird.  Denn 
*tropfen',  'träufeln'  ist  hier  die  primäre  Vorstellung.^  Man 
erwartet  zu  solcher  Bildung  vielmehr  ein  Wort  verwendet  zu 
fiinden,  wie  etwa  Ixiidg,  ganz  abzusehen  davon,  daß  als  das 
beseelende  Element  nach  ältester  Auffassung,  wenn  es  nicht 
als  'Hauch'  erscheint,  das  Blut  betrachtet  wird,  wozu  XsCßa 
Xißäg  usw.  gewiß  keine  ursprünglichen  Beziehungen  haben.' 
Und  dazu  kommt  noch,  daß  wenigstens  Plato  von  den  dXC- 
ßavTsg    denn    doch    eine    ganz    andere  Vorstellung    gehabt    zu 


'  Dies  wird  besonders  auch  deutlich  aus  Hesychs  Äiii--  Ttirga,  a<f' 
TIS  vd(OQ  ffrajsi,  wonach  auch  das  bei  Richtigkeit  der  antiken  Deutung 
mit  äXißas  unmittelbar  zu  vergleichende  aXtil)-  ithga  zu  erklären  ist, 
offenbar  jittQa  Irjpa,  aqp'  rig  vSwg  (li}  crajfi. 

*  Wenn  ich  nicht  irre,  ist  die  Beziehung  zwischen  'Wasser'  und 
'Leben'  ursprünglich  eher  semitisch  als  griechisch:  vgl.  R.  Smith  Die 
Religion  der  Semiten  (deutsch  von  Stube,  Freiburg  1899)  S.  95.  132. 


458  0.  Immisch 

haben  scheint.  Er  zählt  den  Ausdruck  zu  denen,  a  (pgCrtsiv 
TtoLSi  Tcävtag  tovg  ccxovovtag.  Und  vbqteqol  ^die  Unter- 
irdischen' hat  auch  diese  Wirkung.  Aber  die  'Saftlosen',  die 
'Dürren',  oder  richtiger  die  'Tropfenleeren',  war  darin  das  J 
(pQLxädsg  wirklich  so  außerordentlich  groß,  daß  das  Wort  als 
ein  besonders  schauerliches  aus  der  Zahl  der  übrigen  hervor- 
gehoben zu  werden  verdiente?  Vielleicht  hat  solche  Erwägungen, 
ganz  alleinstehend,  schon  der  antike  Gelehrte  angestellt,  dessen 
Meinung  wir  bis  jetzt  beiseite  gelassen  haben  und  dem  wir 
uns  nunmehr  zuwenden  wollen. 

3 

Das  Wort  war  bei  Hipponax  belegt,  und  zwar  in  einem 
von  dem  ursprünglichen  bereits  entfremdeten  Sinne,  welcher 
Sinn  aber  allerdings  die  Anknüpfung  an  [lij  XsißaeQ^ai  (=  /x-^ 
öjtsvdsö&ai)  nahelegen  konnte.  Es  war  mithin  keinesfalls 
ausgeschlossen,  daß  ein  äußerer  Zufall  des  Wortes  ursprüng- 
liche Bedeutung  verdunkelt  hatte.  Einen  Anlaß  dazu  konnte 
die  ionische  Psilose  geboten  haben.  Die  Späteren,  und 
zwar  schon  Sophocles,  waren  vielleicht  nur  hierdurch,  weil 
das  Wort  undurchsichtig  geworden  war,  zu  ihrer  irrigen  Auf- 
fassung gelangt.  Wie?  Wenn  die  Toten,  soweit  der  fragliche 
Ausdruck  sie  bezeichnete,  ursprünglich  die  auf  dem  Meere 
Wandernden  oder  Schweifenden,  wenn  sie  Halibanten 
waren?  Das  wäre  eine  formal  wie  sachlich  tadellose  grie- 
chische Bezeichnung,  passend  namentlich  für  solche,  die  auf 
dem  Meere  umgekommen  waren  und  deren  Seelen  nun  ge- 
heimnisvoll über  dem  Wasser  wandeln.  In  wohlverständlichem 
Gegensatz  hätte  gerade  diese  Totengeister  Plato  neben  die 
evBQOi  gestellt,  die  andere  Art  Totengeister,  die  in  der  Erden- 
tiefe hausen.  Schauerlich,  wie  es  die  Platostelle  erfordert, 
wären  diese  Halibanten  auch,  sie  würden  sich  ja  nahe  genug 
den  fürchterlichen  Harpyien  zugesellen,  Seelen wesen,  die  zu- 
gleich  Sturmgeister  und  Menschen  hinraffende    Todesdämonen 


AXißavxBS  459 

sind.  Man  könnte  in  der  Tat  ganz  selbständig  auf  diese 
Lösung  des  Rätsels  verfallen.  Sie  ist  aber  bereits  antik.  Der 
um  seines  letzten  Teiles  willen  bereits  S.  455,  Anm.  1  an- 
geführte und  wohl  sicher  auf  die  Platostelle  bezügliche  Artikel 
aus  Et.  M.  unter  a/.ißccvrag  (verschieden  von  dem  Artikel 
äXißag)  lautet:  xovg  iv  d^aXdäörj  raXsvrjjöavTag.  ^  tov^ 
^)iQO-vg.  aX'/.oi  <.xovg>  Öiä  asviav  cerdcfovs-^  Ich  meine,  die 
alte  und  zugleich  neue  Deutung  ist  schlagend  richtig. 

Auf  das  Meer  als  Totenreich  in  größerem,  religions- 
geschichtlichem Zusammenhange  hier  einzugehen  muß  ich  mir 
versagen,  schon  weil  mich  solcher  Versuch  auf  mir  nicht  aas 
erster  Hand  vertraute  Gebiete  führen  würde.  Noti  onmia 
possiimus  omnes.  Kenntnisreichere  und  Mutigere  werden  diese 
Lücke  überreich  auszufüllen  wissen  -.  Für  das  Dämonische  an 
der  Fähigkeit  des  Wasserwandeins  finden  sich  Belege  ge- 
sammelt bei  de  Jong,  Das  antike  Mysterienwesen  (Leiden  1909) 
S.  294 ff.  Natürlich  fehlen  dabei  auch  die  Stellen  nicht,  wo 
der  Heiland  seinen  Jüngern  über  dem  Seespiegel  wandelnd 
erscheint.  Matth.  14,  25fiF.:  xai  186vxb<s  ccötov  oi  fiad'rjxai  ixi 
lijv  d-ccXa66av  nsQmaxovvTCi  iragccx^rjCav  Xsyovrsg,  ort 
tpaönard  86ti.  xal  anb  tov  <p6ßov  sxgatav;  vgl.  Marc.  6, 
48  ff.,  Joh.  6,  19.  Die  Angst  vor  den  ^Seewandlem'  zeigt  sich 
auch  in  der  Wundererzählung  Phylarchs  von  den  pontischen 
Thibiem  (fr.  68  FHG  1,  354).  Sie  besitzen  die  geheimnisvolle 
Gabe  der  Seegespenster,  non  posse  mergi,  ne  veste  quiäeyn 
degraratos.  aber  sie  sind  zugleich  bXi^Qioi;  sie  haben  den 
bösen  Blick,  ja  mehr  noch:  t6  ßXenpoc  xal  Tir)i/  ävaTCvoriv  xai 
xi]v    diäXsxxov    avx&v    xagaöaxo^svovg    x'^xeö^ul    y.al    voötlv. 

*  Sylburg  und  Gaisford  drucken  im  Lemma  at.ißdvTas.  Wenn  das  Ge- 
währ hat,  so  ist  es  doch  hinsichtlich  des  Akzentes  unerheblich ;  vgl.  ivxäßag, 
xüXißag,  oicgißag.  —  Ob  übrigens  Hesychs  a/.ißccTst'  ccqiavi^si  in  diesen  Zu- 
sammenhang gehört,  möge  unentschieden  bleiben;  Tgl.  ä/.ißdvsn\  —  Noch 
sei  bemerkt,  daß  Ellendt  für  i]  robs  ^riQovg.  was  doch  die  verbreitete  Lehre 
andeuten  soU,  ^  tovg  StcI  ler/js  woUte  (Lex.  Soph.  von  EUendt-Genthe  27). 

*  Vgl.  Radermacher,  das  Jenseits  im  Myth.  d.  Hell.  (Bonn  1903)  73ff. 


460  0-  Immisch 

Immerhin  erscheinen  die  Zeugnisse  für  den  Glauben  an  die 
'Seewandler'  sehr  sparsam.^  Man  darf  wohl  annehmen,  daß 
Ausdruck  wie  Vorstellung  schon  früh  in  die  niedrigsten 
Schichten  herabsanken  und  dort  ihr  Dasein  weiter  fristeten, 
dort  natürlich  in  ungebrochener  Kraft,  wenigstens  insofern  als 
die  Erhaltung  des  Hauchlautes  das  Wort  durchsichtig  erhielt. 
Das  scheint,  trotz  Sophocles,  im  attischen  Volke  der  Fall  ge- 
wesen zu  sein,  so  wird  die  Platostelle  verständlich.  Dagegen 
in  lonien  hat  zunächst  der  Geist  des  höfischen  Epos,  in  seiner 
Aufgeklärtheit  den  trüben  Spukgestalten  des  Volksglaubens 
abgeneigt,  Wort  und  Vorstellung  sich  ferngehalten.  Wohl 
beklagt  man  den  Armen,  der  auf  dem  Meere  ertrinken  muß, 
ov  d^  7C0V  Xs-Oic'  botsa  nvd'stai  ofißgat  ||  xsC^sv'  ha'  '^tisCqov, 
^'  slv  ccXi  xvfia  xvXCvdsi  (a  161  f.),  aber  keine  Spur  davon, 
daß  die  Seele  des  Mannes,  tbv  G)XE6t  ndvtog  avaidiqg,  als  See- 
gespenst ruhelos  umgehen  und  über  dem  Meere  wandeln  muß. 
Er  bekommt  eben  sein  Kenotaph,  wie  der  wackere  Korinthier 
Dveinias,  und  der  Sänger  versichert  klagend  ^latQiGiTSQOv  av 
rijv  GviKpoqäv  ivsyxstv,  sl  xsCvov  XE(paXi]v  xal  xaQLSvxa  (is- 
Xsa  II  "H(pai6Tog  Had-uQolGiv  iv  SLiiaöiv  cc^cpsTtov^d'i]  (Archil. 
fr.  12  B;  über  solche  Motive  in  der  hellenistischen  und  römi- 
schen Dichtung  vgl.  Nordens  Komm,  zur  Aeneis  VI  S.  225  f.). 
Die  Literaturunfähigkeit  der  Halibanten  hat  sich  wohl  fi-ül 
entschieden  ^     In  lonien  ward    das  Wort  obendrein   durch  dii 


*  Ich    darf   dazu   wohl   auch    Lukians  als  'Phellopoden'   maskiei 
'Seewandler'    rechnen.     Ver.  hist.   II  4:    xß'S'opüjftsr    ccv9Qm7iovs   JtoXlovs 
§id    xov    -ntXäyovg  öiad-eovrag   ktX.      Mit   dem   Erwerb   ihrer  rationellei 
Korkfüße  Bind  sie  auch  im  übrigen  rationell  geworden,  haben  alles  Unr 
heimliche    abgestreift   und   verabschieden    sich  zuletzt  mit  freundlicher 
Seemannsgruß,  evtcXoiccv  insv^cciiBvoi.  —  Stellen,  wo  es  sich  um  Wasser 
wandeln  infolge  von  Zauberei  handelt,  lasse  ich  hier  beiseite. 

'  Immerhin  mag  ein   Schauer  des  alten  Glaubens  noch  die  Vera 
des    Arimaspenepos    umwehen,    die    vom    Elend    der   Schiffer    handeln^ 
9uv(i'  i)(ilv  xai  TOvro   fiiya  <pQE6lv  '^(ist^qjjöiv   ccvSgtg  vätOQ  vaiovöiv  &ni 
X^-ovos  iv   TtBXäysaei   xtX.     Daß    der  Verfasser   itegl    vil>ovg  (10,4)    darin 
mehr  (ivd-og  als  diog  empfindet,  ist  begreiflich. 


Mtßavreg  461 

Psilose  undurchsichtig.  Als  ein  konventioneller  Ausdruck  für 
vsxQog  lebte  es  weiter,  und  das  Volk  dort,  das  kein  Grauen 
mehr  bei  dem  Ausdruck  fühlte,  benannte  damit  den  'toten 
Wein',  den  Essig.  Hierdurch  bahnte  sich  eine  neue  etymolo- 
gische Auffassung  an,  die  vielleicht  zunächst  wirklich  volks- 
etymologisch  im  engeren  Sinne  war,  axb  tov  fiij  öxsvdiö&ai. 
Ihre  Weiterführung  im  naturphilosophischen  Sinne,  als  Gegen- 
satz zu  disgög,  wird  dann  wohl  dem  eigentlichen  Auf  klärungs- 
zeitalter,  vor  allen  den  xaluLol  'OfiijQixoC  zu  danken  sein,  und 
es  ist  nicht  wunderbar,  daß  wir  in  deren  Banne  wohl  Sophocles 
finden,  durch  den  sich  wieder  Aristarch  und  die  Späteren 
imponieren  ließen,  Plato  dagegen  nicht.  Ich  meine,  so  legen 
sieh  die  verwickelten  Tatsachen  gut  auseinander.  Eine  inner- 
liche und  wertvolle  Bestätigung  würden  wir  indessen  gewinnen, 
wenn  auch  in  diesem  Falle,  wie  es  bei  anderen  ähnlichen 
Dingen  geschehen  ist,  von  der  zurückgedrängten  und  schon 
früh  verschollenen  Vorstellung  doch  auch  in  der  aufgeklärten 
homerischen  Welt  noch  ein  Rudiment  stehen  geblieben  wäre, 
das.  scheinbar  erstarrt  und  abgestorben,  sein  eigentliches,  inneres 
und  geheimes  Leben  erst  wiedergewönne,  wenn  man  den  alten  Ge- 
dankeninhalt darin  von  neuem  aufweckte.  Dieser  Fall  liegt,  glaube 
ich,  wirklich  vor.  und  damit  gelangen  wir  (unerwartet  genug) 
zuletzt  noch  zu  einem  zwar  bescheidenen,  aber  vielleicht  doch 
nicht  ganz  unwichtigen  Beitrag  —  zur  Leukas-lthakafrage. 

4 
Bei  Dörpfeld  und  seinen  Anhängern  spielt  eine  nicht  un- 
bedeutende Rolle  der  Formelvers 

ov  luv  ydg  rC  6s  :t6^bv  öCo^ai  iv&dd'  ixiö^ai} 

Man  findet,  er  bestätige  vortrefflich  eine  Lage  von  Ithaka,  bei 
der   es    nicht   ausgeschlossen    war.    daß    der  Fremde  auch  auf 

'  a  173  Telemach  zu  Athena-Mentes ;  §  190  Eumäua  zu  Odysseus; 
«  59  (mit  I  statt  et)  Telemach  zu  Eumäus,  den  Odysseus  betreffend; 
ebd.  224  Telemach  zu  Odysseus. 


462  0.  Immisch 

dem  Landwege  eintraf  (mit  oder  ohne  Fähre);  vgl.  jetzt  be- 
sonders Cauer,  Grundfragen^  247  f.  Zuzugeben  ist  auf  jeden 
Fall,  daß  die  frühere  Erklärung,  wonach  ein  Scherz  vorläge, 
unhaltbar  ist.  Nicht  weil  der  Scherz  sehr  fade  und  dürftig 
ist  —  an  stereotype  Wendungen  dieser  Art  darf  man  nur 
bescheidene  Anforderungen  stellen  — ,  sondern  einfach,  weil 
mindestens  die  Stelle  n  224  diese  Erklärung  schlechthin  aus- 
schließt. Wie  sollte  Telemach,  der  sich  soeben  erst  aus  der 
langen,  tränenvollen  Umarmung  des  wiedergefundenen  Vaters' 
gelöst  hat,  nun  wo  er  endlich  Worte  findet,  zu  einem  der-  ■ 
artigen  Scherze  aufgelegt  sein?  Man  hat  denn  auch  eine 
andere  Erklärung  ersonnen,  bei  der  nun  freilich,  sehr  im 
Gegensatz  zu  Dörpfelds  realistischer  Deutung,  gerade  das 
advvatov,  das  der  Formelvers  ausspricht,  als  ddvvurov  zur 
eigentlichen  Hauptsache  wird,  zur  Pointe  der  Redensart  (vgl. 
VoUgraff,  Ilbergs  Jahrb.  19,  1907,  624f.).  Es  handelt  sich 
stets  um  eine  unerwartete  oder  überraschende  Begegnung. 
Da  ist  es  eine  ganz  natürliche  Regung  nicht  nur  der  antiken 
Religiosität,  daß  ein  Zweifel  wach  wird,  ob  bei  dem  Zusammen- 
treffen auch  alles  mit  rechten  Dingen  zugeht.  Auch  sonst  ist, 
es  namentlich  für  die  ältesten  Zeiten,  wo  der  Verkehr  be- 
schränkt ist  und  die  Verhältnisse  jene  bekannte  Anschauung 
veranlaßten,  nach  der  bei  den  Römern  hostis  den  Fremdlinj 
und  den  Feind  zugleich  bedeutet,  durchaus  verständlich,  dj 
man  den  unerwartet  auftauchenden  Fremden  nicht  ohne  arg-j 
wöhnische  Scheu  betrachtet.  Diese  Scheu  wird  bei  religiösei 
Stimmung  sich  leicht  in  den  Zweifel  umsetzen,  ob  es  wohl 
ein  Geschöpf  von  Fleisch  und  Blut  ist,  nicht  etwa  ein  WesenJ 
aus  der  Zahl  der  TcgsCrtoveg,  das  der  Überraschte  vor  sich  sieht 
üt  in  hodierntim  inopinato  visos  caelo  missos  .  .  .  nominami 
sagt  noch  von  seiner  Zeit  Minucius  Felix,  Oct.  21,  7.  Dt 
römische  Sprichwort  bestätigt  das;  vgl.  die  Erklärer  zu  Tibi 
I  3,  90  und  luvenal  2,  40,  sowie  Otto,  Sprichwörter  der  Römer^j 
62.  344. 


AUßamBs  463 

Nicht«  ist  gewöhnlicher,  als  daß  ursprünglich  religiös 
empfundene  Wendungen  dieser  Art  zu  konventionellen  Aus- 
drücken der  Überraschung  überhaupt  werden,  die  man  nicht 
nur  vor  Unbekannten,  sondern  auch  vor  überraschend  be- 
gegnenden Bekannten  leichthin  verwendet.  TC  6v  d^sbg  xgbg 
dvd-Q(D:covg;  mit  dieser  Frage  begrüßt  bei  Herodas  1,  9  die 
überraschte  Frau  einen  zwar  wohlbekannten,  aber  unerwarteten 
Besuch.  Was  insonderheit  die  Odyssee  anlangt,  so  hat  man 
mit  Recht  auf  Penelopes  Verhalten  dem  fremden  Bettler  gegen- 
über hingewiesen.  Sie  hat  ein  rätselhaftes  Zutrauen  zu  dem 
fremden  Manne.  Das  kommt  darin  zum  Ausdruck*,  daß  sie 
von  vornherein  ganz  unbefangen  und  gleichsam  ungehemmt 
durch  den  sonst  üblichen  Zweifel  ohne  jeden  Zusatz  ihre 
Frage  nach  seiner  Herkunft  ausspricht  (105).  Aber  der 
wunderbare  Fremde  weicht  der  Antwort  aus  (115  ff.).  Da  ist 
es  begreiflich,  daß  sein  seltsames  Wesen  sie  nachdenklich 
macht,  und  in  der  Wiederholung  lautet  nun  ihre  Frage  anders: 

äXXtt  Tcai  ag  fioi,  slxh  tsbv  ydvog,  otcxö^sv  iööC. 

ov  yuQ  dab  Sgvög  e66i  aaXaiwÜTOv  ovd'  oacb  aetQtjg. 

„Du  bist  ja  doch  hoffentlich  ein  Menschenkind,  wie  wir  andern 
auch",  das  etwa  will  sie  damit  sagen.  Wieder  kleidet  sich 
die  zweifelnde  Gedankenregung  in  eine  sprichwörtliche  Formel, 
und  wieder  ist  es  gerade  ein  ädvvarov,  worin  die  Pointe  der 
Redensart  besteht,  einer  Redensart  überdies,  die  genau  wie  der 
uns  beschäftigende  Formelvers  unmittelbar  an  die  stehende 
Frage  nach  dem  wer?  und  woher?  sich  anschließt.  Es  kann 
wohl  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  hiermit  das  Wesen  unseres 
Formelverses    richtig    erfaßt   ist.     Man    wird    nun    einräumen: 

'  Diese  feine,  indirekte  Ethopoiie  ist  dem  Dichter  wohl  zuztitranen. 
Etwas  Yergleichbares  ist  die  Art,  wie  in  der  Nekyia  die  Mutter  des 
Odysseas  vorzeitig  und  noch  ehe  sie  durch  den  Bluttrunk  Bewußtsein 
erlangt  hat,  zu  dem  Sohne  sich  hindrängt  (84flF.).  Das  Geheimnis  ver- 
wandtschaftlicher Zuneigungsgefühle  wird  in  seiner  Wirkung  kundgetan. 
Sie   überspringen    die   natürlichen  wie  die  herkömmlichen   Hemmungen. 


464  0.  Immisch     Akißavrsg 

gab  es  eine  Zeit,  wo  unheimliche  Seegespenster  über  das  Meer 
wandelten,  wirklich  und  wunderbar  als  Tte^oC,  als  ccXCßavtss  im 
eigentlichen  Sinne,  dann  wird  die  in  unserer  Odyssee  natürlich 
schon  verblaßte  und  erstarrte  Redewendung  erst  wieder  recht 
lebendig.  Ein  Ausdruck  scheuen  Zweifels,  enthält  sie  zugleich 
etwas  das  Bangen  Wegwischendes  und  damit  etwas  Apotro- 
päisches.  Es  liegt  etwas  wie  ein  verstohlenes  Sichbekreuzen 
darin.  Auch  bei  Telemachs  Frage  an  den  Vater  ist's  noch 
eine  letzte  Regung  abklingenden  Angstgefühles;  denn  nicht 
umsonst  hat  er  noch  kurz  vorher  (n  194f.)  bangend  sich  ge- 
wehrt: ov  6v  y'  'Odv60£vg  eööi  narijQ  i^o'g,  dXXd  ^is  daCficav 
Q-slysi.  Da  haben  wir  deutlich  jene  Sorge  vor  dem  Über- 
natürlichen, die  uns  beschäftigt.  Erst  bei  dieser  Annahme 
eines  religiösen  Ursprunges  der  Redensart  erklärt  sich  nach 
meiner  Meinung  überhaupt  der  Umstand  ganz  ungezwungen, 
daß  eine  Formel,  eine  stehende  Wendung  in  derartigen 
Situationen  einer  überraschenden  Begegnung  sich  entwickelt 
hat.  Diese  Formel  steht  nun  da,  so  erhaben  auch  über  den  niedren 
Geisterspuk  das  Epos  sich  fühlt,  als  ein  Rudiment  des  ver- 
schollenen Halibantenglaubens,  nur  noch  halb  verstanden,  viel- 
leicht auch  schon  völlig  unverstanden,  wie  so  vieles  Ab-j 
gestorbene  durch  den  Stilzwang  der  epischen  Dichtgattunj 
erhalten.  Heimisch  sein  konnte  die  Redensart,  wenn  anderd 
sie  gerade  aus  ihrem  ädvvarov  ihre  eigentliche  Daseins 
berechtigung  gewann,  nur  dort,  wo  der  Landweg  schlecht«! 
hin  ausgeschlossen  ist  und  deshalb  die  Ankunft  zu  Fui 
nur  auf  übernatürliche  Weise  erfolgen  kann.  Mithin  ist  der' 
berühmte  Formelvers  ein  Zeugnis  nicht  für,  sondern  gegen 
Leukas. 


n  Berichte 


Die  Bericht«  erstreben  durchaus  nicht  bibliographische  Voll- 
ständigkeit und  wollen  die  Bibliographien  und  Literaturberichte 
nicht  ersetzen,  die  für  •  verschiedene  der  in  Betracht  kommenden 
Gebiete  bestehen.  Hauptsächliche  Erscheinungen-  und  wesentliche 
Fortschritte  der  einzelnen  Gebiete  sollen  kurz  nach  ihrer  Wichtigkeit 
für  religionsgeschichtliche  Forschung  herausgehoben  und  beurteilt 
werden  (s.  Band  VII,  S.  4  f.).  Bei  der  Fülle  des  zu  bewältigenden 
Stoffes  kann  sich  der  Kreis  der  Berichte  jedesmal  erst  in  etwa 
vier  Jahrgängen  schließen.  Mit  Band  Xu  (1909)  beginnt  die  neue 
Serie,  und  es  wird  nun  jedesmal  über  die  Erscheinungen  der  Zeit 
seit  Abschluß  des  vorigen  Berichts  bis  zum  Abschluß  des  betr. 
neuen  Berichts  referiert. 


2  Die  afrikanischen  Keligionen  1907—1910 

Von  Carl  Meinhof  in  Hamburg 

Das  Erscheinen  des  dritten  Teiles  zum  zweiten  Bande  der 
Völkerpsychologie  von  Wilhelm  Wundt  bedeutet  für  die 
Religionsforschung  in  Afrika  insofern  einen  sehr  wesentlichen 
Fortschritt,  als  Wundt  sich  hier  sehr  ausführlich  mit  dem 
Märchen  und  dem  Sprichwort  beschäftigt.  Diese  wichtigen 
Quellen  für  die  Erforschung  mythologischer  und  moralischer 
Vorstellungen,  wie  sie  im  Volksmunde  leben,  fließen  ja  in 
Afrika  sehr  reichlich,  und  es  ist  für  den  afrikanischen  Lingu- 
isten eine  besondere  Freude,  zu  sehen,  daß  dieser  Reichtum 
von  berufener  Stelle  anerkannt  wird.  Die  verschiedenen  Arten 
der  Märchen  lassen  sich  gerade  in  Afrika  gut  belegen,  und  die 
neuere  Literatur  hat  hier  zu  den  alten  Schätzen  Wichtiges  und 
Wertvolles  hinzugefügt.  So  ist  zu  hoffen,  daß  der  Religions- 
forscher  noch    weiteres    Material    erhält    und    so   vielleicht  im 

Archiv  f.  Keligionswisaeu»ch»ft  XTV  3Q 


466  Carl  Meinhof 

Laufe  der  Zeit  in  den  Stand  kommt,  die  verschiedenen  Märchen- 
und  Sagenstoffe  nach  ihren  Wandlungen  und  Wanderungen  zu 
verfolgen  und  ihre  ursprüngliche  Heimat  besser  zu  ermitteln, 
als  wir  das  heute  können. 

In  der  linguistischen  Literatur  der  letzten  Jahre  finden  sich 
wieder  eine  große  Anzahl  solcher  Märchen  und  SprichwöHer, 
z,  B.  in  Wolff,  Grammatik  der  Kinga- Sprache,  Archiv  für 
das  Studium  deutscher  Kolonialsprachen.  Band  IIL  Berlin 
1905;  P.  J.  Hendle,  Die  Sprache  der  Wapogoro,  ebenda, 
Band  VL  Berlin  1907;  E.  Kotz,  Grammatik  des  Chasu  (Pare), 
ebenda,  Band  X.  Berlin  1909;  J,  Raum,  Versuch  einer  Gram- 
matik der  Dschaggasprache,  ebenda,  Band  XL  Berlin  1909; 
Lademann,  Tierfabeln  und  andere  Erzählungen  im  Suaheli, 
ebenda,  Band  XIL  Berlin  1909;  F.  W.  H.  Migeod,  The  Mende 
Language,  London  1908.  Vor  allem  verdient  unsere  Aufmerk- 
samkeit E.  Jacottet,  The  treasury  of  Ba-Suto  Lore. 
Vol.  I.  London,  Trübner,  1908,  eine  Sammlung  von  Original- 
texten mit  englischer  Übersetzung,  die  sehr  viel  religions- 
wissenschaftlich wichtigen  Stoff  enthalten;  Schul  er.  Die  Sprache 
der  Bakwiri,  Mitteilg.  des  Seminars  f.  Orient.  Sprachen,  1908, 
vgl.  besonders  die  Chamäleonfabel  S.  205;  Hurel,  La  Langad' 
Kikerewe,  ebenda,  1909;  Häflinger,  Kimatengo,  ebenda, 
S.  133  usw.  Vgl.  außerdem  J.  Schönhärl,  Volkskundliches 
aus  Togo.  Dresden  u.  Leipzig  1909,  mit  vielen  Märchen  und 
Sprichwörtern.  Ein  gutes  Beispiel  für  die  Fähigkeit  des  Afri- 
kaners, fremde  Stoffe  zu  assimilieren,  gibt  uns  A.  Werner, 
die  den  Nachweis  führt,  daß  eine  ganz  afrikanisch  anmutende 
Geschichte  indisch  ist  (the  Bantu  Element  in  Swahili  Folklore, 
Folk-Lore,  Dec.  1909,  S.  438). 

Eine  sehr  ausführliche  Darstellung  hat  der  Totemismus 
erfahren  in  J.  G.  Frazer,  Totemiem  and  Exogamie,  London 
1910  Hier  ist  besonders  der  afrikanische  Totemismus  aus- 
führlich behandelt,  und  der  Verfasser  hat  nicht  nur  die  vor- 
handene   Literatur   sehr   sorgsam   zusammengetragen,    sondern 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  467 

auch  ?oü  ungedruckten  Materialien  ausgedehnten  Gebrauch 
gemacht  So  sind  sehr  wichtige  Mitteilungen  von  Rev.  Roscoe 
C.  M  S.  über  Baganda  und  Bateso,  von  HoUis  über  die  Masai 
und  andere  Quellen  benutzt.  Von  der  großen  Fülle  der  wich- 
tigen Darlegungen,  die  uns  einen  überraschenden  Einblick  in 
den  Reichtum  des  Stoffes  gewähren,  hebe  ich  besonders  hervor, 
daß  bei  den  Kamba  in  Ostafrika  etwas  vorkommt,  was  an  die 
„Frau  des  Jenseits*'  bei  den  Eweern  (Togoj  erinnert.  Siehe 
Band  II,  S.  423/24 

Frazer  gibt  zu,  daß  die  Verwandlung  der  Seelen  von  Toten 
in  Tiere  in  Afrika  gut  belegt  ist,  und  bezieht  sich  mit  Recht 
auf  Callaway*,  der  dafür  unwiderlegliche  Beispiele  aus  dem 
Glauben  der  Zulu  anführt.  Aber  er  bestreitet,  daß  diese  Vor- 
stellung, die  besonders  von  den  Schlangen  gilt,  etwas  mit  dem 
Totemismus  zu  tun  hat,  denn  er  versichert  gegen  Theal,  daß 
gerade  diese  Tiere  nirgends  in  Afrika  als  Stammestiere  vor- 
kämen.^ Doch  vgl.  u.  a.  unten  Rehse,  der  die  Schlangen  als 
Totem  der  herrschenden  Klasse  in  Kiziba  nachgewiesen  hat. 
A.  de  Calonne  Beaufaict,  Zoolätrie  et  Totemisme  chez  les 
peuplades  septentrionales  du  Congo  Beige.  Revue  des  etudes 
ethnogr.  et  sociolog.,  1909,  S.  193/5,  erinnert  daran,  daß  die 
verschiedenen  mythologischen  Beziehungen  zur  Tierwelt  sorg- 
sam zu  unterscheiden  sind,  da  nicht  jede  Tierverehrung  schon 
Totemismus  ist. 

Arnold  van  Gennep,  les  rites  de  Passage.  Paris  1909,  ver- 
dient besondere  Beachtung  deshalb,  weil  er  mit  Recht  den 
Unterschied  der  physiologischen  und  sozialen  Mannbarkeit  be- 
tont. Er  versteht  die  in  Afrika  so  weit  verbreitete  Beschneidung 
soziologisch,  ebenso  wie  andere  Verstümmelungen  des  Körpers. 
Jedenfalls  ist  das  sicher,  daß  sie  heute  eine  Einrichtung  von  rein 
sozialer  Bedeutung  in  Afrika  ist.    Ich  bin  auch  nicht  zweifelhaft, 

*  Religious  System  of  the  Ama-Zulu.     London  1870. 

*  Über  den  Zusammenhang  zwischen  Speiseverbot  und  Yerwandt- 
»chaft  8.  DempwolflF  Deutsches  Eolonialblatt,  1.  Januar  1909,  S.  22flf. 

30» 


468  Carl  Meinhof 


ihre  Entstehung  weder  sanitär^  noch  erotisch  ist,  wiewohl 
zuzugeben  ist,  daß  heute  nach  mannigfachem  Zeugnis  der 
Missionare  gerade  die  Frauen  auf  der  Beibehaltung  der  Be- 
schneidung bestehen,  und  daß  dafür  von  ihnen  gerade  erotische 
Gründe  angeführt  werden.  Wie  schwierig  es  aber  auch  hier 
ist,  den  wahren  Grund  zu  finden,  mag  das  Beispiel  beweisen, 
das  H.  Virchow  gibt  (Zahnverstümmelungen  der  Hereros. 
Zeitschr.  für  Ethnographie  1908,  S.  930-932),  wonach  die 
Frauen  der  Herero  schwerer  zur  Aufgabe  der  Zahn  Verstümmelung 
zu  bewegen  sind  als  die  Männer.  Und  doch  erklärt  sich  mir 
die  Entstehung  des  Phänomens  so  nicht.  Ich  kann  wohl 
verstehen,  daß  für  eine  schon  einigermaßen  entwickelte  Gesell- 
schaftsordnung der  Gebrauch  wichtig  ist.  Aber  das  macht 
nur  seine  Beibehaltung  verständlich,  nicht  seine  Entstehung. 
Ich  kann  mir  seine  Entstehung  doch  nicht  anders  psychologisch 
vermitteln,  als  daß  er  zuerst  eine  magische  Handlung  war  zur 
Abwehr  irgendwelches  Unheils,  und  daß  er  dann  adoptiert 
wurde  als  Zeichen  einer  sozialen  Gliederung.  Vgl.  hierzu  die; 
Erklärung  jenes  Nondi  bei  Hollis,  the  Nandi,  S.  99.  Diel 
Meinung  von  Preuß  hat  Gennep  aber  nicht  getroffen  in  seiner] 
Kritik  S.  106.  Preuß  spricht  nur  von  Zahnverstümmelungen, 
die  allerdings  als  mit  der  Beschneidung  zusammengehörig  von] 
den  Afrikanern  empfunden  werden.  Vgl.  oben  den  Aufsatz] 
von  V^irchow.  Das  Ausschlagen  der  Zähne,  nicht  die  Be- 
schneidung soll  dem  Hauch  den  Weg  frei  machen.  Vgl.  noch 
unten  die  Begräbnissitte  der  Kuanjama.  Wenn  Preuß  meint 
S.  416,  daß  die  Beschneidung  nach  Ansicht  der  Eingeborenen 
zur  Zeugung  helfe,  so  ist  das,  wie  der  Zusammenhang  ergibt, 
magisch  und  nicht  physiologisch  zu  verstehen. 

Unsere  Kenntnis  der  Mannbarkeitsfeste  ist  in  ganz  hervor- 
ragender Weise   gefördert   durch   die  ebenso  ausführlichen  wie 

'  Doch  vgl.  Johnston  George  Grenfell  and  tht  Kongo,  London 
1908,  wo  S.  ö76  ein  sanitärer  Grund  von  einem  Eingeborenen  an- 
gegeben wird. 


Die  afrikaniBchen  Religionen  1907—1910  469 

sorgsamen  Studien  von  Weule,  s.  Mitteilungen  aus  den  deutschen 
Schutzgebieten,  Ergänzungsheft   1.     1908. 

Es  ist  bisher  wohl  niemand  gelungen  so  viel  von  diesen 
Geheimnissen  zu  erfahren.  Sogar  Bilder  der  ßuschhütten 
konnte  er  geben  und  alle  z.  T.  höchst  verwerflichen  Details 
der  Mädcheneinweihung.  Die  Maskentänze,  auch  mit  Ver- 
wendung von  Stelzen,  hat  er  ebenfalls  bildlich  dargestellt,  er 
fand  „Teufels  "masken  mit  Hörnern,-  und  Tiermasken.  Beachtens- 
wert scheint  mir  noch,  daß  die  Makua  irimu  „oben"  nennen, 
das  mit  Suah.  kudzimu  eines  Stammes  ist,  und  das  Geister- 
reich bedeutet,  das  man  sonst  unten  sucht.  Ahnlich  liegt  die 
Sache  bei  den  Sotho,  wo  le;uodimo  der  Himmel  bedeutet. 
Makua  und  Sotho  gehören  auch  sprachlich  eng  zusammen. 

Die  Literatur  ist  im  einzelnen  sehr  gewachsen,  so  daß  es 
fast  unmöglich  ist,  hier  ein  erschöpfendes  Bild  zu  geben.  Ich 
muß  mich  deshalb  darauf  beschränken,  das  auszufuhren,  was 
mir  besonders  bedeutsam  zu  sein  schien.  Zur  Ergänzung  des 
oben  Gesagten  verweise  ich  auch  auf  den  von  mir  geschriebenen 
Abschnitt  „Aus  dem  Seelenleben  der  Eingeborenen"  in  Dr. 
Karl  Schneider,  Jahrbuch  über  die  deutschen  Kolonien,  Band 
I — III,  Essen  1908/10,  sowie  auf  die  ausführlichen  Literatur- 
angaben bei  Frazer,  a.  a.  0.  Ferner  verweise  ich  auf  die  neu 
erscheinende  .,Zeitschrift  für  Kolonialsprachen",  die  ich 
seit  dem  1.  Oktober  1910  im  Verlage  von  D.  Reimer  in  Berlin 
und  C.  Boysen  in  Hamburg  herausgebe,  und  die  natürlich  eine 
Reihe  religiöser  Texte  bringen  wird.  Außerdem  steckt  in  den 
Missionszeitschrifteu  eine  Fülle  ungehobener  Schätze.  Ich 
bin  nicht  imstande,  das  alles  auszuführen.  Auch  im  Anthropos 
und  im  Journal  of  the  Afric.  Society  sind  noch  kleine 
Aufsätze  außer  den  angeführten  enthalten,  die  ich  der  Kürze 
halber  übergehe. 

Im  Gebiet  der  Baiitiispraehen  sind  eine  Anzahl  sehr  wert- 
voller Publikationen  zu  verzeichnen.  E.  Xigmann,  Die  Wahehe. 
Berlin  1908,  bringt  auf  S.  22—43  Mitteilungen  über  die  reli- 


470  Carl  Meinhof 

giösen  Vorstellungen  dieses  ostafrikanischen  Volksstammes.  Er 
selbst  sieht  sie  keineswegs  als  erschöpfend  an,  und  ich  halte 
es  für  sehr  wahrscheinlich,  daß  außer  dem  Gefundenen  noch 
vieles  andere  vorhanden  ist. 

Der  Gottesname,  nguruhi',  der  schon  so  viel  Kopfzerbrechen 
veranlaßt  hat,  klingt  nach  dem  Verf  seltsam  an  an  den  Namen 
des  Stammlandes  nguruhe.  Es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß 
beides  zusammenhängt.  Dagegen  der  vom  Verf  vermutete 
Zusammenhang  mit  ruhe  „Seele"  ist  abzulehnen,  da  ruhe 
arabisch  ist.  Der  Grund,  daß  Schafe  vor  den  Ziegen  als  Opfer- 
tiere bevorzugt  werden,  S.  36,  ist  doch  wohl  der,  daß  das 
Schaf  bei  der  Schlachtung  still  ist,  denn  auch  sonst  wird  das 
Blöken  des  Opfertieres  als  unheilvoll  angesehen,  S.  37.  Das 
Wegwerfen  der  Leichen  in  den  Busch,  S.  39,  erinnert  an  die 
Sitte  der  Masai.  S.  41  gibt  der  Verf  an,  daß  Aussatz  nicht 
unrein  macht,  während  er  S.  39  versichert,  daß  alle  Haut- 
krankheiten als  „schlecht",  als  selbstverschuldet  angesehen 
werden,  und  S.  42  auch  gerade  Aussatz  genannt  wird  als  Folge 
der  Übertretung  von  Speisevorschriften.  Nach  S.  32  soll  das 
Totem  ein  Ehehindernis  nicht  darstellen,  während  Dempwolfif 
a.  a.  0.  es  gerade  bei  den  Hehe  in  diesem  Sinn  gefunden  hat. 
Der  Verfasser  gibt  im  übrigen  eine  große  Fülle  von  Material, 
das  besonders  willkommen  ist,  da  wir  über  die  Religion  der 
Wahehe  noch  wenig  wissen.  Der  hamitische  Einfluß,  den  der 
Verfasser,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  ablehnt,  ist  sprachlich 
ziemlich  evident  und  in  religiöser  Hinsicht  doch  auch  sehr 
wahrscheinlich.  James  A.  Chisholm  gibt  in  seinem  Aufsatz, 
customs  of  the  Winamwanga  (9"— 10«  nrdl.  Br.,  32°— 33"  ö.  L. 
Greenwich)  Journ.  of  the  Afr.  See.  1910,  S.  360—387,  ein 
langes  Gebet  zu  den  Ahnen  im  Original  mit  Übersetzung. 

M.  Klamroth,  Beiträge  zum  Verständnis  der  religiösen 
Vorstellungen    der   Saramo,    Zeitschrift   für   Kolonialspr-   1,  1, 

'  Vgl.  auch  A.  Hamburger  Religiöse  Überliefeningen  und  Gebräuche 
der   Landschaft   Mkuwe  (Deutsch-Ostafrika).     Anthropos  1909.    S.  295  fiF. 


Die  afrikanischen  Religionen  1907—1910  471 

2.  3.,  gibt  in  mustergültiger  Weise  Originaltexte  mit  Übersetzung 
und  Erklärung.  Besonders  bemerkenswert  sind  die  Einweihungs- 
riten für  die  Zauberer.  Yiel  Neues  enthält  H.  Rehse,  Kiziba, 
Land  und  Leute,  mit  einem  Vorwort  von  Prof.  Dr.  von 
Luschan,  Stuttgart.  Strecker  &  Schröder,  1910,  394  S.  Das 
Tiermärchen  spielt  auch  hier  wieder  eine  sehr  große  Rolle, 
und  wie  so  oft  in  Afrika,  ist  das  Kaninchen  das  kluge 
Tier,  das  den  anderen,  besonders  dem  Leoparden,  allerlei 
Schaden  zufügt  und  schließlich  doch  in  der  Regel  glücklich 
davonkommt.  Wiederholt  kommen  Ehen  zwischen  Menschen 
und  Tieren  vor.  Auch  wird  ein  von  einem  Tier  gefressener 
Mensch  wieder  lebendig,  wenn  das  Tier  getötet  wird,  S.  343. 
Die  Spinne,  die  in  westafrikanischen  Märchen  so  häufig  ist, 
während  sie  in  Ostafrika  kaum  vorkommt,  erscheint  hier 
einmal,  S.  367,  und  findet  den  Weg,  um  in  den  Himmel 
zu  gehen.  Der  Zug,  daß  zwei  sich  gegenseitig  überbieten, 
und  daß  der  eine  den  Betrug  des  anderen  nicht  merkt 
und  dabei  zu  Schaden  kommt,  kehrt  in  verschiedenen 
Märchen  wieder,  auch  in  der  weit  verbreiteten  Form,  daß 
beide  ihre  Mutter  schlachten  wollen,  S.  318.  Hilfreiche  Tiere 
finden  sich,  z.  B.  ein  Hund,  der  Treue  hält  trotz  des  Undanks 
seines  Herrn,  S.  373.  Wie  hier  ein  moralischer  (jedanke  auf- 
leuchtet, so  auch  in  der  Geschichte,  wo  ein  Blutsfreund 
den  anderen,  ein  Mann  die  Frau  betrügt  und  dafür  gerechte 
Strafe  leidet,  S.  322  u.  323.  Der  schönste  Zug  ist  aber  die 
Geschichte  von  der  Mutterliebe,  S.  369,  wo  die  rechte  Mutter 
eines  Kindes  daran  erkannt  wird,  daß  sie  ein  Boot  mit  Tränen 
füllt.  Eine  merkwürdig  tiefe  Auffassung  ehelicher  Liebe  ent- 
hält das  Märchen  von  dem  Ehepaare,  das  sich  vor  der  Geburt 
schon  liebte  und  nun  nicht  mehr  getrennt  werden  konnte. 
Allerdings  ist  der  Sinn  des  Märchens  wohl  eher  mjrthologisch 
als  moralisch.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Frau  des  Jenseits  bei 
Spieth,  Die  Ewestämme,  sowie  oben  die  Notiz  bei  Frazer. 
Aetiologische  Züge    finden   sich   in   mehreren   Märchen,    z.  B. 


472 


Carl  Meinhof 


wird  erzählt,  daß  der  Hund  früher  einen  so  kleinen  Mund 
hatte,  daß  er  Flöte  blasen  konnte,  aber  die  Biene  redete  ihm 
ein,  er  würde  es  noch  besser  können,  wenn  sie  ihm  die  Mund- 
winkel aufschnitte.  Er  ließ  sich  betrügen,  und  deshalb  hat  er  jetzt 
ein  so  weites  Maul  und  kann  nicht  mehr  Musik  machen,  S.  365. 
Das  Tier  spielt  also  eine  sehr  große  Rolle  im  Denken  des 
Volkes.  Die  Pflanze  tritt  dagegen  in  der  Tierfabel  stark  zurück, 
vgl.  jedoch  den  Geisterwald,  S.  389.  In  das  Märchen  spielen 
nun  aber  allerlei  religiöse  Vorstellungen  hinein  und  zeigen 
damit,  wie  tief  sie  im  Volksleben  wurzeln.  So  heiratet  der 
Meergott,  S.  379.  Der  höchste  Gott,  Rubaga,  wird  mehrfach 
genannt,  S.  356,  auch  ein  Gebet  an  ihn  mitgeteilt,  S.  340. 
Ein  Held,  ähnlich  dem  Herakles,  tut  schon  als  Kind  Außer- 
ordentliches, S.  371.  Ein  Fetisch,  dessen  Aussehen  nicht  näher 
beschrieben  wird,  eine  Art  Zaubermittel,  das  Tote  lebendig 
macht,  kommt  S.  383  vor.  Die  Geister  spielen,  wo  die  Schädel 
der  Menschen  aufgehoben  sind,  S.  389.  Auch  im  Sprichwort 
erscheint  das  „Gotteshaus",  S.  297,  Nr.  19.  Über  das  „Einhorn" 
und  ein  anderes  Fabeltier  vgl.  S.  293.  Daß  in  einem  Volke 
von  der  Kulturstufe  der  Ziba  sich  primitive  Zauberkulte  in 
großer  Menge  finden,  die  bald  mit  der  Tätigkeit  des  Arztes, 
bald  mit  der  des  Richters  (Gottesurteil)  näher  verknüpft  sind, 
bedarf  nur  der  Erwähnung.  Der  Tierkult  muß  einmal  eine 
bedeutende  Rolle  gespielt  haben.  Die  Rinder  sind  mit  dem 
Menschen  zugleich  geschaffen,  S.  125.  Das  Einschmieren  mit 
Butter  gehört  deshalb  auch  zu  den  gewöhnlichen  Übungen. 
Schlangenkultus  findet  sich  nur  in  der  Königsfamilie.  Rehse 
erinnert  wohl  mit  Recht,  daß  hier  fremder  Einfluß  vorliegt, 
da  sich  bei  Galla  und  Masai  dieser  Gebrauch  findet.  Das  Volk 
scheut  sich  aber,  Schlangen  zu  töten,  und  wenn  es  aus  Versehen 
geschehen  ist,  versöhnen  sie  den  Geist,  S.  130;  denn  die  Seelen 
von  Mitgliedern  der  Königsfamilie  gehen  in  gewisse  Schlangen.  * 

*  Vgl.  dazu  Callaway  Religious  System  of  the  Ama-Zulu    Loudon' 
1870,  S.  Stf. 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  473 

So  spielt  auch  das  Opfer  eine  große  Rolle.  Man  opfert 
weiße  Schafe  und  Ziegen,  auch  Hühner,  S.  127.  Das 
ganze  Volk  ist  in  Sippen  eingeteilt,  die  man  ru-ganda  pl. 
Uganda  nennt.  Vgl.  hierzu  e-anda  ,,Familienverband"  und 
onganda  „Dorf"  im  Herero.  Die  Kinder,  auch  die  Mädchen 
gehören  zur  ruganda  des  Vaters.  Jede  ruganda  hat  ihr  be- 
sonderes Speiseverbot,  z.  B.  die  Meerkatze,  eine  Antilope,  die 
Gedärme  der  Tiere,  Fische  usw.  Die  ruganda,  die  keine  Ge- 
därme ißt,  verehrt  den  Habicht,  der  sie  auch  nicht  frißt  und 
als  Zugehöriger  zur  ruganda  verehrt  wird.  Man  tötet  ihn  nicht, 
bedeckt  sogar  seine  Leiche  mit  Gras,  wenn  man  ihn  tot  findet, 
S.  4 — 7.  Das  ist  ausgesprochener  Totemismus.  Die  Königs- 
familie hat  Schlangen  als  Totem,  die  männlichen  Mitglieder 
eine  andere  Art  als  die  weiblichen.  Die  Ehe  innerhalb  der 
ruganda  ist  verboten,  S.  94. 

Der  Ahnenkult  hängt  mit  diesen  Vorstellungen  hand- 
greiflich zusammen.  Er  hat  sich  in  einem  täglichen  Trank- 
opfer für  den  Vater  rein  erhalten,  scheint  aber  auch  den 
höheren  Kultformen  zugrunde  zu  liegen,  wenn  auch  nicht  aus- 
schließlich. Götter-  und  Heldensagen  gehen  hier  ineinander 
über  wie  bei  Homer.  Es  ist  nun  sehr  beachtenswert,  daß  es 
hier  eine  Göttergeschichte  gibt  Das  scheint  mir  auf  hamitische 
Einflüsse  hinzudeuten.  Der  hier  als  Stammvater  der  Götter 
genannte  Wamara  ist  der  Herrscher  der  abgeschiedenen  Wesen 
und  genießt  Verehrung  in  einem  ihm  gebauten  Hause,  S.  127. 
Er  hat  seinen  Priester.  Andere  Götter  sind  der  Sonnenseist 
Kazoba,  der  Erdgeist  Konegu,  dem  man  vor  dem  Hause  kleine 
Hütten  baut,  der  Wassergeist  Mugasha.  Die  Art,  wie  diese 
„Götter"  im  Märchen  auftreten,  läßt  sie  als  Dämonen  erscheinen. 
Daß  Mugasha  ein  Mädchen  heiratete,  wurde  schon  gesagt,  er  hat 
nur  ein  Bein  —  wie  die  Spukdämonen  anderer  Ostafrikaner  — , 
er  hat  das  andere  verloren,  als  er  mit  dem  Göttersohn  Kagoro 
um  seine  Frau  kämpfte.  Hangi,  der  Sternengeist.  ist  ein  Sohn 
des  Kazoba.     Riangombe,  der  Geist  der  Rinder,  wird  nur  von 


474  Carl  Meinhof 

den  Bahima,  dem  Adel  des  Landes  verehrt,  der  sich  als 
rinderhütender  Hamitenstamm  charakterisiert  (vgl.  hiermit  den 
obengenannten  ^^^''^'^l^s"  Kashaija-Kariangombe). 

Wie  R.  der  Schutzgeist  der  Rinder,  so  ist  Kiziba  der 
Schutzgeist  des  Landes  Kiziba.  Außerdem  gibt  es  noch  Dorf- 
geister, die  in  alten  Bäumen  oder  Felsen  verehrt  werden,  S.  130. 
Alle  diese  Wesen  charakterisieren  sich  als  Schutzdämonen. 
Der  Seegeist,  Mugasha,  hat  aber  Beziehungen  zu  den  Wetter- 
dämonen, denn  er  tötet  durch  das  Gewitter,  S.  130,  dessen 
Erscheinungen  als  hervorgerufen  durch  eine  Schar  kleiner  roter 
Vögel  erklärt  werden.  Der  Erdgeist,  Irungu,  tötet  durch 
Steppentiere,  Löwen,  er  gehört  also  zu  den  Dämonen  der  Einöde. 

Wenn  diese  verschiedenen  Dämonen,  besonders  Wamara, 
durch  schöpferische  Akte  auch  an  Himmelsgötter  erinnern,  so 
haben  sie  doch  nach  der  einen  Seite  soviel  Menschliches,  daß 
sie  sich  im  Märchen  wie  Helden  ausnehmen,  und  nach  der 
anderen  Seite  handgreiflich  dämonische  Züge.  Das  gilt  aber 
nicht  von  Rubaga,  „dem  Gnadenspender",  der  sich  also  als 
Himmelsgott  charakterisiert.  Man  opfert  ihm  nicht,  aber  man 
betet  zu  ihm.  Die  Religion  der  Baziba  enthält  noch  eine 
Menge  einzelner  Züge,  die  wichtig  sind,  wie  das  Menschenopfer, 
S  134,  die  Feste,  S.  142,  die  Vorbedeutungen  im  Zucken  der 
Augenlider,  S.  294,  —  aber  das  Vorstehende  wird  genügen  um 
zu  zeigen,  wie  überaus  fesselnd  diese  Aufzeichnungen  sind.  Ich 
glaube,  der  Einfluß  hamitischer  Religionsformen*  auf  nigritische 
Vorstellungen  ist  hier  besonders  klar.  Die  angeführte  Ähn- 
lichkeit mit  dem  Herero  ist  nicht  zufällig.  Die  Herero- 
sprache steht  in  mancher  Hinsicht  dem  Kiziba  sehr  nahe. 

Ahnliche  Beobachtungen  machte  Weiß  bei  den  Wahima.- 
Max  Weiß,    Die  Völkerstämme  im  Norden  Deutsch-Ostafrikas. 

*  Die  Götter  sind  hellfarbig  und  blond.  Man  erinnere  sich,  mit 
welcher  phantastischen  Begeisterung  ßaumann  in  Ruanda  aufgenommen 
wurde  als  Repräsentant  dieser  alten  Vorstellungen. 

'  Vgl.  hierzu  J.  Roscoe,  the  Bahima,  Journal  of  the  Anthropol. 
Institute  1907,   S.  93 — 118.     Bei  der  Geburt  von  Zwillingen  erscheint  es 


Die  afrikanischen  Religionen  1907 — 1910  475 

Berlin  1910.  Die  Leute  küssen  ihre  Frauen,  S.  68,  was  wichtig 
ist  für  den  Zusammenhang  zwischen  Kuß  und  Zahnverstüm- 
melung. 

P.  Loupias  hat  im  Anthropos  1909,  S.  1 — 13,  eine  über- 
aus interessante  Wiedergabe  von  anthropogonischen  Mythen 
der  Tutsi  gebracht,  wie  sie  in  Ruanda  erzählt  werden.  Be- 
zeichnend ist,  daß  der  Erzähler  hernach  bereut,  diese  Geheim- 
nisse mitgeteilt  zu  haben. 

Bei  den  Wageia'  sind  Zwillinge  ein  Gegenstand  der  Freude, 
S.  227,  was  an  ähnliches  in  Togo  erinnert,  vergleiche  auch  die 
gleiche  Beobachtung  bei  den  Warega  s.  unten.  Der  Verfasser 
gibt  u,  a.  Mitteilungen  über  die  Omina,  S.  233,  das  Prophezeien 
aus  Eingeweiden,  S.  234.  über  die  zwei  Götter,  S.  235,  das 
Opfer,  den  magischen  Gebrauch  des  Speichels,  das  Gottes- 
urteil usw. 

Außer  den  genannten  Stämmen  behandelt  er  noch  die 
Wanjambo,  Waganda  und  Waheia  (in  Kiziba),  die  Bakulia,  die 
Masai  und  Wandorobbo.  Ich  möchte  hier  auch  aufmerksam 
machen  auf  X.  Stam,  the  religious  coneeptions  of  some  tribes 
of  Buganda.    Anthropos  1908.     S.  213fif. 

Routledge,  W.  S.  und  K.,  With a prehistoric  people.  London, 
E.  Arnold,  1910.  Die  Verfasser  geben  eine  gute  Schilderung 
dieses  Bantuvolkes,  dessen  Sitte  stark  von  Masai -ähnlichen 
Elementen  durchsetzt  ist.  S.  150 — 102  finden  sich  auch 
Schilderungen  der  Feste.  Darunter  befindet  sich  eine  seltsame 
Feier,  „die  zweite  Geburt",  S.  151  — 153,  in  der  gewissermaßen 
das  Ereignis  der  Geburt  allen  Beteiligten  aufs  neue  eingeprägt 
wird.    Der  Sinn  ist  nicht  klar.    Die  Tänze,  die  der  Beschneidunsr 

ein  glücklicher  Umstand,  wenn  die  Kinder  dasselbe  Geschlecht  haben, 
ein  unglücklicher,  wenn  sie  verschiedenen  Geschlechts  sind.  Femer 
Major  Meldon,  notes  on  the  Bahima  of  Ankole.  Journal  of  the  Afr. 
Sog.  1907.    136  —  153.    234—249. 

*  Sonst  Kavirondo  genannt.  Hier  kommen  wir  auch  sprachlich 
in  sudanisches  Gebiet.  —  Vgl.  dazu  Northcote  the  yHotic  Kavirondo. 
Journal  of  the  Anthropol.  Institute.    1907.    S.  58 — 66. 


476  Carl  Meinhof 

der  Knaben  und  Mädchen  vorangehen,  werden  ausführlich  ge- 
schildert S.  154 — 167.  Auch  hier  werden  die  Toten  den  Hyänen 
überlassen,  S.  168.  Nur  alte  und  reiche  Leute  werden  begraben, 
S.  170.  Infolgedessen  genießt  die  Hyäne  auch  hier  besondere 
Verehrung,  S.  242.  S.  188  ff.  wird  ein  Tanz  beim  Erntefest  ge- 
schildert, bei  dem  eine  Menschenfigur  aus  Ton  eine  Rolle 
spielt,   und  eine  gewisse  Verehrung  zu  genießen  scheint. 

Der  Gottesname  Ngai^  ist  von  den  Masai  entlehnt,  und 
so  ist  es  nicht  überraschend,  daß  hier  auch  Gebete  erscheinen, 
die  an  Monotheismus  erinnern.  Das  Gebet,  das  für  den  Ver- 
fasser bei  Gelegenheit  eines  Opfers  gesprochen  wird,  S.  231, 
ist  so  gut  stilisiert  und  so  lang,  daß  man  wohl  annehmen 
darf,  daß  es  in  der  Übersetzung,  die  durch  Suaheli  vermittelt 
ist,  etwas  erweitert  wurde. 

Von  dem  Opfertier  werden  die  Augen  entfernt,  aber  ohne 
sie  zu  verletzen,  und  die  untere  Kinnlade,  S.  232.  Das  Opfer 
wird  am  Fuße  eines  Baumes  niedergelegt,  und  man  denkt,  daß 
der  Gott  sich  wie  ein  Affe  von  oben  herabläßt,  um  das  Opfer 
zu  genießen.  Dei'  alte  Mann,  der  als  Priester  fungiert,  horcht 
dann  am  Stamm,  ob  er  nicht  im  Rauschen  des  Baumes  Gottes 
Stimme  vernimmt. 

Die  feierliche  Fütterung  einer  heiligen  Schlange  wird  S.  237 
und  238  geschildert.  Man  nimmt  an,  daß  sie  mit  dem  Regen- 
bogen zusammenhängt. 

Daß  die  Seelen  in  Raupen  erscheinen,  S.  241,  ist  ein 
gutes  Beispiel  für  die  Entwicklung  der  Seele  vom  Wurm  bis 
zur  Schlange. 

Gott  wohnt  auf  dem  Kenya  wie  bei  den  Masai,  und  gewisse 
einfache  Moralsätze,  wie  der  Gehorsam  gegen  Vater  und  Mutter, 
werden  auf  ihn  zurückgeführt,  S.  245.  Das  Buch  von  Routledge 
enthält  auch  eine  Fülle  anderer  für  den  Religionsforscher  wichtiger 
Notizen  und  ist  ein  gutes  Beispiel  für  den  Einfluß  der  Masai- 
religion  auf  die  benachbarten  Bantu. 

*  Vgl.  E.  Brutzer  Der  Geisterglaube  hei  den  Kamba.   Leipzig  1906. 


Die  afrikaniachen  Religionen  1907  — 1910  477 

Ein  Bantuvolk,  das  auch  wie  die  Kikuyxi  Ton  den  Masai 
beeinflußt  ist,  schildert  uns  Gutmann,  Bruno,  Dichten  und 
Denken  der  Dschagganeger.  Leipzig  1909.  Das  vortreffliche 
Buch  hat  vielleicht  einen  Fehler,  es  ist  zu  gut  geschrieben. 
Der  Verfasser  weiß  so  anmutig  darzustellen,  daß  der  nüchterne 
Forscher  sich  mitreißen  läßt.  Wenn  unter  den  Geschichten, 
die  vom  Anfang  der  Menschen  erzählen,  auch  eine  erscheint, 
wo  den  Menschen  verboten  ist.  daß  sie  von  allen  Früchten 
essen  sollen,  und  die  Schlange  verleitet  dann  die  Frau  zum 
Ungehorsam,  wenn  die  Sprache  der  Leute  zur  Strafe  verwirrt 
wird,  S.  182,  so  kann  ich  mich  nicht  davon  überzeugen,  daß 
das  alt  ist.^  Abgesehen  davon  ist  das  Buch  eine  ausgezeichnete 
Lektüre  auch  für  das  breitere  Publikum,  um  ihm  die  religiöse 
Denkweise  des  Afrikaners  näherzubringen.  Ich  möchte  nur 
hervorheben,  daß  gewisse  religiöse  Handlungen  viermal  ge- 
schehen, S.  146,  und  daß  der  Gottesname  Iruwa  hier  mit  dem 
Namen  der  Sonne  identisch  ist  Sehr  geschickt  führt  G.  S.  30 
und  179  die  Beschreibung  des  Aussehens  Gottes  auf  die  Nach- 
bilder auf  der  Netzhaut  zurück,  die  bei  hellen  Blitzen  sich 
ergeben. 

Sehr  erwünscht  ist  die  Ergänzung,  die  Raum,  der  Kollege 
Gutmanns,  in  seiner  schon  zitierten  Dschaggagrammatik  gibt. 
Außer  den  schon  erwähnten  Märchen  bietet  er  hier  noch  einen 
besonderen  Abschnitt  über  die  Religion  der  Wadschagga.  Neben 
vielem  Bekannteren  finde  ich  u.  a.  die  Anschauung,  S.  340, 
daß  die  Ahnengeister  in  Bäumen  wohnen.  Die  Schädel  werden 
in  einem  Hain  von  Dracänen  aufgehoben*,  S.  396.  Der  Mond 
erscheint  als  Frau  der  Sonne.  S.  366.  Die  Feste,  besonders  die 
Erntefeiern,  S.  398,  verdienen  Beachtung,  vor  allem  aber  die 
ausführliche  Beschreibung  vom  Gebrauch  des  Fluchtopfes,  S.  378. 


*  Vgl.    die    Sündflutgeschichte    bei   A.  Hamberger.    a.  a.  0.  S.  304. 

*  Vgl.  die  Abbildung  von  Schädeln  der  Ahnen  in  einer  Höhle  bei 
den  Wadabida  in  Brit-Ostafrika ,  Richter  I>ie  evangelischen  Missionen, 
1910,  S.  255. 


478  Carl  Meinhof 

Paßmann  hat  im  Anthropos  1909,  S.  574  ff.  Veranlassung 
genommen,  an  der  Dschaggareligion  „Die  Gottes  Verehrung  bei 
den  Bantunegern''  zu  erörtern.  Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß 
hier  zwei  disparate  Elemente  vereinigt  sind,  nigritischer  Greister- 
kult  und  hamitische  Verehrung  der  Himmelsgötter.  Ich  glaube 
auch,  daß  wir  diese  Gesichtspunkte  zu  beachten  haben  werden, 
wenn  die  Sache  auch  nicht  so  ganz  nach  diesem  Schema  ge- 
gangen ist. 

J.  Roscoe,  Notes  on  the  Bageshu.  Journ.  ol"  the  royal 
anthrop.  Journal  1909,  181  — 195  erzählt  von  diesem  Bantuvolk 
am  Berg  Elgon.  Bei  der  Geburt  von  Zwillingen  werden  Eltern 
und  Kinder  drei  Tage  lang  in  einer  rasch  erbauten  Hütte  ein- 
geschlossen. Nach  einer  Feier,  die  mit  ihnen  vorgenommen 
wird,  ist  dann  allgemeine  Freude. 

Sie  haben  Beschneidung  der  Knaben  und  Mädchen.  Man 
schneidet  etwas  von  den  labia  majora  ab.  Eine  Schlange  wird 
angebetet,  man  hat  ein  besonderes  Haus  für  diesen  Zweck. 
Man  sieht  Geister  in  Felsen  und  Wasserfallen.  Auch  die  Kunst 
des  Regenzaubers  wird  geübt. 

Dr.  E.  Pechuel-Loesche  hat  den  zweiten  Teil  des  dritten 
Bandes  seines  Berichtes  über  die  „Loango-Expedition"  1907 
herausgegeben  und  auf  S.  265 — 472  sich  sehr  ausführlich  mit 
dem  Seelenleben  der  Eingeborenen  beschäftigt.  Er  spricht  sehr 
gründlich  über  den  Gottesnamen  Nsambi,  den  er  sicher  mit 
Recht  für  älter  hält,  als  die  Mission,  da  er  ja  mit  geringen 
lautlichen  Abweichungen  sich  von  Kamerun  bis  zu  den  Herero 
findet.^  Er  beschreibt  geweihte  Stätten,  tempelartige  Bauwerke 
und  die  dabei  fungierenden  Priester.  Es  ist  sehr  gut  beobachtet, 
daß  er  versichert,  man  kann  über  das  Fortleben  der  Seele 
ebensowohl  bejahende  als  verneinende  Antworten  erhalten,  je 
nachdem  die  Frage  gestellt  oder  verstanden  wird. 

Der  Zusammenhang  der  Geister  mit  den  Seelen  Verstorbener 
wird  erörtert.    Es  folgen  Berichte  über  Spukgeister,  Waldgeister 

'Nyambi  erscheint  sogar  bei  denBarotse,  vgl.  Gabbutt ,  unten S. 481. 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  — 1910  479 

Omina,  Hexen,  Regenzauber  usw.  Als  wichtiges  Unterscheidungs- 
mittel der  Sippen,  das  sich  vererbt,  gilt  das  Tschina,  das  Ver- 
bot. Vgl.  dazu  das  damit  identische  Ikina  bei  Torday,  Über 
die  Religion  der  Buschneger  im  südlichen  Kongobecken,  Globus, 
Band  97,  S.  84.  Das  Ikina  darf  man  nicht  essen,  die  dasselbe 
Ikina  haben,  dürfen  sich  nicht  heiraten.  Ich  halte  es  für  wahr- 
scheinlich, daß  der  nicht  seltene  Stamm  kina  „tanzen"  damit 
zusammenhängt.  Vgl.  dazu  E.  Torday  und  T.  A.  Joyce.  On 
the  Ethnologie  of  the  South -Western  Congo  Free  State.  Journal 
of  the  Anthrop.  Inst.  1907.   S.  133  ff. 

Eine  sehr  schöne  Monographie  über  Märchen,  Sprüchwörter 
und  Religion  mehrerer  Kongostämme  haben  wir  durch  die 
Arbeit  von  E.  Lamann  und  anderer  schwedischer  Missionare 
erhalten  in  Etnografiska  Bidrag  af  Svenska  Missionär  I  Afrika. 
Utgifna  af  Erland  Nordenskiöld.  Stockholm,  1907.  Diese  Bei- 
träge sind  um  so  wertvoller,  als  sie  zum  Teil  von  Eingeborenen 
aufgezeichnet  sind,  die  früher  selbst  Fetischpriester  waren  und 
also  sicher  eine  gute  Kenntnis  der  Gebräuche  besaßen.  Ich 
kann  leider  auf  die  interessanten  Texte  nicht  näher  eingehen, 
da  mir  das  Schwedische  zu  fremd  ist. 

Sir  Harry  Johnston,  Geoi^e  Grenfell  and  the  Kongo, 
London,  1908,  gibt  S.  632  ff.  Mitteilungen  über  die  Religionen 
der  Bewohner  des  Kongostaates,  von  denen  manche  sprachlich 
zu  den  Sudanvölkern  gehören,  andere  Bantu  sind.  Auch  hami- 
tische  Einflüsse  nimmt  der  Verfasser  an.  Besonders  ausführlich 
sind  die  Berichte  der  Begräbnisgebräuche  und  Mannbarkeits- 
feiem.  Sehr  gute  Illustrationen  von  Masken,  Tänzen  und  Idolen 
sind  beigegeben. 

In  Band  V  der  Collection  de  Monographies  ethnographiques 
publice  par  Cyr.  van  Overbergh,  Brüssel,  1909,  gibt  Delhai 
ausführliche  Notizen  über  die  Warega  im  belgischen  Kongo. 
Die  Tänze,  die  zur  Einweihung  in  die  verschiedenen  Grade 
oder  Kasten  gehören,  in  die  das  Volk  sich  gliedert,  werden  in 
großer  Vollständigkeit  beschrieben.  Sehr  abweichend  von  anderen 


480  Carl  Meinhof 

Bantustämmen  gelten  Zwillinge  hier  als  glückbringend  wie  bei 
den  Eweern.  Der  Vater  zeigt  sich  stolz  und  unbekleidet  dem 
Volke,  man  feiert  ein  allgemeines  Freudenfest.  Kinder,  die  die 
Oberzähne  zuerst  bekommen,  werden  nicht  getötet,  werden  aber  ] 
als  unheilbringend  gemieden. 

Ich  verweise  noch  auf  A.  de  Clerq,  quelques  legendes 
des  Bena  Kanioka.  Anthropos  1909.  S.  71  flF.  und  P  H.  Trille, 
les  legendes  des  Bena  Kanioka  et  le  Polk-lore  Bantou.  Ebenda 
S.  945  ff. 

Von    den   noch   so    wenig    bekannten  Ovambostämmen   in 
Südwestafrika  erzählt  uns  H.  Tönjes,  Ovamboland,  Land,  Leute, i 
Mission.    Berlin,  1911.    Der  Verlasser  schildert  sehr  anschaulichl 
und   mit   guten  Illustrationen  die  Sitten   der  Kuanjama.     Sehr 
eigentümlich    ist   hier    eine    Puppe,    die    die   jungen    Mädchen 
tragen,    und    die    eine    magische  Bedeutung  zu  haben    scheint. 
Die  Mannbarkeitsfeier  der  Mädchen  wird  ausführlich  geschildert. 
Man  begräbt  die  Toten  im  Rinderkraal.    Aber  Häuptlinge,  die 
nicht  beschnitten  sind,  werden  über  der  Erde  ausgestellt   und 
die  Leiche  mit  Pfählen  fest    umgeben.     Beim    Essen    von    der 
neuen  Ernte  findet  ein  Fest  statt,  ebenso  beim  Beziehen  einer? 
neuen  Wohnung.    Der  Verfasser  erzählt  von  dem  Gott  Kalunga, 
dessen  Name  auch  in  den  Nachbarsprachen  bekannt  ist,  sowie 
von  Geistern  und  Dämonen.    Besonders  ausführlich  verweilt  er 
bei    dem    Omen,    das    u.  a.  auch   in  Muskelzuckungen    besteht. 
Beim  Gottesgericht   wird    ein   glühendes  Messer  verwandt,   bei 
einem    Zaubermittel    gebraucht    man    Menschenfleisch,   obwohl 
Kannibalismus  sonst  unerhört  ist.    Zu  den  mancherlei  Geboten, 
die  mit  einzelnen  Zaubermitteln  verbunden   sind,   gehört   auch; 
das,    daß  gewisse  Leute   alles,    auch   die   Speise,    nur  von  der| 
Erde  aufnehmen  dürfen.  Für  Kranke  werden  Opfer  dargebracht. 

Dannert,  Zum  Rechte  der  Herero,  Berlin,  1906,  spricht 
S.  11/19  sehr  eingehend  über  die  eanda  und  oruzo  der  Herero, 
mütterliche  und  väterliche  Sippe,  S.  22/24  über  Beschneidung, 
Haar-  und  Zahnweihe. 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  4SI 

Über  die  Sotho  in  Transvaal  sind  neuerdings  einige  kleine 
Schriften  im  Verlag  der  Berliner  Mission  erschienen. 

W.  Taurat,  Die  Zauberei  der  Basotho,  Berlin,  1910,  20  S^ 
das  eine  Anzahl  wertvoller  Notizen  enthält.  In  populärer  Form 
bewegen  sich  die  Schriften  von  C.  Hoffmann,  „Der  Sohn  der 
Wüste",  „Am  Hofe  der  Büffel",  „Was  der  afrikanische  Groß- 
vater seinen  Enkeln  erzählt",  „Afrikanische  Heidengötter  und 
ihre  Knechte",  aber  es  stecken  doch  gute  Beobachtungen  in 
den  kleinen  Heften. 

H.  W.  Gabbutt,  Native  witchcraft  and  superstition  in 
South-Africa,  Journal  of  the  Royal  Anthropol.  Institute,  1909, 
S.  530/558,  erzählt  von  verschiedenen  Arten  der  Zauberer.  Er 
gibt  auch  Abbildungen  der  Zauberwürfel.  Nyambi  ist  Gottes- 
name bei  den  Barotsi. 

C.  W.  Willoughby,  Notes  on  the  Initiation  ceremonies 
of  the  Becwana.  Journal  of  the  Royal  Anthropol.  Institute, 
1909,  S.  228/245.  Der  Verfasser  liefert  ziemlich  eingehenden 
Bericht  über  die  Gebräuche  bei  den  Beschneidungsfeierlichkeiten 
der  Betschuanen.  Dem  Verfasser  ist  es  gelungen,  auch  sehr 
viele  Lieder  aufzuzeichnen,  von  denen  manche  uns  die  Ver- 
mutung nahelegen,  daß  es  sich  um  verhüllte  Erotik  handelt. 
Eins,  das  sie  ganz  unverhüllt  bietet,  teilt  er  mit.  Die  Knaben 
werden  sehr  geschlagen  und  zum  Gehorsam  gegen  die  Eltern 
ermahnt.  Vgl.  noch  C.  H.  Stigand,  notes  on  the  natives  of 
Nyassaland,  N.  E.  Rhodesia  and  Portuguese  Zambesia.  Journal 
of  the  Anthropol.  Institute,  1907,  S.  119/132.  Ich  mache  hier 
besonders  auf  das  über  Träume  Gesagte  aufmerksam. 

G.  Tessmann  gibt  in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie,  1909, 
S.  874/889  sehr  überraschende  Mitteilungen  über  die  Religions- 
formen der  Pangwe  in  Südkamerun.  Er  bringt  Bilder  von  den 
Tänzen,  die  mit  den  Schädeln  der  Ahnen  aufgeführt  werden, 
und  von  großen  Lehmfiguren,  die  auf  der  Erde  liegend  dar- 
gestellt werden.  In  den  anthropogonischen  Mythen  finden  sich 
Anklänge  an  Biblisches,  die  auf  eine  alte  Berührung  mit  dem 

Archiv  f.  Keliffionawissenachaft  XIV  jj 


482  Carl  Meinhof 

Islam  oder  der  christlichen  Mission  schließen  lassen.  Vsl.  dazu 
den  Bericht  im  Globus,  Band  97,  1,  2.  Ich  verweise  hier  be- 
sonders auf  die  magischen  Vorstellungen,  die  mit  der  Schmiede- 
kunst zusammenhängen,  auf  die  Ahnenfiguren  und  die  hier  in 
größerem  Maßstab  wiedergegebenen  Lehmfiguren.  Hoffentlich 
gelingt  es  bald,  Originaltexte  von  den  Eingeborenen  über  ihre 
Mythen  zu  erhalten.  T.  hat  auch  Beobachtungen  über  die  Vor- 
stellungen der  Pygmäen  angestellt. 

Vgl.  dazu  Dr  Karutz,  Die  Lübecker  Mpangwe-Expedition. 
Mitteil,  der  Geographischen  Gesellschaft  und  des  Naturhistorischen 
Museums,  1908,  Heft  22.  Hierzu  gehört  noch  Tessmann, 
Drei  Mabeamärchen.     Globus,  Bd.  92,  S.  75/78. 

An  das  Grenzgebiet  zu  den  Sudansprachen   führt  uns  Dr. 
A.  M an sfeld,  Urwalddokumente,  vier  Jahre  unter  den  Groß- 
flußnegern.    Berlin,  D.  Reimer,  1908.     Unter  den  Märchen,  diej 
der  Verfasser  S.  223/237  mitteilt,  fällt  zunächst  die  große  Zahl 
der  aetiologischen  Märchen   auf.     Es  wird  erklärt,  warum  dasi 
Perlhahn   rote    Füße   hat,   warum   der  Affe   auf  Bäumen   lebtJ 
warum   das    Huhn   scharrt  usw.      Bei   einigen   Märchen   finden.] 
sich  wertvolle  moralische  Züge.     Vgl.  die  Strafe  des  Diebstahls] 
in  Nr.  6.     Lohn   einer  guten  Tat,  Nr.  13.     Totenopfer  bringt! 
Segen,    Nr.  27.     Lohn  der  Sparsamkeit,  Nr.  28.     Eine  Reihe] 
von  Märchen   berühren    die   kosmogonischen   und  anthropogo- 
nisehen  Vorstellungen  der  Leute.     Die  Entstehung  des  Donners! 
S.  232   wird   auf   einen    Kampf   zwischen    Himmel    und    Erde] 
zurückgeführt.    Gottes  Kinder  sind  Sonne,  Mond  und  Finsternis J 
S.  234.      Der   kleine   Sohn   Gottes   geht   auf   die   Erde.      Dort] 
wohnte  er,  bis  er  starb,  und  kehrte  dann  in  den  Himmel  zurücl 
S.  237.     Nach  einer  anderen  Erzählung  stammt  der  Tod  daher^ 
weil    die   Menschen    das   weiße   Schaf   getötet   haben,   S.   236.J 
Vgl.  dazu  die  Erzählung  vom  Sonnenschaf  bei  den  Hottentottei 
Vgl.  auch  die  Kosmogonie,  S.  209. 

Besonders  wichtig  scheinen  mir  die  Fabeln  32  und  37  zuj 
sein,   die  von    den    nahen   Beziehungen    des   Menschen  zu  den.! 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  433 

Tieren  handeln.  VgL  dazu  Fabel  8,  wonach  eine  Schildkröte 
getötet  wird,  wenn  jemand  krank  ist,  und  den  höchst  merk- 
würdigen Bericht  über  die  16  heiligen  Nilpferde  S.  220  ff., 
die  so  wenig  scheu  waren,  daß  Mansfeld  sie  photographieren 
konnte.^  Der  enge  Zusammenhang  zwischen  Menschen  und 
Tieren  wird  besonders  beleuchtet  durch  Berichte  von  Erfahrungen 
mit  Leuten,  deren  Totem  Nilpferd,  Fisch  und  Elephant  waren. 
Die  nahe  Beziehung  zur  Tierwelt  macht  d^  Opfer  von  Ziegen 
und  Rindern  bei  der  Einweihung  des  „Gotteshauses",  S.  218/19, 
verständlich.  Auch  bei  anderen  Opfern  spielen  Stücke  Fleisch 
eine  RoUe,  S.  217  ff. 

Die  Ahnenverehrung  nimmt  einen  breiten  Raum  ein,  da 
die  Leute  ja,  wie  aus  den  Märchen  hervorgeht,  über  das  loten- 
reich  viel  zu  sagen  wissen;  S.  217  wird  ein  Gebet  an  die 
Toten  mitgeteilt.  Ihnen  werden  Speisopfer,  und  vor  allem 
Trankopfer  dargebracht  (Palmwein,  Rum).  Die  Seele  wird  auch 
hier  mit  dem  Schatten  identifiziert,  S.  220. 

Nach  Aussage  der  Leute  sollen  die  Masken,  die  bei  den 
Tänzen  gebraucht  werden,  mit  dem  Ahnenkult  zusammenhängen, 
S.  212.  Jedenfalls  berühren  sich  hier  die  Ahnenvorstellungen 
mit  den  Mondvorsteliungen.  M.  gibt  einige  gute  Bilder  dieser 
„Jujuanzüge",  wie  man  die  Masken  dort  nennt. 

Die  Dämonen,  von  denen  auch  bildliche  Darstellungen 
erwähnt  werden,  S.  212,  240,  spielen  hier  die  Rolle  von  ünter- 
göttem,  wie  bei  den  Eweleuten  in  Togo.  Darüber  hinaus  ist 
von  dem  Gott  Obaschi  die  Rede,  ein  Name,  den  wir  auch  bei 
den  Subu  am  Kamerunberg  als  Obasi  wiederfinden.  Dieser 
Gott  offenbart  sich  durch  Träume.  Er  soll  über  den  Wolken 
wohnen.  Im  Gebet  redet  man  ihn  mit  Ewerok  —  babi  an. 
Ich  finde  aber  auch  die  Anrede  Obaschi,  S.  243,  bei  dem  Arzt, 
der  für  den  Patienten  betet. 

'  Vgl.  die  Abbildung  eines  heiligen  KrokodUs  Journal  of  tfie 
Anthropol.  Jnstit.  1909.    S.  98. 

31* 


484  Carl  Meinhof 

Besonders  interessant  sind  die  Mitteilungen  über  den  Haus- 
altar, S.  240,  für  Private  und  das  Gotteshaus,  S.  217/18,  für 
öffentliche  Kulte. 

Ich  verweise  auch  auf  den  Bericht  über  die  Totenfeier 
S.  199  ff.,  vv^obei  ein  Zahn  als  Reliquie  gilt,  S.  203,  und  wobei 
meist  großer  Aufwand  getrieben  wird.  Auch  Gottesgerichte 
und  ärztliche  Tätigkeit  werden  ausführlich  beschrieben. 

In  das  Grenzgebiet  der  Bantustämme  führt  auch  B.  Anker- 
manu  mit  seinem  „Bericht  über  eine  ethnographische  For- 
schungsreise ins  Grasland  von  Kamerun",  Zeitschrift  für  Ethno- 
logie, 1910,  S.  288/310.  Danach  dürfen  wir  ausführliche  Mit- 
teilungen über  Märchen  und  Kulte  und  besonders  Feste  der  Bali 
erwarten.  Auch  er  fand  hier  Figuren  auf  dem  Erdboden  und 
auch  Schlangen  aus  Stein  im  Hause  des  Häuptlings  von  Banso. 

Auf  das  Gebiet  der  Sudansprachen  sind  wir  schon  wieder- 
holt hinübergeführt.  Vgl.  oben  Migeod,  Schönhärl,  Ankermann, 
Mansfeld,  Weiß,  Northcote,  Johnston.  Zu  diesen  Stämmen 
führen  auch  Desplagnes  und  Frobenius,  deren  Werke  ich 
aber  lieber  bei  den  Hamiten  bespreche,  da  dorthin  das  Schwer- 
gewicht ihrer  Ausführungen  neigt. 

Hierher  gehört  auch  G.  Antze,  Fetische  und  Zaubermittel 
aus  Togo,  im  Jahrbuch  des  städtischen  Museums  für  Völker- 
kunde zu  Leipzig,  Band  II,  1907,  S.  37/56.  Ferner  ist  beachtens- 
wert A.  Tepowa,  A  short  history  of  Brass  and  its  people. 
Journ.  Afr.  Soc.  1907,  S.  32/88.  Er  erzählt  von  Schlangenkult 
bei  dem  Brass- Volk,  von  männlichen  und  weiblichen  Gottheiten, 
Opfern  von  Ziegen,  Rindern  und  Menschen,  Kastenunterschieden, 
Begräbniszereraonien,  Festen,  Tieranbetung  usw. 

Ferner  Spiess,  Jeoh  and  Se,  Globus,  Band  94,  S.  6/7. 
Über  einen  Schlangenkult  bei  den  Eweleuten  berichtet  der- 
selbe im  Globus,  Band  98,  Nr.  21. 

Westafrikanische  Steinidole  nach  Rütimeyer  und  Joyce. 
Globus,  Band  96,  S.  99.  Vgl.  C.  H.  Elgee,  The  Ife  stone  car- 
vings.     Journ.  of  the  Afr.  Soc.  1908,  S.  338/343.     Jn  Yoruba 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  485 

sind  Nachbildungen  von  Menschen,  Schildkröten,  Krokodilen, 
Fischen  u.  a.  aus  Quarz  und  Granit  gefunden.  Sie  dienen 
kultischen  Zwecken. 

P.  Fr.  Müller  hat  seine  sehr  lesenswert«  Arbeit  über  die 
Religionen  Togos  in  Einzeldarstellungen  fortgesetzt  im  Anthro- 
pos,  1907.  Außerdem  möchte  ich  auf  folgende  Aufsätze  hin- 
weisen: 

Fr  Wille,  Der  „Königseid"  in  Kpandn  und  bei  einigen 
Ewe- Stämmen.     Anthropos  1908,  S.  426  ff. 

M.  Friedrich,  Description  de  l'enterrement  d'un  chef  ä 
Ibruzo  (Niger).  Anthropos  1907,  S.  100  ff.  Hier  wird  u.  a. 
ein  Menschenopfer  beschrieben. 

John  Parkinson,  a  note  on  the  Efik  and  Ekoi  tribes  of 
the  Eastem  province  of  southern  Nigeria,  Journal  of  the  Anthro- 
pological  Institute  1907,  S.  261  ff.  Hier  finden  sich  Abbil- 
dungen der  Egbo -Häuser. 

M.  Delafosse,  le  peuple  siena  ou  Senoufo  (c6te  d'ivoire). 
Revue  des  etudes  ethnographiques  1908. 

H.  France,  Worship  of  the  thunder-god  among  the  Awuna 
(Goldküste).     Joum.  of  the  Afr.  Soc.  1908,  S.  79/81. 

A.  Ffoulker,  funeral  customs  of  the  Gold  coast.  Ebenda 
1909,  S.  154/164. 

John  Parkinson,  Yoruba  Folk-lore.  Ebenda  1909, 
S.  165/186. 

Die  Berührung  mit  hamitischen  und  semitischen  Stammen 
tritt  bei  manchen  Bewohnern  des  Südens  stark  zutage.  Vgl. 
J.  M  Henry.  Le  culte  des  Esprits  chez  les  Bambaras.  An- 
thropos 1908,  S.  702  ff.  An  Sudanischem  sind  hier  besonders 
die  Masken  beachtenswert. 

Ferner  P.  Brun,  notes  sur  les  croyances  et  les  pratiques 
religieuses  des  Malinkes  fetichistes.  Anthropos  1907,  S.  722  ff., 
942  ff.,  sowie  Fernand  Daniel,  etude  sur  les  Soninkes  ou  Sara- 
koles.  Anthropos  1910,  S.  27  ff.  Hier  ist  islamischer  Einfluß 
unverkennbar. 


486  Carl  Meinhof 

N.  W.  Thomas.  The  Edo  speaking  peoples  of  Nigeria. 
Journ  of  the  Afr.  Soc.  1910,  S.  1/15. 

J  F.  J.  Fitzpatrick.  Notes  on  the  Kwolla  district 
(Nord -Nigeria).     S.  16/52. 

Die  Hamiten 

Da  ich  mich  überzeugt  habe,  daß  die  Ful  linguistisch  zu 
den  Hamiten  zu  rechnen  sind,  man  sollte  genauer  sagen,  sie 
sind  Prähamiten,  so  sehe  ich  keinen  Grund,  sie  von  den  Hamiten 
zu  trennen.  Was  uns  Frobenius  neuerdings  von  ihrer  ritter- 
lichen Art  berichtet,  steht  damit  im  Einklang,  und  wir  werden 
wohl  nicht  irre  gehen,  wenn  wir  jene  Fürstengeschlechter  der 
Wahima,  Watussi  usw.,  von  denen  oben  die  Rede  war,  bei  den 
Bantu  mit  ihnen  in  Zusammenhang  bringen,  und  die  Entstehung 
der  Bantusprachen  begreifen,  als  veranlaßt  durch  eine  Ein- 
wanderung fulähnlicher  Stämme  in  nigritisches  Sprachgebiet. 
Den  linguistischen  Nachweis  habe  ich  hierfür  erbracht,  soweit 
es  heute  möglich  ist,  in  meinen  Hamburgischen  Vorträgen: 
„Die  moderne  Sprachforschung  in  Afrika",  Berlin  1910,  ferner 
in  der  zweiten  Auflage  meiner  Lautlehre  der  Bantusprachen, 
Berlin,  G.  Reimer,  1910,  und  in  dem  Aufsatze  „Ergebnisse  der 
afrikanischen  Sprachforschung"  im  Archiv  f.  Anthropologie  1910, 
Heft  3  und  4. 

Desplagnes,  Louis,  Le  Plateau  Nigerieu,  Paris  1907. 
Ich  befinde  mich  diesem  Buche  gegenüber  in  einiger  Verlegen- 
heit. Es  enthält  eine  Fülle  interessanter  Mitteilungen  über 
prähistorische  Steindenkmäler,  Gräber  und  Reste  alter  vor- 
islamitischer Kultur.  Aber  es  ist  fast  unmöglich  zu  erkennen, 
was  von  dem  Verfasser  beobachtet,  und  was  von  ihm  mit  vielem 
Aufwand  von  Gelehrsamkeit  und  Phantasie  hinzugedacht  ist. 
Er  hat  sicher  das  Verdienst,  uns  auf  diese  Welt,  die  für  uns 
versunken  war,  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  aber  ich  glaube, 
man  wird  gut  tun,  weitere  Informationen  abzuwarten,  die  es 
einem  nüchternen  Berichterstatter  ermöglichen,  sich  ein  Urteil 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  487 

ZU  bilden.  Seine  Einteilung  der  Völker  in  „Fische"  und  „Vogel" 
sind  durch  phantastische  Etymologien  der  Volksnamen  gestützt, 
wobei  nicht  angegeben  ist,  in  welcher  Sprache  denn  diese 
Namen  gedacht  sind.  Es  ist  mir  unmöglich,  aus  alledem  mir 
ein  klares  Urteil  zu  bilden. 

Vgl.  auch  L.  Levistre,  sur  quelques  stations  dolmeniques 
de  l'Algerie.  Über  Dolmen  in  Algier.  Anthropos  1907,  S.  135ff. 
mit  vielen  schönen  Photographien. 

Ungleich  klarer  sind  die  Mitteilungen  von  LeoFrobenius 
im  Ergänzungsband  zu  Petermanns  Mitteilungen  35,  Nr.  166, 
1910.  Die  Märchen  und  Sagen  sind  auch  in  dem  populären 
Werk  des  gleichen  Verfassers:  „Der  schwarze  Dekameron''  ent- 
halten. Sie  sind  durch  ihre  mannhafte  Ritterlichkeit  interessant. 
Einiges  ist  sicher  arabisch,  anderes  scheint  Original  zu  sein, 
doch  wird  man  erst,  wenn  die  Originaltexte  vorliegen,  darüber 
S&nz  klar  werden  können.  Dem  sind  nun  wissenschaftliche 
Darlegungen  über  die  Altersstufen  und  ihre  Weihen,  die  Toteme, 
Erscheinungen,  die  an  den  Werwolf  erinnern,  und  die  Zauber- 
priester beigefügt.  Daß  Frobenius  die  Etymologien  von  Des- 
plagnes  nicht  gelten  läßt,  müssen  wir  ihm  Dank  wissen,  aber 
die  Deutung  pulo  „rot",  die  von  Barth  stammt,  wird  auch  von 
Sachkundigen  bestritten.  Ich  glaube,  daß  eine  gute  Kenntnis 
der  von  Frobenius  geschilderten  Welt  uns  auch  für  das  Ver- 
ständnis der  Sitte  und  Religion  in  den  Hirtenstämmen  der 
Bantu  von  Nutzen  sein  wird,  und  kann  nur  dringend  die  Be- 
schaffung von  möglichst  vollständigen  Originaltexten  wünschen. 
Daß  ein  Reisender  die  kaum  geben  kann,  liegt  auf  der  Hand. 
Dazu  gehört  eingehende  Sprachkenntuis  und  jahrelanges  Leben 
mit  dem  Volk. 

Zu  einer  andern  Gruppe,  deren  Zugehörigkeit  zu  den  Ha- 
miten  auch  umstritten  wird,  nach  Ostafrika,  müssen  wir  nun 
unsem  Blick  richten. 

A.  C.  H Ollis,  The  Nandi,  Oxford  1909,  bringt  eine  sehr 
wertvolle  Ergänzung  zu  seiner  früheren  Arbeit  über  die  Masai. 


488  Carl  Meinhof 

Der  Verfasser  gibt  S.  4  und  5  die  Einteilung  des  Volkes  in 
Gaue  und  Geschlechter,  wobei  das  Totem  jedes  Geschlechtes 
angegeben  wird.  Die  Scheu,  das  Totemtier  zu  töten,  wird  hier 
illustriert  durch  eine  Entschuldigung,  die  ein  Jäger  an  einen 
Elefanten  richtete,  den  er  getötet  hatte,  indem  er  sagte,  er 
hätte  ihn  für  ein  Rhinozeros  gehalten.  Überraschend  ist  auch 
der  Bericht  von  dem  Bienenschwarm,  den  ein  Nandi,  dessen 
Totem  die  Biene  ist,  zu  besänftigen  weiß. 

Die  Hyäne  wird  allgemein  gescheut,  da  man  ihr  die  Toten 
zum  Praß  hinwirft,  vgl.  S.  70.  Man  darf  ihren  Schrei  nicht 
nachahmen,  S.  91.  Man  traut  ihr  Verkehr  mit  der  Geisterwelt 
zu  und  erbittet  ihre  Gunst  für  das  Leben  eines  Kindes,  wenn 
viele  seiner  Geschwister  gestorben  sind.  Die  mancherlei  Gebote, 
die  die  verschiedenen  Geschlechter  haben,  sind  sehr  merkwürdig, 
einige  dürfen  kein  schwangeres  Mädchen  heiraten.  Aber  es  ist 
unmöglich,  alle  die  wichtigen  Bemerkungen  des  Buches  auszu- 
schreiben. Vgl.  z.  B.  das  Gebet  bei  der  Einweihung  eines  Hauses, 
S.  15,  das  Gebet  beim  Topfmachen,  S.  35,  das  Gebet  des 
Schmiedes,  S.  37,  das  Gebet  zu  Gott  und  den  Ahnen  um  Schutz, 
S.  42,  das  Gebet  im  Kriege,  S.  42/46,  bei  der  Ernte,  S.  47,  bei 
Hungersnot,  S.  48,  bei  der  Geburt,  S.  65,  die  Benutzung  des 
Kuhhames  zum  Waschen  der  Hände  und  Milchgefäße,  S.  21, 
das  Trankopfer,  das  von  Milch  und  Blut  für  Gott  und  die  Ahnen 
jedesmal  beim  Genuß  gespendet  wird,  S.  22.  Die  Ahnen  er- 
halten auch  Opfer  an  Bier  und  Speise,  S.  41.  Der  erste  Medizin- 
mann, der  nicht  zu  Gott,  sondern  zu  den  Ahnen  betet  und 
heilige  Schlangen  hält,  S.  51.  Besondere  Aufmerksamkeit  möchte 
ich  auf  die  Beschneidungsfeiern  der  Knaben  und  Mädchen  richten, 
die  hier  ausführlich  beschrieben  werden.  Die  praeputia  der 
Knaben  werden  in  ein  Rinderhorn  gesammelt,  dann  Gott  ge- 
opfert und  schließlich  in  Rinderdung  unter  einem  Feigenbaum 
begraben.  Die  jungen  Männer  tragen  vor  der  Beschneidung 
Mädchenkleider,  die  Mädchen  Männerkleider,  S  58.  —  Zur 
Brautwerbung  machen  sich  die  Eltern  bei  zunehmendem  Mond 


Die  afirikanischen  Religionen  1907  —  1910  489 

auf,  S.  60.  Die  Hauptfrage  ist,  zu  welchem  Stamm  ein  Mädchen 
gehört,  da  bestimmte  Geschlechter  kein  Konubium  haben, 
S.  60/61.  Den  Namen  eines  Toten  darf  man  nicht  nennen,  S.  71. 
Gras  ist  ein  Schutz-  und  Friedenszeichen,  S.  78.  Es  wird  auch 
beim  Eid  benutzt,  S.  85.  Speichel  wird  viel  gebraucht,  am 
Unheil  abzuwehren  und  Segen  zu  bringen,  S.  78.  Man  nimmt 
an,  daß  die  Seele  im  Schlaf  aus  dem  Körper  geht,  und  man 
darf  niemand  schnell  aufwecken,  damit  sie  sich  zurückfindet. 
Sie  benutzt  hierzu  das  Loch,  das  durch  das  Ausschlagen  der 
Schneidezähne  entsteht,  S.  82.  „Das  böse  Auge"  ist  hier  sicher 
nachgewiesen,  S.  90.  —  Es  gibt  allerlei  Dinge,  die  unrein 
machen,  besonders  jede  sexueUe  Funktion,  die  Berührung  eines 
durch  Blitz  getöteten  Tieres,  eines  Leichnams  usw.  Die  Rei- 
nigung geschieht  durch  Waschung,  S.  92.  —  Die  Menschen 
entstanden  so,  daß  das  Bein  des  Dorobo,  der  zuerst  da  war, 
anschwoll,  und  daß  ein  Knabe  und  ein  Mädchen  herauskam, 
S.  98.  Vgl.  unten  die  Hottentotten.  Auch  hier  wird  das  Sterben 
des  Menschen  in  Gegensatz  zum  Mond  gebracht,  der  wieder 
lebendig  wird,  wie  bei  den  Nama,  S.  98."  Der  Regenbogen  wird 
als  ein  Zeichen  angesehen,  daß  der  Regen  bald  aufhört,  S.  100. 
Auf  die  Rätsel  und  Märchen  kann  ich  nur  kurz  hinweisen- 
Merkwürdig  ist  die  große  Zahl  der  Gebete  zu  Gott  (der  Sonne), 
die  der  Verfasser  anführt. 

An  dem  nahen  Zusammenhang  der  Nandi  mit  den  Masai 
ist  nach  Sprache  und  Sitte  kein  Zweifel.  Merkwürdig  ist,  daß 
das  Hauptgebet  beim  Kriegstanz  in  Masaisprache  gesungen  wird. 

Von  Merkers  bekanntem  Buch  über  die  Masai  ist  eine 
zweite  Auflage  erschienen,  die  von  Hommel  bearbeitet  ist. 
Hommel  vertritt  die  Ansicht,  daß  die  religiösen  Überlieferungen 
der  Masai,  die  so  merkwürdig  an  die  mosaischen  Berichte  an- 
klingen, alt  sind.  Ich  kann  mich  demgegenüber  auf  meine 
früheren  Ausführungen  in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie  1904, 
S.  735/744  beziehen.  Vgl.  auch  das  oben  über  Gutmann 
Gesagte. 


490  Carl  Meinhof 

Claus,  Die  Wangomwia,  Zeitschrift  f.  Ethnologie  3/4,  1910, 
S.  491,  gibt  einige  Mitteilungen  über  religiöse  Grebräuche  dieses 
versprengten  Hamitenstammes  in  Deutsch-Ostafrika.  Sie  haben 
Beschneidung  bei  beiden  Geschlechtem. 

F.  Bieber,  Die  geistige  Kultur  des  Kaffitscho,  Revue  des 
etudes  ethnograph.  et  sociologiques  1909,  S.  37  ff.  In  diesem 
von  semitischen  Einflüssen  stark  durchsetzten  Hamitenstamm, 
der  jetzt  Abessinien  angegliedert  ist,  hat  sich  neben  abessinischem 
Christentum  und  Islam  noch  alter  Volksglaube  erhalten.  Man 
nennt  ihn  hekketino  nach  dem  „Grott"  hekko.  Es  gibt  keine 
Bilder  oder  Idole.  Die  Priester  essen  nur  Rindfleisch,  vor 
allem  kein  Schaffleisch.  Der  „Kaiser"  Kaje  Scherotschi, 
1854  — 1870,  trat  vom  Christentum  zum  hekketino  über,  und 
die  Kirche  in  seiner  Burg  wurde  hekko -Tempel.  Das  Essen 
unreiner  Tiere  ist  verboten,  als:  Pferd,  Esel,  Wildschwein, 
Flußpferd,  Affe.  Man  opfert  nur  Stiere.  Den  Seelen  der  Toten 
wird  Honigbier  gespendet.  Auch  die  Dämonen  des  Waldes, 
der  Wiesen,  der  Wege,  Flüsse  und  Berge  werden  verehrt.  Man 
kennt  auch  Hyänen,  die  die  Rolle  des  Werwolfs  spielen,  und 
ein  sagenhaftes  Raubtier,  das  viele  Menschen  verschlingen  soll. 
In  manchen  Gebräuchen  scheint  mir  ein  Einfluß  der  mächtigen 
asiatischen  Religionen,  die  hier  die  Volksreligion  bedrängen, 
vorzuliegen. 

Zu  den  Hottentotten  führt  uns  Dr.  Leonhard  Schnitze, 
Aus  Namaland  und  Kalahari.  Jena  1907,  752  S.  (60  M.).  Das 
vortreffliche  Buch,  das  ich  in  meinem  letzten  Bericht  kurz  er- 
wähnte und  inzwischen  an  anderer  Stelle  angezeigt  habe,  hat 
unsere  Kenntnis  der  hottentottischen  Phantasie  wesentlich  be- 
reichert. Die  hier  gebrachten  Märchen  sind  nicht,  wie  die  bis- 
her bekannten,  salonfähig  gemacht,  sondern  sie  zeigen  den 
Hottentotten  in  einer  Ursprünglichkeit,  wie  man  sie  bei  einem 
Volk,  das  so  lange  unter  europäischem  Einfluß  steht,  nicht  er- 
warten sollte.  Nur  gelegentlich  läßt  Mission  und  Kultur  sich 
an   einem    kleinen    Zug    erkennen.      So    arbeiten    einmal    der 


J 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  1910  491 

Schakal  und  das  Stachelschwein  beim  Lehrer.  Ein  andermal 
ist  vom  Wagen  die  Rede,  mit  dem  sich  der  Schakal  von 
Buren  bezahlen  läßt.  Wieder  ein  andermal  sprechen  Räuber 
in  frömmelnder  Weise  davon,  was  ihnen  ,,der  Herr^'  beschert 
hat.  Von  solchen  kleinen  Zügen  abgesehen,  enthält  das  Märchen 
echt  afrikanische  Züge.  Da  ist  die  redende  Hütte,  die  sich  bei 
den  Suaheli,  den  Duala  und  sonst  findet,  S.  476.  Die  Geschichte, 
wie  man  sich  verabredet,  die  Kinder  zu  töten,  wobei  der  eine 
betrogen  wird,  S.  507,  und  die  ähnliche  Geschichte,  wie  man 
die  Mütter  töten  will,  S.  463.  Auffallend  oft  kommen  hier  die 
Verwandlungen  von  Menschen  in  Tiere  und  umgekehrt  vor, 
auch  in  der  Form,  daß  das  vom  Löwen  gefressene  Mädchen 
ein  Löwe  wird,  S.  409,  und  daß  es  nach  Tötung  des  Löwen, 
der  erst  in  Menschengestalt  kam,  wieder  lebendig  erscheint. 
Besonders  häufig  sind  hier  auch  die  Ehen  zwischen  Tier  und 
Mensch  und  zwischen  verschiedenen  höchst  unähnlichen  Tieren. 
So  zieht  ein  Froschweib  sich  Menschenkleider  an  und  weiß  sich 
an  Stelle  der  rechtmäßigen  Frau  zu  setzen,  S.  432.  Eine  mensch- 
liche Frau  heiratet  einen  Elefanten,  eine  andere  eine  Schlange, 
S.  446,  Strauß  und  Löwe,  S.  501,  Giraffe  und  Fliege  heiraten 
sich.  —  Allerlei  mythologische  Vorstellungen  spielen  hinein  in 
die  Märchen.  Ein  Stein  wird  als  Vater  angeredet  und  um 
Schutz  gebeten  —  ein  Zug,  der  sich  oft  wiederholt.^  Der 
Mond,  S.  448,  die  Sonne,  S.  496,  Gespenster,  S.  450,  und  andere 
Geisteswesen  treten  in  einer  Reihe  von  Fabeln  auf.  Wir 
kommen  darauf  noch  zurück.  Allerlei  moralische  Züge  finden 
sich  neben  der  unverkennbaren  Freude  an  Spitzbubenstreichen 
des  Schakals  —  das  ist  hier  das  kluge  Tier.  So  wird  der 
Übermut  bestraft,  S.  435,  das  Mitleid  der  Brüder  mit  der  hart 
bestraften  Schwester  rettet  sie,  S.  436,  während  Eltern  und 
Schwestern  teilnahmslos  bleiben.    Der  Geiz  wird  bestraft,  S.  438. 

^  So  im  Mende-Märchen  Nr.  17  bei  Migeod  a.  a.  0.  anrf  dem 
Sud ansprachge biet;  bei  den  Bantu  finde  ich  es  im  Herero -Märchen. 
Brincker  Wörterinteh  des  Otji- Herero.     Leipzig  1886,  S.  350. 


492  Carl  Meinhof 

Das  Erdmännchen  (ein  Tier)  straft  den  Schakal  wiederholt 
Lügen,  S.  479  ff.  Eine  Kuh  beweist  eine  besondere  Aufrichtig- 
keit, S.  441. 

Eine  Reihe  von  Märchen  hat  aetiologischen  Charakter. 
So  die  Geschichte  vom  Pavian,  die  erklärt,  woher  er  seine  Ge- 
säßschwielen hat,  S.  469,  und  woher  er  den  wie  geknickt  aus- 
sehenden Schwanz  hat,  S.  536,  und  warum  der  Rücken  des 
Schakals  wie  verbrannt  aussieht,  S.  496. 

Die  in  den  Geschichten  und  Märchen  vorkommenden  Reste 
alter  mythologischer  Vorstellungen  sind  reichhaltiger,  als  man 
denkt.  Seltsame  Spukdämonen,  die  die  Augen  auf  der  Ober- 
seite der  Füße  haben  und  Menschen  fressen,  kommen  hier  vor, 
S.  392  und  402.  Eine  Art  Felddämonen  sind  die  Buschspringer, 
S.  404.  Die  S.  443  beschriebene,  dem  Eulenspiegel  ähnliche 
Figur  erinnert  an  den  Huveane  der  Basutho,  der  in  anthro- 
pogonischen  Mythen  dort  erscheint.  Einen  breiten  Raum 
nehmen  die  Sagen  von  einem  Helden  Heitsi-Eibeb  ein,  von  dem 
wir  schon  aus  "den  Mitteilungen  von  Theophil  Hahn  wußten. 
Es  scheint  sich  um  einen  Heroen  zu  handeln,  mit  dem  Stein- 
haufen in  Verbindung  gebracht  werden,  die  man  im  Lande 
noch  findet,  und  die  man  Heitsi-Eibeb-Gräber  nennt.  Ein  Zu- 
sammenhang mit  diesem  Heros  und  dem  Mond  ist  schon  von 
Hahn  behauptet.  Daß  die  Sonne  auch  kultische  Bedeutung 
gehabt  hat,  geht  daraus  hervor,  daß  ein  Schaf  ihr  besonders 
geweiht  ist.  Vgl.  das  Opfer  weißer  Schafe  bei  den  Baziba, 
Rehse,  a.  a.  0.,  S.  127,  den  Ewe  und  sonst.  Das  Töten 
dieses  Schafes  zieht  seltsame  Strafen  nach  sich,  die  sich  nur 
durch  die  völlige  Erstattung  des  Schafes  aufheben  lassen,  S.  497  ff. 

Als  höchste  Figur  ragt  Tsui-//goab  über  die  anderen  Vor- 
stellungen hinaus.  Er  hat  zwar  noch  manche  heroische  Züge, 
aber  scheint  doch  schon  vor  der  Einführung  des  Christentums 
Eigenschaften  eines  Himmelsgottes  gehabt  zu  haben.  Das  ist 
um  so  wahrscheinlicher,  als  die  Mission  den  Gebrauch  dieses 
Namens   für  den   christlichen   Kultus   nicht   angenommen   hat. 


Die  afrikaoischen  Religionen  1907  —  1910  493 

Dagegen  ist  der  Name  in  kaffrisierter  Form  als  Utixo  in  die 
Kirchensprache  der  Amaxosa  aufgenommen.  Dies  Utixo  scheint 
aber  auch  zu  bestätigen,  daß  die  alte  Form  des  Wortes  eben 
T8ui-//goab  ist  und  nicht  Tsu-//goab  lautete.  Danach  würde  die 
Übersetzung  „Wundknie"  doch  die  rechte  sein,  und  ich  habe  schon 
darauf  hingewiesen,  wie  sehr  das  an  die  Masaierzählung  erinnert 
von  dem  alten  Mann,  aus  dessen  Knie  zwei  Kinder  hervor- 
kamen bei  HoUis,  S.  153.  In  noch  stärker  mythologischer 
Form  findet  sich  die  Geschichte  bei  den  Nandi,  siehe  oben.* 
Diesem  guten  Gott,  den  man  in  Verlegenheit,  Not,  Schrecken 
anruft,  auch  christliche  Hottentotten  tun  dieses  unwillkürlich, 
steht  ein  böser  Gott  („der  Herabstürzer'')  gegenüber,  S.  448, 
dessen  Name  beim  Fluch  genannt  wird.  Soviel  ich  sehe,  ist 
das  alles  eine  Bestätigung  meiner  auf  linguistische  Forschungen 
gegründeten  Ansicht,  daß  die  Hottentotten  einen  erheblichen 
Rest  von  Hamitenblut   bis   nach   Südafrika  mitgebracht  haben. 

Noch  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß  mythologisches 
Gut  auch  zwischen  Feinden  sich  austauscht.  Die  alten  Feinde, 
Hottentotten  und  Herero,  haben  u.  a.  die  Fabel  vom  Schakal 
und  der  Hyäne  gemeinsam,  die  bei  Schultz^,  S.  457,  in  ver- 
stümmelter Form  steht.  Vollständig  finde  ich  sie  im  Herero 
bei  Büttner,  Zeitschrift  f.  afrikan.  Sprachen,  I,  S.  998  ff. 

Zu  meinem  Lehrbuch  der  Namasprache,  Berlin  1909, 
G.  Keimer,  hat  Missionar  Wandres  eine  Reihe  von  Fabeln 
und  Sagen  der  Nama  mitgeteilt,  die  z.  T.  neu  sind,  z  T  sind 
sie  Varianten  zu  der  Fassung  bei  Schnitze.  Vgl.  besonders  die 
Geschichte  von  der  Frau,  die  den  Elefanten  heiratet,  S.  155. 
Hier  erscheint  auch  der  hilfreiche  Fels  wieder,  der  „meiner 
Voreltern   Fels"   angeredet   wird.      Auch    die   Geschichte   vom 


*  VgL  dazu  die  noch  auffallendere  Geschichte  bei  A.  Ham- 
burger, a.  a.  0.  Dort  entsteht  ,Das  Kind  der  Weisheit',  eine  Art 
Helfer  und  Heiland,  aus  dem  Bjiie  einer  Frau,  ehe  sonst  ein  Mensch 
geboren  war,  und  lehrt  das  erste  Menschenpaar  Kinder  zu  erzeugen. 
S.  298,  303.     Hier  findet  sich  die  Geschichte  also  auch  im  Bantugebiet. 


494  Carl  Meinhof 

Sonnenschaf  ist  hier  sehr  ausführlich  mitgeteilt,  S.  169.  Aus 
Theophil  Hahns  „Sprache  der  Nama"  sind  besonders  Fabeln 
vom  Heitsi-Eibeb  abgedruckt.  Über  die  seltsame  Geschichte 
vom  „Einzigen"  und  vom  „Geehrten"  wüßte  man  gerne  mehr. 
Sie  sieht  aus  wie  ein  Stück  aus  einer  größeren  Sage,  die  sich 
mit  diesen  Helden  beschäftigte. 

Unsere  Kenntnis  der  religiösen  Vorstellungen  der  Bu sch- 
iente ist  bereichert  durch  einen  Aufsatz  vom  Missionar 
Vedder,  der  in  der  Zeitschrift  für  Kolonialsprachen,  Berlin, 
G.  Reimer,  erschienen  ist. 

Die  Gräber  der  Angehörigen  werden  gemieden.  Nach 
Vedder  kennen  die  Buschleute  ein  höheres  Wesen,  daß  sie  Huwe 
oder  Hue  nennen.  Man  redet  es  mit  Ba  „Vater"  an  und  zwar 
jährlich  einmal,  wenn  die  Feldzwiebelchen  reifen.  Ehe  man 
davon  ißt,  findet  eine  Zeremonie  statt,  in  der  der  Alteste  als 
Priester  und  Vorbeter  des  einfachen  Gebetes  fungiert.  Ein  anderes 
Gebet,  das  man  in  Krankheitsfällen  gebraucht,  kann  von  jeder- 
mann gesprochen  werden.    Man  spricht  es  am  Grabe  eines  Ahnen. 

Vgl.  dazu  die  Mitteilungen  von  Passarge  über  die  Be- 
gräbnissitten der  Buschleute  „Die  Buschmänner  der  Kalahari", 
Berlin  1907,  und  ihren  Glauben  an  ein  Fortleben  nach  dem 
Tode.  Vgl.  dazu  auch  Passarge,  Südafrika,  Leipzig  1908,  S.  258. 
Außer  den  Malereien,  die  man  den  Buschleuten  zuschreibt,  sind 
jetzt  auch  Steinreliefs  in  Südafrika  aufgefunden,  deren  Ursprung 
und  Bedeutung  nicht  bekannt  ist.     S.  Globus  Bd.  96,  S.  99. 

Eine  kurze  Notiz  über  die  Religion  der  Pyginäeu  findet 
sich  bei  A.  B.  Lloyd,  In  dwarf  land  and  cannibal  country, 
London  1907,  S.  279.  Er  fand  kleine  Bündel  von  Pflanzenkost 
und  kleine  Näpfe  mit  Honig  am  Fuß  riesiger  Urwaldbäume. 
Auch  kleine  Tempel  erwähnt  er,  vermutlich  „Geisterhütten", 
und  allerlei  Zauber,  den  sie  an  sich  tragen. 

Durch  den  Sklavenhandel  sind  afrikanische  Kulte  auch  in 
Amerika  eingedrungen  und  haben  dadurch  eine  erstaunliche 
Lebenskraft    bewiesen.      VgL   Etienne    Ignace,    le  fetichisme 


Die  afrikanischen  Religionen  1907  —  191U  495 

des  negres  du  Bresil.  Antkropos  1908,  S.  881  ff.  Vgl.  dazu 
A.  Ffoulker,  the  latest  fetich  on  the  Gold  Coast.  Joum.  of 
the  Afr.  Soc.  1909,  388/397.  Hieraus  geht  hervor,  daß  noch 
heute  neue  Kulte  in  Afrika  entstehen. 

Ob  in  Südafrika  ein  alter  Einfluß  asiatischer  Bdigionen 
vorliegt,  ist  noch  immer  umstritten.  R.  X.  Hall,  Prehistoric 
Rhodesia,  London,  Leipzig  1909,  behauptet  mit  großem  Nach- 
druck, daß  die  Ruinen  in  Rhodesia,  besonders  Zimbabye,  vor- 
historischen Ursprungs  sind,  während  Maciver  sie  für  jung  hält. 

Passarge  spricht  sich  dafür  aus.  daß  Südaraber  die  Ruinen 
gebaut  haben,  hält  aber  einen  späteren  Ursprung  für  möglich,  Glo- 
bus, Bd.  91,  S.  229  ff.  Vgl.  „Südafrika"  dess.  Verfassers,  S.  262/269. 

Vgl.  Edward  M.  Andrews,  The  „Webster"  Ruin  in  Sou- 
thern Rhodesia,  Africa.  Er  hält  die  Ruine  für  nicht  älter  als 
Ende  des  16.  Jahrhunderts.  Sie  stammt  von  einer  Xegerrasse 
und  hat  religiöse  Zwecke.  Er  nennt  es  einen  Tempel.  Auf- 
gerichtete Monolithe  stehen  dabei.  Eine  Porzellanschale  ist 
gefunden.  In  den  Gräbern  lagen  keine  Skelette,  so  daß  Leichen- 
brand angenommen  wird.  J.  Torrend  vermutet  sabäischen 
Einfluß  aus  der  Übereinstimmung  gewisser  Märchenstoffe  mit 
den  Berichten  von  der  Jugend  des  Moses.  Mir  will  diese  Über- 
einstimmung allerdings  nicht  einleuchten.  Vgl.  Anthropos  1910, 
S.  54  ff.  Mehr  Bedeutung  scheint  mir  die  Auffindung  einer 
Münze  zu  haben,  vgl.  0.  Trapp  und  Th.  Stratmann,  Fund 
einer  althebräischen  Münze  in  Natal.  Anthropos  1909,  S.  168, 169. 

J.  H.  Venning,  notes  on  southem  Rhodesia  ruins  in 
Victoria  district,  Journ.  of  the  Afr.  Soc.  1908,  150/158  hält  die 
Ruinen  für  das  Werk  der  Varoswe,  deren  Nachkommen  im 
Viktoriadistrikt  noch  leben. 

Der  Einfluß  des  Islam  auf  afrikanische  Religionsformen 
wird  in  der  neugegründeten  Zeitschrift  von  C.  H.  Becker, 
Der  Islam,  Straßburg  und  Hamburg  19 10,  noch  besser  als  bis- 
her untersucht  werden  können,  da  der  Herausgeber  durch  ver- 
schiedene Vorträge   sein  Interesse  an   dem  Islam  in.  den  deut- 


496  ^^^^  Meinhof    Die  afrikanischen  Religionen 

sehen  Kolonien  besonders  bekundet  hat.  Vgl.  das  oben  bei  den 
Sudanspraehen  Gesagte. 

Wie  stark  sich  vorislamitische  Zauberformen  innerhalb  des 
Islam  halten,  beweist  das  Werk  von  E.  Douthe,  Magie  et 
religion  dans  l'Afrique  du  Nord.  Vgl.  auch  A.  Bei,  La  popu- 
lation  musulmane  de  Tlemcen.  Revue  des  etudes  ethno- 
graphiques  1908,  p.  200  fiF.  Desparmet,  Mauresque  et  maladies 
de  l'enfance.     Ebenda,  S.  500  ff. 

Henri  A.  Junod,  the  Balemba  of  the  Zoutpansberg  (Trans- 
vaal). Folk-Lore.  Vol.  19.  Nr.  3,  S.  276.  Hier  liegt  ein  gutes 
Beispiel  vor,  mit  welcher  Energie  ein  versprengter  Stamm  von 
oberflächlich  islamisierten  Afrikanern  seine  Riten  festhält.  Der 
Verfasser  sieht  es  als  erwiesen  an,  daß  die  Venda  die  Be- 
schneidung von  den  Lemba  angenommen  haben.  Nach  den 
Sprachproben  kamen  die  Leute  sicher  aus  Ostafrika. 

Über  den  Einfluß  der  christlichen  Mission  auf  die  Be- 
griffsbildung der  Afrikaner  habe  ich  aufmerksam  gemacht  in 
einem  Aufsatz  bei  Warneck,  Allgemeine  Missionszeitsehrift  1906, 

5.  205  ff.,  5.  und  6.  Heft:  Das  missionarische  Sprachproblem. 
Vgl.  „Die  Mission  als  Sprachbildnerin"  in  Der  alte  Glaube,  1906, 

6.  und  7.  Heft,  ferner  „Christus,  der  Heiland  auch  der  Naturvölker", 
Berlin  1907,  „Christentum  und  Naturreligion",  Missionsmagazin 
1908,  S.401ff.  InMissionskreisen  viel  gelesen  ist  Job.  Warneck: 
„Die  Lebenskräfte  des  Evangeliums",  Berlin  1908,  das  indone- 
sische Verhältnisse  behandelt,  aber  gelegentlich  auf  Afrika 
exemplifiziert.  Beachtenswert  ist  auch  Ralph  A.  D  urand,  Christian 
influence   on  African   Folk-Lore.     Anthropos    1907,  S.  976  Ö'. 

Neben  diesen  ganz  modernen  christlichen  Einflüssen  stehen 
sehr  alte,  von  denen  H.  Schäfer  und  K.  Schmidt  berichten: 
„Die  ersten  Bruchstücke  christlicher  Literatur  in  altnubischer 
Sprache."  „Die  altnubischen  christlichen  Handschriften  der 
Königl.  Bibliothek  zu  Berlin."  Sitzungsberichte  der  K.  Preuß. 
Akademie  d.  Wissenschaften  1906,  43;    1907,  31. 


3  Yedische  Religion  (1907-1910) 

Von  W.  Caland  in  Utrecht 

Die  seit  dem  vorigen  Berichte*  verstrichenen  Jahre  waren 
in  bezug  auf  die  Mythologie  und  die  Religionsgeschichte 
der  alten  Inder  besonders  ergiebig. 

Bloom fields  Religion  of  the  Veda^  ist  eine  Sammlung 
von  sechs  im  Winter  1906/7  in  Amerika  abgehaltenen  Vor- 
trägen. Obschon  der  Fachgelehrte  aus  diesen  Vortragen  nicht 
viel  Neues  lernen  wird,  sind  sie  auch  ihm  angenehm  zu  lesen 
und  als  populär  -  wissenschaftliche  Darstellung  von  Herzen 
willkommen  zu  heißen,  auch  deshalb,  weil  die  den  Ein- 
geweihten schon  bekannten  Ansichten  des  Verfassers  über  Art 
und  Wesen  der  indischen  Götter  hier  zusammengefaßt  gegeben 
werden.  Denn  dies  ist  —  anders  als  man  es  dem  Titel  des 
Werkes  nach  erwarten  würde  —  der  Hauptinhalt  dieser  Vor- 
träge, in  denen  eigentlich  mehr  über  die  Mythologie  und  die 
verschiedenen  Göttergestalten  als  über  die  eigentliche  Vedische 
Religion  gehandelt  wird:  über  die  Liturgie  des  Veda  z.  B.  ver- 
nimmt man  nur  Spärliches.  In  seinen  Betrachtungen  über  die 
vergleichende  Mythologie  nimmt  Bloomfield  im  allgemeinen, 
wenn  auch  mit  besonnener  Kritik,  den  Standpunkt  A.  Kuhns 
und  M.  Müllers  ein;  man  sehe  z.  B.  Bloomfields  Behandlung 
des  Cerberus  (^S.  105).  Von  Heranziehung  der  Ethnologie  will 
der  Verfasser  wenig  wissen.  Mir  scheint  er  darin  nicht  recht 
zu  haben:  wenn  der  Religionshistoriker  auch  die  Ethnologie 
in  den  Kreis  seiner  Untersuchungen  hineinzieht,   wird   er   als- 

'  Vgl.  dieses  Archiv  XI  S.  127. 

*  M.  Bloomfield  The  Religion  of  the  Veda:  the  ancient  Religim  of 
India  from  Bg^veda  to  üpaniads,  Putnam's  Sons,  New  York  and  Lon- 
don, the  Knickerbocker  Press,  1908. 

ArchiT  f.  Beligiongwisseiiscbaft  XIV  22 


498  W.  Caland 

bald  gewarnt  vor  voreiligen  Schlußfolgerungen  in  bezug  auf 
die  Rekonstruktion  der  indogermanisclien  Göttergestalten  und 
der  den  Indogermanen  zuzuschreibenden  religiösen  Gedanken 
und  Vorstellungen.  In  vielen  Fällen  wird  er  gezwungen  an- 
zuerkennen, daß  man  nicht  wissen  kann,  ob  man  mit  indo- 
germanischem Erbgut  zu  tun  hat,  da  übereinstimmende  Vor- 
stellungen bei  den  verschiedensten  Völkern  unabhängig  von- 
einander haben  entstehen  können.  —  Gegen  die  Oldenbergsche 
Theorie,  daß  die  indischen  Ädityas  den  Amesa  spentas  der 
avestischen  Götterwelt  entsprechen,  führt  der  Verfasser  (S.  133), 
wie  mir  scheint,  wichtige  Gründe  an,  obschon  vielleicht  doch 
die  Beurteilung  des  ursprünglichen  Charakters  der  Amesa 
spentas  (S.  114)  weniger  richtig  sein  dürfte.  Dem  Verfasser 
ist  Dyaus  ein  prehistoric  God,  Indra  dagegen  (obwohl  erkannt 
wird,  daß  der  Name  auch  im  Avesta  auftritt)  doch  eigentlich 
ein  spezifisch  indischer  Gott;  es  heißt  von  ihm:  there  is  no 
real  Indra -Uterature  outside  India  (S.  176),  es  sei  schwer  zu 
bestimmen,  wo  in  der  sichtbaren  Natur  er  seinen  Ursprung 
hat.  Ich  meine  aber,  man  darf  annehmen,  daß  Indra  seinem 
Wesen  nach  zum  Teil  sich  mit  Zeus  vergleichen  läßt  und  daß 
er  sozusagen  den  Dyaus  ersetzt  hat.  Beide,  Indra  und  Zeus, 
sind  die  Hauptgötter,  jener  des  indischen,  dieser  des  grie- 
chischen Pantheons;  beide  führen  den  Donnerkeil;  beide  be- 
kämpfen damit  die  Ungetüme;  beide  nehmen  eventuell  mensch- 
liche Gestalt  an,  um  die  dummen  Sterblichen  zu  betören. 
Zwar  ist  allgemeiner  bekannt  nur  die  Verwandlung  des  Indra 
in  Gautama,  aber  in  älteren  Zeiten  müssen  mehrere  derartige 
Metamorphosen  des  Indra  bekannt  gewesen  sein,  man  denke 
an  die  Subrahmanyä- Formel  (vgl.  auch  Orteis  Aufsatz  Indra 
in  the  guise  of  a  woman,  Journ.  of  the  Amer.  Or.  Soc.  XXVI, 
S.  176 ff.).  —  Bloomfields  Ansicht  über  die  Aranyakas  (S.  49): 
ü  seems  clear  that  thesc  wo)']cs  were  recited  by  Jurmits  living  in 
the  forest,  or  more  prccwely,  those  who  wcnt  io  the  forest  to 
live,  at  the   time  when  they  entered  the  third  stage  of  Hindu 


Vedische  Religion  (1907— 1910)  499 

life,  preparatory  to  final  emancipation  ist  schwerlich  aufrecht 
zu  halten.  Vom  Aranyaka  der  Taittiriyas  und  der  Väjasa- 
neyins  z.  B.  macht  der  Pravargya  einen  Teil  aus  und  es  ist 
bekannt  genug,  daß  dieses  Pravargya-Ritual  beim  Soma-Opfer 
(fakultativ)  auftritt.  Von  einer  Darbringung  des  Pravargya 
von  frommen  weltentsagenden  Eremiten  ist  nicht  die  geringste 
Spur.  Nur  weil  sie  sacri  sind,  müssen  diese  Texte  im  Walde, 
d.  h.  außerhalb  des  Dorfes,  vom  Schüler  erlernt  werden  (vgl. 
z.  6.  Baudh.  srs.  IX  19  und  20).  So  finden  sich  denn  auch 
die  Sprüche  zum  Totenritual  im  Aranyaka  der  Taittiriyas  ein- 
verleibt. Es  ist  somit  wahrscheinlich,  daß  diese  von  Bloom- 
field  abgelehnte  Ansicht  das  Richtige  trifi't.  Die  Meinung 
Bloomfields  und  derjenigen  Gelehrten,  die  ihm  beistimmen, 
könnte  sich  höchstens  für  die  Upanisads  bewahrheiten,  welche 
meistens  Teile  des  Aranyaka  ausmachen. 

Die  Religion  des  Veda  behandelt  ebenfalls  Rons  sei  *, 
aber  in  so  wenig  selbständiger  Weise  (das  Werkchen  ist  seinem 
eigentlichen  Wesen  nach  weiter  nichts  als  ein  verwässerter 
Extrakt  von  Oldenbergs  Religion  des  Veda),  daß  ich  eine  Be- 
sprechung hier  für  unnütz  halte.* 

In  einer  sehr  umfangreichen  und  inhaltschweren  Arbeit^ 
lehnt  L.  von  Schroeder  die  von  anderen  Indologen  an- 
genommene Theorie  Oldenbergs  ab,  daß  man,  um  gewisse 
Dialoglieder  des  Rgveda  zu  verstehen,  anzunehmen  habe,  daß 
die  verschiedenen  Strophen  durch  erzählende  Prosa  mit- 
einander verknüpft  gewesen  sind,  Prosastücke,  die  im  Lauf 
der  Zeit  verloren  gegangen  seien.  Der  Verfasser  schließt  sich 
vielmehr  der  Hertelschen  Hypothese  an,  daß  die  Dialoglieder 
für   dramatische   Aufführung   bestimmt   gewesen   seien.      Diese 

*  La  religion  vedique  par  A.  Boussel,  prof.  de  Sanserit  ä  l'üniv.  de 
Fribourg  (Suisse),  Paris,  Te'qui  1909. 

*  Eine  ausführliche  Begründung  dieses  abfälligen  Urteils  findet 
man  im  Museum,  maandblad  coor  philologie  en  geschiedenis  XVIII«  Jaarg. 
no.  1. 

'  Mysterium  und  Mimus  im  Rgveda,  H.  Haessel,  Leipzig  1908. 

32* 


500  W.  Caland 

Hypothese  aber  wird  von  dem  Verfasser  dahin  erweitert,  daß 
er  unter  Vergleichung  der  religiösen  Tanzdramen  bei  den 
Naturvölkern,  besonders  bei  den  Cora-Indianem,  annimmt,  daß 
auch  jene  vedischen  Dialoglieder  einstmals  zur  Begleitung 
mimischer  Tänze  dienten,  bei  welchen  die  Götter  selbst  als 
Tänzer  vorgeführt  wurden  und  Wechselreden  führten:  kultische 
Dramen,  Mysterien  nennt  er  diese  Aufführungen.  Leider  gibt 
es  keine  Beweise  für  die  Richtigkeit  auch  dieser  Annahme, 
denn  daß  die  Götter,  besonders  Indra,  das  Prädikat  „Tänzer" 
erhalten,  scheint  mir  nicht  entscheidend  zu  sein.  Und  dann 
ist  es  auch  sehr  auffallend,  daß  im  Ritual,  das  doch  so  sehr 
viel  Altertümliches  überliefert  hat,  keine  Spur  von  diesen 
mimischen  Tanzaufführungen  mehr  bewahrt  geblieben  ist. 
Dennoch  scheint  mir  die  Schroedersche  Hypothese  (denn  über 
eine  Hypothese  kommt  man  doch  wohl  nicht  hinaus)  sehr  be- 
achtenswert, da  sie  uns  die  Anwesenheit  mehrerer  Lieder  im 
Rgveda  erklären  würde,  für  die  es  in  dem  uns  bekannten 
Ritual  keine  Anwendung  gibt.^  Jenen  Forschern,  die  der 
Überzeugung  sind,  daß  auch  die  Rk- Sammlung  nicht  nur  ein 
literarisches  Produkt  der  alten  Inder  ist,  sondern  der  Praxis 
der  Religion,  dem  Kultus  seinen  Ursprung  verdankt,  wird 
Schroeders  Annahme  einleuchtend  erscheinen.  Freilich  fällt  es 
schwer,  den  Zusammenhang  einiger  dieser  von  Schroeder  als 
kultische  Dramen  angesehenen  Lieder  (z.  B.  das  Lied  des  be- 
trunkenen Indra  oder  das  Spielerlied)  mit  dem  Ritual  zu 
erfassen.  Ob  man  dagegen  auch  den  Ursprung  dieses  Lieder- 
typus schon  in  die  Zeit  der  indogermanischen  Gemeinschaft 
versetzen  darf,  wie  es  der  Verfasser  für  möglich  erachtet, 
ist    ein    zweiter    Punkt,   über    den    ich    auch   nach    Schroeders 

'  Freilich  nicht  alle  die  von  Schroeder  behandelten  Dialoglieder 
sind  ohne  Viniyoga:  das  Vrsäkapi-Lied  z.B.  und  HS.  VIII  89  werden  im 
Ritual  mehrfach  verwendet.  Der  Verfasser  hat  es  unterlassen,  das 
Ritual  daraufhin  zu  prüfen,  was  doch  schon  der  Vollstiindigkeit  halber 
hätte  geschehen  sollen. 


Vedische  Religion  (1907  —  1910)  501 

Ausführungen    sehr    skeptisch    gesinnt    bleibe.      Die   Annahme 
gewinnt  nicht  an  Wahrscheinlichkeit  durch  die  Erwägung,  daß 
solche    kultische    Mysterien    auch    außerhalb    des    indogerma- 
nischen  Völkerkreises   vorkommen.     Was   der   Verfasser   noch 
anfuhrt  zur  Begründung  seiner  Hypothese  (z.  B.  die  Versmaße, 
S.  78 ff.),   scheint    mir  ebenso  hypothetisch    wie  die  Hypothese 
selbst.    —   Man   sieht,   daß   die  hier  besprochene  Arbeit   mehr 
ist    als    eine    rein    indisch  -  philologische   Abhandlung  über  die 
Dialoglieder  des  Rgveda.     Der  Besprechung  jedes  Liedes  wer- 
den ausführliche  Erörterungen   über   vergleichende  Mythologie 
beigegeben,  in  welchen  auch  in  erfreulicher  Weise  die  von  der 
Ethnologie  gelieferten  Daten   in  Betracht   kommen.     In  vielen 
Hinsichten   nimmt   der  Verfasser   den   Standpunkt   Kuhns  und 
Benfeys  ein,  aber  er  sucht  diesen  Standpunkt  durch  eine|[über- 
große    Menge    oft    treffender     Bemerkungen     annehmbar     zu 
machen.     Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  seine    zahlreichen  Kombi- 
nationen mythologischer  Art  zu  prüfen.    Die  Zeit  wird  lehren, 
ob   der  Verfasser  nicht  hier   und  da,  wie  ich  fürchte,  viel  zu 
weit  gegangen  ist,   und  sie  wird  zeigen,  welche   seiner  Hypo- 
thesen   dauerhaften  Wert    haben.     Daß    einige    darunter   sehr 
gewagt  sind,  und  daß  der  Verfasser,  eben  weil  er  so  gern  be- 
weisen  will,    was    er   voraussetzt,  den  Tatsachen   nicht  immer 
gerecht  wird,  suche  ich  an  ein  paar  Beispielen  darzutxm.    Das 
Lopämudrälied  (vgl.  S.  157  ff.)   soll  ein  kultisches  Drama   sein 
und  „sogar  ein  solches ,   das  im  Ritual  nicht  völlig   vergessen 
und  verschwunden  ist".     Gewiß,   es   wäre  eine  tüchtige  Stütze 
für  die  Schroedersche  Hypothese,   wenn   sich   im  Ritual  noch 
Spuren    erhalten    hätten.      Wie     steht    es    aber    mit     diesem 
Lopämudrälied  und  mit  dem  Zweck,   den  nach   dem  Verfasser 
'  dieses  Lied  gehabt  haben  soU?     Es    muß,  nach  v.  Schroeders 
Ausführungen,    dazu    gedient    haben,  einen  rituellen   Beischlaf 
einzuleiten,  den  der  Keuschheit  erstrebende  Agastya  und  seine 
alte     Gemahlin     Lopämudrä     ausüben.       Nun     soll     es     nach 
Schroeder   auch   am  Mahävrata-Festtage  vorkommen,  daß  eine 


502  W.  Caland 

Dirne  und  ein  unter  dem  Gelübde  der  Keuschheit  stehender 
Brahmane  (ein  Brahmacärin)  während  der  festlichen  Handlung 
den  Beischlaf  vollziehen.  Ich  meine  aber,  daß  diese  Angabe 
unrichtig  ist  und  daß  nach  den  Brähmana-  und  Sütratexten 
der  beim  Mahävrata  verordnete  Beischlaf  nicht  vom  Brahma- 
cärin und  von  der  Dirne  geübt  wird;  die  einzige  Stelle,  die 
V.  Schroeder  Anlaß  gibt,  dies  zu  behaupten,  ist  eine  Kathaka- 
stelle:  aus  dieser  kann  man  das  aber  nicht  herauslesen^  und 
alle  rituellen  Texte  widersetzen  sich  der  von  Schroeder  vor- 
geschlagenen Deutung.  Somit  wird  die  Hauptstütze,  welche 
die  Zusammengehörigkeit  des  Lopämudräliedes  mit  dem  Ritual 
des  Mahävratatages  annehmbar  machen  soll,  hinfällig.  Ob 
man  femer  in  diesem  rituellen  Beischlaf  ein  indogermanisches 
Erbstück  zu  sehen  hat,  wird  mindestens  zweifelhaft,  da  dieser 
Fruchtbarkeitszauber  über  der  ganzen  Erde  verbreitet  ist  und 
allgemeines  Eigentum  der  Menschheit  gewesen  sein  rauß.^  — 
Eine  unrichtige  Übersetzung  Roths  (warum  hat  der  Verfasser 
die  Stelle  nicht  selber  nachgeprüft?  Die  Avestaforschung  hat 
ja  seit  Roth  so  enorme  Fortschritte  gemacht!)  verleitet 
V.  Schroeder  zu  der  Vergleichung  einer  Handlung  des  avestischen 
Yima  mit  einem  Fruchtbarkeitszauber  eines  australischen 
Stammes.  Die  Instrumente  jedoch,  die  dem  Yima  geschenkt 
werden,  faßt  man  heute  nicht  mehr  als  Schwinge  und  Stachel, 
sondern  als  Pfeil  und  Geißel  auf.  —  Wenn  aus  Anlaß  von 
Indras  übernatürlicher  Geburt  eine  russische  Sage  verglichen 
wird,  hätte  es  doch  viel  näher  gelegen,  an  Buddhas  Geburt 
aus  der  Seite  seiner  Mutter  (Lalitavistara  94)  und  vielleicht 
auch  an  die  Geburt  des  Dionysos  aus  dem  Schenkel  des  Zeus 
zu  erinnern.   —  So  ließe  sich  noch  manches  über  Einzelheiten 


*  In  der  S.  161  Bern.  2  angeführten  Küthaka-Stelle  steht:  mithunam 
caranti.  Hätte  v.  Schroeder  recht,  so  müßte  es  lieißen:  mtthunani 
caratah.  Ich  brauche  kaum  zu  sagen,  daß  diese  meine  Bemerkung 
schon  niedergeschrieben  war,  ehe  ich  Oldenbergs  mit  der  meinigen  zu- 
sammentreffende Bemerkung  (GGA  1909  S.  77)  gesehen  hatte. 

»  Vgl.  Frazer  The  golden  Bough*  II  S.  205. 


i 


Vedische  Religion  ^1907  —  1910)  503 

bemerken;  aber  genug,  die  gediegene  Arbeit  Schroeders  ist 
mir  in  hohem  Grade  anregend  vorgekommen,  und  vielleicht 
kommt  durch  ihn  und  Bloomfield  das  Gute,  das  von  der 
älteren  Kuhn-Müllerschen  mythologischen  Schule  gelehrt  wurde, 
zu  seinem  Rechte. 

Sehr  eigentümlich  ist  das  Verfahren  eines  anderen  deut- 
schen Forschers,  Karl  Schirmeisen ^,  um  die  ursprüngliche 
Natur  der  arischen  Götter  zu  bestimmen.  Die  von  ihm  (S.  28  ff.) 
geäußerte  Hypothese,  daß  das  Germanische  eigentlich  mit  dem 
Indogermanischen  identisch  sei  und  daß  die  anderen  (die  nicht- 
germanischen) indogermanischen  Sprachen  durch  Übertragung 
des  Germanischen  auf  asiatische  Idiome  entstanden  sind:  daß 
wir  also  statt  von  einer  Volkertrennung  der  indogermanischen 
Stämme  eher  vop  einer  Auswanderung  von  Germanen  zu  reden 
hätten,  ist  geradezu  erstaunlich  und  wird  wohl  von  keiner 
Seite  Beistimmung  finden.  Von  dieser  Voraussetzung  aus- 
gehend sucht  der  Verfasser  nun  zu  bestimmen,  welche  Gött«r 
des  indo- arischen  Pantheons  ursprünglich  „germanisch"  sind, 
und  welche  Götter  den  Mischvölkem,  d.  h.  nach  des  Verfassers 
Terminologie  den  nicht  -  germanischen  Völkern  Europas  an- 
gehören. Merkwürdigerweise  beschränkt  er  sich  in  seinen 
Untersuchungen  auf  die  germanischen  und  die  indo-iranischen 
Göttergestalten.  Seine  Ergebnisse  sind  denn  auch  nicht  wenig 
überraschend:  es  stellt  sich  z.  B.  heraus,  daß  Soma-Haoma 
ursprünglich  ein  Trankgott  der  Germanen  gewesen  sei,  Mitra- 
Mil)ra  ein  Frühlingsgott ,  usw. 

Der  zuletzt  erwähnten  Arbeit  schließt  sich  in  gewissem 
Sinne  Brunnhofers  Schrift  über  die  arische  Urzeit  an.'     Im 


*  Die  arischen  Grötter gestalte»,  allgemeinverständliche  Untersuchungen 
über  ihre  Abstammung  und  Ent^ehungszeit,  von  Karl  Schirmeisen,  Brunn, 
Winiker,  1909. 

*  Arische  Urzeit.  Forschungen  auf  dem  Gebiete  des  ältesten  Vorder- 
und  Zentralasiens  nebst  Osteuropa,  von  Dr.  Hermann  Brunnhofer,  Prof. 
a.  d.  Univ.  Bern,  Bern,  A.  Francke,  1910. 


504  W.  Caland 

Anschluß  an  früher  von  ihm  veröffentlichte  Arbeiten  derselben 
Tendenz  sucht  der  Verfasser  klarzustellen,  daß  die  ältesten 
Teile  des  Rgveda  nicht  im  Pendschab,  sondern  in  Vorder- 
asien, also  in  Mesopotamien  oder  in  der  Nähe  des  Kaspischen 
Sees  entstanden  sind.  Referent  muß  eingestehen,  daß  er  durch 
seine  Ausführung  nicht  überzeugt  worden  ist.  Es  ist  möglich, 
daß  unter  den  vielen  von  Brunnhofer  besprochenen  Punkten 
einiges,  vielleicht  vieles  richtig  ist.  Der  unbefangene  Leser 
aber,  der  etwas  kritisch  beanlagt  ist,  wird  sich  Brunnhofers 
Ergebnissen  meistens  ablehnend  gegenüberstellen,  wenn  er 
einsieht,  wie  er  es  bald  einsehen  muß,  wie  völlig  kritiklos 
Brunnhofers  Verfahren  in  der  Exegese  der  altindischen  Texte 
ist.  Der  Verfasser,  der  sich  bemüht,  viele  Hapaxlegomena  zu 
deuten  und  manche  schwierige  Stelle  des  Rgveda  zu  behandeln, 
zeigt  sich  hier  und  da  als  einen  wenig  vertrauenerweckenden 
Interpreten.  Ein  Beweis  für  seine  These,  daß  die  Inder  noch 
eine  Erinnerung  an  den  (vom  Verfasser  postulierten)  Er- 
oberungszug nach  Osten  bewahrt  haben,  findet  er  z.  B.  in  den 
Worten:  prajäpatih  praja  asrjata,  tä  asrmät  srstah  päräclr  üyan, 
welche  nach  Brunnhofer  bedeuten:  „Prajäpati  emanierte  die 
Geschöpfe,  diese,  von  ihm  emaniert,  gingen  nach  Osten".  In 
diesem  einen  kurzen  Satze  zwei  Akzent-  und  zwei  Übersetzungs- 
fehler. Jeder  Indologe  weiß,  daß  der  zweite  Satz  bedeutet: 
„nachdem  sie  (von  ihm)  ins  Dasein  gerufen  waren,  gingen  sie 
von  ihm  weg".  Und  diese  Stelle  ist  leider  nicht  die  einzige 
falsch  verstandene.  Nicht  nur  mit  der  Interpretation,  sondern 
auch  mit  den  Lautgesetzen  steht  der  Verfasser  auf  gespanntem 
Fuß:  es  wimmelt  in  dem  Buche  von  haarsträubenden  Etymo- 
logien. Wenn  aus  dem  Avesta  zitiert  wird,  dient  die  längst 
veraltete  Ausgabe  Spiegels  als  Grundlage;  infolgedessen  wer- 
den ganze  Hypothesen  aufgebaut  auf  Wörtern,  die  es  einfach 
nicht  gibt. 

Mit  der  vedischen  Religion  berührt  sich   aufs  engste  eine 
sehr  interessante  Abhandlung  von  Schroeders,   Die  Wurzeln 


Vedische  Religion  (1907  — 1910)  505 

der  Sage  vom  heiligen  Gral.^  Mit  anscheinend  gutem  Erfolg 
weist  der  Verfasser  hier  nach,  daß  die  Gralsage  heidnischen 
Ursprungs  ist  und  religiöse  Anschauungen  und  Überlieferungen 
bewahrt  hat,  die  sich  aus  den  mvthisch-religiösen  Vorstellungen 
besonders  der  alten  Inder  der  Rgveda-Periode  erklären  lassen. 
Der  heilige  Gral  selbst  ist  das  „Mondgefäß",  aus  welchem  die 
Götter  und  die  Seligen  sich  ernähren;  er  ist  mit  dem  Soma 
(dem  Mond)  und  seine  Hüter  sind  mit  den  himmlischen  Gan- 
dharyas  zu  vergleichen  usw.  Wenn  auch  der  Verfasser  seine 
Anschauungen  so  gut  wie  möglich  begründet  hat,  so  kann 
doch  der  Leser  nicht  über  den  Eindruck  hinauskommen,  daß 
es  sich  auch  hier  nur  um  eine  bloße  Hypothese  handelt,  die 
vielleicht  von  anderen  künftigen  Forschem,  dadurch  daß  sie 
andere  Züge  der  Sage  mehr  in  den  Vordergrund  zu  rücken 
wissen,  über  den  Haufen  geworfen  und  durch  eine  noch  be- 
friedigendere Erklärung  ersetzt  werden  könnte. 

In  einem  für  Indologen  wie  Religionsforscher  gleich 
wichtigen  Aufsatz  Some  modern  theories  of  religion  and  (he 
veda^  betrachtet  A.  B.  Keith  den  Veda,  oder  sagen  wir  lieber 
verschiedene  aus  der  vedischen  Literatur  bekannte  Tatsachen, 
im  Lichte  der  Ethnologie.  Das  Hauptergebnis  seiner  Betrach- 
tungen, die  freilich  nicht  alle  auf  gründlicher  Nachprüfung 
der  benutzten  Quellen  beruhen^,  ist,  daß  im  vedischen  Ritual 
wahrscheinlich  vom  Totemismus  nur  sehr  unsichere  Spuren 
nachzuweisen  sind.  Die  von  Keith  untersuchten  Fälle  von 
Tier  opfern  sind  nach  seiner  Ansicht  nicht  hinreichend  um  zu 
beweisen,  daß  im  vedischen  Zeitalter  Tiere    geopfert    wurden, 

'  In  den  Sitz.-Ber.  der  Kais.  Akad.  der  Wiss.  in  Wien,  Phil.-hist. 
Klasse,  166.  Bd.,  2.  Abt. 

*  Journ.  Royal  Asiatic  Soc.  1907  S.  929—949. 

'  Ganz  verfehlt  z.  B.  ist  die  auf  Oldenberg-Hillebrandt  beruhende 
Erörterung  (a.  a.  0.  940)  über  den  Sülagava  und  Ksaitrapatya  des 
Hiranyakesin;  ihe  cow  and  the  ox  .  .  .  covceived  as  for  the  tirne  heing 
incarnations  of  the  God  (Budra)  and  the  Goddess  haben  ihr  Dasein  nur 
einer  falschen  Interpretation  zu  verdanken;  vgl.  GGA  1897  S.  286. 


506  W.  Caland 

sei  es  um  die  Spezies  zu  stärken,  sei  es  um  den  erschöpften 
Yegetationsgeist  zu  töten;  er  nimmt  vielmehr  die  einfache 
Theorie  des  do  ut  des,  dehi  me  dadänii  te  wieder  auf,  wobei 
er  freilich  auch  für  die  theriomorphische  Vorstellung  der  Götter 
Raum  läßt.  Das  Tier  brauchte  nicht  von  Haus  aus  diesem 
oder  jenem  Gotte  geheiligt,  eine  Inkarnation  dieses  oder  jenes 
Gottes  zu  sein,  sondern  konnte  im  Verlauf  des  Opfers  einen 
geweihten  Charakter  (a  sacred  character)  bekommen.  So  sucht 
Keith  das  Roßöpfer  zu  erklären.  Es  ist  aber  zu  bezweifeln, 
ob  Väj.  Sarah.  XXII  9 — 14  etwas  für  die  Roßgestalt  der 
Sonne  beweisen  kann.  In  allen  diesen  Strophen  wird  der 
Gott  Savitr  angerufen,  ein  Gott,  der  nicht  so  ohne  weiteres 
dem  Sonnegotte  gleichzustellen  ist.  Diese  Strophen  aber  haben 
mit  dem  eigentlichen  Asvamedha  nur  sehr  wenig  zu  tun,  da 
sie  die  Einladungs-  und  Opfersprüche  für  die  einleitenden 
Istis  an  Savitr  sind,  die  ein  ganzes  Jahr  vorher  täglich  zu 
verrichten  sind.  Den  Bemerkungen,  die  Keith  über  das 
Menschenopfer  der  Inder  (den  Purusamedha)  macht,  wird  wohl 
jeder  beipflichten.  Obwohl  mir  das  von  Keith  zu  seinen  Unter- 
suchungen herangezogene  Material  noch  viel  zu  karg  zu  sein 
scheint,  zumal  da  Einiges  davon  sich  nicht  bewährt,  ist  doch 
der  Aufsatz  sehr  anregend. 

Wir  berichten  jetzt  über  den  Zuwachs,  den  unsere  Kennt- 
nis der  einzelnen  Veden  (Rk-,  Yajur-,  Säma-,  Atharva-Veda) 
in  den  letzten  Jahren  erfahren  hat.  Zuerst  also  über  den 
Rgveda  und  was  dazu  gehört.  Durch  A.  B.  Keith  ist  nicht 
wenig  getan,  um  unsere  genaue  Kenntnis  der  Aranyakas  dieses 
Veda  zu  fördern.  Erstens  hat  er  uns  eine  vollständige  Über- 
setzung des  Sänkhäyana-äranyaka  geboten.^  Daß  diese  Arbeit 
für  unsere  Kenntnis  der  indischen  Religion  im  allgemeinen 
und    besonders    der  älteren  philosophischen  Anschauungen  der 

'  The  Sänkhayana  Ära^yaka  with  an  appendix  on  the  Mahävrata 
by  A.  B.  Keith,  Oriental  Translation  fund,  new  aeries  vol.  XVII, 
London  1908. 


Vedische  R«ligion    1907  —  1910)  507 

Inder  wichtig  ist,  braucht  nicht  erst  dargetan  zu  werden.  Die 
ersten  Abschnitte  über  dasMahävrata  waren  schon  früher  (1900) 
von  Dr.  W.  Friedländer  herausgegeben  und  übersetzt.  Legt 
man  die  beiden  Übersetzungen  nebeneinander,  so  bekommt 
man  nicht  den  Eindruck,  daß  die  letztere  auch  die  bessere  ist. 
Von  mancher  Stelle  gibt  Friedländer  den  Sinn  besser  als  Eeith 
wieder.^  Der  für  die  Religionswissenschaft  wichtigste  Teil 
ist  ohne  Zweifel  der  Anhang  über  das  Mahävrata,  in  welchem, 
wie  mir  scheint,  in  überzeugender  Weise  Hillebrandts  Hypo- 
these zurückgewiesen  wird,  daß  der  Mahävrata-Tag,  der  in  dem 
uns  bekannten  Ritual  an  das  Ende  des  Jahres  föllt.  ursprünglich 
der  Mitsommertag  gewesen  sei.  Die  so  sehr  eigentümlichen 
Gebräuche,  die  an  diesem  Mahävrata-Tag  bei  den  alten  Indern 
auftraten,  lassen  sich  in  ungezwungener  Weise  mit  Eeith  als 
Jf/Ji</w^ (Zauber)  Bräuche  erklären,  um  die  Sonne  wieder 
scheinen  zu  lassen  und  um  Fruchtbarkeit  der  Äcker  zu  erzielen. 
Die  darauf  folgenden  Abschnitte  'die  eigentlichen  Kausitaki- 
upanisad)  sind  schon  mehrere  Male  in  Text  und  Übersetzung 
herausgegeben.  Unbekannt  waren  bis  jetzt  die  letzten  Ab- 
schnitte (adhyäya  7 — 15).  deren  Inhalt  freilich  mit  dem  des 
Aitareya-äranyaka  ziemlich  genau  übereinstimmt. 

Demselben  Gelehrten  verdanken  wir  jetzt  auch  eine  erste 
kritisch  bearbeitete  Ausgabe  des  zu  der  Rgveda-Schule  der 
Aitareyins  gehörigen  Äranyaka.^  Diese  Ausgabe  gibt  indes 
mehr  als  der  Titel  besagt:  sie  enthält  auch  die  bis  jetzt  noch 
nicht  veröffentlichten  Teile  des  Sänkhäyana-  oder  Kausitaki- 
äranyaka,  adhyäya  7—15,  vgl.  oben.  Der  Text  nun  des 
Aitareya-äranyaka  war  uns  zwar  aus  der  Ausgabe  der  Biblio- 
theca  Indica  bekannt,  aber  durch  Keiths   unermüdliche  Arbeits- 


•  Es  ist,  beiläufig  bemerkt,  merkwürdig'  daß  vielen  Sanskritisten 
noch  immer  der  Sinn  des  Ausdrucks  dcüc  inottarinam  upastham  krtvä 
(S   är.  I.  7)  verborgen  zu  sein  scheint. 

*  Aitareya  Äranyaka  edited  by  A.  B.  Keith  in  Anecdota  Oxoniensia, 
Anan  Seri^,  pari  IX,  Oxford,  Clarendon  Press  1909. 


508  W.  Calaaid 

kraft  verfügen  wir  jetzt  erst  über  einen  zuverlässigen  Text,  da 
er  keine  Mühe  gescheut  hat,  um  ein  möglichst  vollständiges 
Handschriftenmaterial  zu  kollationieren.  Darunter  stand  ihm 
auch  eine  sehr  alte  Särada-Hs.  zur  Verfügung;  es  stellt  sich 
aber  heraus,  daß  die  handschriftliche  Uberliefenmg  schon  früh 
eine  sehr  einheitliche  gewesen  ist,  sowohl  in  Süd-  als  in  Nord- 
Indien.  Der  Text,  der  vorzüglich  herausgegeben  ist,  wird  durch 
nur  wenige  Fehler  entstellt.  Sehr  dankenswert  und  anregend 
ist  besonders  die  Einleitung,  in  welcher  eingehend  gehandelt 
wird  über  den  Text,  die  Kommentare,  die  Entstehungszeit  des 
Aranyaka  in  Vergleichung  mit  den  verwandten  Texten,  und 
die  grammatischen  Eigentümlichkeiten.  Die  schwierigste  Auf- 
gabe, welche  Keith  übernommen  hat,  ist  wohl  die  vollständige 
Übersetzung.  Daß  diese  nicht  fehlerfrei  ist,  wer  wird  das 
dem  Übersetzer  eines  so  schwierigen  Textes  verargen?  Dennoch 
hätte  sich  der  Übersetzer  m.  E.  etwas  mehr  bemühen  können, 
den  Sinn  des  Textes  seinen  Lesern  deutlich  zu  machen,  denn 
obwohl  die  Sätze  übersetzt  sind,  bleibt  doch  der  eigentliche 
Sinn  mehrerer  Stellen  noch  immer  dunkel.  Der  Bearbeiter 
besitzt  ohne  Zweifel  die  nötigen  Kenntnisse  um  als  Interpret 
aufzutreten,  das  beweist  die  Menge  von  inhaltsschweren  Be- 
merkungen. Indessen  ist  man  zuweilen  darüber  erstaunt,  daß 
er,  während  er  doch  die  Regeln  der  vedischen  Syntax  so 
gründlich  studiert  hat,  einige  allbekannte  Tatsachen  nicht  zu 
ihrem  Rechte  kommen  läßt;  auch  entstellen  einige  Übersetzungs- 
fehler an  durchaus  verständlichen  Stellen  die  Arbeit.^ 


^  Da  diese  Zeitschrift  nichteine  rein  philologische  ist,  muß  ich  mich, 
nm  das  oben  Geäußerte  zu  erhärten,  auf  die  folgenden  Bemerkungen 
beschränken.  Der  Wert  des  Präsens  mit  sma  oder  ha  snia  scheint  Eeith 
unbekannt  zu  sein;  meistens  übersetzt  er  durch  ein  Präsens,  als  ob 
kein  ha  sma  da  wäre:  sarvajid  dha  sma  .  .  .  ädityam  .  .  upatisthate 
(Kaus.  är.  IV.  7):  „Sarvajit  .  .  .  adores  the  sun";  madhu  ha  sma  vä  .  .  . 
madhuchandäii  chandate  (Ait.  är.  I.  1.  3):  „M.  desires  honey"  und  in  der- 
selben Weise  mehrere  Male  ha  ma  .  .  .  aha.  Ref.  wäre  imstande  eine 
ganze  Liste  von  Fehlern    oder  Ungenauigkeiten    der  Übersetzung    nach- 


Vedische  Religion  (1907  —  1910)  509 

Unsere  Kenntnis  des  Yajurveda  ist  in  den  letzten  Jahren 
bedeutend  vermehrt  worden.  Die  Indologen,  besonders  die 
Vedisten  müssen  Herrn  von  Schroeder  herzlich  dankbar 
dafür  sein,  daß  er  jetzt  seine  schon  im  Jahre  1900  begonnene 
Ausgabe  des  Käthaka  vollendet  hat.'  Seine  Aufgabe  war 
keineswegs  eine  leichte,  da,  einige  mehr  oder  weniger  umfang- 
reiche Stücke  ausgenommen,  hauptsächlich  nur  eine  einzige 
Handschrift  zur  Herstellung  des  Textes  dienen  konnte.  .Unter 
solchen  Umständen  darf  sich  der  Bearbeiter  nicht  allzu  gewissen- 
haft an  die  Überlieferung  halten,  das  Operationsmesser  der 
Kritik  ist  hier  häufiger    als  sonst  anzuwenden.     Nach    meiner 

zuweisen,  beschränkt  sich  aber  hier  auf  die  Anführung  einiger  besonders 
groben  Fehler.  Mit  äjya  (Ait.  är.  I.  1.  1  und  2)  ist  nicht  eine  ghee- 
offering  sondern  das  äjvasastra  gemeint;  nyüna  (I.  1.2)  bedeutet  nicht 
small  sondern  leer;  so  auch  in  atiril'tam  vai  puruso  nyunam  striyai 
(1.  4.  2).  Rätselhaft  ist  es,  woher  in  der  Übersetzung  der  Stelle  prthivi 
tvä  devatä  risyati  (III.  1.  4  und  Sänkh.  är.  VII.  10):  the  earth,  the  deity, 
will  strike  thee,  die  Futurbedentung  kommt.  Hätten  wir  hier  ein  Präsens 
mit  Futurbedeutung,  so  müßte  das  vom  Bearbeiter,  der  allerlei  syntak- 
tische Details  sonst  so  erschöpfend  behandelt,  begründet,  wenigstens 
erwähnt  werden.  Zu  lesen  ist  aber  einfach:  decatärisyati;  ärisycUi 
Futur  zum  vorhergehenden  Aor.  ärah.  Ganz  mißverstanden  sind  die 
Worte:  tasmin  parivrte  juhoti  prügdväre  rodagdcäre  vä  prägudagdväre  vä 
(Ait.  är.  V.  1. 1),  ebenso  die  Worte  atrottare  ca  märjäJtye  sesam  antarvedi, 
(V.  1.  2),  die  Worte  tisro  vamäh  sal  uttamäh  (ib.);  sadas  (V.  1.  3)  ist 
fälschlich  durch  seat  übersetzt.  Was  endlich  die  Adhyäyas  VII — XV  des 
Sänkh.  Ar.  angeht,  so  ist  der  Herausgeber,  wenn  er  hier  statt  des  überlieferten 
Z  (für  sonstiges  d)  l  eingesetzt  hat,  im  Unrecht;  gerade  dieses  l  statt  7 
für  d  ist  eine  Eigentümlichkeit  der  Kausitakins.  Einen  etwas  komischen 
Eindruck  macht  XII.  8:  a  man  icho  desires  prosperity,  should  fast  on 
flowers  for  three  nights.  Der  Text  lautet  (Ait.  är.  S.  326):  bhutikämah 
puspena  trirätropositah  usw.  Es  leuchtet  ein,  daß  statt  puspena  zu 
lesen  ist  pusyena,  „unter  dem  Naksatra  Pusya".  Falsch  übersetzt  sind 
daselbst  mämsaudana,  ghrtaudana,  tilaud<ina:  und  sthälipäka  ^XI.  6) 
bedeutet  nicht  a  pot  of  milk.  Im  allgemeinen  scheint  mir  eine  gründliche 
Vertrautheit  mit  dem  vedischen  Opferritual  eine  Bedingung  zum 
richtigen  Verständnisse  aller  vedischen  Texte  zu  sein,  und  hierin 
kommt  die  Übersetzung  von  B.  Keith  zu  kurz. 

'  Küthakam,  die  Samhitä  der  katha'säkhä  heraufgegeben  von  L. 
von  Schroeder,  zweites  Buch,  drittes  Buch,   Brockhaus,  Leipzig  1909/10. 


510  W.  Caland 

Ansicht  ist  der  Herausgeber  doch  noch  zu  konservativ  ge- 
wesen; aber  das  sind  Dinge,  die  eher  in  den  Bereich  der  rein 
philologischen  Wissenschaft  fallen.  Verdanken  wir  also  das 
eigentliche  Käthaka  der  unermüdlichen  Tätigkeit  von 
Schroeders,  so  gibt  es  auf  diesem  Gebiete  doch  noch  ein 
Desideratum,  da  vom  Käthaka  noch  mehrere  größere  Frag- 
mente existieren,  welche  den  Pravargya  und  sonstiges  behandeln. 
Schon  früher  hatte  von  Schroeder  in  den  Sitzungsberichten  der 
K.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  diese  Stücke  mitgeteilt, 
aber  in  wenig  kritischer  Weise.  Es  wäre  wünschenswert 
gewesen,  wenn  der  Verfasser  sich  hätte  entschließen  können, 
diese  Stücke  in  einem  Anhang  nochmals,  mit  schärferer  Kritik, 
herauszugeben.  Von  den  Veden  ist  uns  so  sehr  vieles  abhanden 
gekommen,  daß  alles  noch  übrige  gesammelt  und  veröffentlicht 
zu  werden  verdient. 

Auf  dem  Texte  des  Yajurveda,  namentlich  des  Schwarzen, 
beruht  eine  Abhandlung  des  Berichterstatters^,  deren  Inhalt 
sich  vielfach  mit  religiös-ethnologischen  Problemen  berührt. 
Sie  enthält  nämlich  die  Materialien,  auf  welchen  eine  früher 
veröffentlichte  Abhandlung  over  de  ivensdioffers^  sich  stützt 
und  dürfte  auch  dem  Religionshistoriker  manches  Interessante 
bieten.  Man  ersieht  daraus,  wie  es  die  indischen  Opferpriester 
machten  (und  wahrscheinlich  noch  jetzt  machen),  wenn  sie 
z.  B.  Regen  zu  machen  wünschten,  wenn  sie  den  Feind  irgend 
jemandes  behexen,  wenn  sie  einem  Klienten  ein  hohes  Alter 
sichern  wollten,  usw. 

Die  Herausgabe  des  Baudhäyana  -  srautasütra  schreitet 
fort,  wenn  leider  auch  nur  langsam;  vom  zweiten  Teile 
sind  die  ersten  drei  Lieferungen  erschienen,  die  vierte  ist 
fertig,     aber     noch     nicht     erschienen.      Die    zuletzt    zu    er- 

*  Altindische  Zauberei,  Darstellung  der  altindischen  Wunschopfer, 
in  Verh.  d.  Kon.  Ak.  v.  Wet.  te  Anist.  Afd.  Lett.  niemve  Beeks  Deel  X, 
no.  1,  Amsterdam,  Müller,  1908. 

*  In  Versl.  en  Meded.  der  Kon.  Akad.  va7t  Wetemsch.  te  Amst. 
IV.  Beeks,  deel  U,  S.  ö— 36. 


Vediflche  Religion  (1907  —  1910)  511 

wähnende  Publikation  auf  dem  Gebiete  des  Schwarzen  Yajur- 
veda  ist  der  in  der  Anandä^rama-series  erschienene  und  Ton 
Käsinäthasästri  und  anderen  Pandits  veröffentlichte  Text  des 
Satyäsädha  (Hiranyakesi)  srautasütra;  bis  jetzt  sind  Buch  1 — 10 
mit  wertvollem  Kommentar  (u.  a.  der  berühmten  Vaijayanti) 
erschienen.  Zwar  stimmt  dieser  Text  vielfach  mit  dem  Apa- 
stambiyasütra  überein,  er  enthält  aber  auch  sehr  viele  unbe- 
kannte Stücke.  Auch  dieser  wird  unsere  Kenntnis  der  alt- 
indischen Liturgie  sehr  vertiefen. 

Über  den  Sämaveda  im  allgemeinen  und  seine  Ent- 
stehungsgeschichte handelt  eine  Abhandlung  de  wording  van 
den  Sämaveda.^  Ferner  ist  das  bis  jetzt  nur  aus  einer  un- 
kritischen und  dazu  schwer  zu  beschaffenden  indischen  Aus- 
gabe bekannte  Sadvimsabrähmana  dieses  Veda  von  dem  leider 
zu  früh  hingeschiedenen  Dr.  Eelsingh  mit  Kommentar  und 
Einleitung  herausgegeben.-  Endlich  sind  noch  zwei  Texte  der 
Kauthuma-Sämaveda-Schule  veröffentlicht:  der  Arseya-kalpa^ 
und  das  Puspasütra^,  zwei  Texte  deren  Wert  vorläufig  mehr 
rein  philologischer  Natur  ist.  Auch  unsere  Kenntnis  einer 
anderen,  bis  ^vor  einigen  Jahren  nur  dem  Namen  nach 
bekannten  Schule  des  Sämaveda  ist  bereichert  erstens  durch 
die  Ausgabe  der  Samhitä''  und  zweitens  durch  eine  neue  Serie 
Auszügen  aus  dem  Brähmana.^  Was  wir  durch  Örtels   frühere 


*  Versl.  en  Meded.  der  Kon.  Ak.  van  Wet.  te  Amsterdam,  Afd. 
Lett.  4.  Beeks  deel  VIII,  S.  1—15,  vgl.  Jaim.  Samh.  Einl.  S.  1—10, 
Oldenberg  in  den  GGA  1908.  Nr.  9,  W.  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenl. 
XXII  S.  436— 438,  Zeitschr.  der  D.  Morg.  Ges.  63,  730;  64,  347. 

*  Sadvimsabrähnianam  vijnäpanasdhitam,  Leiden,  E.  Brill,  1908. 

'  Der  Äraeyakalpa  des  Sämaveda,  Leipzig  1908  (Abh.  f.  die  K.  des 
Morgenl.  XU.  3). 

*  Das  Puspasütra  mit  Einl.  und  Übers,  herausgeg.  von  B.  Simon 
1909  (Abh.  der  K.  Bayer.  Akad.  der  W.,  1.  KL,   XXIII.  Band,  UL  Abt.) 

*  Die  Jaimimya-Samhitä  mit  einer  Einleitung  über  die  Sämaveda- 
I.iterattir,  1907  (Indische  Forsch.  2.  Heft),  Marens,  Breslau. 

*  Von  H.  örtel  in  Transactions  of  the  Conn.  Ac.  of  Arts  and 
Sc.,  vol.  XY.  1909. 


512  W.  Caland 

Mitteilungen  von  diesem  Brähmana  kennen,  veranlaßt  uns,  dem 
Wunsche  Ausdruck  zu  geben,  Ortel  möge  es  doch  unternehmen 
uns  den  ganzen  Text  zu  geben.  Wenn  auch  das  handschrift- 
liche Material  dürftig  ist,  da  sich  aus  Indien  kein  Zuwachs 
mehr  erwarten  läßt,  wird  man  sich  gerne  begnügen  mit  einer 
sei  es  denn  auch  in  einigen  Stücken  unvollkommenen  Ausgabe. 
Auf  den  Atharvaveda  beziehen  sich  mehrere  Arbeiten; 
zuerst  die  vorzügliche  Abhandlung  über  das  altindische  Zauber- 
wesen ^  von  Henry,  eine  Arbeit,  welche  ein  unveränderter  Neu- 
druck der  in  dieser  Zeitschrift  (VII  217)  von  Oldenberg  be- 
sprochenen ersten  Ausgabe  ist.  Es  ist  zu  bedauern,  daß  diese 
nach  dem  zu  frühen  Tode  des  so  verdienstlichen  Gelehrten 
erschienene  zweite  Ausgabe  ganz  unverändert  ans  Licht  ge- 
treten ist;  das  hätte  der  Verstorbene  selbst  wohl  nicht  gewünscht, 
da  ja  immer  eine  zweite  Ausgabe  auch  eine  noch  bessere  sein 
kann.  Sodann  hat  der  amerikanische  Gelehrte  L.  C.  Barret 
seine  mit  kritischen  Bemerkungen  versehene  Ausgabe  der  jetzt 
nur  in  Faksimile  vorliegenden  Paippaläda- Rezension  derAthar- 
vasamhitä  fortgesetzt.^  Diese  Fortsetzung  gibt  uns  das  zweite 
Buch,  das  manches  sonst  unbekannte  Lied  enthält.  Nicht 
jedermann  hat  die  Zeit  sich  so  in  die  schwierige  Särada-Schrift 
einzuarbeiten,  daß  er  das  Original  flott  liest.  Barrets  Arbeit 
ist  dem  Indologen  denn  auch  besonders  willkommen  und  am 
Ende  wird  auch  der  Religionsforscher  die  Früchte  dieser  müh- 
samen Arbeit  sammeln.  —  Das  zum  Atharvaveda  gehörige 
Vaitänasütra  ist  vom  Verfasser  dieser  Übersicht  aufs  neue  ins 
Deutsche  übersetzt  worden.'  Zwar  war  es  schon  früher  (1878) 
von  R.  Garbe  verdeutscht,  aber  da  diesem  damals  nicht  die 
nötigen    Hilfsmaterialien    in    so    großer  Fülle    zur  Verfügung 


'  La  magie  dans  V  Inde  antique  par  Victor  Henry,  2de  Ed. 
Paris  1909.  *  Journal  Amer.  Or.  Hoc.  vol.  XXX  pari  III,  1910. 

•  Das  VaitänoMitra  des  Atharvaveda  übersetzt  von  W.  Caland, 
Verh.  d.  K.  Äkad.  der  W.  te  Amsterdam,  Afd.  Lett,  nieuwe  reeks,  Deel  XI, 
no.  2,  Amsterdam,  Müller,  1910. 


Vedische  Religion  (1907—1910  513 

standen  nnd  nachher  noch  so  sehr  vieles  über  den  Atharva- 
veda  und  dessen  Texte  veröffentlicht  worden  ist,  war  diese 
Übersetzung  ungenügend.  Aus  Garbes  Übersetzung  selbst 
geht  zweifellos^  hervor,  daß  er  unseren  Text  als  ein  Srauta- 
sütra  der  gewöhnlichen  Art  und  zwar  als  ein  ädhvaryava-sütra 
betrachtet  hat,  während  es  nur  für  den  Brahman  und  seine 
Assistenten  (hauptsächlich  den  Brähmanäcchamsin)  gilt.  Das 
hatte  zur  Folge,  daß  Garbes  ganze  Auffassung  des  Textes 
verfehlt  war  und  daß  am  Ende  eine  ganz  neue  Bearbeitung 
nicht  ausbleiben  dürfte.  Auch  das  Verhältnis  des  Gopatha- 
brähmana  zum  Vaitänasütra  wird  endgültig  durch  die  erneute 
Untersuchung  des  Vaitänasütra  klargestellt:  das  Brähmana  ist 
nicht,  wie  Bloomfield  bewiesen  zu  haben  meinte,  jünger, 
sondern  älter  als  das  Sütra.  —  Die  letzte  mit  dem  Atharva- 
veda  sich  beschaffende  Arbeit  ist  die  Ausgabe  der  Parisistaa. 
Es  war  eine  schmerzlich  empfundene  Lücke  in  unserer  Kennt- 
nis des  Atharvaveda  und  des  altindischen  Zauberwesens,  daß 
noch  immer  keine  vollständige  Ausgabe  dieser  Paralipomena 
vorlag;  zwar  waren  zu  verschiedenen  Zeiten  von  verschiedenen 
Gelehrten  einzelne  Kapitel  herausgegeben  worden,  aber  das 
Ganze  noch  nicht.  Die  Tatsache,  daß  jetzt  zwei  Gelehrte,  ein 
Amerikaner  und  ein  Deutscher,  sich  vereinigt  haben,  um  diese 
Lücke  auszufüllen,  ist  mit  Freude  zu  begrüßen.*  Der  Text 
liegt  nun  ganz  vor  uns  und  man  kann  den  beiden  Gelehrten 
nur  herzlich  dankbar  dafür  sein,  daß  sie  diese  mühevolle 
Arbeit  unternommen  haben,  um  einen  fehlerfreien  Text  her- 
zustellen, dazu  waren  die  handschriftlichen  Materialien  freilich 
nicht  immer  hinreichend,  da  es  aber  nicht  wahrscheinlich  war, 
daß   noch   mehr    Handschriften    aufgetrieben    werden    können. 


^  Dies  „zweifellos"  bezieht  sich  auf  die  Anm.  B.  Keiths  im  J.  R.  A. 
S.  1910,  S.  934. 

*  Tfie  paribistas  of  the  Atharvaveda  edited  hy  G.  M.  Bölling  and 
J.  von  Xegelein,  vol.  I:  Text  and  critical  apparatus.  Leipzig,  Harrasso- 
witz,  1909/10. 

Archiv  f.  Beligionswissenschaft  XTV  33 


514  ^-  Caland 

haben  die  beiden  Gelehrten  m.  E.  recht  getan,  ihr  Unternehmen 
deshalb  nicht  aufzugeben.  In  der  Einleitung  wird  vieles  ver- 
sprochen, dem  wir  mit  Spannung  entgegensehen:  der  Textaus- 
gabe wird  eine  Abhandlung  folgen,  dealing  with  tJie  many 
grammatical  and  lexicographical  peculiarities  whicli  the  text  pre- 
sents  and  containing  also  a  numher  of  unpublished  texts  that 
throw  light  upon  the  subjed  matter  of  the  Farisistas}  Dann 
wird  auch  eine  Übersetzung  mit  exegetischem  Kommentar  in 
Aussicht  gestellt.  Die  Bedeutung,  welche  diese  Arbeit  auch 
für  die  Religionsgeschichte  haben  wird,  kann  erst  nach  der 
Übersetzung  ins  volle  Licht  kommen;  daß  er  von  großer  Be- 
deutung sein  wird,  lehrt  uns  schon  die  Inhaltsangabe.  Von 
hohem  Interesse  sind  z.  B.  die  Abschnitte,  die  von  der  Be- 
hexung handeln.  Hier  dürfte  besonders  ein  Abschnitt  hervor- 
gehoben werden,  nämlich  derjenige,  in  welchem  die  Art  und 
Weise  angegeben  wird,  wie  bei  Behexung  das  Hauptgebet  der 
Inder,  die  Savitr-Strophe,  von  hinten  nach  vorne  herzusagen 
ist  (der  anulomakalpa,  34,  der  eigentlich  pratilomakalpa  heißen 
müßte).  Es  dürfte  bis  jetzt  noch  wenig  bekannt  sein,  daß 
diese  in  Behexungszauberriten  und  Beschwörungen  so  viel 
vorkommende  Rezitationsweise  auch  dem  älteren  Yeda  nicht 
fremd  ist.  So  lehrt  uns  z.  B.  das  Ritual  des  Schwarzen  Yajur- 
veda,  daß  wer  einen,  der  zum  Opferpriesteramt  gewählt  worden 
ist,  davon  ausschließen  will,  Butterspenden  darbringen  soll, 
stehend  und  mit  dem  Angesicht  nach  Westen  (statt  nach 
Osten,  wie  in  reim  faustis)  gekehrt,  indem  er  dazu  gewisse 
heilige  Formeln  von  hinten  nach  vorne  rezitiert  und  nach 
jeder  Formel  eine  Pause  macht:  dadurch  wird  er  es  erreichen, 
daß  ihm  (dem  Behexten)  der  Atem  ausgehen  wird.  Wünscht 
er  diesen  Zauber   aufzuheben,    so    bringt    er    dieselben  Opfer- 


'  Es  dürfte  den  Bearbeitern  der  Pariöistas  wichtig  sein  zu  ver- 
nehmen, daß  die  Pariöistas  zum  Baudb.  grhs.  manche  Parallele  bieten, 
z.  B.  zum  Dbürtakalpa;  einige  von  den  hier  gegebenen  Mantras  finden 
sich  auch  doii. 


Vedische  Religion  (1907  —  1910)  515 

spenden  dar,  aber  jetzt  nach  Osten  gekehrt,  sitzend  und  die 
Formehl  in  ihrer  gewöhnlichen  Reihenfolge  flüsternd,  ohne  eine 
Pause  zu  machen.^  Wichtig  ist  auch  das  freilich  ebenso  von 
anderswoher  bekannte  Blicken  in  flüssige  Butter  (par.  8):  ein 
Zeremoniell,  das  dem  Ausübenden  ein  langes  Leben  sichert' 
Interessant  ist  die  Beschreibung  der  rituellen  Wiedergeburt 
(hiranyagarbhavidhi,  par.  13):  der  Fürst  soll  während  siebzehn 
„Momenten"  (Zeiteinheiten)  in  einem  goldenen  Gefäß  verbleiben, 
beim  Hinaustreten  wird  er  mit  einem  goldenen  Wagenrad 
niedergedrückt.  Über  diesen  Ritus  und  verwandte  Zeremonien 
hat  zuletzt  ausführlich  und  anregend  Zachariae  in  seinem 
Aufsatz  „Scheingeburt"  gehandelt.  ^  Überzeugt  von  der  großen 
Wichtigkeit  dieser  Publikation  wird  man  den  Verfassern  den 
Mut  und  die  Kraft  wünschen,  um  die  so  schon  begonnene 
Arbeit  in  nicht  allzu  langer  Zeit  zu  vollenden.  * 

Schließlich  seien  kurz  einige  Arbeiten  erwähnt,  die  sich 
mit  den  Upanisads  und  der  philosophischen  Literatur  beschäftigen, 
zuerst  das  vorzügliche  Buch  Oltramares'',  das  eine  rein  ob- 
jektive und  streng  wissenschaftliche  Darstellung  der  in  den 
Upanisads  niedergelegten  Anschauungen,  des  Vedänta,  der 
Sänkhyalehre  und  des  Yoga  enthält.  Zur  Einführung  in  die 
Lehre  der  Upanisads  dient  die  von  P,  Deussen  zum  zweiten 
Male  herausgegebene  „Geheimlehre  des  Veda"*,  eine  Arbeit, 
der    sich    die    von  demselben  Verfasser  geschriebene  Outlines 

'  Vgl.  Taitt.  Br.  II.  3.  2.  1—2,  Äpast.  srs.  XIV.  15.  1 ;  vgl.  auch 
TS.  m.  4.  8.  5  und  Baudh.  'srs.  XIY.  18:  183.  18. 

*  Vgl.  dazu  des  Verf.  Altind.  Zauberritual  S.  32.  Anm.  7,  Altind. 
Zauberei,  S.  114. 

'  Zeitschr.  des  Ver.  für  Volksk.  in  Berlin  IdlO,  Heft  2. 

*  Eine  kurze  Bemerkung  textkritischer  Art  möge  hier  noch  Raum 
finden:  par.  46.  25  ist  doch  srucam  beizubehalten,  wie  aus  meiner 
Ubers.  des  Yaitänasütra  ersichtlich  ist  (S.  20). 

'"  L'  Histoire  des  idees  the'osophiques  dans  VInde  par  P.  Oltramare, 
professeur  ä  V  Univ.  de  Geneve,  T.  I.  La  theosophie  brahmanique.  Paris, 
Leroux  1907. 

*  Leipzig,  Brockhaus,  1907. 

SS* 


516  "W.  Caland 

of  Indian  Phüosophy  wiih  an  appendix  on  the  Vedänta  ^  aufs 
schönste  anschließt.  Eine  rein  wissenschaftliche  Arbeit  ist 
auch  Speyers  de  Indische  Theosophie  en  hare  heteekenis  voor 
ans  ^,  welche  eine  vorzügliche  Gesamtdarstellung  der  indischen 
philosophischen  Lehre  von  der  ältesten  Zeit  an  enthält.  — 
Ausschließlich  die  Yoga-Lehre  und  Yoga-Praxis  beschreibt 
K  Schmidt  in  seinem  „Fakire  und  Fakirtum  im  alten  und 
modernen  Indien".^  Mit  den  nicht-arischen  Einwohnern  Indiens 
endlich  beschäftigt  sich  das  Werkchen:  „Einführung  in  die 
Kolsmission"^;  als  besonders  interessant  seien  daraus  die  Ab- 
schnitte über  Sitten  und  Gebräuche  und  über  die  Religion  der 
Kols  hervorgehoben. 

1  Berlin,  Curtius,  1907.  *  Leiden,  S.  C.  v.  Doesburgh,  1910. 

»  Berlin,  Barsdorf,  1908. 

*  von  Missionar  F.  Hahn;  Gütersloh,  Bertelsmann,  1907. 


4  Griechische  und  römische  Religion  1906—1910 

Von  Richard  Wünsch  in  Königsberg  Pr. 

Den  letzten  Bericht  über  die  Forschungen  zur  antiken  Reli- 
gion hat  A.  Dieterich  geschrieben;  er  umfaßt  die  Jahre  1903 — 05.^ 
Über  die  Bücher,  die  1906  und  1907  erschienen  sind,  hatte  sich 
Dieterich  Aufzeichnungen  gemacht,  die  sich  aber  in  seinem  Nach- 
laß nicht  gefunden  haben.  So  mußte  für  diese  Jahre  die  Arbeit 
nachgeholt  werden;  dadurch  hat  sich  das  Erscheinen  dieses  Be- 
richts verzögert. 

An  Quantität  sehr  groß  sind  die  Veröffentlichungen  über 
die  Religionen  des  Altertums,  die  das  letzte  Lustrum  gezeitigt 
hat.  Sie  alle  auch  nur  aufzuzählen  ist  unmöglich.  Hat  doch 
schon  0.  Gruppe  645  Seiten  gebraucht,  um  sein  Repertorium 
„Die  mythologische  Literatur  aus  den  Jahren  1898  — 1905" 
(Jahresber.  über  die  Fortschr.  der  klass.  Altertumswiss.  Bd  137, 
Leipzig  1908)  zu  schaffen,  und  auch  er  hat  eine  Auswahl  treffen 
müssen.  Zwar  die  selbständigen  Publikationen  habe  ich  ver- 
sucht möglichst  vollzählig  aufzuführen;  was  fehlt,  ist  mir  nicht 
bekannt  geworden  oder  nicht  zugänglich  gewesen.  Aber  weg- 
gelassen habe  ich  möglichst  viel  solche  Bücher,  die  sich  auf 
Grenzgebieten  bewegen  und  in  anderen  Berichten  (über  all- 
gemeine Religionswissenschaft,  klassische  Archäologie  und  Ur- 
christentum) besprochen  werden.  Ferner  gebe  ich  nur  in  Aus- 
wahl die  Aufsätze  aus  Zeitschriften,  obwohl  mir  von  vielen 
Seiten  Separata  mit  dem  Wunsche  einer  Erwähnung  zugegangen 
sind.  Der  Raum  verbietet  mir,  allen  diesen  Wünschen  nach- 
zukommen; auch  wird  ja  über  solche  Aufsätze  in  der  „Zeit- 
schriftenschau" der  „Hessischen  Blätter  für  Volkskunde"  aus- 
führlich gesprochen.     Zwar  ist  bis  jetzt  seit  1905  eine  solche 

^  Archiv  YIII  1905  S.  474—510. 


518  Richard  Wünsch 

Zeitschriftenscliau  nicht  mehr  erschienen,  aber  es  besteht  die 
begründete  Hoffnung,  daß  diese  dringend  notwendigen  Jahres- 
berichte, und  zwar  zu  einer  vollständigen  Bibliographie  erweitert, 
fortgeführt  und  nachgeholt  werden. 

Vorangestellt  seien  diejenigen  Arbeiten,  die  uns  das  antike 
Material  vorlegen,  über  die  neuen  Funde,  die  in  Griechenland 
selbst  und  auf  den  Inseln  gemacht  worden  sind,  hat  Gr.  Karo 
berichtet  (Archiv  XII  356 ff.).  Aber  auch  Kleinasien  hat 
uns  wichtige  Monumente  beschert:  so  durch  die  deutschen 
Ausgrabungen  in  Pergamon,  die  von  den  Athenischen  Mit- 
teilungen laufend  registriert  werden.  Davon  hat  der  Altar  mit 
der  Weihung  d'eolg  dylvaßtoLg  wegen  seiner  Beziehung  zu  Acta 
Apost.  XVII  23  Aufsehen  erregt.  Leider  ist  die  Ergänzung 
nicht  sicher  (H.  Hepding  Ath.  Mitt.  XXXV  1910,  455). 
Namentlich  für  Phrygien  und  seine  Religion  in  der  Kaiserzeit 
ist  eine  Fundgrube  der  Sammelband  W.  M.  Ramsay's,  Studies 
in  the  History  and  Art  of  the  Eastern  Provinces  of  the  Boman 
Empire,  Aberdeen  1906.  Wir  lernen  hier  neue  Götter  {Zsvg 
EvQvdafiTjvög  S.  389)  und  eigenartige  Kultvereine  (laVot  Tsxfio- 
Qstoi  S.  319)  kennen;  Grabbauten  werden  dem  Toten  und  zu- 
gleich einem  Gotte  errichtet  {övfißCo)  Ndva  xh  zJil  Bqovx&vxi 
S.  270):  da  ist  der  Grabstein  eine  Weihung  an  denjenigen  Gott, 
in  welchen  der  Tote  eingegangen  ist  (S.  273).  Sonderbar  ist 
in  einer  Grabschrift  die  Beschwörung  (S.  164)  oQy,lt,ci  ts 
Mfjvas,  töv  t£  ovQccvLov  xai  tovg  xaxax^ovlovg.  Da  scheint 
mir  die  alte  Vorstellung  (Usener,  Götternamen  S.  288)  durch- 
zuschimmern, daß  der  Mond  im  letzten  Viertel  stirbt,  um 
einem  neuen  lebenden  Monde  Platz  zu  machen.  —  Für 
Italien  haben  wir  jetzt  übersichtliche  Jahresberichte  in  der 
gut  geleiteten  und  prächtig  ausgestatteten  Zeitschrift  Ausonia 
(Uivista  della  socictä  Italiana  dt  archeologia  e  storia  ddV  arte 
I  1906,  121  ff.,  III  1908  Bollettino  Uhliografico  Iff.,  IV  1910 
fasc.  II  17ff.  —  „Die  Insel  Malta  im  Altertum"  von  A.  Mayr, 
München  1 909,  betrachtet  die  maltesischen  Funde  auch  religions- 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  519 

oreschichtKcli.  Die  urgeschichtlicheu  elliptisclien  Bauten  (S.29ff.) 
werden  als  Grabanlagen  gedeutet.  Die  Kulte  historischer  Zeit 
:-ind  von  S.  120  an  zusammengestellt:  Phonizisches  verbindet 
sich  mit  Ägyptischem  und  Griechischem  zu  lehrreichen  Bei- 
spielen von  Synkretismus.*  Die  Geschichte  der  Religioneu, 
derart  auf  ein  begrenztes  Gebiet  beschränkt,  ist  besonders  er- 
tragreich, und  man  möchte  mehr  derartige  Monographien  besitzen. 
Von  großer  Bedeutung  sind  die  Inschriften.  Die 
neuen  Lieferungen  der  Inscriptiones  Graecae  und  des  Corpus 
Inscripfionum  Lafinarum  brauche  ich  nicht  aufzuzählen.  Von 
H.  Dessaus  handlicher  Sammlung  der  Inscriptiones  Latinae 
seledae  ist  1906  ein  neuer  Teil  erschienen  (112),  der  u.  a.  die 
Grabschriften  enthält.  Die  seit  1906  erscheinenden  Melanges 
de  la  faciilte  Orientale  de  Vuniversite  S.  Joseph  de  Berjrouih 
bringen  manchen  epigraphischen  Beitrag,  so  I  132,  11  265  ff. 
L.  Jalabert  Inscriptions  grecques  et  latines  de  la  Syrie  (von 
Gräbern,  aus  dem  Kult  des  Aeskulap,  der  Götter  von  Helio- 
polis,  des  Sarapis:  hier  eine  merkwürdige  Weihung  für  einen 
geheilten  Fuß,  die  zu  den  Denkmälern  bei  Röscher  Myth. 
Lex.  IV  382  gehört);  III  437 ff.  de  Jerphauion  und  L.  Jalabert 
Inscriptions  d'Asie  mineure.  —  A.  Wilhelm,  Beiträge  zur 
griechischen  Inschriftenkunde,  Sonderschriften  des  österr.  archäoL 
Instituts  in  Wien,  VII  1909,  ergibt  mancherlei  auch  für  die 
griechische  Religion.  Ich  notiere  als  bemerkenswert  die  Aus- 
führungen über  Fluchtexte  (S.  12,  98,  160):  erhobene  Hände 
auf  Gräbern   von   Ermordeten   (S.  201,   320);    phallosähnliche 

^  S.  129  sagt  Mayr,  die  These  meines  Buches  Das  Frühlingsfest  der 
Insel  Malta,  wonach  sich  bis  ins  X^^.  Jahrhundert  dort  der  Rest  einer 
Adonisfeier  erhalten  hätte,  sei  durch  E.  Lübeck  Adoniskult  und  Christen- 
tum auf  Malta  als  nicht  begründet  erwiesen.  Unrichtig  war  es  von  mir, 
das  Fest,  an  dem  jener  an  die  Adonisfeier  mahnende  Brauch  geübt 
wurde,  auf  Johannis  den  Täufer  zu  beziehen  (s.  meine  Ausführungen 
Berl.  philol.  Wochenschr.  1904,  1457);  es  war,  wie  Lübeck  richtig  gezeigt 
hat,  die  Charwoche.  Daß  aber  in  deren  Begehungen  sich  Reste  des  alten 
Adoniskultes  nicht  gehalten  haben,  ist  m.  E.  noch  nicht  bewiesen,  sondern 
bedarf  einer  neuen  Untersuchung. 


520  Richard  Wünsch 

Grabsteine  (S.  73);  Weihung  einer  Mondsichel  an  Hermes  (S.  90); 
Inschrift  der  Göttin  'Oq^itj  (S.  93);  Hermes  Pyletes  und  Ge 
Hemeros  (S.  95);  Reste,  leider  sehr  kümmerliche,  eines  Paians 
des  Sophokles  auf  Asklepios  (S.  103). 

Von  vielen  Texten  der  antiken  Literatur,  die  sich  auf 
die  Religion  beziehen,  hat  die  Berichtsperiode  neue  Ausgaben 
und  Sammlungen  gebracht.  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker 
von  H.  Di  eis  sind  in  zweiter  Auflage  erschienen  (I  1906, 
III  1907,  112  1910);  neu  hinzugekommen  ist  ein  Stellenregister 
und  ein  Wortindex,  die  den  Wert  dieses  unentbehrlichen  Quellen- 
vrerks  noch  gesteigert  haben.  Von  späteren  philosophischen 
Schriften  erscheinen  diejenigen  Ciceros  in  neuer  Auflage  von 
0.  Piasberg  (I  Paradoxa  Stoicorum,  Äcademicorum  reliqiiiae 
cum  Lucullo,  Timaeus  etc.)  Teubner  1908,  einiges  für  die  Götter- 
lehre Epikurs  gibt  Diogenes  von  Oenoanda  aus  (ed.  J.  William, 
Teubner  1907).  Die  Spekulationen  der  Neuplatoniker  werden 
uns  durch  Ausgaben  des  Proklos  näher  gebracht  (In  Piatonis 
Timaeum,  777  von  E.  Diehl,  Teubner  1906;  In  Piatonis  Crotylum 
von  G.  Pasquali,  Teubner  1908).  Die  Teubner -Ausgabe  des 
Libanios  von  R.  Förster  war  bis  1910  um  Band  III — V  fort- 
geschritten: jetzt  hat  man  die  wichtige  Rede  tcqos  ©sodoöiov 
xbv  ßaöiXsa  vjthQ  t&v  Isqcov  bequem  zur  Hand.  A.  Lud  wich 
hat  uns  eine  neue  Ausgabe  des  Nonnos  von  Panopolis  und 
seiner  religionsgeschichtlich  noch  längst  nicht  ausgeschöpften 
Dionysiaca  geschenkt  {1 1909  Teubner).  Von  Quellen  in  römischer 
Prosa  sind  neu  ediert  M.  Terentius  Varro  de  lingua  latina  durch 
G.  Götz  und  Fr.  Scholl  (Teubner  1910;  man  übersehe  nicht 
die  Ädfiotationes  am  Schlüsse  des  Buches)  und  Suetons 
' Caesarea  durch  M.  Ihm  (C.  Suetonii  Tranquilli  opera  I 
Teubner  1907).  Von  römischen  Dichtern  hat  Manilius  eine 
erklärende  Ausgabe  durch  Th.  Breiter  erhalten  (I  Carmina, 
II  Kommentar,  Leipzig  1907/08):  wenn  man  auch  der  Text- 
behandlung nicht  überall  beistimmen  kann,  ist  man  doch  der 
Belehrung  des   zweiten  Bandes  dankbar. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  521 

Wie  die  römische,  so  hat  auch  die  griechische  Astrologie 
neue  Textaufgaben  aufzuweisen:  Johannes  Kamateros  siöayayfi 
uötQOvouCag,  Teubner  1908,  bearbeitet  von  L.  Weigl.  Was 
das  Buch  enthält,  sagt  der  Untertitel:  ein  Kompendium  griechischer 
Astronomie  und  Astrologie,  Meteorologie  und  Ethnographie.  Auch 
der  Catalogus  codicum  astrologorum  Graecorum  schreitet  rüstig 
vorwärts.  Das  Berichtslustrum  hat  uns  folgende  Bände  gebracht: 
Bd  V  Codices  Bomani  Teü  II  von  W.  Kroll,  Brüssel  1906 
(enthält  im  wesentlichen  Exzerpte  aus  Yettius  Valens,  den 
Kroll  inzwischen  durch  seine  sehr  verdienstliche  Editio  princeps 
ganz  bekannt  gemacht  hat:  Vettii  Valentis  Änthologiarum  libri, 
Berlin  1908),  Teil  III  von  Jos.  Heeg,  1910;  Bd  VII  Codices 
Germanici  von  Fr.  Boll  1908.  In  diesem  Band  ist  236 ff.  ein 
Abriß  der  Chiromantie  und  S.  105  eine  christliche  Fluch- 
formel beachtenswert,  welche  mit  denselben  Formeln  arbeitet 
wie  die  antiken  dgai.  Es  müßte  einmal  systematisch  auf 
solche  mittelalterlichen  Zauberformeln  geachtet  werden,  die 
vielfach  als  Blattfüllsel  sich  in  griechischen  und  lateinischen 
Codices  finden:  sie  bilden  die  Brücke  vom  antiken  zum  modernen 
Zauber. 

Von  älteren  christlichen  Schriften  erwähne  ich  nur,  was 
sich  näher  mit  der  Antike  berührt,  Apologie  und  Polemik. 
J.  Geffcken  legt  Aristeides  und  Athenagoras  in  einer  wert- 
vollen kommentierten  Ausgabe  vor  (Zwei  griechische  Apologeten, 
Teubner  1907),  die  zugleich  die  Geschichte  der  christlichen 
Apologetik  zeichnet:  sie  schließt  sich  an  die  jüdische  Apologetik 
späterer  Zeit  an,  die  ihrerseits  schon  die  Polemik  der  grie- 
chischen Philosophen  gegen  den  hellenischen  Polytheismus  auf- 
genommen hat.  Erfreulich  ist  auch,  daß  wir  durch  K.  Ziegler 
eine  sorgfältige  Ausgabe  von  Firmicus  Maternus  De  errore 
profanarum  religionum  (Teubner  1907)  erhalten  haben. 

Das  hagiographische  Gebiet  hat  den  Philologen 
H.  Usener  erschlossen.  Von  ihm  ist  nach  seinem  Tode  durch 
A.Brinkmann  herausgegeben  worden:  Sonderbare  Heilige,  Texte 


522  Richard  Wünsch 

und  Untersuchungen.  I  Der  h.  Tychon,  Teubner  1907.  Usener 
will  zeigen,  wie  der  dem  antiken  Priapos  nahestehende  Frucht- 
barkeitsdämon  Tychon  von  der  christlichen  Kirche  übernommen 
und  zu  einem  Heiligen  umgebildet  worden  ist.  Die  griechischen 
Texte,  die  vom  Leben  und  von  den  Wundern  des  h.  Tychon 
berichten,  werden  ediert;  der  Ausgabe  sind  Untersuchungen 
über  Johannes  Eleemon,  den  Verfasser  des  Haupttextes,  über 
Sprache  und  Stil  seiner  Schrift  beigefügt,  die  für  den  Philo- 
logen bleibenden  Wert  haben.  Zum  Nachweis,  daß  der  christ- 
liche Tychon  der  Nachfolger  des  heidnischen  ist,  verbindet 
Usener  die  Nachrichten  über  den  Dämon,  der  Schutzherr  der 
Weinberge  gewesen  ist,  mit  einem  Wunder  des  Heiligen,  der 
als  Bischof  von  Amathus  auf  Cypern  aus  einem  verdorrten 
Steckling  frühreife  Trauben  erzielt.  Aber  Tychon  ist,  wenn 
auch  an  anderem  Ort  (Usener  S.  16),  als  kyprischer  Bischof 
historisch  bezeugt;  daß  in  weinreicher  Gegend  ein  Bischof 
Patron  der  Vignen  wurde,  ist  begreiflich.  Dann  aber  konnte 
er  durch  ein  Wunder  im  Weinberg  seine  Macht  über  die  Rebe 
beweisen,  ohne  daß  das  treibende  Motiv  zur  Entstehung  der 
Legende  die  bewußte  Anknüpfung  an  einen  gleichnamigen 
heidnischen  Dämon  gewesen  wäre.^ 

Als  Heft  n  der  sonderbaren  Heiligen  woUte  Usener  die 
Legenden  der  Pelagia,  die  er  1879  herausgegeben  hatte,  neu 
erscheinen  lassen.  Es  war  ihm  nicht  vergönnt,  diese  Arbeit 
zu  Ende  zu  führen.  Daß  er  zur  Vermehrung  der  Texte  ge- 
sammelt hattej  soll,  wie  Brinkmann  in  seiner  Vorrede  zum 
Tychon  verheißt,  nicht  ungenutzt  bleiben.  Vorläufig  ist  die 
Einleitung  zur  Pelagia  neu  gedruckt  worden  in  Useners  Vor- 
trägen und  Aufsätzen,  die  A.  Dieterich  bei  Teubner  1907  er- 
scheinen ließ :  acht  Abhandlungen,  für  einen  weiteren  Leserkreis 
ausgewählt.  Religionsgeschichtliches  behandeln  von  ihnen  noch 
die   Abhandlungen:    Mythologie    S.   37  ff.,    Über   vergleichende 


'  S.  H.  Delehaye  Anal.  Boll.  XXVI  1907  S.  244f. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  523 

Sitten-  und  Rechtsgeschichte  S.  103  ff.,  Geburt  und  Kindheit 
Christi  S.  159 ff.,  Die  Perle,  aus  der  Geschichte  eines  Bildes 
S.  21 7  ff.  Dieser  Band  ist  eine  Abschlagszahlung  auf  die 
Gesamtausgabe  der  kleinen  Schriften  Useners;  sie  wird  vor- 
bereitet, die  religionsgeschichtlichen  Abhandlungen  werden  im 
zweiten  Bande  stehen. 

Die  griechischen  Texte,  die  das  Leben  und  die  Wunder 
der  heiligen  Arzte  schildern,  sind  ediert  von  L.  Deubner 
(Kosmas  und  Damian,  Texte  und  Einleitung,  Teubner  1907). 
Die  Ausgabe  legt  in  sauberer  Textbehandlung  viel  neues 
Material  vor.  In  der  Vorrede  werden  ausführlich  „die  Anfänge 
des  Kultus"  behandelt.  Von  den  verschiedenen  Heiligenpaaren, 
welche  die  Kirche  unter  dem  Namen  Kosmas  und  Damian  ver- 
ehrt, hält  Deubner  das  Paar  von  Konstantinopel  für  das  älteste 
und  vermutet,  daß  es  sich  dort  aus  dem  heidnischen  Götter- 
paar Kastor  und  Pollux  entwickelt  habe  (S.  52 ff.).  Diese  An- 
knüpfung hat  der  Verfasser  inzwischen  aufgegeben  (Berl.  philol. 
Wochenschr.  1910  Sp.  1286). 

An  die  sprachlichen  Denkmäler  schließe  ich  an.  was  durch 
Sprachwissenschaft  und  Sprachbeobachtung  in  den  letzten 
Jahren  die  Religionsgeschichte  an  Förderung  erfahren  hat.  Ein 
neues  Organ  ist  hier  entstanden,  das  wegen  seines  Zweckes,  die 
Betrachtung  des  Griechischen  und  Lateinischen  durch  sprach- 
wissenschaftliche Methode  zu  befruchten,  freudig  willkommen  zu 
heißen  ist:  denn  gute  Erklärung  des  Wortes  ist  gute  Erklärung 
der  Sache.  Von  dieser,  durch  P.  Kretschmer  und  F.  Skatsch 
geleiteten  Glotta  erschien  Band  I  1909,  11  1910.  Ich  weise 
hin  auf  P.  Kretschmer,  Remus  und  Romulus  (I  288 ff.),  der 
drei  Etappen  der  römischen  Gründungslegende  ansetzt:  zuerst 
gab  es  einen  von  den  Griechen  erfundenen  Eponymen  Rhomos, 
dann  wurde  dieser  von  den  Römern  durch  Remus  ersetzt, 
endlich  erfand  man  den  Romulus,  der  aber  den  Remus  nicht 
zu  verdränger  vermochte  und  so  zu  dessen  Bruder  wurde.  — 
Glotta  11  219  ff.  habe  ich  versucht,  eine  neue  Etymologie  von 


524  Richard  Wünsch 

amuletum  zu  begründen:  ich  fasse  es  als  eine  Weiterbildung 
von  amulum  in  der  Bedeutung  „Speise  aus  Weizenmehl";  aus 
dem  ursprünglichen  Sinn  „kräftigende  Speise"  hat  sich  später 
der  allgemeinere  „unheilabwehrendes  Mittel"  entwickelt.  Glotta 
III  34ff.  hat  L.  Deubner  die  Bedeutungsgeschichte  von  strena 
geschrieben.  —  Von  Dissertationen,  welche  die  Sprachgeschichte 
eines  religiös  bedeutsamen  Wortes  untersuchen,  erwähne  ich: 
P.Stein  TsQag,  Marburg  1909.  Ta^ag  bedeutet  für  die  Physiker 
ein  Ding,  dessen  Entstehung  oder  Form  vom  Naturgesetz  abweicht. 
Häufig  haben  solche  Tigata  den  Auftrag,  auf  übernatürliche 
Weise  den  Menschen  die  Zukunft  zu  offenbaren;  bei  Homer 
sendet  Zeus  solche  Zeichen,  etwa  einen  unerwarteten  Donner. 
Meist  kündet  Derartiges  ein  Unglück  an,  und  dadurch  werden 
die  TsQara  zum  Gegenstand  religiöser  Scheu.  —  Mit  Fragen 
lateinischer  Bedeutungsgeschichte  befassen  sich  die  beiden 
Königsberger  Dissertationen  von  1910:  W.  Link  De  vocis 
ySanctus"  usu  pagano  und  M.  Kobbert  De  verhorum  „religio^' 
atque  „religiosus''  usu  apud  Romanos.  Beide  sind  als  Vor- 
arbeiten für  eine  spätere  ausführliche  Behandlung  gedacht. 

Eine  neue  Deutung  eines  Götternamens  gibt  0.  Ho  ff  mann 
Poseidon,  84.  Jahresber.  der  Schles.  Ges.  für  vaterl.  Kultur  1906, 
Abt.  IVb  S.  8 ff.:  Poseidon  ist  nicht  von  Anfang  an  Herr  des 
Meeres,  sondern  yaiäfoxos  „der  über  die  Erde  fährt  mit  dem 
Wagen".  Also  ist  sein  Name  nicht  mit  dem  Wasser  (.toTog, 
xota[i6g)  zusammenzubringen;  die  dialektischen  Formen  führen 
auf  einen  Vokativ  als  Grundform,  :t6reL  /iäfcov.  der  erste 
Bestandteil  bedeutet  „Herr",  der  zweite  ist  der  eigentliche  un- 
deutbare Gottesname.  —  F.  Solmsen  hat  als  eine  der  letzten 
Proben  seiner  ausgezeichneten  Art,  wissenschaftliche  Gründlich- 
keit und  Klarheit  der  Darstellung  zu  vereinigen,  ^08v66ev(s 
als  den  Namen  eines  alten  Gottes  „der  Zürner"  und  IltjvsXözy] 
als  Femininum  zu  TtijvsXoil;  „bunthalsige  Ente"  erklärt  (Kuhns 
Ztschr.  XLII  1909,  207 ff.):  das  ist  ein  beachtenswerter  Rest 
theriomorpher  Vorstellungen  von  einer  entengestaltigen  Göttin. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  525 

Bemerkenswert  ist  Job.  Schöne,  Griechische  Personennamen 
als  religionsgeschichtliche  Quelle,  Progr.  Düsseldorf  1906.  Er 
stellt  theophore  Doppelnamen  zusammen,  die  aus  griechischen 
und  ägyptischen  Göttern  gebildet  sind  Qäxökldtvios  6  xal 
'  SlQvysvrjg),  und  schließt  von  ihnen  auf  Wesensgleichheit  der 
beiden  Gottheiten  (^Apollon  und  Horos).  Wenn  dies  Prinzip  sich 
als  durchführbar  erweist,  ist  mit  ihm  ein  wichtiges  sprach- 
liches Mittel  zur  Aufklärung  von  Synkretismen  gefunden 
worden.  Aber  auch  merkwürdige  Blüten  treiben  die  Versuche, 
durch  Etymologien  die  Herkunft  der  antiken  Religion  zu  er- 
gründen. K-  Schmidt,  Das  Geheimnis  der  griechischen 
Mythologie  und  der  Stein  von  Lemnos,  Gleiwitz  1908,  beweist 
den  semitischen  Ursprung  des  griechischen  Mythos  durch 
solche  Namen,  die  sich  leichter  aus  dem  semitischen  als  aus 
dem  griechischen  herleiten  lassen.  Dazu  gehören  Terpon  Soteira 
Epilysamene  Epimachos.  Das  Buch  von  K.  Stuhl,  Das  alt- 
römische Arvallied  ein  urdeutsches  Bittgebet,  Würzburg  1909, 
trägt  seinen  Inhalt  schon  im  Titel,  nevd  ist  deutsch  „Nebel" 
und  so  durch  das  ganze  Lied  durch. 

Ich  gehe  zu  den  Hilfsmitteln  lexikalischen  Charakters 
über.  Die  großen  Unternehmungen  dieser  Art  haben  sämtlich 
ihre  Fortschritte  zu  verzeichnen.  W.  H.  Roschers  „Ausführ- 
liches Lexikon  der  griechischen  und  römischen  Mythologie" 
ist  in  der  Berichtsperiode  von  .,Phönix"  bis  „Seismos"  gediehen. 
Dieser  Abschnitt  enthält  folgende  bedeutendere  Artikel:  zur 
griechischen  Religion  Poseidon,  Prometheus,  Pythios,  Satyros 
und  Silene,  Priapos,  Seirenen,  Psyche;  zur  römischen  Religion 
Saturnus,  Roma,  Romulus,  Quirinus;  über  fremde,  für  den 
späteren  Synkretismus  wichtige  Gottheiten:  Sabazios,  Sarapis, 
und  die  Planetengötter.  —  Pauly's  Realencyclopädie  der 
klassischen  Altertumswissenschaft,  deren  neue  Bearbeitung  von 
G.  Wissowa  begonnen  wurde  und  nun  von  W.  Kroll  fort- 
geführt wird,  ist  von  „Ephoros"  bis  „Furtum"  fortgeschritten. 
Hier   treten    zu    den   rein   mythologischen   Stichworten   (Eros, 


526  Richard  Wünsch 

Flußgötter,  Fortuna,  Furiae),  die  man  auch  bei  Röscher  findet, 
Artikel  über  Sakralaltertümer  (Escbara,  Fasti;  Eumolpidai, 
Fetiales,  Flamines)  und  volkstümlichen  Aberglauben,  der  sich 
an  Pflanzen  (Feige)  und  Tiere  (Esel,  Eule,  Fledermaus,  Frosch, 
Fuchs)  anschließt.^  —  Das  Dictionnaire  des  antiquites  grecques 
et  romaines  von  Daremberg,  Saglio  und  Pottier  hat  die 
Artikel  „Paries"  bis  „Stamnos"  geliefert.  Außer  den  mytho- 
logischen Stichworten,  von  denen  man  einen  Teil  auch  neben 
Röscher  benutzen  wird,  notiere  ich  als  beachtenswert  für  Kultus- 
altertümer: Pontifices,  Salii,  Sibyllae;  Saturnalia,  Sepulcrum, 
Securis  und  die  ganze  Wortsippe  von  sacer. 

Eine  Erwähnung  verdient  auch  das  „Reallexikon  der  prae- 
historischen,  klassischen  und  frühchristlichen  Altertümer"  von 
R.  Forrer,  Berlin  und  Stuttgart  1907.  Zwar  in  den  religions- 
geschichtlichen Artikeln  wird  es  wenigen  Benutzern  genügen,  wohl 
aber  ist  es  als  erste  Hilfe  in  prähistorischen  Fragen  willkommen. 

Unter  den  Sammelwerken  nenne  ich  zunächst  die  Religions- 
geschichtlichen Versuche  und  Vorarbeiten,  die  von  Dieter  ich 
und  mir  gegründet  sind;  an  Dieterichs  Stelle  ist  L.  Deubner 
in  die  Redaktion  eingetreten.  Seit  dem  letzten  Bericht  sind 
Band  III  Heft  1  bis  Band  IX  Heft  3  erschienen.  A.  Abt  (Die 
Apologie  des  Apuleius  von  Madaura  und  die  antike  Zauberei, 
IV 2)  gibt  zugleich  mit  der  Erklärung  des  Apuleius  eine  nütz- 
liche Zusammenstellung  über  die  wichtigste  Literatur  zur  an- 
tiken Magie.  J.  Tambornino  {De  müiqiiorum  dactnonismo, 
VII 3)  enthält  das  Material  zum  Besessenheitsglauben  im  Alter- 
tum und  verfolgt  ihn  bis  in  die  christliche  Zeit.  Einen  wich- 
tigen Abschnitt  aus  dem  Wunderglauben  hat  0.  Weinreich 
vorgenommen  (Antike  Heilungswunder,  VIII 1):  Handauflegung, 
Traumheilung,   heilende  Bilder.     Auf  den  Ritus   beziehen  sich 


'  Man  beabBichtigt  als  Ergänzung  zu  Roschers  Werk  ein  „Lexikon 
der  Volksreligion  und  der  Sakralaltertümer"  herauszugeben  Wenn  dieser 
Plan  ausgeführt  wird,  und  zwar  in  der  richtigen  Weise,  so  wird  dadurch 
den  Religionshistorikem  ein  notwendiges  Hilfsmittel  geschaffen. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  527 

K.  Kircher  (Die  sakrale  Bedeutung  des  Weines  im  Altertum, 
1X2),  J.  Heckenbach  (De  nuditate  Sacra  sacrisque  vinculis,  1X3) 
und  Th.  Wächter  (Reinheitsvorschriften  im  griechischen  Kult^ 
IX  1).  Mit  dieser  Arbeit  berührt  sich  E.  Fehrle  (Die  kultische 
Keuschheit,  VI).  Er  sieht  den  Grund  zum  Gebote  kultischer 
Keuschheit  nicht  nur  in  der  Befleckung,  die  der  Geschlechts- 
verkehr mit  sich  bringt,  sondern  auch  in  der  Anschauung,  daß, 
wen  ein  Gott  seiner  Liebe  würdigt,  frei  sein  muß  von  mensch- 
licher Liebe.  Hieraus  erklärt  er  die  Gedankenreihen,  die  sich 
an  jungfräuliche  Priesterinnen  und  Prophetinnen,  an  jungfräu- 
liche Empfängnis  und  jungfräuliche  Mütter  knüpfen.  Wichtig 
ist  auch  der  Abschnitt  über  die  Entwicklung  jungfräulicher 
Göttinnen  aus  alten  Muttergottheiten,  obwohl  ich  hier  manches 
für  unsicher  halte.  Von  Bd  V,  Fr.  Pfister,  Der  Reliquien- 
kult im  Altertum,  ist  die  erste  Hälfte  erschienen:  Das  Objekt 
des  Reliquienkultes,  d.  h.  Heroengräber  und  sonstige  Erinnerungen 
an  die  Heroenzeit.  An  ihrer  Tradition  wird  das  „Bodenständigkeits- 
gesetz"  entwickelt,  d.  h.  die  Beobachtung  gemacht,  daß  die  genealo- 
gischen Heroenlisten,  wie  sie  uns  für  die  einzelnen  griechischen 
Staaten  überliefert  werden,  keine  freie  Erfindung  sind,  sondern 
zusammengesetzt  aus  Namen  von  Heroen,  deren  Kult  an  jenen 
Orten  bodenständig  war.  —  Die  Typik  der  antiken  und  christ- 
lichen Legenden  über  Translation  eines  Gottes,  eines  Heiligen 
hat  E.  Schmidt  untersucht  (Kultübertragungen,  Vm2);  für 
aitiologische  Legenden  ist  wichtig  die  Arbeit  von  E.  Müller 
{De  Graecorum  deorum  partibus  tragicis,  Vni2)  durch  den 
Nachweis,  daß  der  d^ebg  ä:ib  firiicivfis  durchweg  in  seinen 
Reden  auch  die  Aitiologie  von  Kulten,  Genealogien  oder  Städte- 
gründungen gibt.  Den  „Geburtstag  im  Altertum''  behandelt 
W.  Schmidt  (VII 1)  und  zeigt,  wie  dessen  Feier  ursprünglich 
eine  kultische  Handlung  zugunsten  des  im  Menschen  wirken- 
den daCuav  ist,  und  wie  die  antike  Feier  auf  das  Begehen  von 
Jesu  Geburtstag  eingewirkt  hat.  Ein  Problem  der  attischen 
Sakralaltertümer   ist   von    Ph.  Ehr  mann   behandelt   (De   iuris 


528  Richard  Wünsch 

sacri  interpretibus  Ätticis,  IV 3),  wertvoll  durch  die  Verbindung 
der  inschriftlichen  und  der  literarischen  Tradition  über  die 
attischen  Exegeten.  Zur  Geschichte  des  Gebetes  liegen  hier 
zwei  Arbeiten  vor.  H.  Schmidt  (Veteres  philosophi  quofnodo 
iudicaverint  de  precihus,  IV 1)  gibt  eine  doxographische  Zu- 
sammenstellung der  Aussprüche  der  Philosophen  von  Heraklit 
bis  Simplicius  über  den  Wert  des  Gebetes  und  die  rechte  Art 
zu  beten.  G.  Appel  {De  Romanorum  precationibus ,  VII 2) 
schickt  eine  nützliche  Zusammenstellung  der  römischen  Gebete 
voraus,  und  verfolgt  an  Sprache  und  Ritus  ihre  Entwicklung 
von  der  Zauberformel  über  den  juristischen  Vertrag  zur  wirk- 
lichen Bitte.  Mit  römischem  Sternenglauben  befaßt  sich  W. 
Gundel  {De  stellarum  appellatione  et  religione  JRomana,  III 2); 
sein  Resultat  ist  negativ:  bei  den  älteren  Römern  läßt  sich  ein 
ausgedehnter  Gestirnkult  nicht  nachweisen.  —  Etruskisches 
behandelt  C.  Thulin  (Die  Götter  des  Martianus  Capella  und 
die  Bronzeleber  von  Piacenza,  IUI):  er  findet  ein  an  beiden 
Orten  zugrunde  liegendes  Göttersystem,  das  aus  etruskischen 
und  astrologischen  Elementen  zusammengesetzt  ist.  —  Einen 
Beitrag  zum  Fortleben  antiken  Zauberglaubens  und  alter  Volks- 
medizin liefert  F.  Pradel  (Griechische  und  süditalienische  Ge- 
bete, Beschwörungen  und  Rezepte  des  Mittelalters,  III 3). 

Eine  Sammelschrift  sind  auch  die  Transactiom  of  tJie  3^ 
Internatiomd  Congress  for  the  History  of  Bdigions,  Oxford  1908. 
Auf  diesem  Kongreß^  war  der  griechisch-römischen  Religion  die 
6.  Sektion  zugewiesen.  Die  15  Vorträge  —  S.  Reinachs 
Begrüßungsrede  mitgezählt  —  sind  in  den  Transactions  II 
S.  11 7  ff.  veröffentlicht.  Deutsche  haben  nicht  gesprochen.  Zum 
Teil  werden  nur  Inhaltsangaben  gedruckt,  die  wiederhole  ich 
nicht,  Jevons  Defixionum  tabellae  berührt  sich  nahe  mit  seinem 
Aufsatz  in  der  Anthropölogy  (s.  unten  S.  531).  J.  Toutain  übt 
eine  zum  großen  Teil  berechtigte  Kritik  an  den  vagen  Theorien 
des   Totemismus:    antike  Riten   und  Mythen   dürfen   nicht   als 

'  Für  den  vierten  Kongreß  ist  Leiden  in  Aussiebt  genommen. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  529 

Überbleibsel  des  Totemismus  gedeutet  werden,  bis  dieser  als 
wirklich  im  Altertum  vorhanden  nachgewiesen  ist.  F.  C. 
Conybeare  The  Baetul  in  Damascius  gibt  Vergleichsmaterial 
zur  Verehrung  von  Steinfetischen  aus  der  Religion  namentlich 
der  Semiten.  J.  E.  Harrison  spricht  über  Vogel-  und  Pfeiler- 
kult. Eine  Terrakotte  mykenischer  Zeit  zeigt  Tauben,  die  auf 
Pfeilern  brüten:  „der  Baum  ist  auf  der  Erde,  der  Vogel  am 
Himmel,  das  ist  eine  primitive  Form  des  Ausdrucks  für  die 
Ehe  zwischen  Uranos  und  Gaia,  dem  Vater  Himmel  und  der 
Mutter  Erde."  Zur  Stütze  dieses  Gedankens,  welcher  sehr  der 
Prüfung  bedarf,  folgt  eine  Sammlung  der  Monumente,  die  auf 
einen  Kult  des  Himmels  in  Hellas  hinweisen.  A.  B.  Cook 
The  Cretan  Axe-cuU  outsidc  Crete  verfolgt  die  Doppelaxt  in 
Messapien,  Epirus,  Tenedos,  Lydien.  Nicht  überall  sind  die 
Spuren  ganz  sicher.  Auch  erscheint  die  Labrys  als  Münz- 
zeichen der  griechisch-skythischen  Könige  von  Baktrien  und 
Indien,  in  einer  allmählichen  Deformation,  deren  letzte  Stufe 
das  Laharum  des  Constantin  sein  könnte.  Ferner  soll  die 
Doppelaxt  das  Symbol  der  Vereinigung  des  Männlichen  (Schneide) 
und  des  Weiblichen  (^Griff)  sein:  von  hier  gleitet  ein  scheuer 
Blick  auf  die  Äxte  in  der  Freite  um  Penelope.  L.  Campbell 
The  Beliglous  Element  in  Plato  verfolgt  die  ethische  und  reli- 
giöse Atmosphäre,  welche  die  einzelnen  Epochen  von  Piatos 
philosophischer  Entwicklung  umgibt,  doch  unter  Ausscheidung 
der  orphisch-pythagoreischen  Einflüsse.  Nach  W.Warde  Fowler 
The  Latin  History  of  the  Word  „Eeliffio'^  ist  die  ursprüngliche 
Bedeutung  von  religio  die  Angst  vor  etwas,  was  menschliche 
Erfahrung  nicht  zu  erklären  vermag  und  das  deshalb  als  über- 
natürlich  gilt.  Daraus  entwickelt  sich  die  Bedeutung  eines 
Dienstes  dieses  übernatürlichen.  Endlich  wird  religio  der 
Gottesdienst  schlechthin.^ 


^  über  diese  auch  von  Kobbert  (oben  S.  524)  behandelte  Frage  ver- 
gleiche zuletzt  W.  Otto  in  diesem  Bande  des  Archivs  S.  406  ff.  Ich  ver- 
mag mich  Otto  nicht  in  allem  anzuschließen. 

Archiv  f.  Religionswisäenscbaft    XIV  34 


530  Richard  Wünsch 

Anthropölogy  and  the  Clässics.  Six  lectures  delivered  hefore 
the  University  of  Oxford  (Oxford  1908)^  betitelt  sich  eine  von 
R.  R.  Marett  herausgegebene  Sammelschrift.  Sie  soll  nach 
dem  Vorwort  dem  Zwecke  dienen,  der  Betrachtung  der  ent- 
wickelten antiken  Kultur  den  Blick  für  die  primitiven  Vor- 
stufen zu  schärfen.  Diese  Absicht  ist  freudig  zu  begrüßen; 
auch  bei  uns  ist  die  Abneigung  der  historischen  gegen  die 
„anthropologische"^  Betrachtungsweise  stärker,  als  es  auf  die 
Dauer  der  Einheitlichkeit  wissenschaftlicher  Auffassung  gut  ist. 
Ihre  Berechtigung  leitet  diese  Ablehnung  aus  der  Tatsache  her, 
daß  die  Methode  der  Erforschung  primitiver  Kulturstufen  noch 
nicht  gefestigt,  daß  namentlich  die  Art,  wie  aus  zufälligen 
Ähnlichkeiten  derselben  Dinge  bei  verschiedenen  Völkern  Rück- 
schlüsse auf  gleiche  Entstehung  gezogen  werden,  willkürlich 
und  haltlos  ist.  Das  ist  sicher  richtig,  und  legt  der  vergleichen- 
den Volkskunde  die  ernste  Pflicht  auf,  vor  allem  ihre  Arbeits- 
weise zu  konsolidieren.  Dieser  Versuch  ist  in  den  vorliegen- 
den Aufsätzen  gemacht,  aber,  wenigstens  für  mein  Empfinden, 
nicht  streng  genug  durchgeführt.  So  handelt  G.  G.  A.  Murray 
(Die  Anthropologie  in  der  griechischen  epischen  Tradition  außer 
Homer)  über  die  Rudimente  alter  Geheimgesellschaften  und  des 
Gottkönigtums  bei  den  Griechen.  Manches  ist  da  fein  beob- 
achtet, aber  wenn  z.  B.  das  Mahl  des  Thyestes  aus  dem  Auf- 
nahmeritus einer  modernen  Wildengenossenschaft,  der  Leoparden- 
Gesellschaft  erklärt  wird,  nur  weil  in  beiden  Fällen  Menschen- 
fleisch gegessen  und  dem  Verzehrer  der  Rest  gezeigt  wird; 
oder  wenn  das  Steineverschlingen  des  Kronos  durch  einen 
Australneger   illustriert   wird,    der    die  Eigenheit  hatte,   Steine 

'  Auch  deutsch  erschienen:  Die  Anthropologie  und  die  Klassiker, 
herausgegeben  von  R.  R.  Marett.  Übersetzt  von  Joh.  Hoops,  Heidelberg 
1910.     Die  Übersetzung  ist  nicht  gut. 

*  Dieser  Ausdruck  scheint  sich  von  England  her  bei  uns  einbürgern 
zu  wollen.  Wir  verstehen  unter  Anthropologie  etwas  anderes  und 
reden  lieber  von  ethnologischer  Betrachtungsweise  oder  vergleichender 
Volkskunde. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  531 

in  den  Mund  zu  nehmen  und  sie  dann  zu  verkaufen,  weil  sie 
nun  zauberkräftig  geworden  seien,  so  sind  gerade  das  Ver- 
gleiche, durch  welche  die  „Klassiker"  von  der  „Anthropologie" 
ferngehalten  werden. 

Von  den  übrigen  Aufsätzen  betreffen  nicht  alle  unmittel- 
bar die  Fragen  primitiver  Religion.  Doch  gehört  hierher  noch 
F.  B.  Je  von  s  Die  gräco-italische  Magie.  Daß  der  Gesang,  der 
im  antiken  Zauber  eine  große  Bedeutung  besitzt  (ixaoidrj, 
incatitare)  sich  zuerst  stets  gegen  einen  Feind  gerichtet  habe, 
so  daß  die  älteste  Zauberformel  der  Fluch  gewesen  sei,  läßt 
sich  nicht  beweisen,  auch  nicht  dadurch,  daß  jetzt  in  Zentral- 
Australien  und  an  der  Torrestraße  die  Formeln  des  Schaden- 
zaubers gesungen  werden.  Richtig  und  bedeutungsvoll  sind 
die  Bemerkungen  zum  Defixionszauber  (s.  o.  S.  528).  Eine  Reihe 
der  attischen  Fluchtexte  ist  prädeistisch:  der  Zauberer  bannt 
den  Gegner  ganz  allein  aus  eigener  Macht;  er  sagt  xaraöä  rbv 
delva.  Primitivste  Anschauung  sieht  in  dem  Magus  ein  über- 
menschliches Wesen;  der  Glaube,  daß  nur  die  Götter  über- 
menschliche Kräfte  besitzen,  ist  später,  und  jünger  daher  der- 
jenige Zauber,  der  mit  Gebeten  an  die  Götter  arbeitet  (Egfifj 
xäxoxs.  xdrsxe  tbv  dslva).  W.  Warde  Fowler  „Die  Lustration" 
behandelt  die  kultische  Reinigung  in  den  italischen  Religionen: 
lustrare  bedeute  die  Befreiung  von  dem  Schaden,  den 
böse  Geister  bringen,  durch  die  religiösen  Mittel  des  Opfers 
und  Gebets  mit  einer  Prozessionsbewegung:  die  Prozession  um- 
wandelt die  Grenze  und  zieht  dadurch  einen  Zauberkreis  um 
die  zu  schützenden  Dinge  und  Wesen. 

J.  Toutain  Etudes  de  MyÜiologie  et  <f  Histoire  des  religions 
antiques,  Paris  1909  vereinigt  dreizehn  bereits  bekannte  Auf- 
sätze aus  den  Jahren  1892 — 1908;  sieben  davon  sind  Ab- 
drücke der  zusammenfassenden  Artikel  aus  Daremberg-Saglio. 
S.  Reinach  hat  dem  ersten  Bande  der  Sammlung^  seiner  Auf- 


*  S.  Archiv  VIII  S.  482;  ebenda  483  über  11  206  ff. 

34' 


532  Richard  "Wünsch 

Sätze  zwei  weitere  folgen  lassen  {Cultes,  mythes  et  religions, 
Paris,  II  1906,  III  1908).  Eine  Bemerkung  verdienen  die  mit 
glänzender  Kombinationsgabe  durchgeführten  Versuche,  die 
Mythen  vom  zerrissenen  Heros  zu  deuten  (Orpheus  II  85 ff.; 
Actaeon  III  24 ff.;  Hippolytos  III  54 ff.):  sie  sollen  auf  alte 
Kommunionsriten  zurückgehen,  in  denen  totemistische  Clans  ihr 
Totemtier  zerreißen  und  es  verzehren,  um  dadurch  in  Gemein- 
schaft mit  dem  Gotte  zu  treten.  Es  wird  nicht  notwendig  sein, 
hier  überall  Totemismus  anzunehmen  (s.  o.  528),  und  man  wird 
die  Möglichkeit  nicht  leugnen  können,  daß  die  Erinnerung  an 
wirkliche  Geschehnisse  mitgespielt  haben  kann:  Hunde  sollen 
auch  den  Euripides  zerrissen  haben.  —  Aus  einem  Ritus  leitet 
Reinach  auch  den  Mythus  von  der  Tarpeia  ab,  die  von  den 
Schilden  der  Sabiner  verschüttet  wird  (III  253):  aus  dem 
Brauch,  die  Waffen  der  Feinde  an  geweihter  Stelle  aufzu- 
schichten, hat  sich  auf  der  tarpeischen  Burg  die  Vorstellung 
entwickelt,  daß  unter  diesen  Waffen  die  Schutzgöttin  Tarpeia 
verschüttet  liege,  und  daraus  entstand  die  Sage  von  der  Jung- 
frau Tarpeia,  —  Hübsch  ist  die  Deutung  der  Sage  vom  Tode 
des  großen  Pan  (III 1  ff.) :  der  Steuermann  Thammus  wird  dreimal 
angerufen  und  ihm  gesagt  Uäv  ^syag  rsd-vrjxsv  —  das  ist  heraus- 
gesponnen aus  einem  Vers  der  Totenklage  um  Adonis-Tammuz: 
&tt(i}iovg  ©ciiifiovs  @Kfi^ovs  Ttavusyas  tsd^vrjxs.  —  Nicht  über- 
zeugt hat  mich  die  Herleitung  der  Sage  von  Büßern  im  Hades 
aus  mißverstandenen  bildlichen  Darstellungen  (II  159  ff".).  — 
Nach  der  Mythendeutung  kommen  Reinachs  Untersuchungen 
namentlich  dem  Glauben  der  Orphiker  zu  gute:  in  Vergils 
IV.  Ekloge  wird  orphischer  Einfluß  festgestellt  (II  66  ff.)^;  die 
orphische  Formel  £QL(pog  ig  yäX  STtsrov  wird  gedeutet  ,,ich 
habe  die  Milch,    das  Zeichen   des   besseren  Lebens,    gefunden" 


'  Wenn  in  dem  Kinde,  dessen  Geburt  Vergil  prophezeit,  der  vsoe 
^i6vvaog  der  Orphiker  gesehen  wird,  so  halte  ich  doch  noch  an  der 
Deutung  auf  den  erwarteten  Sohn  Octavians  fest  (Skutach  A%is  Vergils 
Frühzeit  VIII  und  148  ff.). 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  533 

(II  123 ff.);   über   die   Moral  (lU  272 ff.)   und   die  Lehre   vom 
Sündenfall  (III  343  ff.)  erhalten  wir  Orphisches. 

Daß  Reinach  gerade  dieser  Lehre  große  Bedeutung  bei- 
legt, zeigt  sich  auch  darin,  daß  er  nach  ihrem  Stifter  sein 
Handbüchlein  der  Religionsgeschichte  betitelt  hat  {OrpheuSj 
Histoire  generale  des  rdigions  1909)*:  ein  hübsch  ausgestattetes 
und  fesselnd  geschriebenes  Handbrevier  für  den  Laien,  für  den 
Forscher  angenehm  wegen  der  Literaturverzeichnisse.  Voll 
Temperament  führt  der  Verfasser  den  Entwicklungsgedanken 
vom  Ursprung  der  Religion  durch  bis  zum  Dreifußprozeß. 
Die  antiken  Religionen  werden  auf  S.  111 — 160  in  sroßen 
Zügen  behandelt;  mitunter  sind  die  Ergebnisse  der  gesammelten 
Aufsätze  übernommen  worden  und  erregen  hier  dieselben  Be- 
denken Daß  im  Bacchanalienprozeß  die  römischen  Behörden 
falsche  Zeugen  erkauft  haben  (S.  153),  wird  sich  nicht  nach- 
weisen lassen. 

Ich  schließe  die  übrigen  Gesamtdarstellungen  an. 
S.  Wide,  Griechische  und  römische  Religion  (Einleitung  in 
die  Altertumswissenschaft,  herausgegeben  von  A.  Gercke  und 
E.  Norden,  Band  II,  Teubner  1910,  S.  191  ff.)  gibt,  dem  hode- 
getischen  Zweck  dieser  Sammlung  entsprechend,  eine  kurze  Dar- 
stellung der  Entwicklung  beider  Religionen,  ihrer  wesentlichsten 
Probleme  und  Betrachtungsweisen.  Seine  eigene  Methode  er- 
scheint mir  richtig:  sie  basiert  auf  der  literarischen  und  monu- 
mentalen Überlieferung,  die  uns  aus  dem  Bereich  der  antiken 
Religionen  erhalten  ist,  sie  versucht  das  wirklich  Gegebene 
philologisch  zu  interpretieren  und  geschichtlich  zu  verstehen 
wo  es  nottut,  mit  vorsichtiger  Zuhilfenahme  ethnographischer 
Parallelen.  Seine  besonnene  Behandlung  des  Totemismus  in 
Griechenland,  der  orientalischen  Einflüsse  und  der  meist  un- 
sicheren   Etymologieen,     und    sein    Zurückhalten    in    der    Be- 

*  Deutach:  S.  Beinach  Orpheus,  allgemeine  Geschichte  der  Beligionen, 
deutsche  vom  Verfasser  durchgesehene  Ausgabe  von  A.  Mahl  er,  Wien 
und  Leipzig  1910. 


534  '  Richard  Wünsch 

Stimmung  der  „Grundbedeutung"  eines  Gottes  kann  man  nur 
billigen.  Etwas  mehr  hätte  vielleicht  über  „vorhellenische" 
Kulte  und  ihr  Verhältnis  zur  mykenischen  Zeit  gesagt  werden 
können;  auch  die  Schilderung  der  „Unterschicht",  von  Zauber 
und  Aberglauben  ist  etwas  knapp  geraten:  diese  ist  gerade  für 
das  verdienstliche  Kapitel  über  griechische  Religiosität  von 
Bedeutung.  Auch  hätte  ich  die  Bedeutung  der  Wundermänner, 
der  d'sloi  av%'Q(xi7toi,  mehr  betont:  sie  zeigen  deutlich,  welches 
das  Verhältnis  der  Begriffe  Gott  und  Mensch  gewesen  ist,  und 
gerade  sie  haben  zu  allen  Zeiten  die  Gemüter  der  Massen  be- 
sonders in  Erregung  versetzt.  Schade  ist  es,  daß  Wide  darauf 
verzichtet  hat,  die  römische  Religion  in  Beziehung  zur  griechischen 
zu  setzen.  Dem  Leserkreis,  für  den  diese  Einleitung  bestimmt 
ist,  wäre  es  sehr  dienlich  gewesen,  durchweg  auf  die  Ähnlich- 
keiten und  Verschiedenheiten  dieser  beiden  Religionen  auf- 
merksam gemacht  und  dadurch  zum  vergleichenden  Nach- 
denken angeregt  zu  werden.  Die  Lemuralia  heischen  einen 
Hinweis  auf  die  Anthesteria,  die  Auspizien  auf  die  Oionistik 
usw.  Gut  wird  bemerkt,  daß  einige  der  ältesten  römischen 
Feste  erst  nachträglich  zu  bestimmten  Göttern  in  Beziehung 
getreten  sind,  daß  sie  ursprünglich  einen  götterlosen  Frucht- 
barkeitszauber vollzogen.  Da  lag  die  Frage  nach  prädeistischer 
Auffassungsweise,  nicht  nur  bei  den  Römern,  nahe. 

Die  römische  Religion  Wides  baut,  wie  das  nur  billig 
war,  auf  Wissowas  Religion  und  Kultus  der  Römer ^  auf. 
Ähnlich  ist  die  in  wesentlichen  Dingen  unter  Wissowas  Ein- 
fluß stehende  Einleitung  in  die  römische  Religion  von  J.  B. 
Carter  The  Beligion  of  Numa  and  other  Essays  on  the  Beligion 
of  Ancient  Borne,  London  1906:  ein  Abriß  der  Entwicklung 
von  der  ältesten  Zeit  bis  zur  Reform  des  Augustus. 

Das  umfangreiche  Werk  von  0.  Gruppe,  Griechische 
Mythologie    und  Religionsgeschichte    (Iwan   v.  Müllers   Hand- 


*  Eine  zweite  Auflage  dieses  Werkes  steht  ia  Aussicht. 


Griechische  und  Tömische  Religion  1906  — 1910  535 

buch  der  klassischen  Altertumswissenschaft  V  2,  2),  ist  durch 
die  dritte  Lieferung  (München  1906,  S.  1153—1923)  zu  Ende 
geführt  worden.  Der  Schlußteil  enthält  Monographien  der 
olympischen  Götter,  dann  eine  beachtenswerte  Darstellung  der 
Auflösung  der  griechischen  Religion,  endlich  die  sehr  not- 
wendicren  und  brauchbaren  Register.  Auch  in  diesem  Teil  be- 
wundern  wir  die  profunde  Belesenheit  des  Verfassers,  dem  es 
aber  gerade  wegen  der  unendlich  vielen  Einzelheiten  nicht 
überall  gelungen  ist,  ein  klares  Bild  zu  zeichnen.  Gegenüber 
der  Neigung  des  Verfassers,  die  Grundbedeutung  der  griechischen 
Götter  zu  erschließen  mit  Hilfe  entweder  der  Etymologie  oder 
einer  einseitig  meteorologischen  Ausdeutung,  und  ihre  Verehrung 
aus  dem  Orient  herzuleiten,  bin  ich  skeptisch.  Wo  Athene 
die  „ohne  Muttermilch''  ist  (S.  1194)  und  mit  der  „phili- 
stäischen  Sturm göttin"  zusammengebracht  wird  (S.  1202),  komme 
ich  nicht  mehr  mit.  Auch  den  großen  Werdeprozeß,  in  dem 
sich  die  Antike  zum  Christentum  umschuf,  denke  ich  mir 
anders,  finde  dabei  aber  manchen  Gedanken  Gruppes  über 
Skepsis  und  Mystik,  Volksglauben  und  Personenkult  wohl  der 
Beachtung  wert. 

W.  Kroll  Griechenland,  Religion  (Die  Religion  in  Geschichte 
und  Gegenwart  II,  1666  If.)  faßt  die  wichtigsten  Epochen  über- 
sichtlich zusammen.  —  Das  bekannte  Werk  von  J.  E.  Harris on 
Frolegomena  to  the  Study  of  Greek  Religion,  das  mit  Hülfe  der 
Archäologie  und  Ethnologie  die  Rätsel  namentlich  des  Ritus 
zu  lösen  sucht,  ist  in  zweiter  Auflage  erschienen  (Cambridge 
1908).  Die  Veränderungen  gegen  die  erste  Auflage^  sind  nicht 
sehr  bedeutend:  ein  Band  Epilegomena  mit  neuen  Forschungen 
wird  in  Aussicht  gestellt.  —  Die  Bücher  von  A.  Fairbanks 
The  Myihology  of  Greece  and  Borne  (London  1908)  und  A 
Handhook  of  Greek  Religion  (New-York-Cincinuati-Chicago  1910) 
sind  hübsch  ausgestattete  Einführungen  für  ein  größeres  Publi- 
kum, besonders  das  letztere  nicht  ohne  eigene  Gedanken. 

*  S.  Archiv  YIII  480  f. 


536  Richard  Wünsch 

Ich  wende  micli  denjenigen  Schriften  zu,  die  Probleme  aus 
der  Werdezeit  der  griechischen  Religion  behandeln. 
L.  R.  Farneil  Inaugural  Leciure  of  tJie  Wilde  Ledurer  in 
Natural  and  Comparative  Religion,  Oxford -London  1909  ver- 
gleicht in  rapidem  Überblick  die  -  Religion  der  Griechen  mit 
den  übrigen  alten  Religionen  des  Mittelmeerbeckens:  wohl 
finden  sich  Verschiedenheiten,  aber  es  sind  mehr  Differenzen 
der  Art  als  des  Grades,  in  vielem  ist  die  Struktur  und  damit 
der  Werdegang  gleich.  Beachtenswert  ist  der  Gedanke,  daß 
die  anthropomorphe  Auffassung  und  die  Verehrung  menschen- 
gestaltiger Bilder  ihrer  Natur  nach  der  Mystik  feindlich  sind, 
daß  der  'Mystizismus  sich  nur  im  theriomorphen  Kult  ent- 
wickelt. —  R.  Karsten  Studies  in  primitive  Greek  religion, 
Öfversigt  af  Finska  Vetenskaps-Societetens  Förhandlingar  49,  1 
(Helsingfors  1907)  versucht  in  ansprechender  Weise  auf  ethno- 
logischer Grundlage  die  Entstehung  der  einzelnen  Formen 
griechischer  Religion  völkerpsychologisch  zu  erklären^,  die 
Verehrung  von  Pflanzen  und  Steinen,  Tieren  und  Naturkräften, 
unterirdischen  und  himmlischen  Göttern  in  ihrem  Werdeprozeß 
verständlich  zu  machen. 

Eine  ausführliche  Würdigung  verlangt  Roh.  Eisler,  Welten- 
mantel und  Himmelszelt,  Religionsgeschichtliche  Untersuchungen 
zur  Urgeschichte  des  antiken  Weltbildes,  2  Bände,  München  19 10. 
Der  Verfasser  geht  aus  von  dem  Mantel  Kaiser  Heinrichs  des 
Heiligen  im  Domschatz  zu  Bamberg:  die  eingestickten  Stern- 
bilder zeigen,  daß  der  Mantel  als  Abbild  des  Himmels  gedacht 
ist.  Die  letzte  Vorlage  dieses  Gewandstückes  sieht  Eisler  in 
der  Staatstracht  der  römischen  Kaiser,  die  einen  solchen  Mantel 
getragen  haben,  weil  er  die  Umhüllung  des  römischen  Himmels- 
gottes ist.  Auch  bei  andern  Göttern  und  andern  Völkern  sind 
derartige  Sternenmäntel  nachweisbar:  so  erscheinen  Marduk, 
Mithras,  Attis,  Aphrodite  Urania,  Athene  damit  angetan.    Zuerst 

'  Als  ich  meinen  Aufsatz  'Volksglauben'  (Die  Volksschule  1908, 
Heft  14fiF.)  schrieb,  waren  mir  Karstens  Ausführungen  noch  unbekannt. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  537 

hat  man  diese  Götter,  primitiven  Vorstellungen  entsprechend, 
sich  mit  Fellen  bekleidet  gedacht.  Unter  dem  Einfluß  der 
Gleichsetzung  des  bewölkten  Himmels  mit  einem  wolligen  Vließ 
wandelt  sich  die  Aigis,  das  Fellkleid  der  Gottheit,  zu  einem 
Bild  des  bewölkten  Himmels;  allmählich  dringen  auf  dem  Fell- 
kleid  die  Bilder  der  Himmelszeichen  ein,  die  zunächst  als 
Apotropaea  gedacht  sind.  Zuletzt  verwandelt  sich  das  Fell, 
dem  Fortschritt  menschlicher  Kultur  entsprechend,  zu  einem 
Gewebe.  So  entsteht  der  Weltenmantel,  von  dessen  Webe  alte 
orphische  Schriften  erzählten:  Köre  hatte  ihn  nach  altem 
Hochzeitsbrauch  für  ihre  Ehe  gewoben.  An  Stelle  der  Köre 
ist  in  der  sizilianischen  Legende  die  h.  Agata  getreten;  wenn  die 
Passio  berichtet,  daß  ihr  zur  Marter  eine  Brust  abgeschnitten 
sei,  so  stammt  dieser  Zug  aus  dem  Koremythus  und  erinnert 
an  die  einbrüstigen  Amazonen,  die  nichts  anderes  sind  als  die 
Hierodulen  der  Ma  von  Komana.  Das  zeigt,  daß  dieser  Kore- 
mythus  nach  Sizilien  von  ionischen  Ansiedlem  aus  Kleinasien 
herübergebracht  worden  ist  Grade  in  Kleinasien  werden  Götter 
mit  Himmelskleidern  verehrt,  und  zwar  zum  Teil  Götter,  die 
in  Baumgestalt  gedacht  sind:  in  ihrem  Kult  erhält  der  heilige 
Baum  den  Sternenmantel  als  Umhang.  Eine  zweite  griechische 
Überlieferung,  die  sich  auf  die  Webe  des  Weltenmantels  be- 
zieht, gibt  Pherekydes:  bei  der  Hochzeit  mit  Chthonie  schenkt 
Zeus  der  Braut  ein  Gewand  und  iv  avra  noixCXXei  yfiv  xal 
myrivov  xal  xä  ayr/Pov  KßaiLaxti}.  Auch  ist  dort  die  Rede 
von  einer  geflügelten  Eiche  und  dem  gestickten  Gewand,  das 
darüber  lag  ij]  v:t6:irsQog  dgig  xai  rb  B:t'  avxri  nE7Coixü.nivov 
(p&Qog,  beide  Stellen  bei  Diels,  Fragm.  der  Vors.  I  2*  S.  508). 
Hier  bedeutet  G>yr]vov  dGipt.axa  ^Häuser  des  Himmels',  d.  h.  die 
'Häuser  der  Sterne',  einen  Begriff,  der  in  der  altbabylonischen 
Astronomie  daheim  ist  So  war  auch  dies  Gewand  ein  Sternen- 
mantel, und  seine  Bilder  gehen  auf  altorientalische  Astral- 
mystik zurück.  Diese  fand  am  Himmel  in  den  Konstellationen 
Abbilder   alles   Irdischen,   Haine,  Flüsse,   Bauten   und  Wesen, 


538  Richard  Wünsch 

und  betrachtete  diese  Abbilder  zugleich  als  Vorbilder  der 
terrestrischen  Dinge:  es  sind  Sachseelen,  die  sich  später  zu 
den  sWalcc  des  Demokrit  und  zu  den  Ideen  des  Piaton  wandeln. 
Die  Erzählung,  daß  ein  Grott  den  Sternenmantel  wirkt,  ist  der 
mythische  Ausdruck  für  die  Anschauung,  daß  Gott  die  Leuchten 
des  Himmels  und  zugleich  damit  ihre  irdischen  Abbilder  ge- 
schaffen hat;  er  ist  entstanden  aus  dem  Glauben,  daß  durch 
Formung  eines  magischen  Urbildes  auf  geheimnisvolle  Weise 
zugleich  ein  neues  Abbild  der  Gattung  geschaffen  werde.  Eine 
andere  Anwendung  des  Bildzaubers  war  es,  wenn  man  die 
wundertätigen  Mächte  der  Gestirne  durch  ihre  Bilder  in  mensch- 
lichen Dienst  zwang:  wenn  man  sie  in  das  Gewand  einstickte, 
so  verlieh  der  kosmische  Mantel  dem  Träger  die  Herrschaft 
über  alle  Gestirne  und  wurde  so  zum  Symbol  der  Weltherrschaft. 
Im  babylonischen  Epos  wird  dem  Marduk  durch  Kleidanlegung 
die  Herrschaft  und  die  Führung  im  Kampf  für  die  Götter 
verliehen.  Solche  Vorkämpfer  besitzen  mitunter  auch  Waffen 
mit  kosmischen  Symbolen:  zu  diesen  gehört  der  sog.  Druden- 
fuß (Pentagramm,  Heptagramm).  Auch  dies  Zeichen  ist  in 
seinem  Ursprung  babylonisch:  es  ist  das  Diagramm,  mit  dessen 
Hilfe  man  für  die  nach  der  Umlaufszeit  in  einen  Kreis  an- 
geordneten sieben  Planeten  ihre  Anordnung  als  Herrn  der 
Wochentage  berechnet;  das  Pentagramma  entsteht,  wenn  in 
dieser  Zusammenstellung  Sonne  und  Mond  ausgelassen  werden. 
Diese  Kosmogramme  erklären  aber  die  bei  Pherekydes  vor- 
kommenden Ausdrücke  eTttdfivxog  und  Ttsvtdfivxog:  die  sieben 
Schlüfte  als  Titel  des  Buches,  die  fünf  Schlüfte  als  Bezeich- 
nung gewisser  Göttergruppen.  Die  Namen  der  Götter,  die 
Pherekydes  zu  solchen  Gruppen  ordnet,  ergeben  nun  eine 
Unzahl  Isopsephien,  d.  h.,  wenn  die  Buchstaben  in  ihrem 
Zahlenwert  (a  1,  /3  2  bis  o  24)  umgesetzt  und  zusammen- 
gerechnet werden,  entsteht  bei  einer  Reihe  von  Namen  die 
gleiche  Summe.  So  ist  z/i^v  =  P»;,  Zsvg  =  ra^iog,  Zrjv -\- 
Xd-ovitj  ==  XQOvog  usw.    Auf  diese  Isopsephismen  ist  die  Schrift 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  539 

des  Pherekydes  bewußt  angelegt.  Nun  ist  Zeus  nach  ihm 
gleich  Helios  (Diels  a.  a.  0.  S.  507,  8),  nach  Orpheus  gleich 
diexog  (Abel  frg.  Orph.  108),  das  ergibt  Zag  (25)  +  diöxos  (74) 
=  ovQuvö?  (99).  Es  handelt  sich  also  um  einen  höchsten 
scheibenförmigen  Himmelsgott:  das  ist  nicht  griechisch,  wohl  aber 
orientalisch  —  von  Assyrien  aus  auf  den  persischen  Ahura- 
Ma9da  übertragen.  Eine  Ähnlichkeit  dieses  persischen  Himmels- 
gottes mit  dem  Zeus  des  Pherekydes  besteht  auch  darin,  daß 
beide  die  Welt  erschaffen  und  anfangslos  ewig  sind,  was  sonst 
von  Zeus  nicht  berichtet  wird,  femer  darin,  daß  auch  das 
Persische  eine  kosmische  Mantelwebe  kennt.  Pherekydes  hat 
also  versucht,  persische  Dogmen  in  Griechenland  einzuführen. 
Aus  derselben  Religion  stammt  auch  bei  den  Orphikem  der 
Gott  Xq6vos\  er  ist  dem  persischen  Zrvan  nachgebildet.  Auch 
in  anderen  Dingen  stimmt  orphische  Lehre  mit  der  zrvanischen 
Kosmogonie  überein:  dem  Zwitterwesen  Zrvan,  aus  dessen  kos- 
mischem Ei  Mithras  und  Angra  Mainya  hervorgehn,  entspricht 
Chronos  oder  Aion  und  die  aus  dem  Ei  geborene  Triade 
üranos,  Phanes  und  Pluton.  Bei  den  Persem  erzeuget  Zrvan 
die  drei  Elemente  Wind,  Wasser  und  Feuer:  dasselbe  schreibt 
Pherekydes  dem  Chronos  zu  (S.  506,  30  Diels).  Von  den  Ele- 
menten hat  Pherekydes  das  Wasser  für  das  TCQäxov  ötoix^lov 
gehalten,  wie  es  Anaximander  für  die  ocqxtI  hielt.  Daß  die 
zrvanische  Religion  unter  dem  Einfluß  griechischer,  etwa  or- 
phischer  Anschauungen  entstand,  ist  ausgeschlossen:  der  Zrva- 
nismus  ist  das  Vorbild,  und  dieses  ist  aus  dem  semitischen 
Astralkult  hervor o^egangen. 

Auch  der  geflügelte  Baum  des  Pherekydes  stammt  aus 
dem  Orient.  Es  ist  der  Weltenbaum,  den  Chthonie  als  Gegen- 
gäbe  für  Zeus  aufsprießen  läßt:  auf  ihn  wird  der  Stemenmantel 
gebreitet.  Das  geht  auf  uralten  Wetterzauber  zurück:  bei  Un- 
wetter zeigt  man  einem  heiligen  Baum  durch  Bilder  der  Sonnen- 
und  Mondscheibe  an,  daß  er  diese  Gestirne  wieder  leuchten 
lassen   soll;    einen  Himmel,   blau   wie    das   Gewand,   das    man 


540  Richard  Wünsch 

über  seine  Zweige  breitet,  soll  er  hinaufführen.  Völker,  die 
in  der  Sonne  noch  einen  strahlenden  Himmelsvogel  sahen,  be- 
festigten an  seiner  Spitze  einen  Vogelbalg  oder  ein  Vogelbild. 
Bäume  mit  der  darüber  schwebenden  geflügelten  Sonnenscheibe 
sind  auf  assyrischen  Siegelzylindern  häufig;  auf  andern  ist  die 
Überzeltung  des  heiligen  Baumes  mit  dem  Himmelsmantel  dar- 
gestellt. So  wurde  auch  bei  Pherekydes  der  Himmelsmantel 
als  Zeltdecke  über  den  geflügelten  Baum  gebreitet.  Daß  dies 
bei  der  Hochzeit  des  Götterpaares  geschah,  hängt  mit  einem 
alten  Eheritus  zusammen,  der  sich  namentlich  im  Orient  findet: 
der  Bräutigam  errichtet  vor  dem  Beilager  über  der  Braut  ein 
Zelt  mit  Hilfe  einer  Brautmaie  und  seines  Mantels.  So  wird 
der  Himmelsmantel  zur  Zeltdecke,  so  werden  die  Sternbilder 
zum  Schmuck  eines  Wohnraumes.  Nun  bringt  man  auch  in 
den  Tempeln  der  Götter  an  der  Decke  Sternbilder  an,  um  zu 
sagen,  daß  das  Weltall  ihr  Reich  ist.  Davon  ist  dann  wieder 
das  älteste  Bild  beeinflußt,  das  sich  die  Mittelmeervölker  vom 
Weltganzen  machten:  die  Welt  sieht  so  aus  wie  die  Wohnung 
Gottes.  Wie  die  Mithrasanbeter  den  Sternhimmel  an  der 
Deckenwölbung  einer  Höhle  erblicken,  konnte  Pherekydes  das 
Weltall  als  Höhle  bezeichnen  (S.  509,  25  Diels).  Die  Baby- 
lonier  sprechen  von  einem  Hirtenzelt  der  Welt,  die  Orphiker 
denken  sich  den  Kosmos  wie  den  homerischen  Männersaal. 
Alles  das  sind  Reste  uralter  Vorstellungen  der  Menschheit,  die 
sich  in  Kleinasien  im  Zrvanismus  zu  einem  vollständigen 
kosmogonischen  System  ausgebildet  hatten:  dies  System  ist 
den  Griechen  durch  die  lonier  vermittelt,  liegt  geschlossen 
bei  Pherekydes  und  in  der  rhapsodischen  Theogonie  der  Or- 
phiker vor,  wirkt  aber  auch  in  einzelnen  Gedanken  stark  auf 
fast  alle  vorsokratischen  Philosophen  ein,  namentlich  auf  die 
alten  ionischen  Physiker. 

Diese  Gedanken  schienen  mir  in  der  unendlichen  Fülle 
des  Stoffs,  der  in  diesem  großen  Buche  von  rund  800  Seiten 
zusammengetragen  ist,  die  wichtigsten.     Das  Werk  verrät  eine 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  541 

staunenswerte  Belesenheit  und  eine  leicht  bewegliche  Kom- 
bination, ihm  fehlt  Solidität,  Kritik  und  sprachliche  Schulung. 
Ich  kann  und  will  hier  nicht  im  einzelnen  schulmeistern,  aber 
ich  muß  ein  paar  Stellen  zur  Begründung  meines  Urteils  her- 
ausheben. S.  58  f.  nimmt  Ion  (Eur.  Ion  1141  ff.)  zur  Decke 
des  Festzeltes  einen  Teppich,  in  den  Stemenbilder  gestickt 
sind:  'ein  Schaustück,  dessen  Kultbedeutung'  —  daß  es  diese 
gehabt  hat,  müßte  erst  bewiesen  werden  —  'sich  nach  Anleitung 
einer  zu  wenig  beachteten  inschriftlichen  Nachricht  über  atti- 
schen Festbrauch  unschwer  erraten  läßt:  a[i(pLevvov6Lv  heißt 
es  (CIA  I  93,  12)  von  den  Praxiergidenpriesterinnen  iv  ioQtaig 
xov  xi:cXov  /iii  MoiQayirai  ^AzölXavi.'  Dazu  eine  Anmerkung, 
daß  ^u  hier  wohl  appellativisch  verwendet  ist,  und  AIoLQayaTi,g 
hier  vielleicht  die  vier  Jahreszeiten  herraufführend  bezeichnet. 
Tatsächlich  heißt  die  Inschrift  ci[i](fLevvvo6iv  rbv  xi%Xov,  da- 
nach eine  größere  Lücke,  dann  MoC]QaLs  z/ii  Moigaydrai. 
Wahrscheinlich  gehören  beide  Teile  syntaktisch  gar  nicht  zu- 
sammen; Ziehen  Leges  Graecorum  sacrae  II  1  p.  61  ergänzt  rev 
^sbv  xal  ZQod^voöiv.  Keinenfalls  steht  läxölXavi  da,  und  das 
Umlegen  eines  :tixXog  in  Athen  beweist  nicht,  daß  eine  Zelt- 
decke in  Delphi  als  Gewand  des  Gottes  diente.  —  S.  725  wird 
der  Pvthagoreer  Philolaos  behandelt.  Frg.  12  (S.  244,  10  Diels): 
Tag  öcpaCgas  ömfiara  Tcivxs  ivrC,  xä  iv  xä  öipaCga  %vq  -/tu  vdag  xal 
ya  xal  ar^Q,  xal  ö  xäg  öqaiQag  bXxäg,  :TspiTCxov.  Hier  zeigen  m.  E. 
iv  ra  öcpaCgcc  und  xäg  ötpalgag,  daß  es  sich  um  einen  Gegen- 
satz handelt:  der  Gegensatz  zum  Inhalt  ist  der  Behälter,  und 
die  bXxdösg  sind  rund  (vgl.  Thuc  U  97,  1  :t£QC:cXovg  vr^t  öXQoy- 
yvXri  mit  Thuc.  VI  1,  2  xsglrtXovg  bXxädi).  Ich  würde  also 
nur  schließen,  daß  Philolaos  die  öcpalga  aus  den  vier  Elementen 
bestehen  ließ  und  einem  runden  Behälter,  den  er  mit  dem 
Bauch  eines  Lastschiffes  verglich:  die  Elemente  liegen  im 
Innern  der  öipalga  wie  die  Waren  im  Innern  des  Schiffes. 
Eisler  sieht  in  dieser  Stelle  ein  'altpythagoräisches  Symbol, 
dessen  Zugehörigkeit  zur  mystischen  Überlieferung  der  Kybele- 


542  Richard  Wünscti 

kulte  sich  leicht  nachweisen  läßt'.  'Eine  Reihe  von  Zeugnissen^ 
beweisen  nämlich,  daß  der  Name  der  Göttin  Kvßßa  oder  Kvfißt]  — 
zwei  der  vielen  möglichen  Transkriptionen  von  nnp  —  appella- 
tivisch  zur  Bezeichnung  einer  Art  von  Frachtkähnen  gebraucht 
wurde.  Da  nun  die  Erde  —  aber  auch  der  Mond  und  schließ- 
lich auch  die  Sonne  —  nach  altorientalischer  Vorstellung 
ein  solches  Schiff,  der  Himmel  aber  ein  umgekehrtes  Boot 
darstellt,  gilt  auch  Kybele,  gleichgültig,  ob  man  sie  als 
Erda,  als  Mondgöttin  oder  als  Himmels  Wölbung  auffaßt 
—  alle  drei  Deutungen  waren  beliebt  — ,  als  ein  kos- 
misches Schiff;  der  Name  oXxag  (15  4-  11  -f  10  +  1  +  18  =  55) 
ist  natürlich  wegen  seines  mystischen  Zahlenwertes  an  sich, 
besonders  aber  wegen  der  Isopsephie  mit  KvßsXrj  (55)  ge- 
wählt worden.'  Den  'besten  Beweis'  dafür  bietet  es,  daß 
es  im  späten  Religionsgespräch  am  Hof  der  Sassaniden  von 
der  Pege  heißt  ijtig  hv  ^ijtQa  rag  iv  JisXdysi  iivQiayayov 
bXxdda  (pegsi. 

Durch  diese  von  allen  Hemmungen  befreite  Arbeitsweise 
des  Verfassers  kommen  Ergebnisse  zustande,  die  ich  nicht  an- 
zuerkennen vermag.  Ich  weise  nur  auf  einige  hin:  die  Recht- 
fertigung der  Verwendung  von  Bruchstücken  der  orphischen 
Theogonie  als  alter  Weisheit  scheint  mir  nicht  überall  gelungen, 
die  Schlußfolgerung  von  der  h.  Agata  auf  Köre,  die  andere 
geblendet  hat,  nicht  nur  in  dem  einen  oben  erwähnten  Zug 
unberechtigt.  Die  Worte  des  Pherekydes  G)yi]vbv  xai  rä  ayrjvov 
danaxa  interpretiere  ich  nach  wie  vor  'Okeanos  und  die  Häuser 
des  Okeanos',  um  nicht  einen  harten  Bedeutungswechsel  des 
Wortes  G)yrjv6g  annehmen  zu  müssen.  Unter  einer  geflügel- 
ten Eiche  denke  ich  mir  etwas  anderes  als  einen  Baum, 
in  dessen  Spitze  ein  Vogel  sitzt.  Da,  wo  die  Alten  nicht  aus- 
drücklich sagen,  daß  sie  mit  Isopsephismen  arbeiten,  können 
wir  nicht  wissen,  daß  sie  angewendet  sind.     Glauben  mag  an 


'  Sie  belegen  die  Worte  xvnri  xv(ißa  xv^ßiov   xöfißa. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  543 

sie,  wer  will:  aber  er  darf  nicht  verlangen,  daß  andere  seine 
Schlüsse  teilen.^ 

Aus  der  Ablehnung  der  Prämissen  folgt  die  Ablehnung 
auch  der  auf  ihnen  gebauten  Schlüsse.  Aber  es  ist  unrichtig, 
deshalb  das  ganze  Buch  in  Bausch  und  Bogen  zu  verwerfen. 
Zum  Nachprüfen  und  Weiterforschen  regt  es  auch  da  an,  wo 
man  ihm  die  Folcje  versagt.  Es  zeigt  deutlich,  welche  unend- 
liehe  Welt  von  Gedanken  im  Hinterland  des  griechischen  Klein- 
asien lebendig  war,  und  es  mahnt  uns  ernstlich,  mehr  als  früher 
mit  der  Möglichkeit  des  Einflusses  orientalischer  Gedanken  zu 
rechnen.  Manche  Beziehung  zu  iranischer  Religion,  die  Eisler 
aufstellt,  scheint  tatsächlich  vorhanden  gewesen  zu  sein,  anderes 
bedarf  der  Prüfung.  Dazu  ist  das  vorsichtige  Zusammen- 
arbeiten  der  klassischen  Philologie  mit  der  orientalischen  und 
iranischen  notig.  Unter  den  Lebenden  wird  kaum  einer  alle 
Monumente  kennen  und  alle  Sprachen  beherrschen,  die  zu 
solchen  Forschungen  nötig  sind,  wenn  Bleibendes  geschaffen 
werden  soll.  Über  die  mythischen  Bilder  vom  Weltenmantel 
und  Himmelszelt  abschließend  reden  zu  wollen,  ist  noch  zu 
früh.  Wir  sind  Eisler  dankbar,  daß  er  das  Problem  der  Ent- 
stehung und  Verbreitung  dieser  mythologischen  Bilder  gestellt 
hat.  Im  Sinne  H.  Useners  hat  er  sie  untersuchen  wollen  — 
die  Grundlage  von  Useners  Arbeiten  war  strenge  Selbstzucht 
zur  wissenschaftlichen  Gründlichkeit  auch  im  kleinsten. 

Aus  der  Unterschicht  religiösen  Denkens  haben  sich  als 
Rudimente  in  späterer  Zeit  gehalten  Mantik,  Zauber  und 
Aberglaube.  Deren  Dokumente  verständlich  zu  machen, 
haben  sich  verschiedene  Abhandlungen  der  oben  angeführten 
Sammelschriften  (S.  526  ff.)  zur  Aufgabe  gemacht:  ich  brauche 
sie  nicht  noch  einmal  zu  nennen.  Über  den  Dämonenaber- 
glauben   handelt    zusammenfassend    Ch.   Michel    Les   bons    et 

*  W.  Aly  (Deutsche  Lit.-Zeit.  1911,  327)  macht  darauf  aufmerksam, 
daß  die  griechischen  Buchstaben  zur  Addition  immer  ntir  mit  der 
Wertung  1 — 900,  nicht  1—24  gebraucht  werden. 


544  Richard  Wünsch 

mauvais  esprits  dans  les  croyances  de  Vancimne  Grcce,  unter 
Berücksichtigung  auch  der  verschiedenen  Stellung,  welche  die 
Philosophen  dazu  einnahmen.  Die  Abhandlung  steht  in  einer 
neubegründeten  französischen  Zeitschrift  (1910  S.  193 ff.),  der 
Bevue  d'histoire  et  de  la  liUerature  religieuse:  das  Archiv  begrüßt 
das  artverwandte  Unternehmen  bei  seinem  ersten  Jahrgang. 

Einen  Beitrag  zur  M antik  gibt  R.  Meister,  Ein  Ostrakon 
aus  dem  Heiligtum  des  Zeus  Epikoinios  (Abh.  phil.-hist.  Kl. 
Kön.  Sachs.  Ges.  derWiss.  XXVIl  1909  S.  305  ff).  Die  Scheibe 
ist  im  fünften  Jahrhundert  mit  einem  Orakel  beschrieben  worden. 
Ich  liebe  diesen  Eifer  und  bin  ihm  gnädig;  die  Feinde  aber 
schlage  ich  mit  dem  Blitz  .  .  .  ich  lasse  mich  erbitten  von  dem 
Zweifelnden,  der  bittend  sucht.'  Das  ist  eine  seltene  Selbstoffen- 
barung des  Gottes  über  seine  eigenen  Gedanken,  und  selten  ist 
es  auch,  daß  der  Grieche  eine  Offenbarung  aufschreibt, —  F.  Jäger 
De  oraculis  quid  veteres  philosopJii  senser  int,  München  1910, 
gibt  eine  Doxographie  über  den  Wert  der  Mantik.  Erst  die 
Stoiker  nehmen  zu  der  Frage,  ob  die  Weissagekunst  wirklich 
die  Zukunft  voraus  verkünde,  Stellung,  und  zwar  in  bejahendem 
Sinne.  Die  späteren  Philosophen  teilen  sich  in  Anhänger  und 
Gegner  der  Stoa.  Am  Ausgang  des  Altertums  steht  der  Neu- 
platoniker  Porphyrios,  der  trotz  einiger  Zweifel  orakelgläubig 
ist  und  eine  letzte  Blüte  dieses  Glaubens  heraufführt.  —  Be- 
sondere Aufmerksamkeit  beginnt  man  der  Traummantik  zuzu- 
wenden. 0.  Hey  Der  Traumglaube  der  Antike,  ein  historischer 
Versuch  I,  Progr.  Kealgymn.  München  1908  behandelt  die  Traum- 
erzählungen bei  Homer  und  bei  den  griechischen  Autoren  bis 
zum  Ende  des  fünften  Jahrhunderts;  die  Erwähnung  der  In- 
kubation veranlaßt  einen  Exkurs  über  'Medizin  und  Traum- 
deutung'. R.  Dietrich  Beiträge  zu  Artemidorus  Daldianus  I, 
Progr.  Rudolstadt  1910  beginnt  mit  sprachlichen  Zusammen- 
stellungen als  einer  Vorarbeit  zu  einem  Kommentar.  Eine 
solche  Erklärung  der  Oneirokritika  ist  ein  lange  vorhan- 
denes Desiderat:  hoffentlich  wird  sie  auf  möglichst  breiter  volks- 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  545 

kundlicher  Basis  beruhen.  F.  X.  Drexl  Achmets  Traum- 
buch, Einleitung  und  Probe  eines  kritischen  Textes,  Diss. 
München,  Freising  1909  darf  hier  erwähnt  werden,  ein  grie- 
chisches Traumbuch  des  Mittelalters,  das  in  304  Kapiteln  eine 
Auslegung  der  verschiedenen  Träume  gibt.  Die  kurze  Text- 
probe macht  uns  auf  das  Ganze  gespannt:  später  wird  gezeigt 
werden  müssen,  welche  Fäden  sich  von  hier  aus  zum  Altertum 
zurückspinnen  lassen. 

Eine  andere  Art  volkstümlicher  Mantik  lehrt  uns  H.  Di  eis 
verstehen:  Beiträge  zur  Zuckungsliteratur  des  Okzidents  und 
Orients.  I  Die  griechischen  Zuckuugsbücher  (Melampus  zegi 
:caXß(öv)  1907;  II  Weitere  griechische  und  außergriechische* 
Literatur  und  Volksüberlieferung  1908  (Abh.  d.  BerL  Akad:). 
Er  behandelt  den  weit  verbreiteten  Glauben,  daß  Klingen  im 
Ohr,  Jucken  eines  Gliedes  vorbedeutend  sei,  ein  Glaube,  der 
auch  den  Griechen  und  Römern  geläufig  war.  Die  Schrift- 
quellen werden  ediert,  namentlich  der  Traktat  des  sog.  Melampus 
in  seinen  verschiedenen  Versionen.  Eigentümlich  ist  in  einer 
Rezension  die  Vorschrift,  bei  jedem  Vorzeichen  eine  bestimmte 
Gottheit  zu  versöhnen.  Mit  Recht  schließt  Diels  daraus  (II 
S.  11  des  S.  A.),  'daß  diese  Sühngebete  und  Sühnriten  mit  den 
alten  animistischen  Vorstellungen  zusammenhängen,  die  in 
jedem  unwillkürlichen  Zeichen,  das  sich  im  Körper  bekundet, 
die  Einwirkung  eines  Dämons  erblicken  und  apotropäische 
Gegenmittel  für  nötig  halten*. 

Mit  Ursprung  und  Wesen  dieser  Gegenmittel  beschäftigen 
sich  mehrere  Lexikonartikel  der  letzten  Jahre.  A.  Abt  gibt 
eine  Zusammenfassung  des  Notwendigsten  unter  Amulette  in 
'Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart'  I  447  jff.,  ausführlicher 
sind  die  Charms  and  ämuläs  in  Hastings'  Dictionary  of  Beligion 
and  Ethks  behandelt,  wo  L.  Deubner  das  Griechische,  Referent 
das  Römische  übernommen  hat.  —  G.  Kropatscheck  De  amu- 
letonim  iisu  capita  dm,  Diss.  Greifswald  1907  bespricht  in  Kap.  I 

'  S.  Archiv  XUI  456. 

Archiv  f.  Religionswissenaehaft    XTV  35 


546  Richard  Wünsch 

die  Stellen  der  Zauberpapyri,  die  von  Amuletten  handeln,  und 
gibt  Belege  für  die  antike  Verwendung  der  Phylakteria  sowohl 
in  der  einmaligen  Zauberhandlung  als  auch  im  dauernden 
Gebrauch  des  täglichen  Lebens.  Kap.  II  enthält  ein  Lexikon 
der  apotropäisch  verwendeten  Pflanzen.  Nützlich  wäre  eine 
ähnliche  Zusammenstellung  über  Steine,  Tiere,  Stoffe.  Vielleicht 
erhalten  wir  sie  in  dem  von  dem  Verfasser  versprochenen 
Corpus  amuletorum.  —  P.Wolters  Ein  Apotropaion  aus  Baden  im 
Aargau,  Bonner  Jahrbücher  118,  1909  S.  257 ff.  veröffentlicht 
ein  menschengestaltiges  geflügeltes  fratzenhaft  gebildetes  Wesen, 
das  auf  einem  Tiere  sitzt  und  mit  einem  Phallos  versehen 
ist.  Es  wird  nicht  nur  eine  ansprechende  Deutung  auf  den 
Dämon  Phobos,  sondern  auch  eine  reiche  Sammlung  von 
Gedanken  und  Material  zur  Geschichte  derartiger  Schreckfiguren 
gegeben. 

Abwehrglauben  und  Schaden zaub er  in  gleicher  Weise 
behandelt  das  große  Werk  von  S.  Seligmann,  Der  böse  Blick 
und  Verwandtes,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Aberglaubens 
aller  Zeiten  und  Völker^  I.  IL  Berlin  1910.  Wertvoll  ist 
die  von  einem  Augenarzt  gegebene  Erklärung  der  Entstehung 
der  Vorstellungen  aus  dem  eigentümlichen  Bau  des  tierischen 
und  des  menschlichen  Auges.  Das  Material  aus  dem  antiken 
Kulturkreis  ist,  soweit  es  dem  Verfasser  erreichbar  war,  zu- 
sammengetragen, aber  mit  Vorsicht  zu  benutzen,  es  ist  weder 
vollständig  noch  überall  kritisch  behandelt. 

Die  Zahl  der  Monumente,  die  dem  antiken  Zauber  ihr 
Dasein  verdanken,  ist  in  den  letzten  Jahren  beträchtlich  ge- 
wachsen. Einige  habe  ich  im  Archiv  XII  S.  1  ff.  zu  deuten 
versucht.  Zu  dem  Bannzauber,  der  den  Gegner  mit  Rache- 
puppen schädigt,  gibt  L.  Mariani  neues  Material:  Osservazioni 
intorno  alle  Statuette  plumbec  sovancsi,  Ausonia  IV  1910,  39  ff. 
Meist  arbeitet  derselbe  Zauber  mit  Bleitafeln:  hierfür  verweise 


'  S.  Archiv  XIII  463   und   meine    ausführliche    Besprechung   BerJ. 
philol.  Wochenschr.  1911,  76flF. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  547 

ich  auf  meine  'Antiken  Fluchtafeln',  Lietzmanns  Kleine  Texte 
Heft  20,  1907 ;  die  zweite  Auflage  befindet  sich  in  Vorbereitung. 
Neue  Bleitafeln  sind,  vermischt  mit  silbernen  Amuletten,  nament- 
lich bei  der  Aufräumung  des  Amphitheaters  in  Trier  gefunden 
worden;  ron  mir  ediert  Bonner  Jahrbücher  119,  1910  S.  1  ff. 
(Die  Laminae  litteratae  des  Trierer  Amphitheaters).  Auf 
Papyrus  bietet  einen  neuen  Fluchzauber  das  Archiv  für  Papynis- 
forschung  V  1911  S.  393  Nr.  312;  in  meinen  Bemerkungen 
S.  397  ist  zur  Bezeichnung  der  Mutter  als  IdCa  fnjxQU  hinzu- 
zufügen R.  Heim  Incantam.  mag.  Nr.  45  ov  stsxsv  V)  IdCcc  UTj'rpa. 
Einen  neuen  Liebeszauber  auf  Papyrus  gab  K.  Preisendanz 
heraus,  Philol.  LXIX  1910  S.  51ff-  —  Fortschritte  macht  auch 
der  Versuch,  die  länger  bekannten  griechischen  Papyri  magicae 
zu  verwerten.  Th.  Schermann,  Griechische  Zauberpapyri  und 
das  Gemeinde-  und  Dankgebet  im  1.  öemensbriefe,  Leipzig  1909 
(Hamack- Schmidt,  Texte  und  Untersuchungen  34,  2B)  zeigt 
an  einem  Einzelfalle,  daß  sich  Gleichheit  von  Gebetsideen  in 
den  griechisch -christlichen  Gebeten  und  den  Anrufungen  der 
Zauberpapyri  sowohl  in  Inhalt  wie  Form  finden;  das  Gebet 
des  Klemensbriefes  'erscheint  als  Glied  eines  Typus,  der  die 
Allmacht  der  Gottheit  in  der  Schöpfung  wie  in  der  Erhaltung 
alles  Lebewesens  zum  Ausdruck  brachte,  um  ihre  Hilfe,  Gnade 
und  Mitwirkung  zu  diesem  oder  jenem  Ziele  zu  erflehen'  (S.  51). 
Als  Hauptquelle  der  magischen  und  christlichen  Gebete  wird 
die  Septuaginta  angesprochen.  —  Eine  Gesamtausgabe  der 
griechischen  Zauberpapyri  wird  von  Preisendanz,  Fahz,  Abt 
und  mir  vorbereitet.  Wenn  sie  vorliegt,  wird  hoffentlich  auch 
die  notwendige  Ausbeutung  des  Inhalts  mehr  Hände  bewegen. 
Ebenso  wie  Marett  (oben  S.  530)  halte  auch  ich  es  für  eine 
wichtige  Aufgabe,  die  Volkskunde  und  die  klassische  Literatur 
für  einander  nutzbar  zumachen:  durch  Interpretation  aus  der 
Literatur  die  Volksreligion  zu  gewinnen  und  die  Erkenntnis 
der  Literatur  durch  religionsgeschichtliche  Erklärung  zu  fördern. 
In  dieser  Absicht  habe  ich  die  Pharmakeutriai  besprochen  ^^Die 

35* 


548  Richard  Wünsch 

Zauberinnen  des  Theokrit,  Hess.  Blätter  für  Volksk.  VIII  1909 
S.  111  ff.)  nnd  E.  Penquitt  veranlaßt,  die  Dido-Episode  der 
Aeneis  zu  erklären  (De  Didonis  Vergilianae  exitu,  Diss.  Königs- 
berg 1910):  die  Komposition  Vergils  scheint  mir  nun  durch 
die  Analyse  des  von  ihm  geschilderten  Liebeszaubers  klar  ge- 
worden zu  sein.  —  R.  Opitz,  Volkskundliches  zur  antiken 
Dichtung,  besonders  zum  Margites,  Progr.  Albert-Gymn.  Leipzig 
1909,  stellt  die  im  Altertum  für  den  Dümmling  typischen  Züge 
zusammen;  darunter  sind  die  Märchenmotive  von  einem  ge- 
wissen Interesse.  —  C.Zipfel  Quatenus  Ovidius  in  Ihide  Calli- 
machum  aliosque  fontes  imprimis  defixiones  secutus  sit,  Diss. 
Leipzig  1910  spricht  S.  5 — 27  eine  Reihe  von  Formeln,  die 
sich  mit  den  Wendungen  der  Fluchtafeln  decken,  als  Nach- 
ahmung volkstümlichen  Brauches  an.  —  Für  die  Apologie  des 
Apuleius  haben  wir  außer  von  Abt  (s.  S.  526)  auch  das  Werk 
eines  Franzosen  bekommen.  Während  Abt  es  sich  zur  Auf- 
gabe macht,  zu  jeder  Erwähnung  eines  magischen  Zuges  mög- 
lichst vollständig  das  Parallel material,  namentlich  aus  dem 
hellenistischen  Zauber  herbeizubringen,  willP.  Valette  Uapölogie 
d'Äpulee,  These,  Paris  1908  den  persönlichen  Ansichten  des 
Apuleius  und  seiner  Schrift  als  einem  Kunstwerk  gerecht  werden. 
So  ergänzen  sich  beide  Arbeiten  aufs  beste.  Von  Vallettes 
mehr  allgemeinen  Ausführungen  hebe  ich  hervor  die  Bemer- 
kungen zu  Zauber  und  Recht  (S.  34),  Zauber  als  Gewerbe  (S.  55), 
Zauber  und  Medizin  (S.  68),  über  Dämonen  (S.  220),  Orakel 
(S.  272),  Religion  und  Magie  (S.  290).  Die  auf  L  Bruns 
fußende  Bemerkung  S.  25,  daß  die  augusteischen  Dichter  an 
die  Wirksamkeit  des  Zaubers,  den  sie  schildern,  wirklich 
geglaubt  hätten,  ist  nach  R.  Dedo  De  antiqu.  snpe)'st.  antat., 
Diss.  Greifsw.  1904  S.  41ff.  nicht  mehr  haltbar. 

Von  der  primitiven  wende  ich  mich  zur  entwickelten 
Religion  und  beginne  mit  den  Schriften  über  Kultbauten. 
H.  Muchau,  Pfahlhausbau  und  Griechentempel,  Jena  1909  geht 
aus  von  der  Hypothese  P.  Sarasins  'Über  die  Entwicklung  des 


Griechische  and  römische  Religion  1906  — 1910  549 

griechischen  Tempels  aus  dem  Pfahlhause'.  Nicht  das  Pfahl- 
bauhaus als  solches,  sondern  ein  auf  Pfählen  ruhender  über- 
dachter Bretterboden  über  einer  den  Nymphen  geweihten 
Quellgrotte  ist  das  Urbild  des  griechischen  Tempels  (S.  14). 
Denn  die  Cella  muß,  da  das  Wort  von  ceUar  (Keller)  abgeleitet 
und  vaög  ton  den  Najaden  nicht  zu  trennen  ist,  eigentlich 
eine  Brunnengrotte  gewesen  sein;  'spielt  doch  das  Weihwasser 
noch  heute  in  der  katholischen  Kirche  gleich  beim  Eintritt 
eine  überaus  wichtige  Rolle'  (S.  99).  Die  weiteren  Aufstellungen 
über  die  Entwicklung  des  Tempels  s.  S.  314 ff.;  mit  dem  zwei- 
schneidigen Werkzeug  der  Etymologie  wird  bewiesen,  daß  der 
griechische  Tempelbau  im  letzten  Grund  germanisch  ist.  Da 
steht  gedruckt,  daß  Dardanos,  der  Sohn  des  Donnergottes  Zeus, 
deutlich  eine  Verdoppelung  des  Wortelements  Danor  zeige,  da 
auch  im  Nordischen  bekanntlich  Donar  einsilbig  Thorr  genannt 
werde  —  Dardonar  kann  also  mit  Thor  Donar  gleichgesetzt 
werden.  'Diese  Begriffe  führen  uns  den  in  dem  Eichbaum 
(dendru)  von  Dodona  (eigentlich  Dordonar?)  hausenden  Gewitter- 
gott Thor  Donar  vor.'  Das  Buch  will  nach  dem  Vorwort 
'für  Germaniens  Ruhm  und  Größe  seit  den  Tagen  der  Steinzeit 
fechten'. 

H.Nissen,  Orientation,  Studien  zur  Geschichte  der  Religion, 
Heft  I — HI,  Berlin  1906 — 10  begründet  noch  einmal  unter  Be- 
nutzung der  älteren  Arbeiten  seine  These,  daß  die  Orientierung 
der  meisten  antiken  Tempel  bedingt  sei  durch  die  Absicht,  den 
Grundriss  zu  bestimmten  siderischen  Erscheinungen  in  Beziehung 
zu  setzen.  S.  130:  Die  Grundmaxime  lautet,  daß  die  Tempel- 
axe  im  Längs-  oder  Querschnitt  nach  dem  Aufgang  oder  Unter- 
gang der  Sonne  oder  eines  hervorragenden  Fixsternes  gerichtet 
sei.  Über  die  Richtigkeit  dieser  Theorie  zu  urteilen,  maße  ich 
mir  nicht  an.  Die  Ergründung  der  für  die  einzelnen  Tempel 
maßgebenden  astralen  Rücksichten  gibt  Gelegenheit  zu  einer 
Menge  feiner  Beobachtungen,  die  des  Nachprüfens  wert  sind: 
über  die  Anschauungen  vom  himmlischen  Licht,  über  den  Ein- 


550  Richard  Wünsch 

fluß  der  Gestirne  auf  den  Kultus,  über  den  Festkalender,  die 
Gleichsetzung  von  Göttern  mit  Gestirnen,  über  Herrscherkult 
und  Städtegründung,  über  die  orientalischen  Vorbilder  der 
Orientation  und  ihre  Nachwirkung  im  Christentum.  Besonders 
ansprechend  ist  der  S.  375  ff.  abgedruckte  Vortrag  über  die 
Via  Appia  und  ihren  Gräberkult. 

E.  Petersen,  Die  Burgtempel  der  Athenaia,  Berlin  1907 
behandelt  als  Archäologe  die  Geschichte  des  Baues  und  der 
Kultbilder  des  Erechtheions,  des  alten  Athenatempels  und  des 
Parthenon.  Abschnitt  IV  (Erechtheus-Poseidon)  deutet  Erech- 
theus  als  einen  ursprünglichen  Zeus,  der  im  Blitze  vom  Himmel 
fährt  und  das  öTÖfiLOv  auf  der  Akropolis  schlägt.  Als  Blitz 
ist  er  ein  Zsvg  xataißdtTjg,  der  sich  mit  der  Erdgöttin  Pan- 
drosos  verbindet:  mit  dieser  wird  dann  später  die  homerische 
Athena  geglichen.  Erechtheus  selbst  wird  als  chthonischer 
Dämon  schlangengestaltig  in  der  Tiefe  des  Brunnens  hausend 
gedacht,  später  wird  sein  Kult  von  dem  des  Poseidon  auf- 
gesogen. In  seiner  Mythendeutung  arbeitet  Petersen  mit  der 
in  früheren  Zeiten  beliebten  Methode,  Götter  unter  sich  und 
mit  elementaren  Dingen  gleichzusetzen;  so  heißt  es  S.  89: 
Erechtheus  ist  das  Feuer,  also  Hephaistos;  der  Mythos  erzählt, 
daß  der  Same  des  Hephaistos  zur  Erde  fällt  und  den  Eri- 
chthonios  erzeugt,  d.  h.  der  Himmelsgott  Erechtheus  befruchtet 
im  Wetterstrahl  die  Erde,  die  so  den  Menschen  gebiert.  Da 
wir  über  die  „Grundbedeutung"  der  Götter  zu  wenig  wissen 
und  da  viele  Mythen  mehrdeutig  sind,  kommt  man  auf  diesem 
Wege  nur  selten  zu  gesicherten  Ergebnissen.^  —  F.  v.  Duhn 
Der  Dioskurentempel  in  Neapel,  Sitz.  Ber.  Akad.  Heidelberg, 
Phil.  bist.  Kl.  1910,  S.  1  ff.  notiere  ich,  weil  hier  die  einzige 
aus  Süditalien  bekannte  Giebelkomposition  behandelt  wird,  und 
zwar  auch  mit  Rücksicht  auf  die  religiösen  Gedanken,  welche 
die  Auswahl  der  Giebelfiguren  bestimmt  hat. 


'  Eine  andere  Theorie  über  Erichtbonius  s.  u.  S.  566 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  551 

Für  die  Geschichte  des  Kultus  der  griechischen  Götter 
ist  zunächst  zu  berichten,  daß  L.  R.  Farnell  sein  umfassendes 
Werk  The  cults  of  the  GreeJ:  States  vollendet  hat.  Es  war  zu- 
erst auf  drei  Bände  angelegt,  Band  I  und  II  erschienen  1896. 
In  dem  folgenden  Dezennium  wuchs  dem  Verfasser  der  Stoff 
unt^r  der  Hand,  so  daß  er  statt  des  einen  ausstehenden  Bandes 
deren  drei  gab  (III.  lY  1907,  V  1909  Oxford).  Die  Kulte 
sind  nicht,  wie  man  nach  dem  Titel  schließen  könnte,  choro- 
graphisch  geordnet,  sondern  den  Hauptgöttem,  welche  die 
griechischen  Poleis  in  historischer  Zeit  verehrt  haben.  Von 
Bedeutung  sind  im  3.  Band  Ge  Demeter  Köre  und  die  Götter- 
mutter, im  4.  Poseidon  und  Apollo,  im  5.  Hermes  und  Dio- 
nysos. Die  Darstellung  verbindet  planmäßig  die  Ausnutzung 
der  literarischen  und  archäologischen  Quellen;  die  religiöse 
Unterschicht,  aus  welcher  die  Kulte  der  persönlichen  Götter 
aufsteigen,  wird  beachtet,  ethnographische  Analogien  werden 
herangezogen,  und  zwar,  was  von  Wert  ist,  mit  Besonnenheit.^ 
Die  klare  Darstellung  läßt  die  Hauptzüge  gut  heraustreten; 
übersichtlich  sind  auch  die  Register  der  Zeugnisse  und 
Kultorte. 

Ein  wichtiges  Buch  für  die  griechischen  Kulte  ist  um 
einen  großen  Schritt  weitergekommen,  die  Sammlung  der  Kult- 
gesetze: Leges  Graecorum  sacrae  e  titulis  cdlectae  edidenoü  et 
explanaverunt  J.  de  Prott  et  L.  Ziehen.  Part.  II  fasc.  1  Leges 
Graeciae  et  insidarum  ed.  L.  Ziehen,  B.  G.  Teubner  1906.  Als  I  1 
hatte  H.  v.  Prott  1896  die  Fasti  sacri  erscheinen  lassen;  an 
der  Vollendung  seines  Bandes,  der  noch  die  Inschriften  zum 
Herrscherkult  bringen  sollte,  ist  er  durch  seinen  frühen  Tod 
gehindert  worden.  Der  fehlende  Teil  soll  nach  Ziehens  Vor- 
rede auch  nicht  mehr  erscheinen,  da  die  meisten  dieser  TituK 
inzwischen  von  Dittenberger  in  seinen  Sammlungen  abgedruckt 
sind.      Der  neue  Fasciculus  II  1   enthält   die    IsqoI   vofiot  von 

*  S.  dazu  die  gehaltreichen  prinzipiellen  Erörterungen  in  der  Be- 
sprechung von  L.  Ziehen,  GöU.  gel.  Aiiz.  1911  S.  105  £f. 


552  Richard  Wünsch 

Attica,  dem  Peloponnes,  aus  Nordgriechenland  und  vom  Agä- 
ischen  Meer  und  ist  wertvoll  durch  den  sorgfältigen,  auch  das 
Sakralwesen  ausgiebig  berücksichtigenden  Kommentar,  den  Ziehen 
hinzugefügt  hat. 

Von  den  einzelnen  Kulten  steht  der  des  Zeus  voran. 
Ihm  gilt  der  beachtenswerte  Aufsatz  von  J.  E.  Harrison  The 
KoureUs  and  Zeus  Kuros,  Annual  of  the  British  School  at  Athens 
XV  1908/09  S.  308  ff.  Er  geht  aus  von  einem  in  Paläkastro 
auf  Kreta  gefundenen  Hymnus  auf  Zeus,  der  den  Gott  ^syißrs 
jtovQS  anredet.  Er  wird  als  Hjmnos  der  Kureten  erklärt; 
Kureten  sind  ursprünglich  diejenigen  Priester,  die  an  den 
Jünglingen  die  Riten  der  Männerweihe  vollziehen:  sie  sind  be- 
waffnet, weil  sie  selbst  die  Mannbarkeit  erreicht  haben,  sie  sind 
oiovQOtQÖqioi,  weil  sie  eine  neue  Generation  von  Kriegern  durch 
die  Einweihung  erzielen,  sie  sind  Tänzer,  weil  Tanz  zu  jedem 
primitiven  Mysterium  gehört.  Weil  den  Kureten  der  mit  dem 
Mysterium  verbundene  Enthusiasmus  etwas  Übermenschliches 
verleiht,  werden  sie  als  Dämonen  betrachtet.  Im  Kult  erscheint 
mit  diesen  Dämonen  eine  göttliche  Persönlichkeit  verbunden, 
der  Kuros:  ein  göttlicher  Jüngling,  der  Fruchtbarkeit  bringen 
soll.  Wie  die  ganz  ähnliche  Gilde  der  Salier  in  Rom  die  Auf- 
gabe hat,  durch  rituellen  Tanz  das  alte  Jahr  zu  vertreiben 
und  das  neue  Jahr  zu  bringen,  so  ist  es  Amt  der  Kureten, 
durch  Tanzriten  die  Fruchtbarkeit  zu  fordern  und  durch  ihren 
Hymnos  den  Kuros  zur  Erzeugung  von  Fruchtbarkeit  zu  ver- 
anlassen. —  Bei  Gelegenheit  des  Zeuskultes  sei  die  Abhandlung 
von  P.  Jacobsthal  erwähnt,  Der  Blitz  in  der  orientalischen 
und  griechischen  Kunst,  Berlin  1906.  Obwohl  sie  ein  rein 
formgeschichtlicher  Versuch  sein  will,  muß  sie  hier  notiert 
werden,  weil  sie  an  einem  Objekt  religiöser  Anschauungen 
orientalischen  Einfluß  nachweist:  die  auf  griechischem  Boden 
älteste  Darstellung  des  Blitzes,  das  Doppelbeil,  wird  verdrängt 
durch  das  aus  dem  Orient  stammende  Bild  des  einfachen  oder 
doppelten  dreiteiligen  Strahles. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  553 

Gleichfalls  mit  Kreta  befaßt  sich  W.  Aly,  Der  kretische 
ApoUonkult,  Vorstudie  zu  einer  Analyse  der  kretischen  Götter- 
kulte, Leipzig  1908.  Er  stellt  die  verschiedenen  Formen  dieses 
Kultes,  mit  dem  jüngsten  beginnend,  dar:  das  ist  der  des 
Apollon  Pythios,  der  erst  von  Delphi  aus  eingeführt  ist.  Alter 
sind  die  Kulte  des  aus  dem  Peloponnes  stammenden  dorischen 
Apollon  Kameios,  und  der  des  Apollon  Arayklaios,  an  dessen 
Schöpfung  wahrscheinlich  Achäer  beteiligt  gewesen  sind.  Am 
längsten  verweilt  der  Verfasser  beim  Apollon  Delphin ios,  dessen 
Name  von  einem  chthonischen  Gotte  Delphos  herkomme:  dieser 
Gott  sei  gleich  der  delphischen  Schlange  gewesen,  in  Delphi 
sei  Delphinios  zum  Beinamen  des  Apollon  geworden,  und 
unter  dem  Einfluß  dieser  Tatsache  seien  auch  die  andern 
Heiligtümer  jenes  Delphos  allmählich  dem  delphischen  Gotte 
untergeordnet  worden.  Die  Sage  vom  Apollon  Tarrhaios, 
dessen  Kinder  von  einer  Ziege  g&säugt  werden,  gibt  Veran- 
lassung zu  einem  dankenswerten  Exkurs  über  Mythen  von 
Tieren,  die  Menschenkinder  säugen.  An  letzter  Stelle  werden 
einige  kretische  Sondergötter  behandelt,  die  später  von  Apollon 
aufgesogen  werden.  Nach  Aly  ist  unt«r  diesen  sämtlichen 
Apollonkulten  nichts,  was  als  altkretisch  gelten  kann.  Er 
schließt:  „Kam  Apollon  aus  Lykien,  so  ist  er  jedenfalls  an 
Kreta  völlig  vorübergegangen,  eine  Tatsache,  die  den  östlichen 
Ursprung  des  Gottes  als  sehr  zweifelhaft  erscheinen  läßt". 
Die  hier  in  Frage  gestellte  Hypothese  von  Apollons  lykischer 
Herkunft  geht  auf  v.  Wilamowitz  zurück  (Herm.  XXX VIH 
1903  S.  575  ff.).  Dessen  Meinung  braucht  nicht  richtig  zu 
sein,  aber  durch  Alys  Arbeit,  die  als  geordnete  Material- 
sammlung einen  großen  Wert  besitzt,  ist  sie  nicht  widerlegt, 
da  der  Kult  des  Apollon  von  Kleinasien  aus  seinen  Weg  nicht 
notwendig  über  Kreta  nehmen  mußte.^ 

^  So  L.  Malten  Berl.  phil.  Wochenschr.  1910,  332  ff.  in  einer  ein- 
gehenden Besprechung,  der  m.  E.  mit  Recht  auch  an  der  alt^n  Deutung 
des  Jslqiiviog  als  Delphingott  festhält. 


554  Richard  Wünsch 

Mit  dem  Kult  des  Asklepios  verbinde  ich  die  in  seinem 
Dienst  geübte  Inkubation.  A.  P.  Arabantinos  {'AöxXt^tcios 
xal  'A6xkr]jtLBia,  Leipzig  1907)  richtet  als  Arzt  sein  Interesse 
hauptsächlich  auf  die  Wunderkuren  des  Gottes,  von  denen  die 
Inschriftsteine  erzählen.  Er  sieht  in  ihnen  historische  Doku- 
mente medizinischen  Könnens,  obwohl  es  vielfach  Wunder- 
heilungen sind,  die  sich  im  Traum  vollziehen.  Ahnlich  ratio- 
nalistisch sieht  er  in  Asklepios  keinen  Gott,  sondern  einen 
menschlichen  Arzt,  der  wirklich  gelebt  hat.  Beifall  wird  dieser 
Euhemerismus  kaum  finden.  Hübsch  sind  die  photographischen 
Aufnahmen  der  Ausgrabungsstätten,  die  dem  Buch  beigegeben 
sind.  —  M.  Hamilton  Incubation  or  the  eure  of  disease  in 
Pagan  temples  and  Christian  churches,  St.  Andrews  und 
London  1906  ist  eine  ziemlich  populär  gehaltene  Schrift,  die 
das  Problem  nur  wenig  über  L.  Deubners  Buch  De  incubatione 
hinaus  fördert.  Im  dritten  Abschnitt  sind  einige  Berichte  über 
die  moderne  Inkubation  der  Griechen  beachtenswert.  —  Auch 
Ch.  Michel  Le  culte  d^Esculape  dans  la  religion  de  la  Grece 
ancienne  ist  im  wesentlichen  eine  für  weitere  Kreise  bestimmte 
Zusammenfassung  (Rev.  d'Jdst.  et  de  la  litt.  rel.  1  1910.  S.  44ff.). 

K.  Jaisle,  Die  Dioskuren  als  Retter  zur  See  bei  Griechen 
und  Römern  und  ihr  Fortleben  in  christlichen  Legenden,  Diss. 
Tübingen  1907  enthält  eine  Sammlung  der  Stellen  und  Denk- 
mäler, die  sich  auf  das  Thema  beziehen,  und  vergißt  auch  die 
Monumente  göttlicher  Wesen  mit  ähnlicher  Funktion  (Helena, 
Achilles,  die  Kabiren)  nicht.  Die  Ergebnisse  für  die  Geschichte 
des  Kultus  stehen  S.  72 f.:  die  Dioskuren  sind  als  Retter  zur 
See  bei  den  Griechen  seit  dem  sechsten  Jahrhundert  nachweis- 
bar; so  werden  sie  später  in  Rom  übernommen.  Gegen  das 
Fortleben  in  christlichen  Legenden  bin  ich  skeptisch:  wenn 
z.  B.  der  h.  Castor  von  Coblenz  einem  ungastlichen  Kaufmann 
das  Schiff  dem  Untergang  nahe  bringt  und  es  dann  wieder  flott 
macht,  so  genügt  das  m.  E.  noch  nicht,  um  hierin  eine  bewußte 
Erinnerung  an  den  heidnischen  Kastor  zu  sehen. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  555 

P.  Perdrizet  Cultes  et  myihes  du  Pangee,  Ännales  de  VEst 
XXIV  1910,  1  schildert  die  an  dem  Götterberg  Makedoniens 
bezeugten  Gottesdienste,  soweit  es  Kulte  des  Dionysos  sind 
oder  mit  diesem  zusammenhängen  (Rhesos,  Lykurgos,  Sabazios), 
namentlich  die  Eigenart  des  thrakischen  Dionysoskultes,  sein 
Vordringen  nach  Griechenland  und  seine  Geschichte  am  Pangaios 
bis  zum  Ausgang  des  Altertums.  Das  Buch  ist  aus  Vorlesungen 
zur  Einführung  in  die  Bakchen  des  Euripides  entstanden  und 
schildert  gut  die  Gedankenwelt,  in  die  sich  der  attische  Dichter 
mit  jener  Tragödie  zu  versetzen  gewußt  hat. 

S.  Eitrem,  Hermes  und  die  Toten  {Chrütiania  Videnskabs- 
Selskahs  Forhandlingar  1909  No.  5)  sucht  durch  bestimmte 
kultische  Bräuche  und  antike  Sagen  Beziehungen  zwischen 
Hermes  und  den  Toten  herzustellen.  So  sicher  es  solche  Be- 
ziehungen gegeben  hat,  so  geht  doch  die  These,  daß  man  im 
ganzen  Charakter  der  Hermesverehrung  direkten  Einfluß  des 
Totenkultus  sehen  darf,  zu  weit:  manche  der  Zeugnisse,  auf 
denen  sie  aufbaut,  lassen  auch  andere  Deutungen  zu.  Wertvoll 
sind  die  Beiträge  zum  Totenkult  primitiver  Völker,  so  S.  4ff. 
die  Materialien  über  alte  Beerdigung  der  Toten  im  Hause:  daß 
gerade  hier  die  Wurzel  des  Bauopfers  liegt  (S.  6),  glaube  ich 
nicht.  Schwach  bezeugt  ist  die  Beerdigung  unter  der  Tür- 
schwelle (S.  lOf),  bei  dem  „Totenkultus"  an  der  Tür  isf  ent- 
weder die  Tür  unwesentlich,  oder  es  sind  Riten  der  Abwehr 
böser  Geister,  die,  wie  die  Menschen,  in  die  Wohnung  durch 
die  Türe  einzudringen  versuchen.  —  Mit  dem  Totenkult  be- 
schäftigt sich  desselben  Verfassers  Publikation:  Griechische 
Reliefs  und  Inschriften  im  Kunstmuseum  zu  Kristiania  {For- 
handlingar 1909  No.  9).  Unter  den  veröffentlichten  Stücken 
befinden  sich  auch  einige  sog.  Totenmahlreliefs,  die,  wie  das 
meist  geschieht,  als  Darstellung  kultischer  Opfer  an  heroisierte 
Tote  gedeutet  werden. 

Ich  schließe  an,  was  sich  sonst  auf  die  Verehrung  der 
Toten  bezieht.     E.  Rohde's  Psyche,  Seelenkult  und  Unsterb- 


556  Richard  Wünsch 

lichkeitsglaube  der  Grieclien,  ist  in  vierter  Auflage,  Tübingen  1907, 
erschienen.  Den  unveränderten  Neudruck  haben  beim  ersten 
Band  F.  Scböll  und  A.  Dieterich,  beim  zweiten  W.  Nestle  über- 
wacht. —  Mancherlei  ist  für  diesen  Teil  griechischer  Religion 
aus  den  Grabfunden  geschlossen  worden.  AusH,  Gropengießer, 
Die  Gräber  von  Attika  der  vormykenischen  und  mykenischen 
Zeit,  Diss.  Heidelberg  1907,  hebe  ich  als  wichtige  Einzelheit 
S.  19  hervor:  Funde  von  Bestattung  im  Hause.  —  J.  Zehetmaier, 
Leichenverbrennung  und  Leichenbestattung  im  alten  Hellas, 
Leipzig  1907*  behandelt  das  Thema  im  wesentlichen  archäo- 
logisch, nach  seinen  Ausführungen  gehen  beide  Arten,  die 
Leichen  zu  behandeln,  nebeneinander  her,  soweit  die  Denkmäler 
zurückreichen.  S.  78  wird  die  attische  Schale  abgebildet,  auf 
welcher  der  tote  Glaukos  als  kauernder  Hocker  in  einem 
Kuppelgrab  dargestellt  ist.  S.  22  wird  von  Drähten  berichtet, 
die  in  Gräbern  gefunden  sind  und  ursprünglich  wohl  zur 
Fesselung  der  Leiche,  d.  h.  des  Totengeistes  gedient  haben. 
Wenn  kleine  Kinder  nicht  verbrannt  werden  (S.  156),  so  liegen 
da  andere  Gründe  vor  als  der,  daß  sie  des  Scheiterhaufens 
nicht  wert  gewesen  wären.  Dafür  verweise  ich  auf  J.  de  Mot 
La  cremation  et  le  sejour  des  morts  chez  les  Grecs,  Me'ni.  de  la 
Soc.  d'anthropologie  de  Bruxelles  XXVII  1908  No.  6:  er  bringt 
den  Brauch,  kleine  Kinder  nicht  zu  verbrennen,  sondern  zu  be- 
graben, mit  dem  Glauben  zusammen,  daß  diese  Wesen  noch 
einmal  von  der  Erde  neu  geboren  werden  sollen  (so  schon 
A.  Dieterich,  Mutter  Erde  S.  21).  Im  übrigen  bestreitet  de  Mot 
die  Leichenverbrennung  für  die  mykenische  Zeit;  in  der  Epoche 
der  dorischen  Wanderung  dagegen  sei  sie  allgemein  rezipiert.' 
Den  Grund  für  das  Aufgeben  des  älteren  Begrabens  hatte  schon 


'  Vgl.  die  wichtige  Besprechung  von  E.  Pfuhl  Gott.  gel.  Am.  1907, 
6G7  tf. 

*  Als  gemeingriechiachen  Besitz  bezeichnet  die  Leichenverbrennung 
C.  Rouge,  Bestattungssitten  im  alten  Griechenland,  Neue  Jb.  XXV  1910 
S.  398. 


Griechische  und  römiache  Religion  1906  — 1910  557 

Rohde  in  der  Absicht  gesehen,  den  Toten  TÖllig  Ton  den 
Lebenden  zu  trennen,  durch  die  Vernichtung  des  Leibes  das 
Übergehen  der  Seele  ins  Totenreich  zu  erleichtem.  Diese 
Meinung  stützt  de  Mot  durch  neue  ethnographische  Parallelen. 

Die  athenische  Gräberstraße  schildert  anschaulich  A.  Brück- 
ner, Der  Friedhof  am  Eridanos  zu  Athen,  Neue  Jb.  XXV  1910 
S.  26 ff.  —  R.  Leonhard,  Die  paphlagonischen  Felsengräber 
und  ihre  Beziehung  zum  griechischen  Tempel,  84.  Jahresber.  der 
Schles.  Ges.  für  vaterl.  Kultur,  1906  Abt.  IV  a  S.  1  ff.  zeigt, 
daß  der  Grundriß  dieser  z.  T.  sehr  alten  Grabbauten  der  des 
einheimischen  Wohnhauses  ist:  auch  hier  also  borgt  das  Haus 
des  Toten  seine  Form  vom  Hause  des  Lebenden.  Der  Grund- 
riß, ein  Rechteck  mit  einer  Vorhalle,  die  oft  durch  zwei  Pfeüer 
gestützt  ist,  ist  aber  mit  dem  des  my kenischen  Megarons  und 
des  griechischen  Tempels  identisch.  Leonhard  versucht  nun 
die  griechischen  Tempel  aus  der  Anlehnung  an  die  klein- 
asiatischen Bauten  herzuleiten,  da  das  hellenische  templum  in 
antis  erst  im  siebenten  Jahrhundert  entstehe,  damals  aber  die 
mykenischen  Paläste  seit  fünfhundert  Jahren  zerstört  gewesen 
seien,  also  nicht  als  Vorbild  gedient  haben  könnten.  Dieser 
Schluß  e  siJentio  ist  gefährlich,  er  rechnet  nicht  mit  der  Form 
.griechischer  Wohnhäuser  der  ältesten  Zeit.  Auch  muß  abge- 
wartet werden,  ob  das  Heraion  von  Olympia,  dessen  Datierung 
noch  im  Flusse  ist,  nicht  doch  ziemlich  hoch  hinauf  datiert 
werden  muß. 

W.  A.  Müller,  Nacktheit  und  Entblößung  in  der  altorien- 
talischen und  älteren  griechischen  Kunst,  B.  G.Teubner  1906,  be- 
rührt die  Beziehung  der  Kleiderlosigkeit  auch  zur  Magie  und  zum 
Totenkult.  Nach  dieser  Seite  werden  seine  Ausführungen  er- 
ergänzt durch  J.  Heckenbach  De  nuditate  sacra,  s.  oben  S.  527. 

Es  folgen  die  Abhandlungen  zum  griechischen  Ritus,  die 
sich  natürlich  von  denen  zum  Kultus  nicht  scharf  trennen 
lassen.  Die  wichtigste  ist  das  Buch  von  M.  P.  Nilsson, 
Griechische  Feste  von  religiöser  Bedeutung,  mit  Ausschluß  der 


558  Richard  Wünsch 

attisclieii,  B.  G.  Teubner  1906.  Es  füllt  eine  lange  gefühlte  Lücke 
in  trefflicher  Weise.  Die  Feste  sind  nach  den  einzelnen  Göttern 
geordnet;  die  Feiern  derselben  Landschaft  stellt  man  sich  leicht 
aus  dem  topographischen  Index  zusammen.  Die  Vorzüge  des 
Buches  bestehen  in  der  Zusammenfassung  des  weit  zerstreuten, 
namentlich  epigraphischen  Materials,  und  in  dem  Bestreben, 
die  Riten  der  einzelnen  Feste  in  ihrem  Wesen  zu  begreifen. 
Im  Vorwort  heißt  es:  „In  der  religionsgeschichtlichen  Forschung 
steht  die  Untersuchung  der  Kulte  jetzt  mit  Recht  in  dem 
Vordergrund;  denn  die  junge  Wissenschaft  muß  erst  festen 
Boden  unter  den  Füßen  gewinnen,  ehe  sie  die  weit  schwierigeren 
und  durch  frühere  Lösungsversuche  fast  nur  mehr  verwirrten 
Probleme,  die  Mythen  und  Sagen  stellen,  in  großem  Stil  an- 
greift. Die  Kultbräuche  bieten  die  zuverlässigste  Grundlage, 
um  die  Vorstufen  der  griechischen  Religion  zu  erfassen."  Dieses 
Erfassen  geschieht  unter  Heranziehung  zahlreicher  ethno- 
graphischer Parallelen,  die  manchen  sonderbaren  Ritus  erst  in 
seiner  ursprünglichen  Bedeutung  erkennen  lassen:  so  wird  — 
im  Anschluß  an  A.  Thomsen  —  in  der  Geißelung  der  spar- 
tanischen Epheben  am  Fest  der  Artemis  Orthia  der  Schlag  mit 
der  Lebensrute  gesehen.  Von  grundsätzlicher  Bedeutung  ist  die 
Erkenntnis,  daß  solche  Riten  in  ihrem  Wesen  vielfach  mit 
dem  Zauber  (Fruchtbarkeits-,  Abwehr-,  Wetterzauber)  identisch 
sind,  daß  sie  ursprünglich  für  sich  stehen  und  erst  später  von 
den  Festen  der  großen  Götter  angezogen  wurden  —  die  Eiresione, 
der  Maizweig  z.  B.,  findet  sich  an  verschiedenen  Orten  in  ver- 
schiedenen Kulten  — ,  und  daß  unter  diesen  Festen  solche  von 
agrarischer  Bedeutung  stark  überwiegen. 

Eine  Einzelheit  griechischen  Festbrauches  schildert  P.  Bosch 
in  einer  hübschen  Monographie  (@£(0()dg,  Untersuchung  zur 
Epangelie  griechischer  Feste,  Berlin  1908)  über  das  Institut 
der  Festverkünder.  Sakrale  I>egeliungen  von  allgemeinerer 
Bedeutung,  namentlich  wenn  sie  mit  Agonen  verbunden  waren, 
wurden    in    den    anderen    Poleis    durch    besondere    Gesandte 


Griechische  nnd  römische  Religion  1906  — 1910  559 

(j&eoQoC)  verkündet,  die  zur  Teilnahme  einluden.  Die  Bestallung 
und  die  Geschäftsführung  dieser  Theoroi  Tollzog  sich  in  festen 
Formen,  die  hier  zusammengestellt  und  erläutert  werden.  Da- 
bei fallen  einzelne  Streiflichter  auf  die  Entstehung  und  reli- 
giöse Bedeutung  solcher  Ägone  (S.  17  Zusammenhang  mit  der 
Epiphanie  eines  Gottes). 

P.  Stengel  hat  in  dem  Buch  „Opferbräuche  der  Griechen'', 
Teubner  1910,  seine  seit  dreißig  Jahren  erschienenen  Aufsätze 
zum  Ritus  der  Opferhandlungen  gesammelt.  Die  älteren  sind 
neu  bearbeitet,  xmd  man  wird  sie  mit  Nutzen  neben  des  Ver- 
fassers „Griechischen  Kultusaltertümern"  benützen,  deren  letzte 
Auflage  aus  dem  Jahre  1898  stammt.  Wichtig  sind  diese 
Aufsätze  namentlich  für  Opfersprache  und  Opferstoffe  (Wasser, 
Blut,  Wein^,  Gerste,  Kuchen).  —  Die  Dissertation  von 
Th.  Szymanski  Sacrificia  Graecorum  in  beUis  müitaria, 
Marburg  1908  ist  eine  nützliche  Zusammenstellung  der  antiken 
Nachrichten  über  hellenische  Kriegsopfer:  vor  dem  Auszug, 
auf  dem  Marsch,  vor  und  nach  der  Schlacht  Ein  Anhang 
S.  72  ff.  behandelt  den  Unterschied  der  Ugd  und  ötpdyut,  dazu 
8.  P.  Stengel  in  diesem  Archiv  XIII  85  ff. 

H.  Schnabel,  Kordax,  Archäologische  Studien  zur  Ge- 
schichte eines  antiken  Tanzes  und  zum  Ursprung  der  griechischen 
Komödie,  München  1910,  geht  uns  hier  nur  im  religions- 
geschichtlichen Teile  (S.  41  ff.)  an.  Paus.  VI  22,1  bezeugt  ein 
Heiligtum  der  Artemis  Kordaka  in  Elis,  der  zu  Ehren  Kordai 
getanzt  wurde.  Daraus  werden  Schlüsse  abgeleitet,  die  zu  weit 
gehen  (S.  62):  der  Kordax  habe  seinen  Ursprung  im  Peloponnes, 
sei  in  Urzeiten  als  Fruchtbarkeitszauber  geübt  worden  im  Dienst 
der  großen  Xaturgottheit  Artemis;  dann  sei  er  von  den  Dorem 
übernommen,  aber  zu  einer  profanen  Belustigung  geworden,  als 
Artemis  aus  der  Fruchtbarkeitsgöttin  zur  Jungfrau  wurde. 

Da  vielfach  das  Recht  und  seine  Übungen  aus  der  Reli- 
gion und  ihren  Riten  hervorgegangen  ist,  füge  ich  es  an  dieser 

'  Über  Blut  und  Wein  handelt  auch  Kircher,  s.  o.  S  527. 


560  Richard  Wünsch 

Stelle  ein  und  beginne  mit  den  Arbeiten  von  R.  Hirzel.  Sein 
Buch  „Themis,  Dike  und  Verwandtes,  ein  Beitrag  zur  Gescbicbte 
der  Rechtsidee  bei  den  Griechen",  Leipzig  1907,  ist  ein  wert- 
voller Beitrag  zur  Geschichte  des  Denkens  über  Recht  und 
Gesetz.  Die  Religionsgesehichte  gehen  an  die  Bemerkungen 
zur  Entwicklung  der  abstrakten  Götter  Themis  (S.  1  ff.)  und 
Dike  (S.  56  ff.).  Das  Wort  d-d^ug  wird  als  „Rat"  gedeutet 
und  daraus  die  Göttin  als  Beraterin  des  olympischen  Zeus  und 
als  Orakelgöttin  entwickelt;  dCxrj  soll  den  Wurf  oder  Schlag 
bedeuten,  der  die  streitenden  Parteien  trennt  und  somit  die 
richterliche  Entscheidung  herbeiführt.  So  ist  Dike  zuerst  die 
Göttin  des  Schiedsgerichtes.  Später  wird  sie  als  Strafe  und 
Rache  gefaßt;  sie  wird  zur  unerbittlichen  Erinys  und  nimmt 
ihren  Sitz  in  der  Unterwelt,  im  Gegensatz  zu  der  Olympierin 
Themis.  Von  Einzelbemerkungen  notiere  ich  die  zum  Stab  als 
Symbol  des  Richters  (S.  7 1  ff.)  und  über  die  Vorstellung  vom 
Rechtsleben  im  Staate  der  Götter  (S.  428  ff.).  —  Hirzels  Auf- 
satz „Die  Strafe  der  Steinigung",  Abh.  Phil.  hist.  Kl.  Sachs.  Ges. 
der  Wiss.  XXVII  1909  S.  225  ff.,  sieht  in  der  Steinigung  eine 
Volksjustiz,  die  sich  bei  Griechen  und  Römern  in  bestimmten 
Formen  vollzog;  sie  sei  ursprünglich  nur  ein  Verfahren,  um 
unbeliebte  Mitglieder  der  Gemeinde  zur  Flucht  zu  veranlassen, 
um  sie  aus  der  Gemeinde  auszustoßen.  Erst  später  wird  sie 
zur  Todesstrafe,  die  rechtlich  und  gelegentlich  auch  sakral  als 
solche  sanktioniert  wird.  Aus  der  Bedeutung  des  Ausstoßens 
entwickelt  sich  der  Sinn  der  Abwehr  des  Übels.  So  kann  die 
Steinigung  Sühnbrauch  und  damit  Bestandteil  von  Götterfesten 
werden.  Ich  kann  diese  Konstruktion  nicht  überall  als  sicher 
ansehen;  möglich  wäre  es  jedenfalls,  daß  Steinigung  als  Ver- 
jagung und  Steinigung  als  Tötung  von  Anfang  an  neben- 
einander gestanden  hätten,  oder  daß  sich  die  Verjagung  als 
Abschwächung  aus  der  Tötung  entwickelt  hätte.  Das  Argument 
(S.  244)  „bezweckte  man  mit  der  Steinigung  nur  den  Tod,  so 
war  es  nicht  gerade  nötig,  sie  außerhalb  der  Stadt  vorzunehmen" 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  561 

zieht  nicht:  das  geschieht,  um  nicht  das  Gebiet  der  Stadt  mit 
dem  äyos  einer  Tötung  zu  beflecken.  —  Auch  Hirzels  Talion, 
Philol.  SuppL  XI  S.  407  ff.  bringt  der  Religionsgeschichte  einiges : 
über  die  Talion  als  Grundsatz  der  Priestertheologie  (S.  434), 
besonders  der  delphischen  (S.  469),  als  Leitmotiv  für  das  Aus- 
malen der  Hadesstrafen  und  der  Arten  der  Seelenwanderung 
(S.  472  ff.);  sie  wird  praktisch  ausgeübt  selbst  gegen  unbelebte 
Werkzeuge  (S.  420),  vollzogen  am  Ort  der  Tat  oder  am  Grabe 
des  Ermordeten  (S.  450  ff.),  und  als  göttliche  Vergeltung  ge- 
fürchtet von  der  Wiederkehr  bestimmter  Tage  (S.  461).  — 
E.  Leisi,  Der  Zeuge  im  attischen  Recht,  Frauenfeld  1908, 
interessiert  wegen  der  Stellen  über  Zeugeneid  (dicofioöCa, 
i^onaöCa),  über  Schwurritus  und  Schwurgötter  (S.  57  ff,  142  f.). 
—  Einen  weiteren  Beitrag  zur  Geschichte  des  Eides  gibt 
R.  M.  E.  Meister,  Eideshelfer  im  griechischen  Recht,  Diss. 
Leipz.  1908  (Rhein.  Mus.  LXIII  1908  S.  589  ff.);  merkwürdig 
sind  diejenigen  Eideshelfer,  „die  den  Eid  der  Partei  verstärken 
ohne  eigenes  Wissen  von  dem  Tatbestand,  nur  im  Vertrauen 
auf  den  Charakter  der  Partei"  (S.  579).  Man  möchte  vermuten, 
daß  ursprünglich  jemand  als  Eideshelfer  dieser  Art  nur  dann 
auftrat,  wenn  er  Kultgenosse  der  Partei  war,  und  darum  des 
Schwörenden  Achtung  vor  der  unter  dem  Eid  angerufenen 
Gottheit  bescheinigen  konnte  und  vielleicht  bescheinigen  mußte. 
Auf  dem  Gebiete  des  Mythos^  ist  eine  neue  Gründung 
zu  verzeichnen:  die  der  „Mythologischen  Bibliothek",  die  von 
der  „Gesellschaft  für  vergleichende  Mythenforschung"  heraus- 
gegeben wird.  Welches  die  Ziele  dieses  Unternehmens  sind,  sagt 
uns  das  auf  dem  Umschlag  abgedruckte  Programm.  Es  sucht 
die  Eigenart  des  Mythos  durch  eine  weitgehende  Vergleichung 
ohne  zeitliche  und  örtliche  Beschränkung  zu  erklären  und  die 
Vorstellungen  aufzufinden,  welchen  die  Urheber  der  mythischen 

'  Nicht  zagegangen  sind  mir  C.  Rühl  De  Graecis  ventonim  nomi- 
ntbus  et  fabulis  quaestiones  selectae,  Diss.  Marburg  1909,  und  0.  Höfer, 
Mythologisch-Epigraphisches,  Progr.  Dresden  1910. 

Archiv  f.  Keligionswissenächaft    XIV  3« 


562  Richard  Wünsch 

Erzählungen  in  immer  gleichartiger  Wiederkehr  Ausdruck  ver- 
liehen haben.  Man  könnte  sich  über  das  großzügige  Programm 
dieser  Gesellschaft  nur  freuen,  wenn  es  in  dem  Sinne  durch- 
geführt würde,  daß  alle  Arten  von  Vorstellungen,  die  mythische 
Gedanken  und  Erzählungen  geschaffen  haben,  in  gleicher  Weise 
berücksichtigt  würden.  Aber  die  mir  zugegangenen  Hefte 
zeigen  die  einseitige  Neigung,  alles  auf  astrale  Vorstellungen 
zurückzuführen.  Auch  die  Art  des  Vergleichens  erregt  vielfach 
Bedenken;  zufällige  Ähnlichkeiten  werden  zu  Identifizierungen 
benutzt,  und  wichtige  Unähnlichkeiten  übersehen;  aus  unsicheren 
Etymologien  wird  Wesensbedeutung  erschlossen.  Es  ist  eine 
neue  Belebung  der  indogermanischen  Sideralmythologie,  die 
man  wegen  der  Unsicherheit  ihrer  Ergebnisse  für  immer  ver- 
lassen glaubte.  Das  zeigt  gleich  Band  I  Heft  1  der  „Mytho- 
logischen Bibliothek":  E.  Siecke,  Drachenkämpfe,  Unter- 
suchungen zur  indogermanischen  Sagenkunde,  Leipzig  1907. 
Alle  mythischen  Drachenkämpfe  sind  Mondmythen:  der  Mond 
ist  eine  Schlange,  also  der  schlangengestaltige  Asklepios  ein 
Mondgott  (S.  6)  —  die  übliche  chthonische  Auffassung  der 
Asklepiosschlange  hätte  wohl  eine  Widerlegung  verdient. 
Zeus  ist  Mondgott  (S.  28):  „nur  von  einem  Mondgott  läßt  sich 
ohne  kraftlose  und  kindische  Allegorie  sagen,  daß  er  stirbt 
und  wiedergeboren  wird."  Dann  sind  also  auch  alle  Vegeta- 
tionsgötter Mondgötter.  Von  den  Titanen  sind  einige  Mond- 
götter, Apollo  ist  ursprünglich  Mondgott,  „der  siegreiche  Kampf 
mit  der  Drachin  oder  dem  Drachen  war  wahrscheinlich  Apollos 
Hauptheldentat,  ehe  er  sich  zum  Sonnengott  entwickelt  hatte" 
(S.  42),  Perseus  ist  Mondgott,  die  Chimaira  hat  „drei  Köpfe, 
eines  Löwen,  einer  Ziege  und  einer  Schlange:  diese  Bilder  für 
den  Mond  treten  dem  gläubigen  Beschauer  etwa  am  3.,  10., 
13.  Tag  nach  dem  Vollmond  entgegen  (Löwenkopf,  Ziegen- 
horn,  Schlangenleib  1)"  (S.  48).  Kadmos  ist  Mondgott  (S.  54), 
Gatte  einer  Mondgöttin,  „Vater  anderer  Mondheroinen,  z.  B. 
der  Semele,  welche  in  der  Konjunktion  (dem  Coniugium  mit 


Griechische  and  römische  Religion  1906  — 1910  5G3 

dem  Sonnengotte)  einen  neuen  Mondgott  empfängt,  oder  der 
Agaue,  welche  ihrem  Sohn  Pentheus  (d.  h.  sich  selbst),  wie 
wir  das  allmonatlich  sehen,  den  Kopf  abreißt;  oder  der  Ino, 
welche  unter  dem  Namen  Leukothea  (weiße  Göttin)  zur  Meeres- 
göttin wird,  was  allen  Seefahrern  deutlich  vor  Augen  tritt." 
Herakles,  der  Drachentöter,  ist  naturlich  auch  Möndgott.  Eine 
Ergänzung  der  „Drachenkämpfe"  ist  Sieckes  weiteres  Werk 
„Hermes  der  Mondgott.  Studien  zur  Aufhellung  der  Gestalt 
dieses  Gottes",  Mythologische  Bibliothek  H  Heft  1  (1908),  mit 
besonders  erschienenen  „Nachträgen",  S.  99 — 118.  Daß  Hermes 
ursprünglich  Mondgott  war,  beweist  für  Siecke  u.  a.  der  goldene 
Stab:  „Hermes  hat  einen  solchen  Gegenstand,  weil  er  in  seiner 
schmälsten  Form  als  ein  solcher  erscheint"  (S.  62);  „dem  Gotte 
kommt  bekanntlich  ein  (kreisrunder)  Hut  als  Kopfbedeckung 
zu,  der  :csta6os,  der  m.  E.  eine  Anspielung  auf  den  Vollmond 
darstellt:  daneben  aber  hat  er  auch  oft  einen  Spitzhut,  eine 
spitz  zulaufende  Kappe,  den  ziXos,  den  Odysseus,  der  heroisierte 
Hermes  tragt:  man  könnte  dies,  ohne  sich  lächerlich  zu  machen, 
auf  die  Form  des  Mondes  bald  vor  oder  nach  dem  Vollmond 
beziehen"  (S.  72).  Ein  siderisch  Ungeweihter  würde  zunächst 
glauben,  daß  Hermes  als  Götterbote  den  Botenhut  trägt,  und 
zwar  in  den  beiden  Formen,  die  so  ein  Hut  zu  haben  pflegt. 
So  läßt  vieles,  was  Siecke  astral  deutet,  auch  eine  andere  Er- 
klärung zu.  Daß  aus  Vorgängen  am  Himmel  Mythen  ent- 
standen sind,  wird  kein  Einsichtiger  leugnen.  Nur  sind  sie 
nicht  in  solch  weitgehendem  Maße  Faktoren  des  Mythos,  wie 
das  hier  geglaubt  wird,  und  die  Schwierigkeiten,  die  sich  einer 
gesicherten  Mythendeutung  entgegenstellen,  sind  größer,  als  es 
diese  Bücher  ahnen  lassen;  das  hat  K.  Helm  richtig  in  seiner 
Rezension  der  „Drachenkämpfe"  betont,  Hess.  Blätter  für  Volks- 
kunde VI  1907  S.  138  0". 

In  verwandter  Richtung  bewegt  sich  J.  Helmbold,  Der 
Atlasmythus  und  Verwandtes,  Gymn.-Progr  Mühlhausen  i.  E. 
1906:  er  imterscheidet  den  homerischen  Atlas,  der  eine  mono- 

36* 


564  Richard  Wünsch 

dämonische,  und  den  hesperisclien  Atlas,  der  eine  dichodämo- 
nisclie  Ausdeutung  des  Zodiakalliclitpliänomens  erhält.  — 
J.  Menrad,  Der  Urmythus  der  Odyssee  und  seine  dichterische 
Erneuerung:  Des  Sonnengottes  Erdenfahrt,  München  1910 
bevorzugt  die  solare  Auffassung:  'Odv66svg  hängt  mit  Ivx 
„leuchten"  zusammen,  er  ist  apollinischer  Jahres-  oder  Sonnen- 
gott. IlrjvslöotT],  zu  xf^vos  ,.Faden"  gehörig,  ist  die  Weberin, 
d.  h.  die  Erde,  die  mit  Hilfe  der  Sonne  ihre  Geschöpfe  webt. 
Um  diese  beiden  Hauptfiguren  spinnt  sich  der  Mythus  (S.  42): 
„Der  Sonnengott  bricht  mit  seinen  zwölf  Genossen  von  der 
Himmelsburg  auf,  um  zur  Erde,  der  großen  Weberin,  die  er 
sich  als  Braut  erkoren  und  um  die  er  freien  will,  zu  gelangen." 
Und  so  fort. 

Mit  der  astralen  Auffassung  des  Odysseusmythos  verbindet 
sich  die  Theorie  des  babylonischen  Ursprungs  bei  C.Fries, 
Studien  zur  Odyssee,  I  Das  Zagmukfest  auf  Scheria.  Mit- 
teilungen der  Vorderasiatischen  Gesellschaft  XV,  Heft  2 — 4, 
Leipzig  1910.  Der  Aufenthalt  des  Odysseus  auf  Scheria  (S.  2) 
„ist  ein  mythischer  Vorgang,  eine  Kultlegende  ...  es  ist  der 
Lichtgott,  der  Jahresheld,  der  junge  Frühling,  der  den  Sterb- 
lichen erscheint,  von  ihnen  festlich  eingeholt  und  mit  ge- 
bührender Feierlichkeit  in  sein  neues  Reich  eingesetzt  wird.  .  .  . 
Das  große  Ereignis,  das  von  Babylon  bis  auf  die  Gegenwart 
überall,  sei  es  als  Zagmuk,  Sakäen,  Saturnalien,  Lichtmeß  oder 
Karnevalsfest  ernst  oder  heiter  von  jung  und  alt  begangen 
wurde  und  wird,  bildet  den  Hintergrund  unserer  Dichtung". 
So  werden  alle  Züge  der  Erzählung  religiös  ausgedeutet:  die 
Landung  des  Odysseus  auf  Scheria  ist  die  Epiphanie  der 
Jahresgottheit,  Odysseus  schläft  auf  dem  Baum  wie  Horus  im 
Lotoskelch,  Nausikaas  Wäsche  wird  mit  den  Plynterien  des 
Götterbildes  gleich  geschaut,  ihr  Ballspiel  ist  astraler  Zauber, 
der  das  Hervortreten  des  Gottes  bewirkt,  und  der  einziehende 
Gott  kommt  auf  der  Prozessionsstraße,  zunächst  heimlich,  wie 
auch   Kultbilder  heimlich  zurückgebracht   werden.     Das   Buch 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  565 

enthält  wertvolles  Vergleichsmaterial  aus  Religion  und  Volks- 
kunde vieler  Stämme,  so  über  Baden,  Tanzen  und  Wettkämpfe 
in  Beziehung  zum  Kult.  Den  Ergebnissen  vermag  ich  nicht 
zu  folgen,  sie  legen  m.  E.  zu  viel  in  das  homerische  Gedicht 
hinein  und  z.  T.  Anschauungen  ganz  anderer  Kulturkreise. 
Die  Berechtigung,  ja  Verpflichtung,  Altgriechenland  mit  dem 
alten  Orient  zu  vergleichen,  ist  nicht  zu  bestreiten.  Aber  ehe 
wir  annehmen,  daß  griechischer  Glaube  und  griechischer  Ritus 
aus  dem  Orient  übernommen  ist,  muß  uns  erst  bewiesen 
werden,  daß  Verpflanzung,  nicht  bodenständiges  Wachstum 
^  vorliegt. 

Mit  den  heiklen  Problemen  der  Mythenwanderung  und 
Mythenverschiebung  befaßt  sich  E.  Neustadt  De  lote  Crdico, 
Diss.  Berlin  1906.  Behandelt  werden  die  Sagen  von  den 
Nymphen,  die  das  Zeusknäblein  ernährten.  Nach  einer  Version 
ist  es  von  Adrastea  und  Ida  auf  Kreta  genährt  worden.  Ida 
ist  die  phrygische  Bergnymphe,  Adrastea  ist  Lokalgottheit  der 
gleichnamigen  Stadt  in  Phrygien;  später  sind  beide  Gottheiten 
durch  Gleichsetzung  des  phrygischen  und  des  kretischen  Ida 
nach  Kreta  übertragen  worden.  Auf  Kreta  heimisch  ist  eine 
andere  Amme,  Amaltheia,  ursprünglich  ein  Dämon  der  Frucht- 
barkeit, der  entweder  in  Tiergestalt  als  Ziege  oder  anthropo- 
morph  gedacht  wurde:  diesem  Dämon  kommt  das  Hom  der 
Amaltheia,  die  unerschöpfliche  Wunderquelle  der  Fruchtbar- 
keit, mit  Recht  zu.  Im  Zusammenhang  damit  wird  Ariadne 
besprochen,  gleichfalls  eine  Göttin  der  Fruchtbarkeit,  deren 
Kult  nach  Kreta  von  Naxos  gekommen  ist;  der  Meeressprung 
des  Theseus  wird  mi£  Frühlingsfesten  verglichen,  bei  denen  der 
Genius  der  Fruchtbarkeit  ins  Wasser  geworfen  wird.  Außer 
Amaltheia,  die  das  Knäblein  mit  Milch  nährt,  wird  auch  eine 
Melissa  erwähnt,  die  ihm  Honig  einflößt;  die  Spuren  dieser 
bienengestaltigen  Göttin  werden  bis  in  vorgriechische  Zeit 
hinein  verfolgt.  Da  der  Verfasser  überall  die  Tatsachen  des 
Kultus  und  die  Bedeutung  der  Riten   mit  beachtet,  ist  er   zu 


566  Richard  Wünsch 

ansprechenden  Ergebnissen  gekommen.  Die  Dissertation  ist 
eine  Vorarbeit  für  ein  größeres  Werk  über  die  göttliche  Mutter 
und  den  göttlichen  Sohn,  dem  man  nach  den  hier  vorgelegten 
Proben  mit  Spannung  entgegensieht.  —  P.  Friedländer, 
Herakles,  sagengeschichtliche  Untersuchungen  (Philologische 
Untersuchungen,  herausgeg.  von  A.  Kießling  und  U.  v.  Wilamo- 
witz-MöUendorff  XIX  1907)  sucht  den  Ursprung  des  Kultes  in 
Tiryns:  dort  war  Herakles  ein  Heros,  der  gegen  alles  Übel  zu 
helfen  vermochte,  von  dem  man  sich  erzählte,  daß  er  bei  Leb- 
zeiten selbst  alles  Übel  niedergerungen  hatte.  In  der  Zeit  der 
Kolonisation  kommt  seine  Verehrung  nach  Rhodos,  und  hier 
wächst  der  Heros  zum  Gott.  Von  Rhodos  wandert  der  Dienst 
des  Gottes  Herakles  nach  dem  Mutterland  und  gewinnt  dort 
allgemeine  Verbreitung.  Das  Buch  ist  kühn  und  glänzend  von 
einem  geistreichen  Menschen  geschrieben,  aber  das  Neue,  was 
es  bringen  will,  überzeugt  nur  auf  kurze  Zeit.  Von  einem 
Werk,  das  sich  unter  Useners  Namen  stellt,  erhofft  man  Blei- 
bendes. —  J.  Böhm  Symbolae  ad  Herculis  historiam  fahularem 
ex  vasculis  pidis  petitae,  Diss.  Königsberg  1909  behandelt  die 
Entwicklung  der  bildlichen  Darstellungen  und  der  literarischen 
Form  der  Mythen  von  Herakles  bei  Pholos  und  im  Kentauren- 
kampf, vom  Zuge  gegen  Geryoneus  und  die  Heraufholung  des 
Kerberos.  —  B.  Powell  Erichthonius  and  the  three  daughters 
of  Cecrops,  Cornell  Studies  in  Classical  Philology  XVII  1906 
sieht  in  Erichthonios  ^  einen  alten  Schlangengott.  Die  Schlange 
bedeutet  das  fruchtbare  Prinzip;  in  ihrem  Kult  gab  es  einen 
Ritus  {ccQQ'r}(poQCa,  iQöTjqiOQCa) ,  der  Fruchtbarkeit  bezweckte. 
In  eine  Cista  wurden  Bilder  von  Schlangen  und  Phalli  gelegt: 
der  Akt  des  Hineinlegens  dieser  Dinge  in  das  runde  Geflecht 
war  ein  Abbild  der  sexuellen  Vereinigung,  der  Nachahmungs- 
zauber, der  befruchtend  auf  den  Acker  wirken  sollte.  Ursprüng- 
lich waren  zwei  Mädchen  bei  diesem  Ritus  beteiligt:  aus  ihnen 
entstanden  die  Heroinen  Aglauros  und  Pandrosos,  später  ist 
*  S.  oben  S.  650. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  567 

Herse  als  Eponyme  der  Hersephorie  dazu  erfunden  worden. 
Die  Deutung  des  Ritus  erscheint  mir  beachtenswert,  die  Ent- 
wicklung der  Götterfiguren  nicht  sicher;  mehrfach  vermutet  der 
Verfasser  hinter  ihnen  semitischen  Einfluß  in  einer  Weise,  die 
mich  nicht  überzeugt  hat.  —  0.  Wolff,  Polvneikes,  ein  Bei- 
trag zur  thebanischen  Sage,  Jahresber.  Gymn.  Chemnitz  1906 
ist  nur  eine  andere  Redaktion  des  Artikels  „Polyneikes"  in 
Roschers  Lexikon,  der  von  demselben  Verfasser  herrührt.  — 
J.  Vürtheim  De  Aiacis  origine  cidtu  patria.  accedunt  commen- 
taiiones  tres:  de  Amazonibus,  de  Cameis j  de  Tdegonia,  Leiden 
1907,  hat  in  dem  Hauptstück  —  die  drei  Commentationes  sind 
Abdrucke  älterer  Aufsätze  aus  der  Mnemosyne  —  die  Absicht, 
an  einem  Beispiel  zu  zeigen,  was  einzelne  lokale  Kulte*  und 
Mythen  für  die  Entstehung  des  Heldensangs  beigetragen  haben. 
Danach  sind  die  beiden  Aias  des  Epos  ursprünglich  nur  einer 
gewesen,  und  zwar  ein  bei  den  Lokrem  verehrter  gigantenartiger 
Dämon.  Dann  sei  Aias  zum  menschlichen  Heros  geworden, 
der  sich  außerhalb  seiner  Heimat  zum  großen  Aias  auswuchs: 
im  Gegensatz  zu  ihm  blieb  der  alte  lokrische  Dämon,  von  dem 
man  wenig  zu  erzählen  wußte,  der  kleine  Aias.  Aus  diesem 
lokrischen  Aias  hat  sich  dann  Teukros  entwickelt,  der  als 
Bogenschütze  neben  den  alten  Lanzenkämpfer  tritt  Auch  die 
Nebenfiguren  des  Aiaskreises,  Telamon  und  Oileus,  werden  be- 
handelt und  das  Opfer  der  lokrischen  Jungfrauen  in  Ilion  er- 
hält seine  Deutung.  Zum  Beweis  der  alten  dämonischen  Natur 
des  Aias  geht  Vürtheim  von  der  Unverwundbarkeit  aus,  die 
ihm  der  Mythos  beilegt.  Aber  daß  dies  ein  ursprunglicher 
Zug  sei,  wird  jetzt  von  0.  Berthold,  Die  Unverwundbarkeit 
in  Sage  und  Aberglaube  der  Griechen,  Rel.  gesch.  Vers.  Vorarb. 
XI 1  (1911)  S.  6  ff.  bestritten.  Auch  den  Bedenken,  die  0.  Gruppe, 
Berl.  phil.  Wochenschr.  1908,  687  f.  gegen  einige  Folgerungen 
Vürtheims  hat,  dessen  Arbeit  er  mit  Recht  beachtenswert  nennt, 
kann  ich  mich  nicjit  entziehen:  für  solche  Untersuchungen 
'  S.  dazu  Pfister,  oben  S.  527. 


568  Richard  Wünsch 

ist  unser  mythographisclies  Material  meist  zu  lückenhaft  und 
zu  vieldeutig.  —  W.  A.  Oldfather,  Lokrika,  sagengeschicht- 
liche  Untersuchungen,  Diss.  München  1908  (Philol.  XL VII  1908 
S.  411  ff.)  behandelt  einige  Fragen  der  Stammesmythen  der 
Lokrer:  ihr  Heros  Medon  ist  ursprünglich  an  vielen  Orten 
Mittelgriechenlands  verehrt  worden;  der  lokrische  Träger  dieses 
Namens  hatte  Beziehungen  zu  Südthessalien,  war  in  lokaler 
Sage  und  Dichtung  verherrlicht  und  wurde  erst  spät  in  die 
trojanischen  Sagen  eingeflochten.  Von  den  Exkursen  gibt 
S.  469  das  Material  über  den  Hermeskult  bei  den  Lokrern.  — 
Im  Philol.  XLIX  1910  S.  114  ff  weist  derselbe  Verfasser  auf 
neue  „Funde  aus  Lokri"  hin,  namentlich  auf  die  Votivpinakes 
aus  Lokroi  Epizephyrioi,  die  auf  einen  Persephonekult  mit 
mystischem  Einschlag  schließen  lassen;  es  finden  sich  mytho- 
logische Szenen,  die  wohl  auf  die  Hoffnung  einer  V\riedergeburt 
zu  deuten  sind. 

0.  Mößner,  Die  Mythologie  in  der  dorischen  und  alt- 
attischen Komödie,  Diss.  Erlangen  1907  kommt  hier  nur  als 
Materialsammlung  in  Betracht;  die  Ergebnisse  (S.  154  ff.)  be- 
treffen mehr  die  Technik  der  Komödie.  —  Einen  Mythus,  der 
sich  an  eine  historische  Person  angeschlossen  hat,  behandelt 
H.  Leßmann,  Die  Kyrossage  in  Europa,  Jahresber.  über  die 
Stadt.  Realsch.  Charlottenburg  1906.  Er  gibt  eine  Analyse 
der  Sage  von  der  Jugend  des  Kyros  (Verfolgung  um  einer 
Weissagung  willen,  Verfolgung  durch  Aussetzung,  Rettung 
durch  Tieramme  und  menschliche  Pflegeeltern)  und  sammelt 
die  europäischen  Sagen,  die  aus  verwandten  Zügen  kombiniert 
sind.  —  F.  Bertram,  Die  Timonlegende,  eine  Entwicklungs- 
geschichte des  Misanthropentypus  in  der  antiken  Literatur, 
Diss.  Heidelberg  1906,  ist  instruktiv  für  die  Legendenbildung 
auch  auf  religiösem  Gebiete:  man  erkennt,  wie  aus  einem  festen 
historischen  Kern  (aus  Timon,  dem  Hasser  der  ävdQsg  3tov)]QoC) 
durch  allmähliche  Ausweitung  (auf  Timon,  den  Hasser  aUer 
Menschen)  ein  Typus  geschaffen  wird,  an  den  sich  dann  die 


Griechische  und  römische  Religion  1906—1910  569 

verschiedenen    Anekdoten    ankristallisieren,    die    schon    vorher 
ohne  einen  benannten  Helden  im  Volk  umliefen. 

Die  Mysterien  behandelt  zusammenfassend  K.  H.E.deJong, 
Das  antike  Mysterienwesen  in  religionsgeschichtlicher,  ethnolo- 
gischer und  psychologischer  Beleuchtung,  Leiden  ]909.  Nach 
einer  Schilderung  des  vermutlichen  Gehaltes  des  eleusinischen 
Geheimkultes,  der  Mysterien  der  Isis  (hauptsächlich  nach  Apu- 
leius)  und  des  Mithras  (hauptsächlich  nach  Cumont)  wird  ge- 
zeigt, daß  die  Mysterien  in  Ritus  und  Absicht  im  wesentlichen 
mit  der  Magie  stimmen:  sie  fordern  Enthaltsamkeit  aller  Art, 
eine  besondere  Tracht  für  die  Teilnehmer,  sie  arbeiten  mit 
Opfern  und  Sprüchen  zur  Anlockung  der  Götter  und  ver- 
anlassen diese  zu  bestimmten,  dem  Menschen  nützlichen  Dingen : 
Gewährung  von  Ernte-  und  Kindersegen,  Verleihung  von  Heil 
im  Diesseits  und  Jenseits  (dies  wie  in  den  christlichen  Mysterien, 
S.  181  ff.).  Ursprünglich  sind  die  Mysterien  nur  eine  Art  offi- 
zieller Magie,  später  tritt  der  magische  Charakter  meist  zurück 
(S.  198).  S.  203  ff.  sind  im  wesentlichen  ein  Kommentar  zu 
Apuleius'  Mystenbekenntnis,  Metam.  XI  23:  accessi  cünfintum 
mortis  et  calcato  Proserpinae  limine  per  omnia  dementa  vedus 
meavi:  nocte  media  vidi  solem  candido  coruscantem  lumine,  deos 
nferos  et  deos  superos  accessi  coram  et  adoravi  de  proximo.  Die 
hier  geschilderten  Vorgänge  werden  mit  sehr  umfangreichem 
ethnographischem  und  psychologischem  Material  als  Visionen 
erklärt,  welche  die  Mysten  in  der  Ekstase  zu  haben  glauben.  Aber 
es  läßt  sich  nicht  beweisen,  daß  diese  Dinge  nicht  dem  Mysten 
durch  ein  dgcbnEvov  leibhaftig  zur  Schau  gestellt  wurden.  — 
A.  Jacoby,  Die  antiken  Mysterienreligionen  und  das  Christen- 
tum, Religionsgeschichtliche  Volksbücher  für  die  deutsche  christ- 
liche Gegenwart  III  12,  Tübingen  1910,  gibt  eine  knappe  Dar- 
stellung des  Wesens  der  Mysterien;  S.  28  beginnt  ein  kleines 
Textbuch,  das  wichtige,  auf  die  Mysterien  namentlich  der  Isis, 
der  großen  Mutter,  des  Hermes  bezügliche,  z.  T.  entlegene  Texte 
in  deutscher  Übersetzung  gibt. 


570  Richard  "Wünsch 

Zu  den  Eleusinischen  Mysterien  notiere  ich  D.  Philios 
'EXsvöCg,  MvöTiJQia,  ^QaCma  xai  fiovöslov  avxTJs,  Athen  1906, 
die  zweite  Auflage  eines  für  weitere  Kreise  bestimmten 
Führers.  —  0.  Kern,  Eleusinische  Beiträge,  Hallenser  Univer- 
sitätsschrift (betr.  Preisaufgaben)  1909  knüpft  zunächst  an 
Dieterichs  Gedanken  an  (Archiv  XI  163  ff.),  daß  die  dgafiava 
von  Eleusis  das  attische  Drama  beeinflußt  haben:  er  vermutet 
solchen  Einfluß  in  des  Aischylos  Wv^afcayol  und  'EXbv6Cvioi 
und  hält  ihn  in  den  KiqQVKsg  für  möglich.  Sodann  veröffent- 
licht er  einige  Gefäße  mit  Darstellungen  aus  dem  bakchischen 
Kreis;  der  Stelle  wert  ist  Szene  a  (S.  18),  der  Umzug  des  von 
einem  Sakralbeamten  dargestellten  Dionysos,  und  h:  eine  nackte 
Frau,  die  über  den  Kopf  eines  nackten  Knaben  eine  Schale 
auszugießen  scheint,  vielleicht  eine  Art  dionysischer  Taufe.  — 
H.  Di  eis  Arcana  Cereälia  (Miscdlanea  di  ÄrcJwologia  di  Storia 
e  di  Filologia  dedicata  dl  Prof.  A.  Salinas)  erklärt,  gestützt  auf  die 
richtige  Deutung  der  Erzählung  von  Demeter  und  Baubo  (Clem. 
Alex.  Protr.  II)  und  zweier  in  Priene  gefundenen  Statuetten 
(nackte  weibliche  Gestalten  ohne  Oberkörper,  deren  Unterleib 
als  Haupt  gestaltet  ist)  die  Baubo  als  Personiflkation  des  Frucht- 
barkeit spendenden  und  deshalb  dem  primitiven  Menschen  be- 
deutsamen pudendum  muliehre',  ursprünglich  ist  es  selbständig 
verehrt,  später  in  den  Kult  der  früchtebringenden  Mutter  Erde 
aufgenommen  worden.  —  Eine  neue  Darstellung  der  Mysten- 
weihe,  speziell  der  Initiation  des  Herakles  in  Eleusis,  bringt 
G.  E.  Rizzo  n  sarcofago  di  Torre  nova,  Rom.  Mitt.  XXV  1910 
S.  89  ff.,  mit  Nachträgen  von  F.  Hauser,  ebenda  S.  273  ff.  — 
Über  die  literarischen  Schicksale  des  mit  den  Mysterien  zu- 
sammenhängenden Mythos  vom  Raub  der  Köre  handelt  L.  Malten, 
Ein  alexandrinisches  Gedicht  vom  Raub  der  Köre,  Herrn.  XLV 
1910  S.  506  ff.  Auch  möchte  ich  an  dieser  Stelle  den  wichtigen 
Aufsatz  von  W.  Gap  eile  erwähnen:  Altgriechische  Askese, 
Neue  Jahrb.  XXV  1910  S.  681  ff.  Er  zeigt  richtig,  daß  Askese 
erst  von  dem  Augenblick  an  möglich  ist,  wo  Seele  und  Leib, 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  571 

Diesseits  mid  Jenseits  als  Gegensätze  empfunden  werden,  wo 
man  den  Leib  im  Diesseits  kasteit,  um  die  Seele  für  das  Jen- 
seits unbefleckt  zu  erhalten.  Diese  religiös-mystische  Richtung 
findet  sich  namentlich  in  orphisch-pythagoreischen  und  plato- 
nischen Kreisen;  zu  ihr  tritt  später  unter  den  Kynikem  und 
Stoikern  eine  ethisch-voluntaristische  Askese. 

Die  mystischen  Neigungen  der  späteren  Zeit  werden  ana- 
lysiert von  R.  Reitzenstein,  Die  hellenistischen  Mysterien- 
religionen, ihre  Grundgedanken  und  Wirkungen,  Teubner  1910. 
Unter  hellenistischen  sind  die  Religionen  verstanden,  in  denen 
sich  orientalische  und  griechische  Elemente  mischen.  Das 
Orientalische  daran  ist  der  Glaube,  daß  die  Götter  als  Menschen 
gestorben  und  als  Götter  auferstanden  sind:  wenn  wir  sie  in 
uns  aufnehmen,  gewinnen  wir  damit  die  Gewißheit  eigener 
'Göttlichkeit.  Das  sind  nicht  mehr  volkstümliche,  das  sind 
persönliche  Mysterien:  der  Myste  erlebt  selbst,  was  der  Gott 
erlebt  hat,  und  wird  dadurch  selbst  Gott.  Für  ihre  Berechtigung 
berufen  sich  diese  Religionen  teils  auf  eine  tradierte  UrofiFen- 
barung,  teils  auf  eine  fortwirkende  unmittelbare  Oflfenbarung 
des  Gottes  an  seine  Diener.  Die  Formen,  in  denen  sich  die 
Offenbarung  vollzieht,  sind  verschieden:  eine  bräutliche  Ver- 
einigung oder  ein  Sterben  und  Wiedergeborenwerden.  Der 
zum  Gott  Erhobene  wird  befreit  von  der  Macht  des  Schicksals 
und  der  Sünde.  Ein  starker  Einfluß  dieser  namentlich  aus 
ägyptisch- griechischen  Schriften  belegbaren  Anschauungen 
findet  sich  besonders  im  Gnostizismus  und  dann  bei  Paulus, 
wie  sich  an  dessen  Begriffsschatz  zeigen  läßt;  nur  aus  diesen 
mystischen  Anschauungen  heraus  verständlich  sind  seine  gegen- 
sätzlichen Begriffe  tj^v^rt  (die  Seele  des  gewöhnlichen  Menschen) 
und  xvevfia  (die  Seele  des  erhöhten  Menschen),  Genauer  auf 
diese  gedankenschwere  Schrift  einzugehen  versage  ich  mir,  da 
Gnosis  und  paulinisches  Christentum  jenseits  der  Grenzen 
meines  Berichtes  liegen.  Nur  das  sei  bemerkt,  daß  in  den 
wertvollen  Exkursen  noch  vieles   von  allgemeinerem  Interesse 


572  Richard  Wünsch 

steht.  Namentlich  verstellt  es  Reitzenstein,  aus  der  Geschichte 
des  Wortes  die  des  Begriffes  abzulesen.  Ich  verweise  dafür 
auf  die  Untersuchungen  zu  öTQariärai  d-sov,  xkto%oi^  de6iiioi, 
xCßTLQ,  dixatovö&ai  reformari,  yv&öLs  dyvcaöCa,  Xöyog  vovg. 
Methodologisch  wichtig  ist  der  Satz  S.  83,  daß  man  nicht  an 
eine  Beeinflussung  des  Heidentums  durch  das  Christentum  da 
denken  darf,  wo  dieselbe  christliche  Vorstellung  in  mehreren 
heidnischen  Religionskreisen  erscheint.  Gut  sagt  P.  Wendland, 
Gott.  Gel.  Änz.  1910  S.  654:  „Die  Forschung  wird  einige  Zeit 
damit  zu  tun  haben,  die  bedeutenden  Ergebnisse  des  gedanken- 
reichen Reitzensteinschen  Buches  zu  verarbeiten  und  zu  seinen 
weiten  Gesichtspunkten,  anregenden  Fragestellungen  und  Kom- 
binationen Stellung  zu  nehmen." 

Eine  eigenartige  Gattung  der  Mystik  ist  die  Zahlenmystik. 
In  unermüdlicher  Arbeit  sucht  W.H.  Röscher  das  Tatsächliche, 
was  wir  über  sie  wissen  können,  zu  erarbeiten.  leb  nenne 
nur  die  beiden  Abhandlungen,  die  am  meisten  sich  mit  der 
Religionsgeschichte  berühren:  Enneadische  Studien,  Versuch 
einer  Geschichte  der  Neunzahl  bei  den  Griechen,  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  des  älteren  Epos,  der  Philosophen  und 
Ärzte,  Abh.  phil.  bist.  Kl.  sächs.  Ges.  der  Wiss.  XXVI  1907  S.  Iff., 
und:  Die  Tessarakontaden  und  Tessarakontadenlehren  der  Grie- 
chen und  anderer  Völker,  ein  Beitrag  zur  vergleichenden 
Religionswissenschaft,  Volkskunde  und  Zahlenmystik,  sowie  zur 
Geschichte  der  Medizin,  Ber.  Phil.  bist.  Kl.  sächs.  Ges.  der  Wiss. 
LXI  1909  S.  21  ff.  Wir  lernen,  wie  die  Neunzahl  in  den 
homerischen  Gedichten  eine  gewisse  rituelle  Bedeutung  erlangt, 
die  nach  Röscher  aus  einer  Berechnung  des  Monats  zu  drei 
Wochen  von  neun  Tagen  hergeleitet  ist;  wir  sehen  weiter,  wie 
auch  der  orphischen  Theologie  die  Neunzahl  heilig  wird.  Die 
Bedeutung  der  Vierzig  entwickelt  sich  an  den  40  Tagen  Un- 
reinheit der  Wöchnerin,  wird  von  da  übertragen  auf  den  Tod, 
der  gleichfalls  eine  Verunreinigung  von  40  Tagen  hervorruft, 
und  wird   zu   einer  allgemeinen  Frist  für  kultische   Reinheits- 


Griechische  tmd  römische  Religion  1906  — 1910  573 

Vorschriften.  Dieselbe  Frist  findet  sich  bei  den  Semiten,  braucht 
aber  nicht  von  dorther  übernommen  zu  sein,  sondern  kann 
sich  aus  gegebenen  Verhältnissen  in  Griechenland  parallel  ent- 
wickelt haben. 

Mit  Zahlenmystik  rechnet  auch  A.  Ludwich,  Homerischer 
Hymnenbau,  Leipzig  1908,  ein  Buch,  das  kein  Philologe  ohne 
reiche  Belehrung  lesen  wird.  Für  seine  Zahlentheorie,  die  uns 
hier  am  meisten  interessiert,  geht  Ludwich  aus  von  dem  Hymnos 
auf  Hermes,  der  zu  Anfang  erzählt,  wie  Maia  im  zehnten  Monat 
der  Schwangerschaft  am  vierten  Tage  ihren  Sohn  gebiert. 
'Die  beiden  Zahlen,  die  der  Dichter  selbst  gleich  im  Proömium 
als  bedeutungsvoll  für  Hermes  hervorhebt,  hat  er  auch  zum 
formalen  Aufbau  seines  Lobgesangs  auf  das  Götterkind  benutzt 
.  .  die  maßgebende  Tradition  unserer  Handschriften  gibt  dem 
Hymnus  580  Hexameter:  es  ist  folglich  sowohl  in  zehnzeilige 
als  auch  in  vierzeilige  Perikopen  teilbar'  (S.  35 f.).  In  dieser 
Weise  wird  auch  für  andere  griechische  Hvmnen  eine  heilisce 
Zahl  als  Fundament  des  Aufbaus  angenommen,  so  für  den  home- 
rischen ApoUonhymnos  7x3  oder  für  des  Kallimachos  Apollon- 
hvmnos  7x4.  Doch  wird  man  an  der  Gültigkeit  dieses 
Prinzipes  für  den  Bau  griechischer  Hymnen  irre,  wenn  man 
sieht,  daß  in  orphischen  Kreisen  die  Zahlenspekulation  beson- 
ders beliebt  war,  und  daß  die  orphischen  Hymnen  sie  nicht 
berücksichtigen.  So  war  dort  die  Sieben  dem  Apollo  heilig 
(Lyd.  de  mens.  p.  33,  11  W),  aber  der  orphische  Apollonhymnus 
(XXXIV  Abel)  hat  27,  nicht  28  Verse.  Man  wird  also  auch 
da,  wo  die  Zahl  der  Verse  das  Vielfache  einer  heiligen  Zahl 
ist,  mit  dem  Zufall  zu  rechnen  haben. 

In  diesen  Zusammenhang  sei  auch  W.  Schultz  eingegliedert, 
Rätsel  aus  dem  hellenischen  Kulturkreise,  I.  Teil:  die  Rätsel- 
überlieferung. Myth.  Biblioth.  IH  1,  Leipzig  1909.  Die  bei  den 
griechischen  Autoren  überlieferten  Rätsel  werden  gesammelt, 
es  wird,  da  der  Begrifi"  des  aiviyfia  sehr  weit  gefaßt  ist,  die 
stattliche  Zahl  373  erreicht.    Darunter  sind  auch  Zaubersprüche, 


574  Richard  Wünsch 

deren  Deutung  nicht  immer  Beifall  weckt.  S.  81  ff.  stehen  die 
bekannten  Ephesia  grammata  Aiöia  ^a^va^svsvg  TsTQai,  Ai^ 
A6ZI  KaraöxL.  Das  soll  heißen:  'Heil  (fügt  der)  Bezwinger 
(auf  der)  Erde  (in  der)  Yierheit  (durch)  Licht  (und)  Schatten.' 
Dabei  wird  S.  87  zu  ziaiiva^svsvg  gesagt:  'das  Wort  ist  da(i- 
vsfisvsvg  zu  emendieren  und  setzt  sich  zusammen  aus  da/i 
NEMEN  svs,  worin  NEMEN  dem  symmetrischen  Kern  der 
Inschrift  zugehört.'  Ich  halte  uns  nicht  für  berechtigt,  einen 
solchen  Kern  zu  postulieren  und  darum  von  der  guten  Über- 
lieferung abzugehn.  Auch  fragt  es  sich,  ob  man  an  jener 
Formel  überhaupt  eine  einheitliche  Erklärung  aus  dem  Grie- 
chischen wagen  darf:  die  Lösung,  die  Schultz  gibt,  ist  nicht 
gerade  ermutigend.  Überhaupt  wird  vielfach  hinter  den  Texten 
zu  viel  gesucht.  So  S.  108  l66v  toi  xvdfiovs  ts  (paystv  xecpaXdg 
re  rox7]C3v:  das  soll  auf  einem  Isopsephon^  xetpalal  xoxiav 
=  144,  xvdfKOv  (psCdsv  =  144  beruhen.  Da  verlangt  man  doch 
die  gleichwertigen  Worte  auch  im  Yers  zu  finden.  Ich  glaube 
immer  noch,  daß  töov  bedeutet:  'es  ist  ein  gleich  schweres 
Vergehen'  (Frühlingsfest  der  Insel  Malta  S.  41).  Dann  ist  das 
aber  gar  kein  Rätsel.  Gerade  der  Zahlenmystik  —  darum 
stelle  ich  das  Buch  hierher  —  ist  Schultz  besonders  ergeben 
(s.  das  Verzeichnis  seiner  Schriften  S.  XIV),  und  auch  in  diesem 
Heft  der  mythologischen  Bibliothek  stößt  man  auf  Mond- 
deutungen.^  Gut  ist  der  Gedanke  von  Schultz,  daß  solche 
Rätsel  mitunter  den  Niederschlag  mythologischer  Vorstellungen 
enthalten  können.  Das  im  einzelnen  an  den  erhaltenen  Texten 
nachzuweisen  hat  er  einem  zweiten,  noch  nicht  erschienenen 
Teile,  den  'Erläuterungen  zur  Rätselüberlieferung'  vorbehalten. 
Bei  Gelegenheit  der  Mysterien  wurde  bereits  das  Verhält- 
nis der  griechischen  zu  fremden  Religionen  betont.  Ehe 
ich  die  Arbeiten  nenne,  die  dies  Verhältnis  eingehend  behandeln, 
sei  ein  Wort  über  die  der  griechischen   verwandte    makedo- 


1)  S.  oben  S.  688.  2)  S.  oben  S.  662. 


Griechische  und  römische  Religion  1906 — 1910  575 

nische  Religion  gesagt,  von  der  wir  jetzt  etwas  mehr  wissen, 
dank  0.  Ho  ff  mann,  Die  Makedonen,  ihre  Sprache  und  ihr 
Volkstum,  Göttingen  1906  S.  92ff.  Große,  den  Makedonen 
eigentümliche  Kulte  werden  uns  zwar  nicht  bezeugt,  dagegen 
einige  Dämonen  zweiten  Ranges:  Darron  (gleich  griech.  &kq6(3v)j 
ein  Dämon  der  Genesung,  der  guten  Mut  bringt;  Arantides  (zu 
dgci;,  weibliche  Fluch-  und  Rachegeister;  Eudalagines  {Evd-al- 
ylvsg),  die  *Holdbezaubernden'. 

Im  Vordergrund  bei  der  Behandlung  fremder  Religionen 
steht  immer  noch  das  Problem  der  Übernahme  semitischer 
Kulte  in  die  ältere  griechische  Religion^,  dessen  Lösungen 
vielfach  den  Boden  der  Tatsachen  verlassen  und  sich  in  luf- 
tigen Hypothesen  verlieren.  J.  Haury,  Über  die  Herkunft  der 
Kabiren  und  über  Einwanderungen  aus  Palästina  nach  Böotien, 
München  1908,  sucht  die  Wurzeln  griechischer  Orts-  und  Götter- 
namen nicht  nur  im  Semitischen,  sondern  auch  im  Ägyptischen. 
Für  die  Kabiren  wird  statt  der  alten  Bedeutung  'die  Großen' 
eine  neue  semitische^  gefunden,  wonach  sie  *die  Genossen'  sind. 
Sie  werden  im  böotischen  Anthedon  verehrt;  da  dieser  Name 
auch  in  Südpalästina  vorkommt,  so  ist  er  semitisch;  folglich 
haben  ähnlich  auslautende  Ortsnamen  wie  Aspledon  denselben 
Ursprung.  Kadmeia,  Chaironeia,  Athena  sind  semitisch;  Theben, 
Damatra  (Hathor),  Orion  (Horos),  Apollon  Ptoos  (Ptäh)  sind 
ägyptisch:  sie  kamen  nach  Hellas,  als  Philister  und  Kretim 
dort  unter  dem  Namen  Pelasger  einwanderten.  Mit  solchen, 
durch  zufällige  Ähnlichkeiten  des  Klanges  ausgelösten  Ein- 
fällen wird  die  religionsgeschichtliche  Forschung  nicht  ge- 
fördert. Schwerer  wiegt  schon  eine  andere  Behandlung  der 
Kabirenfrage:  R.  Pettazzoni  Le  origini  del  Kabiri   ndle    isole 

^  S.  oben  S.  525,  535,  564,  567. 

*  W.  Wackernagel  Kuhns  Zeitschr.  XLI  1907  S.  316  bekämpft  die 
Herleitnng  aus  dem  semitischen  Plural  Kabintn  mit  sehr  erwägenswerten 
Gründen.  Er  weist  darauf  hin,  daß  es  ursprünglich  nur  einen  Eabeiros 
gegeben  hat,  und  daß  im  Semitischen  Kabirim  als  Göttemame  nicht 
nachweisbar  ist. 


576  Richard  Wünsch 

dd  mar  tracio,  B.  Äccad.  dei  Lincei,  Ser.  3%  Classe  di  seiende 
mordli  XII  1908  S.  635 ff.  Sie  kommt  zu  folgendem  Ergebnis: 
In  uralter  Zeit  ist  von  Thrazien  aus  auf  die  Inseln  Thasos, 
Samothrake,  Imbros,  Lemnos  eine  primitive  Religion  über- 
tragen worden,  deren  Götter  ein  männliches  und  ein  weibliches 
Wesen  mit  entsprechendem  männlichen  und  weiblichen  Gefolge 
waren  (Dionysos -Sabazios  und  die  Satyrn,  Bendis-Hekate  und 
die  Mänaden).  Phönizische  Schiffer  brachten  dann  auf  einige 
dieser  Inseln  ihren  Kult  der  Kabiren,  der  'großen  Götter':  es 
waren  ihrer  sieben,  die  einem  achten,  Esmun,  dienten.  Von  den 
Eingeborenen  wurden  die  Dienenden  mit  jenem  Gefolge,  Esmun 
mit  Dionysos  identifiziert;  dabei  erhielt  Dionysos  den  Beinamen 
des  Esmun,  Kadmilos;  der  Name  Kabir  wurde  auf  die  ein- 
heimische Göttin  übertragen  (KaßsLQCo).  Dann  bringt  eine 
hellenische  Einwanderung  nach  Samothrake  den  eleusinischen 
Kult  von  Demeter,  Köre,  Hades:  dieser  Dreiheit  wird  Kadmilos 
zugesellt,  und  die  so  entstandene  Kultgruppe  heißt  nun  ent- 
weder mit  dem  Fremdwort  KdßsiQOi  oder  griechisch  (isydloL 
d^soC.  Allmählich  sinkt  die  erste  Bezeichnung  zum  Namen  der 
dienenden  Gottheiten  hinab:  das  ist  die  letzte  Etappe.  —  Wer 
immer  sich  mit  den  hier  behandelten  schwierigen  Pro- 
blemen abgibt,  muß  sich  mit  Pettazzoni  auseinandersetzen. 
Schon  die  Grundfrage,  die  nach  dem  semitischen  Ursprung 
der  Kabiren,  ist  noch  strittig^;  Kap.  III  I  kahiri  fenici  ent- 
zieht sich  meiner  Beurteilung,  da  ich  von  semitischer  Religion 
nicht  genug  verstehe.  Darum  urteile  ich  auch  nicht  abschließend 
über  eine  zweite  Arbeit  desselben  Verfassers:  R.  Pettazzoni 
Philoktetes-Hephaistos,  Riv.  di  filol.  e  d'  istr.  class.  XXXVII  1909 
S.  170  ff.,  welche  in  derselben  Weise  sich  mit  den  Kulten  von 
Lemnos  befaßt:  Philoktet  undHephaistos  sind  verschiedeneFormen 
einer  nicht  griechischen  Gottheit*,  denn  Philoktet  hat  zum  Gott 

^  S.  oben  S.  676  Anm.  2. 

*  Die  Identität  der  beiden  hatte  schon  Fr.  Marx  behauptet,  Neue 
Jahrb.  1904,  XUl  678  ff. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  577 

der  Esse  nahe  mythologische  Beziehungen:  ein  Sohn  des  Hephäst 
heilt  den  Philoktet,  Philoktet  und  Hephaistos  hinken,  beide 
tragen  den  Pilos.  Zu  Grunde  liegt  ein  prähellenischer  Gott, 
den  die  Phönizier  mit  Esmun-Kadmilos  geglichen  haben;  im 
Namen  Kadm(il)os  steckt  ein  semitisches  Wort  für  Gold, 
PhiJoktetes  e  Hephaistos  ed  e  Kadm(il)os  in  realta  'amante  degli 
averi\  Auch  hier  erkennt  man,  wo  der  Verfasser  mit  grie- 
chischen Dingen  arbeitet,  einen  belesenen,  scharfsinnigen 
Menschen,  der  weit  auseinander  liegende  Notizen  geschickt 
zu  kombinieren  weiß,  aber  auch  diesen  Kombinationen  mit- 
unter mehr  Festigkeit  zutraut,  als  sie  tatsächlich  besitzen. 

G.  Rad  et  Cyhe'be,  Etüde  sur  les  tratisformations  plastiques 
d'  im  type  divin,  Bordeaux  1909  zeigt,  daß  Wandlung  der 
Form  eines  Götterbildes  meist  auch  Wandlung  der  Vorstellung 
vom  Gotte  ist.  Kybebe  ist  die  große  Göttin  von  Sardes;  zu- 
nächst ist  sie  vermutlich  anikonisch,  als  Steinfetisch  verehrt 
worden.  Unter  den  ikonischen  Darstellungen  ist  die  wich- 
tigste der  bekannte  Typus  der  xoxvCa  Q^rjgäv:  dessen  Monumente, 
deren  Fundorte  zugleich  für  die  Verbreitung  des  Kultes  sprechen, 
werden  gesammelt.  Später  verschmilzt  sie  erst  mit  der  Ana'itis 
der  Perser,  dann  mit  der  Artemis  der  Griechen;  eine  noch 
spätere  Zeit  faßt  sie  als  Köre  und  gibt  ihr  unter  dem  Ein- 
fluß einer  archaistischen  Strömung  den  Typus  eines  uralten 
Xoanons. 

Nur  in  einzelnen  Teilen  berührt  die  antike  Religion  das 
Buch  von  J.  G.  Frazer  Adonis  Ättis  Osiris,  Studies  in  the 
History  of  Orimial  Edigion,  London  1906,  2.  Aufl.  1907  ^  Es 
soll  Band  IV  einer  neuen  Ausgabe  des  rasch  bekannt  gewor- 
denen Golden  Bough  sein,  die  auf  fünf  Bände  berechnet  ist. 
Von  der  französischen  Übersetzung  der  ersten  Auflage  durch 
R.  Stiebel  und  J.  Toutain  ist  in  der  Berichtperiode  der  zweite 
Band  erschienen:  Les  meurtres  rituds.  Les  perils  d  les  tranS' 
migraiions  de  Vätne,  Paris  1908. 

1  S.  Archiv  XIII  365. 

Archiv  f.  Religionswissenschaft   XIV  37 


578  Richard  Wünsch 

Das  Bekanntwerden  der  von  Frazer  behandelten  orien- 
talischen Vegetationsgottheiten  ist  im  wesentlichen  ein  Symptom 
des  Hellenismus.  Ich  füge  der  Betrachtung  fremder  Kulte 
in  hellenistischer  Zeit  gleich  zu,  was  über  die  griechische 
Religion  der  Zeit  nach  Alexander  gesagt  worden  ist. 
Fr.  Poland,  Geschichte  des  griechischen  Vereinswesens ,  Preis- 
schrift der  Fürstl.  Jablonowskischen  Gesellschaft  XXXVIII, 
Teubner  1909,  ist  eine  wichtige  Ergänzung  zu  E.  Ziebarth, 
Das  griechische  Vereinswesen  (1896),  namentlich  für  die  Wirk- 
samkeit dieser  Vereine,  die  ja  gerade  für  die  hellenistische  Zeit 
charakteristisch  sind,  und  ihre  Stellung  zum  Kultus.  Für  eine 
Reihe  kultischer  Ausdrücke  findet  man  hier  das  epigraphische 
und  Papyrusmaterial  (S.  33  d-iaöog,  öwd-vtai,  /tvörat^  ßovxöXoi)] 
S.  57  ff.  steht  eine  Liste  der  von  Göttern  abgeleiteten  Vfereins- 
namen  (^AdoviaötaC  usw.).  Die  in  den  Kultvereinen  verehrten 
werden  in  Kap.  II  aufgezählt;  bedeutungsvoll  ist  das  Ein- 
dringen der  fremden  Numina  (S.  214  ff.).  Von  S.  246  ab  wird 
die  Art  des  Kultus  in  diesen  Vereinen  besprochen;  zu  den 
eigentlichen  Götterfesten  treten  die  Gedenktage  berühmter 
Männer,  die  ysvsd-ha^.  Der  Kultus  vollzieht  sich  mit  Opfern, 
Gebeten  und  Festmahl,  mit  Trinkgelagen^,  Prozessionen,  Pre- 
digten und  Mysteriendrama.  Von  Einzelheiten  beachte  man 
das  Vorkommen  von  Trägern  der  heiligen  Symbole  (S.  395), 
die  Fürsorge  für  die  Verstorbenen  (S.  503),  und  die  Analogien 
christlicher  Organisationen  (S.  534). 

In  durchdachter,  feinsinniger  Weise  schildert  J.  Kaerst, 
Geschichte  des  hellenistischen  Zeitalters  II  1  (Teubner  1909) 
S.  202  ff.  auch  die  Religion.  Sie  gilt  damals  nicht  mehr  für 
die  ganze  Polis,  sondern  für  das  Individuum;  die  Götter  werden 


*  Viele  dieser  Vereine  sind  Mystenvereine  und  in  Kleinasien  da- 
heim. Daß  die  orphischen  Hymnen  manche  Beziehungen  zu  Kleinasien 
haben,  wird  damit  zusammenhängen;  s.  0.  Kern  im  Genethliakon  für 
C.  Robert,  Halle  1910.  *  S.W.  Schmidt  Geburtstag,  oben  S.  627. 

'  Hier  stehen  wertvolle  Ergänzungen  zu  Kirchers  Arbeit,  oben  S.  627. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  579 

dem  Denken  des  einzelnen  durch  fortschreitende  Anthropomor- 
phisierung  und  Rationalisierung  angepaßt.  Der  Glaube  an  die 
Tjche  kommt  auf,  der  Herrscherkult  entwickelt  sich  (über 
dessen  Grundlagen  ein  wichtiger  Exkurs  S.  374 fif.),  und  die 
Menschenapotheose  zieht  den  Euhemerismus  nach  sich:  was 
über  ihn  gesagt  wird,  kann  man  mit  Nutzen  auch  neben 
F.  Jacobys  guter  Darstellung  in  Pauly-Wissowas  Real- 
encyclopaedie  VI  952  ff.  lesen.  Das  Vereinsleben  wird  in  seiner 
Bedeutung  von  Kaerst  voll  gewürdigt,  ebenso  der  philoso- 
phische, pantheistisch- ästhetische  Einschlag  in  den  damaligen 
Gottesvorstellungen.  Bei  dem  Hervortreten  des  Asklepios  Soter, 
der  chthonischen  Gottheiten,  der  fremden  Götter  und  der  My- 
steriendienste hätte  man  gern  etwas  mehr  den  Grund  all  dieser 
Erscheinungen  betont  gesehen:  die  Zunahme  des  Glaubens  an 
ein  Jenseits  und  des  individuellen  Erlösungsbedürfnisses.  Unter 
den  synkretistischen  Gottesdiensten  ist  damals  der  wichtigste 
der  von  Ptolemaeus  Soter  geschaffene  Kult  des  Sarapis:  Kaerst 
lehnt  die  Etymologie  aus  dem  ägyptischen  und  die  Herleitung 
des  Kultes  aus  Babylon  ab.  Ganz  anders  stellt  sich  dazu 
J.  Levy  Sarapis,  Bevue  de  Vhist.  des  rd.  LX  1909,  285 ff., 
LXI  1910,  162 ff.:  er  vindiziert  dem  Gott  rein  ägyptischen 
Ursprung  und  erklärt  die  antiken  Berichte  von  der  Herkunft 
des  Gottes  aus  Sinope,  die  man  meist  aus  der  Tempellegende 
des  Sarapeions  abzuleiten  pflegt,  als  Schwindel  des  Apion.^ 

Der  neugeschaffene  Sarapis  ist  sehr  bald  an  Stelle  des 
Osiris  Gatte  der  Isis  geworden,  und  dieses  Götterpaar  hat  von 
Ägypten  aus  seinen  Zug  durch  die  griechische  Welt  gehalten. 
Die   Inschriften,  die    dieses    Kultus  Wanderungen   und  Wand- 

^  Über  den  Ursprung  des  Sarapis  haben  in  der  letzten  Zeit  außer- 
dem gehandelt  C.  F.  Lehmann-Haupt  bei  Röscher  (s.  o.  S.  525), 
E.  Schmidt  (s.o.  S.  527),  E.  Petersen  Archiv  XllI  47  ff.,  W.  Otto  (s.u. 
S.  580^.  Nach  meiner  Auffassung  hat  Ptolemaeus  den  Unterweltsgott  von 
Sinope  mit  dem  Osiris -Apis  der  Ägypter  kombinieren  wollen;  daß  der 
neue  Gott  mit  dem  babylonischen  Sar-apsi  mehr  als  den  Gleichklang  im 
Namen  gemein  hat,  ist  mir  trotz  Lehmann -Haupt  nicht  sicher. 

37* 


580  Richard  "Wünsch 

langen  bezeugen,  hat  A.  Rusch  gesammelt:  De  Sera^ide  et 
Iside  in  Graecia  cultis,  Diss.  Berlin  1906.  Daß  er  zu  klaren 
Ergebnissen  kommt,  verdankt  er  der  geschickt  angelegten 
Disposition,  welche  die  Inschriften  nach  Orten  getrennt  be- 
handelt, im  eigentlichen  Hellas,  auf  den  Inseln,  in  Kleinasieu. 
S.  77  ff.  werden  die  Resultate  übersichtlich  zusammengestellt. 
Es  ist  eine  Vorarbeit  für  das  dringend  notwendige  Werk,  das 
alle  Urkunden  des  antiken  Isiskultes  umfaßt. 

W.  Otto -Greifswald  hat  den  zweiten  Band  seines  Werkes 
^Priester  und  Tempel  im  hellenistischen  Ägypten'  erscheinen 
lassen  (Teubner  1908).-^  Auch  dieser  Teil  ist  reich  an 
wichtigen  Bemerkungen;  wenn  z.  B.  die  Ausgaben  für  den 
Gottesdienst  zusammengestellt  werden,  so  fällt  dadurch  Licht 
auf  die  Art  des  Kultus  (Kap.  V).  S.  213  ff.  handeln  von  der 
Beziehung  der  ägyptischen  Priester  zur  religiösen  Literatur: 
Otto  verhält  sich  gegen  die  Annahme,  die  von  Reitzenstein 
vertreten  wird,  daß  sie  au  den  theologischen,  astrologischen 
und  magischen  Schriften  späterer  Zeit  und  griechischer  Sprache 
stark  beteiligt  gewesen  sind,  ablehnend.  Zusammenfassend 
behandelt  S.  261  ff.  die  Religionspolitik  der  Ptolemäer  und  der 
römischen  Kaiser.  Auch  hier  wird  die  Erschaffung  des  Sarapis 
behandelt  (S.  268,  s.  S.  214):  Otto  tritt  für  die  Ableitung  aus 
Osiris-Apis  ein,  der  an  einen  griechischen  Gott  Sarapis  an- 
geglichen sei.  Es  folgen  Bemerkungen  über  den  Herrscher- 
kult; die  Politik  der  römischen  Kaiser  weicht  von  der  ptole- 
mäischen  nur  darin  ab,  daß  die  Juden,  die  früher  keinerlei 
Bedrängnis  erfahren  haben,  unter  Gaius,  Vespasian  und  Hadrian 
unfreundlich  behandelt  werden.  —  Zu  diesem  letzten  Punkt 
erschienen  zwei  Monographien.  A.  Bludau,  Juden  und  Juden- 
verfolgungen im  alten  Alexandria,  Münster  i.  W.  1906,  inter- 
essiert durch  die  Nachrichten  über  die  religiöse  Organisation 
der  Juden  im  hellenistischen  Ägypten  (S.  20  ff.).  Trotz  des 
Einflusses,  den  der  Hellenismus  auf  sie  gewann  (S.  36ff.),  ist 

^  Zum  ersten  Bande  s.  Archiv  VTII  496  ff. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  581 

ein  schroffer  Gegensatz  zwischen  Griechen  und  Juden  bestehen 
geblieben,  der  sich  in  der  jüdischen  Polemik  gegen  allen 
Götzendienst  zeigt  (S.  49  ff.).  Diese  und  andere  Ursachen  haben 
zu  den  fortwährenden  Streitigkeiten  geführt,  in  die  selbst  die 
Kaiser  eingriffen,  wie  die  erhaltenen  Papyri  lehren.  Diese 
Dokumente  hat  neu  geprüft  U.  Wilcken,  Zum  alexandri- 
nischen  Antisemitismus,  Abh.  Sachs.  Ges.  der  Wiss.  phil.  bist.  Kl. 
XXVII  1909  Nr.  23  (über  die  religiösen  Gründe  der  Abneigung 
zwischen  Griechen  und  Juden  S.  784  ff.). 

G.  Plaumann,  Ptolemais  in  Oberägypten,  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  des  Hellenismus  in  Ägypten,  Leipz.  bist  Abh.  XVIII 
1910  gibt  ein  Resume  auch  über  die  Religion,  die  in  dieser 
Stadt  gepflegt  wurde.  Sie  ist  fast  ganz  griechisch;  die  wenigen 
ägyptischen  Götter  mußten  sich  —  wie  die  fremden  Numina 
in  Rom  —  vor  den  Toren  ansiedeln  (S.  58).  Im  Vordergrund 
stehen  die  Kulte  der  Ptolemaeer,  namentlich  des  Ktistes,  des 
Gsbs  ^syLötos  2Jc3tr]Q.  Daneben  sind  besonders  andere  Heilands- 
kulte beliebt,  der  Dreieinheit  Zsvg  "HXiog  IkarrJQ  (S.  89),  und 
der  d-Bol  I^OTfiQsg,  wohl  der  Dioskuren  (S.  94).  Ein  Heiland 
der  Menschen  ist  femer  Asklepios  (S.  91),  ein  auch  sonst 
bekannter,  ihn  feiernder  Hymnus  ist  in  Ptolemais  gefunden. 
Zu  den  Reinheitsvorschriften  S.  54£,  ist  Fehrle  (oben  S.  527) 
S.  156  f.  heranzuziehen. 

Wie  mächtig  schon  damals  die  Heilandsidee  war,  zeigt 
auch  H.  Lietzmann,  Der  Weltheiland,  eine  Jenaer  Rosen- 
vorlesung mit  Anmerkungen,  Bonn  1909.  Sie  beabsichtigt,  die 
Entwicklung  der  Heilandsidee  innerhalb  der  antiken  Welt  dar- 
zustellen. Objekt  von  Vergils  vierter  Ekloge^  soll  ein  Sohn 
des  Asinius  Pollio  sein  —  dabei  bemerkt  Lietzmann  im  folgen- 
den richtig,  daß  sonst  die  selige  neue  Zeit  durch  einen  König 
aus  göttlichem  Geschlecht  heraufgeführt  wird,  was  damals 
allenfalls  auf  einen  Sohn  Oktavians  passen  konnte.  Derartige 
Hoffnungen  seien  nach  Alexander   dem  Großen  und  den  Dia- 

^  S.  oben  S.  532. 


582  Eichard  Wünsch 

dochen  entstanden,  die  als  2J(otf}Qsg  verehrt  wurden:  als  Ur- 
sprung dieses  hellenistischen  Herrscherkultes  wird  der  orien- 
talische Gottkönigsgedanke  bezeichnet,  der  in  Babylon  und 
Ägypten  nachgewiesen  wird.-^  Auch  den  Juden  war  der  Gedanke 
des  königlichen  Heilands  geläufig:  diese  Vorstellung  war  es, 
welche  die  Jünger  veranlaßte,  in  Jesus  den  Messias  zu  sehen. 
Als  seine  Religion  ins  Griechentum  hinaustrat,  verband  sich 
der  Messiasbegriff  mit  jener  Soteridee. 

Die  Verbreitung  der  fremden  religiösen  Gedanken  im 
römischen  Kaiserreich  ist  nur  eine  Fortsetzung  dessen, 
was  unter  den  Diadochen  begonnen  hat,  und  kann  daher  nicht 
gut  von  der  Betrachtung  der  auswärtigen  Kulte  des  Hellenis- 
mus getrennt  werden.  Von  Bedeutung  sind  hier  vor  anderen 
die  Arbeiten  von  F.  Cumont.  Von  seinen  Religions  orientales 
dans  le  paganisme  romain,  Paris  1907,  ist  eine  zweite  wenig 
veränderte  Auflage  1909  erschienen.  Diese  liegt  jetzt  auch 
in  deutscher  Übersetzung  vor:  Die  orientalischen  Religionen 
im  römischen  Heidentum,  von  F.  Cumont,  autorisierte  deutsche 
Ausgabe  von  G.  Gehrich  1910.  In  klarer  Darstellung  faßt 
Cumont,  der  auf  diesem  Gebiete  Kenner  ist,  seine  Ansichten 
über  das  Eindringen  der  fremden  Religionen  in  das  römische 
Weltreich  zusammen:  in  einzelnen  Abschnitten  werden  Kybele 
und  Attis,  Serapis,  Isis  und  Osiris,  die  Baalim  und  die  Astarten, 
endlich  der  Mithraskult  besprochen.  Ein  besonderes  Kapitel 
ist  der  Astrologie^  und  der  Magie  gewidmet,  die  in  ihrer  Art, 
was  man  meist  übersieht,  auch  religiöse  Weltanschauungen 
gewesen  sind.  Das  wichtigste  Kapitel  ist  wohl  das  letzte,  das 
lehrt,  wie  diese  Religionen  alle  auf  einen  Monotheismus  hin- 
arbeiten, der  von  seinen  Anhängern  ein  sittliches  Leben  fordert 
und  ihnen  dafür  die  Erlösung  verheißt  —  ein  wichtiger  Bei- 
trag zur  Entstehung  des  Christentums.  —  Ein  einzelnes  Pro- 

*  Etwas  anders  Kaerst  a.  a.  0.  S.  876  f. 

'  Hierzu  nehme  man  den  schönen  Aufsatz  von  F.  Boll,  Die  Er- 
forschung der  antiken  Astrologie,  Neue  Jahrb.  1908,  XXI  S.  103  ff. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  583 

blem  aus  diesem  Gesamtkomplex  hat  Cumont  behandelt  in 
dem  Aufsatz  La  theologie  solaire  du  paganisme  r omain j  Metn. 
pres.  par  divers  savants  li  VAcad.  des  Inscr.  et  Beiles -Letf res 
XII  2  (1909)  S.  447  ff.,  der  zeigt,  daß  der  fast  monotheistische 
Sonnenkult,  die  letzte  große  religiöse  Erscheinung  des  Alter- 
tums, seinem  Gedankeninhalt  nach  aus  Babylon  herrührt. 
Die  Chaldäer  haben  zuerst  die  Sphäre  der  Sonne  in  das  Zentrum 
des  Planetensystems  gestellt  und  dadurch  den  Helios  zum 
Könige  gemacht,  der  die  Bewegung  seiner  Trabanten,  der 
Wandelsterne  lenkt.  Da  nun  nach  chaldäischem  Glauben  die 
Planeten  das  Schicksal  der  Menschen  bestimmen,  wird  Helios, 
der  über  die  Planeten  waltet,  zum  obersten  Herrn  des  Weltalls. 
Dieser  Herrscher  ist  zugleich  die  höchste  Vernunft,  und  daher 
wesenseins  mit  der  vernünftigen  Menschenseele.  Die  Seelen 
kommen  herab  von  der  Sonne  und  kehren,  wenn  der  Leib 
stirbt,  wieder  dahin  zurück.  In  Griechenland  sind  diese  An- 
schauungen in  der  Stoa  des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr. 
gepflegt,  und,  wie  es  scheint,  von  Poseidonios^  zum  System 
ausgebildet  worden.  Von  da  ab  sind  sie  in  der  Philosophie 
bis  zum  vierten  Jahrhundert  n.  Ch.  erkennbar  und  üben  Ein- 
fluß auf  den  Mithraskult,  die  chaldäischen  Orakel,  den  Mani- 
chäismus  und  die  vorderasiatischen  Baalkulte,  von  denen  auch 
der  römische  Kult  des  Sol  invictus  ein  Ableger  ist.*  —  Eine 
Ergänzung  hierzu  ist  Cumonts  Abhandlung  Le  mysticisme 
astral  dans  Vantiquite,  Bull.  Ac.  roy.  de  Bdgique,  Classe  des 
lettres  1909  S.  256 ff.:  eine  Analyse  der  Empfindungen,  mit 
denen   die  Alten   den   Sternhimmel  betrachtet  haben:   die  Er- 


^  Nach  Cumonts  Ansicht  kann  das  auch  aus  Ciceros  Somniutn 
Scipionis  erschlossen  werden,  das  auf  Poseidonios  aufbaue.  Volkmann, 
Die  Harmonie  der  Sphären  in  Ciceros  Traum  des  Scipio,  Jahresberichte 
der  Schles.  Ges.  für  Vaterland.  Cultur  85,  Breslau  1908  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  Cicero  hier  vielmehr  verschiedene  philosophische  Meinungen 
zusammengearbeitet  habe,  daß  Poseidonios  also  nur  für  einzelne  Teile 
als  Quelle  in  Frage  komme. 

*  S.  meine  Besprechung  Deutsche  Lit.  Zeit.  1910  Sp.  3025  £F. 


584  Richard  Wünsch 

kenntnis  der  Ordnung  am  Himmel  führt  zur  Annahme  eines 
ordnenden  göttlichen  Prinzips,  die  Bewegung  der  Himmels- 
körper läßt  sie  als  beseelte,  vernunftbegabte  Wesen  erscheinen 
und  führt  zu  jenem  Schluß,  daß  die  menschliche  Seele  ein 
Teil  der  göttlichen  Vernunft  ist.  Man  versucht  nun  bei  Leb- 
zeiten mit  diesem  göttlichen  Prinzip  sich  zu  vereinigen;  das 
führt  zu  jenem  astralen  Mystizismus,  der  uns  noch  in  Kaiser 
Julian  entgegentritt.  In  diesem  Zusammenhang  nenne  ich 
G.  Mau,  Die  Religionsphilosophie  Kaiser  Julians  in  seinen 
Reden  auf  König  Helios  und  die  Göttermutter,  mit  einer 
Übersetzung  der  beiden  Reden,  Teubner  1907.  Mau  will  an 
diesen  beiden  Reden  das  Verhältnis  der  beiden  Elemente,  aus 
denen  Julians  Religionsphilosophie  besteht,  nachweisen:  der 
neuplatonischen  Philosophie  und  der  Mysterienreligionen.  Klar 
zeigt  sich  auch  hier  die  Fähigkeit  des  Neuplatonismus,  sich 
mit  religiösen  Gedanken  zu  assimilieren,  mit  dem  Mygterien- 
glauben  an  Mithras-Helios  und  die  große  Mutter.  Nicht  über- 
all ist  das  Mysteriengut  sicher  auszuscheiden;  in  der  ersten 
Rede  am  leichtesten  da,  wo  vom  Verhältnis  der  Gottheit  zur 
menschlichen  Seele  die  Rede  ist.  So  sagt  Julian,  daß  die 
Seelen  von  Helios  ausgehen  und  zu  ihm  zurückkehren  (S.  16)', 
daß  Helios  sie  schafft,  erhält  und  erlöst  (S.  86).  In  der  zweiten 
Rede  finden  sich  Beziehungen  zur  Mysterienreligion  namentlich 
da,  wo  der  Mythos  von  der  Göttermutter  und  von  Attis  aus- 
gedeutet wird  (S.  101).  Es  wäre  erfreulich,  wenn  einmal  der 
ganze  Nachlaß  Julians  in  ähnlicher  Weise  ausgebeutet  würde. 
Einige  Bemerkungen  dazu,  namentlich  von  W.  Asmus,  finden 
sich  in  der  zweiten  Auflage  von  A.  Dieterich,  Eine  Mithras- 
liturgie^,  die  ich  1910  bei  Teubner  besorgt  habe.  Ich  habe 
Dieterichs  Schrift  unverändert  gelassen,  nur  S.  219 — 237  Nach- 


'  S.  oben  S.  583. 

•  Neuerdings  ist  unser  Wissen  vom  Kult  des  Mithras  dargestellt 
von  G.  Wolff,  Über  Mithrasdienst  und  Mithreen,  Abh.  Kaiser  Friedr. 
Gymn.  zu  Frankfurt  a.  M.  1909. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  585 

träge  zugefügt,  die  das  enthalten,  was  über  die  Mithrasliturgie 
seit  ihrem  Erscheinen  gedruckt  und  geschrieben  ist^,  soweit 
ich  es  erreichen  konnte  und  des  Erwähnens  wert  fand.  Be- 
merkt sei,  daß  Herbst  1911  die  'Kleinen  Schriften'  von  Diete- 
rich gesammelt  erscheinen  sollen;  neu  gebe  ich  dort  zwei 
Aufsätze:  zum  Ritus  der  verhüllten  Hände,  und  den  *  Unter- 
gang der  antiken  Religion'.  —  Ein  Stückchen  Einfluß  fremder 
Religion  auf  den  Kaiserkult  hat  endlich  F.  Cumont  dargestellt 
in  der  Bevue  de  Vhist.  des  rel.  LXII  1910  S.  119 ff.:  L'aigle 
funer aire  des  Syriens  et  Vapoiheose  des  empereurs.  Es  ist  ein 
ursprünglich  syrischer  Gedanke,  wenn  der  Adler  als  Sonnen- 
vogel kommt,  die  Seele  des  verstorbenen  Kaisers  abzuholen. 
—  Die  sehr  beachtenswerten  Reste  des  orientalischen  Kultes, 
die  sich  zu  Rom  im  Hain  der  Furrina  gefunden  haben,  und 
zu  denen  sich  noch  manches  sagen  ließe,  sind  zuletzt  geschildert 
von  G.  Nicole  und  G.  Darier  Le  Sanctiimre  des  Dieux  Orien- 
taux  au  Janicule,  Rom  1909. 

Als  Nachtrag  zähle  ich  einige  wichtigere  Schriften  auf, 
die  von  der  Philosophie  oder  der  Kunst  her  Beiträge  zur  Er- 
kenntnis auch  der  griechischen  Religion*- gegeben  haben  und 
in  anderen  Berichten  nicht  zur  Sprache  kommen. 

Voran  stehe  M.  Wundt-,  Geschichte  der  griechischen 
Ethik,  I  Entstehung  der  griechischen  Ethik,  Leipzig  1908.  Wo 
gelegentlich  ein  systematischer  Religionsphilosoph  das  Bemühen, 
das  Werden  der  Religionen  geschichtlich  zu  begreifen,  gänzlich 
verurteilt,  ist  es  freudig  zu  begrüßen,  daß  ein  Vertreter  der 
geschichtlichen  Philosophie,  der  mit  historischem  Blick,  mit 
philologischer  Kritik  und  Belesenheit  ausgerüstet  ist,  es  unter- 
nimmt, in  solchen  Problemen  mitzuarbeiten.    Gerade  in  diesem 


*  Dabei  habe  ich  die  Vorschläge  ztir  Textverbesserung  übersehen,  die 
W.  Crönert  gemacht  hat,  Stud.  zur  Paläogr.  und  PajyyruskundelT  1905  S.  18. 

*  Aus  Wundt 8  populär  geschriebenem  Büchlein  'Griechische  Welt- 
anschauung' (Atis  Natur  und  Geisteswelt  329,  Teubner  1910)  gehören 
hierher  S.  26  £F.  (Gott). 


586  Richard  Wünsch 

ersten  Band  ist  das  besonders  schwer,  denn  mit  ihren  äußer- 
sten Wurzeln  haftet  die  Ethik  in  der  Volksreligion,  in  deren 
Tiefe  hinabzusteigen  wir  erst  jetzt  beginnen.  Man  versteht  es 
wohl,  wenn  Wundt  mit  der  Betrachtung  der  homerischen 
Religion,  jener  geläuterten  Anschauung  einer  kulturell  hoch- 
stehenden Kaste,  beginnt:  eine  spätere  Generation  ist  hoffent- 
lich in  der  Lage,  die  Anfänge  der  Ethik  aus  einer  primitiveren 
Schicht  griechischen  Glaubens  zu  entwickeln.  So  müßten,  um 
nur  ein  Beispiel  anzuführen,  die  späteren  Verbote  des  Fleisch- 
genusses in  Beziehung  gesetzt  werden  zu  der  uralten  Tier- 
verehrung. Und  so  viel  sehen  wir  wohl  klar,  daß  die  Religion 
in  dieser  Unterschicht  ziemlich  gleichartig  ist,  und  daß  die 
Menschen  von  dem  Aberglauben  sich  nur  langsam  befreien. 
So  werden  denn  auch  lonier  und  Athener  in  ihren  Grund- 
anschauungen nicht  so  verschieden  gewesen  sein  und  sich 
nicht  so  divergent  entwickelt  haben,  wie  Wundt  sie  zeichnet.^ 
Von  Bedeutung  sind,  Einzelheiten  abgerechnet^,  S.  118 ff.  "Die 
religiösen  Bewegungen',  namentlich  die  Bemerkungen  über 
chthonische  Kulte,  über  die  dionysische  Religion  und  die 
orphisch- pythagoreischen  Sekten. 

J.  Adam  The  Beligious  Teachers  of  Greece,  Edinburgh 
1908,  vereinigt  eine  Reihe  von  Vorlesungen,  die  das  Verhält- 
nis der  Dichter  und  Philosophen  von  Homer  bis  Plato  zur 
Religion  schildern.  Der  Grundgedanke  ist  (S.  19):  die  Dichter 
beharren  auf  dem  Boden  des  homerischen  Anthropomorphismus, 
versuchen  aber  die  gröberen  Züge  zurückzudrängen  und  zu  ver- 
geistigen, eine  Bewegung,  die  in  Sophokles  ihren  Höhepunkt 
erreicht.  Die  Philosophen  dagegen  werden  durch  ihre  physi- 
kalischen Spekulationen  mehr  und  mehr  zur  Ablehnung  der 
homerischeu    Götterwelt   getrieben,    bis  Anaxagoras    den   Novg 


'  Ich  stimme  darin  mit  P.  Wendland  überein,  auf  dessen  ausführ 
liehe  Besprechung  ich  verweise,  lierl.  philol.  Wochen^chr.  1909  Sp.  1372 ff. 

*  Zum   Enthusiasmus  (S.  181)  s.  Dieterich   Mithraslü.  S.  97flF.;    die 
Dämpfe  der  Pythia  (S.  133)  sind  Fabel,  s.  Fehde  (oben  S.  527)  S.  83. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  587 

als  Weltschöpfer  proklamiert.  In  den  Dramen  des  Enripides 
treffen  beide  Strömungen  zusammen,  doch  so,  daß  das  de- 
struktive Element  der  Aufklärung  überwiegt.  Von  Sokrates 
ab  hat  die  Philosophie  allein  Einfluß  auf  die  Entwicklung 
religiöser  Gedanken.  —  E.  Schwartz  hat  der  ersten  Reihe 
seiner  „Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur*'  nun  eine 
zweite  folgen  lassen  (Teubner  1910),  die  hier  und  da  auch 
die  Religion  streift.  So  wird  fein  bemerkt^  wie  Epikurs  Lehre 
im  letzten  Grunde  doch  Religion  ist  (S.  43),  und  aufmerksam 
machen  möchte  ich  auch  auf  die  Schilderung  dessen,  was 
Paulus  dem  Griechentum  —  nicht  der  Weisheit,  aber  der 
Kultur  und  Sprache^  der  Griechen  —  verdankt  (S.  119ff.). 
Auch  sonst  sind  zur  antiken  Literatur,  die  zur  Religion 
in  Beziehung  steht,  Abhandlungen  erschienen.  A.  Tresp 
Scriptorum  de  rebus  sacris  Atticis  fragmenta,  Diss.  Königs- 
berg 1910,  gibt  eine  Probe  aus  einem  größeren  Werk,  das 
die  attischen  Sakralschriftsteller  sammeln  und  erklären  will.  — 
C.  Reinhardt  De  Graecorum  thedogia  capita  duo,  Diss.  Berlin 
1910  behandelt  philologisch  die  griechische  Literatur,  welche 
die  homerische  Götterwelt  systematisiert  und  ausdeutet.  Kap.  I 
bespricht  das  Verhältnis  der  allegorischen  Interpretationen 
Homers  und  die  Bedeutung,  die  für  diese  Literatur  Krates 
von  Mallos  gehabt  hat;  Kap.  U  redet  über  Anlage  und  Inhalt 
von  Apollodoros  tcsql  ^säv.  Derartige  fundamentale  Vor- 
arbeiten sind  dankenswert:  sie  müssen  geschaffen  sein,  ehe 
man  beginnen  kann,  diese  „theologische"  Literatur  für  die 
Geschichte  des  religiösen  Denkens  zu  verwerten.  —  Wie 
Reinhardt  die  konservative  Allegorie,  behandelt  F.  Wipprecht 
den  zerstörenden  Rationalismus:  Zur  Entwicklung  der  ratio- 
nalistischen Mythendeutung  bei  den  Griechen  II,  Progr.  Donau- 
esehingen  1907/08,  Tübingen  1908.'  Er  setzt  mit  Ephoros 
ein,  der  in  seiner  Kritik  schwankt;  an  den  olympischen  Göttern 


^  S.  Reitzenstein  oben  S.  571.  '  I  war  1902  erschienen. 


588  Richard  Wünsch 

zweifelt  er  nicht,  wohl  aber  an  der  Heldensage:  hier  und  da 
sucht  er  auch  schon  zu  erklären,  wie  die  nach  seiner  Meinung 
falschen  Züge  entstanden  sind.  Theopomp  ist  vollständig 
gläubig  und  erfindet  selbst  Mythen  im  Stile  Piatos.  Die  At- 
thidenschreiber  schalten  frei  mit  dem  überlieferten  Material  und 
ersetzen  übernatürliche  Züge,  die  sie  zum  Teil  aus  miß- 
verstandenen Redensarten  herleiten,  durch  glaubliche.  Die 
Komödie  gibt,  zunächst  in  witziger  Absicht,  ähnliche  rationa- 
listische Deutungen,  die  später  von  den  Rationalisten  vom  Fach 
ernsthaft  und  trocken  weitergegeben  werden.  Als  nächster  Teil 
wird  eine  Abhandlung  über  die  Stellung  der  Philosophie  zur 
Mythendeutung  verheißen.^  —  P.  Vallette  De  Oenomao  Cynico 
Paris  1908  gibt  eine  bequeme  erläuternde  Zusammenstellung 
der  aus  der  Foritßiv  cpcoQa^  dieser  rücksichtslosesten  Be- 
kämpfung des  Mythenglaubens,  erhaltenen  Bruchstücke  und 
damit  einen  Beitrag  zu  dieser  für  die  Zersetzung  der  antiken 
Religion  so  charakteristischen  Richtung.  Doch  hat  sie  den 
Wunderglauben  niemals  ganz  überwunden;  in  seinem  Werk 
„Hellenistische  Wundererzählungen"  (Teubner  1906)  untersucht 
R.  Reitzenstein  die  Entstehung  der  literarischen  Form,  in 
der  die  novellistische  und  biographische  Literatur  des  Alter- 
tums von  getanen  Wundern  berichtet.  Diese  Form  hat  nach 
Reitzenstein  einen  nicht  geringen  Einfluß  auf  die  Fassung  der 
christlichen  Wundererzählung  ausgeübt,  wie  man  sie  in  den 
Evangelien  und  Apostelakten,  später  auch  in  den  Mönchs- 
geschichten findet.  Als  Beispiele  dieses  Übergangs  werden 
zwei  Hymnen  der  Thomasakten  erläutert.  Daß  der  Verfasser 
auch  die  uns  anderen  unbekannte  ägyptische  Literatur  heran- 
zieht, gibt  dem  Buche  besondere  Wichtigkeit.^ 

'  A.  Bates  Hersmann  Studies  in  Greek  Ällegorical  Interpretation, 
Chicago  1906  kenne  auch  ich  nur  aus  W.  Nestle  s  Besprechung  Berl. 
philol.  Wochenschr.  1907  Sp.  1391  f.:  das  kommt  danach  hauptsächlich 
für  Plutarch  in  Betracht. 

»  S.  mein  Referat  Deutsche  Lit.  Zeit.  1907  Sp.  1167 ff.;  W.  Otto 
oben  S.  680. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  589 

Eine  hübsch  zu  lesende  Einführung  in  das  Wesen  der 
religiösen  Kunst  gibt  E.  A.  Gardner  Bdigion  and  Art  in 
Ancient  Greece,  London  und  New  York  1910.  Sie  hat  sich 
an  Holz-  und  Steinfetischen  entwickelt,  die  man  nach  und 
nach  mit  menschlichen  Gliedern  versah;  der  Anthropomorphis- 
mus  ist  überhaupt  die  treibende  Kraft,  er  erreicht  seine  höchste 
Blüte  in  den  Idealgestalten  des  fünften  Jahrhunderts.  Dann 
beginnt  der  Individualismus  auf  die  künstlerische  Auffassung 
der  Götter  zu  wirken  * ;  besonders  viele  Abstraktionen  schafft 
die  hellenistische  Zeit.  Mit  dem  Abnehmen  des  Glaubens  an 
die  persönlichen  Götter  sinkt  auch  die  Kunst:  vielfach  tritt  an 
Stelle  des  Götterbildes  das  Symbol.  —  Ähnliche  Fragen  be- 
handelt E.  Reisch,  Entstehung  und  Wandel  griechischer 
Göttergestalten,  Wien  1909.  Mit  Recht  warnt  er  vor  zu 
großer  Schematisierung  in  der  Entwicklung  der  Religion,  die 
auch  für  Griechenland  eine  zeitliche  Aufeinanderfolge  von 
Fetischismus,  Tierkult,  Anthropomorphismus  postuliert.  Gardners 
Meinung,  die  auch  ich  teile,  daß  ein  Teil  der  anthropomorphen 
Götterbilder  aus  Fetischen  entwickelt  ist  —  ich  erinnere  nur 
an  das  Bild  des  Dionysos  Perikionios,  Röscher  Myth.  Lex.  I 
Sp.  1091,  wo  der  Holzsäule  eine  Menschenlarve  vorgebunden 
wurde  —  wird  damit  nicht  umgeworfen.  Werkzeuge  sind 
wohl  nicht  deshalb  verehrt  worden,  weil  sie  ein  Gott  nach 
Menschenart  handhabte  (S.  8),  sondern  weil  sie  ursprünglich 
selbst  ein  Gott  waren  (H^  Usener,  Götternamen  S.  285).  Wenn 
Reisch  S.  29  meint,  die  Götterbilder  hätten  zunächst  nur  den 
Gott  bedeutet,  erst  allmählich  seien  sie  mit  dem  Gott  gleich- 
gesetzt worden,  so  entspricht  es  primitivem  Denken  eher, 
wenn  die  Gleichsetzung  das-  Ursprüngliche,  die  symbolische 
Bedeutung  das  Jüngere  ist.  —  Einige  Fragen  der  Interpretation 
antiker  Kunstwerke  beantwortet  J.  N.  Svoronos  Nsai  SQfir^velat 
aQxaCav  dvayXvcpcov,  S.  A.  aus  Tb  iv  läd-rjvaig  'Ed^vixbv  Movöelov 
S.  363  ff.,  Athen  1910.  Nr.  1  ist  von  Bedeutung  für  die  Ver- 
*  S.  Kaerst  oben  S.  578. 


590  Richard  Wünsch 

breitung  des  Kybelekultus,  der  so  bereits  im  fünften  Jahrhundert 
inBöotien  nachweisbar  ist;  Nr.  2  ist  eine  Darstellung  chthonischer 
Kulte  aus  Tegea;  Nr.  3  Athena  bewaffnet  den  Asklepios,  aus 
Epidauros,  eine  Weihung  an  den  auch  im  Kriege  hilfreichen 
2Ja)TrjQ]  Nr.  4  wichtig  für  die  sakrale  Topographie  des  Kolonos: 
ein  Vater  stellt  seinen  Sohn  am  Altar  des  Herakles  dar,  der 
neben  der  Hadespforte  lag.  Das  große  Werk,  aus  dem  dieser 
Auszug  stammt,  erscheint  seit  1908  in  Athen  auch  in  einer 
deutschen  Ausgabe  von  W.  Barth  (Das  Athener  Nationalmuseum 
von  J.  N.  Svoronos):  es  ist  eine  reiche  Fundgrube  religions- 
geschichtlichen Materials. 

Ehe  ich  zur  römischen  Religion  übergehe,  erwähne  ich 
kurz  ein  paar  Arbeiten  zu  anderen  italischen  Kulten.  Die  in 
der  Berichtszeit  erschienenen  Arbeiten  über  Etruskisches  be- 
schäftigen sich  zum  Teil  mit  der  rätselhaften  Bronzeleber  von 
Piacenza.-'  &.  Körte  legt  die  Ergebnisse  seiner  Nachprüfungen 
am  Original  in  den  Römischen  Mitteilungen  XX  S.  348  ff.  aus 
dem  Jahre  1905  vor  und  leitet  die  etruskische  Haruspizin, 
ebenso  wie  die  griechische,  aus  Babylon  her.  C.  0.  Thulin 
hat  systematisch  „Die  etruskische  Disziplin"  in  Angriff  ge- 
nommen: „I  Die  Blitzlehre,  H  Die  Haruspicin,  HI  Die  Ritual- 
bücher" (Göteborg  1906,  1909)  sind  von  Wichtigkeit  auch  für 
die  Geschichte  der  römischen  Haruspices;  über  die  Bronzeleber 
wird  11  30  ff.  gesprochen:  auch  Thulin  entscheidet  sich  für 
chaldäischen  Ursprung.  In  der  ausgebildeten  Leberschau  aller- 
dings sind  die  Ähnlichkeiten  groß;  doch  muß  noch  einmal 
untersucht  werden,  ob  nicht  Anfänge  der  Eingeweideschau  sich 
in  Griechenland  und  Rom  selbständig  entwickelt  hatten.  — 
W.V.Bartels,  Die  etruskische •  Bronzeleber  von  Piacenza  in 
ihrer  symbolischen  Bedeutung,  Berlin  1910,  versucht  eine  alle- 
gorische Interpretation  der  etruskischen  Aufschriften  und  ver- 
liert dabei  den  wissenschaftlichen  Boden  vollständig  unter  den 


8.  oben  Thulin  S.  628. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  591 

Füßen.  Das  Ergebnis  lautet  (S.  41):  „Die  Leber  ist  ein  Doku- 
ment der  Vorstellung  vom  Makrokosmos,  welche  einer  Zeit 
angehört,  die  noch  als  Begriffe  dasjenige  handhabt,  aus  dem 
sich  später  die  definitiven  Gestalten  der  Götter  der  griechischen, 
römischen  und  germanischen  Mythologie  entwickelten.  In  der 
Entwicklung  der  jüdischen  Religion  zu  einem  reinen  Mono- 
theismus können  wir  den  Versuch  erkennen,  die  uralten  Be- 
griffe, wie  sie  die  Leber  enthält,  wieder  herzustellen."  — 
V.  Macchioro  Coniribiäi  alla  storia  deUa  religione  paleo-italica, 
Ausonia  IV  1909  glaubt  (S.  21)  aus  einigen  Bronzefigürchen 
nachweisen  zu  können,  daß  la  civilti  umhra  conosceva  l'ima- 
gine  egizia  della  divinitä  suprema  creatrice  fecondante,  und 
R.  Pettazzoni  La  religione  primitiva  in  Sardegna,  R.  Äccad. 
dei  Lincei,  Rcndic.  XIX  1910  S.  88  ff.,  217  ff  gibt  dankens- 
werte Pläne  und  Abbildungen  der  Bauten  und  Figuren  primi- 
tiver Religion  auf  Sardinien:  letztere  werden,  zum  Teil  sicher 
richtig,  nicht  als  Götterbilder,  sondern  als  Votivgaben  gedeutet. 
Die  Gesamtbehandlungen  der  römischen  Religion  sind 
oben  S.  534  besprochen  worden  L.  Friedländers  „Dar- 
stellungen aus  der  Sittengeschichte  Roms  in  der  Zeit  von 
August  bis  zum  Ausgang  der  Antonine"  ist  noch  einmal  in 
der  achten  Auflage  erschienen  (4  Bände,  Leipzig  1910).  Es 
war  eine  glückliche  Fügung,  daß  der  greise  Verfasser  diese 
Überarbeitung  seines  Hauptwerkes  noch  wenige  Tage  vor  seinem 
Tode  zu  Ende  führen  konnte.  Der  Abschnitt  „Die  religiösen 
Zustände"  steht  IV  S.  119 — 281:  die  wichtigste  Literatur  der 
letzten  Jahre  ist  noch  dankbar  benutzt  worden,  anderes,  was 
die  Darstellung  sicher  in  Einzelheiten  modifiziert  hätte,  ver- 
mißt man.  —  A  v.  Domaszewski  vereinigt  in  seinen  „Ab- 
handlungen zur  römischen  Religion",  B.  G.  Teubner  1909,  24  Auf- 
sätze, die  seit  1892  in  verschiedenen  Zeitschriften,  davon  sieben 
in  diesem  Archiv,  erschienen  sind.  Ihre  Eigenart,  vom  monu- 
mentalen Material  aus  die  Entwicklung  religiöser  Vorstellungen 
und   ihre    Bedeutung  für   die   politische    Geschichte   darzutun. 


592  Richard  Wünsch 

zeigen  am  besten  die  Abhandlungen  „Silvanus"  (S.  58  ff.)  und 
„Die  politische  Bedeutung  des  Trajansbogens  in  Benevent'' 
(S.  25  ff.). 

Für  die  Kultorte  der  Römer  ist  wichtig  W.  Altmann, 
Die  italischen  Rundbauten,  eine  archäologische  Studie,  Berlin  1906. 
Der  sakrale  Rundbau,  der  uns  namentlich  aus  dem  Vestatempel 
geläufig  ist,  geht  zurück  auf  die  prähistorische  Form  der  ita- 
lischen Wohnhütte;  sie  hält  sich  auch  im  Totenkult  als  be- 
sondere Form  des  Grabes.  Die  Frage,  welchen  römischen 
Göttern,  und  warum  gerade  ihnen  man  Rundtempel  baute,  ist 
noch  nicht  völlig  gelöst.  —  Auf  die  römischen  Gräber  bezieht 
sich  auch  V.  Macchioro  H  simboUsmo  nelle  figurazioni  sepol- 
crali  romane,  Mem.  della  B.  Accad.  di  Ärcheologia,  Lettere  e 
Belle  Arti  I,  Neapel  1909.  Als  Symbol  der  vom  Körper  ge- 
trennten Seele  erscheint  der  Schmetterling,  der  Vogel,  die 
Zikade;  als  Symbol  der  Seelenreise  Wagen,  Schiff,  Delphin;  ein 
trinkender  Vogel  ist  das  Bild  der  im  Jenseits  erquickten  Seele; 
auf  Erotisches  —  wohl  weil  Persephone  auch  mit  Aphrodite 
gleichgesetzt  wird  (S.  74)  —  werden  gedeutet  Taube,  Hahn 
und  andere  Tiere,  auf  dionysische  Lehre  Schlange  und  Toten- 
mahl, auf  die  Apotheose  Regenbogen,  Pfau  und  Adler.  Das 
sehr  reiche  Material  läßt  aber  bündige  Schlüsse  dieser  Art  nur 
selten  zu,  weil  wir  sehr  oft  kein  Mittel  haben,  zu  entscheiden, 
wo  diese  Bilder  wirklich  einen  religiösen  Gedanken  ausdrücken, 
und  wo  sie  lediglich  dekorativ  wirken  wollen.^ 

Zur  Geschichte  der  echt  römischen  Kulte  muß  genannt 
werden  J.  Binder,  Die  Plebs,  Studien  zur  römischen  Rechts- 
geschichte, Leipzig  1909.  Der  Verfasser  sucht  seine  gewagte 
These,  daß  die  Plebs  die  in  Rom  ansässigen  Latiner  des 
Septimontiums  (S.  359),  die  Patrizier  die  Sabiner  vom 
Quirinal  seien  (S.  374),  durch  die  Eigenart  auch  der  Kulte 
zu  stützen  (S.    104  ff.).     Doch  scheint  mir  der  Nachweis,  daß 


*  S.  L.  Deubner  Berl.  philol.  Wochemchr.  1910  Sp.  1468  ff. 


Griechische  und  römische  Religion  1906  —  1910  593 

die  an  den  Palatin  anknüpfenden  patrizischen  Kulte  erst 
später  Tom  Quirinal  dorthin  übertragen  sind,  nicht  geglückt. 
Wenn  die  Salii  Collini  die  älteren  sein  sollen,  die  erst  später 
in  den  Palatini  ihr  Gegenbild  erhalten  haben,  so  läßt  sich  das 
eben  nicht  beweisen;  das  wahrscheinliche  ist  doch,  daß  beide 
Sodalicia  unabhängig  voneinander  entstanden  sind  (Wissowa, 
Rel.  und  Kultus  der  Römer  S.  480).  —  Zur  Art  der  römischen 
Gottesverehrung  gibt  einen  nützlichen  Beitrag  Gu.  Rowoldt 
Libronim  pontificiorum  Eomanorum  de  caerimonüs  sacrificiorum 
rdiquiae,  Diss.  Halle  1906:  aus  den  römischen  Antiquaren 
werden  176  Stellen  zusammengebracht,  die  gut  überschauen 
lassen,  was  für  die  Römer  bei  den  Opfern  zu  beobachten  war. 
Nun  kann  man  die  Vorstellungen  zu  ergründen  versuchen, 
welche  die  einzelnen  Gebot«  geschaffen  haben.  —  Hübsch  ist 
ein  altrömischer  Ritus  von  H.  Schenkl  erkannt  worden,  Der 
Hain  der  Anna  Perenna  bei  Martial,  Rom.  Mitt.  XXI  1906 
S.  211  ff.  Die  Verse  IV  64,  16  f.:  d  qnod  virgineo  cniore 
gandet  Ännae  pomifenim  nemus  Perennae  wird  auf  eine 
Lustratio,  einen  Fruchtbarkeitsbrauch  gedeutet:  eine  men- 
struierende Jungfrau  tötet  durch  Umschreiten  alles  Ungeziefer 
des  Hains.  —  Die  Riten  der  Luperealien  und  ihre  geschicht- 
liche Entwicklung  stellt  überzeugend  L.  Deubner  dar,  in 
diesem  Archiv  XIII  481  ff. 

Mit  den  Göttern  der  Römer  beschäftigt  sich  W.  Otto- 
München,  Rhein.  Mus.  LXIV  1909  S.  449  ff.:  einige  römische 
„Sondergötter"  werden  einleuchtend  als  fingierte  Heroen  be- 
kannter Familien  erklärt,  Sentius  gehört  den  Sentii,  Edusa  zu 
den  Edusii;  ähnlich  steht  es  mit  Potina  (Potini),  Venilia 
(Venilii),  Xumeria  (Numerii),  Catius  (Catii).  So  ist  auch 
Tarpea  die  Ahnherrin  der  gleichnamigen  Gens,  Lavema  Orts- 
göttin des  pagus  Lavernus.^  —  H.  L.  Axtell  TJie  Deißcation 

*  Mit  einem  Fragezeichen  stelle  ich  hierzu  Neptunus  als  alten 
Schutzgott  der  Einwohner  von  Xepet,  Volcanus  als  Ahnherrn  der  Volcae 
aus  Veii  (Plin.  Xat.  hist.  XXXV  157). 

Archiv  f.  Beligionawiasenschaft   XTV  og 


594  Richard  Wünsch 

of  Abstrad  Ideas  in  Roman  Literature  and  Inscriptions, 
Chicago  1907,  gibt  im  ersten  Hauptteil  das  Material  über  die 
teils  ständige,  teils  nur  gelegentliche  Verehrung  der  einzelnen 
abstrakten  Begriffe  im  staatlichen  Kult  und  in  der  volkstüm- 
lichen Verehrung.  Der  zweite  Teil  behandelt  die  Entstehung 
dieser  Abstrakta  als  Ganzes  und  ihr  Vorkommen  in  Literatur 
und  Epigraphik.  Klar  wird  man  hier  erst  sehen,  wenn  das 
ganze  Material  gesammelt  vorliegt;  die  Fülle  numismatischer 
Zeugnisse  hat  auf  Anregung  von  L,  Deubner  zu  sammeln  be- 
gonnen W.  Köhler,  der  in  seiner  Dissertation  „Personifika- 
tionen abstrakter  Begriffe  auf  römischen  Münzen",  Königsberg 
1910  eine  Probe  gibt,  welche  alphabetisch  geordnet  die  Be- 
griffe Abundantia  bis  dementia  enthält. 

Die  römischen  Mythen  untersucht  W.  Soltau,  Die  An- 
fänge der  römischen  Geschichtschreibung,  Leipzig  1909.  Es 
bestätigt  sich  von  neuem,  daß  viele  Sagen  aus  der  Urzeit 
Roms  nicht  alte  italische  Mythen  sind,  sondern  Erfindungen 
der  römischen  Dichter,  zum  großen  Teil  aus  fremden  Vorlagen 
übernommen.  So  stammt  nach  des  Verfassers  bekannter  An- 
sicht^ die  Romuluslegende  in  ihren  wesentlichen  Zügen  aus  der 
Tyro  des  Sophokles;  Egeria  als  Beraterin  des  Numa  ist  von 
Ennius  erfunden  (s.  die  Zusammenstellung  S.  128  ff.).  — 
J.  Garrett  Winter  TJie  Myth  of  Hercules  at  Borne,  Univer- 
sHy  of  Michigan  Studies,  Humanistic  Series  IV  1910  S.  171  ff. 
ordnet  zuerst  das  Verhältnis  der  Quellen  (s.  das  Stemma  auf 
besonderer  Tafel)  und  versucht,  die  älteste  Form  des  Herkules- 
Cacus-Mythus  festzulegen:  Cacus  ist  ursprünglich  ein  italischer 
Dämon  des  Vulkanismus,  dessen  Überwältigung  später  in  den 
Mythenzyklus  von  Herakles  aufgenommen  wurde,  als  der 
griechische  Kult  dieses  Gottes  nach  Rom  kam,  sei  es  von 
Cumae  her  (Wissowa  a.  a.  0.  220),  sei  es  aus  Etrurien. 

Für  die  Religion  der  ersten  Kaiserzeit  ist  von  Bedeutung 
die  Ära  Pacis,  nach  der  1903  bei  Palazzo  Fiano  in  Rom  mit 

'  S.  Archiv  XII  lOOU  S.  lOltf. 


Griechische  und  römische  ReUgion  1906 — 1910  595 

Erfolg  gegraben  wurde;  die  neueren  Abhandlungen  beschäftigen 
sich  meist  mit  Anordnung  und  Deutung  der  gefundenen  Stücke, 
s.  die  Literatur  bei  F.  Studniczka  Zur  Ära  Pacis,  Abh.  Sachs. 
Ges.  der  Wiss.  phiL-hist.  Kl.  XXVII  1909  S.  901  ff  Wichtig 
ist  die  zuerst  von  Sieveking  klar  gelegte  Beziehung  eines 
Fragments  auf  Aeneas  und  sein  Opfer  an  die  Penaten,  und 
das  Verhältnis  der  hier  verkörperten  Gedanken  zu  dem  Carmen 
saeculare  des  Horaz  (S.  929,  940).  —  A.  Elter  Donarem  pateras, 
Hör.  carm.  4,8  (Programmata  Bonnensia  Nr.  26 — 29,  1905 — 07), 
Bonn  1907  konstruiert  aus  jener  Horazode  ein  Gedicht  des 
Ennius,  in  dem  Scipio  apotheosiert  worden  sei,  und  kommt 
dadurch  auf  die  Apotheose  auch  der  Kaiser  zu  sprechen.  Es 
wird  betont  (40,51),  daß  die  Göttlichkeit  der  Kaiser  eine  Gött- 
lichkeit von  der  Menschen  Gnade,  ein  Geschenk  der  Dankbar- 
keit und  Verehrung,  trotz  Tempel  und  Gottesdienst  keine  über- 
natürliche Eigenschaft  sei.  Wenn  Elter  aus  einem  solchen 
äußerlichen  Erheben  in  den  Himmel  schließen  will,  daß  der 
allgemeine  Jenseitsglaube  noch  keine  große  Kraft  und  E^Iarheit 
besessen  habe,  so  wage  ich  nicht,  aus  einem  Beschlüsse  des 
römischen  Senates  auf  allgemeinere  geistige  Bewegungen  zu 
schließen.  Richtig  weist  Elter  darauf  hin,  daß  die  einzelnen 
Erscheinungen  des  Seelenglaubens  in  der  Kaiserzeit  ganz  ver- 
schiedener Art  sind,  und  warnt  davor,  sie  aUe  als  sog.  römische 
Volksreligionen  zusammenzurühren  oder  sie  durch  die  Auf- 
fassung als  Vorstufen  christlicher  Dogmen  in  ein  schiefes  Licht 
zu  rücken.  Besonders  unzufrieden  ist  er  (S.  57)  mit  „unsem 
heutigen  Religionswissenschaftlem",  „die  es  mehr  darauf  abzu- 
sehen scheinen,  durch  ausgedehnte  Vergleichung  aller  möglichen 
Dinge  eine  Art  „Ünterglauben"  zu  konstruieren,  wobei  das 
einzelne  notwendig  seine  Schärfe  und  Bestimmtheit  einbüßen 
muß",  und  die  „vielfach  zu  sehr  die  klare  Einsicht  in  die 
psychologischen  Grundlagen  der  Entstehung  religiöser  Vor- 
stellungen vermissen  lassen".  Derartigen  Urteilen  gegenüber 
muß  betont  werden,  daß  auch  solche  Religionshistoriker  nicht 

38* 


596  Richard  Wünsch 

selten  sind,  denen  der  Vergleich  der  Religionen  untereinander 
das  Mittel  zum  Zwecke  ist,  den  tatsächlich  vorhandenen  Unter- 
grund des  Glaubens  in  seiner  Entstehung  gerade  psychologisch 
zu  begreifen. 

L.  Hahn,  Rom  und  Romanismus  im  griechisch-römischen 
Osten,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Sprache,  bis  auf 
die  Zeit  Hadrians,  Leipzig  1906,  berührt  die  römische  Religion 
S.  30  (Verehrung  der  Tvxt]  '  Pa^aCav,  des  Flamininus),  S.  102 
und  167  jff.  (über  den  Kaiserkult  und  sein  monotheistisches 
Bestreben,  die  anderen  Religionen  zurückzudrängen  oder  zu 
beherrschen).  —  Ein  wichtiges  Dokument  für  die  Apotheose 
veröffentlicht  und  erklärt  E.  Kornemann,  Klio  VII  1907 
S.  278  ff.:  der  Papyrus  Gissensis  20  beginnt  ccQ^ati  XsvxonayXc} 
ccQti  TgaCava  ävvavarsClccg  i]XG)  öot,  d)  ^^/i£,  ovx  ccyv(o6rog 
Qolßog  d'Eos  avaxta  xaivbv  ^48Qiavov  ä'yyslXcov  —  der  Herold 
stellte  also  wohl  die  Epiphanie  des  ApoUon  leibhaftig  dar.  — 
H.  Blaufuß,  Römische  Feste  und  Feiertage  nach  den  Trak- 
taten über  fremden  Dienst  (Aboda  zara)  in  Mischna,  Tosefta, 
Jerusalemer  und  Babylonischem  Talmud,  Progr.  Neues  Gymn. 
Nürnberg  1909,  zeigt,  welche  Feste  der  Kaiserzeit  den  Juden 
besonders  auffielen.  Der  rätselhafte  Festname  Qrtisim  wird 
mit  xQccrrjöts  d.  h.  Imperium  zusammengebracht  und  als  Natalis 
imperii  gedeutet;  an  die  Person  des  Kaisers  knüpfen  sich  die 
Feste  seiner  Hochzeit,  Amtsantritte,  Genesungen;  für  die  konse- 
krierten  Imperatoren  werden  „Geburtstage"  gefeiert  (Genusia, 
s.  Archiv  XIII  630  ff.).  Merkwürdig  ist  S.  24:  „Wenn  einer 
in  Theater  und  Zirkus  geht  und  ansieht  die  Beschwörer  und 
Zauberer,  Bukkion  und  Mukion,  Malion,  Segularion,  Sigillaria." 
Es  liegt  nahe,  die  letzten  Worte,  die  in  mancherlei  Varianten 
vorkommen,  nach  Analogie  von  Sigillaria  als  römische  Feste 
auszudeuten,  etwa  Segularion  als  Saeculares  (S.  29  ff.):  aber 
das  geht  nicht  ohne  Rest  auf.  Man  kommt  auf  den  Gedanken, 
daß  hier  vielleicht  nur  die  Parodie  einer  Zauberformel  vorliegt; 
die  Beschwörer   und  Zauberer   treten  ja  gar  nicht  bei  irgend 


Griechische  und  römische  Religion  1906 — 1910  597 

welchen  Festen  im   Zirkus   auf,   sondern  haben  dort  nur  ihre 
Bud 


en 


Die  Sammlung  und  systematische  Ausbeutung  der  religiösen 
Dokumente  der  Kaiserzeit  nimmt  J.  To utain  mit  einem  groß 
angelegten  Werke  in  Angriff:  Les  cultes  paiens  dans  Vempire 
(unain,  premiere  partie:  Les  provinces  Latines,  tome  I:  Les  cidtes 
officids,  les  cidtes  romains  et  greco-romains  {Bihliotheque  de 
VEcole  des  hautes  etudes,  sciences  rdigieuses,  vol.  XX,  Paris  1907). 
Die  Gliederung  des  Materials  geschieht,  wie  der  Titel  andeutet, 
zunächst  geographisch:  Italien,  Griechenland  nebst  Orient,  und 
die  römischen  Provinzen  werden  getrennt  behandelt.  Sodann 
erfolgt  eine  Gliederung  nach  Kulten:  geschieden  werden  offi- 
zielle Staatskulte  (Verehrung  der  Roma,  des  Kaisers,  der 
kapitolinischen  Götter),  die  Eulte  der  hellenisierten  römischen 
Religion,  die  orientalischen,  und  endlich  die  lokalen  Gottes- 
dienste, die  vor  der  römischen  Eroberung  vorhanden  waren. 
Welchen  Teil  der  erste  Band  enthält,  zeigt  sein  Titel.  Es 
ergibt  sich,  daß  die  offiziellen  Staatskulte  in  allen  lateinischen 
Provinzen  vorhanden  sind,  wenn  sie  auch  leichte  Nuancen 
namentlich  in  der  Kombination  mit  anderen  Kulten  aufweisen. 
Ein  anderes  Bild  zeigt  die  Verehrung  der  Xumina  aus  dem 
griechisch-römischen  Götterkreise.  Nicht  überall  ehren  die- 
selben Stände  dieselben  Gottheiten,  eine  Differenz,  die  nur  da- 
durch möglich  wurde,  daß  die  kaiserliche  Regierung  sich  jeder 
Beeinflussung  dieser  Seite  des  religiösen  Lebens  enthielt.  Die 
verschiedenen  Klassen  der  Zuwanderer,  Soldaten,  Beamte  und 
Sklaven  brachten  aus  der  Heimat  ihre  Lieblingsgötter  mit. 
Anderseits  erklärt  sich  die  Bevorzugung  einzelner  Gottheiten 
daraus,  daß  man  gerade  sie  mit  den  alten,  einheimischen  Göttern 
gleichgesetzt  hatte.  Ein  solches  Eingehen  auf  die  Religiosität 
des  einzelnen  Provinzialen  verspricht  fruchtbar  zu  werden:  es 
erlaubt  uns  einen  Rückschluß  auf  die  vorrömische  Religion 
der    Eingeborenen    und     wird    uns    auch    den    verschiedenen 

^  S.  A.  Dieterich  Ehein.  Mus.  LV  1900  S.  209. 


598  Richard  Wünsch 

Werdegang  des  Christentums  in  den  einzelnen  Provinzen  besser 
verstehen  lehren:  wenn  wir  erkennen,  was  am  tiefsten  im 
Herzen  der  Eingeborenen  saß,  wissen  wir  auch,  was  am  meisten 
die  Kirche  zu  jenen  Konzessionen  veranlassen  konnte,  welche 
die  Zeit  nach  Konstantin  hervorgebracht  hat. 

Zu  jener  Gleichsetzung  römischer  und  barbarischer  Götter 
äußert  sich  auch  Fr.  Richter  JDe  deorum  barharorum  inter- 
pretatione  Bomana  quaestiones  seledae,  Diss.  Halle  1906.  Als 
interpretatio  Romana  bezeichnet  Tacitus  Germ.  43  die  Aus- 
deutung fremder  Götter  als  römische.  Richter  sammelt  die 
Stellen  erst  der  Literatur,  dann  der  Inschriften,  in  denen  eine 
solche  Gleichsetzung  zum  Ausdruck  kommt  (Typus  Mars  AIbiorix)\ 
Kap.  HI  handelt  über  die  cognomina  solcher  Götter  {deus  sanctus 
Mars  Cocidius)  und  über  die  lokale  Gebundenheit  einzelner 
fremder  Namen  (Mars  Caturix  und  Intarahus  an  Oberdeutsch- 
land). Kap.  IV  bespricht  die  Fälle,  in  denen  nur  aus  dem 
Zusammenhang  zu  erschließen  ist,  daß  sich  unter  römischem 
Namen  ein  fremder  Gott  birgt:  aus  der  Kopulierung  mit  einem 
barbarischen  Namen  {Mercurius  et  Rosmerta),  aus  einem  un- 
römischen Plural  {ßilvani),  oder  aus  einer  auffälligen,  un- 
römischen Häufigkeit  der  Verehrung  (Saturn  in  Afrika).  S.  31 
wird  ansprechend  Hercules  Saxanus  nicht  als  germanischer, 
sondern  als  römischer  Gott  der  Steinbrüche  erklärt. 

Über  das  Vordringen  der  orientalischen  Religionen  im 
Römerreich  ist  oben  S.  582  gesprochen.  Wir  nähern  uns  nun 
der  Auflösung  der  antiken  Religion.  Von  0.  Seecks 
Geschichte  des  Untergangs  der  antiken  Welt^  —  Band  I  liegt 
bereits  in  dritter  Auflage  vor,  Berlin  1910  —  erschien  der 
dritte  Band  1909.  Er  schließt  an  Band  II  an,  der  gegen 
Ende  das  große  Kapitel  „Religion  und  Sittlichkeit"  beginnt 
(1.  Der  Animismus,  2.  Der  Sonnen  glaube,  3.  Die  Religion  des 

*  Populäx  behandelt  dies  Thema  L.  M.  Hartmann,  Der  Unter- 
gang der  antiken  Welt,  Wien  1910;  hier  wird  S.  63 — 78  der  Sieg  des 
besser  organisierten  Christentums  über  die  antike  Religion  geschildert. 


Griechiache  and  römische  Religion  1906  — 1910  599 

Homer).  Von  den  Abschnitten  des  neuen  Bandes  interessieren 
hier  hauptsächlich  4.  Die  ältesten  Mysterien  der  Griechen, 
5.  Die  Philosophie,  6.  Die  Religion  des  römischen  Reiches, 
7.  Glaubensphilosophie  und  Gottmenschen,  8  Das  Christentum. 
In  diesen  Kapiteln  wird  der  Komplex  der  antiken  Religion 
zu  der  Zeit,  da  sie  den  Kampf  mit  dem  Christentum  aufnimmt, 
aus  seinen  Ursprüngen  in  großen,  oft  zu  gerade  gezogenen 
Linien  abgeleitet.  In  manchen  Dingen  denke  ich  anders:  ich 
halte  Dionysos  und  Orpheus  nicht  für  ursprüngliche  Sonnen- 
götter (S.  18),  schätze  Plato  höher  als  dies  S.  57  ff.  geschieht, 
erkläre  mir  das  Fehlen  des  Mythos  in  der  römischen  Religion 
nicht  daraus,  daß  der  praktische  Römer  es  für  überflüssig  hielt, 
sich  über  Dinge,  die  ihn  nichts  angingen,  den  Kopf  zu  zer- 
brechen (S.  97).  Wenn  das  Taurobolium  als  Taufhandlung 
bezeichnet  wird  (S.  129),  so  kommt  durch  dies  christliche  Bild 
leicht  ein  falscher  Zug  in  die  Auffassung.  Beachtenswert  sind 
die  Partien  über  das  Fortleben  des  Heidentums  im  Christen- 
tum, obwohl  sich  Seeck  auch  diese  Vorgänge  zu  einfach  denkt. 
Gut  ist  der  Gedanke  durchgeführt,  daß  im  Altertum  die  Sitt- 
lichkeit zunimmt,  während  der  Glaube  an  die  Götter  des  Olymp 
abnimmt  (S.  84 ff.);  neu  war  mir  die  Deutung  des  Hermoko- 
pidenfrevels  als  einer  Handlung  fanatischer  Philosophen,  die 
an  der  allzu  großen  Menschlichkeit  der  Götterbilder  Anstoß 
nahmen  (S.  48,  560  f.). 

Durch  den  Sieg  des  Christentums  ist  die  antike  Religion 
nur  an  der  Oberfläche  überwunden;  in  der  Tiefe  lebt  sie  in 
vielen  Erscheinungsformen  fort  bis  zum  heutigen  Tage.  Die 
Literatur  darüber  anzugeben  ist  nicht  mehr  Aufgabe  meines 
Berichtes,  doch  erwähne  ich  auch  hier  einiges,  was  sonst  viel- 
leicht keine  Stelle  findet.  Von  hagiographischen  Arbeiten  war 
oben  die  Rede  (S.  521).  —  Durch  ein  Flugblatt  vom  1.  Februar 
1910  teilt  ü.  V.  Wilamowitz-Möllendorff  mit,  daß  er 
die  Summe,  die  er  am  60.  Geburtstag  zu  wissenschaftlichen 
Zwecken    erhalten    hat   „in    der    Erwartung,    daß    die    nächste 


600  Richard  Wünsch 

Generation  sich  stark  mit  dem  Problem  beschäftigen  wird, 
das  sich  ebensowohl  als  Hellenisierung  des  Christentums  wie 
als  Christianisierung  des  Hellenismus  bezeichnen  läßt"  im 
wesentlichen  dazu  bestimmt  hat,  zuverlässige  Ausgaben  solcher 
Schriften  zu  schaffen,  die  in  ihrer  Kunstform  oder  ihrem  In- 
halt für  diese  Übergangszeit  wichtig  sind:  zunächst  Gregor 
von  Nyssa,  Eunomios,  Himerios,  Eunapios.  An  diesen  Editionen 
werden  sich  außer  v.  Wilamowitz  noch  E.  Norden,  K.  Holl, 
E.  Schwartz  und  P.  Wendland  beteiligen.  Diese  Namen 
bürgen  für  die  wissenschaftliche  Gediegenheit  des  Unternehmens, 
dem  rascher  Fortgang  zu  wünschen  ist. 

W.  Soltau,  Das  Fortleben  des  Heidentums  in  der  alt- 
christlichen Kirche,  Berlin  1906,  will  in  reformatorischer  Ab- 
sicht diejenigen  Elemente  aus  dem  christlichen  Dogma  aus- 
scheiden, die  nach  seiner  Ansicht  aus  dem  Heidentum  hervor- 
gegangen sind:  die  Lehre  von  der  göttlichen  Geburt  und  dem 
Erlösertum  Jesu,  vom  Logos  und  der  Dreiheit,  die  Märtyrer- 
und  Heiligenverehrung,  den  Engel-  und  Dämonenglauben,  die 
Lehre  von  den  Sakramenten  und  die  Hierarchie.  Das  Buch 
ist  für  weitere  Kreise  geschrieben,  es  zeigt  uns  aber  auch, 
welche  Fragen  über  die  Entstehung  des  Christenturas  zur  Zeit 
die  brennendsten  sind  und  wissenschaftliche  Beantwortung  ver- 
langen. —  Th.  Trede,  Bilder  aus  dem  religiösen  und  sittlichen 
Volksleben  Süditaliens,  Gotha  1909,  ist  ein  Auszug  aus  des 
Verfassers  vierbändigem  Werk  „Das  Heidentum  in  der  rö- 
mischen Kirche".  Wer  Tredes  Sammlungen  zur  unteritalischen 
Volkskunde  benutzen  will,  muß  nach  wie  vor  zur  großen  Aus- 
gabe greifen,  zumal  dieser  Auszug  kein  Register  enthält.  — 
G.  Stara-Tedde  Bicerche  sulla  evolumone  del  cidto  degli  alber i 
dal  principio  del  secolo  quarto  in  poi,  Bull.  Com.  arch.  com.  1907 
S.  129fP.  ist  eine  Portsetzung  seiner  Boschi  sacri  delV  antica 
Borna,  ebenda  1905  S.  189ff.:  sie  gibt  eine  Sammlung  wert- 
voller Notizen  über  die  Fortwirkung  des  antiken  Baumkultes 
vom  Ausgange  des  Altertums  bis  tief  ins  Mittelalter  hinein.  — 


Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910  601 

R.  Böse  Supersfitiones  Arelatenses  e  Caesario  collectae,  Diss. 
Marburg  1909  enthält  wichtiges,  aus  Caesarius  von  Arelate, 
dem  Bischof  des  sechsten  Jahrhunderts,  geschöpftes  Material 
über  das  Weiterleben  des  Heidentums  in  Gallien  und  Ger- 
manien. Solche  Arbeiten  hätte  man  gern  mehr:  sie  schlagen 
die  Brücke  vom  Altertum  zur  Gegenwart. 

Für  den  griechischen  Mythus  habe  ich  versucht,  festzu- 
zustellen, was  aus  der  vorchristlichen  Zeit  noch  heute  lebendig 
ist  (Was  sich  das  griechische  Volk  erzählt,  Hess.  Blätter  für 
Volkskunde  V  1906  S.  108 ff.):  das  Material  bot  mir  die  treff- 
liche Sammlung  von  Politis,  MaXixai  nBQl  tov  ßCov  xal  riig 
yXaööTjg  tov  iXXrjvixov  Xaov.^  Es  ist  nicht  allzuviel:  die 
großen  Olympier  sind  tot,  bis  auf  das  schönste  Weib  und  den 
stärksten  Mann,  Aphrodite  und  Herakles;  dafür  leben  noch  die 
Dämonen  und  Gespenster  —  das  Christentum  hat  die  offi- 
zielle Religion,  die  keine  festen  Wurzeln  besaß,  fällen  können, 
aber  nicht  den  zähe  haftenden  Volksglauben.  Zu  ähnlichen 
Ergebnissen  kommt  J.  Cuthbert  Lawson,  Modem  Greek 
Föüdore  and  Äncient  Greek  Religion,  A  Study  in  Survivals, 
Cambridge  1910.  Er  hat  in  seinem  Material  Erinnerungen 
von  Olympiern  nur  an  Zeus,  Poseidon,  Pan,  Aphrodite  ge- 
funden —  sie  blieben  im  Gedächtnis,  weil  die  Menschen  zu 
allen  Zeiten  gerade  mit  ihrem  Machtbereich  vertraut  blieben, 
mit  Himmel  und  Meer,  mit  Weideland  und  mit  der  Liebe. 
Die  Gedanken  an  den  Tod  verhinderten,  daß  die  chthonischen 
Götter,  Demeter,  Persephone  und  Charon  vergessen  wurden. 
Sehr  bekannt  sind  heute  noch  die  Nymphen,  Lamien  und 
Gorgonen,  beliebt  ist  wie  in  der  Urzeit  der  Aberglaube  und 
die  Zauberei.  Ausführlich  werden  die  Vorstellungen  von  der 
Vereinigung  zwischen  Mensch  und  Gott  erörtert  (S.  292  ff.,  543). 
Es  sind  die  aus  Dieterichs  Mithrasliturgie  bekannten  Probleme 

^  Eine  ähnliche  Sammlung  für  Rom  gibt  G.  Zanazzo  Usi,  costumi  e 
pregiudizi  del  popolo  dt  Roma,  Turin  1908:  es  ist  Band  II  der  Tradizioni 
popolari  Romane. 


602     Richard  Wünsch    Griechische  und  römische  Religion  1906  — 1910 

(S.  121  ff.),  bei  denen  jedocli  Lawson  m.  E.  die  Verbindungs- 
fäden zwiscben  Altertum  und  Gegenwart  viel  zu  straff  zieht. 
Wie  oft  ist  da  derselbe  Gedanke  in  zweitausend  Jahren  aus 
denselben,  stets  lebendigen  Vorstellungen  neu  gezeugt  worden! 

Jeder,  der  sich  um  das  Fortleben  des  alten  Griechenlands 
im  neuen  gekümmert  hat,  wird  die  Verzettelung  des  Materials 
mit  Bedauern  empfunden  haben.  Jetzt  ist  dafür  eine  Zentrale 
geschaffen  in  der  AaoygacpCa,  dem  Organ  der  in  Athen  1909 
unter  der  Mitwirkung  von  Politis  gestifteten  AaoyQacpixrj 
ituLQsCa.  Zwei  Bände  liegen  bereits  vor,  in  denen  mancherlei 
Material  zur  Durchdringung  auch  der  antiken  Religion  bereit- 
gestellt ist.  Schade,  daß  sich  die  Nachricht  vom  Fortleben 
der  eleusinischen  Mysterien  in  den  Nachtfeiern  gewisser  pon- 
tischer  Gemeinden  nicht  zu  bewähren  scheint  {Aaoyg.  I 
S.  136  f.). 

So  regt  sich  auf  dem  weiten  Gebiet  der  antiken  Religionen 
das  wissenschaftliche  Leben  an  allen  Enden.  Mancherlei  Fort- 
schritte der  Erkenntnis  sind  in  den  letzten  fünf  Jahren  zu 
verzeichnen;  auch  die  Methode  der  Forschung  scheint  sich 
konsolidieren  zu  wollen:  das  Ausgehen  von  den  Tatsachen  der 
historischen  Überlieferung,  die  vorsichtige  Ausdeutung  und 
psychologische  Erklärung,  unter  Heranziehung  verwandter  Er- 
scheinungen bei  anderen  Völkern  beginnt  mehr  Boden  zu  er- 
obern. Nun  muß  noch  die  Einseitigkeit  überwunden  werden, 
die  alles  nur  als  astral  oder  als  babylonisch  deutet.  Auch 
muß  sich  noch  der  Blick  dafür  schärfen,  welche  Aufgaben  bei 
dem  heutigen  Stand  der  Wissenschaft  eine  Lösung  verlangen 
oder  vertragen,  und  welche  Fragen  keine  oder  nur  falsche 
Antworten  finden.  Gewaltig  groß  ist  die  Zahl  der  Probleme, 
die  heute  schon  und  heute  noch  des  Arbeiters  harren:  Pro- 
bleme namentlich  des  Volksglaubens  und  des  Zaubers,  des 
Kultus  und  Ritus,  des  Synkretismus  und  der  Entstehung  des 
Christentums. 


5  Neuerscheinungen  zur  Eeligions-  und  Kirehen- 
gescMchte  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit^ 

Von  Albert  ■Werminghoff  in  Königsberg  i.  Pr. 

Der  Aufforderung,  im  „Archiv  für  Religionswissenschaft" 
die  Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  des 
Mittelalters  und  der  Xeuzeit  anzuzeigen,  glaubte  ich  um  so 
weniger  mich  entziehen  zu  sollen,  als  dies  Referat  eine  Ver- 
bindung mit  eigenen  Versuchen  herstellen  möchte,  die  der 
Entwicklung  des  kirchlichen  Rechtes  und  der  kirchlichen 
Verfassung  im  deutschen  Mittelalter  gelten.  Fast  allzu  groß 
schon  ist  die  Zahl  der  Bücher  und  Broschüren  geworden,  die 
sich  auf  dem  Arbeitstische  einfanden:  es  ist  Zeit  sie  zu  über- 
schauen und  ihnen  in  gedrängtester  Kürze  das  Geleite  zu 
geben.  In  ihrer  Mehrzahl  sind  sie  der  Geschichte  der  Kirche, 
Männern  und  Erscheinungen  des  kirchlichen  Lebens  gewidmet; 
uns  liegt  daher  ob,  aus  ihnen  die  Gedanken  herauszuheben, 
die  der  Religion,  ihrer  Entwicklung  und  ihren  Erscheinungs- 
formen, sich  zuwenden  als  dem  Komplexe  eines  bestimmten 
geistigen  Prozesses,  der  im  letzten  Grunde  dem  unzerstörbaren 
Drang  der  Menschen  nach  Verbindung  des  bekannten  Diesseits 
mit  dem  unbekannten  Jenseits  Ursprung  und  Inhalt  und 
Richtung  verdankt.  Unser  Bericht  wird  von  prinzipiellen 
Erörterungen  und  von  Gesamtdarstellungen  ausgehen,  um  dann 
die  Einzelschriften  je  nach  dem  zeitlichen  Umfang  zu  würdigen, 
den  sie  umfassen  wollen. 

Es  trifft  sich  gut,  daß  wir  zunächst  auf  den  geistvollen 
Vortrag  von  R.  Fester  hinweisen  können,  der  dem  Problem 
nachgeht,  welche  Momente  es  dahin  gebracht  haben,  „daß  wir  den 

*  Abgeschlossen  im  Januar  1911. 


604  Albert  Wenninghoff 

Dingen  dieser  Welt  als  Historiker  weltlich  gegenüberstehen", 
daß  „auch  der  Kirchenhistoriker  längst  zum  Profanhistoriker 
geworden  ist  und  sich  daran  gewöhnt  hat,  auch  das  Christen- 
tum im  Rahmen  der  allgemeinen  Religionsgeschichte  zu  be- 
trachten."' Gegen  R.  Festers  Forderung,  daß  die  Historie  sich 
immer  weiter  von  jedem  Supranaturalismus  zu  entfernen  habe, 
hat  seitdem  die  Rektoratsrede  von  E.  Schaeder  Einspruch  er- 
hoben, indem  sie  sich  müht,  die  Zusammenhänge  zwischen 
Theologie  und  Geschichte  aufzudecken,^  Sie  klingt  in  die 
Sätze  aus:  „Wir  fühlen  uns  aufs  engste  speziell  mit  der 
Geschichtskunde  verbunden;  von  den  Maßstäben,  auch 
den  kritischen,  mit  denen  sie  geschichtliche  Tatsachen 
feststellt,  wird  jede  Theologie,  welche  weiß,  wozu  sie  da 
ist,  immer  lernen  wollen  ....  Aber  wir  wissen,  daß  wir 
im  Bereich  der  Erfassung  und  Beurteilung  unserer  Wirk- 
lichkeit auch  unsere  eigene  unzerstörbare  Aufgabe  haben, 
um  so  mehr,  wenn  die  Historie  auf  jedes  theologische  Moment 
verzichtet  und  nun  in  der  Erfassung  der  Geschichte  mächtige 
Lücken  klaffen,  von  einem  zusammenfassenden,  weltanschauungs- 
mäßigen Urteil  über  Grund,  Sinn  und  Ziel  der  Geschichte 
ganz  zu  schweigen.  Theologie,  die  dort  über  Gott  spricht,  wo 
der  geschichtliche  Tatbestand  nötigt  über  ihn  zu  sprechen, 
wie  der  Spruch  nun  auch  ausfalle,  wird  es  immer  geben. 
Eben  die  Wirklichkeit  macht  sie  unerläßlich,  ganz  abgesehen 
von  den  Diensten,  die  sie  dem  praktischen  Glauben  und  der 
Kirche  leistet,  ganz  abgesehen  auch  von  den  Antrieben,  die  im 
Glauben  liegen,  sich  über  sich  selbst  und  seine  historische 
Basis    auszusprechen."     Von    solchen    grundsätzlichen  Erörte- 

*  Die  Säkularisation  der  Historie.  Ein  auf  dem  Internationalen 
Hietorikerkongreß  am  11.  August  1908  in  Berlin  gehaltener  Vortrag  mit 
einem  Nachwort.  Leipzig  und  Berlin  1909  {=  Historische  Vierteljahr- 
Bchrift  XI,  1909,  S.  441  ff.). 

*  Theologie  und  Geschichte.  Rede  beim  Antritt  des  Rektorats 
der  Königlichen  Christian-Albrechts-Universität  am  6.  März  1909.  Kiel, 
LipsiuB  und  Tischer  1909. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte        605 

rungen  hält  sich  das  „Lehrbuch  der  Kirchengeschichte"  von 
SM.  Deutsch  fern.^  Als  Bestandteil  der  Sammlung  theo- 
logischer Handbücher  will  es  den  Stoff  zu  erschöpfender 
Kenntnis  bringen,  das  Wesentliche  hervorheben,  wie  es  sich 
gleicherweise  in  der  Anführung  der  Literatur  starke  Ein- 
schränkungen auferlegt.  Berücksichtigt  wird  vor  allem  die 
äußere  Entwicklung  der  Kirche,  die  ihrer  Verfassung  und 
Lehre  seit  dem  Auftreten  Christi,  seit  Gregor  dem  Großen 
(t  604)  und  seit  Luther,  ohne  daß  hier  die  weitere,  zum  Teil 
atomisierende  Stoffgliederung  angemerkt  werden  darf.  Wer 
von  der  Lektüre  K.  Müllers  oder  A.  Haucks  kommt,  sieht  sich 
einem  Werke  gegenüber,  das  alles  in  allem  weit  weniger  tief 
schürft  als  jene.  Schlicht,  stellenweise  zu  schlicht  berührt  es 
wenig  mehr  denn  die  Oberfläche  der  Dinge,  und  vergebens 
Bucht  man  z.  B.  in  dem  Abschnitt  über  die  Bekehnmg  der 
Germanenstämme  zum  Christentum  (S.  238  ff.)  eine  Antwort 
auf  die  Frage  nach  den  Ursachen  ihrer  religiösen  Umprägung, 
nach  ihren  Folgen  auf  ihr  geistiges  Leben,  in  dem  der  alte 
Glaube  nicht  zuletzt  deshalb  so  rasch  verschwand,  weil  er  die 
Fühlung  mit  den  Kultstätten  in  der  Heimat  eingebüßt  hatte.- 
Mehr  bietet  der  Abschnitt  über  das  Zeitalter  der  Reformation 
(S.  446  ff.),  gerade  hier  aber  vermißt  man  doch  auch  wieder 
einen  Überblick  über  die  Erscheinungsformen  der  Religion, 
über  das  Streben  nach  massenhafter  Betätigung  der  Sorge  um 
das  Seelenheil  des  Einzelnen,  der  nach  unmittelbarer  Verbindung 
mit  Gott  trachtete,  ohne  auf  die  Diener  einer  zum  guten  Teil 
entarteten  kirchlichen  Verwaltung  angewiesen  zu  sein:   da  hat 


^  Lehrbuch  der  Kirchengeschichte  (a.  u.  d.  T. :  Sammlung  theologischer 
Handbücher  V).     Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber  1909. 

*  Zu  S.  306  ff.  mit  ihren  Ausführungen  über  die  Stellung  der 
deutschen  Reichseigenkirchen  im  10.  und  11.  Jahrhundert  ist  jetzt  die 
aufschlußreiche  Studie  von  A.  Hauck  über  Die  Entstehung  der  geist- 
lichen Territorien  (Sonderabdruck  aus  Band  27  der  Abhandlungen  der 
philol.-hist.  Klasse  der  Königl.  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften), Leipzig,  Teubner  1909  zu  vergleichen. 


606  Albert  Werminghoff 

es  doch  F.  von  Bezold  ganz  anders  verstanden,  die  religiöse 
Bewegung  vor  Luther  und  ihre  Hinweise  auf  ihn  zu  veran- 
schaulichen. Auch  die  Literaturangaben  des  Verfassers  wollen 
nicht  allen  Anforderungen  genügen;  sie  knapp  zu  halten  war 
sein  gutes  Recht,  aber  dann  hätte  er  viele  Anführungen  längst 
überholter  Werke  beiseite  lassen  und  mit  den  neuesten  sich 
begnügen  können,  zumal  sich  überdies  Fehler  eingeschlichen 
haben,  die  dem  Anfänger  —  an  ihn  wendet  sich  das  Buch  in 
erster  Linie  —  recht  unlieb  sein  werden.  So  sehr  es  wider- 
strebt, eine  alte  Regel  zu  durchbrechen,  die  dem  Toten  Ehr- 
furcht zu  zollen  gebietet,  ebensowenig  darf  verschwiegen 
werden,  daß  der  an  sich  bereits  große  Kreis  von  Kirchen- 
geschichten durch  die  vorliegende  nicht  wesentlich  bereichert 
worden  ist.  Sie  mag  manchem  als  Nachschlagewerk  und  zu 
rascher  Orientierung  nützlich  sein,  aber  nicht  als  eine  pragma- 
tische Darstellung,  die  mehr  bieten  kann  und  wird  denn  dieses 
Lehrbuch. 

Ohne  Zweifel  gelungener  erscheint  eine  Spezialunter- 
suchung zur  Geschichte  der  altchristlichen  Liturgie,  wie  sie 
F.  Wieland  in  der  Schrift  „Mensa  und  Confessio"  geliefert  hat.^ 
In  straffer  Gliederung  und  überzeugender  Beweisführung  ver- 
folgt sie  Entstehung,  Form  und  Idee  des  christlichen  Altars 
in  den  drei  ersten  christlichen  Jahrhunderten.  Frühestens  in 
der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  läßt  er  als  vor- 
handen sich  dartun:  er  fehlt  also  den  beiden  voraufgehenden, 
zumal  für  sie  das  die  Eucharistie  herstellende  Verherrlichungs- 
gebet das  einzige  und  vollkommene  Opfer  war,  mit  ihm  aufs 
engste  verbunden  das  Eucharistiemahl.  Weil  ihnen  demnach 
der  einen  Altar  erheischende  Opferbegriff  im  Sinne  materieller 
Gabendarbringung  fehlte,  entbehrten  sie  des  Altars,  bezeichneten 

'  Mensa  und  Confessio.  Studien  über  den  Altar  der  altchristlichen 
Liturgie  I:  Der  Altar  der  vorkonstantinischen  Kirche  (a.  u.  d.  T. :  Ver- 
öffentlichungen aus  dem  kirchenhistorischen  Seminar  München  II  n.  11). 
München,  J.  J.  Lentner  1906. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  607 

sie  auch  nicht  ihren  Mahltisch  als  Altar.  Erst  seit  Ausgang 
des  zweiten  Jahrhunderts  drang  der  Gedanke  einer  materiellen 
Gabendarbringung  in  den  Begriff  des  Opfers,  das  nicht  mehr 
bloß  in  dem  Gotteslob  durch  konsekrierende  Herstellung  des 
eucharistischen  Christus  erblickt  wurde,  sondern  bei  dem  dieser 
Christus  selbst  als  Gabe  an  Gott  galt,  durch  deren  Darbringung 
Gott  verherrlicht  werde.  Erst  von  jetzt  an  wurde  der  eucha- 
ristische  Tisch,  auf  dem  die  Gaben  dargelegt  wurden,  Altar 
genannt:  er  ist  nicht  herzuleiten  aus  Juden-  oder  Heidentum, 
aber  leicht  mochten  sich  ursprünglich  heidnische  Anschauungen 
auf  den  christlichen  Altar  übertragen.  Der  Verfasser,  dessen 
Ergebnisse  wir  in  möglichst  engem  Anschluß  an  seine  eigenen 
Worte  wiederholten,  hat  diese  seitdem  in  einer  besonderen 
Schrift  zu  verteidigen  unternommen;^  wie  überzeugend  sie 
sind,  beweist  allein  der  Umstand,  daß  auch  P.  Drews  in  seinem 
Artikel  über  den  christlichen  Altar  auf  sie  sich  gestützt  hat.* 
Ebenfalls  von  der  Eucharistie  der  ältesten  christlichen  Zeit 
geht  auch  F.  Raible  aus,  wenngleich  sein  Ziel  ein  anderes 
ist.^  Ihn  beschäftigt  zunächst  die  Frage,  warum  die  Eucha- 
ristie vor  Uneingeweihten  geheim  gehalten,  wo  sie  aufbewahrt 
wurde,  weiterhin  die  Verschiedenheit  der  Aufbewahrung  der 
Eucharistie  in  der  Kirche,  über  und  neben  und  hinter  dem 
Altar  in  der  Periode  von  rund  dem  Jahre  700  bis  etwa  1600, 
endlich  die  Geschichte  des  Altartabernakels  in  Neuzeit  und 
Gegenwart.  Es  handelt  sich  also  letztlich  um  die  Entwicklung 
eines  liturgischen  Kirchengerätes,  wenn  der  Verfasser  auch  den 
religiösen  Vorstellungen  nachgeht,    die    zu   seiner  Anbringung 

*  Die  Schrift  Mensa  und  Confessio  und  P.  E.  Dorsch  S.J.  in  Inns- 
bruck 'a.  u.  d.  T.  VeröfiFentlichungen  usw.  III  n.  4).  München,  J.  J.  Lent- 
ner  1908. 

-  Die  Behgion  in  Geschichte  uyid  Gegenwart  herausg.  von  F.  M. 
Schiele  I  (Tübingen  1909),  Sp.  373  ff. 

'  Der  Tabernakel  einst  und  jetzt.  Eine  historische  und  liturgische 
Darstellung  der  Andacht  zur  aufbewahrten  Eucharistie.  Herausg.  Ton 
E.  Krebs.  Freiburg  i.  Br.,  Herder  1908. 


608  Albert  Werminghoff 

und  Verwendung  führten.  Darüber  hinaus  liefert  er  einen 
Beitrag  zur  Geschiclite  der  kirchlichen  Kunstaltertümer,  nicht 
ohne  das  Äußere  des  Tabernakels  im  Wandel  der  Zeiten  durch 
zahlreiche  Abbildungen  zu  veranschaulichen.  Sein  Buch  dient 
einem  praktischen  Zweck,  indem  es  den  Sinn  für  die  künst- 
lerischen Aufgabein  bei  Herstellung  neuer  Tabernakel  wecken 
will,  andererseits  einem  homiletischen,  derart  daß  es  An- 
knüpfungspunkte für  eucharistische  Predigten  und  Christen- 
lehren zu  liefern  trachtet.  Der  Religionshistoriker  wird  zu- 
nächst den  Abschnitten  über  den  Glauben  der  alten  Kirche  von 
der  Eucharistie,  über  Gebrauch  und  Verehrung  der  Eucharistie 
bei  den  ersten  Christen  (S.  5  ff.  und  21  ff.)  sein  Augenmerk  zu- 
kehren; wie  sehr  sie  von  den  Ausführungen  Wielands  ab- 
weichen, mag  nur  der  eine  Satz  erkennen  lassen,  daß  schon 
bei  den  ältesten  Vätern  die  Lehre  von  der  Eucharistie  in 
voller  Klarheit  und  Bestimmtheit  auftritt,  sie  genau  die  Lehre 
des  Konzils  von  Trient  über  das  allerheiligste  Altarsakrament 
ist  (S.  17).  Man  sieht,  von  einer  gänzlich  voraussetzungslosen 
Erforschung  eben  des  Grundproblems  ist  Raible  weit  entfernt, 
ohne  daß  deshalb  sein  Fleiß  in  der  Zusammentragung  des 
Materials  verkannt  werde:  ihm  verdankt  das  Buch  seinen  Wert 
für  die  kirchliche  Kunstgeschichte,  auf  den  aber  hier  nicht  ein- 
zugehen ist.^ 

Mehr  bietet  die  Monographie  von  E.  Ch.  Babut  über 
Priscillian  (f  385)  und  den  Priscillianismus,  die  nach  sorg- 
fältiger Quellenkritik  ein  Bild  jenes  spanischen  Asketen  und  der 
nach  ihm  benannten  Bewegung  zu  zeichnen  unternimmt.^ 
Besonders    in    Betracht    kommt    der  Abschnitt  S.  105 ff.    über 

'  Kurz  verwiesen  sei  auf  A.  B&nm.ata.ik  Liturgische  Texte  III,  Die 
Konstantinopolitanische  Meßliturgie  vor  dem  9.  Jahrhundert.  Übersicht- 
liche Darstellung  des  wichtigsten  Quellenmaterials  (a.  u.  d.  T. :  Kleine 
Texte  für  theologische  und  philologische  Vorlesungen  und  Übungen, 
herausg.  von  H.  Lietzmann  n.  35).     Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber  1909. 

*  Priscillien  et  le  Priscillianismc  (Bihliotheque  de  Vecöle  des  hautes 
arides  n.  169).     Paris,  H.  Champion  1909. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  609 

Priscillians  Lehren,  deren  dualistischen  Einschlag  der  Verfasser 
auf  Paulus  zurückführt,  sodann  derjenige  über  Priscillians 
mystischen  Asketismus,  der  ihn  bestimmte,  einer  Schar  von  Aus- 
erwählten einen  höheren  Grad  religiöser  Erkenntnis  beizulegen 
und  sie  allein  des  Verständnisses  des  geheimen  Sinnes  der 
heiligen  Schriften  fähig  zu  erklären;  nur  auf  Grund  dieser 
Gaben  konnten  sie  in  unmittelbare  Verbindung  mit  Christus 
treten.  In  solchen  Doktrinen,  dazu  in  der  steigenden  Zahl 
ihrer  Bekenner  auf  Bischofsstühlen  und  in  den  Konventikeln 
ihrer  Anhänger  lagen  die  Ursachen  des  Vorgehens  wider  Pris- 
cillian,  jener  Anklage  auf  Zauberei,  nächtliche  Zusammenkünfte 
mit  Frauen  und  die  Gewohnheit  nackt  zu  beten,  einer  Anklage, 
die  zur  Hinrichtung  der  angeblich  Schuldigen  führte.  Auch 
auf  das  Kapitel  S.  253 ff.  ist  hinzuweisen:  es  befaßt  sich  mit 
den  Hypothesen  über  Priscillians  Gnostizismus  und  Manichäis- 
mus,  wie  es  außerdem  den  Vorwurf  prüft,  Priscillian  habe 
Christus  als  innascibilis  bezeichnet.  In  die  gleiche  Zeit,  den 
Ausgang  des  vierten  und  den  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts, 
führt  der  dritte  Teil  der  Biographie  des  Hieronymus  (f  420)  von 
G.  Grützmacher,  der  in  ihm  Leben  und  Schriften  seines  Helden 
bis  zu  dessen  Todesjahr  schildert.^  Es  kann  sich  hier  nicht 
darum  handeln,  die  hohe  Bedeutung  des  Werkes  abzuschätzen. 
Getragen  von  eindringendem  Verständnis  für  das  Wesen  des 
Kirchenvaters,  erfüllt  vom  Bestreben  seiner  historischen  Be- 
urteilung die  Richtlinien  zu  bestimmen,  fesselt  es  den  Leser 
stets  aufs  neue,  mag  es  bald  den  nicht  gerade  seltenen  Streitig- 
keiten des  doctor  ecclesiae  nachgehen,  mag  es  seine  Kommentare 
zu  einzelnen  biblischen  Schriften  würdigen.  Gerade  in  diesen 
letzteren  Abschnitten  möchte  das  Hauptverdienst  des  Verfassers 
zu  suchen  sein;  man  weiß,  wie  nachhaltig  die  Theologie  des  Hiero- 


*  Hieronymus.  Eine  biographische  Studie  zur  alten  Kirchen- 
geschichte III:  Sein  Leben  und  seine  Schriften  von  400—420  (a.  u.  d.  T.: 
Studien  zur  Geschichte  der  Theologie  und  der  Kirche  herausg.  von 
N.  Bonwetsch  und  R.  Seeberg  II,  2).  Berlin,  Trowitzsch  u.  Sohn  1908. 

Archiv  f.  Beligions-wisseaschaft   XTV  39 


h 


610  Albert  Werminghoff 

nymus  auf  die  späteriB  eingewirkt  hat,  wie  oft  er  in  der  Folge 
als  Kommentator  der  Psalmen,  der  Propheten  usw.  ange- 
zogen, ausgeschrieben  worden  ist.  Grützmacher  ist  weit  ent- 
fernt, jeden  Kommentar  für  mustergültig  zu  erklären  (vgl.  z.  B. 
S.  22  über  den  Psalmenkommentar);  indem  er  aber  auf  die 
Art  der  Exegese  des  näheren  eingeht,  in  ihr  die  historische 
und  tropologische  oder  allegorische  nach  Richtung  und  Um- 
fang bestimmt,  sowie  ihre  Quellen  im  einzelnen  aufdeckt,  blicken 
wir  hinein  in  die  Werkstätte  hieronymianischer  Gedanken, 
durch  die  nicht  zuletzt  griechisches  und  hebräisches  Wissen 
dem  Abendlande  vermittelt  wurde.  Besonders  lehrreich  er- 
scheinen die  Ausführungen  über  den  Kommentar  zur  Apokalypse 
und  sein  Verhältnis  zu  dem  des  Victorinus  von  Pettau,  über 
die  Stellung  des  Hieronymus  zum  Chiliasmus,  den  er  —  anders 
als  seine  ursprünglichen  Führer  —  ablehnte:  er  spirituali- 
ßierte  die  Hoffnungen  auf  ein  tausendjähriges  Reich  Christi 
auf  Erden;  an  ihre  Statt  ist  ja  seit  Konstantin  dem  Großen 
die  Kirche  auf  Erden  zur  Wirklichkeit  geworden,  und  das  blutige 
Martyrium  erscheint  abgelöst  durch  das  unblutige  Martyrium 
der  Virginität  (S.  235 ff,).  Man  erkennt,  worin  zuzweit 
Grützmacher  die  Bedeutung  des  Hieronymus  beschlossen  sieht, 
in  der  Verherrlichung  des  asketischen  Lebens,  in  der  Propa- 
ganda für  coenobitäre  Ideen,  die  seine  erbaulichen  Sendschreiben 
zu  vielgelesenen  Traktaten  in  der  Hand  des  mittelalterlichen 
Mönchtums  gemacht  haben.  Dem  Patriarchen  des  Mönchtums 
gelten  daher  mehrere  Abschnitte  (S.  95  ff.,  137  ff.  und  240 ff.) 
mit  ausführlichen  Inhaltsangaben  jener  Mahnbriefe,  die  durch 
ihre  Anschaulichkeit  und  ihren  Reichtum  an  Schilderungen 
aus  dem  wirklichen  Leben  die  typischen  Beschreibungen 
der  Askese  und  ihrer  Vorzüge  fast  in  den  Hintergrund  drängen: 
sie  werden  dadurch  zu  wertvollen  Quellen  für  die  Kultur- 
geschichte ihrer  Entstehungszeit  und  lassen  ihren  Urheber 
weniger  unsympathisch  erscheinen  als  den  starren  Eiferer  für 
die  kirchlich  gebundene  Orthodoxie,    mag  gleich   sein  größtes 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  61 1 

Verdienst,  die  Bibelübersetzung,  allein  genügen,  um  ilin  unter 
die  Lehrer  der  Kirche  einzureihen. 

Längst  haben  wir  erkannt,    daß  alle  Periodisierungen  der 
Vergangenheit    Notbehelfe  sind,    dem    menschlichen  Verstände 
aber  unentbehrliche  Hilfsmittel,  um  durch  sie  das  Nacheiuande  r 
der  Ereignisse  ordnend  zu  begreifen.     Fließen  nicht  in  Wirk- 
lichkeit   die    von    uns    angesetzten    Zeiträume    unmerklich  in- 
einander   über?     Sind    nicht  Altertum    und    Mittelalter    eben 
durch  das  Band    des  religiösen  Lebens,   durch    die  Entfaltung 
des  christlichen  Glaubens,  seiner  Kultur  und  Kirchenverfassung 
aufs    engste    miteinander  verknüpft?     Selten    sind    uns    diese 
Tatsachen  so  deutlich,  so  handgreiflich  entgegengetreten  wie  bei 
der  Lektüre  des  prächtig  ausgestatteten  Buches  von  H.  Grisar 
über    die    römische    Kapelle    Sancta    Sanctorum     und     ihren 
Reliquienschatz,  das  von  überraschenden  Entdeckungen  auf  dem 
Gebiete  wie  der  kirchlichen  Kunstübung  so  des  Reliquienwesens 
Kunde  gibt.'     Ihr  Schauplatz  ist  die  Palastkapelle   der  mittel- 
alterlichen   Päpste    zu    Rom     in    der    Nähe    der    nur    einmal 
betretenen  Scala   santa.     Ihre   Ergebnisse    bestehen    aus    zahl- 
reichen Kunstgegenständen  wie  z.  B.  Kreuzen,  Reliquiaren,  Holz- 
und  Elfenbeinwerken,   ferner  Textilien  mit   bildlichen   Darstel- 
lungen, dazu  einer  stattlichen  Zahl  von   Reliquien,  deren  Ur- 
sprung und  Gebrauch    Grisar   aufzudecken    sich    bemüht.     Die 
Frage  nach  ihrer  Authentizität  braucht  hier  nicht  aufgerollt  zu 
werden,  da  sie  uns  als  dem  Gebiet  des  Glaubens  angehörig  un- 
diskutierbar  dünkt.     Über  sie  hinaus  ist  es  lehrreich  zu  beob- 
achten, welcher  Art  die  beschriebenen  Reliquien  sind,  vor  aUem 
das  Salvatorbild,  d.  h.  jenes  nicht  von  Menschenhand  gemachte 
Bildnis    Jesu,   dessen    zum    ersten  Male  in  der  Biographie    des 
Papstes   Stephan  II.  (f  757)    Erwähnung    geschieht    und   dem 


^  Die  römische  Kapelle  Sancta  Sanctorum  und  ihr  Schatz.  Meine 
Entdeckungen  •  und  Studien  in  der  Palastkapelle  der  mittelalterlichen 
Päpste.  Mit  einer  Abhandlung  von  M.  Dreger  über  die  figurierten 
Seidenstoffe  des  Schatzes.     Freiburg  i.  ßr.,  Herder  1908. 

39* 


612  Albert  Werminghoff 

seit  Beginn  des  9.  Jahrhunderts  göttliche  Herkunft  zuerkann 
wurde.  Auch  ein  goldenes  Emailkreuz  vielleicht  aus  der  Zei 
vor  Papst  Sergius  (f  701)  trat  zutage,  des  weiteren  eii 
goldenes  Gemmenkreuz,  dessen  Beschreibung  Grisar  veranlaßt 
über  die  Reliquien  des  wahren  Kreuzes  und  die  Salbungen  mi 
Balsam,  über  die  Geschichte  der  angeblichen  Christu3reliqui( 
des  Gemmenkreuzes,  das  praeputium  D.N.J.C,  zu  handeli 
(S.  82ff.  89  ff.).  Aus  der  Zahl  der  silbernen  Reliquiare  mögei 
die  der  Sandalia  D.  N.J.C.,  der  Häupter  der  Heiligen  Agnes  un( 
Praxedes,  ein  altchristliches  mit  dem  Bild  der  Verehrung  dei 
Kreuzes  erwähnt  sein,  aus  der  Zahl  ferner  der  Elfenbeinwerk( 
eine  Pyxis  mit  Szenen  des  Bacchuskultus  (S.  120  ff.),  währenc 
unter  den  Gewändern  des  Schatzes  solche  mit  Symbolen  un( 
Tierbildern  möglicherweise  des  ostasiatischen  Kulturkreisei 
begegnen.  Man  mag  bedauern,  daß  Grisar  keine  unbeding 
vollständige  Schilderung  aller  aufgedeckten  Kunstgegenständi 
usw.  gegeben  hat  (vgl.  S.  141)  — ,  was  er  bietet  ist  wertvol 
nicht  zuletzt  durch  die  ständigen  Hinweise  auf  die  erschließ 
bare  Geschichte  des  einzelnen  Objektes  in  historischen  un( 
liturgischen  Aufzeichnungen.  Dadurch  aber  föllt  Licht  au 
gottesdienstliche  Bräuche,  die  freilich  z.  T.  recht  sehr  an  Bilder 
dienst  gemahnen  (vgl.  bes.  S.  69 ff.).  Auch  wer  die  Urteile  des  Ver 
fassers  über  diese  Zeremonien  nicht  teilt,  wird  ihm  für  seine  mühe 
vollen  Untersuchungen  Dank  wissen  und  es  begreiflich  finden 
daß  er  in  einem  erläuternden  Vorbericht  zur  Publikation  voi 
Ph.  Lauer  über  denselben  Schatz  Stellung  genommen  hat. 

Einen  zeitlich  und  räumlich  größeren  Rahmen  umspann 
die  Untersuchung  von  St.  B  eis  sei  über  die  Geschichte  dei 
Marien  Verehrung  in  Deutschland  während  des  Mittelalters,  eii 
Beitrag  zur  Religionswissenschaft  und  Kunstgeschichte,  wie  ihi 
Verfasser  sie  nennt.^     Er   hat   seinen  Stoff  in  29  Kapitel   ge 

'  Geschichte  der  Verehrung  Marias  in  Deutschland  während  de 
Mittelalters.  Ein  Beitrag  zur  ReligionewisBenschaft  und  Kunstgeschichte 
Freiburg  i.  Br.,  Herder  1909. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  613 

gliedert:  ausgehend  von  den  Grundlagen  und  Anfängen  der 
Marienverehrung  in  Deutschland  und  Frankreich  (S.  4  ff.)  richtet 
er  sein  Augenmerk  auf  die  Marienkirchen  (S.  19ff.  132 ff.  430 ff.), 
die  marianischen  Wallfahrtsorte  und  Wallfahrten  (S.  143ff. 
415  ff.),  die  Marienfeste  des  9.  Jahrhunderts  (S.  42  ff.),  die 
marianische  Literatur,  Legende  und  Predigt  (S.  57  ff.  90  ff. 
4S9ff.\  auf  Maria  in  den  Offenbarungen  des  12.  bis  14.  Jahr- 
hunderts (S.  278  ff.),  die  Marienbüder  (S.  71ff.  157  ff.  327  ff. 
463 ff),  Darstellungen  ihres  Lebens  (S.  175 ff.),  ihres  Stamm- 
baums und  ihrer  Jugend  (S.  567  ff.),  im  verborgenen  Leben 
des  Herrn  (S.  593ff.),  ihrer  Freuden  (S.  630ff.\  auf  ihre  Reliquien 
(S.  292ff.),  die  Marienverehrung  in  den  Orden,  im  Yolke 
und  in  der  Liturgie  (S.  195 ff.  214ff.  251  ff.  266 ff.  304ff.  379ff.), 
auf  den  Rosenkranz,  seine  Geheimnisse  und  Bruderschaften 
(S.  228ff.  5llff.  540ff).  Um  eine  Einsicht  in  den  Inhalt  des 
Buches  zu  vermitteln,  sind  Abschnitte  gleicher  oder  ähnlicher 
Art  hier  zusammengefaßt:  der  Autor  selbst  hat  sie  —  mit  gutem 
Recht  —  getrennt,  da  es  ihm  nicht  auf  eine  Systematik  und 
Topologie  der  Marienverehrung  ankam  als  vielmehr  auf  ihre 
Geschichte,  die  in  immer  neuen  Ansätzen  neue  Formen  jenes 
Kultus  geschaffen  hat.  Die  Vielgestaltigkeit  dieser  Formen 
erweckt  billig  Erstaunen:  welcher  Weg  doch  von  der  Benennung 
von  Kirchen  nach  der  Heiligen  bis  zu  den  Darstellungen  der 
Gottesmutter  im  verborgenen  Leben  des  Herrn  und  ihrer  Freuden, 
auf  der  anderen  Seite  welche  Intensität  legendarischer  Aus- 
schmückung  in  Gebeten,  Schriften,  Gebräuchen,  die  doch  keine 
neuen  Wesenszüge  Marias  enthüllen  können!  Immer  wieder 
setzen  Erweiterungen,  Ausdeutungen  ein,  und  schließlich 
empfängt  der  Leser  den  Eindruck,  daß  am  Schluß  des  Mittel- 
alters die  Verehrung  der  Maria  wohl  kaum  mehr  gesteigert 
werden  konnte.  Beissel  hat  sich  in  den  Abschnitten  über  die 
marianische  Literatur  (S.  57ff.  90 ff.  489 ff.)  und  über  Maria 
in  den  Offenbarungen  des  12.  bis  14.  Jahrhunderts  (S.  278ff.) 
begnügt,  jedes  einzelne  Zeugnis    für   sich  sprechen    zu  lassen, 


614  Albert  WerminghofF 

ein  Verfahren,  das  im  Interesse  der  freilich  planmäßig  nichl 
angestrebten  Vollständigkeit  nützlich  ist,  das  aber  verhindert 
die  durchgängigen  Anschauungen  über  die  Heilige  zu  erkenner 
und  eine  Art  von  literarischem  Porträt  der  vielgenannten  Frau 
zu  zeichnen.  Hierin  beruht  offensichtlich  ein  Nachteil  des 
mit  erstaunlichem  Fleiß  zusammengetragenen  Buches;  dem 
wer  sollte  imstande  sein,  durch  den  Wald  dieser  Einzelzeugnisse 
sich  einen  Weg  zu  ebenen,  der  die  Aussichten  eröffnete  aui 
die  Verschiedenheiten  solcher  Prädikate,  die  der  Maria  im  10 
bis  15.  Jahrhundert  beigelegt  wurden?  So  macht  die  An- 
lage des  Werkes  an  sich  selbst  es  unmöglich,  die  wirkliche 
Geschichte  der  an  Maria  sich  knüpfenden  Vorstellungen  zu 
erfassen  — ,  ein  Glück  nur,  daß  die  spezifisch  kunstgeschicht- 
lichen Abschnitte  über  die  Marienbilder  usw.  schärfer  zu  sondern 
trachten  und  daß  von  künstlerischen  Anregungen  wiederum 
die  Literatur  über  Maria  befruchtet  erscheint.  Aus  jeder  Zeile 
des  Werkes  spricht  der  gläubige  Katholik,  der  sich  über  die 
Vielseitigkeit  der  Marienverehrung  freut,  in  ihr  eine  Bestätigung 
der  kirchlichen  Lehren  über  die  Gottesmutter  findet,  während  der 
Andersgläubige  in  ihr  die  Wechsel  vollen  Ausgestaltungen  ständig 
wirkender  Phantasie  erblickt.  Was  aber  ist  ihr  Ausgangspunkt? 
Die  Antwort  des  Verfassers  müht  sich  darzutun,  daß  allein 
die  biblische  Lehre,  wie  sie  von  Rom  nach  Deutschland  ge- 
drungen sei,  die  Grundlage  der  Marienverehrung  gebildet  habe; 
er  lehnt  die  Anschauungen  von  J.  Grimm  ab,  der  in  ihr  und 
ihren  Festen  die  Weiterwirkungen  heidnischer  Vorstellungen 
erblicken  wollte  (bes.  S.  57).  Beissel  hat  hier  zwei  ver- 
schiedenartige Dinge  auf  eine  Stufe  gestellt.  Daß  Maria  zu- 
nächst nur  in  der  Bibel  erwähnt  war,  bestreitet  niemand;  ihre 
Verehrung  aber  hat  sicherlich  schon  in  Griechenland  und 
Italien  Elemente  des  Kultus  der  Venus,  Juno  und  Cybele  in 
sich  aufgenommen,  die  dann  um  germanische  Anschauungen 
von  Holda,  Frouwa,  den  Nomen  und  Wallcüren  vermehrt 
wurden;  mit  anderen  Worten,   die  Marienverehrung  stellt  sich 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  615 

als  eine  Mischung  von  Anschauungskreisen  dar.  Der  Ver- 
fiasser  ist  sich  selbst  nicht  getreu,  wenn  er  einerseits  die 
Meinung  Grimms  als  auf  falschen  Vorstellungen  beruhend  ab- 
lehnt, sofort  aber  hinzufügt:  „Manche  Formen  dieser  Ver- 
ehrung entsprechen  freilich  in  vielen  [vielem  den?]  altererbten 
Anschauungen  des  deutschen  Volkes.  Diese  sind  dann  „heidnisch", 
insofern  auch  die  Heiden  die  ganze  menschliche  Natur  mit  ihrem 
tiefen  Gefühl  besaßen,  nicht  insofern  man  heidnisch  als  Ausdruck 
der  Abgötterei  ansieht  Aus  der  Tiefe  des  deutschen  Gemütes 
sproßte  innige  Liebe  zur  Müde,  Güte,  Schönheit  und  Macht 
einer  hehren  Frau  empor.  Poetische  Auffassung  und  freudige 
Begrüßung  stattlicher  Bäume  und  uralter  Haine,  frischer,  heil- 
kräftiger Quellen  sind  allgemein  menschlich,  weder  spezifisch 
heidnisch  noch  christlich.  Heidentum  und  Christentum  haben 
in  sie  gleichsam  ihren  Einfluß  hineinverwebt"  (S.  53).  Beissel 
verweist  also  auf  eine  Verbindung  ursprünglich  getrennter 
Gedankenreihen,  die  den  nicht  beleidigt,  der  nicht  wie  der 
Verfasser  an  der  Göttlichkeit  der  Maria  als  Postulat  festhält. 
Er  muß  Maria  mit  einem  Nimbus  umkleiden,  den  ihr  das  Gemüt, 
nicht  der  Verstand  und  die  Wirklichkeit  zubilligen  kann.  —  Gleich 
hier  sei  vermerkt,  daß  St.  Beissel  dem  eben  gewürdigten  Werke 
eine  zweite,  demselben  Gegenstand  gewidmete  Arbeit  hat  folgen 
lassen,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  Geschichte  der  Verehrung 
Marias  im  16.  und  17.  Jahrhundert  zu  schildern.^  Fortgefallen 
ist  also  hier  die  Beschränkung  auf  Deutschland,  derart  daß 
nun  der  Verfasser  das  ganze  Gebiet  der  katholischen  Kirche 
umspannt,  um  seine  staunenswerte  Belesenheit  und  die  Aus- 
dehnung seiner  Studien  deutlich  erkennen  zu  lassen.  Des  ihm 
zuströmenden  StoÖes  hat  er  versucht  Herr  zu  werden  durch 
eine  übersichtliche  Gliederung,  die  hier  wenigstens  in  ihren 
Grundzügen  angedeutet  werden  mag.  Er  geht  aus  von  der 
Erweiterung  des  „Gegrüßet  seist  du,  Maria"  (S.  5  ff.)  und  dem 

'  Geschichte   der    Verehrung  Marias  im  16.   und  17.  Jahrhundert. 
Freiburg  i.  Br.,  Herder  1910. 


616  Albert  Werminghoff 

Gebete  „Der  Engel  des  Herrn"  (S.  16  ff.);  länger  beschäftigt 
ihn  Entwicklung  und  Ausgestaltung  des  Rosenkranzes  und  der 
ihm  gewidmeten  Bruderschaften  (S.  35ff.  54ff.  87 ff.).  Er  hat 
von  der  Bekämpfung  der  Marienverehrung  durch  Protestanten 
zu  berichten  (S.  100  ff.),  nicht  minder  aber  von  immer  zahl- 
reicheren bildnerischen  Darstellungen  der  Jungfrau  durch 
Maler  und  Bildhauer,  die  wie  sie  selbst  so  einzelne  Teile  ihres 
Lebens  und  die  ihr  gewidmeten  Texte  geschildert  haben  (S.  117  ff. 
176ff'.  196ff,  275ff  298ff.  333ff  376ff.  391ff).  Einläßlich 
wertet  er  das  Fest  der  unbefleckten  Empfängnis  Maria  und 
die  ihm  gewidmeten  Bilder  (S.  217 ff.  242ff.),  bis  drei  Abschnitte 
über  das  heilige  Haus  zu  Loreto  (S.  423  ff.),  marianische  Litaneien 
(S.  466  ff.)  und  Salveandachten  (S.  494  ff.)  das  Ganze  abschließen. 
Wir  stehen  nicht  an,  Beissels  Buch  als  eine  reichhaltige  Fund- 
grube des  verschiedenartigsten  Materials  zu  bezeichnen;  es 
ohne  Pause  zu  lesen  wird  man  sich  schwerer  entschließen,  da 
das  Interesse  am  breit  ausgesponnenen  Gegenstande  leicht  er- 
lahmt, namentlich  sobald  der  Standpunkt  des  Lesers  ein 
anderer  ist  als  der  des  Verfassers.  Immerhin  sei  hervor- 
gehoben, daß  durch  die  Ausbreitung  der  Quellenzeugnisse,  durch 
die  vielen  Illustrationen  das  Buch  nicht  nur  für  den  Katho- 
liken, namentlich  den  Seelsorgegeistlichen  von  Wert  ist,  sondern 
auch  für  den  Protestanten,  dem  hier  eine  Fülle  neuer  Kennt- 
nisse sich  erschließt.  In  dieser  Hinsicht  sei  nicht  zuletzt  der 
Abschnitt  über  das  heilige  Haus  zu  Loreto  namhaft  gemacht 
(S.  423  ff.),  der  zugleich  ein  Verzeichnis  der  Loretokapellen 
enthält;  nicht  minder  freilich  bleibt  die  Art  bezeichnend,  mit 
der  Beissel  den  Einwänden  begegnet,  die  gegen  die  Echtheit 
jenes  Hauses,  gegen  seine  Übertragung  nach  Loreto  und  die 
dorthin  gerichteten  Pilgerfahrten  erhoben  wurden.  Deutlich 
wird  gerade  hier  der  Gegensatz  der  Anschauungen,  die  keine 
Brücke  zu  vereinigen  imstande  ist.^ 

■  Das  Werk    von   A.   Franz     Die    kirchlichen    Bcnedilctionen    im 
Mittelalter  I.  II.  Freiburg  i.  Br.,  Herder  1909  ging  uns  erst  nach  Abschloß 


Xeuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  617 

In  die  Zeit  der  Bekelirung  der  Germanen  zum  Christen- 
tum einen  größeren  Leserkreis  einzuführen,  ist  das  Ziel  der 
Monographie  von  G.  Schnürer,  die  den  heiligen  Bonifatius 
zum  Mittelpunkt  hat.*  Leben  und  Charakter  des  Apostels  der 
Deutschen  aufs  neue  zu  schildern  mag  nach  A.  Haucks 
Kirchengeschichte  Deutschlands  (I)  als  ein  Wagnis  erscheinen, 
aber  es  sei  alsbald  angemerkt,  daß  der  Verfasser  es  verstanden 
hat,  in  das  Wesen  seines  Helden  sich  liebevoll  zu  versenken 
und  sein  Wirken  in  den  welthistorischen  Zusammenhang  der 
Dinge  einzugliedern.  Zugute  kommt  ihm  die  Verwertung  der 
jüngsten  Ausgabe  der  Vitae  s.  Bonifatii  durch  W.  Levison, 
dazu  mancher  neueren  Untersuchung,  wie  er  dann  mit  gutem 
Grund  das  Jahr  754  als  das  des  Märtyrertodes  von  Bonifaz 
beibehalten  hat.  Die  Würdigung  des  angelsächsischen  Missionars 
und  römischen  Legaten  erhebt  sich  auf  dem  Hintergrunde  einer 
solchen  der  Benediktinerregel  ^  und  der  Bekehrung  seines  Heimat- 
volkes zum  Christentum.  Sie  begleitet  die  Wirksamkeit  des 
Bonifaz  in  ihren  verschiedenen  Phasen,  um  bei  jeder  zugleich  der 
Beziehungen  zum  Papsttum  und  zur  fränkischen  Reichsgewalt' zu 
gedenken.  Sie  mündet  aus  in  eine  Charakteristik  Bonifazens 
als  des  Trägers  deutscher  Art.  Unserer  Meinung  nach  fehlt 
eins,  die  zusammenfassende  Darlegung  der  religiösen  Höhenlage 
der  germanischen  Stämme  bei  ihrer  Bekehrung,  insonderheit 
der  ostrheinischen  Deutschen  im  8.  Jahrhundert :  die  Einzelzüse 
des  Heidentums,  das  Bonifaz  bekämpfte,  sind  über  das  ganze 
Buch  hin  zerstreut,  und  so  dankenswert  die  Mitteilung  bezeich- 


des  Manuskripts  zu:    seine  Anzeige  wird   im  folgenden  Bericht  nachzu- 
holen sein. 

^  Die  Bekehrung  der  Deutschen  zum  Christentum.  Bonifatius. 
Mainz,  Kirchheim  &  Co.  1909,  als  Bestandteil  der  „Weltgeschichte 
in  Charakterbildern"  heraueg.  von  F.  Kampers. 

-  Vgl.  dazu  meinen  Aufsatz:  Die  tcirtschaftstheoretischen  Anschau- 
ungen der  Regxda  s.  Benedicti  in  den  Historischen  Aufsätzen  K.  Zeumer 
dargebracht  (Weimar,  H.  Böhlaus  Nachf.  1910),  S.  31  ff. 


618  Albert  Werminglioff 

nender  Quellenstellen  über  die  Art  der  Mission  ist  (z.  B.  S.  41  f.)  \ 
ebenso  wünschenswert  wäre  es  gewesen,  daß  Schnürer  an  der 
Hand  der  Epistolae  Bonifatii  versucht  hätte,  Angaben  über 
heidnische  Bräuche  und  Vorstellungen  einmal  zu  vereinigen. 
Die  Motivierung  der  Christianisierung  scheint  zuweilen  weiter- 
zugehen als  unsere  Quellen  es  erlauben  (vgl.  z.  B.  S.  7),  während 
anderwärts  die  Wiedergabe  bezeichnender  Einzelberichte  z.  B. 
aus  Beda  (S.  15  f.)  sehr  passend  in  den  Text  verwoben  ist. 
Das  Urteil  des  Verfassers  über  die  Gegner  seines  Helden  ist 
stets  gerecht,  so  z.  B.  über  die  Schwärmereien  der  im  Jahre 
745  verurteilten  Aldebert  und  Clemens,  für  deren  eigentümliche 
Lehre  von  der  Wunderkraft  abgeschnittener  Haare  und  Nägel 
L.  Deubner  auf  eigenartige  Parallelen  aus  dem  Altertum  ver- 
weisen konnte,  wie  auch  ihre  Himmelsbriefe  hier  erwähnt  sein 
mögen.  ^  Weitere  Einzelheiten  sollen  hier  nicht  zur  Sprache 
kommen:  genug,  daß  Schnürers  neue  Arbeit  ebenbürtig  seiner 
früheren  über  den  hl.  Franz  von  Assisi  sich  anreiht,  ohne  zu 
einer  schlechthin  epideiktischen  Preisrede  über  Bonifaz  zu 
werden,  nachdem  ältere  Heißsporne  gerade  in  der  Verzerrung 
seines  Bildes  unentschuldbare  Blößen  gezeigt  hatten. 

Als  Historiker  hat  Schnürer  es  verschmäht,  von  Wundern 
seines  Helden  zu  berichten:  er  steht  seiner  Aufgabe  anders 
gegenüber  als  der  Verfasser  einer  Heiligenbiographie  des  Mittel- 
alters — ,  wir  beobachten  die  Säkularisation  der  Historie  im 
Sinne  von  R.  Fester.  Wie  aber  suchte  ein  mittelalterlicher 
Autor  seine  Aufgabe  zu  lösen?  Die  Antwort  auf  diese  Frage 
zu  geben  unternimmt  das  Buch  von  L.  Zopf,  eine  erfreuliche 
Bereicherung  unserer  Kenntnis  nicht    allein  der  Hagiographie, 


'  Vgl. dazu  W.Konen  Die  Heidenpredigt  in  der  Germanenbekehrung. 
Bonner  Diss.  Düsseldorf,  Ohligschlager  1910. 

*  Vgl.  dazu  Mon.  Germ.  Concilia  II,  S.  41  Anm.  1  und  S.  1010, 
wo  zu  den  dort  angeführten  Hinweisen  von  L.  Deubner  noch  der  weitere 
desselben  Gelehrten  auf  Grass  Die  rtissischen  Sekten  II,  1  S.  213  hin- 
zugefügt werden  mag. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  619 

sondern  auch  der  geistigen  Voraussetzungen,  aus  denen  heraus 
jene  Literaturgattung  erwuchs  und  ihre  Richtung  empfing.^ 
Man  kennt  die  neuen  Arbeiten  von  Delehaye  und  Günter;  in 
ihren  Kreis  gehört  die  vorliegende  Schrift,  die  ihren  Stoff  in 
zehn  Abschnitte  gliedert :  ausgehend  von  Grund  und  Zweck 
des  Heiligenlebens  behandelt  sie  die  Heiligen-Legende,  die 
Heiligen- Vita  und  die  Heiligen-Biographie;  sie  lehrt  die 
Heiligenleben  des  10.  Jahrhunderts  als  einen  Spiegel  der  Zeit- 
ideen erkennen,  um  daran  Betrachtungen  über  seine  Bezie- 
hungen zwischen  der  Vergangenheit  und  Zukunft,  über  seine  Be- 
deutung als  einer  geschichtlichen  Quelle  zu  knüpfen.  Die 
Anschauungen  vom  Jenseits,  die  Wunder  in  den  Heiligenleben 
werden  erörtert,  nicht  minder  der  Heiligenkultus,  das  Natur- 
gefühl, die  Darstellungen  und  das  Novellenartige  in  ihnen. 
Aus  allem  mag  man  den  planmäßigen  Aufbau  erkennen,  der 
das  Ganze  erfüllt  und  trägt.  Von  den  Abschnitten  fesseln  wohl 
am  meisten  der  siebente  und  achte,  d.  h.  die  i\ber  die  An- 
schauungen vom  Jenseits  und  die  Wunder.  In  jenem  werden 
u.  a.  auch  die  Visionäre  gewürdigt,  allerdings  in  etwas  starker 
Einschränkung  auf  das  10.  Jahrhundert;  gerne  hätte  man  hier 
Anknüpfungen  an  die  ältere  und  spätere  Literatur  der  Visionen 
und  ihre  Motive  gesehen.  Im  zweitgenannten  Kapitel  ist  die 
Zusammenstellung  der  Wunder  von  Interesse.  Zopf  gruppiert 
sie  nach  ihren  Motiven,  zählt  Bau-,  Quellen-,  Vermehrungs-, 
Bequemlichkeits-  und  Verklärungswunder  auf  und  beobachtet 
das  Wandern  der  Motive  wie  auch  das  Verhalten  der  Heilioren 
bei  der  Wunderausübung.  Wohl  muß  er  bekennen,  daß  die 
Hagiographie  des  10.  Jahrhunderts  auf  dem  Gebiete  des  Wunders 
nichts  Selbständiges  geschaffen  hat,  daß  die  Wunder  neben  dem 


^  Das  Heiligenleben  im  10.  Jahrhundert  (a.  u.  d.  T.:  Beiträge  zur 
Kulturgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  herauag.  von 
W.  Goetz.  Heft  1).  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1908;  vgl.  dazu 
0.  Holder- Egger:  Neues  Archiv  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche 
Geschichtskunde  XXXIV  (1909),  S.  240 f. 


620  Albert  Werminglioff 

nicht  abzulehnenden  Einfluß  der  Volkssage  dem  Vorbild  bib- 
lischer Erzählungen  ihre  Entstehung  verdanken  und  daß  ihre 
Motive  durchweg  innerhalb  der  Grenzen  des  Typischen  sich 
bewegen.  Aber  gerade  daß  er  sie  zusammenstellte  ist  nützlich; 
denn  auf  solche  Weise  wird  der  Vergleich  mit  ähnlichen  Be- 
richten aus  älterer  und  jüngerer  Zeit  erleichtert;  die  Kontinui- 
tät des  Wunderglaubens  als  einer  Außerungsform  religiösen 
Geisteslebens  tritt  greifbar  zutage.  Wie  groß  die  Zahl  der 
untersuchten  Heiligenleben  ist,  lehrt  die  Tabelle  am  Schluß 
des  Buches  erkennen,  dessen  Fleiß  gern  hervorgehoben  sei. 
Wohl  ist  seine  Beschränkung  auf  das  10.  Jahrhundert  getadelt 
und  vom  Verfasser  überdies  gefordert  worden,  daß  er  eine  Ver- 
gleichung  seiner  Materialien  mit  denen  des  9.  Jahrhunderts 
vorgenommen  hätte  — ,  hieße  solches  aber  nicht  von  einer 
Erstlingsschrift  allzuviel  verlangen?  Wenn  alle  ersten  Ar- 
beiten jüngerer  Forscher  solche  Reife  zeigten  wie  die  vorliegende, 
dann  erlebten  wir  in  der  Tat  einmal  ein  Wunder,  dessen  Motiv 
wenigstens  noch  neu  wäre.^ 

In  Kürze  sei  der  Studien  zur  Lebensgeschichte  einzelner 
Persönlichkeiten  des  11.  Jahrhunderts  und  seiner  Nachfolger 
gedacht.  J.  Drehmann  legt  die  Stellung  dar,  die  Papst 
Leo  IX.  (f  1054)  zur  Frage  der  Simonie  einnahm,  d.  h.  jener 
bekannten,  oft  übertrieben  geschilderten  Mißbräuche  bei  der 
Besetzung  kirchlicher  Ämter  durch  Laien  und  Kleriker,  als 
deren   iJQag  incbvv^og   der   in  der  Apostelgeschichte   genannte 

^  Verwiesen  sei  hier  auf  den  anregenden  Aufsatz  von  E.  A. 
Stückelberg  über  Heiligengeographie  mit  zwei  Tafeln,  die  einmal  die 
Ausbreitung  des  Galluskultus  über  die  Schweiz,  sodann  die  des  Thebäer- 
kultus  von  Solothurn  aus  veranschaulichen:  Archiv  für  Kulturgeschichte 
herausg.  von  G.  Steinhausen  VIII  (1910),  S.  42  ff.  Genannt  sei  auch  die 
Schrift  desselben  Verfassers  über  Die  Katakonibenheiligen  in  der 
Schweiz  mit  ihrem  Verzeichnis  derjenigen  ursprünglich  in  römischen 
Katakomben  beigesetzten  Reliquien  von  Heiligen,  die  seit  dem  17.  Jahr- 
hundert vornehmlich  durch  die  Schweizergarde  in  die  Schweiz  gebracht, 
hier  feierlich  beigesetzt  und  der  Verehrung  zugänglich  gemacht  wurden 
(Kempten  und  München,  J.  Kösel  1907). 


Neaerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  621 

Simon  angesehen  wurde. ^  —  Mit  der  rätselvollen  Persönlichkeit 
und  den  zahlreichen  Schriften  des  Honorius  Augustodunensis 
befaßt  sich  J.  A.  Endres,  oft  in  glücklicher  Polemik  gegen 
J.  von  Kelle,  der  mehrere  unter  dem  Namen  des  Honorius  gehende 
Traktate  von  anderen  anonymen  Autoren  verfaßt  wissen  wollte.^ 
Allerdings  auch  Honorius  scheint  ein  Deckname  zu  sein  für 
einen  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  lebenden  Schotten- 
klausner beim  Kloster  St.  Jakob  in  Regensburg.  Im  ganzen 
38  Werke  verschiedenartigsten  Inhalts  soll  er  zusammengestellt 
haben,  zumeist  also  Kompilationen,  deren  Zweck  es  war,  die 
Ansichten  älterer  Autoren  zu  popularisieren.  Von  ihnen  ins- 
gesamt seien  hier  nur  erwähnt  das  Eucharistion  und  die  Scala 
coeli  maior  mit  ihrem  Mystizismus,  die  Imago  mundi  mit  ihren 
Beziehungen  zur  Legende  vom  Kreuzesholz  Christi,  die  Expo- 
sitio  in  cantica  canticorum  mit  solchen  zur  Symbolik  und 
kirchlichen  Kunst,  bezeichnenderweise  gerade  in  Regensburg 
(s.  auch  S.  126  ff.).  Der  Aufzählung  der  Traktate  läßt  Endres 
eine  gründliche  Würdigung  ihres  Autors  als  Philosophen  und 
Theologen  folgen;  besonders  erwähnt  sei  die  Darlegung  über 
des  Honorius  Lehre  vom  Engelsturz,  vom  Hinabsteigen  Christi 
in  die  Unterwelt,  von  Christi  Himmelfahrt  und  von  den  letzten 
Endzuständen  der  Menschen,  vom  Übergang  des  Körperlichen 
ins  Geistige,  des  Geistigen  in  Gott  (s.  bes.  S.  114  ff.  und 
S.  150 ff.).  Ein  Anhang  bringt  eine  Auswahl  von  Texten,  unter 
denen  die  zweier  Traktate  (Quaestio  utrum  monachis  liceat 
praedicare;  Quod  monachis  liceat  praedicare)  hervorgehoben 
seien.  —  Ph.  Funk  geht  dem  Leben  und  den  Werken  Jakobs 
von  Vitry  (f  1241)  nach,  jenes  Kanonikers  und  Predigers  im 
belgischen  Oignies,  der  ums  Jahr  1214  zum  Bischof  von  Akkon 

'  Papst  Leo  IX.  und  die  Simonie.  Ein  Beitrag  zur  Untersuchung 
der  Vorgeschichte  des  Investiturstreites  (a.  u.  d.  T.:  Beiträge  znr  Kultur- 
geschichte des  Mittelalters  und  der  Renaissance  heransg.  von  W.  Goetz 
Heft  2).     Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1908. 

*  Honorius  Augustodunensis.  Beitrag  zur  Geschichte  des  geistigen 
Lebens  im  12.  Jahrhundert.     Kempten  und  Mönchen,  J.  Kösel  1906. 


622  Albert  Werminghoff 

gewählt  und  1229  zum  Kardinalbiscliof  von  Tusculum  kreiert 
wurde,  um  in  Briefen,  Geschichtswerken  und  Predigten  dar- 
zutun, daß  er  mehr  als  Theologe  denn  als  Kirchenfürst  ge- 
wertet werden  will.^  Mögen  seine  Ansichten  gleich  traditionell 
und  scholastisch  sein,  lehrreich  ist  unter  seinen  Schriften  nicht 
zuletzt  die  Biographie  der  Beghine  Maria  von  Oignies  (f  1213). 
Jakob  war  ihr  Beichtvater  gewesen,  als  ihr  Biograph  aber  steht 
er  bei  aller  Anlehnung  an  das  überlieferte  Schema  am  Be- 
ginn eines  mystischen  Vitenstils  mit  seinen  beiden  wesenhaften 
Zügen,  einmal  dem  hesychastischen  Charakter,  dem  Losgelöst- 
sein von  Sinnlichkeit,  Welt  und  Zeit,  sodann  dem  kontem- 
plativen Aufstieg  zu  Gott  vermittels  der  Erlebnisse  einer  reli- 
giösen Phantasie  und  eines  frommen  Empfindens.  Auch  in 
der  Geschichte  der  Predigt  nimmt  Jakob  von  Vitry  seinen 
eigenen  Platz  ein  dank  der  in  seine  Schriften  homiletischen 
Charakters  eingestreuten  Beispiele  aus  der  Tierfabel  und  aus 
dem  täglichen  Leben,  die  freilich  oft  an  Komik  und  derbe 
Burleske  streifen  —  man  denkt  an  die  Erzählungen  bei  dem 
zeitgenössischen  Historiker  Salimbene  da  Parma  — ,  obwohl 
hierbei  wiederum  das  Wesen  Jakobs  in  eigenartigem,  nicht 
restlos  erklärbarem  Zwiespalt  erscheint.  Funk  hat  sich  be- 
müht, seinen  Charakter  zu  verdeutlichen,  jedenfalls  ihn  ge- 
rechter und  —  im  allgemeinen  —  richtiger  zu  werten,  als  es 
durch  W.  Preger  geschehen  war.  —  Wenn  Jakob  von  Vitry 
in  seinen  Werken  auch  des  hl.  Franz  von  Assisi  gedacht  hat, 
so  mag  passend  sich  hier  ein  Hinweis  auf  die  Studie  von 
J.  Merkt  anreihen,  die  mit  dem  Wunder  der  Stigmatisation 
Franzens  sich  beschäftigt.^     Der  Verfasser  kann  auf  eine  statt- 


*  Jakob  von  Vitry.  Leben  und  Werke  (a.  u.  d.  T.:  Beiträge  zur 
Kulturgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  herausg.  von 
W.  Goetz.     Heft  3).     Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1909. 

*  Die  Wundmale  des  heiligen  Franziskus  von  Assisi  (a.  u.  d.  T. :  Bei- 
träge zur  Kulturgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  herausg. 
von  W.  Goetz.  Heift  6).  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner  1910;  vgl. 
auch  Historische  Zeitschrift  106  (191i;,  S.  195  f.  654. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  623 

liehe  Reihe  von  Vorgängern  zurückblicken  —  unter  ihnen 
auf  K.  Hase  und  K.  Hampe  — ,  was  aber  ihn  begünstigt,  ist 
die  ausgebreitete  Belesenheit  nicht  zuletzt  in  neuerer  medi- 
zinischer Literatur  über  ähnliche  Erscheinungen,  die  es  er- 
möglicht* die  Entstehung  jener  Wundmale  zu  deuten.  Merkt 
erklärt  sie  letzthin  als  die  Folge  einer  Autosuggestion,  die  um 
so  wirksamer  sein  mußte,  weil  der  durch  Askese  und  Siechtum 
geschwächte  Körper  des  Heiligen  ihren  Einflüssen  unterlag 
einer  Autosuggestion  zugleich  im  Zustand  der  Ekstase,  die  dem 
jahrelangen  Streben  und  Sehnen  nach  persönlichem  Erleben 
der  Leiden  Christi  Erfüllung  brachte.  Nicht  als  wäre  in  diesem 
Ergebnis  allein  der  Inhalt  der  gewandten  Schrift  beschlossen: 
hervorgehoben  sei  auch  die  Kritik  der  sorgfältig  zusammen- 
getragenen Quellenberichte,  die  Ansetzung  der  Stigmatisation 
kurz  vor  den  Tod  ihres  Trägers  und  endlich  der  Versuch  ihr 
Aussehen  zu  schildern.  Ob  der  Verfasser  allgemeine  Zustim- 
mung finden  wird?  —  Dem  Biographen  des  Heiligen  von  Assisi, 
dem  Ordensgeneral  Bonaventura,  der  im  Jahre  1274  als  Kar- 
dinalbischof von  Ostia  starb,  ist  die  Schrift  von  H.  Lemmens 
gewidmet.^  Ihre  Würdigung  wird  zu  berücksichtigen  haben, 
daß  sie  als  eine  Festschrift  zum  700jährigen  Jubiläum  des 
Franziskanerordens  sich  darstellt,  als  dessen  Epoche  ihr  jener 
Tag  erscheint,  da  „Franziskus  in  der  Portiunculakapelle  bei 
Assisi  seine  Aufgabe  erkannte  und  Hand  an  ihre  Ausführung 
legte".  Bonaventuras  Generalat  ist  dem  Verfasser  „das  Ideal 
und  ein  Spiegel  für  die  folgenden  Zeiten",  er  selbst  „dem 
neuen  Jahrhundert  Führer  und  Berater".  Man  hat  es  mit  einer 
Lobrede  zu  tun,  die  allzusehr  die  an  sich  nicht  tadelnswerte 
Begeisterung  für  Bonaventura  hervorkehrt,  überall  und  stets 
ihn  lobt,  nur  Gutes  von  ihm  zu  berichten  weiß,  mag  es  sich 
handeln  um  den  Lehrer  der  hl.  Schrift,  um  den  Autor  über 
Askese  und  den  Ordensstifter,  um  den  Prediger,  Ordensgeneral 

'  Der    hl.    Bonaventura,    Kardinal     und    Kirchenlehrer    ans    dem 
Franziskanerorden  1221 — 1274.     Kempten   und  München,  J.  Kösel  1909. 


624  Albert  Werminghoff 

und  Kardinalbischof.  Immerhin  wird  man  das  Bucli  nicht 
gänzlich  ohne  Ertrag  lesen,  zumal  an  den  Stellen,  die  aus 
Bonaventuras  Deutungen  der  Bibel,  asketischen  wie  mystischen 
Traktaten  und  Predigten  Auszüge  bringen,  nur  daß  schärfer, 
als  es  durch  Lemmens  geschieht,  seine  Ansichten  von  der 
Yernunftgemäßheit  der  Kirchenlehre  und  der  Theologie  als 
des  Abschlusses  aller  Wissenschaften  und  sein  Realismus  hätten 
betont  werden  können.  Der  Verfasser  ist  geneigt,  Bonaventuras 
Bedeutung  recht  zu  überschätzen;  es  klingt  doch  gelinde  ge- 
sagt wie  Überhebung,  wenn  S.  23  f.  im  Zusammenhang  mit 
allgemeinen  Betrachtungen  folgende  Sätze  begegnen:  „Die 
christlichen  Denker  nahmen  mit  Dank  die  Ergebnisse  des 
menschlichen  Forschens,  die  Formen  und  Begriffe  der  er- 
probten Lehrer  Griechenlands  entgegen.  Was  diese  über  Gott 
und  die  Welt,  über  die  Seele  und  ihr  Ziel  Gutes  und  Wahres 
gelehrt,  erkannten  sie  an;  mit  den  geoffenbarten  Wahrheiten 
läuterten  und  entwickelten  sie  es  und  brachten  es  zu  all- 
gemeiner Bedeutung.  Das  Christentum  bedurfte  ihrer  Arbeiten 
nicht.  Hätten  Plato  und  Aristoteles  nicht  gelebt  und  gelehrt, 
so  würden  die  christlichen  Denker  den  Glaubensinhalt  der 
Heilslehre  auch  ohne  diese  Hilfe  entwickelt  haben."  Nicht  nur 
hier  sind  große  Fragezeichen  am  Platz;  auch  S.  12  mutet 
der  Satz:  „Adelig  (nobilis)  hieß  im  Mittelalter  auch  der, 
welcher  an  einer  Hochschule  seine  Bildung  erhalten"  zumal 
denjenigen  eigentümlich  an,  der  von  der  Bedeutung  der  Ge- 
burtsstände im  Gesamtgefüge  der  Kirche  Kenntnis  hat.  Dem 
Kapitel  endlich  über  Bonaventura  als  Ordensgeneral  fehlt  es 
nicht  am  Willen,  die  Streitigkeiten  zwischen  Konventualen 
und  Observanten  klar  zu  legen,  Bonaventuras  gemäßigte 
Richtung  deutlich  herauszuarbeiten,  gerade  seine  Wirksamkeit 
aber  für  die  Weiterbildung  der  Ordensverfassung  wird  nicht 
BO  systematisch  entwickelt,  wie  es  die  Beschlüsse  der  von  ihm 
veranstalteten  Generalkapitel  und  seine  Sorge  für  die  Liturgie 
der    klösterlichen   Gottesdienste    nahegelegt  hätten.      Daß    die 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  625 

Schriften  über  den  Orden  (De  perfectione  evangelica,  Apologia 
pauperum  u.  a.  m.)  ausführlich  behandelt  werden  (S.  11 2  ff.),  ist 
dankenswert,  gern  aber  hätte  man  die  Frage  beantwortet  ge- 
sehen, ob  und  wie  weit  bei  Bonaventura  Praxis  und  Theorie 
sich  deckten.  Lemmens  hebt  deutlich  hervor,  daß  der  Stand- 
punkt und  das  Verdienst  des  Ordensgenerals  (seit  1257) 
in  der  Unterscheidung  beruhe  zwischen  den  unverbindlichen 
Idealen  und  Taten  des  Stifters  einerseits  und  der  in  der 
Ordensregel  festgelegten  Pflicht  andererseits;  lag  hierin  aber 
nicht  ein  Fingerzeig  dafür,  daß  ein  tieferes  Eindringen  in 
Bonaventuras  Verwaltung  noch  mehr  geboten  hätte?  Daß 
Lemmens  in  dem  letzten  Abschnitt  über  Bonaventura  als 
Kardinal  und  Mitglied  des  2.  allgemeinen  Konzils  zu  Lyon 
(1274)  auf  knappe  Schilderung  des  Wichtigen  sich  be- 
schränkte, ist  nur  zu  billigen;  doch  dies  Kapitel  allein 
hindert  nicht  die  Bemerkung,  daß  seine  Schrift  im  ganzen 
eher  als  eine  Vorarbeit  denn  als  eine  abschließende  Bio- 
graphie gelten  darf. 

Nur  erwähnt  sei  das  Buch  von  E.  Hasse  über  Dante,  da 
sein  wesentlich  erbaulicher  Charakter  sich  der  Würdigung  an 
dieser  Stelle  entzieht;^  ist  es  doch  das  Ziel  der  Verfasserin, 
,.in  einer  Auslegung  des  Gedichts  das  örtlich  und  zeitlich  Be- 
schränkte, die  politisch-reformatorische  und  kirchenreforma- 
torische  Bedeutung  zurücktreten  zu  lassen  vor  der  ethisch- 
religiösen  Bedeutung,  die  es  für  den  Dichter  selbst  und  heute 
noch  für  uns  besitzt."  Eben  in  das  Zeitalter  Dantes  aber  fällt 
der  Beginn  der  Blütezeit  deutscher  Mystik,  die  ihrerseits  von 
Männern  wie  Meister  Eckehart,  Johann  Tauler,  Heinrich  Seuse 
u.  a.  m.  getragen  wird.  Bei  ihrer  weittragenden  Wichtigkeit 
war  es  dankenswert,  daß  P.  Mehlhorn  die  Grundgedanken 
jener    religiösen   Anschauungswelt    einem    weiteren  Leserkreis 

^  Dantes  Göttliche  Komödie.  Das  Epos  Tom  inneren  Menschen. 
Kempten  und  München,  J.  Kösel  1909;  vgl.  dazu  K.  Voßler:  Deutsche 
Literaturzeitung  1910  n.  10  Sp.  615f. 

Archiv  f.  Keligionswisaenschaft    XIV  40 


626  Albert  Werminghoff 

nahe  zu  bringen  versucht  hat.^  In  gedrängter  Kürze  schildert 
die  Einleitung  das  Aufkommen  und  die  Bedeutung  der 
Mystik  seit  dem  Altertum,  ihren  Weg  über  Paulus,  Plotin 
und  Augustin,  ihre  Verpflanzung  ins  Abendland  durch  die 
Schriften  des  Dionysius  Areopagita,  ihr  Neuaufleben  im 
12.  Jahrhundert,  seit  dem  ihr  Einklang,  ebenso  aber  auch  ihr 
Widerspruch  zu  den  herrschenden  kirchlichen  Lehren  immer 
deutlicher  zutage  trat.  Das  13.  Jahrhundert  schuf  ihr  die 
Möglichkeit  weiterer  Entfaltung,  der  Ausbreitung  durch  Ge- 
sichte, Offenbarungen  und  Predigten,  und  Meister  Eckehart  ist 
der  erste,  dessen  Ideen  Mehlhorn  in  Auszügen  aus  seinen 
Schriften  vergegenwärtigt;  desgleichen  werden  Johann  Tauler, 
Heinrich  Seuse  und  Johann  von  Reuysbroeck  besprochen,  zu- 
letzt das  „Büchlein  vom  vollkommenen  Leben"  oder,  wie  Luther 
es  nannte,  die  „Tüeologia  deutsch".^  Mit  den  Exzerpten  ver- 
binden sich  kurze  Lebensbeschreibungen  und  im  Anhang  aus- 
reichende Literaturnachweise,  sodaß  die  Schrift  nicht  zuletzt 
um  ihrer  vornehmen,  volkstümlichen  Darstellung  willen  im 
Leser  das  Gefühl  weckt,  in  ihr  einer  guten  Führung  sich  an- 
vertraut zu  haben.  Bezeichnend  ist  aber  auch,  daß  in  gleicher 
Weise  von  katholischer  Seite  das  Andenken  an  die  Mystik  des 
Mittelalters  erneuert  wird.  Vor  uns  liegt  ein  kleiner  Band, 
seinem  Titel  nach  der  erste  einer  größeren  Reihe,  die  den 
deutschen  Mystikern  eingeräumt  werden  soll,  dem  Inhalt  nach 

'  Die  Blütezeit  der  deutschen  Mystik  (a.  u.  d.  T.:  Religionsgeschicht- 
liche  Volksbücher  IV,  6).     Tübingen,  J.  C.  ß.  Mohr  1907. 

*  Noch  nicht  benutzen  konnte  Mehlhorn  die  Ausgabe  dieser  Schrift 
durch  H.  Mandel  mit  ihrer  ausführlichen  Einleitung  (Luthers  Ausgabe 
und  Beurteilung ;  weitere  Ausgaben ;  Entstehung  der  Theologia  deutsch ; 
ihr  Gedankengang;  ihre  Beurteilung  in  der  Geschichte;  ihre  Bedeutung). 
Der  Text  ist  begleitet  von  erläuternden  Anmerkungen ;  ihm  folgen  die 
Varianten  der  Ausgabe  Pfeiffers,  die  in  einer  frfeilich  die  Lektüre 
nur  erschwerenden  Weise  den  Schluß  des  Heftes  bilden  (Theologia 
deutsch;  a.  u.  d.  T.:  Quellenschriften  zur  Geschichte  des  Protestantismus 
herausg.  von  J.  Kunze  und  C.  Stange.  Heft  7.  Leipzig,  A.  Deichert, 
[G.  Böhme]  1908). 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  627 

eine  Auswahl  von  Übersetzungen  aus  dem  Schriftenzyklus,  dem 
sog.  Exemplar  des  Heinrich  Sense  (f  1366),  die  W.  0  hl  mit 
Geschick  hergestellt  hat.  ^  Natürlich  kann  er  mehr  bringen 
als  Mehlhorn,  aber  die  Bücher  beider  werden  sicherlich  neben- 
einander ihren  Platz  behaupten,  das  eine  dank  der  umfang- 
reichen Exzerpte,  das  andere  dank  der  gedrängten  Wiedergabe 
der  leitenden  Ideen  des  Dominikaners,  die  freilich  Mehlhorn 
nüchterner  beurteilt  als  0hl,  der  mehrfach  sich  auf  J.  Görres 
beruft  — ,  ein  Hinweis  auf  Zusammenhänge  geistiger  Art,  den 
man  leicht  bis  in  die  Gegenwart  ausdehnen  könnte;  irren  wir 
nicht,  so  haben  wir  in  den  Lehren  neuerer  Konventikel  wie 
z.  B.  der  Quäker  ein  Symptom  der  alten,  in  stets  sich  ver- 
jüngenden Außerungsformen  auftretenden  Mystik  zu  erkennen. 
Man  hat  von  einer  zweiten  Richtimg  der  mittelalterlichen 
Mystik  gesprochen,  deren  Absicht  es  gewesen  sei,  den  einfachen 
Bedürfnissen  des  Herzens  und  des  Volkes  zu  dienen.  Aus 
ihr  erwuchs  das  vielumstrittene  Buch  „Von  der  Nachahmung 
Christi",  dessen  Autor  Thomas  von  Kempen  (f  1471)  auch 
der  eines  zweiten  Traktats  Meditationes  de  incarnatione  Cliristi 
gewesen  sein  soll.  Ohne  auf  die  kritischen  Fragen  einzugehen 
hat  ihn  R.  Heinrichs  neu  herausgegeben,'  freilich  in  aus- 
schließlicher Beschränkung  auf  den  Text,  dessen  Betrachtungen 
auf  Bibel-  und  Kirchenväterstellen  aufgebaut  sind;  es  ist 
bezeichnend,  daß  im  letzten  Kapitel  keine  Bezugnahme  auf  die 
Lehre  der  imtnacidata  conceptio  Mariae  entgegentritt,  die  im 
Jahre  1439  von  dem  freilich  damals  papstfeindlichen  Basler 
Konzil  (36.  Sitzung)  als  fromme  Doktrin  verkündet  worden 
war.  Wenig  jünger  als  das  Buch  des  Thomas  von  Kempen 
ist  der  erste  Druck  des  Speculum  humane  salvationis,  dessen 


'  Deutsche  Mystiker  I:  Sense.  Kempten  uud  München,  J.  Kösell910 
(Bestandteil  der  Sammlung  Kösel). 

*  Thomae  a  Kempis  Meditationes  de  incarnatione  Christi  una  cum 
exhortatione  Pii  P.  P.  X.  ad  clemm  catholicum  de  die  4.  Augusti  1908. 
Dulmaniae  [=  Dülmen],  A.  Laumann  1909. 

40* 


628  Albert  Werminglioff 

Verfasser  aber,  wie  P.  Perdrizet  zu  erweisen  versucht/  der 
oberdeutsche  Dominikaner,  dann  Kartäuser  Laudolphus  Saxo 
(um  1324)  war.  Behandelt  werden  in  gründlichen  Ausführungen 
zugleich  Plan  und  Zweck  des  Poems,  seine  Quellen,  darunter 
die  Facta  et  dicta  memorabilia  des  Valerius  Maximus  und 
jüngere  Paradoxographien  des  Mittelalters;  es  ist  lehrreich  zu 
beobachten,  wie  im  Speculum  die  Geschichte  des  Kodrus 
verwandt  wird  als  eine  Hinweisung  auf  Christus,  wie  die  Vor- 
stellung von  dem  für  Schlangen  unerträglichen  Geruch  der 
Cypresse  umgedeutet  wird  auf  Maria  und  ihr  Vermögen,  die 
böse  Begier  der  Beschauer  abzuwehren  (vgl.  die  Parallelen 
S.  94  ff.).  Nützlich  sind  auch  die  Ausführungen  über  den 
typologischen  Symbolismus  vor  dem  Speculum,  die  ihm  ver- 
wandten religiösen  Bilderbücher  und  seinen  Einfluß  auf  die 
Kunst.  —  In  die  letzten  Jahrzehnte  des  Mittelalters  fällt  der 
Erlaß  der  berüchtigten  Bulle  Innocenz'  VIII.  (f  1492)  vom 
Jahre  1484  mit  ihrer  Festlegung  des  Hexenwahns,  fällt  die 
Entstehung  des  Hexenhammers  von  Jakob  Sprenger  und  Hein- 
rich Institoris  (1487).  Wie  häufig  gleich  beide  Machwerke, 
ihre  Ursachen  und  Folgen  behandelt  sind,  J.  Fran9ais 
glaubte  ihrer  erneuten  Untersuchung  sich  nicht  entschlagen 
zu  sollen,  da  ihm  die  Geschichte  des  Hexenwahns  als  die 
einer  psychopathischen  Epidemie  und  als  das  Symptom  des 
anti wissenschaftlichen  Kampfes  der  Kirche  erschien.^  Allerdings 

^  Etüde  sur  le  Speculum  humane  salvationis.  Paris,  H.  Champion  1908 ; 
vgl.  dazu  0.  Giemen:  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  1909,  S.  123 ff. 

*  L'eglise  et  la  sorcellerie.  Paris,  E.  Murry  1910  (Bestandteil  der 
Bibliotheque  de  critique  religieuse);  s.  auch  R.  Ohle  Der  Hexemvahn 
(a.  XI.  d.  T. :  Religionsgeschichtliche  Volksbücher  IV,  8).  Tübingen,  J.  C. 
B.  Mohr  1908.  —  Wir  notieren  hier  auch  die  fleißige  Biographie  der 
schweizerischen  Landeskunde  von  F.  Heinemann,  deren  zweites  Heft 
die  Literatur  enthält  über  folgende  Themen:  Inquisition,  Intoleranz, 
Exkommunikation,  Interdikt,  Index,  Zensur,  Sektenwesen,  Hexenwahn 
und  Hexenprozesse  (S.  280—318).  Rechtsanschauungen  (Bibliographie  der 
schweizeritichen  Landeskunde,  Faszikel  V  ö.  Heft  II  der  Kulturgeschichte 
und  Volkskunde  [Folklore]  der  Schweiz.     Bern,  K  J.  Wyss  1908  f). 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschicht«  629 

hatte  sie  bis  ins  14.  Jahrhundert  hinein  den  Aberglauben  be- 
fehdet,^ seitdem  aber  ihm  sich  anbequemt,  um  ihn  zur  kirch- 
lichen Lehre  zu  erheben.  Der  Verfasser  schildert  die  Folgen 
dieses  Wahns  in  geographischer  Anordnung  der  nur  allzu 
zahlreichen  Beispiele  vornehmlich  aus  Frankreich,  ohne  des- 
halb die  aus  Deutschland,  Polen  usw.  zu  übergehen.  Sein 
Schlußkapitel  über  die  Verantwortung  der  Kirche  an  jenen 
Scheußlichkeiten  endet  mit  den  Worten:  „Heute  noch  glaubt 
der  katholische  Theologe  an  dieselben  teuflischen  Kräfte  wie 
sein  Vorgänger  im  16,  Jahrhundert;  er  glaubt  an  den  Vertrag 
mit  dem  Teufel,  sein  Incubat,  Succubat  und  alle  Missetaten 
der  Zauberei.  Die  einzige  Wandlung,  die  sich  dank  der  Natur- 
wissenschaft und  dem  modernen  Geist  vollzog,  ist:  seine  Hände 
sind  gebunden;  bleibt  er  vom  Teufel  verfolgt,  so  ist  er  doch 
nicht  mehr  der  Verfolger  der  Menschen."  Man  hat  es  also 
letzthin  mit  einer  polemischen  Schrift  zu  tun,  wie  ja  jede 
Behandlung  des  Themas  zu  einer  Anklage  wird.  Wesentlich 
neue  Gesichtspunkte  treten  kaum  entgegen,  zumal  die  Arbeiten 
von  Lea.  Riezler  und  Hansen  das  Material  bereits  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  durchsucht  haben.  Immerhin  mag 
des  Anhangs  gedacht  sein,  der  mit  der  Übersetzung  z.  B.  der 
Bulle  von  1484  den  Abdruck  eines  französischen  Hexenprozesses 
aus  dem  Jahre  1652  verbindet.  Um  auch  unsererseits  ein 
weniger  bekanntes  Zeugnis  beizusteuern,  das  für  die  Vorzeit 
des  Hexenwahns  lehrreich  ist,  verweisen  wir  auf  das  Edikt  des 
Langobardenkönigs  Rothari  vom  Jahre  643:  Ifidlus  presumat 
Jialdiam  alienam  aut  ancillam  quasi  strigayn,  quem  dicunt  mas- 
sam, occidere;  quod  Christianis  mentibus  nulUxtenus  credendum  est 
nee  possihiJem,  ut  midier  hominem  vi  tum  intrinsecus  possit  comedere.^ 

*  Ygl.  die  Äußerung  des  Thomas  Ton  Aquino,  die  J.  J.  Baumann 
in  seiner  Schrift  Die  Staatslehre  des  h.  Thomas  von  Äquino.  Ein  Nach- 
trag und  zugleich  ein  Beitrag  zur  Wertschätzung  mittelalterlicher  Wissen- 
schaft (Leipzig,    S.  Hirzel  1909),  S.  97  f.  anführt. 

*  Cap.  376;  Mon.  Genn.  Leges  IT,  p.  37;  vgl.  dazu  die  Lex  Salica 
tit.  67  §  3  (Walter,  Corpus  iuris  Germanici  antiqui  I,  p.  86)  und  Mon. 
Germ.  Capitularia  I,  p.  68  c.  6,  p.  223  c.  30. 


630  Albert  Werminghoff 

Wesentlicli  kürzer  muß  unsere  Übersicht  über  die  Er- 
scheinungen zur  Geschichte  des  religiösen  und  kirchlichen 
Lebens  seit  der  Reformation  sich  gestalten.  Wir  stehen 
mitten  inne  im  Kampfe  der  Konfessionen  und  Kirchen,  im  Streite 
der  Meinungen  um  die  Persönlichkeiten  der  Reformatoren,  und 
wenn  endlich  einige  Bücher  zu  Fragen  der  unmittelbarsten 
Gegenwart  Stellung  nehmen,  so  werden  wir  sie  allein  notieren 
dürfen,  ohne  für  oder  gegen  ihre  Forderungen  Partei  zu  ergreifen. 

Leider  hat  das  Buch  von  M.  Jansen  über  Maximilian  I. 
auf  eine  breite  Darlegung  der  religiösen  Zustände  in  Deutsch- 
land um  die  Wende  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  Verzicht 
geleistet,  da  diese  von  einem  anderen  Gelehrten  innerhalb  der- 
selben Sammlung  „Weltgeschichte  in  Charakterbildern"  ge- 
bracht werden  soll.  Immerhin  hat  der  Verfasser  die  Erschei- 
nungen des  kirchlichen  Lebens  gestreift,  ohne  zu  verschweigen, 
daß  sie  ebenso  eine  Reform  forderten  wie  die  Verfassung  des 
Reiches.^  Wie  natürlich  ziehen  Leben,  Schriften  und  Lehre 
Martin  Luthers  stets  aufs  neue  das  Augenmerk  auf  sich. 
Zeugnis  dessen  sind  einmal  die  beiden  stattlichen  Bände  mit 
der  Vorlesung  Luthers  über  den  Römer brief  (1515  auf  1516), 
in  denen  der  unermüdliche  Eifer  J.  Fickers  das  in  der  Ber- 
liner Bibliothek  aufbewahrte,  seltsamerweise  gänzlich  unbe- 
achtet gebliebene  Originalmanuskript  des  Reformators  wieder- 
gegeben   hat.^     Ihre  Bedeutung   für    die  Erkenntnis    u.  a.  des 


'  Auflösung  des  Iteiches.  Neues  Kulturleben.  Kaiser  Maximilian  1. 
München,  Kirchheim  1905.  Angemerkt  sei  hier  auch  das  dreibändige, 
überaus  breit  angelegte  Werk  von  J.  Thomas  Le  concordat  de  1516. 
Les  origines  et  son  histoire  au  XVIe  siöcle.  Paris,  A.  Picard  1910,  das 
mit  seiner  Schilderung  der  Abmachungen  zwischen  König  Franz  I.  von 
Frankreich  und  Papst  Leo  X.  die  Arbeit  von  M.  Valois  (Histoire  de  la 
pragmatique  sanction  sous  Charles  VII.  Paris,  A.  Picard  1906)  fortsetzt; 
Tgl.  zur  Pragmatischen  Sanktion  von  Bourges  (1438)  jetzt  J.  Haller: 
Historische  Zeitschrift  103  (1909),  S.  IflF. 

*  Anfänge  reformatorischer  Bibelauslegung.  I.  Luthers  Vorlesung 
über  den  Römerbrief  1616/16.  1 :  Die  Glosse.  2 :  Die  Schollen.  Leipziir, 
Dieterich  (Th.  Weicher)  1908 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  631 

Werdeprozesses  von  Luthers  religiösen  Anschauungen,  seiner 
Selbständigkeit  gegenüber  den  mittelalterlichen  Exegeten  und 
Karlstadt,  kann  nicht  hoch  genug  veranschlagt  werden.  Ihr 
sorgfältiger  Editor  rühmt  den  Inhalt  als  „eine  originale  Ge- 
samtdarbietung, die  dem  Römerbriefe  so  gerecht  geworden  ist 
wie  nur  je  in  seiner  Weise  Augustin,  und  die  doch  in  ihrer 
Weise  wieder  über  Augustin  hinausgeführt  hat."  Luthers  Exegese 
wird  von  H.  Böhmer,  über  dessen  Schrift  weiter  unten  gehandelt 
werden  soll,  als  ein  Phänomen  bezeichnet,  das  in  der  Geschichte 
kaum  seinesgleichen  habe;  durch  sie  sei  Paulus  wieder  für  die 
Menschheit  entdeckt  worden,  zugleich  lehre  sie  deutlich  schon 
Luthers  Stellung  zu  den  Mißbräuchen  der  Ablaßhändler,  den 
Schäden  der  Heiligenverehrung,  kurz  zu  allen  kirchlichen  Fragen 
seiner  Zeit  erkennen  Dem  bequemen  Gebrauch  bei  Lektüre 
und  Unterricht  dienen  drei  Hefte  der  Sammlung  „Kleine  Texte 
für  theologische  Vorlesungen  und  Übungen",  die  ihr  Heraus- 
geber, H.  Lietzmann,  veröflFentücht  hat.  Ihr  erstes  bringt 
die  Wittenberger  und  Leisniger  Kastenordnung  (1522/23),  das 
zweite  Luthers  Schriften  „Von  Ordnung,  Gottesdiensts,  Tauf- 
büchlein, Formula  missae  et  communionis"  (1523),  das  letzte 
Luthers  „Deutsche  Messe",  alle  ausgezeichnet  durch  sorgfältige 
Wiederholung  der  erreichbar  besten  Vorlagen.^ 

Überaus  erfreulich  ist,  daß  H.  Böhmer  seine  lehrreiche 
Schrift  über  „Luther  im  Lichte  der  neuen  Forschung"  in  einer 
zweiten  Auflage  veröffentlichen  konnte.*  Diese  stellt  sich 
ihrer  Vorgängerin  gegenüber  als  vermehrt  dar,   zugleich    aber 


*  Die  Wittenberger  und  Leisniger  Kastenordnung.  1522.  1523 
(a.  u.  d.  T. :  Kleine  Texte  für  theologische  Vorlesungen  und  Übungen  21). 
Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber  1907.  —  Martin  Luthers  Von  Ordnung 
Gottesdiensts,  TaufbüchJein,  Formulu  missae  et  communionis  1523  (a.  u. 
d.  T.:  Liturgische  Texte  IV.  Kleine  Texte  usw.  36).  Ebenda  1909.  — 
Martin  Luthers  Deutsche  Messe  1526  (a.  u.  d.  T. :  Liturgische  Text«  V. 
Kleine  Texte  usw.  37).     Ebenda  1909. 

-  Luther  im  Lichte  der  neuen  Forschung  (a.  u.  d.  T. :  Aus  Natur  und 
Geisteswelt  Bd.  113).     2.  Aufl.  Leipzig,  B.  G.  Teubner  1910. 


632  Albert  Werminglioff 

auch  in  einer  Reihe  von  Abschnitten  gänzlich  umgearbeitet 
und  auf  den  Stand  der  gegenwärtigen  Kenntnis  gebracht.  Wie 
weit  sich  der  Verfasser  mit  Erzeugnissen  der  neueren  Literatur 
auseinandersetzte,  lehrt  der  Blick  in  den  Literaturanhang;  daß 
er  J.  Fickers  Publikation  bereits  verwertet  hat,  ist  selbstver- 
ständlich, eben  in  dem  Abschnitte  aber  über  die  Stufen  von 
Luthers  Bekehrung  (S.  27  ff.)  wird  ihr  der  gehörige .  Platz  an- 
gewiesen. Auch  die  übrigen  Kapitel  haben  nicht  minder  Zu- 
sätze und  Verbesserungen  erfahren,  wie  denn  die  Ausführungen 
S.  81  ff.  sich  klar  und  überzeugend  mit  den  übers  Ziel  hinaus- 
schießenden Hypothesen  von  H.  Bärge  auseinandersetzen. 
Kurz,  wir  wüßten  keine  Schrift  zu  nennen,  die  mit  gleicher 
Beherrschung  des  Stoffes  und  mit  gleicher  Abwägung  zahl- 
reicher Kontroversen  den  Leser  in  die  Schwierigkeiten  und 
Probleme,  aber  auch  in  die  Ergebnisse  der  Lutherforschung 
einzuführen  verstände;  sie  ist  die  unentbehrliche  Ergänzung 
jeder  Biographie  des  „Bahnbrechers  einer  neuen  Kultur".  Von 
kleineren  Beiträgen  sei  zunächst  der  Vortrag  von  A.  Goetze 
genannt,  der  aus  Luthers  Schriften  Belege  für  ihren  Reichtum 
an  volkskundlichen  Anspielungen  zusammenträgt^;  wir  ver- 
zeichnen nur  seine  Anschauung  vom  Tode:  „Do  ...  die  Seele 
schon  auf  der  Zungen  saß"  (S.  14),  über  den  Kinderbischof 
(S.  27 f.)  und  über  den  Johannessegen  (S.  27).  Angemerkt  sei 
auch  die  Schrift  von  0.  Reichert  über  die  Entstehung  von 
Luthers  deutscher  Bibelübersetzung  und  die  Arbeiten  der  seit 
dem  Jahre  1531  beratenden  Kommission  für  ihre  Revision.^ 
W.  Walther  hat  die  Beziehungen  Luthers  zu  Heinrich  VHL 
von  England  zum  Thema  eines  lichtvollen  Vortrags  gewählt.' 
Nicht    vergessen    mag    sein    der  Versuch    von    E.  Heidrich, 


'   Volkstümliches  bei  Luther.  Weimar,  H.  Böhlaus  Nachf.  1909. 

•  D.  Martin  Luthers  Deutsche  Bibel  (a.  u.  d.  T. :  Religionsgeschicht- 
liche Volksbücher  IV,  18).     Tübingen  J.  C.  B.  Mohr  1909. 

"  Heinrich  VIIL  von  England  und  Luther.  Ein  "Blatt  aus  der 
Reformationsgeschichte.  Leipzig,  A.  Deichort  (G.  Böhme)  1908. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  633 

Dürers  Anteil  au  der  Fortbildung  der  Reformation  Luthers 
zum  evangelischen  Landeskirchentum  während  der  Jahre  1520 
und  1521  zu  umgrenzen^;  hervorgehoben  sei  vor  allem  die 
Deutung  der  Apost^lbilder  und  der  ursprünglich  mit  ihnen 
verbundenen  Sprüche,  die  auf  Erlebnisse  des  Künstlers  in  seiner 
Vaterstadt  Nürnberg  neues  Licht  zu  werfen  geeignet  ist. 

Das  Jahr  1909  brachte  die  Wiederkehr  von  Calvins  Ge- 
burtstag (10.  Juli):  hieraus  erklärt  sich  die  Zahl  von  Schritten, 
die  dem  Genfer  Reformator  gewidmet  wurden,  um  daa  An- 
denken an  sein  Leben  und  Wirken  zu  erneuern.  Neben  der 
Rede  von  F.  Arnold*  steht  die  gedrängte  Biographie  Calvins 
von  G.  Sodeur,  die  es  versteht,  einem  weiteren  Leserkreise 
ihren  Helden,  seine  Gedankenwelt  und  Gesetzgebung  zu  veran- 
schaulichen.^ Lehrreich  sind  besonders  die  Abschnitte  über 
Calvins  Programm  (S.  13  ff.)  und  die  Schicksale  seiner  Lehre 
wie  Kirchen  Verfassung  (S.  84  ff.).  Es  föllt  auf,  daß  für  den 
Verfasser  Calvin  „nicht  eigentlich  eine  schöpferische  Persön- 
lichkeif' ist  (S.  15),  eine  Angabe,  die  jedenfalls  für  die  organi- 
satorischen Leistungen  des  Genfer  Theokraten  als  zu  weitgehend 
bezeichnet  werden  muß.  Allen  Reformatoren  des  16.  Jahr- 
hunderts, Luther,  Melanchthon  und  Calvin,  aber  auch  Zwingli 
und  ihrer  aller  Beziehungen  zu  Österreich-Ungarn  gilt  die 
Arbeit  von  G.  Loesche,  das  Ergebnis  rastloser  Mühe,  das 
mosaikartig  die  Steine  zusammenfügt  zum  Bilde  des  Einflusses 
jener  Männer  auf  das  religiöse  und  geistige  Leben  in  den 
Donauländern/*  Die  Schrift  wird  auf  solche  Weise  zu  einer 
Darstellung    der    Anfänge    des    Protestantismus    in    Osterreich 


^  Dürer    und    die    JReformation.      Leipzig,    Elinkhardt    und    Bier- 
mann 1909. 

*  CcUvin.    Rede    bei    der    vierhundertjährigen    Wiederkehr    seines 
Geburtstages.     Breslau,  W.  G.  Korn  1909. 

*  Johann  Calvin  'a.  u.  d.  T.:   Aus  Natur  und  G^isteswelt  Bd.  247). 
Leipzig,  ß.  G.  Teubner  1909. 

*  Luther,  Melanchthon  und  Calvin  in  Österreich -Ungarn.    Zu  Calvins 
vierter  Jahrhundertfeier.    Tübingen,    J.  C.  B.  Mohr  1909. 


i 


634  Albert  Werminghoff 

und  Ungarn  — ,  man  weiß,  welch  schwere  Wunden  seine 
spätere  Unterdrückung  der  habsburgischen  Monarchie  geschlagen 
hat.  Lehrreich  ist  deshalb  nicht  zuletzt  S.  317  ff.  der  Abschnitt 
über  die  Unionsgedanken,  in  dem  der  Verfasser  auch  die  für 
den  Protestantismus  so  schwierige  Lage  dort  wenigstens  streift. 
Seine  schwungvolle  Schreibweise  erinnert  daran,  daß  sein  Werk 
eine  Festschrift  sein  will;  daneben  aber  verrät  nicht  zuletzt 
der  Anhang,  der  die  Übersetzungen  reformatorischer  Schriften 
ins  Tschechische,  Polnische  usw.  verzeichnet,  daß  Loesche  auch 
entsagungsvolle  Kleinarbeit  zu  verrichten  genötigt  und  im- 
stande war.  Nicht  vergessen  sei  ein  Hinweis  auf  S.  98  S.  und 
S.  11 9  ff.,  wo  die  theologischen  Abhandlungen  von  Christoph 
Jörger  gegen  das  Interim  von  1546  und  über  Abendmahl  und 
Taufe  abgedruckt  sind.  In  denselben  Zusammenhang  fügt 
sich  die  Schrift  von  St.  Veress  ein.^  Sie  sucht  zwei  Fragen 
zu  beantworten,  einmal  wie  es  kam,  daß  ein  von  der  westlichen 
Kultur  ziemlich  abgesondertes  Volk  wie  das  der  Magyaren 
gerade  dem  Calvinismus  sich  anschloß,  sodann  wie  der  Einfluß 
dieser  Richtung  des  Protestantismus  auf  Kirche  und  Staat  in 
Ungarn  gewirkt  hat  und  heute  noch  wirkt.  Namentlich  um 
dieses  zweiten  Problems  willen  ist  die  Studie  ein  erfreulicher 
Beitrag  zu  der  eben  lebhaft  umstrittenen  Verfassuugsgeschichte 
von  Ungarn,  über  sie  hinaus  aber  zur  Geschichte  des  Calvinis- 
mus und  seiner  Ausbreitung. 

Längeres  Verweilen  bei  einem  aus  der  konfessionellen 
Polemik  herausgewachsenen  Werke  von  R.  Eckart  über  den 
Jesuitenorden  ist  hier  nicht  am  Platze.  ^  —  Ungleich  wertvoller 
ist  die  Publikation  von  R.  Allier.^     Ihren  Inhalt  bilden  Doku- 


^  Einfluß  der  Calvinischen  Gi'undsätze  auf  Kirche  und  Staatswesen 

in  Ungarn.     Tübingen,  H.  Laupp  iun.  1910. 

*  Hundert  Stimmen  aus  vier  Jahrhunderten  über  ölen  Jesuitenorden. 

» 

1 :  Der  Jesuitenorden  im  evangelischen  Urteil.  2 :    Der  Jesuitenorden  im 
katholischen  Urteil.  Leipzig,  H.  G.  Wigand  o.  J. 

'  Une  societe    secrete  au   XVII*  siede.     La   compagnie   du  Tres- 
Saint-Sacrement  de  l'autel  u  Marseille.     Paris,  H.  Champion  1909. 


Neuerscheinungen  zur  Relig^ons-  und  Kirchengeschichte  635 

mente  aus  der  Zeit  von  1639  bis  1702,  beginnend  mit  dem 
Gründlingsbeschluß  für  eine  Genossenschaft,  die  sich  an  ein 
Pariser  Vorbild  anlehnen  will,  um  auch  ihrerseits  „das  Reich 
Christi  wiederherzustellen  und  die  Schäden  zu  tilgen,  die  sich 
allenthalben  ausbreiten."  Man  hat  es  mit  einer  Stiftung  religiösen 
und  sozialen  Charakters  zu  tun,  auf  deren  Wirksamkeit  die 
mitgeteilten  SitzungsprotokoUe,  Briefe  usw.  Bezug  haben.  Der 
Herausgeber  verweist  in  seiner  allzu  knappen  Einleitung  auf 
ein  Buch  von  A.  Rebelliau  (La  compagnie  secrete  du  Saint- 
Sacrement.  Lettres  du  groupe  parisien  au  groupe  marseillais) 
als  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  das  Verständnis  seiner  Pu- 
blikation-, da  es  uns  unzugänglich  ist,  bleibt  nichts  anderes 
übrig,  als  Alliers  Arbeit  mit  wenig  verdeutlichender  Kürze 
zu  notieren.  —  Mit  einer  Sekte  der  jüngsten  Vergangenheit 
im  züricherischen  Oberlande,  der  sog.  Auferstehungssekte,  will 
H.  Messikommer  bekannt  machen.^  Außer  den  Bemerkungen 
über  ältere  Sekten  desselben  Gebietes  und  ihre  Verbreitung 
unter  den  dortigen  Webern  und  Tuchmachern  sind  von  Interesse 
die  Ausführungen  über  die  Begründerin  jener  Genossenschaft, 
Dorothea  Boller  (f  1895).  Durch  klug  berechnete  Visionen 
verstand  sie,  Proselyten  um  sich  zu  sammeln,  um  sie  zu  einem 
fast  zölibatären  Leben  zu  verpflichten  und  ihre  Arbeitskraft 
auszubeuten;  eschatologische  Prophezeiungen  fehlten  ebenso- 
wenig, nur  daß  die  Sekte  glaubte,  ihre  und  ihrer  Mitglieder 
Habe  zu  retten,  wenn  sie  diese  in  ihr  gemeinsames  Haus  brächte. 
Die  noch  ausstehenden  Bücher  sind  Dokumente  der  Gegen- 
wart, zunächst  die  drei  Rundschreiben  von  Papst  Pins  X.  vom 
11.  Februar  1906  („Vehementer  nos  esse"  über  die  Trennung 
von    Kirche    und    Staat  in    Frankreich),-  vom  27.  März  1906 

*  Die  AtifersteJiungssekte  und  ihr  Goldschatz.  Zürich,  Orell  Füssli  1908. 

-  Wir  erwähnen  hier  den  straffen  und  klaren  Überblick  über  die 
geschichtliche  Entwicklung  des  Verhältnisses  von  Katholizismus  und 
modernem  Staat,  den  W.  Köhler  in  einem  Vortrage  gegeben  hat.  Er 
mündet  aus  in  Vorschläge  einer  Lösung  des  Problems  auf  dem  Wege 
des  Kompromisses  „teils  grundsätzlich,  teils  von  Fall  zu  Fall";     Katho- 


636  Albert  Werminghoff 

(„Quoniam  in  re  biblica"  über  das  Studium  der  hl.  Schrift  in 
den  theologischen  Lehranstalten)  und  endlich,  vielleicht  das 
wuchtigste  unter  ihnen,  die  Enzyklika  „Pascendi  dominici 
gregis"  vom  8.  September  1907  über  die  Lehren  der  Moder- 
nisten. ^  Den  Fehdehandschuh  des  letzterwähnten  Erlasses 
haben  zwei  Bände  mit  reformkatholischen  Schriften  aufgenommen, 
der  erste  mit  der  Übersetzung  der  Antwort  französischer  Ka- 
tholiken an  den  Papst,  der  zweite  mit  der  des  Programms  der 
italienischen  Modernisten  — ,  jeder  Band  für  sich  das  er- 
schütternde Zeugnis  eines  Ringens  um  Freiheit  des  Gewissens 
und  der  Forschung,  der  die  katholische  Papstkirche  sich  ver- 
sagen muß,  will  anders  sie  bleiben  was  sie  war  und  ist.  ^  An- 
geschlossen sei  der  Hinweis  auf  ein  Werk,  dessen  erste  Lie- 
ferung bisher  vorliegt,  das  freilich  durch  den  marktschreierischen 
Titel  abstößt.^  Von  vorneherein  wird  man  in  dieser  „Moder- 
nisten-Antwort  auf  die  Borromaeusenzyklika"  des  Papstes 
Pius  X.  vom  26.  Mai  1910  keine  kühle,  unparteiische  Dar- 
stellung der  Papstgeschichte  erwarten,  aber  man  ist  doch  er- 
staunt  zu  sehen,   wie  Th.  Engert   hier    eine   der   wichtigsten 

Uzismus  und  moderner  Staat,  a.  u.  d.  T. :  Sammlung  gemeinverständlicher 
Vorträge  und  Schriften  aus  dem  Gebiete  der  Theologie  und  Religions- 
geschichte 53.     Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr  1908. 

^  Alle  drei  sind  in  lateinischem  Originaltext  und  mit  deutscher 
Übersetzung  erschienen  in  Freiburg  i.  Br.,  Herder  &  Co.,  o.  J.  (3  Hefte). 
Wir  notieren  hier  noch  die  vortreffliche  Studie  von  Gt.  Anrieh  Der 
moderne  Ultramontanismus  in  seiner  Entstehung  und  Entwicklung  (a.  u. 
d.  T.:  Religionsgeschichtliche  Volksbücher  IV,  10).  Tübingen,  J.  C. 
B.  Mohr  1909. 

*  Beformkatholische  Schriften.  Bd.  1.:  Antwort  der  französischen 
Katholiken  an  den  Papst.  Autorisierte  Ausgabe,  übertragen  von 
R.  Pr^vost.  Jena,  E.  Diederichs  1908.  Bd.  2:  Programm  der  italienischen 
Modemisten.  Eine  Antwort  auf  die  Enzyklika :  Pascendi  dominici  gregis. 
Besorgt  von  der  Krausgesellschaft.  Ebenda  1908.  S.  auch  K.  Seil 
Katholizismus  und  Protestantismus  S.  27Gtf.  und  K.  Holl  Der  Modernis- 
vius  (a.  u.  d.  T. :  Religionsgeschicbtliche  Volksbücher  IV,  7).  Tübingen, 
J.  C.  B.  Mohr  1908. 

"  Die  Sünden  der  Päpste  im  Spiegel  der  Geschichte.  Leipzig, 
Krüger  &  Co  1910. 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchenge  schichte  637 

Stützen  des  Papsttums  als  Fälschung  brandmarkt  und  preis- 
gibt, jenes  unzählige  Male  angezogene  Herrenwort  im  Matthäus- 
evangelium (Kap.  16  Vers  17  — 19),  das  die  protestantische 
Forschung  seit  langem  als  ein  spätes  Einschiebsel  be- 
zeichnet hat. 

Das  letzte  Buch  endlich,  dessen  Würdigung  obb'egt,  weist 
auf  die  durch  R.  Festers  Vortrag  angeregten  Gedanken  von  der 
Säkularisation  der  Historie  zurück.^  In  ihm  hat  K.  Seil  es  sich 
zum  Ziele  gesetzt,  die  Unterschiede  zwischen  Katholizismus 
und  Protestantismus  aus  ihren  geschichtlichen  Ursprüngen  zu 
erklären,  nicht  aber  ihre  dogmatische  Beurteilung  zu  geben 
und  nicht  zu  fragen,  auf  welcher  Seite  die  göttliche  oder 
biblische  Wahrheit  sich  findet.-  Dem  objektiven  Historiker 
der  menschlichen  Dinge  gleich  will  er  prüfen,  woher  jene 
Unterschiede  kommen,  wohin  sie  führen  und  wem  sie  genützt 
haben;  denn  „es  kann  ein  objektives  geschichtliches  Verständ- 
nis auch  der  Entwicklung  der  christlichen  Religion  geben, 
voll  tiefster  Sympathie  für  die  menschliche  Seite  derselben, 
ohne  daß  man  nötig  hätte,  die  methaphysische  Frage  nach 
ihrem  Ursprung  aus  übernatürlichen  Quellen  aufzuwerfen  oder 
zu  erledigen*'.  Kein  Leser  wird  sich  dem  Eindruck  entziehen 
können,  daß  der  Verfasser  selbst  seinem  Vorhaben  durch  sein 
ganzes  Buch  treu  geblieben  ist.  Mit  dem  Ernst  des  Forschers, 
der  den  Zusammenhang  der  Dinge  sucht,  verfolgt  er  beide 
christliche  Konfessionen  von  ihrem  gemeinsamen  Ausgangspunkt 
aus  bis  zur  unmittelbaren  Gegenwart  — ,  alles  in  Betrachtungen, 


'  Tgl.  oben  S.  604  mit  Anm.  1. 

*  Katholizismus  und  Protestantismtis  in  Geschichte,  Religion,  Poli- 
tik, Kultur.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  1908;  dazu  vgl.  desselben  Ver- 
fassers Schriften:  Christentum  und  Weltgeschichte  bis  zur  Beformation. 
Die  Entstehung  des  Christentums  und  seine  Entwicklung  als  Kirche 
(a.  u.  d.  T.:  Aus  Xatnr  und  Geisteswelt  Bd.  297).  Leipzig,  B.  G.Teubner 
1910  und:  Christentum  und  Weltgeschichte  seit  der  Befonnation.  Das 
Christentum  in  seiner  Entwicklung  über  die  Kirche  hinaus  (in  der 
gleichen  Sammlung  Bd.  298).     Ebenda  1910. 


638  Albert  Werminglioff 

die  das  einzelne  Ereignis,  die  einzelne  Persönlichkeit  zurück- 
treten lassen  vor  dem  Entwicklungsprozeß  jener  beiden  Ge- 
samtheiten, als  welche  sich  Katholizismus  und  Protestantismus 
und  die  von  ihnen  erfüllten  Kirchen  darstellen.  Diesen  Stoff 
hat  Seil  in  fünf  Kapitel  gegliedert:  ihr  erstes  umspannt  zu- 
nächst den  Katholizismus,  dann  den  Protestantismus;  zwei 
weitere  behandeln  in  parallelen  Abschnitten  beide  Konfessionen 
je  nach  ihrem  Verhältnis  zur  Religion  und  zur  Politik;  das 
vierte  legt  vorerst  Wesen  und  Entstehung  der  modernen  Kul- 
tur im  Zusammenhang  mit  beiden  Konfessionen  dar  und 
prüft  sodann  deren  praktisches  Verhältnis  zu  ihr;  das  letzte 
Kapitel  gilt  der  Psychologie  der  Konfessionen,  ihrem  Austausch 
und  der  Zukunft  des  Christentums.  Neben  diesem  letzten  Teil 
(S.  289  ff.)  mag  hier  besonders  auf  S.  86  ff.  hingewiesen  sein 
mit  ihren  Darlegungen  über  „das  subjektive  gefühlsmäßige  und 
verstandesmäßige  Verhalten  des  Einzelnen  in  der  Kirche  zu 
Gott,  den  gesamten  Inhalt  des  höheren,  auf  Gott  und  Gött- 
liches gerichteten  Seelenlebens,  also  die  Frömmigkeit  nebst 
ihren  sittlichen  Wirkungen".  Auch  hier  ist  die  Polemik  im 
Sinne  des  apologetischen  Eintretens  für  die  eigene  Konfession 
vermieden,  vielmehr  der  Versuch  gemacht,  in  die  Psyche  des 
religiösen  Katholiken  und  des  religiösen  Protestanten  einzu- 
dringen, ihre  Anschauungen  und  ihre  Werke  auszubreiten  wie 
nach  ihrer  Bedingtheit  und  Tragweite  abzuschätzen,  endlich  sie 
zu  vergleichen.  Eben  diese  Behandlungsart  erlaubt,  hier  wie 
dort  Vorzüge  und  Schattenseiten  anzumerken,  ohne  daß  doch 
eine  auch  nur  gedrängte  komparative  Konfessionskunde  zu 
liefern  geplant  wäre.  Seil  will  lehren,  zum  gegenseitigen  Ver- 
ständnis der  berechtigten  Eigenart  einer  jeden  Konfession  und 
ihrer  Auswirkungen  vorzudringen.  Dies  Streben  nach  Ver- 
ständnis, besser  noch  nach  Verständigung  durchzieht  das  ganze 
Buch,  und  kaum  wird  man  von  seinem  Ernste  unbeeinflußt 
bleiben:  er  ist  notwendig  für  unsere  zerklüftete  Gegenwart,  die 
täglich  die  lähmenden  Wirkungen    des    konfessionellen  Haders 


Neuerscheinungen  zur  Religions-  und  Kirchengeschichte  639 

verspürt,  zumal  er  immer  weniger  auf  das  rein  geistige  Leben 
unserer  Nation  sich  einengt  und  beschränkt.  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkt aus  bedeutet  die  Schrift  Seils  für  nns  eine  über- 
aus wertvolle  Gabe:  mag  man  unser  Urteil  subjektiv  nennen, 
jedenfalls  brachte  sie  uns  die  Bestätigung  der  lange  gehegten 
Meinung,  daß  alle  Beschäftigung  mit  Fragen  der  Kirchen-  und 
Religionsgeschichte  und  ihren  vielgestaltigen  Problemen  frucht- 
los bleiben  wird,  fehlt  es  an  Werken  wie  dem  vorliegenden, 
das  an  die  letzte  und  höchste  Aufgabe  aller  derartigen  Forschung 
gemahnt,  nämlich  vorzudringen  zu  Erkenntnissen  allgemeiner 
Art  und  Gültigkeit. 


III  Mitteilungen  und  Hinweise 


Regenzauber 

Zu  der  in  einem  der  letzten  Hefte  des  Archivs  (XIII  S.  627) 
erwähnten  Vorstellung,  daß  man  durch  Begießen  der  Knochen  eines 
Toten  Regen  veranlassen  könne,  gibt  ein  persönliches  Erlebnis 
einen  weiteren  Beleg.  Anfang  1905  hatte  in  der  Gegend  von 
Batna  in  Algei'ien  große  Trockenheit  geherrscht.  Als  wir  am 
27.  April  in  die  Nähe  von  Timgad  kamen,  waren  die  moham- 
medanischen Bauern  eben  damit  beschäftigt,  das  Grab  eines  Heiligen 
aufzubrechen,  um  dessen  Knochen  mit  Wasser  zu  begießen,  was 
Regen  herbeirufen  werde.  Nach  Angabe  unseres  einheimischen 
Kutschers  war  dies  ein  in  dieser  Gegend  bereits  öfters  angewendetes 
Regenmittel.  Daß  tatsächlich  am  nächsten  Morgen  ein  wolken- 
bruchartiger  Regen  eintrat,  wird  dem  Glauben  an  die  Nützlichkeit 
der  Tränkung  zur  willkommenen  Bestätigung  gedient  haben. 

Bonn  A.  Wiedemann 

Zum  ägyptischen  Tierkult 

In  einer  Arbeit  über  den  ägyptischen  Tierkult  (Museon  N.  S.  VI 
S.  113  —  28,  1905)  habe  ich  darauf  hingewiesen,  daß  eine  Reihe 
von  Andeutungen  dafür  sprechen,  daß  nach  altägyptischer  Ansicht 
jede  Tiergattung  in  gewisser  Beziehung  für  monarchisch  organisiert 
galt.  Wurde  in  einem  Nomos  ein  Gott-Tier  verehrt,  so  galt  dieses 
als  Herr  der  übrigen  Tiere  seiner  Gattung  und  hatte  dement- 
sprechend deren  .Schutz  zu  übernehmen.  Diese  allem  Anscheine 
nach  im  Kreise  der  ürbewohner  des  Landes  lebende  Vorstellung 
mußte  sich  abschwächen,  als  man  im  Verlaufe  der  Nagada-Zeit 
die  Gott-Tiere  in  oft  sehr  willkürlicher  Weise  mit  den  menschlicher 
und  geistiger  gedachten  Gottheiten  eines  anderen  Glaubenskreises 
zusammenstellte  und  sie  nunmehr  als  deren  Inkorporationen  auf- 
faßte, sie  also  aus  dem  Kreise  ihrer  Artgenossen  loszulösen  suchte. 
Verlorengegangen  ist  der  alte  Volksglaube  aber,  wie  noch  die 
klassischen  Autoren  zeigen,'  nicht,  solange  die  ägyptische  Religion 
bestand.  Er  lebte  fort  in  der  Hochachtung,  welche  man  einerseits 
dauernd  der  Gattung  des  Gott-Tieres  gegenüber  empfand,  und 
andererseits  in  der  Furcht,  eines  dieser  ihm  artengleichen  Geschöpfe 
zu  verletzen  und  der  damit  zusammenhängenden  Sorgfalt,  mit  der 
man,  falls  trotzdem  ein  solches  Tier  getötet  wurde,  auf  seine  Be- 
stattung bedacht  war.    Es  wurde  einbalsamiert,  mit  Mumienbinden 


Mitteilungen  und  Hinweise  641 

bekleidet,  gelegentlich  mit  einer  Art  Sarg  beschenkt,  man  brachte 
ihm  Tot«nopfer  dar. 

Auf  einige  entsprechende  Vorstellungen  bei  anderen  Völkern, 
welche  dazu  beitragen,  die  bei  dem  ägyptischen  Tierkulte  maß- 
gebenden Gedankengänge  verständlich  zu  machen,  habe  ich  bereits 
in  der  genannten  Arbeit  hingewiesen.  Eine  genaue  und  daher  sehr 
lehrreiche  Parallele  gibt  eine  Schilderung  aus  Togo*,  deren  Verfasser 
sich  auf  einen  Bericht  über  seine  eigenen  Beobachtungen  beschränkt, 
den    ägyptischen  Tierkult    und   seine  Ausbildung    nicht   heranzieht. 

In  Klewe  in  Togo  wird  eine  Riesenschlange,  die  an  einem 
Wasserloche  lebt,  als  größte  und  zugleich  als  älteste  Gottheit 
verehrt  Niemand  darf  infolgedessen  eine  Riesenschlange  töten, 
denn  sie  gelten  alle  für  Kinder  dieses  Gottes.  Bringt  trotzdem 
jemand  ein  solches  Tier  um,  so  muß  er  weißen  Baumwollenstoff, 
eine  große  Kalebasse  Palmwein,  eine  bestimmte  Summe  baren 
Geldes  und  einen  Ziegenbock  herbeibringen.  Das  weiße  Zeug  wird 
der  Schlange  als  Leichentuch  umgewickelt,  und  sie  dann,  den 
menschlichen  Beerdigungen  entsprechend,  begraben.  Palmwein, 
Geld  und  Ziegenbock  werden,  den  sonstigen  Sitten  entsprechend, 
unter  dem  Volke  verteilt.  Wenn  der  Mörder  einer  Schlange  die 
Gaben  nicht  bringt,  so  wird  er  sterben.  Besonderes  Interesse  an 
der  Erfüllung  dieser  Pflicht  haben  die  Priester,  da  sie  sich  dann 
ihrem  Gotte  gegenüber  beruhigt  fühlen. 

Wie  im  alten  Ägypten,  so  hofft  man  demnach  hier  in  Togo 
durch  eine  sorgsame,  der  menschlichen  Sitte  entsprechende  Be- 
stattung der  Vendetta  des  Herrn  des  Gemordeten  entgehen  zu 
können.  Falls  diese  Sühne  unterbleibt,  wird  die  Rache  zunächst 
den  Täter  treffen;  außer  ihm  aber  offenbar,  wenn  dies  in  dem 
Aufsatze  auch  nicht  betont  wird,  andere  Angehörige  des  Volkes. 
Nur  so  läßt  sich  das  Interesse  der  Priester  erklären,  ihrerseits 
durch  die  Erfüllung  der  Bestattungsvorschrift«n  ihrem  Gotte  gegen- 
über gesichert  zu  sein. 

Bonn  A.  Wiedemann 

Zu  den  nordkankasischen  Steingeburtsagen 

;Archiv  XIII  509) 

Eine  mir  nachträglich  bekannt  gewordene  osetische  Fassung 
der  Steingeburtsagen  möge  an  dieser  Stelle  als  Oset.  IV*  ihren 
Platz  finden.     Sie    erweckt    dadurch   besonderes  Interesse,   daß  sie 

^  Spieß  Die  Joholu-Gotiheit  und  ihr  Schlangenkult  (Globus  XCVIII 
S.  337.  1910). 

*  Sbornik  materialov  dVa  opisan.  mestn.  i  plem.  Kavkaza  VII  2, 
30  f :  vgl.  besonders  die  im  Archiv  XIII  514  mitgeteilte  Variante  der 
Bergtataren. 

Archiv  f.  Religionswissenechaft    XIV  ^\ 


m 


642  Mitteilungen  und  Hinweise 

den  Teufel  als  Befruciiter  des  Steines  einführt  und  in  dieser 
Angabe  mit  den  spätjüdischen  Überlieferungen  vom  Antichrist 
dem  Sohne  Satans  übereinstimmt. 

„Sirdon  gehörte  zu  den  Narten.  Er  entstand  auf  folgende 
Weise.  Einstmals  wusch  Satana  am  Ufer  des  Flusses  Wäsche  und 
hatte  keine  Hosen  an.  Auf  dem  andern  Ufer  ging  der  Teufel,  und 
als  er  ihren  Körper  so  weiß  wie  Schnee  erblickte,  entflammte  er 
in  Begierde  und  lehnte  sich  währenddessen  an  einen  Stein,  wo- 
durch sich  dieser  befruchtete.  Satana  erfuhr  es  und  begann  die 
Monate  zu  zählen.  Es  kam  der  Tag,  an  dem  die  Frucht  gereift 
sein  mußte,  und  Satana  bat,  den  Stein  zu  zerschlagen.  Weil 
der  Stein  groß  war,  begann  man  ihn  stückweise  zu  brechen.  Als 
man  der  Stelle,  wo  sich  das  Kind  befand,  schon  nahe  war,  machte 
Satana  die  Arbeitenden  mit  Araka  trunken,  die  sie  selbst  erfunden 
hatte,  und  jene  schliefen  ein.  Dann  nahm  sie  ein  Rasiermesser, 
schnitt  vorsichtig  die  übriggebliebene  steinerne  Hülle  durch  und 
hob  von  dort  das  Kind  heraus,  das  sie  Sirdon  benannte.  Der 
schlaue  Sirdon  zeichnete  sich  als  ein  Geschöpf  des  Teufels  durch 
Gewandtheit  und  Findigkeit  aus.  Aber  die  Narten  hielten  von 
ihm  nichts:  man  lachte  über  ihn  als  einen  Dümmling  und  benutzte 
ihn  zu  geringen  Diensten." 

Ferner  möchte  ich  noch  auf  ein  schwedisches  Märchen^  auf- 
merksam machen,   das  folgendermaßen  beginnt: 

„Es  war  einmal  ein  Schmied,  wie  es  deren  so  manche  gibt. 
Er  hatte  seine  Früharbeit  beendet  und  wollte  sich  in  den  Wald 
hinaus  begeben,  um  Holz  für  einen  Kohlenmeiler  zu  hauen.  Nach- 
dem er  das  Frühmahl  gegessen,  sagte  er,  bevor  er  aufbrach,  zu 
seiner  Frau:  „Du  kommst  wohl  mit  dem  Mittagsmahl  zu  mir 
hinaus  in  den  Fichtenwald?"  Das  Weib  versprach  zu  tun,  wie  ihr 
der  Mann  geheißen.  Der  Schmied  ging  hierauf  in  den  Wald  und 
begann  zu  hauen.  Als  nun  der  Mittag  herannahte,  schien  es 
ihm,  als  käme  sein  Weib  mit  dem  Mahle  zu  ihm.  Nachdem 
er  gegessen,  schickte  er  sich  an,  seine  Mittagsruhe  zu  halten,  wie 
es  in  der  Sommerszeit  gebräuchlich  ist,  und  schlief  eine  Stunde 
im  Arme  des  Weibes.  Nachdem  sie  geschlummert  hatten,  stand 
das  Weib  auf  und  machte  sich  auf  den  Weg,  nahm  aber  die  Axt 
des  Schmiedes  mit  sich.  „Was  willst  du  mit  meiner  Axt?"  fragte 
der  Schmied,  „es  hängen  ja  vier  Äxte  daheim  auf  dem  Axtgehänge." 
Das  Weib  antwortete  nicht,  sondern  setzte  ihren  Weg  fort.  Dies 
kam  dem  Manne  wunderlich  vor,  er  dachte  aber:  Sie  stellt  wohl 
die  Axt   in    irgendeinen   Busch,    wo   ich   sie    wieder    finden   kann. 


*  Schwedische  Volkssagen  und  Märchen,  hrsg.  von  Cavalliua  und 
Stephens,  deutsch  von  Oberleitner  Nr.  4,  S.  69  (Wien  1848). 


Mitteilungen  und  Hinweise  643 

Der  Schmied  begann  wieder  für  seinen  Kohlenmeiler  Holz  auf- 
zuhäufen. Nach  Verlauf  einer  Stunde  kam  des  Schmiedes  Weib 
und  brachte  ihm  das  Mittagsmahl.  Sie  fragte:  „Willst  du  nicht 
dein  Mittagsmahl  essen?  Der  Tag  ist  schon  weit  vorgerückt" 
Der  Schmied  war  verwundert  und  erwiderte:  „Jetzt  essen?  ist's 
jetzt  Zeit  zum  Essen?"  ,.Je  nun,"  entschuldigte  sich  das  Weib^ 
„ich  bin  über  die  Zeit  ausgeblieben;  aber  ich  war  nicht  müßig. 
Ich  habe  gebacken,  damit  du  Brot  bekommst,  ich  habe  gebuttert, 
damit  du  Butter  findest."  Das  kam  dem  Schmied  noch  wunder- 
licher vor  und  er  dachte  bei  sich,  daß  es  mit  ihr  wohl  übel  stehen 
möge.  Er  setzte  sich  hierauf  um  zu  essen,  was  er  vermochte, 
sprach  aber  nichts,  sondern  hielt  es  am  ratsamsten,  es  dabei  be- 
wenden zu  lassen.  —  Sieben  Jahre  nach  diesem  Ereignisse  fügte 
es  sich,  daß  der  Schmied  eines  Abends  auf  seinem  Holzschlage 
stand  und  Holz  für  den  Abend  fällte.  Da  kam  ein  Knabe  daher- 
gegangen, mit  einer  Axt  auf  der  Schulter.  Der  Schmied  fragte: 
„Was  fehlt  deiner  Axt?  Soll  sie  ausgebessert  oder  geschärft  werden?" 
Der  Knabe  antwortete  nicht.  Der  Schmied  nahm  nun  die  Axt  tmd 
besah  sie  sehr  genau.  Er  sagte:  „Der  Axt  fehlt  nichts;  aber  ich 
sollte  mich  fast  schämen,  denn  dies  ist  ja  meine  Art."  Darauf 
entgegnete  der  Knabe:  „Wenn  dies  eure  Axt  ist,  so  seid  ihr  auch 
mein  Vater."  Der  Schmied  mußte  ihn  nun  als  seinen  Sohn  an- 
erkennen, so  wie  er  die  Axt  als  sein  erkannt  hatte  .  .  .  Der 
Knabe  ward  hurtig  und  willig  und  dazu  sehr  stark,  weil  er  halb 
ein  Christ,  halb  ein  Troll  war." 

Dieser  ganz  sagenhafte  Eingang  des  schwedischen  Märchens 
illustriert  wiederum  ein  Traumerlebnis  und  zugleich  den  Volks- 
glauben an  Mittagsgespenster  (Mährte,  Trollen),  die  gern  eine  dem 
Schläfer  vertraute  Gestalt  annehmen,  um  ihn  zu  einem  Beischlaf 
zu  verleiten.  Die  Erzählung  ist  sicher  so  zu  verstehen^,  daß  der 
Schmied  bereits  in  dem  Augenblick  schläft,  wo  er  die  Empfindung 
hat,  als  käme  sein  Weib  mit  dem  Essen  zu  ihm.  Er  ißt  nun  im 
Traum  und  wohnt  darauf  seiner  Frau  bei.  Alle  diese  Vorgänge 
faßt  der  Märchenerzähler  als  wirkliche  auf,  und  ebensogut,  wie 
der  Schmied  nach  dem  vermeintlichen  Mahle  eine  Sättigung  ver- 
spüren muß,  kann  auch  die  Traumvereinigung  nicht  ohne  Folgen 
bleiben.  So  entsteht  der  Held  des  nachfolgenden  Märchens,  ,halb 
ein  Christ  und  halb  ein  TroU". 

Berlin  August  von  Lö-wis  of  Menar 

Zur  Geisselung  der  spartanischen  Epheben 

Im  Archiv  IX  S.  397  ff.  hat  Anton  Thomsen  die  Epheben- 
geisselung  vor  der  spartanischen  Orthia  neu  erklärt;  er  nimmt  an, 

*  Vgl.  auch  Panzer,  Studien  z.  german.  Sagengeschichte  I  20. 

41* 


644  Mitteilungen  und  Hinweise 

daß  dieser  später  zur  Marterprobe  entartete  Eitus  ursprünglicli 
weder  eine  Ablösung  von  Menschenopfern  noch  ein  allgemeiner 
Reinigungsbrauch,  wie  Frazer  meint,  sondern  ein  Sakrament  der 
Vegetationsgöttin  Orthia  Lygodesma  gewesen  sei:  die  Epheben 
sollten  gesund  und  kräftig  werden.  Mir  steht  kein  fachmännisches 
Urteil  über  dies  Ergebnis  zu'/  seine  Richtigkeit  als  möglich  oder 
wahrscheinlich  vorausgesetzt,  möchte  ich  jedoch  den  Religions- 
forschern die  Frage  vorlegen,  ob  man  nicht  auf  folgende  Weise 
den  von  Thomsen  beschrittenen  Weg  zu  einem  schärfer  markierten 
Ende  gehen  kann.  Ferdinand  Freiherr  von  Reitzenstein  hat  in  der 
Zeitschrift  für  Ethnologie  1909  eine  ungemein  lehrreiche  Abhand- 
lung veröffentlicht:  Der  Kausalzusammenhang  zwischen 
Geschlechtsverkehr  und  Empfängnis  in  Glaube  und 
Brauch  der  Natur-  und  Kulturvölker.  Der  Verfasser  zeigt 
an  zahlreichen  Beispielen,  daß  auf  der  noch  heut  bei  vielen  Stämmen 
mehr  oder  minder  rein  erhaltenen  Kulturstufe,  auf  welcher  man 
diesen  Kausalzusammenhang  nicht  kennt,  sondern  an  eine  mysteriöse 
Befruchtung  verschiedenster  Art  glaubt,  die  Geisselung  niit  Ruten 
und  Ranken  bei  den  Pubertätsfesten  der  Frauen  eine  große  Rolle 
spielt  (vgl.  S.  671,  679  ff.).  Im  Schlußwort  weist  er  darauf  hin, 
daß  da,  wo  der  wahre  Zusammenhang  erkannt  ist,  -'die  alten  An- 
schauungen doch  insofern  weiterwirkten,  als  sie  als  Unterstützungs- 
riten der  männlichen  Potenz  fortlebten  und  sich  hauptsächlich  mit 
dem  Phalloskult  verbanden,  der  dadurch  ungemein  mannigfaltig 
ausgestaltet  wurde.' 

Nichts  liegt  näher,  als  die  von  Thomsen  bereits  herangezogene 
dionysische  Weibergeisselung  von  Alea  als  ein  derartiges  Sakrament 
des  großen  Lebensgottes  aufzufassen.  Wenn  die  Frauen  dabei  ^den 
Gott  in  sich  aufnehmen  und  seiner  Kraft  durch  direkte  körperliche 
Übertragung  teilhaft  werden',  so  ist  das  eben,  wenn  man  so  sagen 
darf,  die  vorerotische  Form  des  legog  ydfiog  mit  Dionysos.  Merk- 
würdigerweise lehnt  Thomsen,  der  doch  mit  Mannhardt  vertraut 
ist,  das  geschlechtliche  Moment  in  jeder  Form  ab.  Sexual-patho- 
logische Erscheinungen  sind  hier  freilich  nicht  zu  erkennen;  eben- 
sowenig aber  da,  wo  Thomsen  sie  annimmt:  nämlich  ^bei  den 
Barbaren  Rußlands,  wo  die  Stäupung  der  Braut  oft  zu  den  Hoch- 
zeitsgebräuchen gehörte.'     Daß  die  Germanen    ebensolche  'perverse 


'  Für  Bosanquets  überraschende  Annahme,  daß  der  Kitus  in  der 
überlieferten  Form  eine  Neuschöpfung  des  2.  Jahrhunderts  sei,  steht  eine 
genauere  Begründung  noch  ans;  denn  der  bloße  Hinweis  auf  die  Xenophon- 
stelle,  Rep.  Lac.  2,  9  genügt  nicht  (Recent  Excavations  at  Sparta  S.  12). 
Die  Deutung  des  Brauches  wird  dadurch  kaum  berührt,  denn  es  würde 
sich  nur  um  eine  Veränderung  der  äußeren  Umstände  der  Geisselung 
bandeln.    Vgl.  jetzt  auch  Schnabel,  Eordax  S.  49  ff. 


Mitteilungen  und  Hinweise  645 

Barbaren'  sind,  mag  man  bei  Reitzenstein  S.  681  nachlesen;  Be- 
fruchtung durch  Schläge  mit  Ruten  oder  mit  Fellstreifen  des  Opfertieres 
ist  ja  doch  allgemein  verbreitet  und  noch  niemand  hat  die  Luperci 
für  Sadisten  erklärt.  AU  diese  Bräuche  rücken  jetzt  in  ein  viel 
helleres  Licht. 

Demgegenüber  wird  man  erwägen  müssen,  ob  ähnliche  Bräuche 
bei  den  Pubertätsfeiem  der  Knaben  nicht  eine  dem  erkannten 
Kausalzusammenhang  entsprechende  Übertragung  sind.  Daß  der 
spartanische  Ritus  mit  anderen  spartanischen  Bräuchen  bei  den 
Betschuanen  wiederkehrt,  hat  schon  Frazer  bemerkt;  seine  Voll- 
ziehung ist  dort  die  unerläßliche  Vorbedingung  der  Eheschließung.^ 
Gerade  beim  Pubertätsfest  liegt  es  doch  sehr  nahe,  die  Kraft- 
übertragung vom  Baume  des  Lebens  nicht  allgemein,  sondern 
speziell  sexual  zu  verstehen.  Eine  erotische  Parallele  zu  der 
Geisselung  wäre  die  dorische  Knabenliebe  nach  Bethes  Auffassung: 
auch  sie  ist  als  Pubertätsweihe  deutlich  charakterisiert  und  dürfte 
erst  mit  der  Zeit  den  weiteren  und  höheren  Sinn  erlangt  haben, 
den  Bethe  mit  Recht  hervorhebL*  Thomsen  selbst  weist  darauf 
hin,  daß  die  Lygoszweige  der  Orthia  Lygodesma  bei  den  Thesmo- 
phorien  und  beim  samischen  Herafeste  benutzt  wurden:  selbst  die 
bekannte  Erklärung  ihrer  keuschheitsfördernden  Wirkung  —  die 
Frauen  schliefen  während  der  kultliehen  Enthaltsamkeit  darauf  — 
gewinnt  nun  aber  in  Reitzensteins  Zusammenhang  einen  tieferen 
Sinn.  Seine  Ausführungen  über  Keuschheitsnächte  zeigen  nämlich, 
daß  man  ursprünglich  den  Geschlechtsverkehr  gradezu  für  empfängnis- 
störend  hielt' ;  der  'Keuschlamm'  sollte  also  ungestört  befruchtend, 
nicht  nervenberuhigend  wirken!  Da  nun  Geisselung  mit  Lygosgerten 
anderweitig  bezeugt  ist,  wird  man  auch  ohne  besonderes  Zeugnis 
annehmen    können,    daß  die  Geisselung  der  spartanischen  Epheben 

'  Thomsen,  S.  405  f.;  dort  wird  das  mir  unzugängliche  Buch  von 
Lang  Costum  and  myth  für  ähnliche  australische  Initiationsriten  zitiert. 

*  Rhein.  Museum  1907  S.  458  f.,  464  ff.  Der  Kern  von  Bethes  Aus- 
führungen bleibt  unberührt  von  Eduard  Meyers  Einschränkung,  Geschichte 
d.  Altertums  I  1  S.  96,  98:  wir  erhalten  drei  Stufen:  die  natürliche  Ab- 
schweifung des  Geschlechtstriebes,  ihre  Sanktionierung  als  Pubertätsweihe 
xmd  die  von  Bethe  dargestellte  Verfeinerung.  Die  vierte  und  höchste 
Stufe  ist  der  platonische  Eros.  Bethes  Bemerkung  über  die  Prophetinnen 
ist  übrigens  nach  Reitzenstein  etwas  zu  modifizieren:  die  Mädchen 
sind  ursprünglich  gewiß  nicht  auf  dem  normalen,  sondern  auf  mysteriösem 
Wege  des  Gottes  voll  geworden. 

»  S.  655,  660  f.,  675,  678;  vgl.  Fehrle,  Kultische  Keuschheit  S.  41  f. 
Von  den  beteiligten  Dämonen  betont  Reitzenstein  mehr  die  nützlichen, 
Fehrle  mehr  die  schädlichen;  angesichts  des  großen  Zusammenhanges 
der  Erscheinung  hat  der  Befruchtimgsglaube  mindestens  genetisch  den 
Vorrang  (vgl.  jedoclj  Deubner,  Archiv  XIII  S.  496).  Die  Heidelberger 
Diasertationen  von  Modrow  und  Albecker  über  griechische  und  römische 
Hochzeitsbräuche  sind  mir  bisher  nicht  zugänglich  (Fehrle  S.  41,  1). 


646  Mitteilungen  und  Hinweise 

vor  der  Orthia  Lygodesma  mit  solchen  ausgeführt  wurde  und  ur- 
sprünglich nicht  eine  allgemeine  Kräftigung,  sondern  eine  Stäi"kung 
der  Zeugungskraft  bei  Erlangung  der  Geschlechtsreife  bezweckte.^ 
Dies  allgemein  menschliche  Moment  erhält  im  spartanischen  Staat, 
der  die  Ehe  ausschließlich  als  eine  'Institution  zui"  Züchtung 
gesunder  Spartiaten'  ansah,  einen  individuellen  Zug. 

Basel  Ernst  Pfuhl 

Gstov  ■d'sam<5na 

Im  XIII.  Bande  dies"es  Archivs  S.  478  hat  0.  Kern  eine  neue 
Erklärung  der  von  mir  in  meinen  Beiträgen  zur  griechischen  In- 
schriftenkunde S.  196  ff.  behandelten  Inschrift  aus  Attaleia  in  Pam- 
phylien  vorgetragen  und  in  der  itavriyvQLq.^  deren  Beginn  und  Dauer 
sie  auf  Grund  eines  &hov  Q-iöitiG^ia  verlautbart,  ein  Fest  des  Apollon 
von  Didyma  erkennen  wollen;  in  ri  TtavrjyvQig  xov  ZIZT0OT  berge 
sich,  da  W.  Ramsay  BCH  VII  260,  durch  dessen  Veröffentlichung 
der  Stein  allein  bekannt  ist,  gerade  den  drittletzten  Buchstaben 
als  unsicher  bezeichnet,  ZIZTMEOT  gleich  ^c6v(ibov.  So  er- 
wünscht eine  solche  Lösung  des  Rätsels  wäre  und  so  gern  ich  zu- 
gebe, daß  ich  eine  Deutung  auch  in  dieser  Richtung  hätte  suchen 
sollen ,  statt  einzig  auf  Ramsays  (und  Sir  C.  Wilsons)  Lesung  zu 
bauen,  so  setzt  Kerns  Vorschlag  in  dieser  doch  eine  ziemlich  starke 
Entstellung  voraus  und,  wenn  auch  in  späteren  Inschi-iften  mit 
Besonderheiten  der  Schreibung,  die  älteren  nicht  zugetraut  werden 
dürfen,  zu  rechnen  ist,  wie  der  Verwendung  von  Buchstaben  sehr 
verschiedener  Größe  (vgl.  z.  B.  Beiträge  S.  lOO)  und  der  Verbindung 
der  Buchstaben,  die  Ramsay  ausdiücklich  bezeugt,  die  Abschrift  aber 
nicht  kenntlich  macht,  so  bleibt  obendrein  das  Bedenken,  ob  in 
einer  amtlichen  Veröffentlichung  wie  der  vorliegenden  die  vulgäre 
Form  des  Gottesnamens  zu  erwarten  stünde,  es  sei  denn,  daß  der 
Jidviiatog  in  Attaleia  geradezu  den  Namen  Zt^viiaiog  geführt  hat; 
die  Schreibung  Jtdvfisov  bedürfte  in  einer  Inschrift,  die  mit  ccQxere 
für  aQxerat  beginnt,  kaum  der  Stützung  durch  Sylloge  424  rov 
JiSv^eov  'ATtöllovog.  Demnach  wird  die  vorgeschlagene  Deutung,  so 
gefällig  sie  an  sich  wäre,  kaum  als  endgültig  betrachtet  werden 
können,  und  sicherlich  irrt  Kern,  wenn  ihm  „das  d^eiov 
^iöma^a  auch  gerade  für  ein  Apollonfest  vortrefflich  zu  stimmen 
scheint".  Denn  mit  diesem  &Etov  ^ianiß^a  ist  nicht  etwa,  wie  die 
Bemerkung  voraussetzt,  ein  göttliches,  apollinisches  Orakel  gemeint, 
sondern  nach  dem  feststehenden  und  daher  von  mir  nicht  erst  er- 
läuterten   Sprachgebrauch   der   späteren   Kaiserzeit   ein    kaiserlicher 


'  Vgl.  das  hochzeitliche  Lockenopfer  der  deliscben  Jünglinge:  die 
Locke  wurde  um  ein  grünendes  Reis  gewickelt  (Herod.  IV  34;  vgl.  Baur, 
Eileithya,  Philologus  Suppl.  VIII  1901  S.  497  f.). 


Mitteilungen  und  Hinweise  647 

Erlaß.  Es  wird  genügen,  für  ^sörci^eiv  und  &e67iiafia  auf  061  521 
Z.  9  und  Dittenbergers  Bemerkung  zu  verweisen;  soeben  veroflFent- 
licht  F.  Cumont  in  seinen  Studia  Pontica  III  p.  226  n.  254  eine 
Inschrift,  wahrscheinlich  der  Zeit  Justinians,  aus  Babali  von  der 
pontisch-galatischen  Grenze,  in  der  die  Formel  kcccu  9eiov  ^iöTCiöfut 
wiederkehrt. 

Wien  Adolf  "Wilhelm 

Epiknr  als  Beichtvater 

Usener  verzeichnet  in  den  Epicurea  S.  138  =YH^  V  fr.  73 
einen  Brief  des  Meisters  an  Apollonides.  Der  Wortlaut  der  Stelle 
wird  folgender  gewesen  sein:  xa0^a:tfp  6  'EmxovQog  S7t[i(po]Qdg 
[xivag]  TtQog  'A7i[oXk]covidi]v  i['x6]r]6ev.  Über  den  Anlaß  und  den 
Inhalt  dieses  Briefes  gibt  das  49.  Fragment  der  Schrift  thqI  TiaggriGucg 
interessante  Angaben.  Da  wird  ein  Herakleides  gelobt,  'weil  ej- 
die  Tadelsworte,  die  seine  geplante  Beichte  nach  sich  ziehen  mußte 
geringer  anschlug  als  den  Nutzen,  die  ihm  jene  einbrachten,  und 
darum  dem  Epikur  seine  Sünden  bekannte'.^) 

Dann  war  erzählt,  daß  für  Apollonides,  der  sich  zu  einem 
llhnlichen  Schritte  nicht  entschließen  konnte  oder  nicht  'das  Bedürf- 
nis hatte  zu  beichten,  sein  Freund  Polyainos  eintrat.  Dessen  freund- 
schaftliche Denunziation  veranlaßte  weiterhin  die  Epistel.  Denn 
ohne  Zweifel  ist  nun  im  folgenden  Apollonides"  Name  einzusetzen: 

xai  IloXvaivog 
6h  roLOvrog   ijv,  og  ys  Kai  'A- 
noXXcovClöov  QadA)uovv- 
r]o[?  y^cqpft?]   :TQbg  ^ErrtxovQOv — 
Den  Zusammenhang  beleuchtet  noch  einmal  der  Anfang  des  folgenden 
Fragments:    öidßoXov   .    .    .  yuQ  ovx  i^yTjöfTct  tov  ini&viiovvra  xbv 
(pikov  xvi^tv  dioQd'(o6ea>g. 

Der  starke  Trieb  der  Schwachen,  zu  bekennen  xmd  zu  beichten, 
um  so  von  der  Autorität  geistige  Hilfe  und  'Aufrichtung'  zu  emp- 
fangen, tritt  uns  in  vorchristlicher  Zeit,  soviel  mir  bekannt  ist, 
nirgends  deutlicher  entgegen.  Man  möchte  glauben,  daß  Epikur 
solche  Äußerungen  in  seinem  Kreise  nicht  ungern  sah  und  begünstigte. 
Denn  daß  sich  zwischen  Beichtvater  und  Beichtenden  starke  Fäden 
knüpfen,  konnte  seinem  nach  dieser  Eichtung  aufmerksamen  Geiste 
nicht  verborgen  bleiben.  Wer  einmal  die  Freundschaftsbeziehungen 
im  alten  xfjitog  und  das  Verhältnis  des  Meisters  zu  den  Seinen  zu 

1)  i7tai]vsi6&ai  zov  'HgaxXsidTjv,  ort  rag  ix  räv  ivcfavrßouivav 
liifitbeis  r,Trovg  Ti9i(i£vos  xfjg  äcpsXUcg  arrrör  ifirjwev  'ErtiKOvgoi  rag 
ayxiQxLag.  Den  Text  dieser  Philodemischen  Schriffc  jrspi  nuggriaiag,  die 
er  nach  den  Schulvorträgen  dea  Zenon  redigierte,  wird  demnächst  Olivieri 
herausgeben,  dessen  Mannskript  mir  vorliegt. 


648  Mitteilungen  und  Hinweise 

schildern  unternimmt  —  es  ist  eine  lockende  Aufgabe  — ,  darf 
auch  diesen  Zug  nicht  übersehen,  die  ^fraterna  delatio',  um  mit 
Ignaz  von  Loyola  zu  sprechen,  die  uns  in  jener  Umgebung  so  selt- 
sam anmutet. 

Kiel S.  Sudhaus 

Zu  Archiv  XIII  S.  339:  Zu  den  von  Stückelberg  angeführten 
Stellen  über  blutig  gefärbte  Gewässer  sei  es  gestattet,  weitere 
Parallelen  beizubringen.  Eine  Rötung  des  Wassers,  die  sich  in 
mehr  als  einem  Jahre  zu  derselben  Zeit  wiederholt,  erwähnen 
Quintus  Smyrnaeus  II  556  flf.  vom  Flusse  Paphlagoneios ,  die 
Chemischen  Annalen  von  1784  in  Band  1  S.  513  für  den  Stadt- 
graben von  Eppingen  in  der  Pfalz  und  Volney  Voyage  en  Syrie  et  en 
Egypte  Band  2  S.  196  f.  von  einem  Brunnen  an  der  syrischen 
Küste  nahe  der  Stätte  des  alten  Tyrus.  Hier  scheint  dasselbe 
Phänomen  schon  im  Altertum  beobachtet  und,  einmal  mit  der 
Andromeda-Sage  verknüpft,  von  Pausanias  IV  35,  9  der  Küste 
bei  Joppe  zugeschrieben  zu  sein,  die  schon  für  Plinius  Nat.  bist. 
V  69  und  Strabo  XVI  759  als  Lokal  der  Befreiung  Andromedas 
gilt.  Wiederholt,  wenn  auch  nicht  regelmäßig  jedes  Jahr,  färbten 
sich  blutig  der  Fluß  Asopos  und  die  Quelle  Dirke  bei  Theben, 
Schol.  B  Hom.  II.  XVI  459;  Diodor  XVII  10;  Aelian  v.  h.  XII  57; 
vgl.  Senec.  Oedip.  177,  Stat.  Theb.  IV  374;  ähnlich  hören  wir  von 
vereinzeltem  Auftreten  blutroten  Wassers  in  der  Mineralquelle  von 
Caere  Liv.  XXII  1,  10,  im  Flusse  Atratus  Cic.  div.  I  98,  II  58, 
bei  Mantua  in  Wasser,  das  aus  dem  Mincius  ausgetreten  ist,  Liv. 
XXIV  10,  7,  von  einem  See  bei  Volsinii  Liv.  XXVII  23,  3,  von 
einem  Brunnen  in  Rom,  C.  Meyer,  Aberglaube  des  Mittelalters, 
S.  181,  von  dem  Straussee  in  der  Mark  Brandenburg  in  den  Histor. 
Beyträgen  die  Preußischen  Staaten  betreffend,  Bd.  11  2  S.  365 
und  vom  Missouri  bei  Lewis  and  Clarke  Travels  to  the  Source  of 
the  Missouri  River  Band  I  S.  387.  Ein  anhaltend  blutiges 
Aussehen  zeigen  eine  Quelle  am  Japygischen  Vorgebirge  Ps. 
Aristot.  mir.  ausc.  97,  Strabo  VI  430  und  ein  Gewässer  Äthiopiens 
Strabo  XVI  779,  Antig.  bist.  mir.  145  (160)  Keller,  Plin.  n.h.  XXXI 
2,  9,  Ps.-Sotion  17,  Rufus  bei  Oribas.  V  3,  Isid.  Orig.  XIII  13,  4. 
In  der  Neuzeit  hat  C.  New  Life  Wanderings  and  Lahours  in 
Eastern  Africa  S.  328  eine  tiefrote  Farbe  bei  den  Bächen  wahr- 
genommen, die  vom  Mt  Kisigau  hinabfließen, 

Königsberg  i.  Pr.  F.  Hempler 


[AbgesohloBien  um  19.  Sopteinbor  1911] 


Register 

Von  Willy  Link 
Man  beachte  besonders  die  Artikel  Opfer  und  Zauber. 


Aberglaube      55ff. ;      250;, 
315  tf.;     348;    526;    534; 
543 ff.;  601  j 

Abraham  u.  d.  Astrologie  44  i 

Abwehr   v.   Dämonen    15  ;| 
343 ff.;  555  i 

Abwehrzauber  74 ;  217 ;  220 ;  i 
225;     236;     241;     255  f.;' 
260;  296;    343 ff.;    355,1; 
387 tf.;    468;    537;  545 f. ;  : 
558  : 

Abzeichen,  relig.  226 f. 

Ackerbaufeste  438;  441, i 

Ackerbauriten  298 

Adlertanz  240 

Adonis  519.1 ;  532 

Adoptionsriten  256  f. 

Aeneas  595 

Afrikanisches  465  ff. 

Ägyptisches  45,6;  73;  85; 
344 f.;  357 f.;  368;  370: 
386;  519;  575;  579f.; 
588;  640  f. 

Ahnengeister  161  ff. 

Ahnengötter  263  ff. 

Ahnenkult  161  ff.;  473;  483 

Aias  567 

Aion  539 

Aischylos  446 

cclißag  449  ff. 

Allerseelenfest  bei  d.  In- 
dianern 280 

Altar  484;  606  f. 

Altartabemakel  607  f. 

Altchristliches  iff.;  100 ff.; 
317 f.;  325;  355 f.;  374; 
606  ff. 

Alttestamentliches  2ff  ;  29 
32;  40;  44;  49;  102 
104 ft'.;  130 ff.;  321;  339 
341;  345;  376;  382 f.:  385  i 


Ameisenprobe  239 

Amerikanisches  212  ff. 

Amulett  202 f.;  205;  215 
219 f.;  248;  296 f.;  344 
347;  351,1;  353 ff.;  366 
368;  372:  389;  391;  494 
545  ff. 

amuletum  524 

Anaitis  577 

Analogiezauber  220;    223; 
226;  372;  391 

Animismus  193;  598 

Anna  Perenna  593 

Ant  344 

Anthesteria  534 

Aphrodite  601 

—  Urania  536 
ApoUon  351,1;  423 ff.;  434; 

442 ff.;  551 

— ,  asiat.  Ursprungs  447 

— ,  Beinamen  553 

—  Delphinios  13 

—  Eikadios  444 

—  Numenios  443 

— ,  Patron     d.     Monats- 
rechnung 447 

—  Sühngott  446 

—  u.  d.  Siebenzahl  443 

—  u.  Horos  525 
Apologetik,  christl.  521 
Apotheose  595  f. 
Apuleius  526 
Archäologisches      14;     21 

23;  26  ft'.;  32  ff.;  37,5 
69 f.:  118 ff.;  287;  325 
330ff.;  351,1;  367 ff.;  374 
378,1;  381;  391;  424f. 
518 f;  535;  550;  556 f 
566;568;570;589f.;594f. 

Arena  524 

Arethusa  331 


Artemis  559;  577 

—  Orthia  558 
Askese  570;  609  f. 
Asklepios  56 f.;   94 f;  554; 

562 

—  Soter  579;  581;  590 
Astarte  582 

Astralkult,  semitischer  539 
Astrologie  521;  582 

'.  Astrologisches  41  tf. 
Asyle  85 

Atargatis  108;  117;  148f.; 
338;  342 
!  Athene  77;  351,1;  535  f. 
Attis  117;  536;  584 
Auferstehung  9 ff.;  18;  34; 
36;  38f.:  48 

—  nach   3   Tagen    10 f.; 
385 

Auferstehungsglaube  322 
Auferstehungstrank  349 
Auspizien  534 
Aussaugen     d.     Krankheit 

232;  268;  293 
Austreiben    von   Dämonen 

343;  346;  365 


[Baal  118;  582 f. 
Babylonisches    41; 

343;     348,2;     365; 

433,1;    434 ff.;   538 

564;  583 
Bannzauber  188;  203 

546 
Baumdämonen  290 
Baumkult  600 
Begräbnisriten  183  ff 

279;  289;  315;  468 

484;  494;  555 
Behexung  514 


338,4; 

392; 

;   540; 

;306; 


;  242: 
;  479: 


650 


Register 


Bendis  u.  Hekate  576 
Berührungszauber  314  f. 
Beschneidung  164,i;  467 f.; 

475 f.;    478;    480 f.;    488; 

490;  496 
Beschwörung      201;      226; 

301;  514;  518;  528 
Beschwörungsformel     181 ; 

203;  208;  232;  316;  318f. 
Besessenheitsglaube  526 
Besprengen  mit  Blut  282 

—  Wasser  255;  258;  265 
Bilder   142;  589;  611;    613 

—  gebadet  281 

—  heilend  526 
Bilderschriften  271;  283 
Bilderverbrennen  239 
Bildzauber  538 
Bindung,  magische  188;  203 
Blattorakel  204 

Blick,    böser    307;    345  f.; 

349;  459;  489;  546 
Blitz  552;  590 
Blut    229;    8     auch    unter 

Zauber 

—  aly  Geist  230 

—  apotropäis3hl02;  169 

—  im  Opfer  488 
Bonaventura  623  ff. 
Bonifatius  617  f. 
Brahma  51 
Brandmarken  62  ff. 

— ,  relig.  101  ff. 

—  als  Strafe  65 f.;  86 ff. 

—  der  Soldaten  124  ff, 

—  von  Gefangenen  68 f.; 
71 

Brot  u.  Wein  25 f.;  325 
Buddha  9;  325,4;  870;  386 
Buddhismus  u.  Christentum 

18 
Buddhistisches  60 f.;  326,4; 

384;  390 
Büffeltanz  243 
ßovxöXoL  578 
Bündnisritus  182,2 
Büßer  im  Hades  582 

Cacas  694 
Calvin  683 
Cerberus  497 
Chadhir  313  f. 
Charon  601 
Chinesisches  371;  384 
Chiromantie  521 


Christentum,      Entstehung 
582 

—  u.  Buddhismus  18 

—  U.Judentum  lff.;321ff. 
Christus  523 

Chronos  539 
Cicero  520 

Dämonen  9;  15;  103;140f. 
156;  222ff.;  227;  231 
244;  267;  269;  282;  284  f. 
289ff,;  299ff.;  318;  326 
348 f.;  361;  458;  473 f. 
480;  483;  490:  492;  527 
543  ff.; 550; 552; 555; 567 
575;  594;  600  f. 

Dämonenbild  142 

Dämonentänze  288 

Danksagungsfest  259 

Dante  625 

Dardanos  319;  549 

Delphin  als  Retter  aus  See- 
gefahr 13;  52 

—  als  Symbol  d.  Rettung 
352 

—  heilig  332,1 

— ,  sein  Erscheinen  gün- 
stig 351,1 

—  u.  Apollon  13 
Delphos  553 
Demeter  551;  576;  601 

—  u.  Baubo  570 
Derketo  50;  338;  342  f. 
dtEQog  461 

Dike  560 

Dionysos    117;    442;    661; 
655;  570;  599 

—  Perikionios  589 

—  u.  Esmun  576 

—  u.  Sabazios  576 
Dioskuren  554;  581 
Donnergott  299 
Doppelaxt  529 
Drachenkämpfe  386;  662 
Dreiheit  600 

Dreizahl  10 f.;  238 f.;  249; 

261;  320;  385;  391 
Dyaus  498 

£a  348 

Ehen  mit  Tieren  491;   493 
Eid  489;  661 
Eideshelfer  661 
Eiiigeweideschau  181;  475; 
690 


i  Ekstase  420 ff.;  569 
Elemente  539;  541 
Elias  11 
'ivsQoi,  458 
Enthaltsamkeit    223 ;    226 ; 

293;   569 
Enthusiasmus  552 ;  571 ;  601 
Ephesia     grammata     108; 

150 
epigramma       fugitivorum 

soff. 

Epikur  647  f. 
Epilysamene  625 
Epimachos  525 
Epiphanie  441  f.;  596 
Erdgöttinnen  astraler  Natur 

273 
Erechtheus  550 
Erichthonius  566 
Erlösung  47  f. 
Erntefest    259;    268;    270; 

279;  291;  467;  477;  480 
Erntezauber  380 
Eros  419;  525 
Eschara  526 
Eschatologisches  148;  322ff.; 

357 ff.;  619 

Esmun  576  f. 

i  Essen   v.  Tieren 


Hei- 


482; 
370; 


I      ligung  326  f. 
E&zauber  208;  210 
Ethik,  griech.  585  f. 
I      — ,  sexuelle  306 
j  Ethisches    465;    476; 
491 
Etruskisches     333, i; 

628;  590 
Eucharistie  606;  608 
Eumolpidai  526 
Exogamie  162;  226 
Exsuperatorius  313 
Ezechiel  102;  131  f. 


Fakire  516 

fasten  132;  225  f.;  231; 
236;  243;  249;  262; 
261  f.;  267;  293 f.;  336 

Fasti  526 

Febris  420 

Federtanz  260 

Felsbemalung  289 

Felsinschriften     zauber- 
kräftig 229 

Feste  130ff.;  172,i;  174,6; 
233;     237;     268  f.;     286; 


Register 


651 


293;  298;   438 ff.;    474 f.; 

477;  480;  484;  558;  696; 

613 
Festgebräuche     1 9  f . ;     25 ; 

103,  140;  307:  357  f. 
Festkalender  279;  550 
Festlieder  267 
Festverkünder  558  f. 
Fetiales  526 
Fetische    201;     250;    267: 

J8Ö:     294;     334;     381,2; 

472:     479;    484;     494f.; 

529;  536;  589 
Feuer,  heilig  265 
Feuertänzer  248 
Fisch     als     Darstell,     von 

Ahnengeist«m  357  ff. 

—  als  heil.  Speise  6  ff. 

—  als    mag.    Heilmittel 
346  f 

—  als  Opfer  335 

—  als  Opferspeise  332,s 

—  als  Retter  17 

—  — der  ganzen  Mensch- 
heit 51 

—  alsSeligenspeiseälf.; 
38 f.;  321  ff. 

—  als  Symbol  1  ff.;  321  ff. 
-  —  der  Fruchtbarkeit 

356;   376  ff. 

—  —    d.    Seligenspeise 
18;  367 

—  als  Träger  der  Weis- 
heit 329 

— ,  messianischer  5  ff. 
— ,  seine    eucharistische 
Bedeutung  38 
Fische  göttl.  Ursprungs  334 
— ,    heilige     6 ff.;     13 f.; 
327 ff.;  360 ff. 

—  zur  Heilung  50  f. 
Fischgenuß,  Crspr.  d.  F.  bei 

den  Juden  19  f. 
Fischmythen,  jüd.-christl. 

Iff.;  '321  ff. 
Fischorakel  350;  388 
Flamines  526 
Fluchformel  189;  199,4;  521 
Fluchgottheit  148 
Fluchtexte  519;  531 
Fluchtopf  477 
Fluchzauber  143 ff.;   318 f.; 

547 
Flußgötter  526 
Formido  411;  414 


Fortuna  526 
Freundschaftsriten  258 
Fmchtbarkeitsdämonen 

289;  291:  522;  565 
Fruchtbarkeitsgottheit  279 ; 

552;  570 
Fruchtbarkeitsrit^n      260 ; 

265;     289;     295  f.;     310; 

312;  566;  593 
Fruchtbarkeitszauber  215; 

217;  244;  247;  268:  280; 

308;  377;  502;  534;  552; 

558  f. 
fünfter  Wochentag  günstig 

48 
Fünfzahl     48;     234;     238; 

281  f.;  376 
Furiae  526 


Ge  551 

—  Hemeros  520 
Gebet  46,4;  48;  51;  174 ff.; 

180;  189ff.;  194;  196ff.; 
236;  282;  284  f.;  297; 
315;  384,3;  470;  472;  476; 
483;  488  f.;  494;  514; 
528;  531;  547;  578 

—  an  d.  Mond  199,4;  232 
Gebetsbräuche  161  ff 
Gebetsfedern  264  f. 
Gebetsformeln  231  f. 
Geburtsgöttin  284 
Geburtsriten  228 ;  234 ;  242  f. 
Geburtstag  303 :  439,3 ;  527  ; 

596 
Geheimgesellsch  aften,relig. 

223;  258;  263 f.;  266;  530 
Geißelung  643  ff 
Geister    161  ff.;    225;    230; 

244;  307;  315;  361;  458; 

473 f.;  477 f.:  480;  531 

—  austreiben  244 

—  d.  rechten  u  d.  linken 
Seite  177  ff. 

—  mißgünstig  191,i 
— ,  unbekannte  175, i 

—  verlästert  192 

—  verwandeln  sich  in 
Tiere  167  f;  198 

—  werden  betrogen  174 
Geisterbefragung  174 
Geistersee  169 
Geistertanz  251;  256 
Geld,  seine  Entstehung 425,i 


Gesänge,  relig.  240;  251 
258;  260;  267;  269:  283 
285  f.;  301;  304;  481 
489;  500  f. 

—  apotropäisch  236 
Geschenkfeste  223 
Geschlechtliches   163:  205: 

217:     234  f;     270;     308; 

311;  377:  489;  501  f. 
Gesichtsbemalung  226 
Gespenster  491;  601;  643 
Gestirne  u    Kult  550 
Gnostizismus  571;  609 
Gorgonen  601 
Götterbild  ^89;  611 

—  gebadet  310 

—  z.  Abwehr  v.  Unglück 
aufgestellt  284 

Göttergeburtstage  439;  441 ; 

443 
Göttemamen  379,i;   524 f.; 

575;  598 
Gottesgericht  480;  484 
Gottessagen  194 
Gottesurteil  210.2;  475 
Gottesvorstellung  194 
Gottheiten  269;  284 

—  Patrone    menschl. 
Tätigkeiten  224  f. 

—  in  Fischgestalt  51  f.; 
327;  343 

Gottkönigtum   278f.;    530; 

582 
Gottmenschen  599 
Grabbauten  518 
Gräbertult  550 
Grabsteinsymbole  29 
Grastanz  244 
Gründungslegende,  röm.523 


Haar,  geweiht  480 

—  i.  Zauber  siehe  Zauber 

Hades  576 

Hadesstrafen  561 

Hahn  als  Symbol  der  Auf- 
erstehung 23 

Haine,  heilige  169;  171  f. 

Hakenkreuz  381;  392 

Hand,     rechte    101;    108; 
118  ff.;  126;  128  f. 

Handauflegung  526 

Hände,  erhobene  auf  Grä- 
bern V.  Ermordeten  519 

Haruspizin  590 


652 


Register 


Heidentum,  sein  Fortleben 

599  ff. 
Heidnisches  i.  christl.  Kult 

522 

—  i.  Marienkult  614  f. 
Heilandskulte  581 
Heilgesänge  267 
Heilige,  sonderbare  521  f. 
Heiligenbilder  apotrop.  315 
Heiligenlegende  619 
Heiligenverehrung  600 
Heiligkeit  d.  Familie  163 

—  d.  Herdes  307 
Heilungswunder  56  ff. 
Heilzauber     201;      204  ff.; 

214f.;     222;     225;     236; 
248 ff.;  260 f.;    267;    291; 
293;  296 f. 
Hekate  332,3 

—  u.  Bendis  576 
Heldensage  304 
Helios  583  f. 
Hephaistos  576 
Herakles    563;    566;     570; 

590 
Hercules  Saxanus  598 
Hermes  551;  563;  568  f. 

—  Pyletes  520 

—  u.  d.  Toten  555 
Heroen  567  f. 
Herrscherkult  550;  579  ff. 
Hesiod    393 ff.;     427;     438; 

442  ff. 
Hexen  304;  479 
Hexenprozesse  629 
Hieronymus  609  ff. 
IsQog  yd^iog  311  f.;  644 
Himmelfahrt  Christi  621 
Himmelsbriefe  618 
Himmelskult  196 ff.;  529 
Himmelstor  48 
Himmelszeichen  198 
himmlische  Erscheinungen, 

ihre  Darstellung  magisch 

266 
Hirt,  d.  gute  H.  31  f. 
Hiskia  136  f. 
Hochzeitsgebräuche    20 ; 

376f.;  378,1;  537;  644 
Hölle  reinigend  47, i 
Höllenbrücke  322  f. 
Höllenfahrt  d.  Venus  272 
Homer  77;  431;  434 

— ,  allegorisch  interpret. 

687 


Horaz  595 
Horme  520 
Hundetanz  231 
Hymnen  402 ff.;    552;    581; 
588 

Idole  118;  479;  484 
Indisches  17;  41  f.;  50;  333; 

347;  497  ff. 
Indra  498;  500;  502 

—  u.  Zeus  498 
Initiationsriten  237 f.;    263; 

291;  469;  471;  479;  481; 

530;  570;  645,1 
Inkubation  56 f.;   544;   554 
Ion  541 
Iranisches  543 
Isis  50;   117;  569;  582 

—  u.  Sarapis  579 
Islamitisches  495 
Isopsephieen  538;  542;  574 
Istar  392 

Japanisches    341, i;    348,2; 

354;  390 
Jesus  342;  600 
Jinön  49  f. 

Jona,  Vorbild  Jesu  10 
Josua  4 
Judentum    u.    Christentum 

Iff.;  321  ff. 
Jüdisches  Iff.;  130  ff.  ;321ff.; 

580 

Kabiren  554;  575f. 

Kadmilos  576  f. 

Kaiserkult  124;  597;  585 

Kalender  283;  427 f.;  436 ff. 
— ,  milesischer  428 
— ,  relig.  Ursprung  436 

Keuschheit,  kultische  163,i ; 
527 

Kircheugeschichtliches 
603  ff. 

Knochen  zerbrechen  ver- 
boten 309 

Kommunionsriten  532 

Konfirmation  101 

Köre  537;  661;  570;    576  f. 

Kosmas  u.  Damian  523 

Krähentanz  251 

Krankheitsdämonen  166; 
226;  244;  290  f.;  300; 
843;  365;  368;  389 


Krankheitsgott  298 
Kriegergenossenschaften 

246  f. 
Kriegsgebräuche  223;  226 

266 
Kriegsgesang  267 
Kriegstanz    233;  236;  267 

489 
Kriegszauber  261 
Kruzifix,  schwimmendes 

309  f. 
Kultbauten  548  ff. 
Kulte,  chthon.  590 
Kultgesetze  561 
Kulthandlungen,  allmonatl. 

439  ff. 
Kultstätten  308;  478;  549; 

592 
Kulttage  441  ff. 
Kultübertragungen  527 
Kultvereine  148;  518;578f. 
Kureten  552 
Kuros  552 
Kybebe  577 
Kybele  542;  651;  569;  582; 

590 

—  u.  Atargatis  1481. 

Labrys  629 
Lachen,  rituelles  305 
Lamien  601 
Laubhüttenfest    135;     137; 

139 
Legenden  522;  613;  6il 

— ,  aitiolog.  527 
Legendenbildung  568 f. 
Leichen,    Berührung   v.    L. 

bringt  Unglück  217 
Leichendämonen  352 
Lemuralia  534 
Leukas-Ithaka  461  ff. 
Leviatan  4;  6ff.;  20;  39 f.; 

49;  53;  341;  386 

—  u.  Messias  8 ff.;    321; 
342 

Libanios  520 
Liebeszauber  223;  226;  297; 

304;  316 ff.;  647 f. 
Liturgie,  altchristl.  606 
Logoslehre  600 
luperci  305 
lustrare  531 
Lustratio  693 
Luther  630  ff. 
Lykurgos  666 


Resrister 


653 


Maisgottheit  259 
Manichäismus  583;  609 
Manilius  520 
Mannweiber  237 
Mantik  524;  543  ff. 
Märchen  305;  465 f.;  471  f.; 

477:     479;     484;    489 ff.; 

495;  548 

— .  aitiolog.  482;  492 
Marduk  536;  538 
Marias    unbefleckte    Emp- 

fäagnis  616 
Marienverehrung  612  ff. 
Marken  56  ff. 

— ,  Art«n  d.  Herstellung 

60 

—  der  Soldaten  98  ff. 

— ,  Einbrennen  v.  M.  61 

—  religiöser  Sekten  9  8  ff. 
Mars  Albiorix  598 
Maskentänze     228;    288  f.; 

469 
Matemus  521 
Matronenkult  379,i 
Medizinmänner  201  ff. 
Medizinpfeife  254 
Medizinp teile  245  f. 
Medizinsack  249 f.:  254 f. 
Meergott  334:  342,i 
Melanchthon  633 
i7',r  432 f. 

messianischer  Stier  38  f. ;  52 
Messias  6;  8 f.;  11  ff.:  49 

—  u.  d.  Astrologie  46 

—  u.  Leviatan  Stf.;  321; 
342 

Messiasnamen  49  f. 
metus  411;  414 
\       Milchtaufe  305 

Mithras    325,4;    536;    569; 

582  ff. 
Monat,  griech.  426  f. 
J      Monatsnamen,  griech.  430  f.; 

437 
Mond     199;     272:     275  ff.; 

284:  491 

—  in  d.  Zeitrechnung 
426:  431  ff. 

—  im  Zauber  siehe  das. 
— .    zunehmender    199,4; 

i  *88 

>|      Mondgötter  562  f. 

Mondgöttin     269;     273  ff.; 
279;  300;  542 

Mondmythen  562 


Mondsichel,  Weihung  einer 

M.  an  Hermes  520 
Moses  495 

—  als  guter  Hirte  31 
Mumienköpfe  im  Kult  ver- 
wendet 294 

Musenanrufung     393  ff. ; 

402  ff. 
(ivßTai  578 
Mysterien  501;  569 ff.;  578; 

599;  602 
Mysterienbräuche  317  f. 
Mysterienkult  337;  338,4 
Mystik,  Christi.  625  ff. 
Mystizismus,  astraler  583  f. 
Mythen    215 ff.;    220;    224 

228:  233:  243:  254;  258 

266;  269;  274f.;  291;  475 

481;  532;  537;  553;  668 

594 
Mythendeutung  587  f. 
Mythenwanderung  565 
Mythologisches    465;    491; 

497 ff.:  517;  622 
Mythos  561  ff. 

— ,    semit.    Ursprung    d. 

griech.  M.  526 

,  Nacktheit,  kult.  627 ;  557 
I      —  im  Zauber  siehe  das. 
1  Namen  zu  nennen  verboten 
489 

—  fangen  268  f. 
Namenfest  268  f. 
Narbenzeichen  60  ff. 
Naturdämonen  221;  235 
Naturgeister  231 
Naturgottheiten  224 
Nehemia  132  f. 
Nerthus  310 

Neujahr  bei  d.  Juden  138  f. 

Neunzahl  270;  289;  316 f.; 

320;  336;  357;  426;  431; 

433;  435;  448;  572 

Neuplatonismus  520;   644; 

584 
Neutestamentliches  26 :  30 : 
I      102;  107;    115ff.;    375,2; 
385 
Niesen  232 
j  Nonnos  520 
I  Nuakintanz  243 
Numina  597 
nun  4:  49f. 
i  Nymphen  565:  601' 


I  Oannes  52 

;  Odysseus  524;  564 

Offenbarung  245;  249;  320; 
!      483;  544;  571;  613 

Omina  173;  475;  479  f. 
i  Opfer  171  f.;  179;  284 f. 
298;  300;  310;  443;  473 
475  f.;  483;  488;  490 
I  492;  506;  531;  569:  578 
!  606  f ;  —  von  Gottheiten 
'      277;  — Argeeropfer305f.; 

—  Bauopfer  555;  Dank- 
opfer 176 ;  199 ;  —  Emte- 
opter282;  —  Fischopfer 

■  338,4;  358;  361;  378; 
392;  Kriegsopfer  199; 
559;  —  Menschenopfer 
277:  279;  310;  335:  474; 
506;  —  — ,  Ablösung  v. 
M.  644;  —  Sonnenopfer 
264 ;  —  Speiseopfer  483 ; 

—  Tieropfer  505 ;  — 
Totenopfer  181;  280 
322,3;    365,8;    482;    641 

—  Trankopfer  473;  483 
488 

Opferfeste  162 
Opfergaben  172,  175;  180; 

190  f.;     224;     254;     282; 

296 f.;  330 
Opfergebräuche  166  f. ;  176; 
i       180;  189;  559 

■  Opfermahl  337,4 
Opfersprache  559 

;  Opferstätten  187 
Opferstoffe  559 
Opfertiere  172 
I      — ,  Geschrei  d.  0.  unheil- 
I      voU  470 
Orakel  172  f.:    177;    179  f.; 
204;  305:  544;  548 
— ,  chaldäisches  683 
Orientalisches  i.  Griechen- 
tum    423  ff.;    533;    535; 
1      539;  543 

—  i  Jöm.Heidentum582ff. 
Orientation  549  f. 
Orpheus  599 

j  Orphisches424;446;  532  f.; 
i      539 f.;  542:  572 
j  Osiris  579;  582 

I  Pan  601 

I      — ,  Tod  d.  großen  P.  532 
Pandrosos  660 


654 


Register 


Paradies  34;  323  flf. 
Parapegmata  428 
pars  pro  toto  230 
Passah  136  f. 
paulinisches      Christentum 

571 
Paulus  115  ff. ;  571 ;  587 ;  609 
Penelope  524;  564 
Persephone  568;  601 
Persisches  45,6;    322;  328; 

333;  539 

—  im  Judentum  39 ;  322 
Personifikationen  594 
Pfeile,  heil.  248 
Pflanzen  apotropäisch  546 
Phallisches  519  f. 
Phallus  265;  270;  644 
Phallustanz  289 
Phanes  539 
Pherekydes  538 
Philoktet  576  f. 
Phobos  419;  546 
Phönizisches  519 
Plato  91;  529 
Pluton  539 
Pontifices  526 
Poseidon  332;   442;    524 f.; 

550 f.;  601 
Priapos  525 
Priscillian  608  f. 
Prometheus  525 
Prozessionen  280;  531;  578 
Prozeßzauber  156 
Psyche  525 
Pubertätsfeiern  468;  479 f.; 

644  f. 
Pubertätsriten  226;   228 f.; 

233 f.;  241  f.;    334;    552; 

644  f. 
Puppe,  magisch  480 
Pygmäen  482;  494 
Pythagoräisches  444,i;  445 
Pythios  525 


Quellen    von    Ungeheuern 

bewohnt  260  f. 
Quirinus  525 


Rätsel  489;  573 
rechts  317 
Deformation  605 
Kegengötter  264;  284 
Kegenpriester  264 


Regenzauber  215 ;  230 ;  232 ; 

254  f.;     265;     268;     280; 

296;     310f.;     313;     478; 

510;  640 
Reinheits Vorschriften    527; 

581 
Reinigung,  kult.  531 
Reinigungsriten  310;    312; 

644 
relegere  406;  417  f. 
religare  408  f. 
religio  406  ff. ;  529 

— ,  Etymologie  408 ;  417  f. 
Religion  astral  gedeutet  273 
religiosus  410;   413;    416; 

422 
Reliquien  484;  611  ff. 
Reliquienkult  527 
Remus  523 
Rgveda  499  ff. 
Rhesos  555 
Rhomos  523 
Roma  525;  597 
Romulus  523;  525 
Romulualegende  594 
rote  Wolle  297 ff.;  316 


Sabazios    118;    325;    337; 

525;  555 

—  u.  Dionysos  576 
Sabbat  435 
sacer  526 

Sage  vom  heil.  Gral  505 
Sagen  194;  565;  568 
Salbung  101 
Salii  526;  593 
Sandzeichnung  238  ff. 
Sarapis  525;  579 f.;  682 

u.  Isis  579 
Saturnalia  526 
Saturnus  525 
Satyros  525 
Schadenzauber  1 43ff. ;  1 99,4 ; 

206;     209  f.;     226;     244; 

254;  261;  296;  350;  371; 

510;  531;   546 
Schamane,  sein  Werdegang 

235 
Schamanen  -  Zauberbündel 

222 
SchamanismuB  220;   222 f.; 

225  ff.;  229  f.;  232  f.;  285  ff.; 

244 
Scheingeburt  616 


Schlachtfest  172,i;  174,5 
Schlange  76;  207;  467;  476 
Schlangenkult   340,i;  472; 

478;  484;  488;  641 
Schöpfungssage    195;   269; 

489 
Schutzgeistgesang  230 
Schutztiere  238 
Schutzzauber  201  f. 
schwarze  Farbe  177;  282 
Schwimmen  d.  heil.  Petrus 

281 
Schwurgötter  561 
Schwurritus  561 
eißag  412;  414 
Securis  526 

Seegespenster  459 f.;  464 
Seelen     218f.;     304;     478; 

490;  538;  595 
Seelenbrücke  322,3;    365,3; 

387 
Seelenfisch    362  ff.;    371  f.; 

390 
Seelenorte  235 
Seelentiere  167;    467;   476 
Seelenvogel  357;  391 
Seelenwanderung  167 ;  293 ; 

363;  561 
Seewesen,   übernatürl.  224 
Seirenen  525 
Sekten,  relig.  126 f.;  635 
Selbstverwundung   236;    s. 

auch  Zahn  Verstümmelung 
Seligenland  324 
Seligenmahl  29  f. ;  34 ;  324  ff. 
Seligenspeise  6 ff.;  21;  30; 

38;  321  ff.;  356 
Semitisches  122;  529 

—  im  Griechentum  576 
Sepulcrum  526 
Serapis  s.  Sarapis 
Sibyllae  526 
Sideralmythologie  662  f. 
Siebenzahl    6;    33 f.;    102 

249;  252;  282;  325;  377 

392;  4 25 f.;  431;    433 ff. 

443;  447 f.;  573;  643 
Siegesfest  294 
Silene  625 
Simonie  620 
Sklavenmarken  68 ff.;  77 ff.; 

87  ff. 
Sol  invictus  688 
Sondergötter  668;  698 
Sonne  198;  491;  698 


Register 


655 


Sonnengott  269;  274 ;  278 f.  ;| 

284;  300 
Sonnenkult  583 
Sonnentanz     243  ff.;     247; 

250;  253 
Sonntag  bei  d.  Indianern  227 
Sophokles  520 
Soteira  525 
Speichel   beim    Bündnis 

182.2 

—  beim  Gebet  197 

—  im  Zauber  siehe  das. 
Speien  201 

—  bei  Gefahren  205,2 

—  im  Opferritus  180; 
185  f.;  196;   199 

Speisegebräuche  239 
Speisen  zauberkräftig  317 
Speiseverbot  473 
Spiele  251;  257 

— ,  reUg.  Ursprung  2 14  ff. 
Stab  als  Symbol  d.  Richters 

560 
Städtegründung  550 
Steine  magisch  308 
Steingeburtsagen  641  ff. 
Steinigung  560 
Sterne  200;  -274 ff.;  284 

—  i.  d.  griecb.  Zeitrech- 
nung 427 ff.;  436;  438; 
448 

Stemenmäntel  536  ff. 

Sternglaube  41  ff. ;  386 ;  528 

Sühnfest  435 

Sühngott  446 

Sühnriten  131  f.;  248;  267; 
443;  446;  545;  560 

Sündenbock  140 

Sündenvergebung  ist  Hei- 
lung 8  f. 

superstitio  406 ff.;  420 ff. 

Symbole  31;  35 ff.;  578; 
592 

Sympathiezauber  20-3;   219 

Synkretismus  519;  525;  579 

Gvv&vrai  578 

Tabak  als  Opfergabe  224 

—  als  Totengabe  324 
Tabu  220;  248;  361 ;  408 ff.; 

444  ff. 
Tabuverletzungen  218;  445 
Tabuvorschriften  217;  444 
Tag,  siebenter,  d.  Apollo  ge- 
weiht 434;  412 


Tage,  günstige  u.  Ungunst 

438 ;  444 

— ,  tabuiert  448 

— ,  Ungunst.  132 
Talion  561 

Tanz  apotropäisch  291 
'Tanzdorf  263;  265 
Tanzdramen  500 
Tänze,  relig.  185;  227;  230 

233 f;  238;  251  ff.;  259 ff. 

263;  265;  269 f.;  279;  281 

291;    293 f.;    475 f.;    479 

481;  559;  565 
Tanzgötter  264 
Tanzriten  253 
Tarpeia  532 
Tätowieren  60 f.;  72 ff. 

—  heilt  78 

—  Mittel  zur  Vergottung 
74 

—  totemistisch  76 
Tau  der  Erlösung  48 
Taube  als  Symbol  d.  From- 
men 24  f. 

Taufe  101;  115;   128;  570 

— ,  Ursprung  17 
TtQag  524 
Terpon  525 

Thargelien  438;  442;  445 
9siov  9i67ti6ua  646  f. 
Themis  560 
Theologie  u.  Geschichte 

604  f. 
O'iaöOs  578 
Thomasakten  588 
Tier  u.  Mensch  491 
Tiere     bringen     Krankheit 

260 f.;  268 

—  dämonisch  221 ;  277  f. ; 
349,1;  371;  387 

—  heilige  282;  483 

—  in    d.    reüg.    Bilder- 
schriften 278 

Tiergeister  258 
TiergeseUschaften  258  f. 
Tierkreisbilder    i.    Talmud 
Tierkult    224;    282;     328 

332 ff.;    340,2;   467;   472 

476;  478;  484;  536;  586 

589;   640  f. 
Tierschrei  ominös  173;  300; 

470 
Tiertänze  260 
Totem  470;  483;  487  f. 

— ,  erblich  243 


Totemiamus  162;  222;  224; 

242 f.;  301;   328,1;  466 f.; 

473;  504;  528 f.;  532 f. 
Totemsäulen  226 
Totemtier  76;   222;   230 f.; 

261:  328,2;  467 
Tote  als  Sterne  277 

—  auf  d.  Meere  »ändernd 
458 

Totenauferstehung.    Tau 

d.  T.  48 
Totenbezeichnung  449  ff. 
Totenbräuche  181  f.;  186  f.; 

230;    237  ff.;     289;     291; 

315;     360;     375;     439,3; 

480;  556  f. 
Totenbuch,  ägypt.  344 
Totenfährmann  390 
Totenfest    223;    289;    291; 

357;  361;  484 
Totengaben  324;  351,i;369 
Totengericht  357 
Totenhochzeit  179 
Totenklage  185 
Totenknochen  292 
Totenkult  358;  555  f. 

— ,  modemer  o02f. 
Totenmahl  309 
Totenschiff  390 
Totenstrom  322,3;  365,3 
Totentanz  361 
Trauergebräuche  239 
Traumdeutung  544  f. 
Träume  481;  483;  643 

—  verleihen   übernatürl. 
Kraft  244 

Traumheilung  526;  554 

Tyche  596 

Tychon,  d.  heil.  T.  522 

Umdrehen  verboten  317 
Unsterblichkeitsglaube  322 
ünsterbHchkeitstrank  39 
Unterwelt  u.  Diesseits  158 
Unverwundbarkeit  567 
Uranos  539 

—  u.  Gaia  529 

Yampir  304 

Varro  520 

Vegetationsgottheiten  578 

Verbote,  relig.  233;  293 
317;  327 ff.;  339 f;  357 
359,1;  362:413;  473;  479 
488  ff. 


656 


Register 


Vereine  439,3 
Vereinsnamen  578 
Vergil  548 

Versöhnungsfest  130  ff. 
Vierzahl    185;    199,4;    215; 

245  f.;     252;     257;     263; 

265  f. 
Vierzig  572 
Visionen  251;  635 

—  verleihen  übematürl. 
Kraft  244 

Votivhände  118  ff. 

Wahrsagen  aus  Kömern 

283 
Walddämonen  290 
Wallfahrten  284 f.;  293;  613 
Wasser,   rote  Färbung  des 

W.  648 
Wasserdämonen  330;  359  f. 
Wassergeister  335;  364 

—  weissagen  350,  i 

Wassergott  300 

Wasserwandeln  458  f. 

Weibertanz  243 

Weibertausch,    zeremoniel- 
ler 219 

Weihungszeichen  74 
Wein,  sakram,  Bedeut.  527 

—  u.  Brot  25 f.;  326 
Weiße  Farbe  260;  492 
Weltenjahr,  d.  parsistische 

47,1 
Werwolf  487 ;  490 
Wetterzauber  228 ;  230 ;  232 ; 

539;  558 
Wettrennen,  magisch  269 
Wiedergeburt  51;  362;  515; 

568;  571 
Wunder  619 f.;  622 f. 
Wundererzählungen    56 ff.; 

459;  522 f.;  588 


Wunderglaube  526 
Wundermänner  534 
Wunderpflanze  241 
Würfel  beim  Orakel  305 

Zahlenmystik  445 ;  542 ; 
572  ff. 

Zähne  geweiht  480 

Zahnverstümmelungen  468 ; 
475;  489 

Zarathustra  9;  328 

Zauber  221;  543 ff.;  siehe 
auch  Abwehrzauber,  Ana- 
logiezauber, Bannzauber, 
Berührungszauber,  ßild- 
zauber,  Erntezauber, 

Eßzauber,     Fluchzauber, 

Fruchtbarkeitszauber, 
Heilzauber,  Kriegszau- 
ber, Liebeszauber,  Pro- 
zeßzauber, Regenzauber, 
Schadenzauber,  Schutz- 
zauber, Sympathiezau- 
ber; Wetterzauber;  — 
Abzeichen  247 ;  —  Bema- 
lung 248;  —  Bild  74;  — 
Blasen  232;  —  Blei  546; 

—  Blut  316;  —  Erde 
480;  —  Gesang  531;  — 
Gestirne  538;  —  Grenze 
531;  —  Haare  316;  618; 

—  Kreis  74;  531;  — 
Malereien  222;  —  Men- 
schenblut 296;  —  Men- 
schenfleisch 304;  480;  — 
menschl.  Körperteile  255 ; 
304;  —  Mond  199,4;  — 
Musikinstrument  246;  — 
Nacktheit  234;  236;  307; 
557;  —  Nägel  618;  — 
Name  74;  —  Puppe  480; 

—  Schlange/    205;      — 


Schweiß  316;  —  Silber 
347 ;  547 ;  —  Speichel  475 ; 
489;  —  Steine  308;  — 
Tierteile  255;  258;  — 
Wettrennen  269;—  Zeich- 
nungen 255 

—  u.  Medizin  74 
Zauberer    207;    319;    324; 

481 
Zauberformeln    220;    236; 
371  f;    514f.;    528;    531; 
569 

—  verkehrt  zu  sagen  514 

Zaubergebet  318  f 

Zaubergesänge  248 

Zauberkräfte    dinglich  ge- 
dacht 201 

Zaubermittel  203  f. ;  206  ff. ; 

223;     225;     244;      248  f.; 

256;  295;  472;  480;  484 
Zauberpflanze  246;  251 
Zauberritus  514 
Zaubersprüche  220;  231  f.; 

573 

— ,  gesungen  2  60  f. 
Zaubertext  151  ff. 
Zauberversammlungen   263 
Zauberwürfel  481 
Zehnzahl  234;  282 
Zeichen  56  ff. 
Zeitrechnung,  griech.  423  ff. 

— ,  jüdische  134  f. 
Zeus  444;  552;  581;   601 

—  Eurydamenos  518 

—  Themistios  404 

—  u.  Helios  539 

—  u.  Indra  498 
Zigeuner  305 

Zucken,  ominöses  474;  480; 

545 
Zwingli  633 
Zwölfzahl  47;  61 


Dmck  von  B.  O.  Teubner  in  Drolden 


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Wß  Archiv  für  Reli'^onsvissan«^ 

4  Schaft  vereint  mit  d^n 

A8  Beitragen  zur  Religions- 

Bd.lA  wissenschaftlichen  Gesell- 

schaft in  Stockhol» 


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